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German Pages 538 [540] Year 1998
Titus Maria Horstschäfer ,Über Prinzipien'
W G DE
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland
Band 47
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
,Über
Prinzipien'
Eine Untersuchung zur methodischen und inhaltlichen Geschlossenheit des ersten Buches der Physik des Aristoteles
von Titus Maria Horstschäfer
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
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Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Horstschäfer, Titus Maria: „Uber Prinzipien" : eine Untersuchung zur methodischen und inhaltlichen Geschlossenheit des ersten Buches der Physik des Aristoteles / von Titus Maria Horstschäfer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 47) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1997 ISBN 3-11-016282-2
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Meinen Eltern gewidmet & für Gillian
Soviel also ist klar geworden, daß die mittlere Grundhaltung in allen Lagen unser Lob verdient, daß es jedoch unvermeidlich ist, gelegentlich nach der Seite des Zuviel, dann nach der des Zuwenig auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen. (Eth. Nik. II.9, 1109b23-26)
Vorwort Die hier als Buch vorliegende Untersuchung stellt die korrigierte Fassung einer Dissertation dar, die im Herbst 1997 unter dem Titel ,,'Περι άρχων' - Eine Untersuchung zur methodischen und inhaltlichen Geschlossenheit des ersten Buches der Physik des Aristoteles" von der Philosophischen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i. Br. angenommenen wurde. Dank schulde ich vor allem meinem Doktorvater Prof. Dr. Klaus Jacobi, der das Werden dieser Arbeit mit Geduld und vielfachen Anregungen begleitet hat. Auch vielen anderen bin ich zu Dank verpflichtet. Zwar können sie hier nicht alle genannt werden, doch mögen sie wissen, daß ohne sie dieses Buch nicht oder zumindest nicht in der vorliegenden Form - hätte erscheinen können. Hervorheben möchte ich allerdings Prof. Dr. Rainer Marten, dessen kritische Bemerkungen mir eine hilfreiche Stütze und Orientierung waren, und Prof. Dr. Bernhard Rang, der mir einst vor Jahren die Anregung gab, aus einer Hausarbeit doch eine größere Arbeit zu machen. Dies ist hiermit geschehen. Dem De Gruyter Verlag danke ich für seine unkomplizierte Zusammenarbeit und den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie" - Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß, Prof. Dr. Günther Patzig und Prof. Dr. Wolfgang Wieland für ihre sachkundige Kritik und ihre Bereitschaft zur Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Staufen, im Frühjahr 1998 Titus Maria Horstschäfer
Inhalt Einleitung
1
1. Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
13
1.1 Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien 1.2 Die ,,ήμΐν γνωριμώτερα" und die „φύσει γνωριμώτερα" 1.3 Die Bedeutung der Ausdrücke „καθόλου" und „καθ' έκαστα" 1.4 Die Beispiele: 'Der Kreis' und 'Vater und Mutter' 1.5 Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien
13 19 21 25 33
2. Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
37
2.1 Die diabetische Einteilung der numerischen Möglichkeiten von άρχαί.. 2.2 Die analoge Einteilung bezüglich der δντα 2.3 Eine methodologische Vorbemerkung zum eleatischen Ansatz 2.4 Der Status der 'Grundannahme' (185al2-14) 2.5 Das Beispiel vom Geometer (185al4-20) 2.6 Die Auseinandersetzung mit den Eleaten 2.6.1 Die Bedeutung des „ov" in der These „είναι Iv τά πάντα" (185a20b5) 2.6.2 Die Bedeutung des ,,έν" in der These „είναι εν τό πάν" (185b5-25).. 2.6.2.1 Das (Continuum (τό συνεχές) 2.6.2.2 Das Unteilbare (τό άδιαίρετον) 2.6.2.3 Das dem Begriff nach Eine (τω λόγω έν) 2.7 Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten (185b25-186a3)
37 38 40 48 55 57
3. Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' 3.1 Eine Vorbemerkung zu einer eristischen Argumentation (186a4-10) 3.2 Die ungültigen Schlüsse bei Melissos (186al0-22) 3.2.1 „Wenn alles Gewordene eine άρχή hat, so hat das Nicht-Gewordene keine" 3.2.2 „Jedes Werdende hat einen (räumlichen) Anfangspunkt" 3.2.3 „Wenn etwas Eines ist, dann ist es unbewegt" 3.2.4 „Aber es kann auch nicht der Art nach Eines sein" 3.3 Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides (186a22-187al 1)
60 66 67 72 75 78 85 85 87 88 90 92 94 95
XII
Inhalt
3.3.1 Die falsche Annahme und der ungültige Schluß (186a24-32) 3.3.2 Eine notwendige Konklusion: Das öv als δπερ δν (186a32-b4) 3.3.3 Dem δπερ öv können keine anderen Akzidentien zukommen (186b414) 3.3.4 Die begriffliche Teilbarkeit des δπερ öv (186bl4-35) 3.3.5 Die abschließende Konklusion (187al-l 1)
95 101
4. Physik 1.4: ' D i e Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
125
4.1 Die beiden Gruppen der Naturphilosophen (φυσικοί) (187a 12-26) 4.1.1 Die erste Gruppe der Naturphilosophen (187al2-20) 4.1.2 Die zweite Gruppe der Naturphilosophen (187a20-26) 4.2 Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί 4.2.1 Zur Genese der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187a26-b7) 4.2.2 Zur Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187b7-188 al8) 4.2.2.1 Ein wissenschaftstheoretischer Einwand (187b7-13) 4.2.2.2 Die Widerlegung der Prämissen von Anaxagoras (187bl3-188al8). 4.2.2.2.1 (1) Die Gleichteiligen sind der Größe nach begrenzt (187b 13-21) 4.2.2.2.2 (2) Es ist nicht jedes in jedem (187b22-34) 4.2.2.2.3 (3) Es wird nicht jedes aus jedem (187b35-188a5) 4.2.2.2.4 (4) Das Werden ist kein Aussondern (188a5-18)
125 127 129 132 133
5. Physik I. 5 : ' D i e Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
166
103 105 118
146 146 147 148 153 156 159
5.1 Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger (188a 19-27) 166 5.2 Die drei Kriterien einer άρχή (188a27-30) 172 5.3 Die Funktion des Kapitels I. 5 im Gesamtkontext von Physik A 177 5.4 Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπί του λόγου (188a30-b26).. 182 5.4.1 Die Frage nach einem induktiven oder deduktiven Verfahren 184 5.4.2 Die Funktion der Prämissen (i) und (ii) 185 5.4.3 Das Werden aus Gegensätzen (188a30-b21) 190 5.4.3.1 Die 'einfachen Seienden' (τά ά π λ α των όντων: 188a35-b8) 191 5.4.3.2 Exkurs: Die zugrundeliegende Ontologie von 'einfachen' (άπλα) und 'zusammengesetzten' (σύνθετα) Seienden: Eine materielle Diairesis 197 5.4.3.3 Die 'zusammengesetzten Seienden' (τά σύνθετα των όντων: 188 b8-21) 200 5.4.4 Die Konklusion: Die Gegensätzlichkeit der φύσει γιγνόμενα (188 b21-26) 205 5.5 Der Übergang von den gegensätzlichen φύσει γιγνόμενα zu den gegensätzlichen άρχαί (188b26-189a 10) 206 5.5.1 Die Gegensätze κατά την αϊσθησιν und κατά τον λόγον (188b26189a 10) 207 5.5.2 Eine Anmerkung: „Die Ursachen des Werdens" (αίτίαι της γενέσεως) 211
Inhalt
6. Physik I. 6: 'Die Einführung des ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
XIII
213
6.1 Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί (189 al 1-20) 213 6.2 Die drei Aporien (189a20-34) 223 6.2.1 Die erste Aporie (189a22-27) 225 6.2.2 Die zweite Aporie (189a27-32) 228 6.2.3 Die dritte Aporie (189a32-34) 235 6.3 Die zugrundeliegende Natur der Vorgänger (189a34-b 16) 236 6.4 Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien (189b 16-29) 240 6.5 Die abschließende Konklusion (189b27-29) 246 7. Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
248
7.1 Eine methodologische Vorbemerkung (189b29-34) 7.2 Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen' (189b34-190a21) 7.2.1 Eine sprachliche Untersuchung (189b34-190al3) 7.2.2 Die 'Einfachen' (τά άπλα) und 'Zusammengesetzten' (τά συγκείμενα) 7.2.3 „Etwas wird etwas" und „aus etwas wird etwas" (190a5-13) 7.2.4 Die Mehrdeutigkeit des Satzes ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190 a6-7) 7.2.5 Die Einführung des 'Bleibenden' (ύπομένον: 190a9-13) 7.2.6 Eine erste Konklusion (190al3-21) 7.2.7 Exkurs: Das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) 7.3 Die unterschiedlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses (190a2131) 7.3.1 „Etwas wird aus etwas „ und „etwas wird etwas" 7.3.2 Warum man den Satz „das Erz wird eine Statue" nicht sagen kann 7.4 Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι" (190a31-b9) 7.4.1 Das 'etwas Werden' (τόδε τι γίγνεσθαι) 7.4.2 Das 'einfache Werden' (άπλώς γίγνεσθαι) 7.4.3 Ist das ύποκείμενον ein Bleibendes? - Das Problem des Samens 7.4.4 Exkurs: Überlegungen zu einer atemporalen Analyse des Werdenden.. 7.5 Die Konklusion bezüglich der in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente (190b9-17) 7.6 Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und φύσει δντα (190bl7-191a7) 7.6.1 Der Übergang von den Konstitutionsmomenten zu den άρχαί (190 b 17-20) 7.6.2 Das ύποκείμενον 7.6.2.1 Der Zahl nach eines, der Art nach zwei: 'ύλη' und 'στέρησις' 7.6.2.2 Die στέρησις und die έναντίωσις 7.6.3 Gibt es zwei oder drei Prinzipien? 7.6.4 Die στέρησις als 'Abwesenheit des είδος' (191a3-7)
248 254 254 260 261 263 265 267 271 277 277 283 295 298 300 304 309 315 324 324 337 337 340 348 351
XIV
Inhalt
7.7 Die Analogie (191 a7-l5) 7.7.1 Die Erkennbarkeit der ύποκειμένη φύσις 7.7.2 Die Konklusion bezüglich der Prinzipien (191al2-14) 7.8 Zusammenfassender Rückblick (191 al5-22)
356 357 376 379
8. Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
381
8.1 Die eleatische Aporie (191a24-33) 8.2 Aristoteles'Lösung der eleatischen Aporie (191a33-b27) 8.2.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191a33-bl7) 8.2.2 Das Werden aus Seiendem (191bl7-27) 8.3 Die angedeutete Lösung mit Hilfe der Begriffe von 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit' (191b27-34)
384 399 399 412
9. Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
424
422
9.1 Die Auseinandersetzung mit Piaton (191b35-192a34) 424 9.1.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191b35-192al) 424 9.1.2 Die ύποκειμένη φύσις: ύλη und στέρησις (192al-6) 434 9.1.3 Ein Exkurs zu Piatons naturphilosophischen Überlegungen 437 9.1.3.1 Piatons naturphilosophisches Modell im„Timaios" 437 9.1.3.2 Piatons Überlegungen zum Problem des Werdens im „Phaidon" 442 9.1.4 Das platonische 'Große-und-Kleine' (192a6-12) 448 9.1.5 Was hat Piaton übersehen? (192al2-16) 452 9.1.6 Die nach ihrer eigenen Vernichtung strebende ύλη (192al6-25) 457 9.1.7 Das Entstehen und Vergehen der ΰ λ η (192a25-34) 461 9.1.7.1 Die Argumentationsstruktur von 192a25-34 462 9.1.7.2 Die Definition der ΰλη (192a31-32) und die Frage nach einer 'πρώτη ΰλη' 475 9.2 Die abschließende Konklusion (192a34-b4) 479
10. Konklusion
482
11. Anhang
496
11.1 Abkürzungsverzeichnis der aristotelischen Schriften 11.2 Schematische Darstellungen 11.3 Bibliographie 11.4 Index
496 497 499 510
Einleitung Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist das Buch Α der aristotelischen Physik, das seit der durch Andronikos besorgten Ausgabe der wissenschaftlichen Werke von Aristoteles den Titel „Φυσική άκρόασις A" CPhysikalische Vorlesung A) trägt. Neben diesem eher allgemein gehaltenen Titel findet sich auch ein speziellerer Titel, unter dem das erste Buch der Physik im alexandrinischen Katalog der aristotelischen Werke als ursprünglich selbständiges Werk verzeichnet wurde. Er lautet: „Περί άρχων" (Über Prinzipien).1 Der Titel „Φυσική άκρόασις" macht deutlich, daß die Physik ursprünglich ein Kurs von Vorlesungen war. Zekl bemerkt in diesem Zusammenhang: Was die literarische Form dieser Texte, die die Physik bilden, angeht, so muß man sie ansetzen im Bereich von Redemanuskript, in verschiedenen Graden von Ausführlichkeit erstellt, von wörtlicher Vorformulierung bis hin zu Stichpunkten, Gedächtnisprotokoll oder Vorlesungsnachschrift, möglicherweise eines treuen Hörers, mit allen Vorzügen und Nachteilen, die solche Textgattung bezüglich Wortlaut und Verständnis des Gesagten an sich hat. Da die meisten der Vorträge mehrfach gehalten wurden und darüber offenbar auch diskutiert wurde, finden sich zusätzlich eingelegt oder dazugeschrieben stichwortartige Einschübe, Antworten auf Einwände, Notizen. (Zekl, 1987: XXI)
Gerade diese literarische Form bereitet einem Verständnis dieses Buches jedoch mitunter Schwierigkeiten und macht eine Kommentierung desselben notwendig, in der es unter anderem darum gehen muß, den Begründungszusammenhang der von Aristoteles vorgelegten Argumente mit ihren nicht explizit ausgesprochenen Prämissen, Andeutungen und Verweisen zu verdeutlichen. Der Vorlesungscharakter der Physik spricht filr die These, daß die Gedankenabfolge des Buches A wie es für eine Vorlesung kennzeichnend ist - Schritt für Schritt aufeinander aufbaut, so daß wir es hier nicht mit einer Darlegung von Ergebnissen, sondern vielmehr mit einer einen bestimmten Gedanken kontinuierlich weiterführenden Untersuchung zu tun haben.2 Da sich eine Untersuchung dadurch auszeichnet, Vgl. Düring (1966: 189; 291). Zum Titel ,,Περϊ άρχων" bemerkt Ross (1936: 4): „If we treat book i as the treatise περί άρχων par excellence, we must at the same time recognize that this phrase had a wider application; for the only actual reference in Aristotle under this title (in De Caelo 274a 21) is to Phys. iii." Vgl. Wieland (1962: 68 f.): „Man sollte gerade diese Dinge im Zusammenhang mit der jetzt wohl allgemein anerkannten Tatsache sehen, daß es sich bei der Physik, wie auch bei den anderen aristotelischen Hauptwerken, die erhalten sind, um Manuskripte zu Vorlesungen handelt, die sich an ein in erster Linie hörendes, nicht lesendes Publikum wenden. Gerade vor einem hörenden Publikum wird man immer nur das präzisieren können, was filr das Thema unbedingt nötig ist. Das ist eine der äußeren Bedingungen dafür, daß die aristotelische Philosophie in sich konsistent immer nur im Hinblick auf den konkreten Argumentationszusammenhang der betreffenden Untersuchung ist, nicht aber im Hinblick auf ein umfassendes »System«. Auf jeden Fall
2
Einleitung
daß spätere Erkenntnisse auf früheren Überlegungen aufbauen, wobei diese früheren Überlegungen an späterer Stelle durchaus modifiziert oder gar korrigiert werden können, ist das Ernstnehmen des Untersuchungscharakters vor allem für ein adäquates Verständnis des Verhältnisses der einzelnen Kapitel zueinander von Bedeutung. Dies gilt um so mehr, als gerade zwischen den von Aristoteles in den Kapiteln 1.5,1.6 und 1.7 aufgestellten Thesen mitunter Widersprüche entdeckt wurden, die von manchen Interpreten gar als Inkonsistenzen innerhalb der aristotelischen Theorie gedeutet wurden. Mit diesem Untersuchungs- und Entwicklungscharakter ist zugleich der Umstand verbunden, daß diejenigen Begriffe, die bei Aristoteles für eine physikalische Untersuchung von zentraler Bedeutung sind - wie z.B. die Begriffe des Werdenden (γιγνόμενον) und des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) -, innerhalb der Untersuchung in ihrem semantischen Inhalt Modifikationen, Differenzierungen und Entwicklungen erfahren können, denen es insofern nachzugehen gilt, als diese Bedeutungsverschiebungen innerhalb der Sekundärliteratur bisweilen für Verwirrung gesorgt und zu unterschiedlichen Interpretationen geführt haben. So kann z.B. mit dem 'Werdenden' (γιγνόμενον) in Kapitel 1.7 sowohl der Ausgangspunkt (dasjenige, was werden wird) als auch der Endpunkt (dasjenige, was geworden ist) eines Werdeprozesses und mitunter auch das in einem Prozeß Befindliche (dasjenige, was wird) gemeint sein. Dies bedeutet für den Interpreten, daß man im Einzelfall jeweils aus dem Kontext heraus zu prüfen hat, welche Bedeutung vorliegt, und ob der verwendete Begriff selbst in einer gedanklichen Entwicklung steht. Ich werde zeigen, daß die gemeinsame Bedeutung des 'Werdenden' von Aristoteles primär darin gesehen wird, daß es das logische Subjekt einer Werdeprädikation darstellt, sei dies ein Subjekt, das aus etwas in dem Sinne wird, daß es entsteht (άπλώς γίγνεται), oder sei dies ein Subjekt, das etwas in dem Sinne wird, daß es sich eigenschaftlich verändert (τόδε τι γίγνεται). In Analogie zum Begriff des Werdenden erweist sich auch der Begriff des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) bei Aristoteles als durchaus mehrdeutig. Einige Interpreten sind der Ansicht, daß Aristoteles das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) eines Werdeprozesses in Kapitel 1.7 mit dem Bleibenden (ύπομένον) bei diesem Werdeprozeß gleichsetzt. Ich werde zeigen, daß der in Kapitel 1.7 verwendete Begriff des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) in einer Entwicklung begriffen ist, dessen primäre Bedeutung von Aristoteles schließlich
ist es auffallend, daß man die Tatsache, daß sich die aristotelischen Lehrschriften an ein hörendes Publikum richten, noch kaum filr die inhaltliche Interpretation gewertet hat. Hierher gehören nicht nur die gelegentlichen sachlichen Wiederholungen und Überschneidungen - die daher noch nicht eo ipso eine entwicklungsgeschichtliche Interpretation verlangen sondern vor allem auch der formale Aufbau der einzelnen Traktate, ebenso die Sprache mitsamt der ganzen Argumentationstechnik, die ihre Herkunft aus der rhetorischen Technik nur selten verleugnen kann. Vor allem die erstaunliche Wandlungsfähigkeit vieler aristotelischer Begriffe, die im Laufe der Untersuchung manchmal ihren Sinn andern, wenngleich niemals sprunghaft, ist hier zu nennen."
Einleitung
3
darin gesehen wird, daß es ein Aufnehmendes für sowohl substantielle als auch akzidentelle Formen darstellt. 3 Da eine dem Untersuchungscharakter dieses Buches angemessene Interpretation schrittweise vorzugehen hat und mit dem ersten Kapitel beginnen muß, um von ihm aus kontinuierlich voranzuschreiten, habe ich mich für einen Satz-fürSatz-Kommentar entschieden, der Schritt für Schritt dem aristotelischen Gedankengang folgt. Durch ihn soll gezeigt werden, auf welche Weise die einzelnen Kapitel dieses Buches gedanklich miteinander verknüpft sind. In bezug auf die Interpretation der aristotelischen Schriften hat Gigon (1975: 352) auf folgendes Desiderat hingewiesen: W a s der Aristoteiesforschung heute noch am meisten zu fehlen scheint, sind Interpretationen, also Untersuchungen, die dem Kontinuum eines bestimmten Textes nachgehen und den Sinn j e d e s einzelnen Satzes für sich und in seiner U m g e b u n g zu verstehen suchen.
Dieser von Gigon gestellten Forderung soll die hier vorliegende Analyse des Buches Α der Physik nachkommen. Wirft man einen Blick auf die vielfältigen Interpretationen dieses Buches, so fällt auf, daß einige Kapitel - wie z.B. das Kapitel 1.1, das eine methodologische Einführung enthält, und das Kapitel 1.7, in dem Aristoteles seinen eigenen Ansatz darlegt - sehr große Beachtung gefunden haben, während andere Kapitel wie z.B. diejenigen Kapitel, in denen Aristoteles sich in sehr ausführlicher Weise mit den Ansichten und Thesen seiner Vorgänger auseinandersetzt - vergleichsweise wenig Beachtung gefunden haben. 4 Angesichts des Untersuchungscharakter des Buches Α der Physik scheint eine eingehende Analyse der Doxographie, die Aristoteles der Darlegung seines eigenen Ansatzes voranstellt, für das Verständnis desselben jedoch unentbehrlich zu sein. In einer solchen Analyse muß es darum gehen, die Begründungsstrukturen der von Aristoteles gegenüber seinen Vorgängern angeführten Argumente herauszuarbeiten, um auf diese Weise deutlich zu machen, wie sie in den Gesamtkontext einzuordnen sind. Hierbei wird auch die Frage zu stellen sein, ob Aristoteles bei der Rekonstruktion der Argumente seiner Vorgänger diesen gerecht wird und inwiefern er deren Ansichten bereits im Hinblick auf die Darlegung seiner eigenen Theorie hin interpretiert oder gar verändert.
4
Beim Werden einer Statue aus Erz nimmt das Erz die substantielle Form der 'Statue' auf und wird zur ehernen Statue; beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen nimmt der Mensch die akzidentelle Form der 'Bildung' auf und wird zu einem gebildeten Menschen. Da beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen das ύποκείμενον 'Mensch' die ούσία beim Gewordenen 'gebildeter Mensch' darstellt, während beim Werden einer Statue aus Erz nicht das ύποκείμενον 'Erz', sondern vielmehr das είδος 'Statue' die ουσία beim Gewordenen 'eherne Statue' darstellt, kann Aristoteles am Ende das Kapitels 1.7 zu Recht sagen, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das εΐδος die ούσία bilde (vgl. 191al9-20; die Zitatausweisung folgt der üblichen Bekker-Paginierung). So bemerkt Loux (1992: 281, Fn.l) zum Kapitel 1.8: „In attempting to understand Aristotle's response to the Parmenidean argument, one is struck by the fact that recent literature on A.8 seldom attempts to work through the difficult text of A.8."
4
Einleitung
Bezüglich der Frage, in welcher Weise die einzelnen Kapitel des Buches A miteinander verknüpft sind, wird folgende methodische Grundstruktur in der Auseinandersetzung von Aristoteles mit seinen Vorgängern deutlich werden. Aristoteles ist im Buch Α der Physik darum bemüht, die Theorien seiner Vorgänger möglichst als einander konträre Theorien gegenüberzustellen, wobei es für einander konträre Gegensätze ja kennzeichnend ist, daß sie zwar nicht zugleich wahr, wohl aber zugleich falsch sein können. Aristoteles wird selbst einen Mittelweg zwischen diesen konträren Positionen beschreiten. Dies geschieht dadurch, daß er jeweils von einer extremen Position ausgehend durch deren Widerlegung zu einer konträren Position gelangt, die es dann ebenfalls zu widerlegen gilt, wobei er allerdings jeweils richtig Gesagtes festhält, um sich auf diese Weise kontinuierlich einer mittleren Position anzunähern.5 Der von Aristoteles in seinen Ethiken ausgesprochene Grundsatz, daß die mittlere Grundhaltung zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig die richtige Haltung sei,6 hat bei Aristoteles vor diesem Hintergrund nicht nur für unser moralisches Handeln eine Bedeutung, sondern er besitzt auch eine wissenschaftstheoretische Relevanz. Die Wahl des mittleren Weges zwischen einander konträren Positionen ist als Strukturierungsprinzip der in Physik Α vorgelegten Doxographie zu betrachten. Der Titel „Περί άρχων", der sowohl bei Diogenes Laertius (41 περί αρχής α) als auch bei Hesychius (21 περί άρχων ή φύσεως α) bezeugt ist,7 macht deutlich, daß das Buch Α der Physik über Prinzipien handelt. Mit diesen Prinzipien, denen Aristoteles schließlich die Namen ,,ϋλη bzw. ύποκείμενον", ,,εΐDie konträre Gegensätzlichkeit der Theorien der Vorgänger zeigt sich unter anderem in folgendem: (i) Während die Eleaten der Ansicht sind, daß es überhaupt keine Bewegung gebe, ist Heraklit der Auffassung, daß alles bewegt sei. Im Unterschied dazu lautet Aristoteles' Grundannahme, daß die Naturdinge - entweder alle oder einige - bewegt sind (1.2, 185al2-13). Vor allem der in der Grundannahme zu findende Ausdruck „einige" (ενια) hat bei den Interpreten filr Verwirrung gesorgt. Ich werde zeigen, daß wir es in bezug auf die aristotelische Grundannahme nicht - wie einige Interpreten meinen - mit einem axiomatischen Prinzip, sondern vielmehr mit einem empirischen Ausgangspunkt zu tun haben, (ii) Während es der Theorie der Naturphilosophen zufolge nur Eigenschaftsveränderungen - und nicht Entstehensprozesse im strengen Sinne - geben kann, kann es der Theorie von Piaton zufolge nur Entstehensprozesse - und nicht Eigenschaftsveränderungen im strengen Sinne - geben. Im Unterschied dazu wird Aristoteles zeigen, daß es sowohl Entstehensprozesse als auch Eigenschaftsveränderungen gibt, (iii) In bezug auf die für das Buch Α zentrale Aporie der Eleaten, der zufolge etwas nur aus Seiendem oder Nichtseiendem werden kann, wobei die Eleaten beides filr unmöglich hielten und deshalb das gesamte Werden aufhoben (vgl. 1.8), waren die Naturphilosophen der Ansicht, daß etwas nur aus Seiendem werden könne (vgl. 1.4), während Piaton meinte, daß etwas nur aus Nichtseiendem werden könne (vgl. 1.9). Im Unterschied dazu wird Aristoteles zeigen, daß in einer bestimmten Hinsicht betrachtet sowohl ein Werden aus Seiendem als auch ein Werden aus Nichtseiendem möglich ist. (iv) Während die Eleaten der Ansicht waren, daß es nicht Vieles, sondern nur Eines geben kann, kamen die Nachfahren dieser Eleaten durch Aporien gezwungen schließlich zur Auffassung, daß es nicht Eines, sondern nur Vieles geben kann (vgl. 1.2). Im Unterschied dazu wird Aristoteles zeigen, daß ein und dasselbe unter verschiedenen Hinsichten betrachtet sowohl Eines als auch Vieles sein kann. 6
7
Vgl. Eth. Nik. II.9, 1109b23-26: „Soviel also ist klar geworden, daß die mittlere Grundhaltung [ή μέση εξις] in allen Lagen unser Lob verdient, daß es jedoch unvermeidlich ist, gelegentlich nach der Seite des Zuviel [έπί την ύπερβολήν], dann nach der des Zuwenig [έπϊ την έλλ ε ι ψ ι ν ] auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen." (Übers, nach Dirlmeier). Vgl. Ross (1936: 4).
Einleitung
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δος" und ,,στέρησις" geben wird, sind die Prinzipien der Naturdinge (φύσει οντά) gemeint. Es wird jedoch genauer zu bestimmen sein, in welchem Verhältnis diese Prinzipien zueinander stehen,8 und in welchem Sinne die στέρησις, die in Kapitel 1.7 sowohl in Abhängigkeit vom ύποκείμενον als auch in Abhängigkeit vom είδος bestimmt wird, als ein Prinzip betrachtet werden kann: Ist sie nur ein Prinzip des Werdenden (φύσει γιγνόμενον) und nicht des Seienden im Sinne eines Gewordenen (φύσει δν), oder ist sie ein Prinzip von beiden? Angesichts der Tatsache, daß es im Buch Α um die Prinzipien der Naturdinge (τά φύσει δντα) geht, fällt allerdings auf, daß Aristoteles die Frage danach, was wir unter diesen „Naturdingen" - oder gar unter „Natur" (φύσις) selbst - im einzelnen zu verstehen haben, 9 zu Beginn seiner Physik ebenso unbeantwortet läßt wie auch die Frage nach einer genaueren Bestimmung des ftlr die Untersuchung zentralen Begriffs der ,,άρχή". 10 Erst zu Beginn von Physik Β wird Aristoteles eine Definition des Begriffs der Natur anfuhren." Dieses Offenhalten der Bedeutung der für eine Physik grundlegenden Begriffe, das in den modernen Naturwissenschaften, in denen jede mögliche Ambiguität derart zentraler Begriffe durch exakte Definitionen ausgeschaltet werden soll, eher als ein Mangel innerhalb der Grundlagentheorie angesehen wird, bekommt bei Aristoteles insofern einen positiven Sinn, als es ihm gerade am Anfang einer Theoriebildung darum geht, den Standpunkt der Betrachtung so offen und weit wie möglich zu halten, um nicht aufgrund zu eng gefaßter Definitionen den zu behandelnden Gegenstand unnötig einzugrenzen. Es sei zudem darauf hingewiesen, daß es in einer Untersuchung über die Prinzipien - im Gegensatz zur Darlegung von bereits gewonnenen Erkenntnissen - nicht darum gehen kann, aus sicheren und festen Prinzipien ableitend weiteres Wissen zu erlangen, sondern daß es für Aristoteles vielmehr darum geht, umgekehrt von unseren Wahrnehmungen ausgehend, die für sich keine definitorische Exaktheit beanspruchen, erst zu den allgemeingültigen Prinzipien zu gelangen. Der methodische Weg hat, wie Aristoteles im einleitenden Kapitel 1.1 darlegt, von den für uns bekannteren Dingen (έκ των
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Ich werde darlegen, daß wir es in bezug auf die Prinzipien ϋλη und είδος mit einer wechselseitigen Abhängigkeit zu tun haben. Die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks „Natur" (φύσις), denen wir im Laufe der Untersuchung begegnen werden, lassen sich zunächst wie folgt differenzieren: (a) Natur als Inbegriff und Gesamtheit aller Naturdinge (vgl. 1.1, 184al5; 1.2, 185al8; 1.4, 187a35); (b) Natur als Wesen oder Beschaffenheit eines Naturdings (vgl. 1.4, 187b7; 1.6, 189a27; 1.8, I91a25; 1.9, 192al9); (c) Natur als zugrundeliegendes Prinzip der Naturdinge (vgl. 1.6, 189a29-b2, b21; 1.7, 191a8; 1.9, 192al0und a30). Bostock (1982: 180) bemerkt in diesem Zusammenhang: „He [Aristoteles] does not tell us what he means by 'nature' - for that we have to wait until book II - and he does not tell us what he means by a 'principle' in this context, but as we read on we may come to think this omission unimportant." Vgl. Phys. II. 1, 192b20-23: ,,ώς οϋσης της φύσεως άρχής τινός και αιτίας τοΰ κινεΐσθαι και ήρεμεΐν έν ω υπάρχει πρώτοις καθ' αύτό και μή κατά σομβεβηκός". Angesichts des Umstands, daß ein im Rahmen einer Physik derart zentraler Begriff wie der Begriff der Natur (φύσις) im Buch Α zwar verwendet, jedoch erst im Buch Β deflatorisch bestimmt wird, stellt sich die Frage, ob es einer Wissenschaft nicht angemessener wäre, die zu verwendenden Begriffe vor ihrem Gebrauch zu definieren.
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γνωριμωτέρων ήμΐν) zu den der Natur nach bekannteren Dingen (τη φύσει γνωριμώτερα) zu führen. Durch den der vorliegenden Untersuchung vorangestellten Titel „Über Prinzipien" soll angedeutet werden, daß das Buch Α der Physik hier als ein durchaus selbständiges und abgeschlossenes Werk betrachtet wird. Diese Selbständigkeit und Abgeschlossenheit ist innerhalb der Sekundärliteratur bisweilen in Frage gestellt worden. So hat zuletzt vor allem Fritsche die Ansicht vertreten, daß das Buch Α der Physik hinsichtlich seines Beweiszieles als unabgeschlossen zu betrachten sei und einer notwendigen Fortsetzung durch das Buch Β bedürfe: In der modernen Interpretation gilt unwidersprochen die Annahme, daß die einzelnen Bücher der Physikvorlesung nicht viel miteinander zu tun hätten. Jedes bilde methodisch und sachlich eine in sich geschlossene Einheit, deren Gedankengang nicht aus sich auf die anderen Bücher verweise und ihrer nicht bedürfe. Eine Verschärfung hat diese Ansicht gelegentlich darin gefunden, daß man sogar die einzelnen Kapitel eines Buches für eine nur lockere und äußerliche Aneinanderreihung verschiedener Themen gehalten hat. Demgegenüber soll hier gezeigt werden, daß das erste Buch einen Argumentationszusammenhang eröffnet, der im ersten Buch zwar einen Abschluß, aber einen nur vorläufigen findet und zu seiner vollen Einlösung des zweiten Buches bedarf. (Fritsche, 1986: 6)
Fritsche stützt seine These im wesentlichen auf die beiden Sätze 184al0-16 und 190b 17-23, durch deren Analyse er bemüht ist, darzulegen, daß das am Ende des Buches ausgesprochene Beweisziel desselben - wozu Fritsche vor allem den Nachweis der Existenz von Prinzipien zählt -12 im Hinblick auf das Prinzip des είδος in Physik Α noch nicht erfüllt wurde.13 Auch wenn die einzelnen Bücher der Physik in einem Zusammenhang miteinander stehen, so wird die vorliegende Untersuchung doch zeigen, daß das Buch Α sowohl hinsichtlich seines Beweiszieles als auch hinsichtlich seiner methodischen Durchführung als ein einheitliches und geschlossenes Werk zu betrachten ist, in dem die einzelnen Kapitel auf systematische Weise miteinander verknüpft sind. Um die inhaltliche und methodische Geschlossenheit dieses Buches zeigen zu können, reicht es jedoch nicht aus, sich auf einige wenige Textstellen zu berufen. Die These von der Abgeschlossenheit des Buches Α der Physik verlangt zu ihrer Begründung vielmehr nach einer Gesamtinterpretation desselben, da sich die These einer Abgeschlossenheit von etwas immer schon auf dieses etwas als ein Ganzes bezieht. Insbesondere hinsichtlich der Frage nach der dem Buch Α zugrundeliegenden Methodologie ist innerhalb der Sekundärliteratur mehrfach auf Inkonsistenzen hingewiesen worden. Zum einen wurden diese Inkonsistenzen darin gesehen,
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Vgl. 1.9, 192b2-3: „Daß es also Prinzipien gibt [οτι μεν οΰν είσϊν άρχαί] und welche und wieviele der Zahl nach es sind, soll uns nun als auf diese Weise bestimmt gelten." Soweit es keine anderen Verweise gibt, stammen die Übersetzungen von mir. Der griechische Text der aristotelischen Physik, der der hier vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt, ist entnommen aus: Aristotelis Physica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. D. Ross, Oxford 1950, die mit der sogenannten „großen" Oxford-Ausgabe - Aristotle 's Physics, A revised Text with Introduction and Commentary by W. D. Ross, Oxford 1936 - bezüglich des Textes identisch ist. Vgl. Fritsche (1986: 9 und 98).
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daß das Buch Α der Physik als wissenschaftliche Einzeluntersuchung, die von den konkreten Naturdingen ausgeht, um zu deren Prinzipien zu gelangen, im Widerspruch zu der in den Analytica posteriora geforderten Methodologie einer apodeiktischen Wissenschaft steht, die umgekehrt von den Prinzipien ausgeht, um aus ihnen die einzelnen Dinge herzuleiten. Zum anderen wurden diese Inkonsistenzen in folgendem gesehen: Obwohl der in Buch Α beschriebene Untersuchungsweg der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie zufolge von den konkreten Wahrnehmungsdingen ausgehend durch eine Diairesis derselben zu den Prinzipien fuhren soll, beginnt Aristoteles in den Kapiteln 1.2 und 1.3 doch nicht mit den konkreten Wahrnehmungsdingen, sondern eher mit einer abstrakten und begrifflich-logischen Analyse der eleatischen Thesen. In bezug auf diese methodologischen Probleme wird die hier vorliegende Interpretation neue Gesichtspunkte in den Blick bringen und zeigen, daß das Buch Α als ein methodisch geschlossenes Werk zu betrachten ist. In diesen Zusammenhang fällt auch eine Erörterung der Frage, ob wir es in bezug auf das Buch Α der Physik eher mit einer empirischen oder mit einer begrifflich-logischen bzw. dialektisch-philosophischen Untersuchung zu tun haben. Auch wenn sich die vorliegende Untersuchung mitunter bemüht, die These vom empirischen Charakter der Methode im Buch Α der Physik sowohl durch eine Analyse der 'Grundannahme' in 185al2-14 als auch durch eine Analyse der Kapitel 1.5 und 1.7 stärker in den Vordergrund zu stellen, so bedeutet dies jedoch nicht, daß damit der philosophische Charakter insgesamt in den Hintergrund treten würde. Vielmehr haben wir es mit einer philosophischen Untersuchung zu tun, die ihren Ausgangspunkt in der Empirie hat. Die Ausgangsfrage, ob die Physik eher als eine dialektisch-philosophische oder als eine empirische Untersuchung zu verstehen sei, scheint mir in dem Sinne an der aristotelischen Gedankenführung vorbeizugehen, als Aristoteles selbst nicht zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft im heutigen Sinne differenziert. 14 Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, daß sich Aristoteles im Buch A der Physik vor allem in bezug auf die von ihm zugrunde gelegte Methode hinsichtlich einer Theorie der Naturdinge von den Theorien seiner Vorgänger abgrenzen will. Während die Eleaten von dem theoretischen Satz „alles ist Eines" (είναι εν τό πάν) ausgingen, den sie allein durch gedankliche Überlegungen gewannen und der einen Prinzipiencharakter für sie hatte, um von diesem Satz ausgehend auf die Wirklichkeit zu schließen, die sie als absolute Einheit und Unbewegtheit begriffen, will Aristoteles den umgekehrten Weg gehen: Ausgehend von den vielen konkreten und bewegten Einzeldingen will er erst zu allgemeinen Bestimmungen und Prinzipien gelangen. Daß für Aristoteles der Auch die von Jones (1974: 476-78) - vgl. ebenfalls Wieland (1962) - in bezug auf das Kapitel 1.7 vertretene Gegenüberstellung zwischen einer (i) sprachlich-linguistischen und einer (ii) empirischen Untersuchung, wobei Jones der Ansicht ist, daß wir es in bezug auf das Kapitel 1.7 mit einer sprachlich-linguistischen Untersuchung zu tun haben, die sich nicht auf empirische Beobachtungen von Werdeprozessen, sondern auf die Sprache konzentriert, in der die Werdeprozesse formuliert werden, scheint mir aus dem Grunde verfehlt zu sein, da sich eine empirische und eine linguistische Untersuchung für Aristoteles keineswegs gegenseitig ausschließen.
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menschliche Erkenntnisweg nicht vom Allgemeinen zum Konkreten, sondern umgekehrt zunächst vom Konkreten zum Allgemeinen zu führen hat, wobei allerdings in einem zweiten Schritt dann die gewonnenen allgemeinen Bestimmungen umgekehrt auf das konkrete Einzelne anzuwenden sind, wird vor allem in der Analyse des Kapitels 1.8 deutlich werden. Angesichts der Tatsache, daß das Buch Α der Physik in der zurückliegenden Philosophiegeschichte zu den mit am häufigsten interpretierten Werken zählt die Rezeptionsgeschichte setzte bereits in der Spätantike mit den Kommentaren von Themistius, Alexander, Simplicius und Philoponus ein -, drängt sich die Frage auf, ob es in diesem Buch überhaupt noch etwas 'Neues' zu entdecken gibt. Seit den einflußreichen und wichtigen Kommentaren, die in diesem Jahrhundert u.a. von Ross (1936), Mansion (1947), Wieland (1962), Wagner (1967) und Charlton (1970) vorgelegt wurden, ist wiederum einige Zeit verstrichen, und die Interpreten haben sich in den letzten Jahren vor allem mit Einzelproblemen auseinandergesetzt, die durch diese Kommentare ins Bewußtsein getreten sind und keiner Lösung zugeführt werden konnten. Hierbei konzentrierte man sich vor allem auf einige schwierige Textstellen des Buches A, für die unterschiedliche Lösungswege skizziert wurden, die dann wiederum zu unterschiedlichen und zum Teil sogar entgegengesetzten Konsequenzen bezüglich der Interpretation der von Aristoteles im Buch Α der Physik entwickelten Theorie über die Naturdinge geführt haben. Dabei sind wichtige Einsichten hervorgetreten, aus denen sich bei genauerem Hinsehen aber auch neue Schwierigkeiten ergeben. Diese Ergebnisse der jüngsten Forschungsbeiträge gilt es zusammenzutragen und in den Dienst einer kontextbezogenen Gesamtinterpretation des Buches Α der Physik zu stellen. In diesem Zusammenhang wird die vorliegende Untersuchung zeigen, daß durch eine kontextbezogene Gesamtinterpretation auch eine kohärente Deutung schwieriger Textstellen möglich ist, die nicht nur bereits die spätantiken Kommentatoren in Ratlosigkeit zurückließen, sondern die auch bis auf den heutigen Tag für viel Verwirrung bei den Interpreten sorgen. Als exemplarische Beispiele für solch schwierige Textpassagen im Buch Α seien hier nur die folgenden genannt: (i) In 1.5, 188M2-21 sagt Aristoteles, daß ein Haus als etwas Wohlgefügtes in eine Ungefügtheit vergeht, wobei diese Ungefügtheit nicht eine beliebige sein darf, sondern die gegenüberliegende sein muß. Ob man in bezug auf ein Haus jedoch von einer 'gegenüberliegenden Ungefügtheit' sprechen kann, scheint problematisch zu sein, (ii) In 1.7, 190a25-26 behauptet Aristoteles, daß wir in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz nur sagen „eine Statue wird aus Erz", nicht aber „das Erz wird eine Statue". Warum man jedoch nicht sagen kann „das Erz wird eine Statue", scheint fraglich zu sein, (iii) In 1.7 führt Aristoteles zur Veranschaulichung des Entstehens einer ούσία aus einem ύποκείμενον das Beispiel des Werdens von Pflanzen und Sinnenwesen aus Samen an (190b45: ,,οΐον τά φυτά και τά ζώα έκ σπέρματος"). In bezug auf dieses Beispiel ist jedoch eingewendet worden, daß Aristoteles hier besser davon gesprochen hätte, daß ein ζφον aus dem Menstruationsblut (καταμήνια) oder aus Fleisch und
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Knochen wird, da Aristoteles in Kapitel 1.7 doch der Ansicht zu sein scheint, daß das ϋποκείμενον, aus dem etwas wird, ein Bleibendes ist, und der Same beim Werden eines ζφον aus Samen kein Bleibendes darstellt. Ich werde jedoch zeigen, daß es einen guten Grund gibt, warum Aristoteles hier vom Werden eines ζωον aus Samen spricht, wobei dieser Grund vereinfacht gesagt darin besteht, daß nach Ansicht von Aristoteles für gewöhnlich nur Bestimmtes aus Bestimmtem werden soll, (iv) In 1.8, 191 b20-21 führt Aristoteles zur Veranschaulichung seiner Theorie des Werdens das ungewöhnliche Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd an. Einige Interpreten haben an dieser Stelle eine Textkorrektur vorgenommen, der zufolge hier anstelle des Beispiels des Werdens eines Hundes aus einem Pferd von den Beispielen des Werdens eines Hundes aus einem Hund und des Werdens eines Pferdes aus einem Pferd die Rede sei. Die vorliegende Untersuchung wird jedoch zeigen, daß es einen guten Grund gibt, warum Aristoteles das ungewöhnliche Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd zur Veranschaulichung seiner Theorie wählt, wobei dieser Grund ebenfalls mit der These von der Bestimmtheit des Werdens zusammenhängt. (v) In 1.9, 192a26-27 spricht Aristoteles davon, daß die ύλη als das 'In-dem' (τό έν ω) an sich vergeht, weil das Vergehende - die στέρησις - in diesem sei. Auch hier liegt bis heute - soweit ich sehen kann - keine kohärente Interpretation vor, warum Aristoteles der Ansicht ist, daß die ϋλη als das 'Indem' an sich vergeht. In bezug auf die genannten Textpassagen werden Lösungsmöglichkeiten skizziert werden, die sich zum Teil aus der Gesamtinterpretation des Buches A ergibt, der unter anderem folgende Thesen zugrunde liegen: (1) In bezug auf die von Aristoteles in Kapitel 1.7 vorgelegte Analyse des Werdens haben wir es weniger mit einer temporalen als vielmehr mit einer - wie ich es nennen will logisch prädikativen und grammatischen Analyse des Werdens (γίγνεσθαι) zu tun, in der Aristoteles in Analogie zum Begriff des 'Seins' (είναι), bei dem zwischen einem „etwas Sein" und einem „(einfachen) Sein" (im Sinne von 'Existieren') zu unterscheiden ist, in 190a31-33 auch zwischen einem „etwas Werden" (τόδε τι γίγνεσθαι) und einem „(einfachen) Werden" (im Sinne von 'Entstehen': άπλώς γίγνεσθαι) differenziert. Da ein jedes Werden als Ereignis in der Zeit stattfindet, und da Aristoteles an anderen Stellen seines Werkes diesen zeitlichen Aspekt eines jeden Werdenden auch ausdrücklich hervorhebt, muß es einen Grund geben, warum der zeitliche Aspekt des Werdenden in Physik Α in den Hintergrund tritt. Diesen Grund gilt es herauszuarbeiten. (2) Der vorliegenden Untersuchung zufolge sieht Aristoteles einen wesentlichen Aspekt des Werdens im Buch Α der Physik darin, daß in der Regel nicht Beliebiges aus Beliebigem wird. Diese Nichtbeliebigkeit des Werdens, die ich positiv als „Bestimmtheit des Werdens" bezeichnen werde, stellt für Aristoteles eine Bedingung der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis von Naturprozessen dar. Denn wenn grundsätzlich Beliebiges aus Beliebigem würde, so wären für Aristoteles keine Regelhaftigkeiten in der Natur mehr gegeben. Diese Regelhaftigkeiten müssen jedoch vorhanden sein, sofern eine Physik als Wissenschaft
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überhaupt möglich sein soll. Denn von dem Zufälligen, Beliebigen und Akzidentellen kann es Aristoteles zufolge bekanntlich keine Wissenschaft geben. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Piaton der Ansicht war, daß das Werdende und Bewegte letztlich unerkennbar sei, weil es sich niemals auf dieselbe Weise verhält.15 Diese Ansicht bedeutet jedoch insofern eine Infragestellung der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft, da deren Gegenstand ja das Seiende als ein Bewegtes sein soll. Die Grundfrage einer Physik als Wissenschaft lautet somit: Wie vermag etwas Bewegtes und sich ständig Veränderndes überhaupt Gegenstand der Erkenntnis zu werden? Aristoteles beantwortet diese Frage dahingehend, daß die Erkenntnis der bewegten φύσει δντα aus einer Erkenntnis der diese φύσει δντα konstituierenden Prinzipien möglich sein soll, die als allgemeine Prinzipien gleichsam das Bleibende bei einem jeden Werdeprozeß darstellen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach den Prinzipien der φύσει οντα als eine Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft zu verstehen. Zu diesen Bedingungen der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft ist auch die These von der Nichtbeliebigkeit des Werdens zu zählen. Auch wenn diese These von Aristoteles im Buch Α nur an wenigen Stellen explizit hervorgehoben wird, so wird die vorliegende Untersuchung doch zeigen, daß sie dieses Buch gleichsam wie einen roten Faden durchzieht: In Kapitel 1.4 macht Aristoteles zunächst darauf aufmerksam, daß der Theorie von Anaxagoras zufolge jedes aus jedem (vgl. 187b2: πάν έκ παντός) bzw. Beliebiges aus Beliebigem (vgl. 187b24: έξ ότουοΰν ότιοΰν) würde. Dieses Werden eines jeden aus einem jeden bzw. eines Beliebigen aus einem Beliebigen wird sich in den von Aristoteles nachfolgend angeführten Argumenten gegen die Theorie von Anaxagoras als Unmöglichkeit erweisen. In Kapitel 1.5 weist Aristoteles dann daraufhin, daß die Vorgänger (konträre) Gegensätze als Prinzipien angenommen haben, wobei diese konträre Gegensätzlichkeit für Aristoteles ein erstes Konstitutionsmoment darstellt, das für das Werden eines Bestimmten aus einem Bestimmten verantwortlich ist. Auch wenn diese durch die konträren Gegensätze konstituierte Bestimmtheit des Werdens im weiteren Verlauf der Untersuchung zunächst wieder in den Hintergrund tritt, so scheint sie doch eine Bedeutung fiir den von Aristoteles in Kapitel 1.7 dargelegten eigenen Ansatz zu haben. Da in Kapitel 1.5, wo von einem ύποκείμενον noch keine Rede ist,16 angenommen wird, daß die konträren Gegensätze für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich seien, und da die in Kapitel 1.5 herausgearbeitete konträre Gegensätzlichkeit der Prinzipien in 15 16
Vgl. Politeia 479c, 508; Timaios 28a; Philebos 59b. Dies wird erst in Kapitel 1.6 thematisiert, wo auf die Aporien hingewiesen wird, die sich ergeben, wenn man wie in Kapitel 1.5 nur Gegensätze als Prinzipien annimmt. Aristoteles führt in 1.6, 189a22-34 drei Aporien an, die darlegen sollen, daß den Gegensätzen notwendigerweise ein ύποκείμενον als drittes Prinzip zugrunde zu legen ist. Ich werde zeigen, daß Aristoteles mit diesen drei Aporien auf die in 1.5, 188a27-30 angeführten drei Kriterien einer αρχή zurückgreift, und zwar auf folgende Weise: Während die drei Kriterien einer άρχή - (1) μήτε έξ άλλήλων; (2) μήτε έξ άλλων; (3) έκ τούτων πάντα - in Kapitel 1.5 einen guten Grund dafür darstellen, Gegensätze zu Prinzipien zu machen, so führen eben diese drei Kriterien in Kapitel 1.6 in Aporien, wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt.
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Kapitel 1.7 durch den umfassenderen Gegensatz von είδος und στέρησις ersetzt wird,17 stellt sich die Frage, welches Moment in bezug auf den von Aristoteles in Kapitel 1.7 dargelegten eigenen Ansatz für die Nichtbeliebigkeit des Werdens verantwortlich ist. Die konträren Gegensätze können es nicht alleine sein, da sie für das substantielle Werden der ούσίαι keine Rolle spielen. Der Gegensatz είδος und στέρησις kann es nicht alleine sein, da er zu umfassend ist (denn es gibt ja unzählbar vieles, das z.B. nicht die Form einer Statue hat und doch nicht zur Statue werden kann). Folglich muß das ύποκείμενον für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein. Dieses ύποκείμενον kann allerdings nur dann für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein, wenn es selbst schon von sich aus ein bestimmtes ύποκείμενον ist, so daß gilt, daß bestimmte Formen nur bestimmten Zugrundeliegenden zukommen können. Auch wenn Aristoteles die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden in dieser Form nicht eigens hervorhebt, kann sie doch aus seinen Bemerkungen über das Werden in Kapitel 1.7 herausgearbeitet werden. Mit dieser Bestimmtheit des Zugrundeliegenden ist zugleich aber die These verbunden, daß Aristoteles im Buch Α der Physik nicht von einer prima materia spricht, die für sich betrachtet das vollkommen Unbestimmte darstellt. Vor allem in bezug auf die Erkennbarkeit der ύποκειμένη φύσις durch eine Analogie (1.7, 191a7-14) wie auch in bezug auf die These von der Unvergänglichkeit der ύλη (1.9, 192a25-34) ist innerhalb der Sekundärliteratur zuweilen die Ansicht vertreten worden, Aristoteles spreche hier von einer prima materia. Demgegenüber wird die vorliegende Untersuchung jedoch deutlich machen, daß sich diese prima materia nach Ansicht von Aristoteles vielmehr in der Theorie Piatons findet, von der sich Aristoteles allerdings deutlich unterscheiden will. Der vorliegenden Untersuchung zufolge versteht Aristoteles das Prinzip der ύλη im Buch Α der Physik nicht als prima materia, sondern vielmehr als ein allgemeines Prinzip, als welches die ύλη unvergänglich ist und im Verhältnis zum είδος durch eine Analogie mit den konkreten Dingen erkannt werden kann. Die aristotelische Physik gilt heute naturwissenschaftlich betrachtet in vielen Punkten als weitgehend überholt. Dennoch muß diese Überholtheit nicht besagen, daß mit ihr zugleich auch die gesamte Theorie bedeutungslos geworden ist. Vor allem aufgrund ihrer Plausibilität und ihres unmittelbaren Bezugs auf das uns in der Wahrnehmung Gegebene konnte sich die aristotelische Physik über einen so langen Zeitraum behaupten, bis sie von der neuzeitlichen Naturwissenschaft abgelöst wurde, in der die Plausibilität und unmittelbare Einsichtigkeit der Theorie jedoch zunehmend verlorengegangen ist. Nach Ansicht von Hieber steht die aristotelische Naturerkenntnis wegen ihres Bezugs zur lebensweltlichen Erfahrung in einem genetischen und widerspruchsfreien Zusammenhang mit dem
Dies findet seinen Grund darin, daß die konträren Gegensätze zwar ftlr die Eigenschaftsveränderung, nicht aber für das substantielle Entstehen einer ούσία eine Bedeutung haben. Denn die ούσίαι sind ja, wie Aristoteles in 1.6, 189a32-34 hervorhebt, einander nicht konträr entgegengesetzt.
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durch alltägliche Erfahrung erworbenen Wissen.18 Das Auseinanderfallen von lebensweltlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis bezeichnet Hieber als „epistemologischen Bruch" (1982: 176 f.). Dieser epistemologische Bruch ist jedoch nicht nur in der modernen Physik zu beobachten. Aristoteles hat einen solchen Bruch bereits in einigen Theorien seiner Vorgänger - man denke an die Eleaten und an Anaxagoras - gesehen und ihnen eine plausiblere Theorie des Werdens gegenübergestellt, in der er von der Beobachtung konkreter Werdeprozesse und deren sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten ausgeht. Die diesen sorgfältig durchgeführten Analysen des Werdens zugrundeliegende Frage danach, wie es überhaupt möglich ist, daß ein Bewegtes und sich ständig Veränderndes Gegenstand unserer Erkenntnis werden kann, so daß wir schließlich ein Wissen vom Bewegten erlangen, ist auch heute noch als eine durchaus ernst zu nehmende Frage zu betrachten.
Vgl. Hieber (1982: 174): „Für ihre theoretischen Aussagen ist ausgeschlossen, daß sie in Widerspruch geraten mit der alltäglichen Erfahrung, wie sie jeder Erwachsene, Mündige besitzt. [...] Daß es so lange gedauert hat, bis die aristotelische Theorie durch die neuzeitliche Naturwissenschaft verdrängt werden konnte, lag sicherlich im wesentlichen nicht daran, daß die Aristoteliker so große Dogmatiker waren, sondern vielmehr an der unmittelbaren Einsichtigkeit und Überzeugungskraft dieser Theorie, eben an dem genetischen Zusammenhang von lebensweltlicher Erfahrung und theoretischer Formulierung dieser Erfahrung."
1. Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung' 1.1 Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien In Kapitel 1.11 legt Aristoteles die der nachfolgenden Untersuchung zugrundeliegende Methode dar.2 Wie bei vielen seiner anderen Werke beginnt Aristoteles auch in der Physik mit einer allgemeinen Bestimmung: Da Wissen und Verstehen in allen wissenschaftlichen Disziplinen [περί π ά σ α ς τ ά ς μεθόδους], bei denen es Prinzipien, Ursachen oder Elemente gibt [ών ε ί σ ί ν ά ρ χ α ί ή α ί τ ι α ή στοιχεία], dadurch geschieht, daß man diese kennt [γνωρίζειν] (denn wir glauben, dann ein jedes zu erkennen [γιγνώσκειν], wenn wir seine ersten Ursachen, seine ersten Prinzipien bis hin zu den Elementen kennen), so ist klar, daß auch bei der Wissenschaft von der Natur [της περί φύσεως έπιστήμης] versucht werden muß, zuerst dasjenige über die Prinzipien zu bestimmen. (1.1, 184 alO-16)
Im Einleitungssatz fuhrt Aristoteles mit den Prinzipien, Ursachen und Elementen (άρχαί. η αϊτια ή στοιχεία) den Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung in Gestalt einer Argumentation ein: (i) Begründet werden soll die Konklusion a 14-16, der zufolge auch bei der Wissenschaft von der Natur zuerst über die Prinzipien Bestimmungen zu treffen sind, (ii) Die Begründung erfolgt im Anfangsteilsatz alO-12, dem zufolge in allen wissenschaftlichen Disziplinen (μέθοδοι), 3 bei denen es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, Wissen daraus entsteht, daß man diese kennt, (iii) Diese Begründung erfährt in der Parenthese a 1214 selbst eine Begründung: „Denn wir glauben, dann ein jedes zu erkennen, wenn wir seine ersten Ursachen, seine ersten Prinzipien bis hin zu den Elementen kennen, [...]". In bezug auf eine Begründungshierarchie ist die Parenthese al2-14 der eigentliche Ausgangspunkt der Untersuchung, da sie selbst keine weitere Begrün-
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Heidegger (1957: 112) charakterisierte dieses Kapitel wie folgt: „Dieses kurze Kapitel ist die klassische Einführung in die Philosophie. Es macht auch heute noch ganze Bibliotheken philosophischer Literatur aberflüssig. Wer dieses Kapitel verstanden hat, kann die ersten Schritte im Denken wagen." Derartige methodologische Bemerkungen finden sich auch an anderen Stellen des aristotelischen Werkes: vgl. Eth. Eud. 1216b26-35 (1217al9-20); Eth. Nik. 1.1/2, 1095a2-4, b3; Met. VII.3, 1029b3-12; De An. II.2, 413all-12; An. post. 1.2, 71b9 ff. und 11.11, 94a20 ff.; Top. WA. Wobei die έπιστήμη περί φύσεως (184al4-15) als eine derartige wissenschaftliche Disziplin (μέθοδος) Uber die Natur zu verstehen ist. Charltons Übersetzung lautet (1970: 1): „In all disciplines in which there is systematic knowledge of things with principles, causes, or elements, it arises from a grasp of those: [...]."
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Physikl.
1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
dung erfährt, sondern durch ein Überzeugtsein (vgl. ,,οίόμεθα") legitimiert ist. 4 Bedenkt man, daß bei Aristoteles' Vorgängern die Ansicht verbreitet war, daß sich nur von einem Bleibenden und Beständigen, nicht aber von einem Bewegten ein vollständiges Wissen gewinnen läßt, 5 da sich das Bewegte aufgrund seines Bewegtseins kontinuierlich verändert, so stellt sich die Frage, wie das Bewegte überhaupt Gegenstand der Erkenntnis zu werden vermag. Angesichts dieser Frage bekommt der in der Parenthese a 12-14 ausgesprochene Gedanke, daß eine Erkenntnis von etwas die Erkenntnis seiner Prinzipien voraussetzt, insofern eine für die Möglichkeit der Erkenntnis der Naturdinge - und somit für die Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft - zentrale Bedeutung, als die Prinzipien bei den bewegten Naturdingen gleichsam die bleibenden und unbewegten Fixpunkte darstellen, aus denen heraus eine Erkenntnis derselben möglich werden soll. Die mit dem Einleitungssatz vorliegende Argumentation lautet wie folgt: (i) (ii)
(iii)
Weil sich das Erkennen eines j e d e n Einzeldings dadurch vollzieht, daß wir die Prinzipien dieses Einzeldings kennen ( a l 2 - 1 4 ) , und weil sich das Wissen und Verstehen bezüglich einer jeden wissenschaftlichen Disziplin, bei der es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, dadurch vollzieht, daß man eben letztere kennenlernt (alO-12), so ist klar, daß auch bezüglich der Wissenschaft von der Natur versucht werden muß, zuerst über die Prinzipien Bestimmungen zu treffen ( a l 4 - 1 6 ) .
Der Satz (i) stellt eine Fundamentalannahme dar, die nicht weiter begründet wird. Aus dieser Fundamentalannahme folgt der Satz (ii), dem zufolge sich das Wissen und Verstehen bezüglich einer jeden wissenschaftlichen Disziplin, bei der es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, dadurch vollzieht, daß man eben diese kennenlernt. Unter der Voraussetzung, daß die ' έ π ι σ τ ή μ η περί φ ύ σ ε ω ς ' eine solche wissenschaftliche Disziplin (μέθοδος) ist, bei der es Prinzipien, Ursachen und Elemente gibt, folgt (iii) aus (ii). Die von Aristoteles im Einleitungssatz eingeführte Terminologie zeugt von Vorsicht und Offenheit im sprachlichen Ausdruck. Aristoteles will sich am Ausgangspunkt seiner Untersuchung noch nicht auf eine eindeutige Terminologie festlegen. So spricht Aristoteles in alO parallel vom „Wissen" (εϊδέναι) und „Verstehen" (έπίστασθαι), wobei Wagner (1967: 393) daraufhingewiesen hat, daß ε ϊ δ έ ν α ι gegenüber έ π ί σ τ α σ θ α ι der weitere Begriff ist. In al 1 spricht Aristoteles von „Prinzipien" (άρχαί), „Ursachen" ( α ϊ τ ι α ) und „Elementen" (στοιχεία), wobei diese Ausdrücke hier in ihrer Bedeutung nicht weiter differenziert werden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden wir jedoch sehen, daß Aristoteles diese Ausdrücke in ihrer Bedeutung durchaus differenzieren wird. 6 Ein weiteres Paar von Ausdrücken, die zunächst als Synonyme erscheinen, fin4
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Diese Prämisse findet sich bei Aristoteles auch an anderen Stellen (vgl. An. post. 1.2, 71b9; 71b30 und 72a31; 11.11, 94a20; Met. 1.3, 983a24; II I, 993b23; II.2, 994b27; VI.l, 1025b6; XI.7, 1063b36). Vgl. dazu auch Aristoteles' Bemerkungen in Met. 1.6, 987a29 ff. und IV.5, 1010a7-10. Zu einer Bedeutungsdifferenzierung der Ausdrücke „Prinzipien" (άρχαί), „Ursachen" (αϊτια) und „Elemente" (στοιχεία) vgl. auch Met. V.l-3 und XII.4.
Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien
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det sich in a 12-13. Dort ist einerseits von „γιγνώσκειν" (erkennen) und andererseits von ,,γνωρίζειν" ((er)kennen) die Rede. Daß diese beiden Ausdrücke jedoch nicht nur in ihrer sprachlichen Gestalt, sondern auch in ihrem semantischen Inhalt einen Unterschied aufweisen sollen, zeigt sich durch folgende Überlegung: Vollzieht sich das Erkennen (γιγνώσκειν) der Einzeldinge (τά έκαστα) dadurch, daß man deren Prinzipien, Ursachen und Elemente (er)kennt (γνωρίζειν), so müssen diese beiden Arten des Erkennens doch ihrem Wesen nach voneinander unterschieden sein, da sonst ein Regressus ad infinitum hinsichtlich der Erkennbarkeit droht. Wenn man nämlich die Einzeldinge nur durch eine vorangegangene Erkenntnis der Prinzipien erkennt, und wenn die Erkenntnis eines jeden immer schon ein Erkennen aus Prinzipien ist, so könnten die Prinzipien ihrerseits eigentlich auch nur aus ihnen vorausliegenden Prinzipien erkannt werden, womit abgesehen von einem Regressus ad infinitum auch die Gefahr droht, daß die Prinzipien keine Prinzipien wären, da ihnen frühere Prinzipien vorausliegen müßten, aus denen sie erkannt werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, verwendet Aristoteles bereits auf der sprachlichen Ebene zwei verschiedene Wörter für die beiden verschiedenen 'Arten' der Erkenntnis der Prinzipien einerseits und der Erkenntnis der Einzeldinge andererseits. Wenn Aristoteles also sagt, daß wir dann ein jedes Einzelne erkennen (γιγνώσκειν έκαστον), wenn wir seine Prinzipien (er)kennen (184al2-14), so sind zu diesen 'Einzelnen' (έκαστον) hier nicht die Prinzipien zu zählen. Nachdem Aristoteles den Gegenstand von Physik I - die άρχαί, αϊτια und στοιχεία der φύσει δντα - auf begründete Weise eingeführt hat, geht er nun dazu über, die Methode zu bestimmen, mit Hilfe derer man zu diesem Gegenstand gelangen soll: [Unser Erkenntnis-] Weg [ή όδός] aber [δέ] ist von Natur aus so beschaffen [πέφυκε], daß er von dem fur uns Bekannteren und Deutlicheren zu dem der Natur nach Deutlicheren und Bekannteren führt. Denn das Für-uns-Bekannte und das Schlechthin-Bekannte ist nicht dasselbe. (1.1, 184 a l 6 - 1 8 )
Dieser Satz wird dem Einleitungssatz durch die Konjunktion „aber" [δέ] gegenübergestellt, 7 so daß folgender Konflikt angezeigt ist: Sprach der Einleitungssatz alO-16 davon, daß die Physik sich zuerst mit den Prinzipien der φύσει δντα zu beschäftigen habe, da eine Erkenntnis der φύσει δντα nur aus den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien möglich sei, so wird diesem nun in a 16-18 gegenübergestellt, daß uns die Prinzipien der φύσει δντα nicht unmittelbar bekannt sind, sondern selbst nur vermittels einer Bekanntschaft mit den einzelnen φύσει δντα zugänglich werden. Dies bedeutet jedoch, daß unser natürlicher ErkenntDemgegenüber Ubersetzt Zekl (1987: 3) den Ausdruck „δέ" in einem konklusiven Sinne durch „damit", als stünde im griechischen Text ein ,,δή": „Es ergibt sich damit der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren." Dieses „damit" verfälscht jedoch insofern den argumentativen Zusammenhang, als die Behauptung, daß unser Erkenntnisweg von Natur aus so beschaffen sei, daB er von dem für uns Bekannteren zu dem der Natur nach Bekannteren führe, ja nicht aus dem Einleitungssatz folgt, sondern diesem vielmehr entgegensteht. Aristoteles behauptet hier doch, daß wir gerade nicht mit den Prinzipien als dem der Natur nach Bekannteren beginnen können.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
nisweg gerade nicht mit den Prinzipien beginnen kann, sondern seinen Ausgang vielmehr in den φύσει δντα zu suchen habe. Die in Kapitel 1.1 von Aristoteles zugrunde gelegte Methodologie besagt in vereinfachter Gestalt folgendes: Während die Wissenschaft als ein systematisches Ganzes ihren Ausgangspunkt in den Prinzipien hat, aus denen sie das Einzelne erkennt, hat unser menschlicher Erkenntnisweg, der zu den Prinzipien führen soll, seinen Ausgangspunkt umgekehrt in den wahrnehmbaren Einzeldingen. Drohte in bezug auf den Einleitungssatz die Gefahr eines Regressus ad infinitum, so droht innerhalb des logischen Fundierungsverhältnisses zwischen Prinzipien und φύσει δντα nun zudem die Gefahr eines Zirkels, der folgende Gestalt hat: Einerseits müssen zur Erkenntnis eines φύσει δν zuvor dessen Prinzipien erkannt werden (al2-14), und andererseits muß umgekehrt zur Erkenntnis der Prinzipien vom φύσει öv ausgegangen werden, welches folglich in einer bestimmten Hinsicht bereits bekannt sein muß. Weder das φύσει δν noch seine Prinzipien scheinen mithin unmittelbar erkennbar zu sein. Vielmehr wird die Erkenntnis des einen jeweils durch die Kenntnis des anderen vermittelt. Diesen Weg, der vom φύσει δν ausgehend zu dessen Prinzipien führt und von dort wieder zum φύσει δν zurückkehrt, kann man mit den Worten von Kullmann (1975: 302 ff.) auch als eine „auf- und absteigende Dialektik" bezeichnen. 8 Aus der Analyse der beiden Einleitungssätze ergibt sich zunächst folgendes Bild: Die beiden Einleitungssätze beschreiben genaugenommen nicht eine, sondern vielmehr zwei Methoden, die ihre Gültigkeit für je verschiedene Geltungsbereiche haben: Während der erste Satz (alO-16) seine Methode, der zufolge man von den Prinzipien ausgehend zur Erkenntnis der φύσει δντα gelangen soll, im Hinblick auf die (gesamte) Physik als eine wissenschaftliche Disziplin (d.h. im Hinblick auf ein 'systematisches Wissen') aufstellt - auf diese Weise rechtfertigt sich die Stellung des Buches Α „περί άρχων" als Anfangsbuch der Physik -, betrifft die im zweiten Satz (al6-18) explizierte Methode, der zufolge man umgekehrt von den φύσει δντα ausgehend zu den Prinzipien derselben gelangen soll, die im Buch Α vorgelegte Untersuchung, wie unser menschliches Daß Aristoteles sich dieser Gefahr eines Zirkels bewußt ist, wie dies bereits durch die Wahl der unterschiedlichen Wörter ,,γιγνώσκειν" und ,,γνωρίζειν" in bezug auf die unterschiedlichen Gegenstände der Erkenntnis deutlich wird, zeigt auch folgende Textstelle aus den Anal. post. 1.3, 72 bl5-32: „Die anderen räumen die Möglichkeit des Wissens [der Prinzipien] ein: es entstehe, sagen sie, nur durch Beweis. Aber es hindere nichts, daß es für alles einen Beweis gebe. Denn der Beweis könne im Zirkel geführt und wechselseitig eines aus dem anderen bewiesen werden. Wir aber sagen, daß weder jede Wissenschaft beweisend, noch die Wissenschaft der unvermittelten Prinzipien beweisbar ist. Und es liegt amtage, daß dem notwendig so ist. Denn wenn es notwendig ist, das Frühere, also das, woraus der Beweis geschieht, zu wissen, und man einmal bei dem Unvermittelten ankommt, so ist dieses notwendig unbeweisbar. [ . . . ] Daß man aber unmöglich schlechthin im Zirkel beweisen kann, ist klar, wenn anders der Beweis aus Früherem und Bekannterem geführt werden muß. Denn dasselbe kann unmöglich zugleich früher oder später sein als dasselbe, außer auf die andere Weise, also wenn das eine es ftlr uns, das andere es schlechthin ist, nach der Weise also, wie die Induktion zur Erkenntnis führt. 1st dem aber so, so wäre es keine richtige Fassung, wenn man von einem Wissen schlechthin spricht, sondern Wissen hätte zweierlei Bedeutungen; oder es ist der andere Beweis, aus dem für uns bekannteren, kein Beweis schlechthin." (Übers, nach Rolfes). In Analogie zu Phys. 1.1 soll auch hier durch die Differenzierung der Hinsichten, unter denen etwas betrachtet werden kann, ein Zirkel vermieden werden.
Die Erkenntnis von etwas als Erkenntnis aus Prinzipien
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Erkennen zu den Prinzipien gelangen kann. Diese diametrale Gegenüberstellung der beiden Methoden - einerseits von den Prinzipien zu den φύσει δντα und andererseits von den φύσει δντα zu den Prinzipien - wird von Aristoteles bei genauerem Hinsehen auch durch die Sprache zum Ausdruck gebracht. Spricht Aristoteles im Einleitungssatz bezüglich der „(systematischen) Wissenschaft über die Natur" (έπιστήμη περί φύσεως) von einer „μέθοδος", so bezeichnet er demgegenüber unseren menschlichen (untersuchenden) Erkenntnisweg in al6-18 als ,,όδός". In dieser Gegenüberstellung von „μέθοδος" und ,,όδός" ist bereits die Gegenüberstellung eines 'systematischen Wissens' (als Darstellung von Ergebnissen) und eines 'untersuchenden Wissens' (als der Erwerb des Wissens) angezeigt. Für das Verhältnis der beiden Arten des Wissens zueinander gilt, daß die Darstellung des Wissens nach dem (μεθ' όδός) Erwerb dieses Wissens kommt. 9 Mit dieser Interpretation greife ich auf die von Barnes (1975: 77 f.) als Lösung für eine bei Aristoteles vielfach beobachtete 'wissenschaftstheoretische Diskrepanz' vorgeschlagene Differenzierung zwischen der „Darstellung" (presentation) und dem „Erwerb" (acquire) von Wissen zurück. Der Ausdruck „wissenschaftstheoretische Diskrepanz" meint, daß die in den Analytica Posteriora (vor allem in den ersten sechs Kapiteln des Buches I) dargelegte und für die Einzelwissenschaften geforderte äußerst formalisierte Theorie der wissenschaftlichen Methode, die man auch als Theorie der 'apodeiktischen' oder 'beweisenden' Wissenschaft bezeichnet, in den wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen selbst keine Anwendung findet. Owen beschreibt diese wissenschaftstheoretische Diskrepanz wie folgt: There seems to be a sharp discrepancy between the methods of scientific reasoning recommended in the Analytics and those actually followed in the Physics. The difference is sometimes taken to lie in the fact that the Posterior Analytics pictures a science as a formal deductive system based on necessary truths whereas the Physics is more tentative and hospitable both in its premisses and in its methods. But this is too simple a contrast. [...] The discrepancy between the two works lies rather in the fact that, whereas the Analytics tries (though not without confusing and inconsistency) to distinguish the two processes of finding and then applying the principles, the Physics takes no pain to hold them apart. (Owen, 1961: 83 f.)
Für diese Diskrepanz sind verschiedene Lösungen vorgeschlagen worden. 10 Als deren überzeugendste wird auch heute noch die Lösung von Barnes (1975) angesehen," die darin besteht, daß man bei Aristoteles zwischen der 'Darlegung 9
Zur Bedeutung von „μέθοδος" als ,,μεθ' όδός" vgl. Liddell/Scott ('1940: 1091: „μέθοδος ή, (μετά, όδός) following after, pursuit, [.. .]."). Einige Interpreten waren der Auffassung, daß diese Diskrepanz gar nicht bestehe, da sich bei Aristoteles auch in den wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen syllogistische Beweisverfahren rekonstruieren lassen. Andere Interpreten (vgl. Grote (31883: 210) und Stachowiak (1971: 273-9)) meinten, die in den Analytica posteriora dargelegte Theorie beziehe sich nicht auf die Physik, sondern nur auf formale Wissenschaften, wie z.B. die Mathematik. Wieder andere Interpreten (vgl. Grene (1963: 58) und Maier (1896: 398)) sahen in den Analytica posteriora ein ftlr die Einzelwissenschaften unerreichbares Ideal formuliert. Vgl. auch Mesch (1994: 97): „Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage, mit der die Kommentatoren lange vergeblich fertig zu werden versuchten, liegt nach der heute gängigen Auffas-
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der aus wissenschaftlichen Untersuchungen resultierenden Ergebnisse' („teaching of facts already won") und der 'wissenschaftlichen Untersuchung selbst' (scientific research") zu unterscheiden habe. Nach Ansicht von Barnes ist die Theorie der apodeiktischen Wissenschaft, wie Aristoteles sie in den Analytica posteriora entwickelt, einzig für die Darlegung der Ergebnisse bestimmt, nicht aber für die Art und Weise, wie die Untersuchung selbst zu führen sei. Diese von Barnes vorgeschlagene Differenzierung kommt auch in den beiden zu Beginn von Physik I unterschiedenen Methoden zum Ausdruck, so daß Owens Bemerkung, daß die Physik sich keine Mühe gebe, die beiden Prozesse des Auffindens und der Anwendung der Prinzipien auseinanderzuhalten, angesichts der Differenzierung zwischen den Ausdrücken „μέθοδος" und ,,όδός" in dieser allgemeinen Form nicht aufrechtzuerhalten ist. Wenn Aristoteles in 184a 16-18 sagt, daß der Weg von Natur aus so beschaffen sei (vgl. ,,πέφυκε"), daß er von dem für uns Bekannteren und Deutlicheren zu dem der Natur nach Deutlicheren und Bekannteren führe, so ist hier mit dem Ausdruck ,,πέφυκε" die Natur unseres menschlichen Erkenntnisvermögens gemeint. Es scheint mit diesem Ausdruck der Gedanke angedeutet zu sein, daß wir - die untersuchenden Menschen - bei dieser Untersuchung selbst nicht ausgeschlossen sind, stellen wir doch selbst jeweils ein Stück Natur dar.12 Zugleich ist in dem Ausdruck ,,πέφυκε" die Begründung für das Abweichen von der zuerst genannten Methode (der Weg von den Prinzipien zu den φύσει οντα) enthalten. Versteht man nämlich den zweiten Satz in dem Sinne, daß „unser Erkenntnisweg von Natur aus die Eigenschaft hat, ..." - womit gemeint ist, daß der Erkenntnisweg der Natur unseres Erkennens gemäß ist -,13 so bedeutet dies, daß es nun einmal in der Natur unseres Erkennens liegt, von dem für uns Bekannteren zu dem der Natur nach Bekannteren (d.h. von den φύσει οντα zu den Prinzipien) zu gehen. Wieland (1962: 75) weist zu Recht daraufhin, daß dies kein Zeichen für eine Unvollkommenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens ist. Gerade durch den 'Umweg', den das menschliche Erkenntnisvermögen zu gehen hat, indem es von den φύσει οντα ausgehend zu deren Prinzipien gelangt, so daß es nicht sogleich mit den Prinzipien beginnen kann, ist für Aristoteles vielmehr eine Referenz auf die Empirie als Kontrollinstanz der zu entwickelnden Theorie gesichert.
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sung darin, daß die sogenannten Lehrschriften gar keine Lehrschriften sind, sondern die von der Dialektik beherrschte Phase der Forschung widerspiegeln." Vgl. FitzGerald (1963: 60): „At least, all those things of which we are the immediate observers, including the human observer himself, are in existence beings-in-becoming, subjects of generation and corruption." Vgl. auch Sparshott (1987: 35): „Since we are part of nature, the form of our knowledge is determined by the structure of the reality into which we fit as the natural knowers." Vgl. hierzu auch Frede (1985: 216 f.): „[...] in particular the word πέφυκε, which appears in many different places in connection with Democritean necessity, indicates that Aristotle is referring to what 'simply' is the nature of the thing in question when it is taken in its own right and not as a means for a further end (cf. Phys, 199 a8, 200 a22; De motu 703 a35; PA 642 a32)."
Die „ ή μ ΐ ν γνωριμώτερα" und die „φύσει γνωριμώτερα"
1.2 Die „ ήμΐν γνωριμώτερα" und die „ φύσει
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γνωριμώτερα"
In 184a 16-18 stellt Aristoteles das für uns (ήμΐν) Bekanntere und Deutlichere dem der Natur nach (φύσει) Bekannteren und Deutlicheren gegenüber und behauptet, daß der Weg von dem für uns Bekannteren (ήμΐν γνωριμώτερον) zu dem der Natur nach Bekannteren (φύσει γνωριμώτερον) zu führen habe.14 Betrachtet man den Begründungszusammenhang der Sätze a 16-18, so fällt auf, daß diese Behauptung nicht nur durch das ,,πέφυκε" (d.h. dadurch, daß unsere Erkenntnis nun einmal von Natur aus so beschaffen ist), sondern auch durch den nachfolgenden Satz al8 ,,ού γαρ ταύτα ήμΐν τε γνώριμα και απλώς" begründet wird. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die bloße Behauptung der Nichtidentität des 'Für-uns-Bekannten' (γνώριμα ήμΐν) und des 'Schlechthin-Bekannten' (γνώριμα άπλώς) in al8 eine Begründung flir die Richtung des Weges (vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον) darstellen soll, kann sie doch allenfalls eine Begründung dafür darstellen, daß überhaupt ein Weg zu gehen ist. Andererseits ist aber gerade die Richtung des Weges die zentrale These des zu begründenden Satzes 184al6-18, dessen Aussage ja darin besteht, daß wir unserer natürlichen Erkenntnis zufolge nur den Weg vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον, nicht aber umgekehrt vom φύσει zum ήμΐν γνωριμώτερον gehen können. Vor diesem Hintergrund ist die Begründung der Richtung des Weges wohl in dem ,,πέφυκε" (al6) zu sehen, während der Satz al8 eine Begründung dafür darstellt, daß aufgrund der Verschiedenheit des 'Für-uns-Bekannten' und des 'Schlechthin-Bekannten' überhaupt ein Weg zu gehen ist. Aristoteles führt den zu gehenden Weg im nachfolgenden weiter aus: Deshalb ist es notwendig, auf diese Weise voranzugehen: V o n dem der Natur nach Undeutlicheren - uns aber Deutlicheren - zu dem der Natur nach Deutlicheren und Bekannteren. Für uns aber ist zuerst klar und deutlich das mehr Zusammengemengte [τα σ υ γ κ ε χ υ μ έ ν α μ ά λ λ ο ν ] . Später jedoch werden aus diesem die Elemente und Prinzipien bekannt, wenn man es auseinandernimmt [διαιροΰσι ταΰτα]. Deshalb muß der Weg von den allgemeinen Ganzheiten [έκ των κ α θ ό λ ο υ ] zu den Einzelheiten [έπϊ τ ά καθ' έ κ α σ τ α ] führen. Denn das Ganze [τό γ α ρ δ λ ο ν ] ist der Wahrnehmung nach bekannter, und die allgemeine Ganzheit [τό δέ κ α θ ό λ ο υ ] ist doch ein bestimmtes Ganzes [δλον τί έστι], denn die allgemeine Ganzheit [τό κ α θ ό λ ο υ ] umfaßt vieles als [seine] Teile [ώς μέρη]. (1.1, 1 8 4 a l 8 - 2 6 )
Versucht man das bisher von Aristoteles Gesagte seiner Begründungsstruktur nach zusammenfassend zu gliedern, so erhält man folgendes Argument:15
14 15
In 184al8 bestimmt Aristoteles den Gegensatz zum „Für-uns-Bekannten" (γνώριμα ήμΐν) als „Schlechthin-Bekanntes" (γνώριμα άπλώς). Im Gegensatz zu Pacius, der in bezug auf den Weg, der zu den Prinzipien führen soll, der Ansicht ist, daß wir es mit drei verschiedenen Methoden zu tun haben, bin ich der Auffassung, daß Aristoteles hier nur eine einzige Methode beschreibt. Ross (1936: 456) bemerkt in diesem Zusammenhang: „Pacius seizes correctly enough the nature of the methods described in a 21-3, 23-6, and 26- b 12, respectively. But he is clearly wrong in suggesting that Aristotle puts these forward as three distinct methods. In the whole passage Aristotle seems to regard himself as describing a single method, as to whose precise nature however he is not very clear."
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung' (1) (2a)
(2b) (3)
Die Physik muß sich zuerst mit den Prinzipien beschäftigen, da die φύσει δντα nur aus den ihnen eigentümlichen Prinzipien erkannt werden können. (184al0-16) Aber. Unser natürlicher Erkenntnisweg führt umgekehrt von dem fllr uns Bekannteren (d.h. von der Wahrnehmung der φύσει δντα) zu dem der Natur nach Bekannteren (d.h. zur Erkenntnis der Prinzipien dieser φύσει δντα). (al6-18) Denn: Das für uns Bekannte ist nicht das schlechthin (bzw. das der Natur nach) Bekannte. (al8) Deshalb ist es notwendig, von dem für uns Bekannteren (ήμΐν γνιοριμώτεpov) zu dem der Natur nach Bekannteren (τη φύσει γνωριμώτερον) zu gehen. (al8-21)
Aristoteles fügt nun zunächst die weiteren Bestimmungen (3a) und (3b) an, die die Konklusion (4) vorbereiten: (3a) (3b)
Nun aber ist das für uns zuerst Bekannte das mehr Vermengte. (a21 -22) Und: Die Prinzipien (als das der Natur nach Bekanntere) werden erst später bekannt, wenn man das für uns Bekanntere auseinandernimmt. (a22-23)
In (3a) und (3b) kennzeichnet Aristoteles das ήμΐν γνωριμώτερον als ein MehrVermengtes (vgl. „συγκεχυμένα μάλλον"). Die Prinzipien und Elemente werden erst später bekannt (und sind wohl als φύσει γνωριμώτερα zu verstehen), wenn dieses Mehr-Vermengte auseinandergenommen wird. Mit dem ,,διαιροΰσι ταύτα" ist zugleich die Diairesis als diejenige Methode bestimmt, durch die man vom ήμΐν zum τή φύσει γνωριμώτερον gelangt.16 (4)
Deshalb ist es notwendig, daß der Weg vom καθόλου zu den καθ' έκαστα führt. (a23-24)
Die Konklusion (4) besteht in einer Ersetzung der Begriffe des ήμΐν und φύσει γνωριμώτερον durch die Begriffe des καθόλου und καθ' έκαστα. Der Weg vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον soll hier als ein Weg vom καθόλου zu den καθ' έκαστα beschrieben werden. Die Begründung für diese Ersetzung, die nicht aus dem bisher Gesagten hergeleitet werden kann, findet sich in den nachfolgenden Sätzen a24-26: Denn:
(4a) Das δλον ist ein der Wahrnehmung nach Bekannteres. (a24-25) (4b) Das καθόλου ist ein δλον τι. (a25) Denn: Das καθόλου umfaßt vieles als seine Teile. (a26)
Weil also das καθόλου vieles als Teile umfaßt (a26), ist es ein δλον τι (a25).17 Und weil das δλον τι ein der Wahrnehmung nach Bekannteres ist (a24-25), ist
17
Wenn Aristoteles in 184a22-23 den methodischen Weg vom ή μ ΐ ν zum φ ύ σ ε ι γνωριμώτερον als eine Diairesis kennzeichnet, so ist darauf hinzuweisen, daß diese Diairesis nicht, wie man es von Piaton her gewohnt ist, an einem Gattungsbegriff ansetzt, der in Arten und Unterarten differenziert wird (vgl. dazu Piatons Vorgehen im Sophistes und Politikos)·, vielmehr setzt die von Aristoteles hier beschriebene Diairesis „an einem undifferenzierten konkreten Gegenstand der natürlichen Erfahrung" (Wieland, 1962: 86 f.) an. Vgl. Aristoteles' Definition des ,,δλον" in Mel. V.26 und in Phys. IV.3, 210al6-17: „Auf eine andere Weise so: Das Ganze [besteht] in seinen Teilen. Denn neben seinen Teilen gibt es das Ganze nicht." Vgl. auch Phys. 1.2, 185b 11-16.
Die Bedeutung der Ausdrücke „ κ α θ ό λ ο υ " und ,,καθ' έ κ α σ τ α "
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folglich auch das καθόλου hier als δλον τι ein der Wahrnehmung nach Bekannteres. Unter der Voraussetzung, daß das ήμΐν γνωριμώτερον ein der Wahrnehmung nach Bekannteres ist, kann nun das ,,ήμΐν γνωριμώτερον" einerseits durch das „καθόλου" und das „φύσει γνωριμώτερον" andererseits durch das ,,καθ' έκαστα" ersetzt werden, wobei, wie in (3b) angedeutet wurde, die Prinzipien als 'Teile' dieses καθόλου die καθ' έκαστα desselben sind.18
1.3 Die Bedeutung der Ausdrücke „ καθόλου" und „ καθ' έκαστα" Der bei Aristoteles für gewöhnlich anzutreffende Sinn des Begriffspaars „καθόλου - καθ' έκαστα" ist der eines „Allgemeinen" im Verhältnis zum „Einzelnen", wobei mit diesem Verhältnis entweder dasjenige von „Gattung" zu „Art" oder dasjenige von „Art" zu „konkretem Einzelnen" gemeint sein kann (vgl. Wieland, 1962: 88). Die Tatsache, daß Aristoteles in Phys. 1.1 jedoch den Weg vom ήμΐν zum φύσει γνωριμώτερον als einen Weg vom καθόλου zu den καθ' έκαστα beschreibt - wobei das καθόλου als ein Ganzes (δλον τι) der Wahrnehmung nach bekannter sein soll -, hat zu Recht zu der mittlerweile vorherrschenden Ansicht geführt, daß Aristoteles die Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" hier in einer für ihn ungewöhnlichen Bedeutung verwendet.19 Indem man den Sinn der Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" in Phys. 1.1 als von ihrer gewöhnlichen Bedeutung abweichend interpretiert, läßt sich nämlich ein ansonsten un-
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Bereits die Tatsache, daß Aristoteles vom καθόλου im Singular und von den καθ' έκαστα im Plural spricht, deutet darauf hin, daß hier ein Ganzes in seine (vielen) Teile auseinandergenommen wird. Vgl. u.a. Wieland (1962: 88 und 1960/61: 210), Bolton (1991: 4), Wagner (1967: 395) und Ross (1936: 457). In dem Ausdruck „καθόλου" ist der Ausdruck „δλον" enthalten. Gerade diese wörtliche Bedeutung von „καθόλου" als „gemäß seinem (undifferenzierten) Ganzsein" ist gemeint, wenn hier das undifferenzierte, ganze Wahrnehmungsobjekt als ein „καθόλου" bezeichnet wird (vgl. dazu auch Wicksteed/Comford, 1980: 10). Demgegenüber haben wir es nach Ansicht von Pietsch (1992: 64 f.) in Phys. 1.1 nicht mit einer ungewöhnlichen Bedeutung des Wortes „καθόλου" zu tun. Pietsch weist darauf hin, daß wir der aristotelischen Wahmehmungstheorie zufolge gar nicht das Einzelne (z.B. Sokrates), sondern immer nur das Allgemeine wahrnehmen können. Zur Stützung seiner Interpretation beruft er sich auf An. post, 11.19, 100 al7 f.: „[...] denn man nimmt das Einzelne wahr, aber die Wahrnehmung geht auf ein allgemeines Objekt; sie geht z.B. auf den Menschen, nicht auf den Menschen Kallias." (Übers, von E. Rolfes). Der Ansicht von Pietsch ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: Wenn man in Physik 1.1 das καθόλου mit dem Allgemeinen identifiziert, und wenn man die ungewöhnliche Behauptung, daß das καθόλου das der Wahrnehmung nach Bekanntere sein soll, mit dem Hinweis auf An. post. 11.19 dadurch erklärt, daß die Wahrnehmung immer nur ein Allgemeines wahrnehmen kann, so erklärt dies weder den Umstand, daß wir den Ausführungen in An. post. 1.2 zufolge genau den umgekehrten Weg zu gehen haben (vom Einzelnen als ftlr uns und der Wahrnehmung nach Bekannteres zum Allgemeinen als schlechthin und der Natur nach Bekannteres), noch können wir damit das in Phys. 1.5, 189a5-10 Gesagte in Einklang bringen, wo das καθόλου als ein dem λόγος - und gerade nicht als ein der Wahrnehmung nach - Bekannteres bestimmt wird. Wagner (1967: 395) weist zu Recht daraufhin, daß bei Aristoteles zwischen dem „Streng-Allgemeinen des erklärenden Grunds und des Prinzips" einerseits und dem „schlichten Allgemeinen, das bloß komparativ und noch ungegliedert ist," andererseits zu unterscheiden ist.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
vermeidbarer Widerspruch mit dem in den Anal. post. I.220 und später in Phys. I.521 bezüglich des Verhältnisses von καθόλου und καθ' έκαστον Gesagten vermeiden. Sowohl die Tatsache, daß wir es in Kapitel 1.1 bezüglich des Verhältnisses von einem καθόλου zu seinen καθ' έκαστα mit einem Verhältnis von einem φύσει 6v (als ήμΐν γνωριμώτερον) zu seinen Prinzipien (als φύσει γνωριμώτερον) zu tun haben, als auch die Tatsache, daß dieses καθόλου der Wahrnehmung nach bekannter ist (a24-25), spricht für die These, das καθόλου als das in der Wahrnehmung noch undifferenzierte und als Ganzes erscheinende konkrete Individuum zu verstehen, während mit den ,,καθ' έκαστα" die Prinzipien dieses καθόλου gemeint sind.22 Die Frage nach der Verschiedenheit des ήμΐν und φύσει γνωριμώτερον ist ausgehend von dem bezüglich des καθόλου und καθ' έκαστα dargelegten Verständnis zunächst als eine Frage nach der Verschiedenheit eines Naturseienden (φύσει όν) von seinen es konstituierenden Prinzipien, Ursachen und Elementen (άρχαί, αίτια und στοιχεία) zu verstehen.
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In An. post. 1.2, 72al-5 sagt Aristoteles: „Ich nenne für uns früher und bekannter was der sinnlichen Wahrnehmung näher liegt, schlechthin früher und bekannter was ihr femer liegt. Ihr am fernsten ist das Allgemeinste, am nächsten das Einzelne. Und dieses beide ist sich entgegengesetzt." [Übers, von E. Rolfes], Vgl. in diesem Zusammenhang auch Wagner (1967: 395): „Die Schwierigkeit, aber auch deren Auflösung hängt am Begriff des Allgemeinen. Was sich am Ende des Erkenntnisweges zeigt, das Streng-Allgemeine des erklärenden Grunds und des Prinzips, ist n i c h t das Allgemeine, von dem hier gesprochen wird. Unterscheidet man hier nicht, so ist freilich der Widerspruch [zwischen Physik 1.1 und An. post 1.2, 72al-5] nicht zu leugnen, aber er durchzieht dann auch die Analytiken. Es sind eben beide Sätze wahr: Die sinnliche Wahrnehmung vermittelt das Allgemeine (Anal. post. I 31, 88 a4/5; 13/14; II 19, 100 al7, M/5) - und: Die sinnliche Wahrnehmung kann das Allgemeine nicht vermitteln (I 31, 87 b30; 88 a2). Das Allgemeine, das am Anfang des Erkenntnisweges steht, ist das schlichte Allgemeine, das bloB komparativ und noch ungegliedert ist, das also weder als Grund oder Prinzip zu fungieren vermag noch auch bestimmte Vorstellung von dem gibt, was in ihm enthalten ist. Man muß es analysieren, wenn man auf Prinzipien kommen will; man muß es analysieren, wenn man auf die in ihm umfaßten Einzelglieder kommen will. Es ist bloß sinnlich Allgemeines, unbestimmtes Allgemeines. Von solchem Allgemeinen, das bloß ein ungegliederter Inbegriff (dies ist der genaue Sinn von δλον in a24 und 25!) ist, spricht der folgende Physiksatz." In 1.5, 189a4-10 wird das καθόλου als das dem λόγος nach Bekannte bestimmt und dem Einzelnen (καθ' έκαστον) als das der Wahrnehmung nach Bekannte gegenübergestellt. Zu dieser gewöhnlichen Verwendung des καθόλου und καθ' έκαστον vgl. auch Met. 1.2, 982a23; III.3, 998bl7; V . l l , 1018b33. Vgl. dazu auch Guzzoni (1975: 34). Wieland spricht in bezug auf das καθόλου von einem „undifferenzierten konkreten Gegenstand der natürlichen Erfahrung" (1962: 87), McMahon (1957: 55) von einem „confused whole". Wagner bemerkt in diesem Zusammenhang (1967: 394): „Was uns die sinnliche Erfahrung bietet, ist zwar gewiß Einzelnes. Aber gerade dem Denken, das begreifen will, enthüllt es sich sofort als ungegliederte und unbestimmte Mannigfaltigkeit." Anderslautende Interpretationen wie die von Ross (1936: 457 f.), der in dem Verhältnis von καθόλου und καθ' έ κ α σ τ α ein Verhältnis vom Wissen genereller Merkmale (Jo be an animal") zum Wissen spezieller Merkmale („to be a cow") sieht, oder die von Konstan (1975: 24143), der in dem Verhältnis von καθόλου und καθ' έκαστα ein Verhältnis von einem komplexen AllgemeinbegrifT („compleχ universal'. z.B. „Vater") zu seinen ihn konstituierenden Allgemeinbegriffen („constituent universals": z.B. „Mann" und „Eltemteil") sieht, legen zwar auch eine vom Text geforderte Teil-Ganzes-Relation zugrunde, doch können sie weder aufzuzeigen, warum ihre Teile als Prinzipien des Ganzen zu verstehen sind, noch können sie darlegen, warum das von ihnen vorgeschlagene Ganze der Wahrnehmung nach bekannter sein soll als seine Teile.
Die Bedeutung der Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα"
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Da solche Ausdrücke wie ,,δν", ,,άρχή", „αίτια" und „στοιχεία" Aristoteles zufolge auf mehrfache Weise gesagt werden,23 verwundert es nicht, daß die Frage nach den Referenzobjekten des ,,ήμΐν γνωριμώτερον" und des „φύσει γνωριμώτερον" - sofern man darunter das φύσει 6v und dessen άρχαί, αϊτια und στοιχεία zu verstehen hat - in der Sekundärliteratur kontrovers diskutiert wurde. In bezug auf die Prinzipien als φύσει γνωριμώτερα wurde vor allem die Frage gestellt, ob wir es mit Real- (principia realia) oder Erkenntnisprinzipien (principia cognoscendi) zu tun haben.24 Haben die Interpretationen bezüglich des ontologischen Status der Prinzipien der φύσει δντα mitunter zu konträren Auffassungen innerhalb der Sekundärliteratur geführt,25 so neigt man in jüngerer Zeit eher zu einer vermittelnden Position, die bei Irwin (1988: 4) folgende Gestalt hat:26 But Aristotle also regards things - non-linguistic, non-psychological, non-propositional entities - as first principles. We come to know, e.g., that there are four elements, and this proposition that w e k n o w is a first principle; but the f o u r elements themselves are also first principles and are prior and better k n o w n by nature. Actually existing things are first principles, because they explain other things and our knowle d g e of the world requires u s to know the explanatory relations in it. [ . . . ] What is prior and better known by nature is both the propositional principle about, e.g., atoms, and t h e real principle mentioned in the proposition - the atoms themselves. [ . . . ] Let u s say that in so far as w e do this, w e grasp 'objective' (propositional) first principles describing the (non-propositional) first principles of an objective reality.
Während man sich in der Sekundärliteratur eingehend mit der Frage, ob wir es in bezug auf die φύσει γνωριμώτερα mit Real- oder Erkenntnisprinzipien zu tun haben, auseinandergesetzt hat, ist der analogen Frage auf Seiten des ή μ ΐ ν γνωριμώτερον, d.h. der Frage, ob wir es in bezug auf die ή μ ΐ ν γνωριμώτερα nur mit den Naturdingen selbst oder auch mit einfachen Aussagen über diese Naturdinge zu tun haben, wobei letztere ja ebenfalls ein 'Für-uns-Bekannteres' (ήμΐν γνωριμώτερον) darstellen, allerdings wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. 23 24
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Vgl. Met. V. 1 , 2 , 3 , 7. Zur mehrfachen Bedeutung des „öv" vgl. auch Phys. 1.2, 185a20-27. Zur Unterscheidung von Real- und Erkenntnisprinzipien vgl. auch Lumpe (1955: 112): „Aus der Definition des Aristoteles in Metaph. Δ 1 ergibt sich die Gliederung in 1. Erkenntnis(principia cognoscendi) und 2. Realprinzipien (principia realia): diese spricht er auch aus Metaph. Β 1. 995b7 sqq., wo er zwischen άρχαΐ της ούσίας und den άρχαΐ έξ ων δεικνύουσιν άπαντες unterscheidet." So vertritt Wieland (1962: 64, 133 und 204) eine eher 'sprachanalytische Position', der zufolge die Prinzipien in die Nähe reiner Erkenntnisprinzipien gerückt werden, faßt er sie doch als „formale Einteilungsgesichtspunkte ohne inhaltliche Bestimmung", als „Korrelationsbegriffe", als „Leerstellen" oder auch als „Reflexionsbegriffe" auf. Kritisch auseinandergesetzt haben sich mit Wielands sprachanalytischer These vor allem Tugendhat (1963), Wagner (1967: 337-360) und Oehler (1963). Oehler (1963: 64) versteht die Prinzipien als Realprinzipien im Sinne von „aktuellen Entitaten" die im Prozeß des Lebens selbst gegenwärtig sind und die Wirklichkeit der Dinge konstituieren. Vgl. auch Marx (1972: 20-29), der von den Prinzipien sowohl als „noeta", die nicht außerhalb des Denkens sein können, wie auch als „ontologische Prinzipien" spricht und einräumt, daß es bei Aristoteles keine fundamentale Trennung zwischen Sprache und Dingen gibt. Vgl. in diesem Kontext auch Bolton (1991: 22 f.): „Just so, in natural science the principle that nature, the realm of naturally changing things, exists can be more fully spelled out as the principle that form, privation and substratum exist."
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
Wicksteed und Cornford (1980: 8 f.) unterscheiden in ihrer Vorbemerkung zu Phys. 1.1 im Rückgriff auf Met. V.l, 1012b34-1013a24 zwischen folgenden drei Bedeutungen des Wortes ,,άρχή": The term 'beginnings' (άρχαί) is loosely used without clearly distinguishing three senses: (A) the primary elements of natural things (δθεν πρώτον γίγνεται ένυπάρχοντος, Met. 1013a4); (Β) the starting-points of a science. In a systematic science, e.g. geometry, these are (i) the premisses or basic truths (δθεν γνωστόν τό πράγμα πρώτον, 1013al4), which are 'true, primary, immediate, and intrinsically more intelligible than the conclusion and prior to it,' and are apprehended by intuition (νοΰς). Anal. Post. 71b20, 100b 12. (ii) But the best starting-point for inquiry or learning (μαθήσεως ουκ άπό τοΰ πρώτου καί της τοΰ πράγματος άρχής ένίοτε άρκτέον, άλλ' δθεν ράστ' αν μάθοι, 1013a2) must be 'things more immediately cognizable to us' by sense-perception.
Diese Differenzierung zwischen den Ausgangspunkten (άρχαί) einer systematischen Wissenschaft einerseits und einer Untersuchung andererseits führt Wicksteed und Cornford schließlich dazu, zunächst das undifferenzierte (συγκεχυμένον) und unanalysierte Ganze (δλον), das uns durch die Wahrnehmung gegeben ist, als αρχή im Sinne des Ausgangspunkts B(ii) der Physik zu bestimmen. Erst die Analyse dieser Ausgangspunkte in ihre Bestandteile führt uns zu den primären Begriffen und grundlegenden Wahrheiten, d.h. zu den άρχαί B(i), die in 184a 10-16 als Ziel der Untersuchung genannt werden und die von den άρχαί B(ii) zu unterscheiden sind.27 Betrachtet man die von Wicksteed und Cornford vorgenommene Differenzierung der drei Bedeutungen von „άρχαί", so wird deutlich, daß die άρχαί A (die primären Elemente der Naturdinge) als Realprinzipien zu verstehen sind, während sich die άρχαί B(i) (die Prämissen und grundlegenden Wahrheiten) als Erkenntnisprinzipien erweisen. Die άρχαί B(ii) (die Dinge, die uns durch die Wahrnehmung bekannter sind) lesen sich hingegen wiederum als 'reale Ausgangspunkte'. Hätten Wicksteed und Cornford hier ebenfalls weiter differenziert - und die Bemerkungen in Met. V.l, 1013a2 ff. lassen dies durchaus zu -, so hätten sie nicht nur die Dinge der Sinneswahrnehmung, sondern auch das unmittelbare Wahmehmungswissen über diese Dinge, das in Gestalt von Aussagen über diese Dinge zum Ausdruck kommt, zu diesen Ausgangspunkten gezählt.28 Ebenso wie sich die „φύσει γνωριμώτερα" in Real- und Erkenntnisprinzipien unterteilen lassen, können auch die ,,ήμιν γνωριμώτερα" in reale Ausgangspunkte (die wahrnehmbaren φύσει οντα) und epistemologische AusgangspunkVgl. Wicksteed/Cornford (1980: 9): „The path to knowledge starts from (Β ii) the indistinct ( σ υ γ κ ε χ υ μ έ ν ο ν , cf. Poet. 1450 b 37) unanalysed whole (ολον) given by sense-perception, which has for its object the concrete individual thing (a man), but dimly discerns in this the universal (Man), Anal. Post. 100 a 16. The analysis of this universal into its constituent parts (μέρη, τ ά κ α θ ' έ κ α σ τ α ) carries us up towards the primary concepts and basic truths (B i), just as we understand the nature of a complex thing when we have analysed it into its elements 28
(A)."
In diesem Sinne sagt auch Irwin (1982: 250): „Aristotle often distinguishes different stages of inquiry by contrasting what is 'known to us' (gnorima hemin) with what is 'known by nature' (gnorima physei) (APo. 71b23-72a5). What is known to us is the starting-point for inquiry, our common beliefs; what is known by nature is the true theory resulting from inquiry."
Die Beispiele: 'Der Kreis' und 'Vater und Mutter'
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te (das unmittelbare Wissen über diese φύσει δντα) differenziert werden. Als ein Beispiel für ein derartiges unmittelbares Wissen über die φύσει δντα ist die 'Grundannahme' in 1.2, 185al2-14 zu nennen, die durchaus als ein im dargelegten Sinne verstandenes καθόλου bzw. ήμΐν γνωριμώτερον aufgefaßt werden kann. Zwar scheint Aristoteles in Phys. I aufgrund seiner Rede vom Ganzen (δλον) und seinen Teilen (μέρη) auf Seiten des φύσει γνωριμώτερον vor allem Realprinzipien und auf Seiten des ή μ ΐ ν γνωριμώτερον vor allem Wahrnehmungsdinge im Sinn zu haben,29 doch sind damit die Erkenntnisprinzipien und das propositionale Wissen über die Wahrnehmungsdinge keineswegs ausgeschlossen. Bezeichnet die Verschiedenheit des ήμΐν und des φύσει γνωριμώτερον eine ontologische Verschiedenheit von Grund (άρχή) und Gegründetem (φύσει öv),30 so darf hierbei jedoch nicht übersehen werden, daß Grund und Gegründetes trotz ihrer Verschiedenheit in einer relationalen Abhängigkeit zueinander stehen. Auf diese relationale Abhängigkeit von Grund und Gegründetem weist Aristoteles durch die Bestimmung der άρχή als άρχή τινός ή τινών in 1.2, 185a4-5 explizit hin. Es ist derselbe Sokrates, der sich einerseits auf seine (individuellen) Prinzipien hin analysieren läßt und der andererseits als ein undifferenziertes Wahrnehmungsobjekt betrachtet werden kann. Wäre dies nicht der Fall, so würde die Rede vom Ganzen und seinen Teilen keinen Sinn ergeben, setzt sie doch voraus, daß die Teile immer Teile eines bestimmten Ganzen sind.
1.4 Die Beispiele: 'Der Kreis' und 'Vater und Mutter' Aristoteles veranschaulicht seine methodologischen Darlegungen anhand zweier Beispiele: Dieses Selbige [ταύτό τοϋτο] aber erleiden in gewisser Weise [τρόπον τινά] auch die Namen [τα ονόματα] im Verhältnis zum Begriff [πρός τόν λόγον]: Denn [γάρ] sie bezeichnen auf unbestimmte Weise [άδιορίστως σημαίνει] etwas Ganzes, wie z.B. »Kreis« [ό κύκλος]; sein definitorischer Begriff aber [ό δέ ορισμός] nimmt ihn in die Einzelmomente auseinander. Auch die Kinder sprechen zuerst alle Männer als »Vater« und alle Frauen als »Mutter« an [προσαγορεΰει πάντας τούς άνδρας πατέρας καϊ μητέρας τάς γυναίκας], später jedoch unterscheiden [διορίζει] sie ein jedes von diesen. (1.1, 184a26 - b l 4 )
Die beiden Beispiele vom Kreis und vom Verhältnis des Kindes zu Vater und Mutter sollen das Verhältnis von einem Wort (δνομα) zu einem Begriff (λόγος) verdeutlichen: „Dieses Selbige erleiden in gewisser Weise auch die Namen/Wör-
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Vgl. auch Charlton (1970: 51): „Now are the things clear by nature or to us in the other passages [Eth. Nik. 1.1, 1095 a2-4; De An. II.2, 413 al 1-12; Met. VII. 1029 b3-12; Phys. I. 1, 184 al6-21] formulations, or are they entities'? In the De an. and E.N. passages they seem to be formulations, but in the Met. Ζ passage and here [Phys. I 1] Aristotle might seem to be thinking of entities." Vgl. Guzzoni (1975: 33).
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
ter (τά ονόματα) 31 im Verhältnis zum Begriff (προς τον λόγον)." Was aber ist mit „diesem Selbigen" gemeint, und warum erleiden die ονόματα dieses Selbige nur in gewisser Weise (τρόπον τινά)? Die Begründung (γάρ: 184bl 1), die Aristoteles dafür anführt, daß die Wörter dieses Selbige im Verhältnis zum Begriff erleiden, besteht darin, daß sie (die Wörter) ein Ganzes (δλον τι) auf unbestimmte Weise (άδιορίστως) bezeichnen, wie z.B. das Wort „Kreis", während die Definition (ορισμός) dieses (das Wort „Kreis") oder diesen (das Ganze: der Kreis als Gegenstand) (αύτοΰ) in seine Einzelteile (καθ' έκαστα) auseinandernimmt.32 Da die heute gebräuchliche Verwendung von Anführungszeichen zur Unterscheidung einer Meta- von einer Objektsprache (d.h. zur Unterscheidung des Wortes „Kreis" vom Gegenstand Kreis) Aristoteles nicht zur Verfügung stand, kann mit dem Ausdruck „αύτοΰ" (bl2), das auf ,,ό κύκλος" referiert, sowohl das Wort „Kreis" wie auch der Gegenstand Kreis gemeint sein. Angenommen, der ορισμός nimmt das Wort „Kreis" in seine καθ' έκαστα auseinander, so gelangte man wohl zu „K-r-e-i-s" als das in seine Buchstaben bzw. στοιχεία zerlegte Wort „Kreis". Dies kann hier jedoch aus dem Grunde nicht gemeint sein, da einerseits die Aufgabe der Definition nicht darin besteht, ein Wort in seine materiellen Bestandteile zu analysieren, und da man andererseits auf diese Weise nicht zu dem im Text genannten Verhältnis von ,,δνομα" zu „λόγος", sondern vielmehr zum Verhältnis von ,,δνομα" zu „στοιχεία" gelangen würde. Aus diesem Grunde ist davon auszugehen, daß der ορισμός nicht das Wort „Kreis", sondern vielmehr dasjenige Ganze, was das Wort auf unbestimmte Weise bezeichnet (σημαίνει), in seine Einzelteile (καθ' έκαστα) auseinandernimmt. Dieses Auseinandernehmen kann nun aber ebenfalls auf zweifache Weise verstanden werden: Einerseits so, daß wir neben dem Wort (ονομα) „Kreis" eine Definition (ορισμός) erhalten, die sich inhaltlich aus der Angabe der nächsthöheren Gattung {genus proximum) und des artbildenden Unterschieds {differentia specified) zusammensetzt;33 andererseits so, daß das Wort „Kreis" selbst ein mehrMit dem Ausdruck „τά ονόματα" können sowohl Namen als auch Wörter gemeint sein. Im allgemeinen meint Aristoteles mit den „ονόματα" die bloßen Wörter, und zwar vor allem die Nomen im Gegensatz zu den Verben (βήματα). Aus dem korrelativen Begriff „λόγος" bzw. „ορισμός" wird deutlich, daß hier mit ,,δνομα" das 'bloße' Wort gemeint ist, dessen Funktion sich auf die Benennung beschränkt und das noch kein wesentliches Kennzeichen des benannten Gegenstandes enthält, wie dies beim λόγος oder ορισμός der Fall ist. Im Gegensatz zu dieser bloßen Nennfunktion des όνομα, wie Aristoteles sie auch in Kat. 1 und De Int. 1 zum Ausdruck bringt, spricht Piaton dem όνομα im Kratylos (388b-c) auch die Funktion des Unterscheidens (vgl. ,,τά πράγματα διακρίνομεν"), Lehrens (vgl. ,,διδασκαλικόν τι") und Offenlegens des Wesen zu. Die Tatsache, daß Aristoteles in der Begründung nicht mehr vom „λόγος", sondern vom „ορισμός" spricht, deutet daraufhin, daß „λόγος" und „ορισμός" in unserem Kontext als synonym aufzufassen sind. Zum Verhältnis von λόγος und ορισμός vgl. auch Met. IV.7, 1012a2324: „Denn der λόγος, dessen Zeichen [σημεΐον] das ονομα ist, wird zum ορισμός." In Met. VII.4, 1030al -12 weist Aristoteles allerdings daraufhin, daß nicht jeder λόγος ein ορισμός ist. Kreis wird definiert als „eine zweidimensionale Figur von der Art, daß sich alle Punkte seines Umfangs in gleicher Entfernung von einem gegebenen Punkt befinden". Zum Verhältnis von „ονομα" zu „λόγος" in diesem Sinne vgl. auch Piaton, 7. Brief, 342al-343a4, wo Piaton von der gestuften Genesis unserer Erkenntnis spricht und bezeichnenderweise ebenfalls das Beispiel des Kreises anführt: Nach Ansicht von Piaton ist die erste Stufe der Erkenntnis der Name
D i e Beispiele: ' D e r Kreis' und ' V a t e r und Mutter'
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deutiger Gattungsbegriff ist, durch dessen Analyse wir zu den verschiedenen Arten von Kreisen - wie z.B. Reifen, Rad, geometrischer Kreis, Reigen, epischer Kreis, Ring usw. - gelangen.34 Während sich Ross (1936: 457 f.) fiir die zweite Möglichkeit ausspricht, bin ich der Ansicht, daß hier die erste Möglichkeit gemeint ist. Ross führt gegen die erste Möglichkeit allerdings folgendes Argument an: It is not clear, however, precisely w h a t Aristotle thinks of the definition as doing. His normal account of it is that it analyses a whole into its logical elements, g e n u s and differentia. But here h e speaks of it as dividing the whole into its κ α θ ' έ κ α σ τ α ; which if taken strictly must mean t h e analysis of a genus into its species; yet that is the business not of definition but o f logical division. [ . . . ] τ ά κ α θ ' έ κ α σ τ α seems to have here an unusual meaning: i.e. t o mean the various senses of an ambiguous term. (Ross, 1936: 457)
Der grundlegende Fehler in Ross' Argumentation scheint mir darin zu liegen, daß Ross davon ausgeht, daß wir es bei dem Verhältnis von „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" mit einem Verhältnis von einem „Allgemeinen" zu einem „Speziellen" zu tun haben. Interpretiert man das Verhältnis von „καθόλου" und ,,καθ' έκαστα" jedoch als ein Verhältnis von einem undifferenzierten, konkreten Einzelding zu seinen Prinzipien, so verschwinden die von Ross skizzierten Schwierigkeiten.35 Da Ross das Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστα als ein Verhältnis von 'general' zu 'specific' interpretiert, will er dieses Verhältnis erwartungsgemäß auch in den angeführten Beispielen wiederfinden. Meiner Ansicht nach ist das Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστα jedoch weder als ein Verhältnis von 'general' zu 'specific' - wie Ross vorschlägt - noch als ein Verhältnis von 'universal' zu 'universal' - wie Konstan (1975) vorschlägt - zu verstehen, da wir es bei dem καθόλου in Phys. I. 1 nicht mit einem wie auch immer gearteten begrifflichen Allgemeinen zu tun haben, sondern vielmehr mit einem in sich undifferenzierten Wahmehmungsobjekt, sei dies ein individuelles Einzelding (Kreis) oder bereits eine Gruppe von Einzeldingen (Männer). Vor diesem Hintergrund sind dann die καθ' έκαστα als „Teile" dieses Ganzen im Sinne von konstitutiven Elementen zu verstehen, seien dies reale oder logische Elemente. In dem λόγος „zweidimensionale Figur von der Art, daß sich alle Punkte seines Urafangs in gleicher Entfernung von einem gegebenen Punkt befinden" sind das
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(δνομα), die zweite der Begriff (λόγος), die dritte das Abbild (εΐδωλον), die vierte die Erkenntnis (επιστήμη) und die fünfte die Idee des Dinges, der Kreis selbst. Als λόγος des Kreises fllhrt Piaton „das von seinen Enden bis zum Mittelpunkt gleich weit Entfernte" an (342b). Vgl. Ross (1936: 457 f.). Diese Interpretation, die davon ausgeht, daß „κύκλος" hier als homonyme Bezeichnung ftlr Dinge steht, die verschiedene Definitionen haben, beruft sich auf An. post. 1.12, 77b31 f. Zur Kritik an dieser Interpretation vgl. Wieland (1962: 91 f., Fn.7). Vgl. auch Wielands Kritik an Ross (1962: 91 f., Fn.7): „Warum soll also, da καθόλου hier schon das Unbestimmt-Allgemeine meint, καθ' έκαστα nicht die aus diesem Allgemeinen differenzierbaren Elemente meinen können, gleichgültig ob Genus oder Spezies?" Vgl. ebenfalls Charlton (1970: 52): „'Words' are said to 'stand in a similar relation to accounts', r 1), probably not because definitions make clear the various senses of ambiguous or equivocal expressions (Ross), but because a word like 'man' indicates implicitly a number of features - animal, rational, mortal - which appear separately in the definition (Philoponus)."
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
Genus und die artbildende Differenz genau die wesentlichen Bestandteile, aus denen ein Kreis besteht und erkannt werden kann. Ross hingegen versteht die verschiedenen Arten von Kreisen - wie z.B. „Ring", „Epen" usw. - als die καθ' έκαστα. Demgegenüber ist jedoch einzuwenden, daß diese καθ' έκαστα nicht die Prinzipien des Kreises darstellen. Denn die Prinzipien sollen ja nicht Spezifizierungen der φύσει δντα sein, die sich nur hinsichtlich des Grades einer Spezifikation von diesen unterscheiden, sondern sie müssen von diesen vielmehr ontologisch verschieden sein. Zudem sei auch auf folgendes hingewiesen: Das Kreisbeispiel soll in einem übertragenen Sinne verdeutlichen, wie man von einem undifferenzierten Wahrnehmungsobjekt durch Analyse desselben zur Erkenntnis seiner konstitutiven Teile gelangt, um aus diesen das uns zunächst als ein undifferenziertes Ganzes begegnende Wahrnehmungsobjekt zu erkennen. Nun folgt aber aus der Klärung der Mehrdeutigkeit eines Terms wie „Kreis" noch nicht, daß wir erkennen, was ein Kreis seinem Wesen nach ist. Dies wissen wir erst durch die Definition. Mit der Nennung solcher Beispiele wie „Ring", „Epen" usw. haben wir nur Beispiele für die differenzierte Extension und Intension des Ausdrucks „Kreis" angeführt. Daß die Angabe von Beispielen aber keine befriedigende Antwort auf eine „Was ist χ ?"-Frage ist, macht Aristoteles in Met. VII.2 deutlich, wo auf die Frage, was eine ουσία ist, zunächst mit verschiedenen Beispielen der Vorgänger geantwortet wird, die die Mehrdeutigkeit des Wortes ,,ούσία" verdeutlichen. Zur Beantwortung der Frage, was aber eigentlich als ουσία zu zählen habe, geht Aristoteles dann in VII. 3 zu einer intensionalen Untersuchung des Wortes über. Einem ähnlichen Beispiel für den Übergang von einer extensionalen zu einer intensionalen Untersuchung, bei der erst durch letztere entschieden werden kann, was etwas eigentlich ist, werden wir in Phys. 1.5 hinsichtlich der Frage, ob die Gegensätze Prinzipien oder ob die Prinzipien gegensätzlich sind, begegnen. Die Begründung (184bl 1-12) dafür, daß wir es bei dem Verhältnis von ovoμα zu λόγος mit demselben Verhältnis wie bei dem Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστα zu tun haben, zeichnet sich durch eine Gegenüberstellung (δέ: b l l ) aus, in der dem δνομα einerseits ein ,,άδιορίστως σημαίνει" und dem ορισμός bzw. λόγος andererseits ein „διαιρεί" zugeschrieben wird. Hierbei weist das „διαιρεί" in bl2 auf die Methode des ,,διαιροΰσι ταΰτα" in a23 zurück. Darüber hinaus wird das δνομα mit dem δλον τι und der ορισμός mit den καθ' έκαστα in einen Zusammenhang gestellt. Da das ,,τοΰτο" in blO auf das unmittelbar zuvor Gesagte zu beziehen ist, wo es heißt, daß das καθόλου vieles als seine Teile umfaßt, will Aristoteles hier das Verhältnis von einem δνομα zu einem ορισμός (λόγος) als ein Verhältnis von einem Ganzen zu seinen Teilen beschreiben. Zwischen dem δνομα und dem ορισμός (λόγος) liegt in gewisser Weise dasselbe Verhältnis wie zwischen dem καθόλου und den καθ' έκαστα vor, wobei dies ein Verhältnis von einem Ganzen zu seinen Teilen ist. Hierbei stehen „δνομα" und „λόγος" weniger dafür, was jeweils konkret unter dem καθόλου und den καθ' έκαστα zu verstehen ist, als vielmehr für das Verhältnis, das zwischen diesen besteht. Denn weder ist der ορισμός bzw. λόγος als Teil
Die Beispiele: ' D e r K r e i s ' und 'Vater und Mutter'
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des δνομα zu verstehen, noch ist das δνομα umgekehrt als Teil des ορισμός bzw. λόγος zu betrachten (denn das Definiendum darf ja im Definiens nicht vorkommen). Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Hinzufiigung des „τρόπον τινά" (blO). Denn bei dem Verhältnis von Wort und Definition haben wir es nicht im selben Sinne mit einer Teil-Ganzes-Relation zu tun, wie dies bei dem καθόλου und den καθ' έκαστα der Fall ist, wo die Prinzipien als καθ' έκαστα die 'Teile' des φύσει όν und somit des καθόλου sein sollen. Das δνομα steht vielmehr für eine undifferenzierte Ganzheit, während der λόγος bzw. ορισμός^ir die in Teile zerlegte Ganzheit steht. Im zweiten Beispiel spricht Aristoteles davon, daß „auch die Kinder zuerst alle Männer »Vater« und alle Frauen »Mutter« nennen und erst später ein jedes von diesen unterscheiden" (184b 12-14). Auch dieses Beispiel soll analog zum Kreisbeispiel das Verhältnis von einem δνομα zu einem λόγος als ein Verhältnis von einem undifferenzierten Ganzen zu seinen differenzierten Elementen veranschaulichen. Versucht man das von Aristoteles im Beispiel Gesagte näher zu erläutern, so ergibt sich folgendes Bild: Das Beispiel geht von dem im Alltag zu beobachtenden Faktum aus, daß die Kinder in einem gewissen Alter alle Männer mit „Vater" und alle Frauen mit „Mutter" ansprechen. Aristoteles scheint hier ein empirisches Faktum des Spracherwerbs bei Kindern zu beschreiben, das in der Linguistik auch unter dem Begriff der „overextension" bekannt ist.36 Konzentrieren wir uns der Einfachheit halber nur auf das Beispiel der Frauen bzw. Mütter, wobei Analoges fiir das Beispiel der Männer bzw. Väter gilt, so besagt das von Aristoteles angeführte Beispiel zunächst nur, daß die Kinder in einer bestimmten - nämlich sprachlichen - Hinsicht nicht zwischen den Frauen und der eigenen Mutter unterscheiden. Der Grund für diese Nichtunterscheidung kann darin gesehen werden, daß den Kindern die eigene Mutter zunächst als ein undifferenziertes Ganzes von Eigenschaften (wie z.B. weiblich, liebevoll, 'immerkommend-wenn-man-schreit' usw.) erscheint, wobei einige dieser Eigenschaften die Mutter als Mutter, andere jedoch die Mutter als Frau kennzeichnen. 37 Wenn das Kind den Namen „Mutter" lernt, verbindet es mit ihm eine bestimmte Eigenschaft - z.B. die Eigenschaft „weibliches, menschliches Wesen" -, die im Gegen-
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Vgl. Andresen (1993: 305): „Die Bedeutungsentwicklung, die eng mit der Begriffsentwicklung verbunden ist, verläuft so, daß die Wortbedeutungen zunächst wesentlich weiter sind als die der Erwachsenensprache, z.B. Piep für Vogel und Flugzeuge (Bedeutung: alles was fliegt), Teddy für Stofftiere, Mäntel, Mutzen (Bedeutung: alles was flauschig ist), Papa für alle Männer." Man faßt diese Erscheinungen in der Linguistik auch unter dem Begriff der „Übergeneralisierung" zusammen. Dieser Differenzierung der Hinsichten, unter denen etwas betrachtet wird, werden wir auch in Phys. 1.8 begegnen, wo Aristoteles ausführt, daß der Arzt zwar als Arzt heilt, daß er aber nicht als Arzt, sondern als Baumeister ein Haus baut. Wir werden sehen, daß die Vorgänger nach Ansicht von Aristoteles die Unterscheidung von 'etwas als dieses etwas' bzw. von 'etwas nicht als dieses etwas' nicht hinreichend beachtet haben. Vor diesem Hintergrund scheint Aristoteles in Kapitel 1.1 vielleicht andeuten zu wollen, daß sich seine Vorgänger in dieser Hinsicht auf derselben Ebene wie die hier genannten Kinder befinden, die in bezug auf ihre eigene Mutter noch nicht zwischen der Mutter als Mutter und der Mutter als Frau zu unterscheiden gelernt haben.
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Physik
I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
satz zu den Eigenschaften des Vaters ausgewählt wird. Auf diese Weise überträgt das Kind dann den Namen „Mutter" auf alle die ihm begegnenden Objekte, die ebenfalls das Merkmal „weibliches, menschliches Wesen" haben. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Kind alle Frauen „Mutter" nennt, weil es zwischen seiner Mutter und den anderen Frauen generell nicht unterscheiden kann. Gerade die Mutter zählt doch wohl zu den allerersten Objekten, die das Kind von allen anderen Dingen zu unterscheiden lernt, und ich gehe davon aus, daß auch Aristoteles annimmt, daß das Kind sehr wohl die eigene Mutter von den anderen Frauen unterscheiden kann. Gleichwohl ist das Kind aber noch nicht in der Lage, diesen Unterschied auch in der Sprache zum Ausdruck zu bringen, was seinen Grund darin findet, daß das Kind am Anfang nur den Namen „Mutter" zur Verfügung hat und ihn falsch verwendet, weil ihm die Bedeutung (d.h. der λόγος bzw. ορισμός) dieses Namens noch nicht bekannt ist. Vor diesem Hintergrund beschreibt das von Aristoteles angeführte Beispiel somit den Übergang von der Verwendung eines bloßen δνομα zum Erwerb der Bedeutung - und damit zum λόγος - dieses δνομα. 38 Im Gegensatz zu dieser Interpretation versteht Ross das Beispiel in dem Sinne, daß das Kind zunächst die generelle Anwesenheit von allen Männern und Frauen wahrnimmt, ohne die besondere Anwesenheit seines Vaters und seiner Mutter zu bemerken, und deshalb alle Männer „Vater" und alle Frauen „Mutter" nennt.39 Dieser Interpretation zufolge liegt der Grund dafür, daß das Kind am Anfang alle Frauen „Mutter" nennt, darin, daß das Kind tatsächlich nicht zwischen seiner Mutter und den anderen Frauen unterscheiden kann. Sein Unvermögen hinsichtlich einer sprachlichen Differenzierung wäre hier als Folge des Unvermögens hinsichtlich einer generellen (epistemologischen) Differenzierung anzusehen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu unserer Erfahrung, die man gerechterweise auch Aristoteles unterstellen sollte und der zufolge das Kind doch vor allem anderen zunächst die besondere Anwesenheit seiner Mutter wahr-
Das Kind geht in seiner Wahrnehmung somit von seiner eigenen konkreten Mutter als ein undifferenziertes Ganzes aus. Zugleich ist darauf hinzuweisen, daß die eigene Mutter nicht das einzige undifferenzierte Wahrnehmungsobjekt ist. Auch die Klasse aller Frauen begegnet dem Kind als ein undifferenziertes Wahrnehmungsobjekt, das aus (realen) Teilen - nämlich aus verschiedenen Frauen, wozu auch die eigene Mutter zählt - besteht. Wir haben es in unserem Beispiel folglich mit wenigstens zwei verschiedenen Arten eines καθόλου zu tun: (a) mit der eigenen konkreten Mutter als einer „strukturalen Ganzheit" und (b) mit der Klasse aller Frauen als einer „kollektiven Ganzheit" (vgl. auch Wieland, 1962: 93 f.). Ross (1936: 457): „It is clear that καθόλου is not used in its usual Aristotelian meaning. The reference must be not to a universal conceived quite clearly in its true nature, but to that stage in knowledge in which an object is known by perception to possess some general characteristic (e.g. to be an animal) before it is known what its specific characteristic is (e.g. whether it is a horse or a cow). It is this phase of Aristotle's meaning that is illustrated by the example of the child who recognizes the general appearance presented by all men and that presented by all women, without noticing the special appearance of its father and its mother, and therefore calls all men father and all women mother (bl2-14)." Diese Interpretation entspricht dem von Ross dargelegten Verständnis des Verhältnisses von καθόλου zu καθ' έ κ α σ τ α als ein Verhältnis von „general" zu „specific". Das Kind würde somit von einem allgemeinen Merkmal (to be a woman) zu einem speziellen Merkmal (to be a (my) mother) gelangen.
Die Beispiele: ' D e r Kreis' u n d 'Vater und Mutter'
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nimmt, wie dies bereits von Konstan gegenüber Ross hervorgehoben wurde.40 Zudem erklärt die Interpretation von Ross genaugenommen nicht, warum die Kinder zunächst alle Frauen „Mutter" nennen, da man seiner Interpretation zufolge doch eher erwarten würde, daß jedes Kind seine Mutter zunächst „Frau" nennt, geht es doch Ross zufolge von der generellen Charakteristik ('eine Frau zu sein') aus und gelangt erst später zu der speziellen Charakteristik ('meine Mutter zu sein').41 So berechtigt die von Konstan vorgelegte Kritik an der Interpretation von Ross in diesem Punkte auch ist, so verfehlt ist jedoch sein eigener Interpretationsansatz. Konstan geht zwar zu Recht davon aus, daß Aristoteles nicht meint, die Kinder könnten ihre eigene Mutter nicht von anderen Frauen unterscheiden, zugleich jedoch muß er selbst eine Antwort auf die Frage finden, warum die Kinder am Anfang alle Frauen „Mutter" nennen, wenn sie doch andererseits sehr gut zwischen ihrer Mutter und den anderen Frauen zu unterscheiden in der Lage sind. Anstatt, daß Konstan nun die naheliegendste Lösung ergreift - nämlich, daß das Kind sprachlich nicht zu unterscheiden in der Lage ist, weil es erst vom δνομα zum λόγος gelangen muß -, sieht er die Lösung in einer Doppeldeutigkeit des Wortes ,,προσαγορεύειν", das Konstan zufolge entweder (a) 'jemanden mit Namen nennen' oder (b) 'die Bezugnahme unter einen allgemeinen Term' bedeutet.42 Nach Ansicht von Konstan ist das Wort ,,προσαγορεύειν" hier im zweiten Sinn zu verstehen: The crucial ambiguity is in the meaning of the word »call« ( π ρ ο σ α γ ο ρ ε ύ ε ι ) . The Greek term, like the English, may mean to address by name; it may also denote reference under a general term. According to the first sense o f the word, Aristotle's statement would mean that children apply to all men t h e name »Father«, and to all women the n a m e »Mother«, and on this reading it is correct to infer, as Ross does, that children are unable to tell apart their own fathers and mothers from other men and w o m e n . But Aristotle's use of the plural in »fathers« and »mothers« favors, I think, the second sense of the w o r d »call«, according to which Aristotle's statement means only that children refer to all men as fathers and to all w o m e n as mothers. (Konstan, 1975: 242)
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Vgl. Konstan (1975: 242): „[...], Aristotle says nothing about the ability of children to recognize their own parents. He says only that they do not know that fathers and mothers are something different from men and women generally." Vgl. auch Fn.7: „It is perhaps worth remarking that, in fact, any child old enough to employ the words 'father' and 'mother' will long since have been able to recognize its own parents." Eine Analyse, die mit der Interpretation von Ross in wesentlichen Punkten Übereinstimmt, findet sich auch bei Pietsch (1992: 67): „Zuerst nennt das Kind alle Männer und Frauen Vater und Mutter. Differenzen werden entdeckt, die es dem Kind ermöglichen, die Mutter zu erkennen, die an ihr etwas ist, was sie von allen anderen Müttern unterscheidet. Schließlich wird die Bezeichnung 'Mutter' nur noch ftlr die Personen verwendet, denen sie auch tatsächlich zukommt." Statt „Differenzen werden entdeckt, die es dem Kind ermöglichen, die Mutter zu erkennen, die an ihr etwas ist, was sie von allen anderen Müttern unterscheidet" mtlßte es jedoch korrekterweise lauten, daß das Kind durch das Entdecken von Differenzen nicht die eigene Mutter, sondern vielmehr die genaue Bedeutung - d.h. den λόγος - des Wortes „Mutter" entdeckt. Als Beleg dafür, daß Aristoteles das Wort „προσαγορεύει" auch in der zweiten Bedeutung verwendet, verweist Konstan auf Pol. IV.4, 1290a39.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
Hieraus ergibt sich für Konstan schließlich die Konsequenz, daß das Verhältnis von καθόλου zu καθ' έκαστον als ein Verhältnis von einem Allgemeinbegriff (universal) zu einem anderen Allgemeinbegriff (universal) zu verstehen ist, wobei sich der erste Allgemeinbegriff („father*', ,another") als ein komplexer Allgemeinbegriff (complex universal) erweist, während der zweite Allgemeinbegriff („men", „women") als ein (allgemeiner) Bestandteil dieses Allgemeinbegriffes (constituent universal) zu betrachten ist: Therefore, the relationship between τό καθόλου and τά καθ' έκαστα will be a relationship between universals. Now, Aristotle tells us in our passage that τό κ α θ ό λ ο υ is a kind of whole (δλον τι), that the term covers things which are compounded or complex ( σ υ γ κ ε χ υ μ έ ν α ) , while τά καθ' έ κ α σ τ α are, in a sense the parts (ώς μέρη) of the whole. Aristotle's analysis suits his example quite nicely, on the interpretation that I have given. »Father« and »mother« represent a kind of complex universal, which may be reduced to constituent universals that are more knowable in themselves, that is, to »man« and »woman« on the one hand, and, on the other hand, to »parent«. These latter are, as it were, the parts of father and mother. (Konstan, 1975: 243)
Dieser Interpretation ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: (1) Wie meine Interpretation des Beispiels verdeutlicht hat, ist es nicht notwendig, von der Annahme, daß die Kinder am Anfang alle Frauen „Mutter" nennen, zu der Konklusion von Ross zu gelangen, der zufolge die Kinder ihre Mutter nicht von den anderen Frauen auseinanderhalten können. (2) Der Kontext spricht eindeutig dafür, daß Aristoteles hier mit ,,προσαγορεύει" offenkundig die Bedeutung (a) („fo address by name") im Sinn hat. Denn auch wenn Aristoteles an der von Konstan angeführten Textstelle in der Politik (IV.4, 1290a39) das Wort ,,προσαγορεύει" in der Bedeutung (b) verwendet, so darf an unserer Textstelle jedoch nicht übersehen werden, daß Aristoteles hier den Kindern ein ,,προσαγορεύειν" zuspricht. Und in bezug auf diese ist doch wohl anzunehmen, daß sie - auch nach Ansicht von Aristoteles - eher etwas schlicht benennen, als daß sie auf etwas unter einem allgemeinen Term referieren.43 (3) Die Verwendung des Plurals „πατέρας και μητέρας", dem zufolge Aristoteles hier genaugenommen nicht sagt „die Kinder nennen zuerst alle Frauen »Mutter«", sondern „die Kinder nennen zuerst alle Frauen »Mütter«", bedeutet nicht, daß wir es hier mit zwei Universalien zu tun hätten; vielmehr findet der Plural seinen Grund in der erforderlichen Parallelität der grammatischen Konstruktion, die noch nicht die Möglichkeit der Verwendung von Anführungszeichen kennt. Denn es ist an besagter Textstelle von den Kindern (τά παιδία) ja ebenfalls im Plural die Rede, die zusammen nicht nur eine Mutter, sondern mehrere Mütter haben. Ein Satz wie «die Kinder nennen Hierbei sind allerdings zwei Beschreibungsebenen zu unterscheiden: Einerseits kann unsere Textstelle so verstanden werden, daß Aristoteles hier schlicht einen Sachverhalt beschreibt, und dann ist davon auszugehen, daß er sagt „Kinder benennen ...". Andererseits aber kann man auch die Ansicht vertreten, daß Aristoteles hier bereits einen Sachverhalt analysiert, und dann könnte er meinen „Kinder referieren auf etwas unter einem allgemeinen Term ..." Die Tatsache, daß das Wort ,,προσαγορεύει" hier die Kinder zum Subjekt hat, und seine gewöhnliche Bedeutung eben „benennen, ansprechen, begrüßen ..." ist, spricht jedoch fllr die Interpretation „die Kinder benennen", wie sie auch bei allen anderen Interpreten zu finden ist.
Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien
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alle Frauen „Mutter"», in dem der Ausdruck „Mutter" im Singular steht, wird ja erst durch die Verwendung von Anführungszeichen zu einem sinnvollen Satz. Aristoteles hat das Beispiel des Kindes gewiß nicht zufällig gewählt. So taucht die Mutter in Gestalt der platonischen ύλη (χώρα) als ein Prinzip in Kapitel 1.9, 192al4 wieder auf. Dort bezieht sich Aristoteles auf Piatons Dialog 77maios, in dem Piaton (vgl. Tim. 50d) das Werdende mit dem Kind und die Prinzipien dieses Werdenden - die Ideen einerseits und die χώρα andererseits - mit dem Vater als Erzeuger und der Mutter als dasjenige, worin das Kind wird, vergleicht.44 Zudem werden Vater und Mutter von Aristoteles oft als Beispiele für eine ά ρ χ ή und αιτία genannt.45 Das von Aristoteles in Kapitel 1.1 gewählte Beispiel vom Kind und seinen Eltern verdeutlicht offenkundig das Thema von Physik A, nämlich das Verhältnis des Werdenden zu seinen es konstituierendenPrinzipien. Zugleich tritt in dem Beispiel eine gewisse Ironie zu Tage: Wenn Aristoteles das Verhältnis von einem Werdenden zu seinen Prinzipien mit dem Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern vergleicht, das in einer bestimmten Hinsicht noch nicht in der Lage ist, seine eigene Mutter von anderen Frauen zu unterscheiden, so kann hierin ein Vergleich der Vorgänger von Aristoteles mit diesen Kindern gesehen werden, die in einem analogen Sinne auch ihre „Eltern" in Gestalt der „Prinzipien" nicht kennen, da sie zunächst alle möglichen Dinge als Prinzipien bezeichnen. In diesem Sinne stellen die Theorien der Vorgänger nach Ansicht von Aristoteles gleichsam die „Kinderstube" der Physik als Wissenschaft dar: Denn die erste Philosophie glich am Anfang bei ihrer Entstehung in ihren Reden über alles einem lallenden Kinde. {Met. 1.10, 993al5-16; Übers, nach Bonitz)
Daß die Vorgänger in Analogie zum Kind, das ein Merkmal seiner Mutter auf alle Frauen überträgt und dann alle Frauen „Mutter" nennt, auch ein Merkmal der 'Prinzipien' auf alle möglichen Dinge übertragen und so zu einer „Übergeneralisierung" des Wortes „Prinzip" gelangen, wird besonders in Phys. 1.5 deutlich werden, wo Aristoteles darlegen wird, daß die Vorgänger alle möglichen Gegensätze als Prinzipien bezeichnet haben.
1.5 Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien Nach Ansicht von Fritsche bedarf das Buch Α der Physik einer logisch notwendigen Fortsetzung im Buch B, da sich das Buch Α als Beweisziel unter anderem den Aufweis der Existenz von Prinzipien setzt, wobei dieses nach Ansicht von Fritsche nicht schon im Buch A, sondern erst im Buch Β eingelöst wird. Das Beweisziel der Physikvorlesung ist immer zu kurz gefaßt worden. Man hat in ihm lediglich den Aufweis der Anzahl und Beschaffenheit der Ursprünge der natürli44
45
Das Faktum, daß Aristoteles am Ende in Kapitel 1.9 mit dem Beispiel der „Mutter" zum Anfang zurückkehrt, kann auch als Indiz für die Geschlossenheit des Buches Α gewertet werden. Vgl. Met. V . l , 1013a9; V.15, 1021a22; V.24, 1023b4; XII.5, 107U15, XII.5, 1071bl.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung' chen Dinge gesehen, ihres - mit dem letzten Satz des ersten Buches - »καν τίνες, και πόσαι τον αριθμόν«, ohne dem vorangestellten »ότι μέν οΰν είσΐν άρχαί« irgend Gewicht beizumessen. (Fritsche, 1986: 6)46
Erschien es den antiken Interpreten noch als sicher, daß die Physik aufgrund ihrer Methode und aufgrund des Primats der Metaphysik die Existenz von Prinzipien der Naturdinge nicht beweisen kann, so wird in den modernen Interpretationen die Frage nach der Existenz von Ursprüngen erst gar nicht mehr gestellt, sondern stillschweigend angenommen, sie sei mit der Physik vorausgesetzt (vgl. Fritsche, 1986: 6 f.). Nach Ansicht von Fritsche wird aber die Existenz von Prinzipien gerade im ersten Satz der Physik als Hauptfrage exponiert.47 Im Anschluß an einen zusammenfassenden Überblick über die von Simplicius, Philoponus, Theophrast und Guzzoni zu Phys. 1.1 vorgelegten Interpretationen (S. 19-43), setzt Fritsche dann seine eigene Interpretation von diesen ab (S. 43-50). Er weist daraufhin, daß 184al0-12 unter der Bedingung der Parenthese al2-14 steht, in der eine Definition der Erkenntnis gegeben wird. Da eine Definition aber - und hier greift Fritsche auf An. post. 1.2 zurück - nicht eine Antwort auf eine Ob- bzw. Daß-Frage, sondern vielmehr auf eine Was-Frage darstellt, ist mit ihr noch nicht gezeigt, daß es durch Prinzipien begründete Gegenstände gibt bzw. daß es überhaupt Prinzipien gibt. Fritsche spricht sich gegen Guzzonis Interpretation des Hauptsatz a 14-16 aus, die diesen als eine bloße Spezifizierung des Nebensatzes a 10-14 im Hinblick auf den Bereich der natürlichen Dinge versteht, da diese Interpretation zu unterstellen scheint, daß zu Beginn von Kapitel 1.2 die Existenz von Prinzipien bereits vorausgesetzt sei und es folglich nur noch um die Frage nach dem „wieviele" und „welche" gehe.48 Mit dem Ausdruck ,,διορίσασθαι πρώτον τά περί τάς άρχάς" (al5-16) ist, so Fritsche, folgendes angezeigt: Will man Physik betreiben, so muß zuerst gezeigt werden, daß die Naturdinge erkennbar sind; dies bedeutet, daß zuerst gezeigt werden muß, daß sie Prinzipien haben. Wenn Erkenntnis nämlich in der Suche nach den Prinzipi-
4g
Vgl. auch S. 46 und 52 ff. Zur Unabgeschlossenheit des Buches Α vgl. auch S. 98: „Dann muß man den Obersatz beweisen, daß diese beiden [Form und Zugrundeliegendes] Ursprünge sind. Dies wird nun freilich nicht - darin Wieland folgend - in der Metaphysik bewiesen und hier vorausgesetzt, sondern durchaus in der Physikvorlesung selbst, für das Zugrundeliegende noch im ersten Buch, fllr die Form vor allem im zweiten; und daß nur diese beiden Ursprünge sind, weil durch keine anderen mehr zu komplettieren, - dieser Beweis, also der des Wieviel, endet eigentlich erst mit dem vierten Buch." Ebd. S. 7. Zwar ist sich Fritsche bewußt, daß die Frage nach der Existenz von Prinzipien insofern gekünstelt wirkt, als mit der Frage nach der Anzahl und Beschaffenheit der Prinzipien die Existenz derselben vorausgesetzt sei, gleichwohl aber läßt er diesen Einwand ebenso wie den, daß in der diairetischen Einteilung der Prinzipien der Vorgänger in 1.2 die Möglichkeit von „keiner άρχή" nicht berücksichtigt wird, aus methodischen Gründen nicht gelten (vgl. S. 7). Er filhrt demgegenüber an, daß Aristoteles am Ende des Buches Α explizit sagt, daß nun klar sei, daß es Prinzipien gebe (vgl. S. 16). Zudem sei es der in den Analytica posteriora (vgl. 89b24 f.) dargelegten Methodologie zufolge notwendig, zuerst die Frage nach dem Daß zu beantworten, um dann erst auf die Frage nach dem Was eingehen zu können (S. 17). Ebenso wie Guzzoni habe auch ich die Physik als έπιστήμη περί φύσεως (184al4-15) im Sinne einer spezifizierten μέθοδος interpretiert. So muß nach Ansicht von Aristoteles für die Möglichkeit einer Physik als W i s s e n s c h a f t die Existenz von Prinzipien vorausgesetzt werden (vgl. 1.2, 185al-6), da jedes (wissenschaftliche) Erkennen immerein Erkennen aus Prinzipien ist (vgl. 1.1, 184al0-16).
Die Frage nach dem 'Daß' der Prinzipien
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en des zu erkennenden Gegenstands besteht, so ist eine Erkenntnis nur von den Dingen möglich, die Prinzipien haben: Aufgabe der Physikvorlesung ist also der Beweis des Daß von Ursprüngen der natürlichen Dinge als Voraussetzung aller einzelnen Naturwissenschaften. Nicht jedoch ist die Existenz von Ursprüngen der natürlichen Dinge der Physikvorlesung vorausgesetzt. (Fritsche, 1986: 45)
So versteht Fritsche dann auch das in 184al6-bl4 Gesagte nicht als eine Folgerung aus 184a 10-16, weder im Sinne einer Spezifizierung (so Philoponus und Guzzoni) noch im Sinne eines Beweises des Untersatzes, daß die natürlichen Dinge Prinzipien haben (so Theophrast), sondern er versteht es vielmehr als eine „begründende Erläuterung des in 184al0-16 formulierten Programms" (S. 46).49 Zwar sieht Fritsche richtig, daß 184al6-bl4 nicht als Folgerung des zuvor Gesagten (alO-16) anzusehen ist,50 doch zugleich übersieht er ebenfalls die gegenüberstellende Funktion des ,,δέ" in a 16, wenn er hier von einer begründenden Funktion spricht und somit das „aber" im Sinne eines „denn" liest. Ein weiterer Einwand gegen die Interpretation Fritsches ist darin zu sehen, daß Fritsche einerseits explizit herausstellt, daß Aristoteles am Ende von Phys. 1.9 (192b2-3) sagt, daß nun auch das Daß der Prinzipien gezeigt worden sei, während er andererseits feststellt, daß Aristoteles dieses Daß der Prinzipien in Physik I selbst nicht vollständig zeigt. Dieses Daß wird Fritsche zufolge eigentlich erst am Ende von Physik II gezeigt sein, weshalb er das Buch Α als prinzipiell unabgeschlossen betrachtet.51 Hier wird insofern ein Widerspruch deutlich, als Fritsche mit seiner These von der Notwendigkeit des Nachweises der Existenz von Prinzipien, die er mit Hilfe des Schlußsatzes in Kapitel 1.9 zu begründen sucht, gerade diesem Schlußsatz widerspricht. Denn wieso sollte Aristoteles am Ende von Physik I sagen, daß nun auch gezeigt worden ist, daß es Prinzipien gibt, wenn dies nach Ansicht von Fritsche eigentlich erst am Ende von Physik II als bewiesen betrachtet werden kann? Dies läßt Fritsches These von der Notwendigkeit des expliziten Nachweises der Existenz von Prinzipien und die damit verbundene These von der Unabgeschlossenheit des Buches Α als unwahrscheinlich erscheinen. Vielmehr ist die Existenz von Prinzipien zu Beginn des Kapitels 1.2 in einem bestimmten Sinne bereits vorausgesetzt, wie mit Hilfe folgender Anmerkungen verdeutlicht werden kann: (1) Sagt Aristoteles in 1.1, 184al2-14, daß die Erkenntnis von etwas die Erkenntnis seiner Prinzipien voraussetzt, so gilt dies vor allem für die wissen-
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Vgl. Fritsche (1986: 46): „Vielmehr stellt 184 a 16 - 184 b 14 eine begründende Erläuterung des in 184 a 10-16 formulierten Programms dar." Vgl. auch S. 47: „[...], so ist das Verhältnis beider Satzgruppen zueinander so, daß die zweite, 184 a 21-26, die erste, 184 alO-16, begründet." Diesen Fehler begeht Zekl (1987); vgl. dazu meine Ausführungen auf S. 15, Fn.7. Auch Wagner (1967: 444) ist in bezug auf die Frage nach der Abgeschlossenheit des Buches A der Physik unsicher: „Ob die Bücher I und II von Anfang an zusammengehört haben, oder ob nicht Buch I eine Einzeluntersuchung ursprünglich war, das ist schwer zu entscheiden." Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, daß das Buch Α hinsichtlich seiner Methode und deren Anwendung als in sich selbständig und abgeschlossen zu betrachten ist, wie dies bereits von Solmsen (1960: 71 ff.) in bezug auf die einzelnen Bücher der Physik vertreten wurde.
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Physik I. 1: 'Eine methodologische Vorbemerkung'
schaftliche Erkenntnis, die nur aus Prinzipien heraus erkennen kann und folglich die Existenz derselben zunächst einmal annehmen muß. Mit anderen Worten: Jedes etwas, das erkannt werden soll, muß auf etwas anderes, aus dem es erkannt werden kann, reduzierbar sein. Diese Form eines epistemologischen Reduktionismus setzt Aristoteles auch bei seinen Vorgängern als ein nicht eigens zu beweisendes Axiom voraus. 52 (2) Sagt Aristoteles in 1.2, 184b25, daß die Annahme von keiner ά ρ χ ή nicht als eine Untersuchung im Bereich der φύσις anzusehen ist, so spricht dies dafür, daß die Physik als Wissenschaft die Existenz von Prinzipien voraussetzen muß. (3) Sagt Aristoteles in 1.4, 187b7, daß bei einer unendlichen Anzahl von Prinzipien die aus diesen bestehenden φύσει δντα, unerkennbar wären, so gilt umgekehrt, daß die φύσει δντα gleichfalls unerkennbar wären, wenn es überhaupt keine άρχή gibt. Aristoteles scheint in Physik I eher auf indirektem Wege zu zeigen, daß es Prinzipien gibt. Damit ist folgendes gemeint: Indem Aristoteles in Physik I eine kohärente Theorie des Aufbaus der φύσει δντα aus Prinzipien entwirft und es ihm so gelingt, die φύσει δντα auf bestimmte und allen gemeinsame Grundmomente zu reduzieren, durch die sie erkennbar werden, zeigt er insofern auf indirektem Wege, daß es Prinzipien der φύσει δντα gibt, als die auf diese Weise entdeckten 'Gründe' daraufhin überprüft werden, ob sie den in 1.5, 188a27-28 aufgestellten drei Kriterien einer άρχή genügen. 53 Im Gegensatz zu Fritsche, der der Auffassung zu sein scheint, Aristoteles zeige zunächst, daß es Prinzipien der φύσει δντα gibt (woraus dann folgt, daß die φύσει δντα erkennbar sind), bin ich der Ansicht, daß Aristoteles umgekehrt zeigt, daß die φύσει δντα erkennbar sind (d.h. daß es eine kohärente Theorie von ihnen gibt, die sie auf gemeinsame Grundmomente reduziert, die den Kriterien einer ά ρ χ ή entsprechen), wodurch indirekt bewiesen wird, daß es Prinzipien gibt.
Indem die Vorgänger in ihren Theorien jeweils bestimmte Prinzipien zugrunde legen, setzen sie zugleich die Existenz derselben voraus. Übertragt man dies auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern, so gilt im Bilde gesprochen folgendes: Ebenso wie „Kind-sein" eo ipso „Vaterund-Mutter-haben" bedeutet, bedeutet „Erkennbarsein" eo ipso „Durch-Prinzipien-Erkennbarsein". Dem Kind stellt sich nicht die Frage, ob es Eltem hat, sondern vielmehr, welche Eltern es hat. Diese drei Kriterien lauten: (1) άρχαί dürfen nicht auseinander sein; (2) άρχαί dürfen nicht aus anderem sein; (3) aus den άρχαί muß alles sein.
2. Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern' 2.1 Die diairetische Einteilung der numerischen Möglichkeiten von άρχαί Im Anschluß an die methodologische Vorbemerkung beginnt Aristoteles seine Untersuchung mit folgender diairetischer Einteilung der numerischen Möglichkeiten von άρχαί: Notwendigerweise [άνάγκη] muß also das Prinzip entweder eines [μίαν] sein, oder es gibt mehrere [πλείους]; und wenn es eines ist, so ist es entweder unbewegt [άκίνητον], wie Parmenides und Melissos sagen, oder es ist bewegt [κινουμένην], wie die Naturphilosophen sagen, wobei die einen behaupten, das erste Prinzip sei Luft, die anderen, es sei Wasser. Wenn es aber mehrere gibt, so sind sie entweder in ihrer Anzahl begrenzt [πεπερασμένας] oder unbegrenzt [άπειρους], und wenn begrenzt, aber mehr als eines, so entweder zwei, drei, vier oder eine andere bestimmte Zahl. Und wenn sie unbegrenzt sind, so sind sie entweder, wie Demokrit lehrt, der Gattung nach eines [τό γένος εν], aber in der Gestalt unterschieden, oder sie sind der Art nach unterschieden [εϊδει διαφέρουσας], ja entgegengesetzt. (1.2, 184bl5-22) Abb. 2.1 Die numerischen Möglichkeiten von άρχαί 1 Prinzip
(άρχή) e i n (μία) unbewegt (άκίνητος) Parmenides Melissos
s
^
"
bewegt (κινούμενη)
Luft (άήρ)
Wasser (ύδωρ)
Naturphilosophen
"
m
e
h
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r e (πλείονες)
begrenzte Anzahl (πεπερασμένοι)
unbegrenzte Anzahl (άπειροι)
zwei drei vier usw. homogen heterogen (δύο) (τρεις) (τέττα- (κτλ.) (τό γένος έν) (εϊδει διάφερες) ρούσας) Demokrit
Aristoteles will durch diese Einteilung den logisch möglichen Rahmen der Anzahl von άρχαί abstecken,2 wobei das Fehlen der Alternative „keine άρχή" seiDieses Schema beruht auf der Textstelle 1.2, 184bl5-22. Ein detaillierteres Schema, das auch andere Textstellen aus dem Buch Α der Physik und aus der Metaphysik miteinbezieht, findet sich im Anhang 11.2, Darstellung (1). Vgl. Wagner (1967: 395): „Nun beginnt Aristoteles seine Prinzipienuntersuchung, und zwar so, wie sie allein der logischen Forderung gerecht werden kann: mit einer Reihe vollständiger Disjunktionen." Aubenque ( 2 1966: 90) sieht in dieser Einteilung „une sort de table d'orientation des solutions theoretiquement possibles".
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Physik
I. 2: ' D i e Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
nen Grund darin findet, daß jede Wissenschaft aus erkenntnistheoretischen Gründen die Existenz von άρχαί voraussetzen muß. Das Ordnungskriterium der Zahl ermöglicht zudem eine systematische Behandlung der Ansichten der Vorgänger, die zugleich als Vorbereitung der Darlegung der eigenen Theorie dient. So wird Aristoteles zunächst die äußeren Alternativen „eine άρχή" (Kapitel 1.2 und 1.3) und „unendlich viele άρχαί" (Kapitel 1.4) behandeln, um dann durch den Nachweis der Unmöglichkeit derselben zu den mittleren Alternativen vorzudringen.3 Neben dem Umstand, daß durch die Einteilung der logisch mögliche Rahmen der Anzahl von άρχαί absteckt werden soll, welches durch den einleitenden Ausdruck ,,άνάγκη" deutlich wird, sollen in ihr bereits auch die faktisch vertretenen Ansichten einiger Vorgänger zum Ausdruck gebracht werden. Aristoteles verwendet folgende Distinktionen: „eine oder mehrere", „begrenzt viele oder unbegrenzt viele", „zwei, drei, vier oder irgendeine andere bestimmte Anzahl", „bewegt oder unbewegt", „homogen oder heterogen" und „Luft oder Wasser". Die Tatsache, daß die Distinktion „bewegt - unbewegt" nur auf Seiten von „einer άρχή", nicht aber auf Seiten von „mehreren άρχαί" zu finden ist, könnte zunächst zwar als eine Uneinheitlichkeit der zugrunde gelegten Einteilungskriterien gedeutet werden, doch läßt sich dies dadurch erklären, daß faktisch gesehen einzig die Monisten als Vertreter der Ansicht von „einer άρχή" diese als unbewegt verstanden haben, während es auf Seiten von „mehreren άρχαί" keinen Vorgänger gab, der diese als unbewegt gesetzt hat.4 2.2 Die analoge Einteilung bezüglich der όντα In 184b22-25 folgt eine zweite diairetische Einteilung, in der nun aber nicht mehr von „Prinzipien" (άρχαί), sondern von „Seienden" (δντα) die Rede ist: A u f ähnliche W e i s e [ ο μ ο ί ω ς ] aber g e h e n auch diejenigen vor, die untersuchen, w i e v i e l e S e i e n d e [ τ α δ ν τ α ] e s gibt: D e n n sie suchen dasjenige auf, aus d e m die S e i e n den als Ersten bestehen, und fragen, ob e s eines ist oder vieles, und w e n n vieles, ob begrenzt oder unbegrenzt [vieles], s o daß sie b e z ü g l i c h des Prinzips und Elements fragen, o b es e i n e s oder v i e l e s ist. (1.2, 1 8 4 b 2 2 - 2 5 )
Behauptet Aristoteles zunächst, daß „auf gleiche Weise (ομοίως) auch die verfahren, die untersuchen, wieviele δντα es gibt", so bedeutet dies, daß die Vorgänger in bezug auf die δντα - ebenso wie Aristoteles in bezug auf die άρχαί zunächst nach der Anzahl derselben gefragt haben. Diese Gleichsetzung der Su-
4
Bostock (1982: 181) weist daraufhin, daß Aristoteles in Physik I weit mehr an der Frage, wieviele Prinzipien es gibt, als an der Frage, welche es sind, interessiert zu sein scheint. Ein Grund fllr dieses Interesses an der Anzahl der Prinzipien ist vermutlich in dem ökonomischen Vorteil zu sehen, daß durch den Nachweis der Unmöglichkeit von bestimmten zahlenmäßigen Möglichkeiten von ά ρ χ α ί all die Theorien mitwiderlegt sind, die ebenfalls diese Anzahl von άρχαί annehmen, ohne daß auf eine jede einzelne inhaltlich eigens eingegangen werden muß. Guzzoni (1975: 35 f.) weist allerdings zu Recht daraufhin, daß die Frage nach der Anzahl der άρχαί „über die h i s t o r i s c h e Erörterung hinausgreift und auch noch den Fortgang der s y s t e m a t i s c h e n Behandlung des Problems in A5-7 bestimmt". Vgl. Ross (1936: 458 f.).
Die analoge Einteilung bezüglich der δντα
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che nach den δντα mit der Suche nach den άρχαί und στοιχεία wird dadurch begründet, daß „sie nämlich dasjenige aufsuchen, aus dem als Ersten die δντα sind, und fragen, ob es eines oder vieles ist, und wenn vieles, ob es begrenzt oder unbegrenzt viele sind". In dieser Begründung ist bereits eine erste Definition von ,,άρχή und στοιχεΐον" als dasjenige, „aus welchem als Ersten die δντα sind", angedeutet. Mit der Frage nach der Anzahl der δντα, die hier als Frage nach der Anzahl von άρχαί und στοιχεία zu verstehen ist, sind also nicht die für uns nicht abzählbaren faktisch existierenden δντα gemeint, sondern vielmehr solche Arten von δντα, auf die sich die Gesamtzahl der δντα reduzieren läßt und die als gründende δντα von den gegründeten δντα ontologisch verschieden sind. Durch die Gleichsetzung der Suche nach den άρχαί mit der Suche nach den δντα erweist sich die Frage nach den άρχαί zugleich als eine ontologische Frage. Abschließend zieht Aristoteles die Konklusion aus dem dargelegten Argument, „daß also auch sie fragen, ob die άρχή und das στοιχεΐον eines oder mehreres ist." Rechtfertigt Aristoteles auf diese Weise einerseits seine numerische Einteilung der άρχαί dadurch, daß die Vorgänger auf analoge Weise vorgegangen sind, so scheint mir andererseits jedoch noch eine weitere Absicht in der angeführten Gleichsetzung der Suche nach den άρχαί mit der Suche nach den δντα zu liegen, der es nachzugehen gilt. Auf welche Vorgänger Aris|oteles hier mit dem Ausdruck „oi" (b22) im einzelnen referiert, ist in der Sekundärliteratur umstritten. So sprechen sich einige Interpreten gegen die Ansicht aus, daß auch die Eleaten gemeint seien und begründen dies dadurch, daß Aristoteles, wenn er hier an die Eleaten gedacht hätte, nicht hätte sagen dürfen, daß sie fragen, ob es eine begrenzte oder unbegrenzte Anzahl gibt, da die Eleaten immer nur Eines angenommen haben und sich ihnen diese Frage somit gar nicht erst stellte.5 Dieses Argument besagt jedoch, wenn man es genau betrachtet, nicht, daß von den Eleaten in keiner Weise die Rede ist; es besagt nur, daß die Eleaten gewiß nicht alleine gemeint sein können. Denn die erste Frage, ob es eines oder mehreres ist (b24), haben sich auch die Eleaten zu stellen, während die zweite Frage, ob es begrenzt oder unbegrenzt viele sind (b24), dann nur für diejenigen Vorgänger von Bedeutung ist, die sich für „mehrere" (και εί πολλά) entschieden haben. Sowohl der Kontext als auch die im folgenden von mir ausgeführte Antwort auf die Frage, warum Aristoteles hier die Suche nach den άρχαί mit der Suche nach den δντα gleichsetzt, deutet vielmehr daraufhin, daß Aristoteles sogar primär die Eleaten im Sinn hat.6
Vgl. Ross (1936: 460 f.), der mit Alexander der Auffassung ist, daß sich Aristoteles hier nicht auf die Eleaten, sondern nur auf die Naturphilosophen (φυσικοί) im allgemeinen bezieht. Chemiss (1935: 2), der sich im Rückgriff auf Simplicius gegen die Ansicht ausspricht, daß hier nicht die Eleaten gemeint sind, weist in diesem Zusammenhang auf Piaton, Sophistes 242c-e hin, wo Piaton die Lehren seiner Vorganger Uber das Wieviele (ποσά) und Welche (ποιά) in bezug auf die δντα zusammenfaßt und auch die Eleaten, „die ihre Geschichte so vortragen, als ob das, was wir Alles nennen, nur Eins wäre", dazuzählt.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
2.3 Eine methodologische Vorbemerkung zum eleatischen Ansatz Die Untersuchung aber, ob das Seiende eines und unbewegt ist, ist keine Untersuchung über Natur [ού περί φύσεως έστι σκοπείν]. Denn wie es auch für den Geometer gegen denjenigen, der seine Prinzipien aufliebt, keine Argumentationsmöglichkeit mehr gibt, sondern dies entweder Sache einer anderen Wissenschaft oder eines allgemeinen Wissens ist, so auch nicht für denjenigen, der über Prinzipien handelt [τω περί άρχων]. Denn es gibt gar kein Prinzip mehr, wenn nur Eines und in diesem Sinne Eines ist. Denn 'Prinzip' ist 'Prinzip von etwas', einem oder mehrerem [ή γάρ άρχή τινός ή τινών], (1.2, 184b25-185a5)
Wurde in 184b 15-16 von den Eleaten gesagt, daß sie eine unbewegte άρχή angenommen haben, so beginnt Aristoteles nun eine eingehende Auseinandersetzung mit ihnen, wobei allerdings hervorzuheben ist, daß in b26 - im Unterschied zu b 15-16 - nicht mehr von einer unbewegten άρχή, sondern von einem unbewegten öv die Rede ist. Dies deutet darauf hin, daß die analoge Einteilung der όντα (b22-25) gewissermaßen einen Übergang von der diairetischen Einteilung der άρχαί (b 15-22) zur Auseinandersetzung mit den Eleaten in b25 ff. darstellt, so daß das ,,οί" in b22 wohl auch auf die Eleaten zu beziehen ist. Das erste Argument, das Aristoteles gegen die Eleaten anführt, besteht darin, daß „die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, keine Untersuchung über φύσις darstellt." Mit dieser „nicht über die φύσις handelnden Untersuchung (τό σκοπείν)" meint Aristoteles eine Untersuchung, die sich mit der eleatischen Theorie auseinandersetzt. Daß Aristoteles mit der Untersuchung (τό σκοπείν), die prüft, ob das Seiende eines und unbewegt ist, nicht die eleatische These selbst, sondern eine Prüfung der eleatischen These meint, wird sowohl daraus ersichtlich, daß es für die Eleaten ja keine Untersuchung, sondern ein Axiom darstellt, daß das Seiende eines und unbewegt ist, als auch daraus, daß von dieser Untersuchung (τό σκοπείν) in 185a5-9 gesagt wird, daß sie dem Versuch gleicht, eine eristische Argumentation aufzuklären oder gegen eine beliebige These zu argumentieren, die nur um des Gesagten willen gesagt wird, wobei letztere mit der eleatischen These verglichen werden. Mit anderen Worten: Nicht nur die eleatische These selbst, sondern auch eine kritische Untersuchung derselben wird von Aristoteles als nicht eigentlich in eine physikalische Untersuchung gehörend bestimmt. Die Untersuchung der eleatischen These handelt nicht über φύσις, weil die These der Eleaten selbst keine These über φύσις darstellt. Daß die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, nicht über φύσις handelt, begründet Aristoteles im nachfolgenden Abschnitt, wobei wir dem Begründungspartikel „denn" (γάρ) in 185al-5 allein dreimal begegnen. Sind sich die Interpreten bezüglich des Satzes ,,ή γάρ άρχή τινός ή τινών" (185a4-5) einig, daß mit ihm der vorhergehende Satz ,,ού γάρ έτι άρχή έστι ν, ει εν μόνον και ούτως έν έστι ν" (a3-4) eine Begründung erfährt, so gehen die Interpretationen bezüglich der beiden anderen Vorkommnisse des Begründungspartikels „γάρ" in al und a3 auseinander: Entweder haben wir es mit zwei parallelen Begründungen dafür zu tun, daß die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, nicht über φύσις handelt, oder aber wir haben es mit einer
Eine methodologische V o r b e m e r k u n g zum eleatischen Ansatz
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einzigen Begründung zu tun, die selbst eine weitere Begründung erfährt. Diejenigen Interpreten, die davon ausgehen, daß hier zwei parallele Begründungen dafür vorliegen, daß die Annahme von einem einzigen unbewegten Seienden keine Untersuchung über φύσις darstellt, sehen diese Begründungen in folgendem: (a) Die Eleaten übersehen, daß Bewegung ein Prinzip der φύσις ist (184 b25-185a3). (b) Die Eleaten übersehen, daß es ihrer These zufolge überhaupt keine αρχή mehr geben kann, weil eine άρχή als άρχή τινός ή τινών zumindest eine Zweiheit voraussetzt (185a3-5); wenn es aber keine άρχή gibt, kann es folglich auch keine Wissenschaft geben, da diese den Ausführungen in Kapitel 1.1 zufolge aus άρχαί erkennt. Bezieht sich die Begründung (a) auf den Aspekt des Unbewegtseins (άκίνητον) des Seienden in der eleatischen These, so bezieht sich die Begründung (b) auf den Aspekt des Einsseins (εν) des Seienden. Ross beschreibt die beiden parallelen Begründungen im Rückgriff auf Pacius wie folgt:7 A s Pacius points out, there are involved here two distinct arguments to show that the inquiry whether reality is one and unchangeable does not belong to natural philosophy. (1) 184b25-185a3. T o say that reality is unchangeable is to deny the existence of nature, since nature is j u s t a principle of change. (This definition of nature is first hinted at in 185al2-14, but is present to Aristotle's mind from the very beginning of the work, and is made explicit in ii. I.) And it is n o t the business of any science t o argue with those w h o deny its first principles. (2) 185a3-5. T o say that reality is one and only one is to deny the existence not only of an ά ρ χ ή κ ι ν ή σ ε ω ς but of any ά ρ χ ή , since an ά ρ χ ή is obviously an ά ρ χ ή of something and involves the existence of at least one thing besides itself. For this reason too, then, the student of ά ρ χ α ί has not to refute the Eleatic position. (Ross, 1936: 4 6 1 )
Im Gegensatz zu dieser Interpretation bin ich jedoch der Ansicht, daß hier eigentlich nur eine einzige Begründung vorliegt, die einer weiteren Begründung bedarf, und der zufolge die Kritik an den Eleaten primär darin besteht, daß es ihrer These zufolge überhaupt keine άρχή geben kann. Der Gedanke, daß die mit der eleatischen These verbundene Leugnung der Existenz von Bewegung einem der Physik eigentümlichen Prinzip widerspricht, steht hier zwar sicherlich im Vgl. auch Marquardt (1993: 22): „Die Eleaten begehen fllr Aristoteles einen doppelten Fehler. Einmal gehört ihre Lehre von einem unwandelbaren Seienden nicht in den Bereich der Naturforschung. Entweder fällt sie in den Bereich einer anderen, höheren Wissenschaft, als es die Physik ist. Oder aber, den Eleaten gelingt in ihrer Physik keinerlei Erklärung. Denn Prinzipien sind immer Prinzipien von etwas. Damit ist eine Zweiheit gegeben, die von den Eleaten abgelehnt wird. Des weiteren verneint die These von der Unwandelbarkeil des Seins die fundamentalen Eigenschaften der Natur, nämlich Bewegung und Veränderung." Craemer-Ruegenberg (1993: 87) scheint hier sogar nur die Begründung (a) zu sehen, da sie die Begründung (b) in ihrer Interpretation nicht erwähnt: „Wer - wie die Eleaten - Prozessualität und die Vielfalt der Veränderungen in der Natur für einen bloßen Schein hält, verfehlt von Grund auf den Zugang zu einer angemessenen Erkenntnis von Natur (Phys. I 1, 184 b25-185 alO)." Vgl. dieselbe (1980: 30): „Die These, daß es nur ein einziges Prinzip der Natur gebe und daß dieses unveränderlich sei, vertreten nach Aristoteles die 'Eleaten' (Parmenides und Melissos). Diese These hat, was die Belange der Naturphilosophie betrifft, nur das eine Gute, daß wenigstens nach einem 'Prinzip' gesucht wird." Eben dies, daß überhaupt nach einem Prinzip gesucht wird, bestreitet Aristoteles jedoch in 185a3-5 bezüglich der eleatischen These. Die Betonung, daß hier mit der eleatischen These vor allem die Existenz der Bewegung als ein der Physik eigentümliches Prinzip aufgehoben sei, findet sich auch bei Leszl (1975. 502) und Bolton (1991: 13-15).
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Hintergrund, doch wird er an dieser Stelle noch nicht explizit thematisiert. Die von Aristoteles aufgestellte Behauptung, daß „die Untersuchung, ob das Seiende eines und unbewegt ist, keine Untersuchung über φύσις darstellt" (184b25185al), erfährt zunächst nämlich eine erste Begründung in folgendem: Denn wie es auch für den Geometer 8 gegen denjenigen, der seine ό ρ χ α ί aufhebt, keine Argumentationsmöglichkeit [λόγος] mehr gibt, sondern dies entweder Sache einer anderen Wissenschaft oder eines gemeinsamen Wissens 9 ist, so auch nicht für denjenigen, der über ά ρ χ α ί handelt. (1.2, 185al-3).
Die in dieser Begründung enthaltene Behauptung lautet, daß derjenige, der über φύσις handelt, zunächst jemand ist, der über άρχαί handelt. Nun scheint die eleatische These eben diese άρχαί aufzuheben. Aristoteles sagt nicht, wie wir es eigentlich erwarten würden, daß die eleatische These das Prinzip von Vielheit und Bewegung aufhebt, sondern er sagt zunächst nur, daß die Prinzipien des Physikers aufgehoben sind, insofern der Physiker als Wissenschaftler über Prinzipien handelt, und nicht insofern er als Physiker über das Prinzip der Vielheit und Bewegung handelt. 10 Der Physiker wird hier noch nicht im speziellen Sinne als Physiker, sondern in einem allgemeinen Sinne als Prinzipienforscher bzw. als einer, der über Prinzipien handelt (περί άρχων), thematisiert. So wie ein Geometer nicht mehr gegen denjenigen argumentieren kann, der seine Prinzipien (d.h. die Prinzipien der Geometrie) aufhebt, so kann auch auf einer allgemeinen Ebene der Prinzipienforscher nicht mehr gegen denjenigen argumentieren, der überhaupt die Existenz von Prinzipien aufhebt. Warum nun aber die Prinzipien des Physikers als eines Prinzipienforschers aufgehoben sind, ist hiermit noch nicht gesagt. Insofern erweist sich diese Begründung zunächst als eine Behauptung, die ihrerseits einer Begründung bedarf. Diese findet sich im nachfolgenden Satz: „Denn es gibt ja kein Prinzip mehr, wenn es nur Eines und in diesem Sinne Eines gibt. Denn άρχή ist immer άρχή von etwas, einem oder mehrerem" (185 a3-5).
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Bezüglich des Geometers vgl. auch das-Beispiel der Kreisquadratur in 1.2, 185al6-17, wo davon die Rede ist, daß der Geometer zwar eine Lösung des Problems der Kreisquadratur untersuchen muß, hierbei jedoch nicht auf die von Antiphon vorgeschlagene Lösung einzugehen hat, da diese die obersten Prinzipien der Geometrie verletzt. Bolton (1991: 14, Fn.15) spricht von „knowledge (or science) common to all sciences." Mit diesem anderen oder allem anderen gemeinsamen Wissen (vgl. „ετέρας επιστήμης ή πασών κοινής") ist ein Wissen gemeint, das die allen Wissenschaften gemeinsame Voraussetzung, daß ein Erkennen von etwas nur aus seinen άρχαί möglich ist, zum Gegenstand hat. Dies kann sich auf die „formale Dialektik" beziehen, wie sie in Top. 1.2 beschrieben wird (vgl. Wieland, 1962: 107; Wagner, 1967: 397 und Irwin, 1988: 67 und 502 f., Fn.52), oder aber auf die Metaphysik (vgl. Ross, 1936: 467). Aristoteles sagt hier nicht - wie Marquardt (1993 : 22) meint -, daß die eleatische Lehre von einem unwandelbaren Seienden nicht in die Physik, sondern in den Bereich einer anderen, höheren Wissenschaft fällt. Vielmehr meint er, daß eine P r ü f u n g bzw. eine Untersuchung der eleatischen These nicht in die Physik, sondern in eine andere Wissenschaft fällt. Obgleich Wieland (1962: 106 f.) zunächst richtig betont „dabei zeigt es sich, daß die Eleaten de facto nicht nur die Prinzipien der Natur, sondern Prinzipien Uberhaupt aufheben", sagt er dann: „Der Physiker kann als Physiker nicht mehr gegen die Eleaten argumentieren, weil sie seine Voraussetzungen leugnen." Es müßte jedoch korrekterweise zunächst lauten, daß der Physiker als Wissenschaftler (d.h. als Prinzipienforscher) nicht mehr gegen die Eleaten argumentieren kann.
Eine m e t h o d o l o g i s c h e Vorbemerkung zum eleatischen A n s a t z
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Die eleatische These handelt primär aus dem Grunde nicht über φύσις, weil es ihr zufolge überhaupt keine αρχή geben kann. Folglich stellt sie kein Wissen dar und ist nicht als eine wissenschaftliche These anzusehen, da Wissenschaft und Wissen der Methodologie in Kapitel 1.1 zufolge die Existenz von άρχαί voraussetzt, aus denen sie erkennt. Auch wenn hier bereits der Gedanke im Hintergrund steht, daß die eleatische Annahme im Widerspruch zu der in 185al2-14 ausformulierten Grundannahme des Physikers steht, daß sich die Naturdinge durch Vielheit und Bewegung auszeichnen, so wird dies an dieser Stelle doch noch nicht explizit gesagt. Zudem werden wir sehen, daß diese Grundannahme in 185a 12-14 auch nicht im Sinne eines axiomatischen Prinzips zu verstehen ist. Angesichts der von mir vorgeschlagenen Interpretation stellt sich nun aber die Frage, warum Aristoteles dann hinsichtlich der eleatischen These in 184b2526 ausdrücklich von der Unbewegtheit des Seienden spricht, scheint diese doch für die von mir dargelegte Interpretation, die sich wesentlich an der Einsheit des Seienden orientierte, keine große Bedeutung zu haben. Hierzu ist folgendes zu bemerken: Sagt Aristoteles „es gibt nämlich gar keine αρχή, wenn es nur eines [d.h. ein Seiendes]" und in diesem Sinne eines [d.h. im Sinne des Unbewegten und absoluten Einen] gibt", so scheint auch hier die Ergänzung „in diesem Sinne eines" (ούτως εν: 185a4) für die Begründung selbst zunächst überflüssig zu sein. Bei genauerem Hinsehen erweist sie sich jedoch aus dem Grunde als notwendig, da das Argument ansonsten nicht hinreichend wäre. Denn auch die sogenannten φυσικοί haben ja der diairetischen Einteilung der άρχαί in 185b1618 zufolge nur eine einzige άρχή - und damit gemäß der Analogie zu den όντα, letztlich nur ein öv, auf das sie alle anderen δντα reduzieren - angenommen. Dadurch aber, daß sie diese eine άρχή als bewegt bestimmt haben, ist die Herleitung einer Vielheit von δντα (z.B. durch Verdichtung und Verdünnung) - und damit die Möglichkeit, daß die άρχή eine άρχή von etwas ist - bei ihnen nicht ausgeschlossen.12 Wieland (1962: 106) ist der Ansicht, daß Aristoteles hier daraufhinweisen will, daß der grundlegende Fehler der Eleaten darin zu sehen sei, daß sie den Relationscharakter der άρχή übersehen haben: D i e Eleaten haben, w i e Aristoteles sagt, nur ein e i n z i g e s und dazu n o c h u n b e w e g t e s Prinzip a n g e n o m m e n ( 1 8 4 b l 6 ) ; [ . . . ] Aristoteles will also nicht sagen, daß die Eleaten falsche Prinzipien a n g e n o m m e n haben, sondern daß sie den Sinn v o n Prinzipien überhaupt verkannt haben.
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Der Ausdruck ,,έν" ist durch „öv" zu ergänzen. Wäre hier „eine einzige ά ρ χ ή " gemeint, so müßte im Text die feminine Form „ μ ί α " stehen. Aus diesem Grunde wird hier zunächst auch nicht die Möglichkeit einer einzigen ά ρ χ ή von vielen δντα, sondern nur die Möglichkeit eines einzigen öv als ά ρ χ ή widerlegt. So sagt Guzzoni (1975: 37), daß „die Widerlegung der Einshaftigkeit des S e i e n d e n unausdrücklich zugleich die Widerlegung der radikalen Einshaftigkeit d e r a r c h e [bedeutet]." Mit dieser 'radikalen Einshaftigkeit' der ά ρ χ ή bei den Eleaten ist nicht nur gemeint, daß sie als absolut Eines keine Vielheit an sich zuläßt, sondern auch, daß sie aufgrund dieser radikalen Einsheit - wie Aristoteles in Kapitel 1.3 zeigen wird - den Eleaten zufolge keine Bewegung an sich zuläßt.
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Betrachtet man in diesem Zusammenhang jedoch, wie sich die Eleaten selbst zu dieser Problematik äußern, so fällt auf, daß sie in ihren Fragmenten gar nicht von einer ,,άρχή", sondern nur von einem „öv" sprechen, das sie zudem als ,,άναρχον" („ohne άρχή": vgl. Parmenides, Frg. DK 28B8, Z.27) bestimmen.13 Dies findet seinen Grund darin, daß die Rede von einer ,,άρχή" ja bereits eine hierarchische Strukturierung und somit eine Vielheit der οντά implizieren würde. Aus der Tatsache, daß die Eleaten ihr öv als ,,αναρχον" bestimmen, darf jedoch umgekehrt nicht geschlossen werden, daß dieses eine öv ihrem Selbstverständnis nach selbst die άρχή ist. Auch wenn es in Phys. III.4, 203b6 heißt, daß „alles nämlich entweder άρχή oder aus άρχή ist", woraus man schließen könnte, daß das eleatische öv als άναρχον folglich selbst eine άρχή wäre, so reicht dieses Argument doch nicht aus, um den Eleaten zu unterstellen, sie hätten ihr öv als άρχή aufgefaßt. Denn die Aussage „alles nämlich ist entweder άρχή oder aus άρχή" setzt ja bereits die Existenz einer Vielheit (zumindest einer Zweiheit) voraus, die sich bei den Eleaten gerade nicht findet. Auch wenn Aristoteles in der diairetischen Einteilung der άρχαί der Vorgänger (184b 15-22) von den Eleaten sagt, daß sie eine einzige, unbewegte άρχή angenommen haben, so scheint er sich doch der Tatsache bewußt gewesen zu sein, daß die Eleaten ihr öv nicht als άρχή verstanden haben. Dies wird vor allem in Met. 1.3-5 deutlich, wo Aristoteles mit einer Untersuchung darüber beginnt, welche und wieviele Prinzipien die Vorgänger angenommen haben. In bezug auf die Eleaten spricht er in 1.5, 986bl0-987a2 bezeichnenderweise nicht mehr von einer ,,άρχή" oder einem „αίτιον", sondern von einer „einzigen φύσις" und führt aus, daß die Erwähnung der Eleaten eigentlich nicht in die gegenwärtige Untersuchung der Ursachen gehört (986b 13-17). In der Zusammenfassung über die Ursachen in Met. 1.7 werden die Eleaten dann auch nicht mehr erwähnt. Würde Aristoteles den Eleaten also vorwerfen, daß sie den Relationscharakter von ,,άρχή" übersehen haben, so erschiene diese Kritik vor dem Hintergrund, daß die Eleaten ihrem Selbstverständnis zufolge überhaupt keine άρχή angenommen haben, als unberechtigt. Schaut man nun aber genauer hin, so wird deutlich, daß er dies den Eleaten auch gar nicht unterstellt. Aristoteles sagt nicht, daß die Eleaten den Relationscharakter von ,,άρχή" übersehen haben. Vielmehr sagt er umgekehrt, daß es dem eleatischen Ansatz zufolge aufgrund des Relationscharakters von άρχή keine άρχή geben kann, und somit auch keine Physik, insofern diese als Wissenschaft die Existenz von άρχαί voraussetzen muß. Vor diesem Hintergrund kann die analoge Einteilung der οντα in b22-25 nun als Zeichen dafür verstanden werden, daß sich Aristoteles durchaus der Problematik bewußt ist, daß er das öv der Eleaten in der diairetischen Einteilung der zahlenmäßigen Möglichkeiten von άρχαί (184b 15-16) zunächst als eine ,,άρχή" bezeichnet hat.14 Die Gleichsetzung der Suche nach den οντα mit der Suche 13
Vgl. auch Melissos, Frg. DK 30B2. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit den Eleaten in den Kapiteln 1.2 und 1.3 ist dann bezeichnenderweise auch nicht mehr von einer ,,άρχή", sondern nur noch von einem „öv" die Rede. So sagt Aristoteles am Ende von 1.3, 187al0-l 1: „Es ist [somit] klar, daß das Seiende unmöglich in diesem Sinne eines ist."
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nach den άρχαί erweist sich vor diesem Hintergrund als eine Erwiderung auf einen möglichen Einwand eines Hörers, der in bezug auf die diairetische Einteilung der άρχαί darauf hinweisen könnte, daß die Eleaten selbst ihr öv gerade nicht als αρχή verstanden haben. Gleichwohl stellt diese Gleichsetzung noch keine hinreichende Begründung dafiir dar, warum das öv der Eleaten auch aus ihrer Sicht als eine άρχή bzw. als etwas, „aus dem als Ersten die δντα bestehen" (b23), zu verstehen ist. Denn für die Eleaten ist das eine öv ja auch insofern kein „πρώτον" (Erstes), aus dem die anderen οντα sind, als die Rede von einem „Ersten" ebenfalls eine Hierarchisierung und somit die Existenz eines Zweiten impliziert. Will man Aristoteles hier keine unberechtigte Kritik an der eleatischen Theorie unterstellen, so wäre die von ihm dargelegte Argumentation nunmehr wie folgt zu verstehen: Zunächst ordnet Aristoteles in bl5-16 das eine öv der Eleaten den Möglichkeiten der Anzahl von άρχαί zu. In der analogen Einteilung der δντα (b22-25) begegnet er dann dem möglichen Einwand, daß nicht alle Vorgänger explizit von „άρχαί" gesprochen haben, mit dem Hinweis, daß sie doch alle nach den grundlegenden οντα im Sinne von άρχαί suchen. Zugleich will Aristoteles einen Übergang zur eleatischen These herstellen, wobei ihm bewußt ist, daß diese ihr öv nicht als eine άρχή im strengen Sinne verstanden haben. Zwar ist die Suche der Eleaten keine Suche nach einer άρχή, doch, so argumentiert Aristoteles dann in 184b25-185a5, ist hier auch ihr grundlegender Fehler im Hinblick auf eine Physik als Wissenschaft zu sehen. Insofern ihr theoretischer Ansatz nämlich die Existenz von άρχαί überhaupt negiert, ist es diesem Ansatz zufolge auch unmöglich, von einer Physik als Wissenschaft zu sprechen, da wissenschaftliche Erkenntnis für Aristoteles immer schon eine Erkenntnis aus άρχαί ist. Im nachfolgenden zieht Aristoteles nun eine weitere Konklusion („δή": 185a5) in bezug auf den wissenschaftlichen Status der eleatischen These: Die Untersuchung also, ob in diesem Sinne Eines ist, gleicht der Argumentation gegen irgendeine beliebige These von der Art, was nur um des Argumentierens willen gesagt wird [των λόγου ενεκα λεγομένων] (wie z.B. die heraklitische These, oder wenn einer behauptet, daß das Seiende ein Mensch sei), oder dem Versuch, eine eristische Argumentation aufzulösen, was denn auch beide Argumentationen, sowohl die des Melissos wie die des Parmenides, an sich haben. Denn sie machen sowohl falsche Annahme als auch sind ihre Schlüsse fehlerhaft. Besonders plump aber ist die des Melissos, und sie enthält keinerlei Schwierigkeiten, sondern wenn nur eine einzige Unstimmigkeit zugegeben wird, so folgt das Übrige. Dies aber ist nichts Schwieriges.15 (1.2, 185a5-12)
Die Saue 185a9-12 wiederholen sich zum Teil wörtlich in 1.3, 186a7-10. Dies hat dazu geführt, daß in den Übersetzungen häufig eine der beiden Textstellen eingeklammert wird. Die Textpassage in Kapitel 1.2 streichen Bekker und Prantl. Die Textpassage in Kapitel 1.3 streichen Zekl, Hardie/Gaye, Simplicius, Themistius und Ross. Wicksteed und Cornford streichen bei beiden Textpassagen jeweils einen Teil. Charlton läßt beide Textpassagen stehen. Aus Gründen der Vorsicht schließe ich mich der Auffassung von Charlton an, zumal zu bedenken ist, daß in keiner einzigen der uns überlieferten Handschriften eine Streichung vorgenommen wird und es für eine Vorlesung nicht untypisch ist, daß Wiederholungen vorgenommen werden. Gigon (1966: 137) sagt in diesem Zusammenhang: „Es bleibt 185 a 5-12, eine Stelle, die teilweise in 186 a 610 wiederholt wird. Die Editoren pflegen bald den ersten, bald den zweiten Text zu streichen;
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Aristoteles vergleicht die These der Eleaten einerseits mit einem λόγος, der nur um des Gesagten willen (vgl. „λόγου ένεκα λεγομένων") gesagt wird - gemeint ist ein 'bloßes Reden (λέγειν) um des Redens (λέγειν) willen' -, und andererseits mit einer eristischen Argumentation, die falsche Annahmen macht, wobei sie aus diesen falschen Annahmen zudem auf fehlerhafte Weise schließt. Dieser zweifache Vorwurf, den Aristoteles gegen die eleatische These erhebt, ist zunächst rein formaler Natur. Er kann somit als weiteres Indiz dafür angesehen werden, daß in der vorhergehenden Argumentation ebenfalls noch nicht explizit von inhaltlichen Prinzipien, wie dem Prinzip der Existenz von Bewegung bei den φύσει δντα, die Rede war. Was wir unter einem „λόγος um des Gesagten willen" zu verstehen haben, wird durch zwei Beispiele verdeutlicht: Die heraklitische These und die Behauptung „das Seiende ist ein einziger Mensch". Mit der heraklitischen These kann zweierlei gemeint sein: (1) Die These, daß demselben gegensätzliche Eigenschaften zugleich zukommen, und (2) die These, die man später unter der Formel „πάντα ρεΐ" zusammengefaßt hat.16 Dafür, daß Aristoteles hier die These (1) im Sinn hat, spricht folgendes: In 1.2, 185b20 führt Aristoteles die Behauptung der Identität des Gutseins und Schlechtseins - woraus er folgert, daß dasselbe zugleich gut und nichtgut wäre als einen „λόγος des Heraklit" (vgl. „τον 'Ηρακλείτου λόγον") an. Diese These von der Einheit der Gegensätze erwähnt Aristoteles auch in Met. IV.3, 1005b 1734 als eine das Principium contradictionis verletzende These und bemerkt in diesem Zusammenhang: Es ist nämlich unmöglich, daß einer annimmt [ύπολαμβάνειν], dasselbe sei und sei nicht, wie dies nach Ansicht einiger Heraklit sagt [λέγει]. Es ist nämlich nicht notwendig, daß einer das, was er sagt [α τις λέγει], auch so annimmt [ύπολαμβάνειν], (Met. IV.3, 1005b23-26)
Dieses „Sagen, aber nicht Annehmen" mag uns bereits als Hinweis darauf dienen, was wir unter einem „λόγος um des Gesagten willen" zu verstehen haben. Auch wenn die Textstelle in Phys. 1.2, 185b20 dafür spricht, daß Aristoteles mit dem heraklitischen λόγος in 185a6-7 die These (1) im Sinn hat, so ist dadurch die These (2) jedoch keineswegs ausgeschlossen. 17 Denn einerseits widersprechen beide Thesen einander nicht, sondern ergänzen einander vielmehr, und andererseits ist davon auszugehen, daß die Hörer dieser Vorlesung vor allem an
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doch schon das Schwanken zeigt, daß keine der beiden Streichungen einen ausreichenden Grad von Evidenz besitzt. Die wörtliche Wiederholung mehrerer Zeilen indiziert sicherlich eine Störung, doch welcher Art diese Störung ist (redaktionell-kompositorisch oder mechanisch), das laßt sich nicht ohne weiteres entscheiden. Alles spricht dafür, daß der Text in 186 a 6-10 primär, an unserer Stelle sekundär ist." Zur These (1) vgl. Heraklit, Frg. 22 B59-62, B67 und B88. Die Ansicht, daß Aristoteles in 185 a6-7 diese These im Sinn hat, findet sich bei Charlton (1970: 53 f.), Wagner (1967: 398), Ross (1936: 461 f.), Prantl (1854: 470 f., Fn.3) und Wicksteed/Comford (1980: 17). Zur These (2) vgl. Heraklit, Frg. Β 91, B12 und B49a. Die Ansicht, daß Aristoteles in 185a6-7 diese These im Sinn hat, findet sich bei Zekl (1987: 239 f., Fn.7), wobei auch Ross (461 f.) und Prantl (S. 470, Fn.3) diese Möglichkeit nicht ausschließen. Vgl. auch Ross (1936: 462): „But Aristotle probably considered the whole doctrine of πάντα ί>εΐ to involve the denial of the law of contradiction."
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das heraklitische πάντα ρεΐ denken, wenn Aristoteles in der Physik im Kontext mit der eleatischen These, daß alles eines und unbewegt sei, von der heraklitischen These spricht.18 Vor diesem Hintergrund stellt Aristoteles dann in 184 b25-185al2 die eleatische These „es gibt keine Bewegung" und die heraklitische These „alles ist in Bewegung" als einander konträre Positionen gegenüber, während er mit der Grundannahme in 185al2-14 den Mittelweg zwischen beiden Positionen sucht. Charlton sieht in dem zweiten Beispiel für einen „λόγος um des Gesagten willen" von einem, der behauptet, „das Seiende sei ein einziger Mensch", eine mögliche solipsistische Ausdehnung des protagoreischen Zweifels: Second, a5-12, the thesis is wildly paradoxical, and suitable only for dialectical practice, like Heraclitus' thesis that opposite properties belong to everything at the same time (v. Top. VIII 159b30-3, 185b20; for Heraclitus' own words v. DK 22 B59-62, 67, 88, etc.), or like the thesis that reality consists of only one man (perhaps a solipsistic extension o f Protagorean doubt). (Charlton, 1970: 53 f.)
Charlton meint vermutlich, daß ein Eleat, der die These vertritt, daß alles eines sei, und sich zugleich bewußt ist, daß er selbst diese These aufstellt, zu dem Schluß kommen muß, daß nur er selbst existieren kann. Die These von der absoluten Einheit des Seienden würde somit zumindest die Zweiheit von Untersuchendem und untersuchtem Objekt voraussetzen, wenn sie nicht zu einem Solipsismus führen soll. Daß Aristoteles derartige rückbezügliche Argumente im Kontext der Widerlegung der eleatischen These im Sinn hat, wird in Phys. VIII.3, 254a23-33 deutlich, wo er als Gegenargument gegen die These, daß alles in Ruhe ist, anführt, daß die Wahrnehmung gegen diese These spreche, und daß, selbst wenn die Wahrnehmung auch ein bloßer Schein sei, es doch zumindest diesen Schein gebe, welcher eine Art Bewegung sei. Der Hinweis von Charlton läßt sich auch dadurch stützen, daß Aristoteles in Met. IV.5 neben der heraklitischen These von der „Einheit der Gegensätze" gerade die These des Protagoras von der „Relativität alles Seienden" als Beispiel für eine Verletzung des Principium contradictionis anführt. Dort charakterisiert er diejenigen, die nicht aus Unwissenheit diesen Satz verletzen, als solche, „welche so reden, nur um so zu reden [δσοι δέ λόγου χάριν λέγουσι]" (1009a20-21). Dies deutet daraufhin, daß mit den „λόγοι um des Gesagten willen" vor allem solche λόγοι - wie z.B. der heraklitische λόγος von der „Einheit der Gegensätze" und der protagoreische λόγος von der „Wahrheit alles Erscheinenden" (1010b 1-2) - gemeint sind, durch die die sichersten Prinzipien, wie z.B. das Principium contradictionis, verletzt werden. Setzt Aristoteles also die eleatische These mit einem „λόγος um des Gesagten willen" gleich, so deutet dies indirekt darauf hin, daß auch sie in
Zudem ist Aristoteles auch in bezug auf die These vom πάντα (tet der Ansicht, daß sie analog zur eleatischen These von der absoluten Einheit und Unbewegtheit des Seienden mit der Möglichkeit einer Wissenschaft unvereinbar ist (vgl. Met. 1.6 , 987a33 und IV.5, 1010a7).
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der Gefahr stehen, das Principium contradictionis zu verletzen, was Aristoteles im weiteren Verlauf deutlich machen wird.19
2.4 Der Status der 'Grundannahme' (185al2-14) Der eleatischen These von der Unbewegtheit und absoluten Einheit des Seienden stellt Aristoteles seine eigene 'Grundannahme' gegenüber: Für uns hingegen soll als Grundannahme gelten, daß die Naturdinge - entweder alle oder einige - bewegt sind [ήμΐν δ' ύποκείσθω τά φύσει ή πάντα η ενια κινούμενα είναι]. Dies aber ist klar aus der Beobachtung [δήλον δ' έκ της έπαγωγής]. Zugleich aber ist es nicht sinnvoll, alles aufklären zu wollen, sondern nur dort, wo einer von Prinzipien her auf fehlerhafte Weise beweist; wo das nicht so ist, dort ist es nicht sinnvoll; wie z.B. die Kreisquadratur mittels der Schnitte - dies aufzulösen ist Aufgabe eines Geometers. Es ist jedoch nicht Aufgabe eines Geometers, die [Lösung] des Antiphon aufzuklären. Gleichwohl, da sie zwar nicht über Natur handeln [περί φύσεως μέν οΐ>], es ihnen aber doch geschieht, die Natur betreffende Schwierigkeiten auszusprechen, mag es vielleicht gut sein, sich kurz in eine Auseinandersetzung über sie einzulassen. Denn diese Untersuchung hat es mit Philosophie zutun. (1.2, 185al2-20)
Owen (1961) hat in diesem Zusammenhang - wie vor ihm A. Mansion ( 2 1946) auf folgendes methodisches Problem innerhalb der Physik hingewiesen: Sagt Aristoteles in Kapitel 1.1, daß jede naturwissenschaftliche Untersuchung mit der Wahrnehmung zu beginnen habe, um von dort aus zu den άρχαί zu gelangen, und betrachtet man nun die Untersuchung der eleatischen These im Anschluß an die Vorbemerkung, so fällt auf, daß diese Untersuchung aufgrund ihres eher begrifflich-logischen Charakters der methodologischen Vorbemerkung zu widersprechen scheint.20 Owen, der die Schwierigkeit, daß die Untersuchung der Methodologie zufolge zwar mit den Wahrnehmungsdingen beginnen soll, faktisch gesehen jedoch eher mit einer begrifflich-logischen Auseinandersetzung beginnt, dadurch zu lösen versucht, daß die aristotelischen Begriffe φαινόμενα und έμπειρία nicht nur für beobachtete Fakten, sondern auch für die Meinungen (ένδοξα) der Vorgänger stehen können, argumentiert, daß die Vorgehensweise in der Physik in keinem Widerspruch zur Rede über die Bedeutung der φαινόμενα und έμπειρία in der Wissenschaft steht, sofern man die Daten, von denen ausgehend die Physik beginnt, nicht als empirische Daten, sondern als das Material der Dialektik versteht (1961: 85 f.).21 Angesichts dieses Lösungsvorschlags wurde von anderen Interpreten jedoch die weitere Frage gestellt, ob die Physik nun als eine dialektisch-philosophische oder ob sie als eine empirische Untersuchung zu verstehen sei. Während Wie19
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Vgl. 1.2, 185b 19-25, wo Aristoteles explizit daraufhinweist, daß die Eleaten in der Gefahr stehen, dieses Prinzip zu verletzen. Vgl. Owen (1961: 84 f.). Vgl. auch Mansion ( 2 1946: 211): „ [...] tout s'y r6duit en general ä des analyses plus ou moins poussees de concepts, - analyses guidies souvent et illustrees par des d o n e e s de l'expörience, plutöt qu'appuyöes sur celle-ci." Vgl. auch Nussbaum (1982: 272-4).
Der Status der 'Grundannahme'
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land (1962, 216 ff.), Charlton (1970: X-XII und 66), Irwin (1988: §§ 34-37) und Hussey (1983: IX f.) der Ansicht von Owen bezüglich des dialektisch-philosophischen Charakters des Buches Α der Physik gefolgt sind, haben sich vor allem Bolton (1987: 120-66; 1991: 1-30) und Leszl (1975: 494 ff.) in jüngerer Zeit eher für den empirischen Charakter der Methode im Buch Α der Physik ausgesprochen. Auch wenn hier die These vom empirischen Charakter der Methode im Buch Α der Physik anhand einer Analyse der 'Grundannahme' gestützt werden soll, bedeutet dies nicht, daß wir es nicht dennoch mit einer philosophischen Untersuchung zu tun haben, die ihren Ausgangspunkt in der Empirie hat. Meiner Ansicht zufolge ist bereits die Ausgangsfrage, ob die Physik eher als eine dialektisch-philosophische oder als eine empirische Untersuchung zu verstehen sei, in dem Sinne verfehlt, als Aristoteles selbst nicht zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft im heutigen Sinne differenziert.22 Aristoteles fuhrt seine Grundannahme in 185al2-14, wie aus dem ,,ήμΐν δ'" (185al2) deutlich wird, als Gegensatz zur eleatischen These (184 b25-26) ein, wobei das ,,δ'" (185al2) als Ergänzung des „μεν" (184b25) verstanden werden kann, auch wenn beide Partikel hier weit auseinander liegen. Diese Gegenüberstellung macht bereits deutlich, daß Aristoteles seine Grundannahme in den dargelegten Kontext einbettet.23 Aus der Sekundärliteratur lassen sich zahlreiche Belege anführen, die verdeutlichen, daß die Grundannahme oft im Sinne eines ersten axiomatischen Prinzips der Physik verstanden wurde.24 So bemerken Gershenson und Greenberg z.B. folgendes: He exclaims (185A12-14): 'We must accept as an underlying principle that change takes place in nature. This is plain from the fact that induction is one of the chief ways of reaching scientific truth.' The hearer is thus informed that the entire discussion will proceed upon Aristotle's own assumption. (Gershenson/Greenberg, 1962: 138 f.)
In einer Fußnote zum Ausdruck „induction" merken sie an: Induction begins from the particular data of sensory experience and abstracts from them general laws. The validity of induction depends on accepting the data as true. For Aristotle's attitude towards induction see chapter 1 of the Physics. (Gershenson/ Greenberg, 1962: 138, Fn.5) 22 23
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Vgl. dazu Leszl (1975: 505), Jacobi (1982: 106 und 63), Craemer-Ruegenberg (1980: 9-23) und Seidl (1995: XI). Demgegenüber bemerkt Wagner (1967: 398): „Unverbunden nach beiden Seiten steht dieser 'Grundsatz' in logischer Beziehung da, während, was vor und nach ihm steht, wohl zusammen8ehört" Beispiele für das Verständnis der 'Gnindannahme' im Sinne eines unbeweisbaren, axiomatischen Prinzips der Physik finden sich z.B. bei Wagner (1967) und Berti (1991: 53-72). Wagner, der die 'Grundannahme' in seiner Übersetzung als „Ausgangsgrundsatz" versteht (S. 7), schreibt in seinem Kommentar zum Wort 'έπαγωγή' (S. 398): „'Επαγωγή ist - unbestimmt genug - die zusammenfassende Bezeichnung für den Weg, der zur Aufstellung gewisser Grundsatze führt, aus welchen die Wissenschaft dann ableitend begründet, [...]." Berti zählt die 'Grundannahme' als Prinzip der Existenz von Bewegung neben είδος, ϋλη und στέρησις zu den der Physik eigentümlichen άρχαί und stellt sie somit hinsichtlich ihres Status auf eine Ebene mit denjenigen άρχαί, die in Phys. 1.1 als Ziel der Untersuchung angegeben werden.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Angesichts dieser Interpretation drängen sich jedoch folgende Fragen und Probleme auf: (1) Wie kann eine Grundannahme, in der sich die Quantoren „alle oder einige" (ή πάντα ή ενια) finden, als ein general law verstanden werden? (2) Zwar ist im griechischen Text von einer „Induktion" (έπαγωγή) die Rede, doch wird hier weder gesagt, daß sie einer der Hauptwege zur Erlangung wissenschaftlicher Wahrheit sei, noch findet sich ein Hinweis auf die Methode der Induktion in Phys. 1.1, wie Gershenson/Greenberg behaupten. Dort ist vielmehr von der Methode einer Diairesis (vgl. 1.1, 184a23) die Rede.25 (3) Betrachtet man die der 'Grundannahme' nachfolgende Auseinandersetzung mit den Eleaten, so wird deutlich, daß Aristoteles dort zunächst nicht von seiner 'Grundannahme' her, sondern vielmehr für die Bestätigung derselben argumentiert. Im folgenden werde ich die Gründe dafür darlegen, warum die 'Grundannahme' nicht als ein axiomatisches Prinzip, sondern als ein empirischer Ausgangspunkt der Physik im Sinne eines undifferenzierten Ganzen (καθόλου) zu verstehen ist. Hierbei ist jedoch hervorzuheben, daß es nicht um die Frage geht, ob die 'Grundannahme' eine αρχή ist. Es geht vielmehr um die Frage, in welchem Sinne sie als eine άρχή zu verstehen ist: ob als ein axiomatisches Prinzip oder als ein empirischer Ausgangspunkt.26 (1) Insofern Aristoteles zunächst die eleatische These von der absoluten Einheit und Unbewegtheit des Seienden erwähnt (184b25-26) und dann als Beispiel für einen 'λόγος um des Gesagten willen' die heraklitische These anführt (185 a7), wobei hier unter anderem an dessen „πάντα ρεΐ" zu denken ist, stellt er beide Ansichten als einander konträre Thesen gegenüber. Die Leugnung der eleatischen These, der zufolge es keine Bewegung gibt, beinhaltet zugleich die Gefahr, in das konträre Gegenteil, nämlich zur heraklitischen These, daß alles bewegt sei, zu fallen. Dieser Gefahr soll durch den den Allquantor „alle" (πάντα) einschränkenden Ausdruck „oder einige" (ή ενια: al3) begegnet werden. Würde Aristoteles in der 'Grundannahme' ein für alle Naturdinge gültiges axiomatisches Prinzip formulieren, so wäre die Frage zu stellen, ob er bei der Formulierung desselben nicht vielmehr „alle" statt „alle oder einige" hätte sagen müssen, da das Wort „einige" doch eine Einschränkung des zuvor eingeführten Allquantors auf einen Existenzquantor bedeutet.27 Bereits Philoponus und Simplicius haben dieses Problem gesehen. Sie versuchten es dadurch zu lösen, daß sie das „ενια" als Hinweis auf das Vorhandensein möglicher Ausnahmen deuteten: Während Philoponus der Ansicht ist, daß Aristoteles mit dem Ausdruck „ενια" dem Umstand Rechnung trägt, daß gewisse Vermögen in der Seele (αί δυνάμεις αί έν ύποκειμένφ και αί άλογοι ψυχαί) keine Bewegung erleiden, obgleich sie natürlich sind, schlägt Simplicius vor, daß mit dem Ausdruck „ενια"
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Dieses „Hineinlesen" der Methode der Induktion in Phys. 1.1 findet sich auch bei Bolton (1991: 15), der auf diese Weise den Widerspruch zwischen den Analytica posteriora und der Physik zu lösen versucht. Selbst Bolton, der sich doch gerade ftlr den empirischen Charakter von Physik I ausspricht, versteht die Grundannahme als ein „indemonstrable first principle" (S. 15). Vgl. dazu meine Ausführungen über die Mehrdeutigkeit des Wortes „άρχή" auf S. 23 ff. Dieser Schwierigkeit versuchen Gershenson und Greenberg (1962: 138) dadurch aus dem Wege zu gehen, daß sie das Wort ,,ένια" in ihrer sehr freien Übertragung nicht übersetzen.
Der Status der 'Grundannahme'
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die Ausnahmen der Pole, des Zentrums und der Achse des Universums gemeint seien.28 Es scheint mir jedoch unwahrscheinlich zu sein, daß Aristoteles bereits am Anfang der Physik die Ausnahmen im Blick hat, geht es ihm dort doch gerade um das Typische und Allgemeine. Zudem: Wird der Ausdruck ,,ένια" als Hinweis auf die Ausnahmen gedeutet, und wird die 'Grundannahme' weiterhin als ein axiomatisches Prinzip gelesen, so lautet dieses Prinzip nun wie folgt: „In der Natur sind, abgesehen von wenigen Ausnahmen, alle Dinge bewegt." Da hier aber das Bewegtsein, und nicht das Bewegbarsein von allen Naturdingen behauptet wird, würde Aristoteles auf diese Weise letztlich doch in die Nähe eines heraklitischen Standpunktes rücken. Der Ausdruck ,,ένια" ist somit nicht als für die Ausnahmen stehend zu deuten, sondern seine Funktion besteht vielmehr darin, daß in ihm einerseits die Abgrenzung zur heraklitischen These und andererseits der empirische Charakter der 'Grundannahme' zum Ausdruck kommen soll, der in einem ohne Einschränkung formulierten Allsatz nicht mehr offenkundig wäre.29 (2) Wenn Aristoteles mit der 'Grundannahme' ein axiomatisches Prinzip der Physik zum Ausdruck hätte bringen wollen, hätte er dann nicht seine 'Grundannahme' eher mit Hilfe eines Dispositionsbegriffes - analog zu Met. VI.l, 1025b26-27: „die Physik untersucht ein solches Seiendes, das bewegt werden kann [ö έστι δυνατόν κινεΐσθαι]" - formuliert, so daß hier eher davon die Rede wäre, daß „alle Naturdinge bewegbar sind", als davon, daß „die Naturdinge entweder alle oder einige bewegt sind (κινούμενα είναι)"? 30 (3) Die methodologische Vorbemerkung in Phys. 1.1, der zufolge der Weg von der Wahrnehmung der φύσει δντα zur Erkenntnis der άρχαί führen soll, spricht dafür, daß die 'Grundannahme' eher im Sinne eines Beobachtungssatzes als im Sinne eines Vgl. Ross (1936: 463), der beide Vorschläge als unbefriedigend betrachtet, auch wenn er den Vorschlag von Simplicius gegenüber dem von Philoponus ftlr wahrscheinlicher hält. Nach Ansicht von Ross wollte Aristoteles an dieser Stelle nur vorsichtig formulieren. Nach Ansicht von Weiss (1942: 19, Fn.4) bezieht sich Aristoteles mit dem Ausdruck ,,ένια" auf den unbewegten Beweger: „Dieses ή ενια nimmt Bezug auf das πρώτον κινοΰν άκίνητον. Es wird vorläufig davon abgesehen." Dies scheint mir aus dem Grunde unwahrscheinlich zu sein, da Aristoteles dann vermutlich gesagt hätte, daß alle mit Ausnahme von einem, und nicht daß alle oder einige bewegt sind. Daß auch die Deutung des Ausdrucks ,,ένια" gemäß der Regel des 'ώς έπί τό πολύ' als Hinweis auf die Ausnahmen, die von der generellen Regel abweichen, hier nicht zutrifft, zeigt sich aus folgender Überlegung: Würden wir nämlich das ,,ένια" als Hinweis auf die Ausnahmen von derjenigen Regel verstehen, daß normalerweise alle Naturdinge bewegt sind, bzw. daß sie typischerweise bewegt sind, wenn sie nichts hindert, so wäre demzufolge die Ruhe und NichtBewegung für ein Naturding untypisch. Dies aber widerspricht der Definition von „φύσις" in Phys. II. 1, 192bl3-15 und 192b20-23 als άρχή der Bewegung (κίνησις) u n d der Ruhe (στάσις). Ebenso wie es widernatürliche Bewegungen gibt, gibt es für Aristoteles auch widernatürliche Ruhezustände (z.B. ein Stein, der sich oben befindet). Folglich gibt es sowohl natürliche Bewegungen als auch natürliche Ruhezustände, und die Bewegung kann im Gegensatz zur Ruhe dem Naturding nicht generell als natürlich zugeschrieben werden. Zwar spricht Aristoteles in Phys. VIII.3, 253b6-9 davon, daß die Bewegung im Gegensatz zur Ruhe das Natürliche ist, doch meint Aristoteles dort, daß auf das Ganze der φύσις hin gesehen Heraklit mit seiner These „alles ist in Bewegung" mehr recht hat als die Eleaten mit ihrer These „alles ruht", und daß Bewegung insofern das Natürliche ist, als die g e s a m t e Natur eher in Bewegung als in völliger Ruhe ist. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das e i n z e l n e Naturding immer in Bewegung sein muß, sofem es sich naturgemäß verhalten soll. Das „κινούμενα είναι" läßt im übrigen offen, ob hier an ein Sich-Bewegen oder an ein Bewegt· Werden zu denken ist.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
axiomatischen Prinzips zu verstehen ist. Die 'Grundannahme' ist als ein empirischer Ausgangspunkt im Sinne eines undifferenzierten Ganzen (καθόλου) auf die Wahrnehmung bezogen. Sie ist nicht der Endpunkt der Untersuchung im Sinne eines gewonnenen Prinzips.31 Die empirischen Ausgangspunkte der Untersuchung, die als Anfänge ebenfalls άρχαί sind, dürfen nicht mit denjenigen άρχαί verwechselt werden, die am Ende der Untersuchung stehen und zu denen der Weg führen soll. Aristoteles will sich doch gerade aufgrund seiner Methodologie - und nicht nur aufgrund einer von den Eleaten verschiedenen Theorie über die Naturdinge - von den Eleaten abgrenzen, denn verschiedene Theorien gab es bereits bei den Vorgängern viele. Gehen die Eleaten Aristoteles zufolge von einem theoretischen Satz („alles ist eines und unbewegt") als Prinzip aus, um von dort aus auf die wahrnehmbare Welt zu schließen,32 so will Aristoteles umgekehrt von der wahrnehmbaren Welt ausgehend zu diesen theoretischen Sätzen als Prinzipien erst gelangen. Versteht man also die 'Grundannahme' im selben Sinne als ein axiomatisches Prinzip wie den Ausgangssatz der Eleaten, so würde sich Aristoteles nur in der Wahl des Prinzips, nicht aber in der Wahl der Methode von diesen unterscheiden. In diesem Zusammenhang wollen wir auch einen Blick auf Phys. VIII.3, 253a22-254b5 werfen, wo Aristoteles die Möglichkeiten der Bewegung wie folgt darstellt: Abb. 2.2: Die Möglichkeiten der Bewegung Bewegung 1) alles ist immer in Ruhe (πάντα ήρεμεΐν άεί) [Parmenides]
3) einiges bewegt 2) alles ist immer in Bewegung sich - einiges ruht (πάντα άεί κινεΐσθαι) (τά μέν κινεΐσθαι τά δήρεμεΐν) [Heraklit]
3 a) das Bewegte bewegt 3c) einiges ist immer unbewegt, 3b) alles bewegt sich sowohl einsich immer, das Ruhenanderes immer bewegt; wieder mal und ruht auch einmal de ruht immer anderes hat an beidem Teil naturgemäß (τά μέν κινούμενα κινεΐσ(τά μέν άεί των όντων ακίνη(πάντα πεφυκέναι θαι άεϊ τά δ' ήρεμοΰντα τα είναι, τάδ' άεϊ κινούμενα, τά ομοίως κινεΐσθαι ήρεμεΐν) δ' αμφοτέρων μεταλαμβάνειν) και ήρεμεΐν) [Piaton] [Aristoteles] [Empedokles, Anaxagoras]
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Vgl. Wieland (1960/61: 214): „Die Prinzipien stehen am Ende, nicht am Anfang der Untersuchung." Vgl. dazu vor allem die Fragmente 1-8 von Melissos, wo ausgehend von dem Gedanken, daß das Eine immer war und ungeworden ist, alles folgende bis hin zur Konsequenz der Falschheit unseres Wahmehmungswissens deduktiv hergeleitet wird. In diesem Sinne widerspricht das Vorgehen der Eleaten gerade der Natur des menschlichen Erkenntnisweges, wie Aristoteles ihn in 1.1, 184a 16-18 beschrieben hat.
Der Status der 'Grundannahme'
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Aristoteles' erstes und wichtigstes Argument gegen die eleatische These wie auch gegen andere Positionen ist in Phys. VIII.3 ebenfalls unsere empirische Wahrnehmung:" Ebenso unmöglich ist aber auch »alles ist in Bewegung« oder »einiges ist immer in Bewegung, einiges immer in Ruhe«. Denn gegen alles dies reicht eine einzige Beglaubigung [πίστις] aus: Wir sehen nämlich [όρωμεν γαρ], daß einiges mal bewegt ist und ein andermal ruht. So daß offensichtlich ist, daß auf gleiche Weise unmöglich ist: »alles ruht«, »alles bewegt sich«, »einiges ist immer in Bewegung, einiges ruht immer«. (VIII.3, 254a33-254b4)
Stellt man nun aber die Frage, wieso die 'Grundannahme' in 1.2, 185al2-14 überhaupt als ein axiomatisches Prinzip verstanden werden konnte, so ist ein Grund vermutlich in der Argumentation von 184b25-185a5 zu sehen, der zufolge die Ansicht vertreten wurde, Aristoteles sage dort, daß die eleatische These nicht nur die Existenz von Prinzipien überhaupt, sondern auch das der Physik eigentümliche Prinzip der Existenz von Bewegung leugnet, welches man folglich in der 'Grundannahme' als explizit ausformuliert zu sehen glaubte.34 Ein weiterer Grund mag aber auch darin liegen, daß, wenn die 'Grundannahme' als Gegenthese zur eleatischen These zu verstehen ist, es zunächst als sinnlos erscheint, daß Aristoteles im festen Wissen, daß die Eleaten die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung konsequent in Frage stellen, der eleatischen These einen Satz der Wahrnehmung gegenüberstellt. Denn die Eleaten würden ja gar nicht bezweifeln, daß es für die Wahrnehmung so scheinen mag, als gäbe es Bewegung, jedoch würden sie die Wahrnehmung selbst in Zweifel ziehen (vgl. Parmenides, Frg. DK 28B8; Melissos, Frg. DK 30B). Daß dies jedoch alles andere als sinnlos ist, wird daraus deutlich, daß Aristoteles keinen Theorienstreit in der Gestalt herausfordern will, wie er ihn bei seinen Vorgängern vorfindet, wo eine Theorie einer anderen gegenübergestellt wird. Ihm geht es vielmehr darum, daß seine Theorie, wenn er sie der eleatischen Theorie gegenüberstellt, methodisch besser abgesichert ist als die Theorie der Eleaten. Gingen diese von einem theoretischen Satz aus, um von dort aus auf die Wahrnehmung zu schließen, so geht Aristoteles den umgekehrten Weg von der Wahrnehmung zur Theorie. Indem Aristoteles der eleatischen These einen Wahrnehmungssatz gegenüberstellt, setzt er diesen bewußt einer möglichen Kritik aus. Kann Aristoteles zeigen, daß er dieser Kritik standhält, indem er - wie dies im weiteren Verlauf von Kapitel 1.2 und 1.3 geschehen wird - nachweist, daß die eleatische Theorie, aus der sich die Kritik an der Bewegung und Vielheit der φύσει δντα herleitet, selbst auf falschen Annahmen basiert, so gibt es keine weiteren Einwände mehr gegen die
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Vgl. auch Evans (1964: 94): „Since the empirical element in Aristotle's philosophy has often been ignored, it may be well here to note briefly the status which Aristotle, in general, accords to experience. Thus in several instances, he testifies to the certainty of sense experience. He holds, for instance, that motion is simply a fact of perception, and on this ground alone he rejects categorically all theories that would deny motion." Leszl (1975: 506) betont in diesem Kontext zu Recht, daß in I85al2-14 kein Bezug auf die Natur als ein Prinzip der Bewegung, wie wir es erst in Phys. II. 1 vorfinden, vorliegt.
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Physik
I. 2: ' D i e Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
'Grundannahme', die dann als gesicherter und empirischer Ausgangspunkt der Physik fungieren kann.35 Aristoteles begründet seine 'Grundannahme' mit dem Hinweis darauf, daß diese aus der ,,έπαγωγή" klar sei (185al3-14). Ohne hier näher auf die in der Sekundärliteratur ausführlich geführte Diskussion bezüglich des mehrdeutigen Begriffs der ,,έπαγωγή" bei Aristoteles eingehen zu wollen, soll doch zumindest die έπαγωγή in 185a 14 thematisiert werden, da sich aus dem Verständnis der Begründung ein fundierteres Verständnis der 'Grundannahme' hinsichtlich ihres Status ergibt. Die έπαγωγή hat in den Analytica posteriora eine zentrale Bedeutung, da wir allein durch sie zu den einer jeden Wissenschaft eigentümlichen άρχαί gelangen können (vgl. 11.19, 100b3-6). Dieser Hinweis deutet zunächst zwar darauf hin, daß die 'Grundannahme' in Phys. 1.2 als ein erstes (axiomatisches) Prinzip zu verstehen ist, da sie ihre Begründung in einer έπαγωγή findet, doch ist hier insofern Vorsicht geboten, als der Terminus ,,έπαγωγή" innerhalb der aristotelischen Schriften eine Vielzahl von Bedeutungen hat.36 Selbst innerhalb der Analytica posteriora wird der Terminus ,,έπαγωγή" keineswegs in einer einheitlichen Bedeutung verwendet (vgl. dazu Höffe in seiner Einleitung zu den An. post. 1990 (= Aristoteles: Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik (Organon IV): XXXI-XXXIII). Der Ansicht von Kapp (1965: 92 ff.) folgend stellt Höffe (1990: XXXIII) heraus, daß im Hinblick auf den Erkenntnisprozeß, der vom Einzelnen zum Allgemeinen führt, zwei verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden sind: [ . . . ] : die V e r a l l g e m e i n e r u n g von Einzelfällen z u e i n e m allgemeinen Tatbestand und den E r k e n n t n i s w e g zu den Prinzipien, w o b e i nur die erste B e d e u t u n g e i n e Entsprec h u n g z u m m o d e r n e n Induktionsbegriff hat, bei der Prinzipienerkenntnis aber allein die z w e i t e B e d e u t u n g relevant ist.
Nun ist aus dem bisher Dargelegten jedoch deutlich geworden, daß wir es in bezug auf die 'Grundannahme' in 185al2-14 aufgrund des Wortes ,,ενια" nicht mit einem allgemeinen Prinzip, sondern eher mit einem allgemeinen Tatbestand zu tun haben, der durch eine generalisierende Induktion gewonnen wurde. Ein allIn diesem ist auch der Grund ftlr die im nachfolgenden sehr ausführlich geführte Auseinandersetzung mit den Eleaten zu sehen. Diese Ausführlichkeit überrascht doch angesichts der Tatsache, daiS Aristoteles zuvor von der Untersuchung der eleatischen Lehre gesagt hat, daß sie in einer Physik eigentlich nichts zu suchen hat. Gadamer (1996: 103 f.) hat die Frage, warum sich Aristoteles im ersten Buch der Physik derart eingehend mit der Lehre der Eleaten auseinandersetzt, obgleich für diese in der Physik als Wissenschaft von den bewegten Dingen kein Platz sei, damit beantwortet, daß die Kritik an den Eleaten eigentlich eine Kritik an Piaton sei: „In der Physik - also in einem Buch, das sich mit der Natur beschäftigt - geht Aristoteles nur auf den ersten Teil des Parmenideischen Gedichts ein, der sich nicht mit der Natur auseinandersetzt. Im Grunde hatte er also die Absicht, sich gegen Piaton abzugrenzen, mit dessen Anschauungen er den ersten Teil des Gedichts einfach identifizierte." (S. 104). Auch wenn Aristoteles seinen eigenen naturphilosophischen Ansatz im Buch Α der Physik gewiß gegenüber dem Ansatz von Piaton abgrenzen will, denke ich nicht, daß die Eleaten nur als „Stellvertreter" Piatons eingeführt werden. Vielmehr sind gerade die Eleaten diejenigen Vorgänger, die die Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft in radikalster Form in Frage gestellt haben. Vgl. auch Heß (1970: 48): „Es ist längst gesehen, daß Aristoteles verschiedene Formen der Epagoge kennt, deren gemeinsames es ist, Hinführung zu einem Allgemeinen vom Einzelnen aus zu sein."
Das Beispiel vom Geometer
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gemeines Prinzip kann Aristoteles zufolge nicht durch eine generalisierende Induktion gewonnen werden, da die Generalisierungen aus den Beobachtungen (möglichst) aller Einzelfälle - wie wir sie z.B. in Top. 1.8, 103b 1-6; Soph. El. 4, 165b27-30 und An. pr. 11.23, 68bl5 fF. vorfinden - nicht zu der einem Prinzip wesentlichen „strikten Allgemeinheit" führen (Höffe, 1990: XXXIII f.). Innerhalb der Sekundärliteratur finden sich aufgrund dieser Mehrdeutigkeit des Wortes ,,έπαγωγή" erwartungsgemäß zwei verschiedene Interpretationen unserer Textstelle in 185a 14: Gehen die einen davon aus, daß wir es mit einer 'Induktion' zu tun haben, die von einzelnen Daten der Sinneswahrnehmung ausgeht, um durch sie mittels einer Abstraktion zu allgemeinen Gesetzen und Prinzipien zu gelangen,37 so gehen die anderen davon aus, daß die έπαγωγή in 185al4 eher im einfachen empirischen Sinne als „Heranführung an die Phänomene" und „unmittelbarer Augenschein" zu verstehen ist.38 Diesem Verständnis der ,,έπαγωγή" (185a 14) als Hinweis darauf, daß die in der „Grundannahme" ausgedrückte Behauptung als eine empirische Erfahrungstatsache zu verstehen ist, schließe ich mich an. Hierbei ist allerdings darauf hinzuweisen, daß die Grundannahme einen weitaus größeren Abstraktionsgrad besitzt als ein singulärer Wahrnehmungssatz, so daß die έπαγωγή in diesem Sinne zwar bereits das Resultat einer Wahrnehmung von vielen Einzelfällen meint, nicht aber als Begründung eines axiomatischen Prinzips anzusehen ist, aus dem alles andere nachfolgend hergeleitet werden kann.
2.5 Das Beispiel vom Geometer
(185al4-20)
Zugleich aber ist es nicht sinnvoll, alles aufklären zu wollen, sondern nur dort, wo einer von Prinzipien her [έκ των άρχων] auf fehlerhafte Weise beweist; wo das nicht so ist, dort ist es nicht sinnvoll; wie z.B. die Kreisquadratur mittels der Schnitte - dies aufzulösen ist Aufgabe eines Geometers. Es ist jedoch nicht Aufgabe eines Geometers, die [Lösung] des Antiphon aufzuklären. (1.2, 185al4-17)
Der Hinweis auf das Beispiel der „Quadratur des Kreises mittels der Schnitte" und der „Lösung von Antiphon" ist ohne ein Wissen dessen, worauf Aristoteles hier anspielt, nicht zu verstehen.39 Mit dem Problem der „Kreisquadratur" ist die Frage gemeint, wie man allein mit Hilfe von Linealen und Zirkeln eine rektilineare Figur konstruieren kann, deren Flächeninhalt mit dem eines vorgegebenen Kreises identisch ist. In der Antike gab es hierzu verschiedenartige Lösungsan37
Vgl. u.a. Gershenson/Greenberg (1962: 138 f.), Bolton (1991: 15 f.), Hardie/Gaye (1930) und Charlton (1970: 2 und 54). Vgl. Fritz (1971: 641): „Man wird einfach zu dem in Frage stehenden Phänomen 'hingeführt': da, sieh es dir an! Da kannst du es ja nicht bezweifeln." Wieland (1962: 100) weist daraufhin, daß mit Ausnahme von An. pr. 23 Aristoteles keine Theorie der Induktion entwickelt hat, und daß έπαγωγή bei ihm niemals in dem Sinne wie etwa συλλογισμός ein fester philosophischer Terminus geworden ist. Düring (1966: 227) versteht die Begründung der 'Grundannahme' durch den Satz „das ist klar aus der έπαγωγή" als Hinweis darauf, daß dies eine „Erfahrungstatsache" ist. Vgl. zu diesem Beispiel vor allem die detaillierten Ausführungen bei Ross (1936: 463-7).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
sätze, von denen einer von Antiphon stammte, der Simplicius zufolge vorschlug, daß man ein Quadrat in den Kreis einzeichnet und daraus ein Oktagon bildet, indem man von den Eckpunkten des Quadrates ausgehend Linien zu den Mittelpunkten auf der Kreislinie über den Quadratseiten zieht. Diesen Prozeß setzt man solange fort, bis man ein Polygon erhält, dessen Fläche mit der des Kreises deckungsgleich ist. Da diese Lösung jedoch voraussetzt, daß der Umfang (die Kreislinie) eines Kreises bereits aus winzigen geraden Linien gebildet ist, und da diese Voraussetzung den Axiomen und Prinzipien der Geometrie widerspricht, bemerkt Aristoteles hierzu, daß ein Geometer zu dieser Lösung als Geometer nichts zu sagen hat, da sich der Geometer nur mit denjenigen Lösungen zu beschäftigen braucht, die die Prinzipien der Geometrie voraussetzen.40 Aus diesem Beispiel läßt sich nun folgende Parallele zwischen einem Geometer und einem Physiker herauslesen: So wie es zwar Aufgabe des Geometers ist, sich mit dem Problem der Kreisquadratur zu beschäftigen, nicht aber mit der von Antiphon angebotenen Lösung, da dieser für seine Lösung von Prinzipien und Axiomen ausgeht, die im Widerspruch zu den Prinzipien und Axiomen der Geometrie stehen, so ist es zwar Aufgabe des Physikers, sich mit dem Problem der Bewegung auseinanderzusetzen, nicht aber mit der von den Eleaten vorgeschlagenen Lösung „es gibt keine Bewegung", da diese Lösung in bezug auf die Physik - ebenso wie die Lösung des Antiphon in bezug auf die Geometrie - Prinzipien und Axiome voraussetzt, die im Widerspruch zur 'Grundannahme' der Physik stehen. Sagt Aristoteles im Anschluß an die Grundannahme, daß es nicht sinnvoll ist, alles aufklären zu wollen, sondern nur dort für Klarheit zu sorgen, wo aus άρχαί herleitend falsch geschlossen wird, so könnte man meinen, daß dies nun doch dafür spricht, daß die 'Grundannahme' als eine άρχή im Sinne eines axiomatischen Prinzips der Physik zu verstehen sei. Hierzu ist jedoch anzumerken, daß jeder Vergleich nur bis zu einem gewissen Grade Gültigkeit beanspruchen kann. Und in diesem Falle würde die Parallelisierung, wenn man sie soweit führt, daß sie eine Begründung dafür liefert, daß wir es bei der 'Grundannahme' mit einem axiomatischen Prinzip der Physik zu tun hätten, bedeuten, daß man die Prinzipien und Axiome einer mathematischen Wissenschaft (Geometrie) von ihrem Status her mit den Prinzipien einer eher untersuchenden Wissenschaft (Physik) gleichsetzt.41 Der Vergleich mit den Prinzipien eines Geometers trifft zudem immer noch zu, wenn man in bezug auf die 'Grundannahme' zwar von einer άρχή der Physik spricht, nicht aber in dem Sinne von einer άρχή, wie wir es bei den Axiomen und Prinzipien der Geometrie tun, sondern vielmehr in dem bereits aufgezeigten Sinne von „άρχή" als „empirischer Ausgangspunkt". Darüber hinaus scheint im Gegensatz zur Geometrie, wo die Prinzipien und Axiome als derart sicher gelten, daß eine Lösung wie die des Antiphon, die im Widerspruch zu 40 41
Vgl. dazu auch Wicksteed/Cornford (1980: 18 f. und 98). Vgl. hierzu auch Met. II.3, 995al5: „Die genaue Schärfe der Mathematik aber darf man nicht filr alle Gegenstände fordern, sondern nur für die stofflosen. Darum paßt diese Weise nicht für die Wissenschaft der Natur, denn alle Natur ist wohl mit Stoff behaftet."
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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diesen Prinzipien steht, von Seiten des Geometers eigentlich keiner weiteren Diskussion mehr bedarf, die Sachlage bei der Physik anders zu sein. Zwar geht auch der Physiker von sicheren Prämissen aus, wie z.B. von der 'Grundannahme', die ein empirisch sicheres Wissen repräsentiert, gleichwohl aber ist diese Sicherheit - anders als bei der Geometrie - durch die Wahrnehmung begründet. Folglich lassen sich gegen die 'Grundannahme' zwar keine empirischen, gleichwohl aber philosophische Einwände erheben, die die Zuverlässigkeit unseres auf Wahrnehmung basierenden Wissens in Frage stellen. Erst wenn auch diese philosophischen Einwände gegen die Zuverlässigkeit unseres auf Wahrnehmung basierenden Wissens beseitigt sind - und dies kann nur dadurch geschehen, daß man von den eleatischen Prämissen ausgehend deren Falschheit nachweist, und nicht indem man von der eigenen 'Grundannahme' ausgehend gegen die Eleaten argumentiert, die ja diese 'Grundannahme' gerade in Zweifel ziehen -, kann die 'Grundannahme' als gesichert betrachtet werden. Gleichwohl, da sie zwar nicht über Natur handeln [περί φύσεως μέν οΰ], es ihnen aber doch geschieht, die Natur betreffende Schwierigkeiten [φυσικάς δέ άπορίας] auszusprechen, mag es vielleicht gut sein, sich kurz in eine Auseinandersetzung über sie einzulassen. Denn diese Untersuchung hat es mit Philosophie zu tun [έχει γάρ φιλοσοφίαν ή σκέψις], (1.2, 185al7-20)
Obgleich die Eleaten nicht über φύσις handeln, da es ihrer Theorie zufolge einerseits überhaupt keine άρχαί geben kann und Aristoteles in Kapitel 1.1 darauf hingewiesen hat, daß auch die έπιστήμη περί φύσεως das Einzelne nur aus seinen άρχαί erkennt, und da andererseits ihre These von der absoluten Einheit und Unbewegtheit des Seienden der Grundannahme einer Physik widerspricht, sprechen die Eleaten doch die Natur betreffende Aporien aus, wie später in 186al 116 anhand der These des Melissos, daß das Nichtgewordene keinen Anfang hat, deutlich wird. Gerade die philosophischen Einwände der Eleaten gegen die 'Grundannahme' und ihre Kritik an der Zuverlässigkeit des auf Wahrnehmung basierenden Wissens bedürfen jedoch eher einer philosophischen als einer empirischen Prüfung, so daß es nicht verwundert, daß die nachfolgende Auseinandersetzung mit den Eleaten einen eher dialektisch-philosophischen als einen empirischen Untersuchungscharakter trägt. Sagt Aristoteles vor diesem Hintergrund, daß seine Untersuchung es mit Philosophie zu tun habe (έχει γάρ φιλοσοφίαν ή σκέψις), so ist daran zu erinnern, daß Aristoteles die Ausdrücke „Philosophie" (φιλοσοφία) und „Wissenschaft" (έπιστήμη) als Synonyme verwendet.
2.6 Die Atiseinandersetzung mit den Eleaten Gershenson und Greenberg (1962) gliedern die in den Kapiteln 1.2 und 1.3 vorgelegte Auseinandersetzung mit den Eleaten in zwei getrennte Argumentationen: Ihrer Ansicht zufolge wird die Argumentation im ersten Teil (184b25186a32), wo Aristoteles seine eigene Terminologie verwendet und verschiedene
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Lehren aus anderen Schriften voraussetzt, von einem aristotelischen Standpunkt aus geführt, während Aristoteles im zweiten Teil (186a32-187al 1), wo er vorwiegend die eleatische Terminologie verwendet, darum bemüht ist, die Eleaten von ihren eigenen Prämissen ausgehend zu widerlegen. 42 Abb. 2.3: Die Einteilung von Gershenson und Greenberg Gegen eleatischen Monismus
Aristotelischer Standpunkt (184b25-186 a32)
Eleatischer Standpunkt (186a32-187al1)
Charlton (1970: 53) stimmt dem Ansatz von Gershenson und Greenberg zwar im wesentlichen zu, doch schlägt er eine andere Einteilung vor. 43 Da die Kritik an Parmenides in 186a22-32 nicht von der nachfolgenden Argumentation zu trennen ist, verläuft das erste Argument seiner Ansicht nach von 184b25 bis 186a3, während das zweite Argument das gesamte Kapitel I. 3 umfaßt. Er begründet seine Einteilung damit, daß die „historische Anmerkung" in 185b25-186a3 sehr gut als Ende des ersten Arguments fungiert. Zudem unterstütze die auffallendste der Doubletten (185a9-12 und 186a7-10) diese Einteilung. Mit dieser von Charlton vorgeschlagenen Revision der Einteilung von Gershenson und Greenberg ist allerdings folgendes Problem verbunden: Besteht das Einteilungskriterium dafür, daß wir es in bezug auf die Auseinandersetzung mit den Eleaten mit zwei verschiedenen Argumentationen zu tun haben, bei Gershenson und Greenberg in der Frage, von welchem Standpunkt der Betrachtung aus die Kritik jeweils durchgeführt wird, so fällt in bezug auf die von Charlton vorgeschlagene Revision dieser Einteilung auf, daß das von Gershenson und Greenberg angegebene Einteilungskriterium nun nicht mehr zutreffen kann. Denn der Abschnitt 186a3-32, den Charlton zum zweiten Argument zählt, widerspricht diesem Einteilungskriterium insofern, als Aristoteles hier aus Sicht der von Greenberg und Gershenson genannten Kriterien offenkundig von seinem eigenen Standpunkt aus gegen die Eleaten argumentiert. Gleichwohl scheint Charlton diesem von Greenberg und Gershenson zugrunde gelegten Kriterium zuzustimmen, da er zwar eine andere Einteilung, nicht aber ein anderes Kriterium der Einteilung vorschlägt. Aufgrund dieser Schwierigkeiten schlage ich folgende Gliederung der Auseinandersetzung mit den Eleaten vor:
Gershenson und Greenberg stützen ihre Interpretation auf stilistische Differenzen und Parallelen zwischen beiden Argumentationen, wie sie vor allem in folgenden - parallel zu betrachtenden - Textpassagen deutlich werden: (i) 185b9-l 1 und 186bl2-14; (ii) 185bl9-25 und 186b412; (iii) 185bl6-19 und 186bl4-35. Dieser von Charlton vorgeschlagenen Revision der Einteilung von Gershenson und Greenberg folgt auch Spangler (1979: 95).
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Abb. 2.4: Eine differenziertere Gliederung der Auseinandersetzung mit den Eleaten Gegen eleatischen Monismus Inhaltlicher Standpunkt (185a20-187al1)
Wissenschaftstheoretischer Standpunkt (184b25-185a20)
Falsche Annahmen (185a20-186a3) Die Bedeutung des ..ov" (185a20-185b5)
Fehlerhafte Schlüsse (186a4-187al1)
Die Bedeutung Melissos des ..εν" (186a4-22) (185b5-186a3)
Parmenides (186a22-187al 1)
Zwar verwende ich im Unterschied zu der von Gershenson und Greenberg vorgeschlagenen Einteilung andere Einteilungskriterien, doch läßt sich das von ihnen angeführte Kriterium „aristotelischer Standpunkt - eleatischer Standpunkt" insofern auch in meiner Gliederung wiederfinden, als die Kritik vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt, zu der ich die Kritik am eleatischen Wissenschaftsbegriff zähle, als eine Kritik von einem aristotelischen Standpunkt anzusehen ist, während die Kritik von einem inhaltlichen Standpunkt eher als eine Kritik von einem eleatischen Standpunkt zu betrachten ist.44 Auch wenn Aristoteles bei der Kritik vom inhaltlichen Standpunkt von eleatischen Prämissen ausgeht, um diese auf dem Wege einer Reductio ad absurdum zu widerlegen, so darf dabei doch nicht übersehen werden, daß er dennoch seine eigene Theorie zur Widerlegung derselben mitunter voraussetzt (vgl. vor allem 185a20-186a3). Wenn ich die Kritik vom inhaltlichen Standpunkt mit einer Kritik vom eleatischen Standpunkt gleichsetze, so ist damit folgendes gemeint: Während in der Kritik vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt in 184b25-185a20 das aristotelische Wissenschaftsverständnis, wie es in Kapitel 1.1 dargelegt wurde, den Ausgangspunkt der Kritik darstellt, stellt dann in 185a20 ff. die eleatische These vom „είναι εν τά πάντα" den Ausgangspunkt der Kritik dar. Als weiteres Einteilungskriterium auf Seiten dieser vom „είναι εν τά πάντα" ausgehenden Untersuchung betrachte ich die von Aristoteles in 185a9-10 angeführte Unterscheidung zwischen den „falschen Annahmen" und den „fehlerhaften Schlüssen". Hierbei gliedert sich die Argumentation auf Seiten der „falschen Annahmen" - wozu eben die These vom είναι εν τά πάντα zu zählen ist - weiter in eine Argumentation bezüglich der Bedeutung des „ov" (185a20b5) und in eine Argumentation bezüglich der Bedeutung des „εν" (185b5-25). Auf Seiten der „fehlerhaften Schlüsse" differenziert Aristoteles weiter zwischen den fehlerhaften Schlüssen des Melissos (186a4-22) und denen des Parmenides (186a22-187al 1). Zugleich ist mit der Unterscheidung von „falschen AnnahDieser Differenzierung zwischen einem wissenschaftstheoretischen und einem inhaltlichen Standpunkt werden wir auch in Kapitel 1.4 begegnen, wo Aristoteles zunächst ein wissenschaftstheoretisches Argument gegen die Theorie des Anaxagoras anführt (vgl. 187b7-13), um dann ausführlicher auf inhaltliche Gesichtspunkte und Schwierigkeiten seiner Theorie einzugehen (vgl. 187bl3-188al8).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
men" und „fehlerhaften Schlüssen" auch die Unterscheidung der Aspekte der absoluten Einheit des Seienden einerseits (im Sinne einer falschen Annahme) und der Unbewegtheit des Seienden andererseits (im Sinne eines fehlerhaften Schlusses aus der Annahme der absoluten Einheit des Seienden) verbunden, wie wir sehen werden. Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, warum Gershenson und Greenberg den Eindruck gewinnen, daß Aristoteles seiner Untersuchung das Kriterium „aristotelischer Standpunkt - eleatischer Standpunkt" zugrunde zu legen scheint. Denn im Unterschied zur Untersuchung der falschen Annahmen, die der Einteilung von Gershenson und Greenberg zufolge zu einer Kritik vom aristotelischen Standpunkt zu zählen ist, setzt die Untersuchung der fehlerhaften Schlüsse voraus, daß Aristoteles hier von den eleatischen Prämissen ausgeht, da die fehlerhaften Schlüsse von den Eleaten ja gerade aus ihren falschen Annahmen gezogen wurden.
2.6.1 Die Bedeutung des „öv" in der These „είναι έν τά πάντα" (185a20-b5) Aristoteles beginnt seine Widerlegung der eleatischen These „είναι έν τά πάντα" (185a22) mit der Bemerkung, daß das Seiende (τό δν) auf mehrfache Weise gesagt wird.45 Da das Seiende [τό öv] auf mehrfache Weise gesagt wird [ π ο λ λ α χ ώ ς λ έ γ ε τ α ι ] , 4 6 besteht der geeignetste Ausgangspunkt von allem [ ά ρ χ ή δέ ο ί κ ε ι ο τ ά τ η π α σ ώ ν ] 4 7 wohl darin, zu fragen, in welchem Sinne es diejenigen verwenden, die sagen, daß alles Eines sei [ ε ί ν α ι ε ν τ ά π ά ν τ α ] : o b alles Ding [ούσίαν] oder Quantitatives [ποσά] oder Qualitatives [ποιά] ist? Und wiederum: O b alles e i n Ding [ ο ύ σ ί α ν μίαν], wie z.B. e i n Mensch oder e i n Pferd oder e i n e Seele, oder aber o b dies e i n Qualitatives ist, wie z.B. ein Weißes oder Warmes oder ein bestimmtes anderes von diesen? (1.2, 185a20-26)
Gershenson und Greenberg (1962: 139) bemerken in bezug auf diese Textstelle folgendes: The body of the argument begins in an ingenious way. The very first sentence is calculated to take the ground out from under the Eleatic position (185A20-22): »The most germane question of all, since the word 'being' is used with more than one meaning, is what meaning of the word did the Eleatics have in mind when they said that all things are one.« Now, everyone knew that the cornerstone of the Eleatic argument was that 'being', and indeed every word, can have one and only one meaning. T h i s premise was at the heart o f their logical system; for, in addition to the standard requirement in any system of logic that each proposition must have a unique meaning (in order to allow the construction of deductive proofs), the Eleatics re-
Zur mehrfachen Bedeutung des „öv" vgl. auch Met. V.7 und VII. 1. Da Aristoteles sowohl von Wörtern wie auch von Dingen sagt, daß sie auf mehrfache Weise gesagt werden (vgl. Leszl, 1970: 105), kann hier sowohl „das Seiende" als Wort wie auch das Seiende als 'Ding' gemeint sein. Man beachte, daß wir hier dem Wort „άρχή" in seiner Bedeutung als „Ausgangspunkt der Untersuchung" begegnen, und nicht in seiner Bedeutung als „axiomatisches Prinzip".
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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quired that each word have a unique meaning in all its occurrences, in all propositions. (Gershenson/Greenberg, 1962: 139)
Die Ansicht, daß Aristoteles den Eleaten mit dem Hinweis auf die mehrfache Bedeutung des „öv" bereits zu Beginn der Untersuchung gleichsam „den Boden unter ihren Füßen wegzieht" und das Herz ihres logischen Systems trifft, da ihrer Ansicht zufolge das öv nur auf einfache Weise gesagt werden kann, bedarf einer genaueren Betrachtung.48 Zweifelsohne ist die Einteilung der δντα in die Gattungen οϋσία, ποιόν und ποσόν als eine aristotelische Differenzierung anzusehen, wie wir sie auch von der Kategorienschrift her kennen. Mit dem Hinweis auf die mehrfache Bedeutung des öv unterstellt Aristoteles den Eleaten an dieser Stelle jedoch noch nicht, daß auch sie dieser mehrfachen Bedeutung des öv zustimmen müssen - sonst wäre die Widerlegung an diesem Punkte ja bereits beendet -, sondern es ist damit zunächst nur gesagt, daß die Eleaten ihr öv zumindest mit einer dieser Bedeutungen identifizieren müssen, sofern die Einteilung der Gattungen als eine vollständige Differenzierung anzusehen ist.49 Sagen die Eleaten nämlich, daß alles Eines ist, so implizieren die Wörtern ,,τά πάντα", „είναι" und „εν", daß dieses Eine zumindest ein Seiendes (öv) ist,S0 so daß es wenigstens unter eine der Gattungen des Seienden fällt, die von Aristoteles in der Kategorienschrift aufgestellt werden.51 Es ist allerdings davon auszugehen, daß die Eleaten dieser Einteilung des Seienden (öv) in seine verschiedenen Gattungen erst gar nicht zugestimmt hätten. Im weiteren Verlauf wird nun die Ansicht der Eleaten, daß alles eines sei bzw. daß das öv auf (absolut) einfache Weise gesagt wird -, in Gestalt einer Reductio ad absurdum widerlegt. Denn egal für welche Bedeutung des öv die Eleaten sich auch immer entscheiden, so gelangen sie doch jeweils in Widersprüche, sofern sie voraussetzen, daß dieses öv eine absolute Einheit darstellt.
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Weiss (1942: 27 f.) spricht hier von einem „Zirkelbeweis": „Man könnte nun aber einwenden, Aristoteles lege in jede Analyse dasjenige als Hypothesis hinein, was es gerade zu beweisen gilt: eben die Mehrdeutigkeit von »Seiend«. Er tut das in der Tat, und in diesem Sinn vollzieht er einen Zirkelbeweis. Ist jedoch deshalb sein Aufweis ein falscher und sein Vorgehen ein unerlaubtes? [...] Aristoteles prüft die These εν τό öv auf ihre mögliche Erfüllbarkeit. Dass er bei jedem Versuch, in ihren Bedeutungsgehalt einzudringen, immer schon vom Boden des πολλαχώς ausgeht, das steht nicht in seiner Wahl. Er muss diesen Ausgang nehmen, sofern wir eben, um mitzuvollziehen, irgendwie Sein verstehen müssen, d.h. unser Seinsverständnis mitbringen müssen, und indem wir das tun, setzen wir schon ein mit der Mehrdeutigkeit des Seins." Vor dem Hintergrund der hier implizit enthaltenen Vollständigkeit der Gattungen des Seienden sollen das ποιόν und das ποσόν vermutlich die in Kat. 4 aufgelisteten anderen Gattungen von πρός τι, πού, ποτέ, κεΐσθαι, έχειν, ποιεϊν und πάσχειν umfassen. Zur Rede von einem „Seienden" bei den Eleaten vgl. Parmenides, Frg. DK 28B2, DK 28B6, DK 28B8 und Melissos, Frg. DK 30B1, DK 30B2. In der von Aristoteles rekonstruierten eleatischen These „είναι εν τά πάντα" ist das „öv" nicht explizit enthalten. Während Wagner (1967: 401) das „öv" im „είναι" enthalten sieht - „Mit ihrem Satz, in dem unweigerlich die Kopula vorkommt, bestimmen die Eleaten das Seinsganze, noch bevor sie es als eines bestimmen, als ein Seiendes" -, ist Ross (1936: 338 und 467) der Ansicht, daß das „öv" im ,,τά πάντα" bzw. „εν" enthalten ist. Wenig später formuliert Aristoteles im Kontext der mehrfachen Bedeutung des ,,έν" die eleatische These wie folgt: „είναι εν τό πάν" (185 b7). Wagner (1967: 7 f.) bringt den Unterschied beider Thesen durch eine unterschiedliche Betonung gut zum Ausdruck: „das Seinsganze s e i eines" (185a22) und „das Seinsganze sei e i n e s " (185b7).
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Abb. 2.5: Die Bedeutungsmöglichkeiten
des „ ε ί ν α ι ε ν τά π ά ν τ α " hinsichtlich
des „ δν"
ρΤνΓ ' Μ ρν rrr 7rr*vTrY" ούσία μία z.B. ein Mensch ein Pferd eine Seele
ποιόν ev ein Weißes ein Warmes
ποσόν ev
Aristoteles stellt in zwei Schritten die Alternativen zur Verfügung, die mit diesem öv gemeint sein können: In einer ersten Reduktion auf die Gattung ist alles (τά πάντα) entweder ουσία (Ding) oder ποσά (Quantitatives) oder πονά (Qualitatives). Die Tatsache, daß die Ausdrücke ,,ποιά" und „ποσά" hier noch im Plural stehen, deutet darauf hin, daß die Einzigkeit des eleatischen δν zunächst nur auf die Einzigkeit der Gattung bezogen ist, d.h. daß das δν entweder zur Gattung der ούσία oder zur Gattung der πονά oder aber zur Gattung der ποσά zu zählen ist, wobei die jeweilige Gattung auf dieser Ebene gleichwohl noch für eine Vielheit stehen kann. Da die Eleaten ihr δν jedoch in einem radikalen Sinne als Eines verstehen, ergibt sich eine zweite Reduktion innerhalb einer jeden Gattung: Wenn alles ούσία ist, so ist es eine ούσία (vgl. ,,ούσίαν μίαν"), wie z.B. ein Mensch oder ein Pferd oder eine Seele. Und wenn alles ποιά ist, so ist es ein ποιόν (vgl. „ποιόν έν"), wie z.B. ein Weißes oder ein Warmes. Analoges gilt ftlr die Gattung des ποσόν. Die Frage, was hier unter den Gattungen ούσία, ποιόν und ποσόν genau zu verstehen ist, enthält jedoch eine gewisse Schwierigkeit, die sich anhand des Beispiels „τό λευκόν" verdeutlichen läßt. Aristoteles verwendet den Ausdruck ,,τό λευκόν" nämlich auf zweifache Weise: Einerseits kann „τό λευκόν" „weiß" bedeuten, wobei es die Qualität und Eigenschaft der Weiße bezeichnet. Andererseits aber kann ,,τό λευκόν" auch „das Weiße" bedeuten, wobei es ein Qualitatives bzw. etwas, das die Eigenschaft der Weiße hat, bezeichnet.52 Wird in bezug auf die Gattung der ούσία, die ja ebenfalls auf mehrfache Weise verstanden werden kann (z.B. als konkretes Ding oder als Wesen eines konkreten Dings),53 in der Sekundärliteratur weitgehend die Ansicht vertreten, daß Aristoteles hier mit „ούσία" als selbständiges Zugrundeliegendes (ύποκείμενον), „von dem alles andere gesagt wird" (185a31-32), zunächst das Ding im einfachen Sinne als dasjenige, was von sich selbst her da ist, meint und somit noch nicht einen speziellen Wesensbegriff im Blick hat,54 so gehen die Meinungen in bezug auf die Vgl. Met. VII.6, 1031b22-25. Die Zweideutigkeit des Ausdrucks „τό λευκόν" wird ebenfalls in Phys. 1.3, 186a28-31 angesprochen. Vgl. hierzu auch Charlton (1970: S. 67 und 70 f.). Wieland (1962: 120) weist daraufhin, daß der Begriff der ούσία in der Kategorienschrift eine doppelte Bedeutung hat: Er kann sowohl die Substanz im Sinne des Wesens einer Sache wie auch die Sache selbst meinen. Zur Mehrdeutigkeit des Wortes „ούσία" vgl. auch Met. V.8 und VIII.3, 1043a29-33. Vgl. Zekl (1987: 240, Fn.12): „Dies ist zunächst der ganz einfache Sinn von ούσία: Was an sich selbst da ist und nicht erst von anderem ausgesagt werden kann, wie Erde, Feuer, Wasser, die Körper überhaupt, die Lebewesen usw." Nach Ansicht von Wieland (1962: 136, Fn.27) begegnet uns das Wort „ούσία" in der Bedeutung „Wesen" in Physik I erstmals in 1.7, 191al9-20.
D i e Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Bedeutung der Ausdrücke „ποιόν" und „ποσόν" auseinander. 55 Auch wenn Aristoteles hier bei der ο υ σ ί α sicherlich noch nicht an einen speziellen Wesensbegriff denkt, ist doch hervorzuheben, daß die ούσία andererseits auch nicht ein konkretes Ding als σύνολον bzw. σύνθετον mit all seinen Eigenschaften meinen kann, da sonst die Differenzierung zwischen ούσία, ποιόν und ποσόν wieder verwischt würde. Zudem würde die Rede von „nur ο ύ σ ί α " (vgl. „ούσία μόνον") in 185b4 keinen Sinn mehr ergeben, wenn hier mit ούσία das konkrete Ding mit all seinen Eigenschaften gemeint wäre, da in 185b4 die ούσία ohne Eigenschaften gemeint sein soll. Das Ding mit all seinen Akzidentien ist vielmehr dasjenige, was „sowohl ο ύ σ ί α wie ποιόν und ποσόν ist" (185a27-28). Wir haben es in bezug auf die ούσία in Kapitel 1.2 weder mit einem konkreten Ding als ein Ganzes mit all seinen Eigenschaften noch mit dem speziellen Wesen eines Dings zu tun, sondern mit einem - wie ich es nennen will - „einfachen Dingbegriff', durch den die Dinglichkeit und Selbständigkeit von etwas in den Vordergrund gestellt werden soll. Läßt sich zwar nicht eindeutig bestimmen, ob Aristoteles mit dem Ausdruck „ποιόν" und dem Beispiel ,,λευκόν" die Qualität der Weiße oder das Weiße als ein Qualitatives meint,56 so wird in der nachfolgenden Auseinandersetzung (185a32-b5) mit Melissos' Bestimmung des Seienden als Unbegrenztes deutlich werden, daß Aristoteles dort in bezug auf das ποσόν eher das Quantitative als die Quantität im Blick hat. Aristoteles zeigt aus der Bedeutungsdifferenzierung des öv zunächst die Unmöglichkeit der Behauptung „είναι εν τά πάντα" auf, die sich aus dem Nachweis der Unmöglichkeit einer jeden einzelnen Alternative (ούσία, ποιόν oder ποσόν) ergibt: D e n n dies alles unterscheidet sich doch sehr und es ist unmöglich, dies [gemeint ist die eleatische These ' ε ΐ ν α ι ε ν τ ά π ά ν τ α ' ] zu behaupten. D e n n wenn alles sowohl ein Ding als auch ein Qualitatives und Quantitatives ist, sei dies entweder unabhäng i g voneinander oder nicht, so wäre das Seiende eine Vielheit. Wenn hingegen alles ein Quantitatives oder ein Qualitatives ist, sei es, daß es ein D i n g gibt oder nicht, so wäre dies widersinnig, sofern man das Unmögliche »widersinnig« nennen muß. Denn kein anderes außer dem D i n g ist abtrennbar. Denn alles [andere] wird von dem Ding als Zugrundeliegendem ausgesagt. (1.2, 185a26-32)
Zunächst wird ausgeschlossen, daß die Eleaten ihr Seiendes als all dies zusammen meinen können: Behaupten sie nämlich, das Seiende sei sowohl eine ούσία wie ein ποιόν und ποσόν, so haben wir es Aristoteles zufolge nicht mehr mit eiEinige Interpreten sind der Ansicht, daß hier mit dem Beispiel ,,λευκόν" (185a25) die Qualität der „Weiße" gemeint sei (vgl. Hardie/Gaye, 1930; Wagner, 1967: 7; Gohlke, 1956: 32; Carteron, 2 1952: 31). Demgegenüber ist Prantl (1854: 13) der Ansicht, daß ,,λευκόν" hier „das Weiße" als ein Qualitatives meint. Betrachtet man Zekls (1987: 7) Übersetzung, so begegnet man insofern einer gewissen Inkonsistenz, als Zekl einerseits den Ausdruck „ποιά" (185a23) mit „So-und-so-beschaffenes" - also als Qualitatives - übersetzt, während er andererseits den Ausdruck „ποιόν εν" (a25) mit „eine bestimmte Eigenschaft" - also als Qualität - übersetzt, für welche er das Beispiel „weiß" (λευκόν) nennt. Gleichwohl deutet die Tatsache, daß Aristoteles auch an anderen Stellen in Physik I (vor allem in den Kapiteln 1.5 und 1.7) mit solchen Beispielen wie ,,μουσικόν" und ,,λευκόν" primär „ein Gebildetes" bzw. „ein Weißes", und nicht „die Bildung" bzw. „die Weiße" meint, darauf hin, daß Aristoteles eher das Qualitative (ein Weißes) als die Qualität (die Weiße) meint.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
nem im absoluten Sinne einzigen δν zu tun, sondern vielmehr mit einer Vielheit von δντα, da doch gemäß der Bedeutungsdifferenzierung des ov jedes einzelne d.h. sowohl ούσία wie ποσόν und ποιόν - für sich gesehen ein öv ist. Diese Vielheit von δντα kann eine zweifache sein: (a) Entweder so, daß es viele voneinander losgelöste (άπολελυμένα) δντα gibt (d.h. hier ein Mensch, dort ein Weißes usw.). (b) Oder so, daß es ein in sich vielheitliches δν gibt (d.h. etwas, das sowohl Mensch wie Weißes usw. ist), wobei die δντα in diesem Sinne nicht voneinander losgelöst wären (μή άπολελυμένα). In beiden Fällen ergibt sich jedoch ein Widerspruch zur eleatischen These „ενναι έν τά πάντα", der zufolge das öv in einem absoluten Sinne als Eines zu verstehen ist. Wenn die Eleaten jedoch andererseits behaupten, daß das Seiende entweder ein Qualitatives (ποιόν) oder ein Quantitatives (ποσόν) ist - egal ob es eine ούσία gibt oder nicht -,57 so wäre dies insofern widersinnig (άτοπον), als dieser Gedanke auf eine Unmöglichkeit hinausläuft, die in folgenden Alternativen besteht: (1) Wenn es keine ούσία gibt, so hätten wir zunächst zwar nur eines (nämlich entweder ein ποιόν oder ein ποσόν), doch ist dies deshalb unmöglich, weil weder das ποιόν noch das ποσόν für sich vorkommen kann, da beide von einer ούσία als ύποκείμενον ausgesagt werden, die somit im Gegensatz zur Voraussetzung „wenn es keine ούσία gibt" doch vorauszusetzen wäre.58 (2) Wenn es eine ούσία gibt, so stünde dies sowohl im Widerspruch zur Voraussetzung, daß alles entweder ποιόν oder ποσόν ist, wie auch im Widerspruch zur These „είναι έν τά πάντα", da es wiederum eine Vielheit von δντα gäbe. Die Begründung der Unmöglichkeit der eleatischen These erweist sich jedoch zunächst als unvollständig, da die naheliegendste Möglichkeit, daß alles nur ούσία ist, nicht betrachtet wurde. Gigon sieht hier eine Lücke innerhalb der aristotelischen Argumentation: [...]; doch warum die ο υ σ ί α als Möglichkeit ausgeschlossen wird, erfahren wir nicht. (Gigon, 1966: 139)
Die Beobachtung von Gigon ist jedoch insofern zu korrigieren, als wir zwar nicht hier, gleichwohl aber im unmittelbar nachfolgenden Textabschnitt von Aristoteles erfahren, warum die ούσία als Möglichkeit ausgeschlossen wird. Der Grund, warum Aristoteles die Möglichkeit „nur ούσία" erst im nachfolgenden Abschnitt - getrennt von den anderen Möglichkeiten - behandelt, ist darin zu sehen, daß zu ihrer Widerlegung die bisherigen Argumente bezüglich der Vielheit und Unselbständigkeit der δντα nicht greifen. Zur Widerlegung dieser Möglichkeit ist es vielmehr erforderlich, daß die Eleaten selbst mehr über dieses eine δν behaupten als nur, daß es ein öv ist: Melissos aber behauptet, daß das Seiende unbegrenzt sei. Folglich wäre das Seiende etwas Quantitatives. Denn das Unbegrenzte ist in [der Gattung] des Quantitativen.
Zekls Übersetzung (1967: 7) „einerlei ob es nun ein Ding wäre oder nicht" kann nicht richtig sein, da dies bedeuten würde, daß das ποιόν zugleich auch eine ουσία sein könnte, was hier offenkundig nicht gemeint ist. Hier setzt Aristoteles offenkundig Überlegungen aus seiner Kategorienschrift voraus.
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Daß aber ein Ding oder eine Qualität oder eine Affektion unbegrenzt ist, ist nicht möglich, außer in dem nebenbei zukommenden Sinn, wenn es zugleich auch ein Quantitatives ist. Denn der Begriff des Unbegrenzten gebraucht das Quantitative, nicht aber das Ding und auch nicht das Qualitative. Wenn nun aber das Seiende sowohl Ding als auch Quantitatives ist, so ist es nicht mehr eines, sondern zwei. Wenn es aber nur Ding ist, so ist es nicht unbegrenzt und kann auch keine Größe haben, denn dann wäre es schon wieder etwas Quantitatives. (1.2, 185a32-185b5)
Zur Widerlegung der Möglichkeit von „nur ούσία" macht sich Aristoteles Melissos' zusätzliche Bestimmung des Seienden zunutze, der zufolge dieses unbegrenzt (bzw. ein Unbegrenztes) sein soll.S9 Die Argumentation lautet wie folgt: (1) Melissos behauptet, daß das Seiende unbegrenzt (bzw. ein Unbegrenztes) sei (a32-33). (2) Aus dieser Behauptung folgert Aristoteles, daß das Seiende ein bestimmtes Quantitatives (ποσόν τι: a33) ist,60 wobei er seine Folgerung mit dem Hinweis darauf begründet, daß sich das Unbegrenzte in der Gattung des Quantitativen findet (a33-34). (3) Mit der Anmerkung, daß ein Ding (ούσία), eine Qualität (ποιότητα) oder eine Affektion (πάθος) nicht unbegrenzt sein kann, außer im akzidentellen Sinn, wenn es zugleich auch etwas Quantitatives ist (ποσά άττα εΐεν: bl-2), scheint Aristoteles einem möglichen Einwand eines Hörers zu begegnen, der darauf hinweisen könnte, daß wir doch nicht nur von Quantitativem, sondern auch von einem Ding (ούσία), einer Qualität (ποιότητα) oder einer Affektion (πάθος) sagen, daß es unbegrenzt ist. Ein Ding, eine Qualität oder eine Affektion kann Aristoteles zufolge jedoch nur als etwas Quantitatives ein Unbegrenztes sein, da sich die Rede von einem „Unbegrenzten" primär auf ein Quantitatives bezieht (vgl. Kat. 6 und Met. V. 13). (4) Die Behauptung, daß sich das άπειρον in der Gattung des Quantitativen findet, begründet Aristoteles mit dem Hinweis darauf, daß in der Definition (λόγος) des άπειρον zwar das ποσόν, nicht aber die ούσία oder das ποιόν vorkommt (b2-3).61 (5) Aus der auf diese Weise begründeten Konklusion „also ist das öv ein ποσόν τι" (a33) zeigt Aristoteles nun die Unmöglichkeit der Alternative „nur ούσία" wie folgt auf: (a) Wenn das öv sowohl eine ούσία als auch ein ποσόν - d.h. ein unbegrenztes Ding - ist, so wäre es nicht mehr ein einziges öv, sondern es würde bereits eine Zweiheit darstellen (b3-4). (b) Wenn das öv aber nur eine ούσία ist, so wäre es nicht ein Unbegrenztes, und es hätte auch keine [andere] Größe. Denn hätte es eine andere Größe, so wäre es wiederum ein ποσόν τι (b4-5).62 59
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Eine analoge Argumentation bezüglich der Unmöglichkeit der Alternative „nur ούσία" ließe sich auch in bezug auf Parmenides durchführen, der das Seiende im Gegensatz zu Melissos als begrenzt bestimmt hat. Aristoteles versteht die Unbegrenztheit des Seienden bei Melissos vermutlich als Zuschreibung eines positiven Prädikats (vgl. auch Met. XI. 10, 1066a35-b7). Dieses Verständnis läßt sich durch die Fragmente B2, B3, B4 und B6 bei Melissos stützen. Chemiss (1935: 65) ist demgegenüber jedoch der Ansicht, daß Melissos mit der Unbegrenztheit des Seienden nur die bloße Negation von räumlicher Ausdehnung gemeint habe. Aristoteles unterstellt Melissos nicht, daß das Seiende eine bestimmte Quantität (d.h. Unendlichkeit) ist. Ebenso, wie Aristoteles hier nicht sagen will, daß das Seiende eine Unendlichkeit ist, will er auch oben vermutlich nicht sagen, daß das Seiende (eine) Weiße ist. Zur Definition des άπειρον vgl. Phys. III.6, 207a7-8: „άπειρον μέν ούν έστιν οΰ κατά τό ποσόν λαμβάνουσιν αίεί τι λαμβάνειν έστιν έξω." Die Möglichkeit, daß das öv nur ein ποσόν ist, wird nicht mehr behandelt, da diese Möglichkeit bereits in 185a29-32 widerlegt wurde.
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Physik 1.2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Die Argumentation macht deutlich, daß Aristoteles hier vom „άπειρον" im Sinne eines Unendlichen (Quantitativen) und nicht im Sinne einer Unendlichkeit (Quantität) spricht. Wenn Aristoteles nämlich sagt „wenn es aber nur ούσία ist, so wäre es nicht unbegrenzt, und es hätte (έξει) auch keine Größe, denn sonst wäre es [wieder] ein bestimmtes Quantitatives" (b4-5), so spricht er hier von dem Haben einer Größe (vgl. „μέγεθος έξει") - und somit vom Haben einer Quantität - aus welchem er folgert, daß das Seiende dann wiederum ein Quantitatives wäre (ποσόν τι έσται). Ist aber das άπειρον als „Unendliches" im Sinne eines Quantitativen (ποσόν) zu verstehen, so deutet dies daraufhin, daß vermutlich auch für das ποιόν und die Beispiele ,,λευκόν" und ,,θερμόν" in 185a23-26 gilt, daß wir es dort mit einem Qualitativen (Weißes oder Warmes), und nicht mit Qualitäten (Weiße oder Wärme) zu tun haben.
2.6.2 Die Bedeutung des ,,έν" in der These „είναι έν τό πάν" (185b5-25) Nachdem Aristoteles gezeigt hat, daß die eleatische These „είναι εν τά πάντα" hinsichtlich der Bedeutungsdifferenzierung des Wortes „öv" ('Seiendes') zu widersprüchlichen Konsequenzen führt, geht er nun dazu über, eine ebensolche Widersprüchlichkeit auch durch die Bedeutungsdifferenzierung des Wortes ,,έν" ('Eines') aufzuzeigen. Weiter: Da auch das Eine selbst auf mehrfache Weise gesagt wird wie das Seiende, so ist zu untersuchen, in welchem Sinne sie sagen: »das Ganze ist Eines«. »Eines« aber wird entweder gesagt vom Kontinuum [τό σ υ ν ε χ έ ς ] oder vom Unteilbaren [τό άδιαίρετον] oder von denjenigen, deren Begriff und Wesenswas einer und derselbe ist [ών ό λόγος ό αΰτός και εις ό τοΰ τί ήν είναι], wie z.B. bei Rebensaft und Wein. (1.2, 185b5-9) Abb. 2.6: Die Bedeutungsmöglichkeiten
des „ είναι ε ν τό π ά ν " hinsichtlich des „ έν"
.είναι έν τό παν'
Das Kontinuum (τό συνεχές) [185b9-16]
Das Unteilbare (τό άδιαίρετον) [185bl6-19]
Diejenigen, deren Wesensbegriff einer ist (ών ό λόγος ό αϋτός και εις ό τοΰ τί ήν είναι) [185b16-25]
Angesichts der Tatsache, daß diese Bedeutungsdifferenzierung des ,,έν" ebenfalls als vollständig zu betrachten ist - denn es soll ja gezeigt werden, daß die Eleaten in Widersprüche gelangen, gleichgültig für welche Bedeutung des ,,έν" sie sich entscheiden -, fällt auf, daß Aristoteles hier im Unterschied zu Met. V.6 und X.l nur drei der dort angeführten vier Bedeutungsmöglichkeiten erwähnt.63 In Met. V.6 differenziert Aristoteles zunächst zwischen dem έν im „akzidentell zukommenden Sinne" (κατά συμβεβηκός) und dem εν im „an sich zukommenden Sinne" (καθ' αύτό). Für letzteres führt er vier Grundbedeutungen an: Die Dinge sind eines (i) als Kontinuum (συνεχές),
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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So hat Pacius (vgl. Ross, 1936: 468) in diesem Zusammenhang eingewandt, daß die „Einheit dem είδος nach" als zweiter Haupttypus des ,,έν καθ' έαυτό" fehle. Ross (1936: 468) erklärt dieses Fehlen der „Einheit dem είδος nach" dadurch, daß mit ihr eine numerische Differenz und somit eine Vielheit vorausgesetzt sei, die die Eleaten unter keinen Umständen gemeint haben können. Angesichts der Tatsache, daß die dritte Bedeutung des εν, die sich auf solcherlei Dinge bezieht, deren λόγος einer ist, ebenfalls eine numerische Vielheit voraussetzt, erweist sich die Erklärung von Ross jedoch als unbefriedigend, so daß die Antwort auf Pacius' Einwand eher darin zu sehen ist, daß Aristoteles die Bedeutung „εν εϊδει", auf die er gleichwohl in 1.3, 186al9-22 eingehen wird, hier deshalb nicht eigens anführt, weil sie in einem weiten Sinne aufgefaßt mit der Bedeutung „λόγω έν" zusammenfällt.64 Aristoteles führt in Met. 1.5, 986bl8-21 aus, daß Parmenides das Eine dem Begriff nach (κατά τον λόγον), Melissos hingegen dem Stoff nach (κατά την ϋλην) aufgefaßt habe. In dieser Differenz sieht Aristoteles auch den Grund, warum Parmenides vom Begrenzten, Melissos aber vom Unbegrenzten gesprochen hat. Legt man diese Differenz zwischen einer „Einheit dem Begriff nach" und einer „Einheit dem Stoff nach" der Bedeutungsdifferenzierung des ,,έν" in Phys. 1.2 zugrunde, so ergibt sich folgendes Bild: Abb. 2.7: Die Bedeutungen von „ εν Eines (εν) dem Stoff nach ( κ α τ ά την ΰλην) [Melissos] το σ υ ν ε ν ε ς
' dem Begriff nach ( κ α τ ά τόν λόγον) [Parmenides]
τό άδιαίρετον
2.6.2.1 Das Kontinuum (τό συνεχές) Wenn es [das Eine] nun also als K o n t i n u u m gemeint ist, so wäre das E i n e vieles. Denn das Kontinuum ist ins Unendliche teilbar [εις ά π ε ι ρ ο ν δ ι α ι ρ ε τ ό ν γ α ρ τό σ υ ν ε χ έ ς ] , (1.2, 1 8 5 b 9 - l l )
Daß die Eleaten ihr absolut Eines nicht im Sinne eines Kontinuums gemeint haben können, erklärt Aristoteles dadurch, daß das Kontinuum ins Unendliche teil(ii) weil ihr ϋποκείμενον eines ist, (iii) weil ihre Gattung (γένος) eine ist, und (iv) weil ihr λόγος einer ist. (In Phys. 1.2 ist vom i v im „akzidentellen Sinne" keine Rede, da dies als Meinung der Eleaten von vornherein ausscheidet. Denn diese Bedeutung setzt ja bereits das Vorhandensein einer inneren Vielheit voraus.) Die vier Grundbedeutungen des εν in Met. X. 1 lauten: (a) das Kontinuum (συνεχές), (b) das Ganze (όλον), (c) das Unteilbare (άδιαίρετον), und zwar das (cl) der Zahl nach und (c2) der Art nach Unteilbare. Vgl. dazu die Gleichsetzung von „λόγω εν" und „εϊδει iv" in Phys. 1.7, I90al6-17. Dem entspricht auch die Bestimmung des ,,εΐδει έν" als dasjenige, „dessen λόγος einer ist", in Met. V.6, 1016b33: „[...], εϊδει δ' ών ό λόγος εις, [...]."
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
bar ist, so daß sich mit der Annahme eines Kontinuums eine potentiell unendliche Vielheit ergäbe, die im Widerspruch zur Annahme eines absolut Einen stünde. Mit der Definition von ,,τό συνεχές" als unendlich Teilbares6S wird hier eine Begründung gegeben, die als grundlegend anzusehen ist. Zugleich ist hervorzuheben, daß das Kontinuum, das als Teilbares (διαιρετόν) seinen Gegensatz in der Bedeutung des έν als ,,άδιαίρετον" hat, hier im Sinne eines materiellen Kontinuums,66 und nicht im Sinne eines aus den Kategorien 'Ding' und 'Eigenschaft' logischen Zusammengesetzten zu verstehen ist. Denn bei letzterem ergibt die Rede von einer „unendlichen Teilbarkeit" ja keinen Sinn.67
Exkurs: Das Verhältnis von Teil und Ganzem Aristoteles setzt in einer Nebenbemerkung mit folgender Überlegung fort: Es besteht aber auch die Schwierigkeit bezüglich Teil und Ganzem; vielleicht gehört sie nicht zu dieser Untersuchung, aber sie besteht an sich: Sind Teil und Ganzes eines oder mehreres? Und wie sind sie eines oder mehreres [και πώς έ ν ή πλείω]? Und wenn sie mehreres sind, in welchem Sinne sind sie mehreres [και εϊ πλείω, πώς πλείω]? Und [die Schwierigkeit besteht auch] bei den nichtkontinuierlichen Teilen: Und wenn ein jeder einzelne [von zwei Teilen] als Unteilbares für das Ganze Eines ist, dann sind sie auch Eines füreinander. (1.2, 185bl 1-16)
Diese Nebenbemerkung bezüglich des Verhältnisses von Teil und Ganzem hat aufgrund ihrer elliptischen Form die Interpreten vor zahlreiche Probleme gestellt, die sich in folgenden fünf Fragen zusammenfassen lassen: (1) Wie ist die zweifache Frage „πώς πλείω" in b l 3 - 1 4 zu verstehen?
Ross (1936: 468) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß Natorp und Brandis das ,,ή" („oder") in bl3 durch ein ,,εί" („wenn") ersetzen, so daß wir die beiden Fragen „wie sind sie eines, wenn sie mehreres sind?" und „wie sind sie mehreres, wenn sie mehreres sind?" erhalten. Ross hält diese Korrektur für unnötig, da man in dem zweimaligen „πώς πλείω" zwei verschiedene Fragen sehen kann: Fragt Aristoteles zuerst ,,καί πώς έν ή πλείω" (bl3), so ist damit nicht die Frage gemeint, „in welchem Sinne sie eines sind, wenn sie eines sind, und in welchem Sinne sie mehreres sind, wenn sie mehreres sind?"; vielmehr ist die Frage gemeint, „wie es möglich ist, daß sie eines oder mehreres sind?" Ver65
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Zur Definition von ,,τό συνεχές" vgl. auch Phys. III. 1, 200b20: ,,ώς τό εις άπειρον διαιρετόν συνεχές öv." (Vgl. auch Phys. V.3, 227al0-17; VI.2, 232a23-24; VI.2, 232b24-25; 233bl522; und Met. X.l, 1053a20-25.) Das in dem Wort „συνεχές" enthaltene Präfix „συν-" deutet bereits auf eine Vielheit hin. Charlton (1970: 58) führt als Beispiel für ein derartiges materielles Kontinuum ein Stück Butter an. Zwar bezeichnet Parmenides das eine Seiende selbst als „συνεχές" (Frg. B8, Z.6; vgl. auch Z.23 „συνέχεσθαι" und Z.25 „ξυνεχές"), doch ist hierbei zu beachten, daß er das Seiende zugleich als „nicht teilbar" (Frg. B8, Z.22 ,,ούδέ διαιρετόν") kennzeichnet, welches im Gegensatz zur aristotelischen Auffassung steht, der das συνεχές als das Ins-Unendliche-Teilbare dem άδιαίρετον gegenüberstellt.
D i e Auseinandersetzung mit den Eleaten
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stehe ich Ross recht, so bezieht er die Frage „wie?" hier nicht auf die einzelnen Glieder „eines oder mehreres", sondern vielmehr auf die Disjunktion „oder", so daß das „πώς" hier die Bedeutung „wie ist es möglich, daß ...?" erhält. Und diese Frage, „wie es möglich ist, daß Ganzes und Teil eines oder mehreres sind?" als Infragestellung des „oder" gewinnt ihre tiefere Bedeutung vor dem Hintergrund, daß Aristoteles in 186 a 1-2 sagen wird, daß etwas sowohl eines als auch mehreres sein kann. Erst in der zweiten Frage ,,καί εί πλείω, πώς πλείω" (b ΠΙ 4) wird dann auf das speziellere Problem eingegangen, in welchem Sinne es mehreres sein kann, wenn es mehreres ist. Wir haben es Ross zufolge also mit einer Äquivozität des Wortes „πώς" zu tun: Bedeutet es in der ersten Frage ein „wie ist es möglich, daß ...?", so bedeutet es in der zweiten Frage ein „in welchem Sinne von ...?". Auch Wagner (1967: 8 und 403) sieht in dem zweimaligen „πώς πλένω" keine Wiederholung. Im Unterschied zu Ross versteht er jedoch das zweite „πώς πλείω" im Sinne einer Spezifizierung: „und insbesondere in welchem Sinne ...?". Fragt Aristoteles Wagner zufolge zunächst allgemein, wie können sie eines oder mehreres sein, so fragt er dann insbesondere danach, wie sie mehreres sein können, wenn sie mehreres sind. ( 2 ) W a s haben wir unter den „nichtkontinuierlichen Teilen" ( π ε ρ ί τ ω ν μ ε ρ ώ ν τ ω ν μ ή σ υ ν ε χ ώ ν : b l 4 ) zu verstehen?
Das ,,τών μή συνεχών" kann einerseits als attributive Ergänzung verstanden werden, so daß von „nichtkontinuierlichen Teilen" die Rede ist (so versteht es die überwiegende Anzahl der Interpreten); andererseits kann es aber auch als Genitivobjekt verstanden wären, so daß von „Teilen von nichtkontinuierlichen (Ganzheiten)" die Rede ist (so versteht es Wagner, 1967: 8). In beiden Fällen haben wir es jedoch mit einem Ganzen zu tun, dessen Teile nicht-kontinuierlich miteinander verbunden sind. Innerhalb der Sekundärliteratur werden verschiedene Beispiele für diese „nichtkontinuierlichen Teile" angeführt: (a) die Organe eines Körpers (im Gegensatz zu dessen gleichartigen Teilen (όμοιομερή) wie Blut, Fleisch usw.);68 (b) die Teile einer Form, wie z.B. die verschiedenen Teile der Seele;69 (c) die Elemente einer bestimmten Klasse;70 (d) die Arten einer Gattung, wie z.B. Mensch und Pferd als Arten der Gattung Sinnenwesen.71 ( 3 ) W i e ist die R e d e v o n den „nichtkontinuierlichen Teile" in den argumentativen Z u s a m m e n h a n g einzuordnen?
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Vgl. Charlton (1970: 58): „[...]; the Greek commentators speak of organic parts in contrast with homeomerous bits; [...]." E b d
'
Prantl (1854: 474, Fn.9) spricht von den „Bürgern eines Staates" oder den „Planeten eines Sonnensystems", Wagner (1967: 403) von einer „Schülerklasse" und Ross (1936: 468) von einer „Schafherde". Aristoteles führt dieses Beispiel in Met. V.26 als Beispiel für ein Ganzes an, das seine Teile so umfaßt, daß diese Teile selbst wiederum Eines sind.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Ist sie (i) nur eine Zusatzbemerkung, die in dem Sinne zu verstehen wäre, daß die bereits angeführten Aporien auch für nichtkontinuierliche Teile gelten,72 oder ist sie (ii) ein Hinweis darauf, daß zusätzliche Aporien bei den nichtkontinuierlichen Teilen entstehen.73 (4) Wie ist der Begründungszusammenhang im Schlußsatz b 15-16 zu verstehen? Aufgrund der Mehrdeutigkeit der Wörter „ei", das entweder „wenn" oder „ob" bedeuten kann, und ,,δτι", das entweder „daß" oder „weil" bedeuten kann, ergeben sich zwei Interpretationsmöglichkeiten: (a) „[Es besteht die Aporie], wenn ... , daß ...": hier steht die Aporie im „daß-Satz" als Folge einer Bedingung aus dem „wenn-Satz".74 Oder (b) „[Es besteht die Aporie], ob ... , weil ...": hier steht die Aporie im „ob-Satz" als Folge einer Bedingung aus dem „weil-Satz".75 (5) Wie ist das „ei τω δλφ εν έκάτερον ώς άδιαίρετον" in bl5 zu verstehen? Innerhalb der Sekundärliteratur sind drei verschiedene Interpretationen vorgeschlagen worden: (a) „wenn (bzw. ob) ein jedes mit dem Ganzen untrennbar Eines ist",76 (b) „wenn (bzw. ob) ein jedes für sich eine unteilbare Einheit ist und mit dem Ganzen ein Eines bildet"77 oder (c) „wenn (bzw. ob) ein jedes für das Ganze eine unteilbare Einheit ist".78 Bevor ich meine eigene Interpretation des Abschnitts 185b 11-16 darlege, will ich zunächst auf die Funktion dieser Nebenbemerkung eingehen, die sie für den Kontext der aristotelischen Argumentation gegen die Eleaten hat. Die Behauptung, daß „die Schwierigkeit bezüglich des Verhältnisses von Teil und Ganzem vielleicht [ίσως] nichts mit der Argumentation [προς τον λόγον] zu tun hat, aber an sich [καθ' αυτήν] besteht" (bl 1-12), bezieht sich auf die Argumentation (λόγος) bezüglich der Bedeutung des Einen als 'Kontinuum'. Insofern mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem, das auch das in Kapitel 1.1 dargelegte Verhältnis der φύσει οντά zu ihren άρχαί betrifft, die für eine Physik wesentliche Frage danach, wie etwas zugleich eines und vieles sein kann, angesprochen ist, erinnert der Ausdruck „vielleicht" hier eher an ein sokratisches „Vielleicht", das Sokrates häufig dann zur Antwort gibt, wenn sein Gesprächspartner den Kern der Sache getroffen hat und er selbst noch nicht die ganze Lösung darlegen will.
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Vgl. Zekl (1987: 9), Ross (1936: 338), Hardie/Gaye (1930), Gohlke (1956: 33) und Carteron ( 2 1952: 32). Vgl. Prantl (1854: 15), Wicksteed/Comford (1980: 23), Wagner (1967: 8) und Charlton (1970: 3 f.). Prantl und Wicksteed/Cornford betrachten diese zusätzliche Aporie dann als im Schlußsatz 185bl5-16 ausformuliert, während Wagner und Charlton im Schlußsatz den Hinweis auf noch eine weitere Aporie sehen. So versteht es die überwiegende Zahl der Interpreten. Diese Interpretation findet sich bei Prantl (1954: 15) und Charlton (1970: 3 f. und 58). Vgl. Zekl (1987: 9), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 338), Wagner (1967: 8), Charlton (1970: 3 f. und 58), Gohlke (1956: 33) und Wicksteed/Cornford (1980: 23). Vgl. Carteron (21952: 32). Vgl. Prantl (1854: 15).
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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Aristoteles scheint mit dieser Nebenbemerkung einem möglichen Einwand zu begegnen, der in bezug auf seine These, daß das Eine der Eleaten unmöglich im Sinne des Kontinuums gemeint sein kann, folgende Gestalt hat: Nachdem die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten des ,,έν" dargelegt wurden, zeigt Aristoteles, daß die Eleaten die erste Bedeutung - nämlich das έν als Kontinuum unmöglich gemeint haben können, weil dann eine Vielheit vorausgesetzt werden müßte. Hier aber drängt sich die Frage auf, wie das im Sinne eines Kontinuums verstandene Eine, das folglich eine Vielheit impliziert, überhaupt noch als eine Bedeutung des „Einen" angesehen werden kann und nicht vielmehr als eine Bedeutung des „Vielen" betrachtet werden muß. Dieser Einwand läßt sich in der Frage zuspitzen, wie es möglich sein soll, daß eine Einheit zugleich auch eine Vielheit sein kann, wobei diese Frage für Aristoteles insofern eine zentrale Bedeutung hat, als in ihr die Möglichkeit der Eigenschaftsveränderung begründet ist. Die Annahme eines Einen, das im Sinne eines materiellen Kontinuums zugleich eine Vielheit impliziert, stellt zumindest nach eleatischem Verständnis eine Verletzung des Principium contradictionis dar. 79 Der Exkurs über Teil und Ganzes, der sich an das Argument bezüglich des Einen als Kontinuum anschließt, läßt sich in zwei Teile gliedern: Werden in einem ersten Teil (b 12-14) Aporien bezüglich eines kontinuierlichen Ganzen (συνεχές) angeführt, so wird im zweiten Teil (b 14-16) daraufhingewiesen, daß diese Aporien auch bei nichtkontinuierlichen Ganzheiten vorhanden sind. In bezug auf das kontinuierliche Ganze (συνεχές), dessen Kennzeichen es ist, daß seine Teile nur zusammen, nicht aber für sich eine Einheit darstellen, werden folgende Aporien angeführt: (1) „Sind Teil und Ganzes eines oder mehreres (πότερον εν ή πλείω τό μέρος και τό δλον)?" Die Frage ,,πότερον ... ή", die auf das Problem hinweist, daß das Ganze eine Einheit darstellt, während seine Teile immer schon eine Vielheit repräsentieren, ist hier als eine Entscheidungsfrage anzusehen, deren aporetischer Charakter darin besteht, daß die Antwort, egal für welche Alternative man sich entscheidet, in ein Dilemma führt. Denn weder sind Ganzes und Teil nur eine Vielheit, noch sind sie nur eine Einheit.80 (2) „Wie können Teil und Ganzes eines oder mehreres sein (και πώς εν ή πλένω)?" Diese Frage, die das problematische „oder" aus der vorherigen Frage aufgreift, fragt danach, wie es möglich sein soll, daß es eines oder vieles ist angesichts der Tatsache, daß wir sowohl ein Eines (das Ganze) als auch Vieles (die Teile des Ganzen) vorliegen haben. Die Aporie wird durch die Frage nach dem „wie" im Anschluß an die vorhergehende Frage nach dem „ob" zugespitzt. Es wird hier weder gefragt, in welchem Sinne es eines sein kann, wenn es eines ist, denn dies ist ja bereits mit dem έν als συνεχές beantwortet, noch wird hier gefragt, in welchem Sinne es mehreres sein kann, wenn es mehreres ist, denn diese 79
So ist Melissos (Frg. DK 30A5) der Auffassung, daß das Eine nach allen Seiten gleich sein müsse (δμοιον είναι), weil es sonst als Ungleiches (άνόμοιον) eine Vielheit bilden würde und nicht mehr eines sein könne (ούκ αν ετι εν είναι). Aristoteles' eigene Antwort auf diese Frage wird ihrem Sinn nach so lauten, daß die Frage als eine Entscheidungsfrage falsch gestellt ist, da dasselbe sowohl eines als auch mehreres sein kann.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
Frage wird erst im folgenden gestellt: (3) „Wenn es mehreres ist, in welchem Sinne ist es dann mehreres (και εί πλείω, πώς πλείω)?" Im Anschluß an diese Überlegungen weist Aristoteles nun daraufhin, daß die Aporien auch bei einem Ganzen, das aus nicht kontinuierlich miteinander verbundenen Teilen besteht, auftreten, wobei sich die Fragerichtung der Aporien jedoch umzukehren scheint: Besteht die Aporie bezüglich eines kontinuierlichen Ganzen vor allem in der Frage, wie Teil und Ganzes vieles sein können - gerade diese Frage („πώς πλείω") wurde in b 14-15 ja ausdrücklich gestellt, weil bei einem Kontinuum die Teile für sich keine selbständigen Einheiten darstellen, und man so vor dem Problem steht, wie überhaupt eine Vielheit vorhanden sein kann, sofern die Vielheit per definitionem eine Pluralität von Einheiten sein soll -,81 so besteht die Aporie bezüglich eines nichtkontinuierlichen Ganzen umgekehrt in der Frage, wie Teil und Ganzes ein Eines sein können. In dieser Frage ist auch der Sinn des Schlußsatzes (bl 5-16) zu sehen, den ich wie folgt verstehe: „Und [hier liegt die Aporie darin], daß, wenn ein jedes [von zwei Teilen] als Unteilbares ein Eines für das Ganze ist, dann [sind] auch die Teile füreinander [als Unteilbare je Eines]." Mit anderen Worten: Wie können die Teile, die je für sich eine Einheit darstellen, zusammen noch eine Einheit bilden, ergibt doch die Summe von Einheiten für gewöhnlich eine Vielheit?82 Diese Frage erweist sich deshalb als problematisch, weil die hier erwähnten nicht kontinuierlich miteinander verbundenen Teile ja nicht eine Einheit im Sinne eines Kontinuums (συνεχές) bilden können. Sie sind gerade als dasjenige, was jeweils für sich ein άδιαίρετον darstellt, auch jeweils für sich ein Eines (έν), sei hiermit nun das Verhältnis einer Klasse zu ihren Elementen, oder das Verhältnis einer Gattung zu seinen Arten, oder das Verhältnis des Körpers zu seinen Organen gemeint. Als Schaf ist das Schaf unteilbar (άδιαίρετον) und deshalb Eines, denn der Teil eines Schafes ist ebensowenig ein Schaf, wie der Teil eines Gesichts ein Gesicht
2.6.2.2 Das Unteilbare (τό άδιαίρετον) Im Anschluß an den Exkurs über Ganzes und Teil geht Aristoteles zur zweiten Bedeutung des ,,έν" als „άδιαίρετον" über:
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Aristoteles macht an anderen Stellen mehrfach auf dieses Problem mit der Frage, wie man aus Punkten eine Linie entstehen lassen kann, aufmerksam: vgl. Met. III.4, 1001b7-25; Phys. III.6, 206al4-18; IV.8, 215Ö18-19; V l . l , 2 3 1 a 2 4 - 2 6 , VI.2,232a23-27 u.a. Vgl. Phys. III.7, 207b5-13, wo Aristoteles darauf hinweist, daß die Ein-Zahl (τό έν) als Prinzip der Zahlen unteilbar ist (wie z.B. ein Mensch) und die Zahl eine Mehrzahl von Einsen (vgl. ,,ενα πλείω") darstellt. Die Interpretation von Ross (1936: 468), der zufolge Aristoteles in b 15-16 auf die Aporie hindeutet, daß auch die Teile miteinander identisch sind, wenn die Teile mit dem Ganzen identisch sind - „The argument in brief is: 'your hand is you; your foot is you; therefore your foot is your hand'." ist bereits von Charlton (1970: 58) zu Recht kritisiert worden.
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Aber w e n n e s als Unteilbares [ώς ά δ ι α ί ρ ε τ ο ν ] g e m e i n t ist, s o gäbe e s nichts Quantitatives, und auch nichts Qualitatives, 8 4 und auch wäre das S e i e n d e nicht unbegrenzt, w i e M e l i s s o s behauptet, n o c h wäre es begrenzt, w i e Parmenides sagt. D e n n die Grenze ist ein Unteilbares, nicht das Begrenzte [τό γ α ρ π έ ρ α ς ά δ ι α ί ρ ε τ ο ν , ο ύ τ ό π ε π ε ρ α σ μ έ ν ο ν]. (1.2, 1 8 5 b l 6 - 1 9 )
Der Grund, warum die Eleaten ihr Eines auch nicht als άδιαίρετον im Sinne eines (materiell) Unteilbaren85 gemeint haben können, besteht darin, daß sich bei Annahme des Einen als άδιαίρετον Konsequenzen ergeben würden, die im Widerspruch zu anderen eleatischen Bestimmungen des Einen stehen. Das Eine als άδιαίρετον könnte letztlich weder ein Quantitatives (ποσόν) noch ein Qualitatives (ποιόν) sein und mithin weder unbegrenzt, wie Melissos sagt, noch begrenzt, wie Parmenides sagt.86 (1) „Wenn das Eine als άδιαίρετον gemeint ist, wird es kein Quantitatives (ποσόν) geben (185b 16)." Der Grund, warum das Eine als άδιαίρετον kein Quantitatives sein kann, ist darin zu sehen, daß jedes Quantum - sei es ein diskretes (Anzahl) oder ein kontinuierliches (Ausgedehntes) - per deflnitionem teilbar ist.87 (2) „Und es gibt auch kein Qualitatives (ποιόν) (bl6-17)." In der Sekundärliteratur sind verschiedene Möglichkeiten als Begründung dafiir angeführt worden, warum das άδιαίρετον auch kein Qualitatives (ποιόν) ist: Charlton ist der Ansicht, daß das Ganze als Nichtausgedehntes auch nicht die Qualitäten haben wird, die Parmenides ihm in Form von Hitze und Kälte zuschreiben will, da diese bereits die Existenz eines Quantums voraussetzen. 88 Ross weist darauf hin, daß eine Qualität in bezug auf ihre Intensität teilbar ist und daß ein bloßer Punkt oder eine arithmetische Einheit keine Qualität besitzt.89 Wagner (1967: 403) führt folgende drei Argumente dafür an, daß das άδιαίρετον kein ποιόν sein kann: (i) Qualitäten lassen graduelle Abstufungen zu und setzen somit Quantität voraus, (ii) Jede Qualität ist definierbar und somit in ihre Definitionsmomente auflösbar, (iii) Die Qualität setzt insofern eine Quantität voraus, als sich eine physische Qualität nur an einem Ausgedehnten (d.h. an einem räumlich Quanti-
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Vgl. auch die Übersetzungen von Hardie/Gaye (1930: „If (5) their One is one as indivisible, nothing will have quantity or quality, [...].") und Charlton (1970: 4: „Is the universe one, then, in that it is indivisible? Then nothing will have any quantity or quality, [...]."). Charlton (1970: 58), der daraufhinweist, daß das „άδιαίρετον" bei Aristoteles eine vierfache Bedeutung hat - (1) das 'faktisch Nicht-Geteilte', (2) das 'Räumlich-Unteilbare', (3) das 'Logisch-Unanalysierbare' und (4) das 'Der-Form-nach-Ununterscheidbare' -, ist ebenfalls der Ansicht, daß Aristoteles hier vom „άδιαίρετον" im Sinne des „Raumlich-Unteilbaren" bzw. „Unausgedehnten" spricht. Daß Parmenides das Eine gleichwohl als unteilbar bestimmt hat, wird aus Frg. DK 28 B8, Z.22 deutlich: ,,ούδέ διαιρετόν έστιν, έπεί π α ν έστιν όμοΐον". Zur Teilbarkeit des Quantums vgl. Met. III.4, 1001b5 ff.; V.13, 1020a7; XI. 10, 1066b; Phys. III.6, 204a28-29. Charlton (1970: 58): „If the universe is not extended, it will not have the qualities (185bl7) which Parmenides wants to attribute to it, heat and cold (l88a21-2) (if actual heat and cold must extend over an area or volume)." Ross (1936: 469): ,,ούδέ ποιόν, presumably because quality is divisible in respect of intensity, or a bare point or arithmetical unit has no quality."
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tativen) findet.90 Wird in den von Wagner angeführten Argumenten (i) und (iii) das Nichtvorhandensein eines ποιόν als Folge aus dem Nichtvorhandensein eines ποσόν interpretiert, so wird im Argument (ii) das Nichtvorhandensein eines ποιόν als unmittelbare Folge aus dem άδιαίρετον verstanden. Da das Unteilbare (άδιαίρετον) in 185b 16-19 jedoch eher im Sinne eines materiell Unteilbaren zu verstehen ist, erweist sich das Argument (ii) in unserem Zusammenhang insofern als unwahrscheinlich, als in diesem Argument eher von einer logischen Teilbarkeit die Rede ist. (3) „Und das Seiende ist also auch nicht unbegrenzt, wie Melissos behauptet" (bl7). Aristoteles kann nun aus der Tatsache, daß das άδιαίρετον kein Quantitatives (ποσόν) ist, dazu übergehen (vgl. ,,δή": bl7), daß das Seiende auch nicht unbegrenzt sein kann, wie Melissos sagt, denn Aristoteles hatte bereits in 185 a32-b2 gezeigt, daß der Begriff des άπειρον den Begriff des ποσόν voraussetzt. (4) „Aber auch begrenzt kann das Seiende nicht sein, wie Parmenides sagt" (bl7-18). Das 'Nichtbegrenztsein' (vgl. ,,ούδέ πεπερασμένον") ist ebenso wie das 'Nichtunbegrenztsein' (vgl. ,,ούδέ άπειρον") als eine weitere Folge aus dem ,,ούθέν ποσόν" und ,,ούδέ ποιόν" zu verstehen. Hierbei ist allerdings auf folgendes hinzuweisen: Während sich das ,,ούδέ άπειρον" offenkundig als Folge aus dem ,,ούθέν ποσόν" erweist, ist das ,,ούδέ πεπερασμένον" hier vielleicht nicht im zunächst naheliegenden Sinn als Folge aus dem ,,ούθέν ποσόν", sondern eher als eine Folge aus dem ,,ούδέ ποιόν" zu verstehen. Gershenson und Greenberg weisen nämlich darauf hin, daß Aristoteles die Behauptung von Parmenides bezüglich des Begrenztseins des Seienden nicht in einem quantitativen, sondern in einem qualitativen Sinne versteht.9' Würde Aristoteles das Begrenztsein bei Parmenides als eine quantitative Bestimmung verstehen, so wäre zudem die Frage zu stellen, warum hier dann überhaupt das ,,ούδέ ποιόν" angeführt wird. (5) „Denn die Grenze ist ein Unteilbares, nicht das Begrenzte" (bl 8-19). Aristoteles weist in der abschließenden Begründung, der zufolge die Grenze und nicht das Begrenzte - ein Unteilbares ist, darauf hin, daß das Eine, wenn man es im Sinne eines Unteilbaren (άδιαίρετον) versteht, letztlich als Grenze zu betrachten wäre. Das eleatische Eine würde somit als ein Unteilbares gewissermaßen zu einem unteilbaren Punkt 'zusammenschrumpfen'. Abschließend betrachtet ergibt sich somit folgendes Bild: Wenn das Eine sowohl ein Unteilbares als auch ein Unbegrenztes sein soll, so sieht Aristoteles darin den Widerspruch, daß es dann als Unteilbares einerseits kein Quantitatives wäre, während es ande-
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Wagner (1967: 403): „Man hat daran gedacht, daß j e d e Qualität Grade zuläßt, also Quantität besitzt; oder daß jede Qualität definierbar ist, also in ihre Definitionsmomente auflösbar ist. Aber Ar. lehrt auch, daß physische Qualität nur an einem Ausgedehnten, d.h. an einem räumlich Quantitativen möglich ist. Wäre das Seinsganze unteilbar, so könnte es keine Quantität, folglich auch keine physiche Qualität besitzen - entbehrte also aller physischen Grundbestimmungen." Gershenson/Greenberg (1962: 140, Fn.l und 2): „»being finite«, for Aristotle, is not a quantitative attribute, it merely expresses the quality of being limited." KRS ( 2 1983: 252) weisen darauf hin, daß die Rede von dem „in den Grenzen" bei Parmenides als metaphorische Rede über Bestimmtheit zu verstehen ist.
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rerseits als Unbegrenztes doch ein Quantitatives wäre. Wenn aber das Eine sowohl ein Unteilbares als auch ein Begrenztes sein soll, so wendet Aristoteles demgegenüber ein, daß nicht das Begrenzte, sondern vielmehr die Grenze ein Unteilbares ist. Wenn man aus diesem nun den einzig verbliebenden Ausweg wählt, daß das Eine sowohl ein Unteilbares als auch eine Grenze ist, so impliziert dies letztlich, daß es entgegen der Ansicht der Eleaten doch nicht nur Eines geben kann. Denn in Analogie zu einer άρχή, die eine άρχή von etwas ist (vgl. 185a4-5), erweist sich auch die Grenze immer schon als eine Grenze von etwas, so daß mit der Grenze zugleich die Existenz eines Begrenzten vorausgesetzt ist.92
2.6.2.3 Das dem Begriff nach Eine (τω λόγω έν) Abschließend prüft Aristoteles die dritte Bedeutungsmöglichkeit des ,,έν" als „das dem λόγος nach Eine": Aber wenn alles Seiende dem Begriff nach Eines wäre [εϊ τω λ ό γ ω ε ν τά δ ν τ α πάντα], wie z.B. Gewand und Kleid, so geschieht es ihnen, den heraklitischen Satz zu sagen: Denn dasselbe wäre Gut-sein und Schlecht-sein [ ά γ α θ ω και κ α κ ω ε ΐ ν α ι ] , und Gut-sein und Nicht-gut-sein [ ά γ α θ ω και μή ά γ α θ ω ε ΐ ν α ι ] ; so daß dasselbe gut und nicht gut wäre [ώστε τ α ύ τ ό ν έ σ τ α ι ά γ α θ ό ν κ α ι ο ύ κ ά γ α θ ό ν ] , und [dasselbe] Mensch und Pferd [wäre]. Und die These [ό λ ό γ ο ς ] ginge dann nicht über das Einssein des Seienden [ού περί τοΰ εν ε ί ν α ι τ ά δντα], sondern über das Nichtssein/Nicht-eines-sein [περί τοΰ μηδέν]; und ebenso wären das So-beschaffen-sein und So-viel-sein dasselbe. (1.2, 185bl9-25).
Aristoteles zeigt hier, daß die Eleaten letztlich den heraklitischen λόγος von der Einheit der Gegensätze behaupten würden, wenn sie die Einheit des Seienden im Sinne des „λόγω εν" verstünden. Auf diese Weise ergäbe sich erneut eine Konklusion, die einen Widerspruch zu den eleatischen Prämissen darstellt, bedeutet sie doch eine Verletzung des Principium contradictionis, das die Eleaten ihren Überlegungen als sicheres Prinzip zugrunde legen.93 Daß die Eleaten letztlich den heraklitischen λόγος von der Einheit der Gegensätze behaupten würden, wenn sie die Einheit des Seienden im Sinne des „λόγω έν" verstünden, begründet Aristoteles wie folgt: Wenn alles Seiende in dem Sinne Eines wäre, wie z.B. Kleid und Gewand dem Wesensbegriff nach Eines sind, so wäre auch das Gut-sein und Schlecht-sein Eines (b21-22), weil es dann ja nur einen einzigen Wesensbegriff geben könnte. Folglich wäre auch das Gut-sein und Nicht-gut-sein dasselbe (b22). Diese weitere Konklusion, in der 92
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Vgl. Phys. IV.4, 212a30, wo Aristoteles umgekehrt daraufhinweist, daß mit dem Begrenzten zugleich die Grenzen gegeben sind. Zum Zusammenhang der beiden Begriffe 'Grenze' und 'Prinzip' vgl. auch Met. V.17, 1022al0: „Denn das Prinzip (άρχή) ist eine Grenze, aber nicht jede Grenze ist ein Prinzip." So kann z.B. in dem Satz des Parmenides „daß [es] ist und daß [es] nicht nicht sein kann" (ή μέν οπως έστιν τε και ώς ούκ έστι μή είναι: Frg. Β2, Ζ.3) der erste Versuch einer begrifflichen Fassung des Principium contradictionis gesehen werden.
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das „Schlecht-sein" durch das „Nicht-gut-sein" ersetzt wird, bedeutet eine Zuspitzung der Argumentation, deren Ziel in einer formalen Verletzung des Principium contradictionis liegt, das Aristoteles bekanntlich wie folgt formuliert: Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung (und dazu mögen noch die anderen näheren Bestimmungen hinzugefügt sein, mit denen wir logischen Einwürfen ausweichen) unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann [τό γαρ αύτό αμα ύπάρχειν τε και μή ύπάρχειν αδύνατον τω αϋτω και κατά τό αυτό], das ist das sicherste unter allen Prinzipien. (Met. IV.3, 1005bl9-23; Übers, nach Bonitz)
Die offenkundige Verletzung dieses Prinzips findet sich dann in der weiteren Konklusion „so daß dann dasselbe gut wäre und nicht gut, und [dasselbe] Mensch und Pferd [wäre]" (b22-23) zum Ausdruck gebracht, in der von ein und demselben (ταύτόν) gesagt wird, daß es gut und nicht gut, bzw. daß es Mensch und Pferd (d.h. Nicht-Mensch) sei.94 Die Konklusion besagt somit folgendes: Unter der Voraussetzung, daß alles dem λόγος nach Eines ist, wird einem Gegenstand, sobald ihm etwas zugesprochen wird, damit zugleich auch sein kontradiktorisches Gegenteil zugesprochen, welches bedeutet, daß ihm das zuerst Zugesprochene eigentlich wieder abgesprochen wird. Im Gegensatz zu der von mir vorgeschlagenen Übersetzung des Ausdrucks „ώστε ταύτόν έσται αγαθόν και οϋκ άγαθόν" (185b22-23) durch „so daß ein und dasselbe (Seiende) gut und nicht gut wäre" findet sich in der Sekundärliteratur auch die Übersetzung „so daß dann dasselbe würden »gut« und »nicht-gut«, [••·]" (vgl. Zekl, 1987: 9).95 Der Unterschied zwischen beiden Übersetzungen liegt in folgendem: Sieht die zuletzt genannte Übersetzung in diesem Satz eine Behauptung der Identität der Qualitäten „gut" und „nicht-gut" und somit letztlich nur eine Wiederholung des bereits in b22-23 Gesagten, so sehe ich in dem Satz die Behauptung, daß ein und dasselbe (Ding) gut und nicht gut wäre, welches keine Wiederholung von b22-23 darstellt, sondern sich vielmehr als eine Konklusion aus b22-23 erweist und auf diese Weise dem verknüpfenden Partikel „ώστε" (b22) eher gerecht wird. Daß Aristoteles in b22-23 etwas Neues gegenüber dem zuvor Gesagten anfuhrt, wird auch aus der sprachlichen Formulierung deutlich: Sprach er zuvor vom Gutsein (,,άγαθω είναι": b22) im Sinne einer Qualität, so deutet die Rede vom „έσται άγαθόν" (b22-23) auf eine Prädikation hin. Auch die Ersetzung des ,,μή άγαθω είναι" (b22) durch das ,,οΰκ άγαθόν
95
Nun könnte man zwar einwenden, daß Aristoteles mit dem Beispiel vom „Gut-sein" und „Nicht-gut-sein" kein sehr glückliches Beispiel gewählt habe, da ja ein und dasselbe dem einen als gut, dem anderen aber als nicht-gut erscheinen kann, doch ist hierbei zu bedenken, daß in dem angeführten Falle demselben das Gut-sein und Nicht-gut-sein in verschiedenen Hinsichten (für den einen - für den anderen) zugesprochen wird, so daß hier das Gut-sein und Nicht-gutsein gerade nicht als ein dem λόγος nach Eines verstanden wird. Vgl. auch Prantl (1854: 15: „[...] so daß Gut und Nicht-gut und Mensch und Pferd, Alles das nämliche wäre; [...]"), Wagner (1967: 9: „mit der Folge, daß es zur Identität zwischen Gut und Nichtgut und Mensch und Pferd kommt [...]") und Charlton (1970: 4). Gohlke (1956: 33) läßt diesen Satz in der Übersetzung ganz weg, was darauf hindeutet, daß er in ihm vermutlich nur eine Wiederholung von bereits Gesagtem sieht. Die Übersetzungen von Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 339) und Wicksteed/Comford (1980: 25) entsprechen der von mir vorgeschlagenen Übersetzung.
Die Auseinandersetzung mit den Eleaten
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(έσται)" (b22-23) spricht dafür, daß wir es in b22-23 nicht mit einer Identifikation, sondern vielmehr mit einer Prädikation zu tun haben. Aus dieser Konklusion (b22-23), durch die die Verletzung des Principium contradictionis offenkundig wird, ergibt sich für Aristoteles dann folgende abschließende Beurteilung: „Und die These [ό λόγος]96 ginge dann nicht über das Eins-sein des Seienden [ού περί τοΰ έν είναι τά δντα], sondern über das Nichts-sein/Nicht-eines-sein [περί τοΰ μηδέν]" (b23-24). Der Grund, warum die These der Eleaten dann über das Nichts-sein ginge, ist darin zu sehen, daß dasjenige, das sowohl gut als auch nicht gut ist, gemäß dem Principium contradictionis unmöglich existieren kann. Folglich wäre selbst die grundlegendste Unterscheidung von Parmenides, nämlich die Unterscheidung zwischen Seiendem und Nichtseiendem aufgehoben. Aristoteles verwendet für das „Nichts bzw. Nichtseiende" bewußt das Wort „μηδέν" anstelle des Ausdrucks ,,τό μή δν", da sich das Wort „μηδέν" („nichts") sprachlich aus „μηδέ έν" („auch nicht eines") zusammensetzt und Aristoteles auf diese Weise andeuten kann, daß die Eleaten nicht nur über „Nichts", sondern vor allem auch über „Nicht-Eines" handeln würden, was einen Widerspruch zur Ausgangsprämisse darstellt. Diese Konklusion ergibt sich nicht nur daraus, daß dasjenige, welches gut und nicht gut ist, gemäß dem Principium contradictionis nicht existieren kann und als dieses 'nichts' folglich auch 'nicht eines' wäre, sondern auch daraus, daß dasselbe, wenn alles dem λόγος nach Eines ist, analog zu „gut und nicht-gut" auch „eines und nicht-eines" wäre. Mit anderen Worten: In der Prämisse „alles ist dem λόγος nach eines" ist bereits die widersprüchliche Konklusion enthalten, daß es auch nicht eines ist. In diesem Sinne stellt die These, daß alles dem λόγος nach eines ist, in Analogie zum heraklitischen λόγος vom „πάντα ρε?' einen λόγος dar, der sich selbst zu Fall bringt. In einer weiteren Konsequenz weist Aristoteles daraufhin, daß „auch das Sobeschaffen-sein und So-viel-sein dasselbe wäre" (b25). Die These „alles ist dem λόγος nach eines" würde somit auch kategoriale Unterschiede zwischen Quantitäten und Qualitäten aufheben, so daß die quantitative Behauptung des Melissos vom Unbegrenztsein des Seienden letztlich mit der qualitativen Behauptung des Parmenides vom Begrenztsein des Seienden gleichbedeutend wäre. Hat Aristoteles gezeigt, daß die Annahme „είναι εν τό παν" sowohl hinsichtlich des „öv" als auch hinsichtlich des ,,έν" zu widersprüchlichen Konklusionen führt, so wird er in Kapitel 1.3 zeigen, daß die Eleaten auch fehlerhafte Schlüsse aus dieser Annahme ziehen. Bevor er dazu übergeht, läßt er aber noch eine Bemerkung über die Nachfahren der Eleaten folgen, deren Funktion darin zu sehen ist, daß das in 185bl 1-16 problematisierte Verhältnis von Ganzem und Teil vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, die die Nachfahren mit der eleatischen These bekamen, einer vorläufigen Lösung zugeführt werden soll.
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Gemeint ist die eleatische These von der „absoluten Einheit des Seienden", die auf die dargestellte Weise mit dem heraklitischen λόγος (185b20) zusammenfallen würde.
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2.7 Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten (185b25-186 a3) Bereits die Nachfahren der Eleaten waren sich der mit der eleatischen Annahme verbundenen Schwierigkeiten bewußt und haben verschiedene Lösungswege vorgeschlagen: Die Nachfahren der Alten waren jedoch beunruhigt darüber, daß es ihnen nicht geschehe, daß ein und dasselbe Eines und vieles würde. Deshalb schlossen die einen das Wort »ist« aus, wie z.B. Lykophron, die anderen formten die Redeweise um und [sagten dann] nicht mehr »der Mensch ist weiß«, sondern »er wurde weiß gemacht« [ό άνθρωπος oi> λ ε υ κ ό ς έστιν ά λ λ α λελεΰκωται]; und anstelle von »er ist ein Gehender« »er geht« [ούδέ βαδίζων έ σ τ ί ν ά λ λ α βαδίζει]; [und das alles] damit sie nicht dadurch, daß sie ein »ist« setzen, das Eine zu vielem machen, in der Meinung, daß das Eine oder das Seiende auf einfache Weise gesagt wird. (1.2, 185b25-32)
Die bereits mehrfach angedeutete Spannung zwischen den Begriffen des Einen und Vielen, die Aristoteles in der Bemerkung über das Verhältnis von Ganzem und Teil in aporetischer Form zugespitzt hat, entwickelte sich vor allem für die Nachfahren von Parmenides und Melissos zu einem ernsthaften Problem. Angesichts der Aporien von Einheit und Vielheit galt es, das zweifache eleatische „Erbe" - einerseits die Gültigkeit des Principium contradictions, dem zufolge sie meinten, daß dasselbe nicht zugleich eines und vieles sein könne, und andererseits die eleatische These vom „είναι έν τό παν" - zu bewahren. Zu diesem Zwecke ließen (i) die einen (,,οί μέν": b27), wie z.B. Lykophron,97 das Wort „έστίν" wegfallen, während (ii) die anderen (,,οί δέ": b28)98 die Redeweise (vgl. „την λέξιν") umformten und statt „der Mensch ist weiß/ein Weißer)"99 (ό άνθρωπος λευκός έστιν) nun „er habe sich weiß gemacht/er wurde weiß gemacht" (λελεύκωται) 100 und statt „er ist ein Gehender" (βαδίζων έστίν) nun „er geht" (βαδίζει) sagten. 97 98
99 100
Lykophron war ein Schüler des Gorgias. In Pol. III.9, 1280bl0 nennt Aristoteles ihn „den Sophisten". Aristoteles nennt keine Namen. Von den Interpreten sind verschiedene Vorschlage gemacht worden, wen Aristoteles hier gemeint haben könnte (vgl. Ross, 1936: 469): So denkt Themistius an Piaton (vgl. Sophistes 251b), Philoponus an den sokratischen Menedemus von Eretria, Zeller an die Zyniker und den Megariker Stilpo und Apelt an Antisthenes (den Megariker) und die Eretrier. Der Satz „o άνθρωπος λευκός εστίν" kann im Deutschen sowohl durch (a) „der Mensch ist weiß" als auch durch (b) „der Mensch ist ein Weißer" übersetzt werden. Das Wort „λελεΰκωται" als Perfekt der 3. Pers. Sing., Medium/Passiv des Verbs ,,λευκαίνω" („weiß machen", „weiß färben", „weißen") stellt eine zwar grammatisch korrekt gebildete, jedoch insofern ungewöhnliche Ausdrucksform für die Tatsache, daß ein Mensch weiß ist, dar, als es wörtlich übersetzt bedeutet: „er hat sich weiß gemacht" (vgl. Gohlke (1956: 34) oder „er wurde weiß gemacht". In diesem Sinne übersetzen auch Wagner (1967: 9: „Der Mensch erhielt die weiße Farbe"), Hardie/Gaye (1930: „he has been whitened") und Code (1976 a: 168: „that the man is not [the] white [thing], but rather has-been-whitened, [...]."). Die Obersetzung von „λελεύκωται" als „has-been-whitened" ist von Williams (1985: 75, Fn.13) kritisiert worden, weil sie im Unterschied zum Griechischen aus mehreren Wörtern besteht und zudem auf das Verb „to be" zurückgreift, das die Nachfahren durch die Umformung der Redeweise gerade vermeiden wollten. Williams eigener Übersetzungsvorschlag - „the man whitizes" - scheint mir jedoch aus anderen Gründen ebenso unglücklich zu sein. Zwar spiegelt er gut die Ungewöhnlichkeit der Ausdrucksweise wieder, doch stellt „whitizes" im Gegensatz zu „λελεύκωται" einen Neologismus dar. Zudem unterschlägt Williams mit dem Ausdruck „whitizes" die perfekti-
Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten
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Beide Gruppen stimmen darin überein, daß sie in ihrer Redeweise kein ,,έστίν" mehr verwenden.101 Sie unterscheiden sich jedoch insofern voneinander, als die erste Gruppe das ,,έστίν" ersatzlos streicht - und auf diese Weise grammatisch unvollständige Sätze wie z.B. „Sokrates weiß" und „Sokrates Mensch" erhält -,102 während die zweite Gruppe das ,,έστίν" durch eine andere Verbalform ersetzt. So erhalten sie zwar einen grammatisch korrekten Satz, doch erscheint dieser in der alltäglichen Rede mitunter als ungewöhnlich. Aristoteles sieht den Grund für diese sprachlichen Umformungen bei den Nachfahren darin, daß diese die Sorge hatten, durch das Setzen eines „ist" das Eine zu Vielem zu machen (185b30-31). Nun stellt sich allerdings die Frage, warum ein Satz wie „Σωκράτης λευκός έστιν" das Eine zu Vielem macht, und wie dies durch die sprachliche Umgestaltung „Σωκράτης λευκός" oder „Σωκράτης λελεύκωται" vermieden werden kann? Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Satz „Σωκράτης λευκός έστιν" sowohl als eine einfache Prädikation im Sinne von „Sokrates ist weiß" als auch als eine identifikative Prädikation im Sinne von „Sokrates ist ein Weißer" bzw. „Sokrates ist etwas, was weiß ist" verstanden werden kann. Im zweiten Fall wird Sokrates mit einem Weißen bzw. mit etwas, das weiß ist, gleichgesetzt, und das „έστιν" hat hier eine identifikative Funktion, weshalb es so scheint, als hätte man zwei Dinge, die in einer Relation zueinander stehen: Sokrates und einen Weißen, die aus dem Grunde eine Zweiheit darstellen, da die Ausdrücke „Weißes" und „Sokrates" ihrer Bedeutung nach nicht deckungsgleich sind.103 Durch die Streichung des pro-
101
ve Bedeutung des Ausdrucks „λελεύκωται". Die Verwendung des Perfekts in „λελεύκωται" hat jedoch einen guten Grund. Will man nämlich den Satz „er ist weiß" (λευκός έστιν) mit Hilfe des Verbs ,,λευκαίνω" umformulieren, ohne dabei seinen semantischen Inhalt wesentlich zu verändern, so darf nicht das Präsens, sondern es muß das Perfekt verwendet werden: „er ist weiß" ist nämlich nicht gleichbedeutend mit „er macht sich weiß" oder „er wird weiß gemacht", da im ersten Fall ein „weiß-sein" und im zweiten Fall ein „weiß-werden" prädiziert wird; ein Unterschied, der, wie wir sehen werden, für die aristotelische Physik von zentraler Bedeutung ist: Etwas, das weiß wird, ist ja gerade (noch) nicht etwas, das weiß ist. Verwendet man aber das Perfekt „er wurde weiß gemacht", so steht dies nicht im Widerspruch zu „er ist weiß", sondern es beschreibt gleichsam die Voraussetzung ftlr das „weiß-sein". Auch wenn sich „λελεύκωται" semantisch von „λευκός έστιν" unterscheidet - das eine ist eine Folge aus dem anderen so stehen sie doch zumindest nicht im Widerspruch zueinander. Aus diesen Gründen scheint mir die angemessenste Übersetzung für „λελεύκωται" „er wurde weiß gemacht" zu sein (vgl. auch Barnes' Vorschlag (1982: 255): „Socrates has paled."). In den MSS findet sich anstelle des von Philoponus, Simplicius und Themistius vorgeschlagenen „λελεύκωται" das Partizip ,,λελευκωμένος". Daß hier jedoch eher „λελεύκωται" stehen muß, wird aus dem zweiten Beispiel „βαδίζων" deutlich, wo ein Partizip j a gerade aus dem Grunde ersetzt wird, weil es ein έστίν impliziert. Zekls Übersetzung (1987: 11) der Beispielsätze mit Hilfe der Neologismen „er weißt" - vgl. auch Prantls (1854: 15) Variante „er bleicht" - und „er wegt" ist deshalb unangemessen, weil die griechischen Formen „λελεύκωται" und,βαδίζει" selbst keine Neologismen darstellen. Vgl. Ross (1936: 469), der daraufhinweist, daß Lykophron den Ausführungen des Themistius (Paraphrase 6. 28) zufolge das „ist" nur in Existenzaussagen wie z.B. in „Σωκράτης ϊστιν" erlaubte, nicht aber im Sinne der Kopula: Statt „Σωκράτης λευκός έστιν" erhalten wir nun „Σωκράτης λευκός" (vgl. auch Wagner, 1967: 404). (Derartige Prädikationen ohne Kopula finden sich z.B. in der russischen Sprache: vgl. „S H6MCU" - „ich bin Deutscher"). Vgl. auch Code (1976 a: 168): „The ancient thinkers to whom he [Aristoteles] refers us endorsed the practice of reparsing because they thought that the word „is" (έστι) expressed a binary relation between two objects, and apparently were construing that relation as one which could only hold between two objects if they were the same object." Williams (1985: 75 f.) be-
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blematischen Ausdrucks ,,έστιν" bzw. durch dessen Ersetzung durch ein finites Verb meinten die Nachfahren der Eleaten, diese Problematik vermeiden zu können. Dem hält Aristoteles nun entgegen: Das Seiende aber ist eine Vielheit [πολλά δέ τά δντα] entweder dem Begriffe nach [λόγω] (wie z.B. Weißsein und Gebildetsein verschieden sind, jedoch kann ein und dasselbe beides sein; also ist das Eine vieles) oder der Teilung nach [διαιρέσει], wie z.B. das Ganze und [seine] Teile. (1.2, 185b32-34)
Mit der Entgegnung, daß das Seiende eine Vielheit ist (πολλά δέ τά δντα) greift Aristoteles den Ausgangspunkt der Nachfahren an, nämlich die Annahme, daß das έν und das öv nur auf einfache Weise gesagt werden (b31 -32). Aristoteles begegnet dieser Annahme mit dem Hinweis, daß ein und dasselbe Seiende in sich eine Vielheit darstellen kann, und zwar entweder (a) dem Begriff (λόγω) oder (b) der Teilung nach (διαιρέσει), wobei er für beides ein Beispiel anführt: (a) So sind Weißsein und Gebildetsein - bzw. das Sein für Weiß (τό λευκώ είναι) und das Sein für Gebildet (τό μουσικω είναι) - verschieden, wobei hier nicht eine kategoriale Verschiedenheit des Seins (wie zwischen ουσία und ποιόν), sondern eine semantische Verschiedenheit zweier Eigenschaften gemeint ist. Diese Verschiedenheit wird daraus ersichtlich, daß nicht alles, was weiß ist, auch gebildet sein muß und umgekehrt. Trotz dieser Verschiedenheit kann ein und dasselbe dennoch sowohl weiß (Weißes) als auch gebildet (Gebildetes) sein, woraus folgt, daß ein Seiendes (z.B. Sokrates) vieles (z.B. weiß und gebildet) sein kann (b33-34). (b) Aber auch der (materiellen) Teilung nach (διαιρέσει) ist das Seiende vieles; nämlich als ein Ganzes, das aus vielen Teilen besteht. Hier aber gerieten sie in Schwierigkeiten und stimmten zu, daß das Eine Vieles ist als ob es nicht möglich wäre, daß ein und dasselbe sowohl eines als auch vieles ist, nur nicht Widersprechendes. Denn das Eine existiert sowohl der Möglichkeit wie der Wirklichkeit nach. (1.2, 185b34-186a3).
Mit der Hinzufügung „nur nicht Widersprechendes", womit gemeint ist, daß ein und dasselbe nicht zugleich und in derselben Hinsicht z.B. sowohl ein Gebildetes als auch ein Ungebildetes sein kann, betont Aristoteles ausdrücklich, daß Einheit und Vielheit nicht notwendigerweise einen Widerspruch darstellen müssen, sofern man zwischen verschiedenen Hinsichten (der Möglichkeit nach - der Wirklichkeit nach) differenziert. Nachdem die Nachfahren also zugestimmt haben, daß das Eine vieles ist, scheint die unmittelbar folgende Einschränkung „als ob es nicht möglich wäre, daß dasselbe Eines und Vieles ist" zunächst keinen Sinn zu ergeben. Ross (1936: 470), der diese Schwierigkeit sieht, schlägt folgende Lösung vor: Seiner Ansicht zufolge ist nach dem „ ε ί ν α ι " (al) eine Pause zu setzen und das nachfolgende ,,ώσπερ ούκ ένδεχόμενον..." (al-3) nicht, wie der Text nahelegt, auf das
merkt in diesem Zusammenhang: „The thinkers Aristotle is criticizing may have been like Russell, who thought it was 'a disgrace to the human race' that it used the same word 'is' to express, amongst other things, both predication and identity; and they may have wished to scrap the copulative or predicative use of'be' altogether, to avoid the possibility of equivocation."
Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten
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,,ώμολόγουν" (al), sondern auf das ,,ήπόρουν" (al) zu beziehen, so daß sich folgender Sinn ergibt: 'But at this point they began to be in difficulties, and to admit (in view o f the facts) that the same thing is one and many (though they thought this absurd in view o f their assumptions) - as if there were any real difficulty in the same thing's being one and many, provided it is not the one and many that are opposed to one another; a thing may be actually one and potentially many' (i.e. divisible into many parts).
Diese Lösung erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen als unbefriedigend. Denn einerseits bezieht sich das ,,ώσπερ ούκ ένδεχόμενον..." offensichtlich auf das ,,ώμολόγουν", und andererseits kann ein Zustimmen der Nachfahren gegen ihre Überzeugung wohl kaum noch als ein „Zustimmen" bezeichnet werden.104 Die Lösung dieser Schwierigkeit ist vielmehr in dem Satz ,,τό εν πολλά είναι" (186al) zu sehen, den Ross offenkundig als gleichbedeutend mit dem Satz ,,ταύτόν εν τε καί πολλά είναι" (186a2) betrachtet.'05 Schaut man aber genauer hin, so wird deutlich, daß beide Sätze einen unterschiedlichen Sinn haben: Während der Satz ,,ταύτόν έν τε καί πολλά είναι" (186a2) den Standpunkt von Aristoteles wiedergibt - nämlich den Gedanken, daß dasselbe sowohl eines als auch vieles ist -, stellt der Satz ,,τό έν πολλά είναι" (186al) diejenige These dar, der die Nachfahren schließlich zustimmten - nämlich die These, daß das Eine vieles ist, und zwar in dem Sinne vieles, daß es nicht zugleich noch eines ist (bzw. in dem Sinne, daß es nur Vieles ist). Der Unterschied zwischen beiden Sätzen kommt sprachlich in dem ,,τε καί" zum Ausdruck, das in dem Satz 186al fehlt. Vor diesem Hintergrund bereitet das ,,ώσπερ ούκ ένδεχόμενον..." nun insofern keine Probleme mehr, als Aristoteles an besagter Stelle folgendes zum Ausdruck bringt: „Die Nachfahren gerieten an diesem Punkt in Aporien und räumten ein,106 daß das Eine [nicht mehr Eines, sondern nur] Vieles ist - als ob es nicht möglich ist, daß dasselbe sowohl Eines wie Vieles ist." Mit anderen Worten: Aufgrund der angeführten Probleme - womit vor allem das Problem des Verhältnisses von Teil und Ganzem gemeint ist'07 - kamen die Nachfahren schließlich zu dem Ergebnis, daß eine der beiden Grundannahmen entweder (a) das Principium contradictionis oder (b) das „είναι έν τό πάν" 104
Den letzten Punkt betont auch Gigon (1966: 142 f), der davon ausgeht, daß der Text an dieser Stelle durch einen Redaktor verdorben wurde und keine Äußerung von Aristoteles darstellt. Er übersetzt den ersten Satz mit „that the same thing is one and many" (S. 470), obgleich von einem „selben Ding" („same thing") hier noch gar keine Rede ist. Ebenso scheinen auch Hardie/ Gaye (1930), Wagner (1967: 9), Gohlke (1956: 34), Carteron ( 2 1952: 33), Gershenson/Greenberg (1962: 141) und Wicksteed/Comford (1980: 27) keinen Unterschied zwischen beiden Sätzen zu sehen; zumindest hat keiner der Interpreten explizit auf einen Unterschied der beiden Satze aufmerksam gemacht. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist das ,,ώμολόγουν" eher als „sie gestanden zu" bzw. „sie räumten ein" zu übersetzen, da die Obersetzung „sie stimmten zu" den Eindruck erwecken könnte, daß sie der aristotelischen Ansicht zustimmen würden, was sie faktisch gerade nicht tun. Aristoteles fügt das ,,ένταΰτα δέ ήδη ήπόρουν" unmittelbar an das Beispiel von Teil und Ganzem an. Haben die Nachfahren hinsichtlich der begrifflichen Vielheit noch eine Lösung durch die Umformung der Redeweise versucht, so gerieten sie bei der Problematik von Teil und Ganzem vollends in Aporien.
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aufgegeben werden müsse. 108 Um das Principium contradictionis zu bewahren, das sie in einem gleichzeitigen Bestehen von etwas als Einheit und Vielheit verletzt sahen, gaben sie die Annahme „είναι εν τό παν" auf und wechselten zu der dieser konträren Position „είναι πολλά τά πάντα" über. Auf eben dieses Überwechseln zur konträren Position richtet Aristoteles seine Kritik durch das „als ob es nicht möglich wäre ...", so daß er hier emeut den Mittelweg zwischen zwei einander konträren Positionen („es gibt nur eines" - „es gibt nur vieles") als den richtigen Lösungsweg skizziert. Die vorgelegte Interpretation des Satzes ,,τό έν π ο λ λ ά είναι" (186al) im Sinne von „das Eine ist Vieles [und nicht mehr Eines]" läßt sich auch durch einige Überlieferungen stützen, in denen den eleatischen Denkern Melissos und Zenon Gedanken zugeschrieben werden, die die Nachfahren letztlich zur Entscheidung gefuhrt haben könnten, daß das Eine nur noch Vieles sei. So wird Melissos in der pseudo-aristotelischen Abhandlung „De Melisso, Xenophane, Gorgia" der Gedanke zugeschrieben, daß ein „ungleiches Eines" nicht mehr Eines, sondern vieles wäre. 109 In bezug auf Zenon finden sich folgende Gedanken überliefert, die Simplicius zu der Ansicht führten, daß Eudemus der Auffassung war, Zenon habe mit ihnen gar den Monismus der Eleaten angegriffen: 110 [1] Alexander [von Aphrodisias, 2. Jh. n. Chr.] sagt, das zweite [von Aristoteles an einer »Physik«-Stelle erwähnte] Argument, d.h. jenes aufgrund der Zweiteilung, stamme von Zenon. Dieser behaupte, daß, wenn das, was ist, Ausdehnung hat und geteilt wird, das, was ist, Vieles und nicht mehr Eines sein wird [πολλά τό δν και ούχ εν ετι εσεσθαι], und erhärte mit dieser Behauptung, daß das Eine nicht zu den seienden Dingen gehöre [oder: daß keines der seienden Dinge »eins« ist]. Alexander scheint jedoch seine Annahme, daß Zenon das Eine abschaffe, den Ausführungen des Eudem entnommen zu haben. (Simplikios in Phys. 138,3ff., 138,29ff.; vgl. Eudemos fr.37a Wehrli; Übers, nach Mansfeld) [2] Man sagt [so der Aristotelesschüler Eudemos, der sich dem Wortlaut nach auf mündliche Uberlieferungen beruft], Zenon habe behauptet, wenn irgend jemand ihm erkläre, was das Eine sei, so wäre er imstande, über die seienden Dinge [die Wahrheit] auszusagen. Sein Problem war anscheinend, daß von jedem Einzelnen der wahrnehmbaren Dinge vieles ausgesagt werden kann im Sinne der kategorialen Bestimmungen [dieses Argument der aristotelisch-kategorialen Vieldeutigkeit geht nicht auf Zenon zurück], wie es auch als Vieles angesprochen werden kann aufgrund der Teilung, während er andererseits den Punkt als Nichts [varia lectio: nicht eins]
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Der Interpretation von Ross zufolge würden die Nachfahren - ihrem Selbstverständnis zufolge letztlich auch das Principium contradictionis und somit beide Grundannahmen aufgeben, da sie ja noch nicht in der Lage waren, zu verstehen, wie es möglich ist, daß etwas, das zugleich eines und vieles ist, nicht eine Verletzung des Principium contradictionis darstellt. Vgl. Melissos, Frg. DK 30A5 (M.X.G., 974al2-14): „Wenn es aber eines sei, müsse es nach allen Seiten gleich sein [όμοιον είναι]. Wenn es nämlich ungleich wäre [άνόμοιον], wären es mehrere Seiende und nicht mehr Eines, sondern Vieles [πλείω οντα ούκ αν 'έτι εν εϊναν, ά λ λ α πολλά]." Vgl. Eudemus αρ. Simplikion in Phys. 97, 12 (DK 29A16) und Simplikios in Phys. 99, 7 (DK 29A21). Vgl. dazu KRS ( 2 1983: 278-9, Fn.2), die diese Einschätzung der Auffassung von Eudemus für nicht wahrscheinlich halten und der alternativen Eudemus-Interpretation von Alexander den Vorzug geben (vgl. Simplikios in Phys. 97, 13 (DK 29 A21)), der zufolge Eudemus Zenon nur die Ansicht zuschrieb, man könne keine kohärente Darstellung der Einheiten geben, aus denen eine Vielheit vermutlich bestehen muß.
Eine Anmerkung über die Nachfahren der Eleaten
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ansetzte: denn etwas, das weder größer mache, wenn hinzugefügt, noch kleiner, wenn abgezogen, gehöre seiner Überzeugung nach nicht zu den seienden Dingen. (Simplikios in Phys. 97,12ff. = 138,32ff.; vgl. Eudemos fr.37a Wehrli (DK 29A16, A21); Übers, nach Mansfeld) 111 [3] An dieser [Eudemos-] Stelle scheint das Argument Zenons verschieden zu sein von dem in seinem Buch enthaltenen, das auch Piaton in seinem »Parmenides« erwähnt. Dort zeigt er [Zenon] nämlich, daß Vieles nicht ist, e contrario die Aussage des Parmenides, daß Eins ist, stützend. Hier aber, wie Eudemos sagt, schafft er auch das Eine [die Eins] ab (denn er spricht über den Punkt im selben Sinne wie über die Eins) und läßt gewähren, daß Vieles ist. Alexander jedoch glaubt, daß Eudemos auch hier über Zenon als über einen, der das Viele abgeschafft habe, spricht. »Denn«, sagt er, »wie Eudemos berichtet, versuchte Parmenides' Schüler Zenon zu zeigen, daß es nicht möglich ist, daß die seienden Dinge viele sind, indem nichts unter den seienden Dingen eins ist, wenn andererseits das Viele eine Mannigfaltigkeit von Einheiten bildet.« (Simplikios in Phys. 99,7ff.; vgl. Eudemos fr.37a Wehrli (DK 29A21); Übers, nach Mansfeld) Die angeführten Textstellen machen deutlich, daß Zenon den Ausführungen des Eudemos zufolge die Begriffe von 'Einheit' und 'Vielheit' als strenge Alternativen betrachtet hat. Da die Nachfahren der Eleaten dieser strengen Alternative von Einheit und Vielheit zustimmten," 2 konnten sie in der gleichzeitigen Existenz von etwas als sowohl Einheit wie auch Vielheit nur eine Verletzung des Principium contradictionis sehen. Daß dasselbe sowohl eines als auch vieles sein kann, ohne daß dies eine Verletzung des Principium contradictionis bedeutet, begründet Aristoteles damit, daß „das Eine sowohl der Möglichkeit wie auch der Wirklichkeit nach existiert" (186a3). Charlton verdeutlicht diesen Gedanken wie folgt: Aristotle's remark, 186 a3, that a thing may be one in possibility or in actuality, may be illustrated thus: a cake which has not been cut is one thing in actuality but several slices in possibility; bricks which have not yet been built into a house are several things in actuality but one thing in possibility. (Charlton, 1970: 59) Neben den bisherigen Argumenten macht auch diese Differenzierung zwischen den Hinsichten von Möglichkeit und Wirklichkeit abschließend betrachtet deutlich, daß es Aristoteles in seiner Auseinandersetzung mit den Eleaten weniger um den Nachweis geht, daß es viele selbständige Dinge gibt, als vielmehr um den Nachweis, daß ein einzelnes Seiendes, das für sich betrachtet eine Einheit darstellt, dennoch zugleich auch eine Vielheit darstellen kann." 3 Diese Betonung des Aspekts der inneren Vielheit eines Einheitlichen findet seinen Grund ver111
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'13
Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Phys. 1.2, 185b32-34, wo es in einer auffallenden Parallele zu dem angeführten Eudemos-Fragment heißt, daß etwas sowohl dem Begriff (λόγω) als auch der Teilung (διαιρέσει) nach vieles ist (vgl. 185b32-34). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bames (1982: 253-6). Nebenbei bemerkt hat Prauss (1966: 124 f.) überzeugend dargelegt, daß der Eleatismus als strenge Alternative von Einheit und Vielheit auch noch in der frühen Ideenlehre Piatons eine zentrale Rolle spielt. Dem von Aristoteles in den Vordergrund gestellten Aspekt der inneren Vielheit eines Einheitlichen werden wir ebenfalls in Kapitel 1.3 begegnen. So spricht Aristoteles in der die Auseinandersetzung mit den Eleaten abschließenden Konklusion ,,οτι μεν ο ΰ ν ο ϋ τ ω ς εν ε ί ν α ι χό δν α δ ύ ν α τ ο ν , δήλον" ( 1 8 7 a l 0 - l 1) vom ,,δν" bezeichnenderweise auch im Singular.
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Physik I. 2: 'Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern'
mutlich darin, daß fllr Aristoteles gerade die innere Vielheit eines Einheitlichen eine Bedingung für die Möglichkeit von Bewegung darstellt. Insbesondere für die Möglichkeit einer Eigenschaftsveränderung ist dieser Aspekt der inneren Vielheit eines Einheitlichen bei Aristoteles von zentraler Bedeutung. Denn ein Mensch, der zugleich auch ein Ungebildeter ist, kann doch gerade aufgrund der Tatsache, daß er ein Mensch und ein Ungebildeter ist, zu einem Gebildeten werden und dabei doch Mensch bleiben (vgl. 1.7, 190a9-13). Gerade die von Aristoteles entdeckte ontische Differenz von Ding und Eigenschaft, die den Eleaten und deren Nachfahren noch unbekannt war, eröffnet zugleich die Möglichkeit, von etwas sowohl als Einheit als auch als Vielheit zu sprechen.
3. Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' 3.1 Eine Vorbemerkung zu einer er is tischen Argumentation
(186a4-10)
Wenn man also auf diese Weise herangeht, erscheint es als unmöglich, daß das Seiende [ τ α ο ν τ α ] [nur] Eines ist, und es ist nicht schwierig, aufzulösen, woraus sie ihre Beweise führen. Denn beide, sowohl Melissos wie Parmenides, ziehen ihre Schlüsse [ σ υ λ λ ο γ ί ζ ο ν τ α ι ] auf eristische Weise (denn sie machen falsche Annahmen und ihre Argumentationen sind nicht schlüssig [ ά σ υ λ λ ό γ ι σ τ ο ί ε ί σ ι ν ] . Besonders plump aber ist die des Melissos und sie beinhaltet keinerlei Schwierigkeit, sondern wenn nur eine einzige Widersinnigkeit zugegeben wird, so folgt das Übrige. Dies aber ist nichts Schwieriges.) 1 (1.3, 186a4-10)
Mit dem Hinweis, daß es unmöglich erscheint, daß das Seiende nur2 Eines ist, faßt Aristoteles das Ergebnis der bisherigen Untersuchung zusammen. Ging es bisher um den Nachweis der Falschheit der eleatischen Annahme, so gilt es nun, zu zeigen, daß auch die Schlüsse, die die Eleaten aus dieser Annahme gezogen haben, fehlerhaft sind. Ein Grund für die Behandlung der fehlerhaften Schlüsse besteht darin, daß sich die These der Unbewegtheit des Seienden, die als zweites Moment neben der absoluten Einheit des Seienden der Grundannahme (185al214) widerspricht, bei den Eleaten - wie wir sehen werden - als Konklusion aus der Annahme der absoluten Einheit des Seienden ergibt. Daß die eleatischen Argumentationen eristisch (έριστικώς: 186a6) sind, begründet Aristoteles damit, daß sie sowohl falsche Prämissen annehmen als auch auf fehlerhafte Weise aus diesen falschen Prämissen schließen. Vergleichen wir dies mit den Bemerkungen, die Aristoteles in Top. 1.1, 100b23-101a4 3 über einen „eristischen Schluß" ausführt, so haben wir es hier mit dem dort an zweiter Stelle angeführten eristischen Schluß zu tun, der auf wahrscheinlichen oder scheinbar wahrscheinlichen Sätzen zu fußen scheint: Ein eristischer Schluß (Streitschluß) aber ist ein solcher, der auf nur scheinbar, nicht wirklich wahrscheinlichen Sätzen fußt, und ein solcher, der auf wahrscheinlichen oder scheinbar wahrscheinlichen Sätzen zu fußen scheint. [...] Der erste der genannten eristischen Schlüsse möge auch Schluß heißen, der andere immerhin eristischer
2
3
Zur Problematik dieser „doppelten" Textstelle vgl. die Anmerkungen zu 1.2, 185a9-12 auf S. 45, Fn. 15. Das „nur" ist hier sinngemäß zu ergänzen, denn Aristoteles hat ja gezeigt, daß das Seiende sehr wohl Eines sein kann, nur nicht ein Eines, das die Möglichkeit einer jeglichen Form von Vielheit ausschließt. Vgl. auch Soph. El. 2, 165b7-8.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' Schluß, aber nicht Schluß, da er zwar dem Scheine nach schließt, aber nicht wirklich. (Übers, nach Rolfes)
Exkurs: Die Unbewegtheit des Seienden als Folge der These „είναι έν τό παν" Daß die Eleaten ihre These von der Unbewegtheit des Seienden4 als Folge der Annahme „είναι έν τό πάν" verstanden, kann aus einer Betrachtung des in ihren Fragmenten Überlieferten verdeutlicht werden. Hierbei wird deutlich werden, daß Melissos die Unbewegtheit des Seienden vor allem aus dessen 'Einsheit' (έν) folgen läßt, während sich die Unbewegtheit des Seienden für Parmenides vor allem aus dessen 'Seiendheit' (öv) ergibt. Betrachtet man die Fragmente von Melissos, so gewinnt man den Eindruck, daß wir es mit einer Kette aufeinanderfolgender Konklusionen in Form einer „Deduktion der in der Existenz implizierten Eigenschaften"5 zu tun haben, die im Hinblick auf das Unbewegtsein des Seienden folgende Gestalt hat: (1) (2) (3)
(4) (5) (6)
Wenn es ein Seiendes ist (öv), dann ist es nicht geworden (ουκ έγένετο); es war immer und wird immer sein. [Frg. DK 30B1] Wenn es nicht geworden ist (ούκ έγένετο), dann hat es keinen Anfang (αρχή) und kein Ende (τελευτή). [Frg. DK 30B2] Wenn es keinen Anfang (αρχή) und kein Ende (τελευτή) hat, dann ist es (zeitlich und räumlich) unbegrenzt (άπειρον). [Frg. DK 30B2, DK 30B3, DK 30B4] Wenn es unbegrenzt ist (άπειρον), dann muß es Eines (εν) sein. [Vgl. Frg. DK 30B6] Wenn es Eines ist (έν), dann muß es nach allen Seiten gleich (δμοιον) sein. [Frg. DK 30A5] Wenn es Eines (έν) ist als Gleiches (δμοιον), dann gibt es kein Einbüßen, kein Größerwerden, kein Umgestaltetwerden, kein Erleiden und kein Anderswerden. [Frg. D K 3 0 B 7 ] . 6
Zudem findet sich bei Melissos folgendes Argument für die Unbewegtheit des Seienden: (Γ) (2')
Wenn es ein Seiendes (öv) ist, dann ist es voll (πλέων) und nicht leer (οΰδέ κ ε ν ε ό ν έστιν). Wenn es voll (πλέων) ist, dann ist es nicht bewegt (οΰδέ κινείται), [vgl. Frg. DK 30B7]
Die Darstellung macht deutlich, daß sich das Unbewegtsein des einen Seienden bei Melissos in einer Folge von Deduktionen einerseits unmittelbar aus dem 'Einssein' des Seienden (im Sinne des „δμοιον έν") und andererseits unmittel4
Zur Unbewegtheit des Seienden vgl. Melissos, Frg. DK 30B1, DK 30B7 und Parmenides, Frg. DK 28B8. Vgl. KRS ( 2 1983: 393): „deduction of the properties entailed by existence". Frg. DK 30B7: „και οϋτ' αν άπολλύοι τι οΰτε μείζον γίνοιτο ούτε μετακοσμέοιτο οϋτε άλγεΐ οϋτε άνιάται· ει γάρ τι τούτων πάσχοι, ούκ αν έτι εν εϊη. εί γάρ έτεροιοΰται, ανάγκη τό έόν μή όμοΐον είναι, άλλά άπόλλυσθαι τό πρόσθεν έόν, τό δέ ούκ έόν γίνεσθαι."
Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
87
bar aus dem 'Vollsein' (πλέων) des Seienden ergibt. Mittelbar hingegen folgt das Unbewegtsein des Seienden insofern aus dem 'Seiendsein', als das 'Seiendsein' die oberste Prämisse der gesamten Deduktion darstellt, aus der sich sowohl das 'Einssein' als auch das 'Vollsein' des Seienden ergibt.7 Auch bei Parmenides ergibt sich das Unbewegtsein des Seienden als eine Folge aus dem „είναι έν τό παν", wobei jedoch im Unterschied zu Melissos nicht das 'Einssein', sondern das 'Seiendsein' die unmittelbare Prämisse darstellt, aus der das Unbewegtsein folgt: (1)
(2)
Wenn es ein Seiendes (öv) ist, dann kann es weder gewachsen/entstanden sein (αΰξηθέν, άρξάμενον, γενέσθαι) noch untergehen (ολλυσθαι). [Frg. DK 28B8, Z.5-21] Wenn es weder entstehen noch vergehen kann, dann existiert es „unbeweglich in den Grenzen großer Fesseln" (άκίνητον μ ε γ ά λ ω ν έ ν πείρασι δεσμών). [Vgl. Frg. DK 28B8, Z.26-31]
Parmenides schließt aus der Tatsache, daß es ein Seiendes ist, darauf, daß es unbewegt (άκίνητον) sein muß. Bewegung würde nämlich das Vorhandensein eines irgendwie „Nichtseienden" voraussetzen und somit 'etwas', das nach Ansicht von Parmenides im Gegensatz zum Seienden steht und gar nicht denkbar ist. „Werden" scheint von Parmenides als Gegensatz zum „Sein" begriffen zu werden.8
3.2 Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
(186al0-22)
Im Anschluß an seine methodische Vorbemerkung, die in einer Differenzierung der falschen Annahmen und fehlerhaften Schlüsse besteht, beginnt Aristoteles seine Untersuchung der ungültigen Schlüsse in bezug auf Melissos, da sich bei ihm sehr deutlich zeigt, daß er auf fehlerhafte Weise geschlossen hat (186a810):9
7
8
Zur Darstellung der Gedanken von Melissos in einer deduktiven Kette vgl. auch Barnes (1982: 181): „(A) Ο exists. [...]: (ΤΙ) Ο is ungenerated, [...]: (T2) Ο is eternal, [...]: (T3) Ο is temporally unlimited. [...]: (T4) Ο is spatially unlimited. [...]: (T5) Ο is unique. [...]: (T6) Ο is homogeneous. [...]: (T7) Ο does not alter, [...]: (T8) Ο is not destroyed, (T9) Ο does not grow, (T10) Ο is not rearranged, ( T i l ) Ο does not suffer pain, and: (T12) Ο does not suffer anguish. [...]: (T13) Ο is not empty, [...]: (T14) Ο is full. [...]: (T15) Ο does not move, and: (T16) Ο is not dense or rare. [...]: (T 17) Ο is not divided up." Vgl. auch Ross (1936: 472): „Melissus had evidently argued: If there is only one thing, τό öv, it cannot move, for in order to move it must have a space other than itself to move into." Vgl. KRS (21983: 251): „Lines 26-28 [Frg. 8] suggest the following argument: (1) It is impossible for what is to come into being or to perish. So (2) it exists unchangeably within the bonds of a limit. It is then natural to read lines 29-31 as spelling out the content of (2) more fully. So construed, they indicate a more complex inference from (1): (2a) it is held within the bonds of a limit which keeps it in on every side. So (2b) it remains the same and in the same place and stays on its own." Diese negative Beurteilung der Leistungen von Melissos gegenüber denen von Parmenides findet sich bei Aristoteles auch an anderen Stellen: Vgl. Phys. 1.2, 185al0-12; 1II.7, 207al5 und Met. 1.5, 986b25 f.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' Daß also Melissos fehlerhaft schließt [οτι μεν 1 0 οΰν παραλογίζεται], ist offenkundig. (1.3, 1 8 6 a l 0 - l 1)
Aristoteles wird die fehlerhaften Schlüsse des Melissos, die von Aristoteles - wie die verknüpfenden Partikel „είτα" (al3) und „έπειτα" (al6, al8) andeuten - als zusammenhängend betrachtet werden, im folgenden aufzeigen.
3.2.1 „Wenn alles Gewordene eine αρχή hat, so hat das Nicht-Gewordene keine" Denn er glaubte, erhalten zu haben [εϊληφέναι], 1 1 daß, wenn alles Gewordene einen Anfang hat [το γ ε ν ό μ ε ν ο ν εχει άρχήν απαν], dann das Nicht-Gewordene [τό μή γενόμενον] keinen Anfang hat. (1.3, 186al 1-13)
Aristoteles' erstes Beispiel für einen Fehlschluß bei Melissos ist das Beispiel einer ungültigen Konversion.12 Aus » q" folgt zwar „-• p", nicht aber folgt „-• p - > ^ q", wie Melissos nach Ansicht von Aristoteles offenkundig meint.13 Diese falsche Konversion führt Aristoteles auch in Soph. El. 28, 181a27-30 in bezug auf Melissos an, wobei er dort zudem daraufhinweist, daß Melissos hieraus geschlossen habe, daß die Welt (das Ganze) - wenn ungewor-
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Das ,,μέν" (alO) findet sein ergänzendes ,,δέ" in 186a22, wo die Untersuchung der fehlerhaften Schlüsse bei Parmenides beginnt. Das Wort „εϊληφέναι" bedeutet hier „eine Konklusion erhalten". Gemeint ist, daß Melissos glaubte, aus der Prämisse „alles Gewordene hat eine άρχή" zur Konklusion „das Nicht-Gewordene hat keine άρχή" übergehen zu können. Vgl. auch Ross (1936: 470), der daraufhinweist, daß „λαμβάνειν" normalerweise zwar die 'Annahme von Prämissen', und nicht das 'Ziehen einer Konklusion' meint, doch kann es auch für den Erwerb von Sätzen durch Schlüsse stehen, die als Prämissen für weitere Schlüsse fungieren (vgl. Phys. 216a6, An. pr. 24bl0, An. post. 79b27, Top. 100a29, 155b26). Daß die Konklusion „das Nicht-Gewordene hat keine άρχή" als Prämisse für weitere Schlüsse fungiert, wurde bereits in der Darstellung der deduktiven Gedankenfolge bei Melissos deutlich. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Soph. El. 28, 181a27-30. Obgleich die logische Operation einer Konversion nicht mit einem Syllogismus gleichzusetzen ist, spricht Aristoteles in bezug auf die Eleaten doch von ,,έριστικώς συλλογίζονται" (186a6) (vgl. auch 1.2, 185al0: ,,άσυλλόγιστοι εϊσιν"). Dies findet seinen Grund vermutlich darin, daß die ungültige Konversion in einem größeren Argumentationszusammenhang zu sehen ist, wie dies bereits durch die Rekonstruktion der Gedanken des Melissos in Form einer deduktiven Kette nahegelegt wurde. Gigon (1966: 145) ist der Ansicht, daß dieses Beispiel nur zusammen mit dem zweiten Beispiel verständlich wird, da sich das „abschätzige οϊεται εϊληφέναι" aus dem ersten Beispiel allein nicht erklären läßt. Wenn man nämlich den Begriff der άρχή hier im Sinne eines zeitlichen Anfangs versteht, so liegt eine These vor, die nach Ansicht von Gigon „auch von Aristoteles her schwer zu bestreiten ist". Gigon scheint jedoch zu übersehen, daß es hier nicht primär um die Frage geht, ob die Konklusion „daß das Nicht-Gewordene keine άρχή hat" wahr oder falsch ist; vielmehr geht es Aristoteles um die Frage, wie Melissos zu dieser Konklusion gelangt. Und dies geschieht offenkundig durch eine ungültige Konversion. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Barnes (1982: 196): „Those who are schooled in formal logic, and acquainted with the complexities of the conditional, may despise Melissus for committing so gross a blunder. But the logic of conditionals is remarkably difficult to apprehend; in particular, it is easy to reason that if Ρ implies not-ζ), then not-/' cannot also imply not-ζ? and so must imply Q."
D i e ungültigen Schlüsse bei M e l i s s o s
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den - auch unbegrenzt (άπειρον) sei.' 4 Aristoteles bezieht sich mit dieser falschen Konversion vermutlich auf das Fragment DK 30B2,' 5 wo Melissos, nachdem er in Fragment DK 30B1 gezeigt hat, daß (jedes) öv ein Nicht-Gewordenes sein muß, dafür argumentiert, daß es als Nicht-Gewordenes auch keinen Anfang (άρχή) und kein Ende (τελευτή) habe und mithin unbegrenzt (άπειρον) sein müsse. Als Begründung dafür, daß es als Nicht-Gewordenes keinen Anfang und kein Ende habe, führt Melissos folgendes Argument an: „Wenn es nämlich geworden wäre, hätte es eine άρχή" (εί μέν γαρ έγένετο, αρχήν άν εΐχεν: Frg. DK 30Β2). Melissos scheint somit von der Behauptung, daß jedes Gewordene eine ά ρ χ ή habe, zu der Behauptung, daß das Nicht-Gewordene keine άρχή habe, überzugehen, welches einen unzulässigen Schluß darstellt. Die in Fragment DK 30B2 erwähnten Begriffe „άρχή" und „τελευτή" sind - wie der Kontext deutlich macht („weil es also nicht wurde, sondern ist, war es immer und wird es immer sein und hat keinen Anfang und kein Ende") - primär in einem temporalen Sinne als „zeitlicher Anfangspunkt" und „zeitlicher Endpunkt" zu verstehen (vgl. Barnes, 1982: 195). Zu welchem Zweck weist Aristoteles hier jedoch in bezug auf Melissos darauf hin, daß er falsch konvertiert habe? Wenn man annimmt, daß es Aristoteles nicht allein darum geht, bei Melissos beliebige Fehlschlüsse aufzuzeigen, nur um gleichsam dessen Unvermögen in bezug auf logisch korrekte Operationen unter Beweis zu stellen, so drängt sich die Frage nach einem gemeinsamen Merkmal der angeführten Fehlschlüsse auf, das für den Kontext von Bedeutung ist. Nun sahen wir, daß die These, daß das Nicht-Gewordene keinen Anfang und kein Ende habe, bei Melissos ein Glied innerhalb der letztlich zur These von der Unbewegtheit des Seienden führenden Argumentationskette darstellt. Daß Aristoteles diese These ebenfalls als ein Glied innerhalb einer Argumentationskette versteht, wird dadurch angedeutet, daß die weiteren fehlerhaften Argumente durch die Ausdrücke „είτα" und ,,επειτα" (al3; al6; a l 8 ) in einem konklusiven Sinne angeschlossen werden. Aus der Überlegung, daß das öv weder einen (räumlichen und zeitlichen) Anfang noch ein (räumliches und zeitliches) Ende besitzen kann, folgert Melissos zunächst die räumliche und zeitliche Unbegrenztheit (άπειρον) des Seienden; aus dieser Unbegrenztheit des Seienden ergibt sich für Melissos dann die absolute Einheit desselben (DK 30B6), die als Homogenität (δμοιον) zu denken ist (DK 30A5); aus dieser Homogenität des absolut einen Seienden ergibt sich für Melissos schließlich die Unbewegtheit desselben (DK 30B7). Indem Aristoteles nun die Ungültigkeit eines Schlusses innerhalb der deduktiven Kette zeigt, verliert die gesamte deduktive Abfolge, die letztlich zum άκίνητον führen soll, ihren Zusammenhalt. 16 Hierbei geht es Aristoteles zwar
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Dieses Argument findet sich bei Melissos in den Fragmenten B2-B4. Vgl. auch Wagner (1967: 405): „Nach dem Referat des Simplikios hat nun Melissos die Umkehrung wirklich als eine Prämisse benutzt und auf die Anfangslosigkeit des Gesamtseienden geschlossen (103. 24f.)." Vgl. Barnes (1982: 195 f.). Vgl. dazu auch die Aussage von Aristoteles: „[...], sondern wenn nur eine einzige Widersinnigkeit zugegeben wird, so folgt das Übrige" (1.3, 186a9-10; bzw. 1.2, 185al 1-12). 1st dies einerseits eine indirekte Bestätigung daftlr, daß Aristoteles die Argumentation von Melissos
90
Physik
I. 3: ' D i e Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
n i c h t u m e i n e n B e w e i s für d i e E x i s t e n z d e r B e w e g u n g , w o h l a b e r g e h t e s i h m u m d e n N a c h w e i s , daß die v o n d e n Eleaten a n g e n o m m e n e U n m ö g l i c h k e i t der B e w e g u n g a u f falschen A n n a h m e n und fehlerhaften Schlüssen basiert. A u s den weiteren B e i s p i e l e n wird deutlich w e r d e n , daß die G e m e i n s a m k e i t der v o n Aris t o t e l e s a n g e f ü h r t e n u n g ü l t i g e n S c h l ü s s e v o r a l l e m d a r i n z u s e h e n ist, d a ß s i e M e l i s s o s z u f o l g e A r g u m e n t e für d i e Unbewegtheit
d e s einen S e i e n d e n darstellen
sollen.17
3 . 2 . 2 „ J e d e s W e r d e n d e hat e i n e n (räumlichen) A n f a n g s p u n k t " Folglich [ ε ί τ α ] ist auch dieses widersinnig: V o n einem jeden gibt es einen A n f a n g [τό π α ν τ ό ς ε ί ν α ι α ρ χ ή ν ] - von (jedem) Ding [τοΰ π ρ ά γ μ α τ ο ς ] , und nicht v o n der Zeit; und v o m Werden, nicht nur v o m Werden schlechthin [ γ ε ν έ σ ε ω ς μ ή της ά π λ ή ς ] , sondern auch von der Eigenschaftsveränderung [ α λ λ ο ι ώ σ ε ω ς ] , als o b es nicht den gesamten U m s c h l a g gäbe [ ώ σ π ε ρ ο υ κ α θ ρ ό α ς γ ι γ ν ο μ έ ν η ς μ ε τ α β ο λ ή ς ] , (1.3, 1 8 6 a 1 3 - 1 6 ) D i e s e w e i t e r e W i d e r s i n n i g k e i t , die m i t d e m e r s t e n B e i s p i e l z u s a m m e n h ä n g t u n d s i c h a u f d i e s e W e i s e a l s B e s t ä t i g u n g der v o n A r i s t o t e l e s a n g e k ü n d i g t e n B e h a u p t u n g e r w e i s t , d a ß , w e n n nur e i n e W i d e r s i n n i g k e i t z u g e g e b e n w i r d , d a s ü b r i g e f o l g t , hat d e n I n t e r p r e t e n i n s o f e r n S c h w i e r i g k e i t e n b e r e i t e t , a l s k e i n
Fragment
v o n M e l i s s o s b e k a n n t ist, d e s s e n W i e d e r g a b e s i e d a r s t e l l e n k ö n n t e . H ä l t m a n sich an die A n g a b e n v o n Simplicius, so ergibt sich f o l g e n d e s Bild:18 W i e aus den F r a g m e n t e n D K 3 0 B 3 u n d D K 3 0 B 4 d e u t l i c h w i r d , hat M e l i s s o s n e b e n d e r z e i t lichen auch die räumliche Unbegrenztheit des einen Seienden gelehrt.19 Melis-
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ebenfalls als Kette von Deduktionen betrachtet, so ist damit andererseits gesagt, daß es ausreicht, ein Glied der Kette als fehlerhaft nachzuweisen, um die Kette als Ganze auseinanderbrechen zu lassen. Demgegenüber ist Weiss (1942: 29) der Ansicht, daß sich Aristoteles bei der Widerlegung der Eleaten nicht auf die in der Grundannahme ausgesprochene These der Bewegtheit des Naturseienden bezieht: „Wir haben gesehen, dass die Widerlegung des έν τό öv in ihrem Vollzug von der Grundeinsicht betreffs der Natur und dem phänomenalen Grundbefiind, dass das von Natur Seiende bewegt ist, keinen Gebrauch macht, sondern sich im Problembezirk der Philosophie vom öv f j öv bewegte. Dagegen wird im Folgenden nun [gemeint ist das Kapitel 1.4] die κ ί ν η σ ι ς bezw. γ έ ν ε σ ι ς als Grundcharakter der Naturdinge im Zentrum der Betrachtung stehen." Im folgenden stütze ich mich vor allem auf die Interpretation von Wagner (1967: 405 f.). Vgl. auch Charlton (1970: 59): „Second, he [Melissos] thought that, if a process had a beginning at all, it must have a beginning in space; thus if a thing comes into existence, some bit must come into existence before the rest, and if it changes colour, the change must begin at some point and spread out from there (186 a l3-16)." Melissos, Frg. DK 30B3 (Simplicius in Phys. 109, 31): „Aber so, wie es immer ist, so muß es auch der Größe nach immer unbegrenzt sein." Frg. DK 30B4 (Simplicius in Phys. 110, 3): „Nichts, was einen Anfang und ein Ende hat, ist ewig [άίδιον] oder unbegrenzt [άπειρον]." Barnes (1982: 200 f.) weist daraufhin, daß in Frg. B4 der Ausdruck „άίδιον" fur die zeitliche und der Ausdruck „άπειρον" für die räumliche Unbegrenztheit steht. Bames wendet sich ausdrücklich gegen die Auffassung, Melissos habe aus der zeitlichen auf die räumliche Unbegrenztheit geschlossen. Vielmehr sind beide Unbegrenztheiten als parallele Argumentationen aus der Prämisse, daß das eine öv keinen Anfang und kein Ende habe, zu verstehen. Vgl. auch Wagner (1967: 406): „Aber daß unsere Stelle keinen Beweis dafür darstellen kann, daß Melissos aus zeitlicher auf räumliche Unendlichkeit geschlossen habe, ist ebenso sicher. Nur auf etwas anderes weist sie hin: daß Melissos ά ρ χ ή einmal als zeitlichen Anfang des Prozesses, ein-
Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
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sos, der aus der unbegrenzten Ausdehnung des Seienden auf dessen Unbewegtheit Schloß,20 scheint hier zu behaupten, daß jedes Werdende eine Stelle an sich haben mtißte, von wo aus der Werdeprozeß seinen Anfang nimmt.21 Aristoteles findet es jedoch unhaltbar, daß Melissos für jede Veränderung eine solche (räumliche) Anfangsstelle fordert, von der ausgehend sich das Ding Stück für Stück verändert, gibt es doch Prozesse, bei denen sich das Ding als Ganzes in einem umwandelt (vgl. ,,άθρόας γιγνομένης μεταβολής"). 22 War der Ausdruck ,,άρχή" im ersten Fehlschluß noch zeitlich gemeint, so geht es im zweiten Fehlschluß nun um den räumlichen Anfangspunkt. Aristoteles weist zunächst darauf hin, daß es Melissos zufolge von jedem (Gewordenen) 23 einen Anfang gibt - und zwar von dem Ding, nicht aber von der Zeit 24 -, und beim Werden nicht nur für das Entstehen von etwas, sondern auch für die Eigenschaftsveränderung. Gegen diese These wendet Aristoteles nun ein, daß es gerade bei der Eigenschaftsveränderung Fälle gibt (wie z.B. das „Gefrieren"; vgl. Phys. VIII.3, 253b21-26), 25 wo kein räumlicher Anfangspunkt der Veränderung vorliegt, sondern wo sich alles „auf einmal" umwandelt. Nun scheint es sich bei dieser „weiteren Widersinnigkeit" (vgl. „είτα και τοΰτο άτοπον") zunächst jedoch eher um eine widersinnige Konklusion als um ein widersinniges Argument zu handeln, da in dem Satz al3-15, in dem Aristoteles die Widersinnigkeit expliziert, ja nicht von etwas auf etwas geschlossen wird. Daß es sich bei dieser widersinnigen Konklusion dennoch um ein ungültiges Argument handelt, wird deutlich, sofern man ihn zusammen mit dem ersten Fehlschluß betrachtet, aus dem sich die weitere Widersinnigkeit ja „folglich" (είτα) ergeben soll. Dieser weitere Fehlschluß ist nun aber nicht darin zu sehen, daß
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mal als Anfangstelle des Prozesses am Gegenstand genommen hat. Und Soph. el. 6, 168 b 35 ff. bestätigt genau dies." In Frg. DK 30B7 nimmt Melissos die Unbewegtheit des Seienden an, weil es als ein Volles nirgendwohin ausweichen kann. Vgl. dazu auch KRS ( 2 1983: 394): „Melissus apparently assumes that if a thing were to come into existence, there would be a part of it which comes to be first in time and is (thereby) the bit of it first in spatial position (e.g. its front edge); and another part which comes to be last in time and is the bit of it last in position (e.g. its back edge). His argument is then that, since what is cannot begin or finish coming into existence, it can have no such first and last parts - and so is unlimited in extension." Als Beispiel für eine solche μεταβολή führt Aristoteles in Phys. VIII.3, 253b21-26 den Prozeß des Gefrierens an. Daß Melissos hier jedes Gewordene meint, wird aus dem Kontext deutlich, denn er ist ja der Überzeugung, daß das eine Seiende als Nicht-Gewordenes gerade keine άρχή hat (vgl. auch Ross, 1936:471). Die Rede von der ,,άρχή des Dings und nicht der Zeit" (τοΰ πράγματος και μή του χρόνου) deutet daraufhin, daß hier der räumliche Anfangspunkt gemeint ist (vgl. Gigon, 1966: 145). Vgl. auch Ross (1936: 339 u. 471), der das „τοΰ πράγματος και μή τοΰ χρόνου" (al4) ebenfalls auf ,,άρχήν" (al3) bezieht: „και μή τοΰ χρόνου is an aside of Aristotle's, pointing out what is not meant, and so is μή της άπλής ά λ λ α και αλλοιώσεως Cf. Met. 994 22 [...]. Cf. also 190a21." Vgl. auch Prantl (1854: 17: „dabei aber an die Zeit nicht denkt"), Wagner (1967: 10: „dabei ist nicht etwa an einen Anfang der Zeit nach, sondern an die Stelle gedacht, [...]") und Charlton (1970: 5 und 59). Vgl. auch Prantl (1854. 475, Fn.l 1): „Unter der »zumal vor sich gehenden Veränderung« versteht Arist. z.B. das Gefrieren (s. VIII, 3), bei welchem, wenn auch das gefrierende Ding unendlich theilbar ist, doch der Vorgang selbst dies nicht ist."
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
Melissos etwa aus der Annahme eines zeitlichen Anfangspunktes eines jeden Werdenden auf die Existenz eines räumlichen Anfangspunktes desselben schließen würde,26 sondern darin, daß Melissos in beiden Argumenten - sowohl in bezug auf die räumliche wie auch in bezug auf die zeitliche Unbegrenztheit - derselbe Fehler einer fehlerhaften Konversion unterläuft: Begeht Melissos im ersten Fehlschluß die fehlerhafte Konversion, daß er von der Behauptung „alles Gewordene hat einen zeitlichen Anfang" zu der Behauptung „das Nicht-Gewordene hat keinen zeitlichen Anfang" übergeht, woraus er dessen zeitliche Unbegrenztheit folgert, so begeht er im zweiten Fehlschluß die fehlerhafte Konversion, daß er von der Behauptung „alles Gewordene hat einen räumlichen Anfangspunkt" zu der Behauptung „das Nicht-Gewordene hat keinen räumlichen Anfangspunkt" übergeht, woraus er dessen räumliche Unbegrenztheit folgert.27 Das aristotelische Gegenbeispiel einer Eigenschaftsveränderung, die sich in einem Umschlag vollzieht, macht nun deutlich, daß Aristoteles hier nicht nur die Konversion als fehlerhaft betrachtet, sondern daß er ebenfalls die Ausgangsprämisse problematisiert, der zufolge jedes Gewordene einen räumlichen und zeitlichen Anfangspunkt haben soll. Sein Einwand gegen Melissos besteht darin, daß nicht bei jeglicher Veränderung eine solche zeitliche und räumliche Anfangsstelle an dem Ding vorhanden sein muß, sondern daß es Veränderungen gibt, bei denen sich das Ding gleichzeitig in all seinen Teilen ändert. Auch wenn diese Veränderung in der Zeit und im Raum stattfindet, muß sie selbst nicht zeitlich oder räumlich ausgedehnt sein.
3.2.3 „Wenn etwas Eines ist, dann ist es unbewegt" Weswegen also soll etwas unbewegt sein, wenn es Eines ist? So bewegt sich nämlich auch eine einheitliche Teilmenge, z.B. dies Wasser hier, in sich selbst; weshalb soll dies das Ganze nicht können? Sodann: Weshalb soll es an ihm keine Eigenschaftsveränderung geben? (1.3, 186al6-18)
Aristoteles greift nun in der deduktiven Gedankenkette von Melissos denjenigen Schluß an, der unmittelbar zur Unbewegtheit des Seienden fuhrt: „Wenn etwas Eines ist, so kann es keinerlei Bewegung erleiden." Der Grund dafür, daß das Eine Melissos zufolge keine Bewegung erfahren kann, ist - wie wir in Kapitel 3.1.1 gesehen haben - ein zweifacher: (1) Das Eine, das ein homogenes Eines (δμοιον έν) sein muß (DK 30 A5), wäre kein homogenes Eines mehr, würde es irgendeine Art von Bewegung (z.B. „etwas einbüßen, größer werden, umgestaltet werden, Schmerzen haben, betrübt werden, im Verlauf von zehntausend Jah-
27
Gigon (1966: 145) vertritt die Ansicht, Melissos sei von der zeitlichen Anfangslosigkeit des öv ohne weiteres auf die räumliche Grenzenlosigkeit übergegangen. Demgegenüber sagen KRS (21983: 394): „Melissus now infers that, lacking a beginning and an ending, what is is unlimited in spatial extension just as it is everlasting." Vgl. dazu auch Barnes (1982: 200 f.): „The general thought [. ..] seems to be this: if Ο undergoes a process of generation, then Ο must come into existence in stages, and so there must be a first piece of Ο to be generated and also a last piece; and thus Ο cannot be spatially infinite."
Die ungültigen Schlüsse bei Melissos
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ren auch nur um ein einziges Haar anders werden") erfahren (DK 30 B7). (2) Das Seiende kann nichts Leeres beinhalten - denn „Leeres" ist für Melissos gleichbedeutend mit „Nichtseiendem" - und muß somit ein Volles sein. Das Volle aber kann nicht bewegt sein, da das eine volle und unbegrenzte Seiende ja keinen Ort hat, wohin es ausweichen könnte (DK 30 B7).28 Daß auch der Schluß „wenn etwas Eines ist, so kann es nicht bewegt sein" falsch ist, zeigt Aristoteles durch ein Gegenbeispiel auf. Hierbei geht es Aristoteles nicht nur um den Nachweis der formalen Ungültigkeit der Argumentation, sondern auch um den Nachweis der inhaltlichen Falschheit der Konklusion „das eine Seiende muß unbewegt sein". Daß Aristoteles hier explizit die Falschheit der Konklusion herausstellt, erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß sich aus einer inkorrekten Argumentation ja noch nicht zwingend die Falschheit der aus ihr gefolgerten Konklusion ergibt. Aristoteles geht es hier aber gerade um die Falschheit der Konklusion, daß das eine Seiende unbewegt sein muß. Das von Aristoteles gewählte Gegenbeispiel einer Teilmenge Wasser (vgl. ,,τοδί τό ύδωρ") steht bezeichnenderweise sowohl für ein 'homogenes' (δμοιον) wie auch für ein 'volles' (πλέων) Eines. Wasser ist nämlich ein Kontinuum, das Aristoteles zufolge insofern aus gleichen bzw. homogenen Teilen bestehen, als jedes Teil Wasser ebenfalls Wasser ist. Zugleich stellt das Wasser Aristoteles zufolge ein 'Volles' dar, das kein Leeres beinhaltet. 29 Aristoteles scheint mit diesem Gegenbeispiel ebenfalls zu berücksichtigen, daß Melissos das Eine stofflich (κατά την ύλην) aufgefaßt habe, wählt er mit dem Wasser doch ein Beispiel, das dem Stoff nach eine Einheit darstellt. Obgleich also eine Teilmenge Wasser die Kriterien eines δμοιον und πλέων έν erfüllt und somit nach Ansicht von Melissos eigentlich in jeglicher Hinsicht unbewegt sein müßte, kann es sich Aristoteles zufolge doch bewegen, und zwar sowohl in bezug auf die Ortsbewegung (nämlich als ein in sich selbst Bewegendes: a 17) wie auch in bezug auf die QualitätsVeränderung (al8: wenn es z.B. gefärbt wird), ohne daß es dabei seinen Charakter eines δμοιον und πλέων έν verliert. Aristoteles greift mit dem Beispiel einer Teilmenge Wasser, die in sich selbst bewegt sein kann, auf die unmittelbare Wahrnehmung zurück, 30 d.h. auf jene Quelle unseres Wissens, die von den Eleaten gerade als unzuverlässig bestimmt wurde. Der Grund, warum Aristoteles von einem „Teil" Wasser spricht, dessen
29
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Im Unterschied zu der in (1) erwähnten Nichtbewegung, die - wie aus den Beispielen deutlich wird - vor allem auf quantitative und qualitative Veränderungen bezogen ist, ist in (2) vor allem an die Ortsbewegung zu denken. (Die These, daß Bewegung die Existenz eines irgendwie gearteten Leeren voraussetzt, haben die Atomisten später als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen genommen, wobei sie die Existenz eines Leeren behaupteten, um das Phänomen der Bewegung erklären zu können.) Daß Melissos in Frg. B7 die Möglichkeit des Entstehens und Vergehens nicht erwähnt, findet seinen Grund darin, daß diese Möglichkeit bereits zu Beginn in Frg. B1 ausgeschlossen wurde. Bezüglich der Nichtexistenz eines Leeren stimmt Aristoteles den Eleaten zu (vgl. Phys. IV. 6-
9).
Vgl. Zekl (1987: 241, Fn.25): „Dies scheint eine demonstratio ad oculos: Er hat bei sich stehen ein Gefäß mit Wasser darin (= Teilquantum des gesamten vorhandenen Wassers), und während er durch entsprechende Bewegung das Wasser im Gefäß kreisen läßt, spricht er diesen Satz." So verstanden unterstreicht das Beispiel des Wassers den Vorlesungscharakter von Physik 1.1.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
Eigenschaft auf das Ganze (τό παν) zu übertragen ist, besteht darin, daß diese Eigenschaft des In-sich-Bewegtseins den Hörern empirisch vorgeführt werden soll. Dies ist jedoch nur mit einem Teilquantum Wasser möglich. Wenn aber das In-sich-Bewegtsein filr ein Teilquantum Wasser möglich ist, und wenn Wasser andererseits ein homogenes Kontinuum darstellt, so muß dasjenige, was für den Teil gilt, folglich auch für das Ganze (τό πάν) gelten.31 Mit der weiteren Frage, weshalb es an ihm keine Eigenschaftsveränderung geben soll (al8), bezieht sich Aristoteles vermutlich auf den ersten Teil von Frg. B7, wo Melissos dem Einen als ομοιον έν derartige qualitative und quantitative Veränderungen abspricht. Gegenüber Melissos ist nun aber einzuwenden, daß eine Teilmenge Wasser, die z.B. durch Färbung oder durch den Prozeß des Gefrierens eine qualitative Veränderung erfährt, dennoch ein homogenes (ομοιον) Ganzes bleibt. So weist Aristoteles in Phys. IV.7, 214a26-b3 in bezug auf Melissos daraufhin, daß auch ein Volles Eigenschaften verändern kann: Es gibt aber keinerlei Notwendigkeit, daß es, wenn es Bewegung gibt, auch Leeres gibt. Zunächst also schon allgemein nicht bei jeder Bewegung, weshalb es auch dem Melissos verborgen blieb: Denn ein Volles kann Eigenschaften verändern [ ά λ λ ο ι οΰσθαι γ α ρ τό πλήρες ένδέχεται]. Aber auch nicht für die Ortsbewegung: Gleichzeitig einander ausweichen können nämlich die bewegten Körper, wobei es gar keine von ihnen getrennte Ausdehnung neben ihnen geben muß. Dies wird klar an den Wirbeln von zusammenhängenden Stoffen, z.B. an denen von Flüssigkeiten. Und es kann auch verdichtet werden, nicht in Leerräume hinein, sondern durch Auspressung von darin Vorhandenem (z.B. wenn Wasser zusammengedrückt wird, [weicht] die darin enthaltene Luft), und es wächst auch, nicht allein, indem etwas hineingeht, sondern durch Eigenschaftsveränderung, wenn z.B. aus Wasser Luft wird. (Phys. IV.7, 214a26-b3)
3.2.4 „Aber es kann auch nicht der Art nach Eines sein" Jedoch ist es auch nicht möglich, daß es der Art nach [τφ εϊδει] Eines ist, außer in bezug auf das 'Woraus' [τω έξ οΰ] (in diesem Sinne sagen auch einige der Naturphilosophen, daß es Eines ist, in jenem aber nicht). Denn ein Mensch ist doch der Art Ross (1936: 472 f.) bemerkt in diesem Zusammenhang, daß sich Melissos gegenüber Aristoteles mit dem Hinweis verteidigen könnte, daß das In-sich-Bewegtsein doch nur unter der Voraussetzung funktioniere, daß es Teile gibt, die wechselseitig verschiedene Orte einnehmen, und daß er bereits ausgeschlossen habe, daß das Eine Teile besitzt (vgl. Frg. DK 30B9). Demgegenüber ist jedoch daraufhinzuweisen, daß sich die von Melissos in Frg. B9 behauptete Nichtteilbarkeit insofern als fraglich erweist, als ein Volles doch Solidität, Kontinuität und somit auch eine gewisse Teilbarkeit voraussetzt (vgl. Barnes, 1982: 227-8). Es scheint mir, daß es Aristoteles hier primär darum geht, daß aus der alleinigen Tatsache, daß ein Eines ein ομοιον und πλέων έν ist, nicht notwendig folgt, daß es unbewegt sein muß. Den Hinweis auf die άλλοίωσις (al8) versteht Ross in dem Sinne, daß es Aristoteles zufolge immer noch eine qualitative Veränderung geben kann, selbst wenn man keine Teile annimmt. Demgegenüber könnte sich Melissos, so Ross, mit dem Hinweis verteidigen, daß das eine Seiende, würde es sich qualitativ verändern, kein ομοιον mehr wäre und folglich seine Identität verlieren würde. Demgegenüber sei jedoch auf folgendes hingewiesen: (1) Das Teilquantum Wasser, das eine qualitative Veränderung erfährt, indem es z.B. gefärbt wird oder gefriert, bleibt dennoch ein ομοιον εν, auch wenn es ein anderes ομοιον έν geworden ist. (2) Ebenso kann auch ein πλέων έν eine άλλοίωσις erfahren und dennoch ein πλέων έν bleiben (vgl. Phys. VIII.3).
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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nach verschieden von einem Pferd und einander [konträr] Entgegengesetztes [τάναντία] ebenfalls. (1.3, 186al9-22) Das zuvor genannte Beispiel des Wassers hat folgendes gezeigt: Selbst wenn das Ganze dem Stoff nach Eines ist, so läßt es dennoch als dieses homogene und volle Eine die Möglichkeit von Bewegung zu. Mit dem abschließenden Hinweis „aber es kann j a auch nicht der Art nach Eines sein, außer in bezug auf das Woraus" meint Aristoteles nun folgendes: Wir haben gesehen, daß das Ganze, selbst wenn wir annehmen, es sei ein der Art nach Eines, wie dies z.B. bei einer Teilmenge Wasser als ein δμοιον έν der Fall ist, dennoch bewegt sein kann. Da nun aber das Ganze nicht einmal ein solches der Art nach Eines sein kann - außer in bezug auf das 'Woraus', so daß man statt „das Ganze ist Wasser", wenn überhaupt, nur sagen kann „das Ganze ist aus Wasser" besteht nun überhaupt kein Hinderungsgrund mehr gegen die Annahme der Möglichkeit von Bewegung. Der Grund dafür, daß das Ganze nicht der Art nach Eines sein kann, besteht darin, daß Mensch und Pferd und einander (konträr) Entgegengesetztes der Art nach verschieden sind. Wären sie nämlich der Art nach Eines, so ergäbe sich erneut die Konsequenz einer Verletzung des Principium contradictionis, wie Aristoteles sie in 1.2, 185bl9-25 dargelegt hat. Gleichwohl kann von dem Ganzen gesagt werden, daß es der Art nach Eines ist, wenn man es auf das 'Woraus' (vgl. „τω έξ ού") bezieht. In diesem Sinne haben auch einige der Naturphilosophen - diejenigen nämlich, die nur ein einziges Prinzip angenommen haben, wie z.B. Thaies das Wasser oder Anaximenes und Diogenes die Luft bzw. Heraklit aus Ephesos das Feuer, „aus dem" letztlich alles andere besteht - eine Einheit behauptet. Zwar haben sie eine Einheitlichkeit der Art nach in bezug auf das 'Woraus-etwas-ist', nicht jedoch haben sie eine Einheitlichkeit der Art nach in bezug auf das 'Was-etwas-ist' angenommen.
3.3 Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides (186a22-187al
1)
3.3.1 Die falsche Annahme und der ungültige Schluß (186a24-32) Im Anschluß an die Auseinandersetzung mit Melissos geht Aristoteles nun dazu über, auch in bezug auf Parmenides die Falschheit seiner Annahmen und vor allem die Fehlerhaftigkeit seiner Schlüsse nachzuweisen, wobei er zu Beginn darauf hinweist, daß gegen Parmenides einerseits dieselbe Art der Argumentation (wie die gegen Melissos) besteht, und daß andererseits noch einiges andere (fur Parmenides) Eigentümliche hinzukommt. Gigon ist der Ansicht, daß Aristoteles hier zwar das fur Parmenides Eigentümliche erwähnt, es dann aber in der Untersuchung doch unberücksichtigt läßt: Daß aber nun, unserer Erwartung entgegen, die ίδιοι λόγοι zu Parmenides nur erwähnt, nicht aber vorgetragen werden, ist so auffallend, daß schon die antike Kommentartradition dazu bemerkt, es werde damit auf ein besonderes βιβλίον προς τήν
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten' Παρμενίδου δόξα ν hingewiesen (Philop. Phys. p. 65, 23 f. Vitelli). Die Schriftenverzeichnisses kennen ein solches Buch nicht. (Gigon, 1966: 144)
Dieses für Parmenides Eigentümliche ist meines Erachtens darin zu sehen, daß Parmenides im Gegensatz zu Melissos, der das Eine κατά την ΰλην aufgefaßt hat, das Eine κατά τον λόγον verstand. Aus diesem Grunde verwundert es auch nicht, daß sich Aristoteles ab 186b 14 eingehend mit der begrifflichen Einheit auseinandersetzen wird, so daß Aristoteles der vorliegenden Untersuchung zufolge die ίδιοι λόγοι zu Parmenides nicht nur erwähnt, sondern auch in ausführlicher Form vorträgt. Auch gegen Parmenides aber besteht dieselbe Art der Argumentation, wenn auch einiges andere [für Parmenides] Eigentümliche hinzukommt. Und die Lösung/Antwort [ή λύσις] liegt einerseits darin, daß es falsch ist und andererseits darin, daß es nicht folgt. (1.3, 186a22-24)
Aristoteles stellt an den Anfang seiner Auseinandersetzung mit Parmenides folgende Differenzierung zwischen einer falschen Annahme und einem ungültigen Schluß: Falsch ist, insofern er annimmt, daß 'seiend' [τό öv] auf einfache/absolute Weise [άπλώς] gesagt wird, wo es doch auf vielfache Weise gesagt wird. Unschlüssig aber ist, daß, wenn man einmal nur die Weißen [Dinge] [τα λευκά] nähme, und wenn 'das Weiße' [nur] Eines bezeichnet [σημαίνοντος εν του λευκοΰ], die Weißen [Dinge] nicht weniger viele und auch nicht Eines wären. (1.3, 186a24-27)
Die Falschheit der Annahme „öv wird auf einfache/absolute Weise gesagt" begründet Aristoteles mit dem Hinweis darauf, daß 'seiend' (öv) auf mehrfache Weise gesagt wird. Zwar hatte dies bereits die Untersuchung in Kapitel 1.2 ergeben, doch soll die Falschheit der Annahme nun im Zusammenhang mit den aus ihr folgenden Konklusionen auf dem Wege einer Reductio ad absurdum aufgezeigt werden. Das Ziel der gesamten Auseinandersetzung mit Parmenides besteht letztlich im Nachweis der Falschheit dieser Annahme (vgl. dazu die abschließende Konklusion in 187alO-ll: „ότι μέν οΰν ούτως έν είναι τό δν άδύνατον, δήλον"), wobei daran zu erinnern ist, daß Parmenides gerade aus der absoluten und einfachen Seiendheit des Seienden auf dessen Unbewegtheit geschlossen hat. Die parmenideische Annahme ,,τό δν άπλώς λέγεσθαι" ist in dieser sprachlichen Gestalt bereits eine Interpretation von Aristoteles. Im Unterschied zu Kapitel 1.2, 185b31-32, wo Aristoteles von den Nachfahren sagte, daß sie annehmen, das Eine und das Seiende werde auf einfache Weise (μοναχώς) gesagt, ersetzt Aristoteles nun in bezug auf Parmenides den Ausdruck „μοναχώς" durch den Ausdruck „άπλώς" (186a24). Zwar steht auch hier der Ausdruck „άπλώς" in einem Gegensatz zum Ausdruck ,,πολλαχώς" (a25), so daß er auch hier die Bedeutung „einfach" hat, doch zugleich scheint Aristoteles mit dem Ausdruck „άπλώς" noch etwas anderes andeuten zu wollen. Parmenides hat den Ausdruck 'seiend' Aristoteles zufolge nämlich nicht nur in einem einfachen Sinne gebraucht - derart, daß er nur ein Eines bezeichnet -, sondern auch in einem abso-
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luten Sinne, durch den die Möglichkeit der Existenz eines Seienden im akzidentellen Sinn (öv κατά συμβεβηκός) von vornherein ausgeschlossen ist. Der Ausdruck „άπλώς" steht nicht nur in einem Gegensatz zum Ausdruck ,,πολλαχώς", sondern auch in einem Gegensatz zum Ausdruck „κατά συμβεβηκός" (vgl. 1.8, 19lb 13-15). Die mit dem Gegensatz ,,άπλώς - κατά συμβεβηκός" verbundene Differenzierung zwischen dem δ ν als δ ν άπλώς und dem öv als δ ν κατά συμβεβηκός, die sowohl auf eine Mehrdeutigkeit des 'öv' als auch auf die Differenzierung zwischen dem μή δν άπλώς und dem μή δν κατά συμβεβηκός hinweist, spielt für Aristoteles eine zentrale Rolle in bezug auf die Möglichkeit der Bewegung. Daß Parmenides den Ausdruck 'seiend' im absoluten Sinn verstanden hat, wird an mehreren Stellen seiner Fragmente deutlich.32 In Analogie zum Nichtseienden (μή öv), das nach Ansicht von Parmenides ganz und gar nicht ist und nicht einmal gedacht werden kann, kann ein Seiendes für Parmenides nur ganz und gar seiend sein und läßt keine graduellen Abstufungen des Seins zu. Der Einwand von Aristoteles, daß 'seiend' auf mehrfache Weise gesagt wird, meint vor diesem Hintergrund nicht nur, daß es in Gestalt der ουσία, des ποιόν und des ποσόν verschiedene Gattungen des Seienden gibt, sondern auch, daß den unterschiedlichen Gattungen des Seienden das Sein jeweils auf verschiedene Weise zukommt. Nun hat Parmenides nach Ansicht von Aristoteles jedoch nicht nur eine falsche Prämisse angenommen, sondern er hat auch fehlerhaft geschlossen. Denn, so führt Aristoteles weiter aus, „wenn wir z.B. nur einmal die weißen Dinge (τά λευκά) nehmen, und wenn 'weiß' (τό λευκόν) Eines bezeichnet, so werden die weißen Dinge nicht weniger viele und schon gar nicht Eines sein." Der Fehlschluß (άσυμπέραντος: a25-26), den Aristoteles hier dem Parmenides unterstellt, läßt sich aus seinem Einwand heraus wie folgt rekonstruieren: Sagt Aristoteles, daß die weißen Dinge nicht Eines werden, wenn 'τό λευκόν' Eines bezeichnet," und versteht man das Beispiel 'τό λευκόν' als Beispiel für ein 'öv', so meint Aristoteles hier, daß Parmenides aus der Annahme, daß 'seiend' Eines bezeichne, geschlossen habe, daß es nur ein einziges Seiendes gibt. Der ungültige Schluß lautet demnach: „Wenn 'seiend' (ov) Eines bezeichnet, dann gibt es nur ein einziges Seiendes (ov)." 32
33
Vgl. Frg. B2, Z.3, Frg. B8, Z.l 1 („ούτως η πάμπαν πελέναι χρεών έστιν η ούχι"); Frg. Β8, Ζ.22-5; Frg. Β8, Ζ.32-33 (,,οΰνεκεν ούκ άτελεύτητον τό έόν θέ^ιις είναι· εστι γάρ ουκ έπιδευές· [μή] έόν δ' ά ν παντός έδεΐτο.") und Frg. Β8, Ζ.4 (,,ουλον μουνογενές τε και άτρεμές ήδέ τέλειον"). Die von mir gewählte Übersetzung des Wortes ,,σημαίνειν" mit „bezeichnen" ist in einem möglichst weiten Sinne zu verstehen, der sowohl die Bedeutung als auch die Referenz eines Terms umfaßt. Zur Bedeutung des Ausdrucks ,,σημαίνειν" bei Aristoteles vgl. auch Irwin (1982: 242, Fn.2) und Kirwan p l 9 9 3 : 94). Lautet die für den fehlerhaften Schluß von Parmenides rekonstruierte Prämisse ,,τό δν εν σημαίνει", so wird sie zu einer aus aristotelischer Sicht falschen Prämisse, wenn man sie mit „'seiend' bedeutet Eines" im Sinne von „'seiend' hat eine einzige Bedeutung" übersetzt. Übersetzt man sie jedoch mit „'seiend' bezeichnet Eines", so kann diese Prämisse, j e nach Interpretation, aus aristotelischer Sicht sowohl wahr wie falsch sein: (a) Interpretiert man sie in dem Sinne, daß 'seiend' nur Eines bezeichnet (dies ist Parmenides Sicht), so ist sie für Aristoteles falsch; (b) interpretiert man sie jedoch im Sinne, daß 'seiend' ein je (für sich) Eines bezeichnet, so würde auch Aristoteles dieser Prämisse zustimmen (vgl. Met. IV.4, 1006a29 ff.)
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Zwar ist die rekonstruierte Prämisse „wenn 'seiend' Eines bezeichnet" (τό δν έν σημαίνει) mit der zu anfangs genannten falschen Annahme des Parmenides (,,τό δν άπλώς λέγεσθαι") nicht identisch, gleichwohl aber kann sie als eine Interpretation dieser falschen Annahme bzw. als eine Konklusion aus ihr angesehen werden.34 Auch wenn Aristoteles bereits die Annahme ,,τό δν εν σημαίνει" bzw. ,,τό λευκόν έν σημαίνει" für problematisch hält, wobei es jedoch eine Interpretation dieser Annahme gibt, der auch Aristoteles zustimmen würde - nämlich die Interpretation, daß jedes 'δν' bzw. 'λευκόν' ein je für sich betrachtet Eines bezeichnet -, so sieht er den eigentlichen Fehler doch in dem Schluß, der zur falschen Konklusionen führt, daß es nur ein einziges Seiendes bzw. nur ein einziges Weißes gibt.35 Parmenides scheint aus der Annahme „für jedes Vorkommnis des Wortes 'seiend' gibt es etwas, das Eines ist und durch 'seiend' bezeichnet wird" zur Konklusion „es gibt genau (bzw. 'nur') Eines, das durch jedes Vorkommnis des Wortes 'seiend' bezeichnet wird" überzugehen. Formal gesehen haben wir es hier mit einem Übergang von V χ 3 y (x R y) zu 3 y V χ (x Ry) zu tun, der an einen Fehlschluß bezüglich der Ausdrücke ,jeder" und „alle" erinnert. Anhand des Beispiels der „weißen Dinge" (τά λευκά), die für ein qualitativ bestimmtes Seiendes stehen, widerlegt Aristoteles den Schluß nun wie folgt:36 Angenommen, es gäbe nur Weißes (τά λευκά) in der Welt, so würde aus der Annahme »'weiß' bezeichnet Eines« nicht folgen, daß die weißen Dinge weniger viele Dinge wären, und schon gar nicht würde folgen, daß es nur Eines gäbe. Überträgt man diese Überlegung auf das Seiende, so ergibt sich, daß man nicht nur ein einziges Seiendes erhält, wenn 'seiend' - ebenso wie 'weiß' - Eines be-
35
Wenn 'seiend' einfach/schlechthin gesagt wird, kann 'seiend' - dem Gedanken von Parmenides zufolge - nur Eines und nicht mehreres bezeichnen. Denn würde 'seiend' mehreres bezeichnen, so müßten sich diese mehreren Seienden in wenigstens einer Hinsicht voneinander unterscheiden, so daß das eine Seiende eben nicht das andere Seiende wäre und es folglich kein ganz und gar Gleichartiges mehr gäbe. Ross (1936: 339 und 473) spricht davon, daß Parmenides zwei Annahmen habe, aus welchen er heraus argumentiere, daß die Wirklichkeit nur eine und unteilbar sei: (1) 'seiend' hat nur eine Bedeutung; (2) es gibt nichts außer seiend. Daß Aristoteles der Meinung war, Parmenides habe diesen Schluß tatsächlich gezogen, ergibt sich auch aus Met. 1.5, 986b27 ff.: „Weil Parmenides meint, daß das μή öv neben dem öv gar nichts sei, meint er, daß das öv Eines ist und weiter nichts." Vgl. auch Charlton (1970: 59): „This premiss ['that things are called real or existent for only one reason'], Aristotle proceeds to show, 186*25-32, is not of itself sufficient to establish the conclusion that there is only one thing." O b jedoch Parmenides selbst einen derart radikalen Monismus vertreten hat, wie er z.B. bei Melissos zu finden ist, wird von einigen Interpreten zunehmend in Frage gestellt (vgl. Barnes, 1982: 204-7 und KRS, 2 1983: 395). Aristoteles verdeutlicht den Fehlschluß mit Hilfe des Beispiels ,,τό λευκόν", das ftlr ein konkretes öv τι steht. Er zeigt, daß es, selbst wenn ,,τό λ ε υ κ ό ν " nur Eines bezeichnet, trotzdem nicht nur ein Seiendes geben muß. Den Rückgriff auf ein konkretes Beispiel rechtfertigt Aristoteles an späterer Stelle indirekt mit dem Hinweis darauf, daß wir das Seiende selbst (αύτό τό öv) ohne weitere inhaltliche Bestimmungen gar nicht verstehen können (vgl. 1.3, 187a8-9). Zur Frage, ob die Wahl eines Beispiels der Theorie von Parmenides gerecht wird, vgl. auch Wagner (1967: 407): „Wenn Ar. nun am Eingang seiner Kritik die weißen Dinge herausgreift, so tut er Parmenides kein Unrecht an. Auch Parmenides ging in seinen Überlegungen von der Fülle der verschiedenst bestimmten Einzeldinge (Αι, A2, A3 ...,) aus und richtete dann seine Reflexion auf die Tatsache, daß das Urteil, das ein jedes dieser Dinge bestimmt (Ai ist χ; A2 ist y; A3 ist z ; . . . ) , von jedem dieser Dinge und von allen Dingen besagt, daß es i s t bzw. daß sie s i n d."
D i e ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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zeichnet. Zwar haben alle weißen Dinge dieselbe Bestimmtheit, dennoch aber bleiben sie viele weiße Dinge, da die Einheit und Identität der Bestimmtheit keineswegs eine Einheit und Identität der so bestimmten Gegenstände impliziert. Bevor wir nun zur Betrachtung der Begründung in a28-31 übergehen, die Aristoteles für seine Konklusion in a27 ,,ούθέν ήττον πολλά τά λευκά και οϋχ έν" anführt, soll zunächst noch ein genauerer Blick auf die Prämisse »wenn 'weiß' nur Eines bezeichnet« (vgl. „σημαίνοντος έν του λευκου") geworfen werden. Für gewöhnlich wird diese Prämisse so verstanden, daß angenommen werden soll, „weiß" habe eine feste, eindeutige und einzige Bedeutung.37 Diese Interpretation schränkt die Bedeutung des Wortes ,,σημαίνειν" jedoch weitgehend auf den Aspekt der Bedeutung (Intension) ein, so daß der Eindruck entsteht, als ginge es hier einzig darum, daß „weiß" kein mehrdeutiger (äquivoker) Ausdruck sei. Wagner (1967: 10) versucht dieser Einseitigkeit in seiner Übersetzung dadurch entgegenzuwirken, daß er sagt: „wenn der Terminus 'weiß' eindeutig nur eine einzige Bestimmtheit bezeichnet." Daß aber auch dies irreführend ist, zeigt sich daraus, daß Aristoteles in seiner Begründung ja genau das Gegenteil feststellen wird, nämlich, daß „weiß" nicht nur die Bestimmtheit 'Weiße', sondern auch dasjenige, an dem sich die Bestimmtheit 'Weiße' findet, bezeichnet. Mit dem „σημαίνοντος έν του λευκοΰ" ist neben der „Eindeutigkeit" vielmehr ebenfalls gemeint, daß „weiß" etwas bezeichnet, was ein Eines darstellt.38 In diesem Sinne verhält sich der Ausdruck ,,τό λευκόν" analog zum Ausdruck ,,τό δν": Wenn wir etwas als „öv" bezeichnen, so meinen wir auch hier nach Ansicht von Aristoteles immer schon etwas, das für sich betrachtet jeweils ein Eines darstellt.39 Parmenides' Fehler besteht Aristoteles zufolge nun darin, daß er meint, „weiß" (bzw. „seiend") könne nicht vieles bezeichnen, von denen ein jedes je für sich Eines ist. Wenn etwas weiß (bzw. seiend) ist, so ist es für Parmenides ganz und gar weiß (bzw. ganz und gar seiend), weil „weiß" (bzw. „seiend") ja schlechthin (άπλώς) ausgesagt wird. Folglich kann es für Parmenides keine anderen weißen (bzw. seienden) Dinge geben, da sonst dem einzelnen weißen (bzw. seienden) Ding genau die Weiße (bzw. Seiendheit) fehlen würde, die sich an den anderen weißen (bzw. seienden) Dingen findet. Ein Mangel aber darf am Seienden nicht vorkommen, da es entweder ganz und gar seiend oder gar nicht seiend ist (vgl. Frg. B8, Z.l 1, 22-25, 32-33). Gäbe es mehrere - und folglich in wenigstens einer Hinsicht verschiedene - δντα, so wäre jedes einzelne δν insofern irgendwie μή öv, als es nicht das andere öv ist. Folglich aber wäre jedes einzelne öv ganz und gar nicht seiend, da Parmenides - wie wir
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Vgl. Wagner (1967: 10: „[...] wenn der Terminus 'weiß' eindeutig nur eine einzige Bestimmtheit bezeichnet, [...]"; S. 407: „Nehmen wir einmal zugunsten des Parmenides an, der Terminus 'seiend' sei wirklich eindeutig, so eindeutig, wie der Terminus 'weiß' es faktisch ist!"). Vgl. auch Hardie/Gaye (1930: „[...], and if 'white' has a single meaning, [...]"), Ross (1936: 340, 473: „the fact that 'white' has but one meaning"); Charlton (1970: 5: „and that 'pale' means only one thing:"), Wicksteed/Comford (1980: 31: „and if'white' had only one meaning,") und Zekl (1987: 13: „wenn »weiß« eine einzige Bedeutung hatte,"). Vgl. dazu Prantls Übersetzung (1854: 19): „wenn auch das Weiße die Bezeichnung ftlr ein Eines ist, [...]". Vgl. in diesem Zusammenhang Metaph IV.4, 1006a31 -b27.
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noch sehen werden - nicht zwischen einem μή δν άπλώς und einem μή δν τι (bzw. μή δν κατά συμβεβηκός) unterscheidet. Parmenides scheint nach Ansicht von Aristoteles folgendes zu meinen: Wenn die Extension eines Begriffs vielheitlich wäre, dann würde gleichsam die Intension des Begriffs auf die einzelnen Glieder der Extension verteilt, so daß das einzelne nicht mehr ganz und gar dieses sein könnte. Folglich schließt Parmenides aus einer absolut einheitlichen Intension auf eine absolut einheitliche Extension. Daß dieser Gedanke keineswegs so abwegig ist, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag, wird daraus ersichtlich, daß selbst Piaton noch einen ähnlichen Gedanken vertrat, wenn er nur seinen Ideen dasjenige, was sie eigentlich sind, zukommen läßt, während es den Wahrnehmungsdingen, die Piaton mitunter als „irgendwie nichtseiend" (πώς μή öv) bezeichnet, nur in abgeleiteter Form zukommt. Aristoteles zeigt demgegenüber nun, daß jedes einzelne Weiße (bzw. Seiende) für sich ganz und gar weiß (bzw. seiend) sein kann: Denn weder dem Zusammenhang [τη συνεχεία] noch dem Begriff nach [τω λόγφ] wäre das Weiße Eines. Denn das 'Sein' für weiß [τό είναι λευκώ] und [das 'Sein'] für dasjenige, dem es [weiß] zukommt [τω δεδεγμένφ], sind verschieden. Und es wird neben dem Weißen nichts Selbständiges [χωριστόν] geben. Denn nicht als Selbständiges, sondern dem Sein nach sind 'weiß' [τό λευκόν] und dasjenige, dem es ['weiß'] zukommt [φ υπάρχει], verschieden. Dies aber konnte Parmenides noch nicht sehen. (1.3, 186a28-32)
Die aristotelische Begründung lautet, daß das Weiße (τό λευκόν) weder dem Zusammenhang noch dem Begriff nach Eines wäre, selbst wenn „weiß" ein Eines bezeichnet. Werden hier mit der Einheit dem Zusammenhang und dem Begriff nach zwei der in Kapitel 1.2, 185b7-9 aufgezeigten drei Bedeutungsmöglichkeiten des ,,έν" aufgegriffen, so erfährt im folgenden jedoch nur die NichtEinheit dem Begriff nach (τω λόγφ) eine weitere Erläuterung.40 Mit der „NichtEinheit dem Zusammenhang nach" ist vermutlich gemeint, daß die vielen weißen Dinge jeweils für sich ganz und gar weiß und jeweils für sich ein Eines sein können, ohne daß sie ein Kontinuum - und somit ein in diesem Sinne Eines - bilden zu müssen.41 Aristoteles scheint sich hier gegen die von Parmenides in Fragment DK 28 B8 (Z.22-25) aufgestellte These zu wenden, daß das Eine ein Kontinuum bilde. Aber auch dem Begriff nach wird das Weiße nach Ansicht von Aristoteles nicht nur Eines sein. Denn das 'Sein' für weiß (d.h. das 'Sein' für die Eigenschaft der Weiße) und das 'Sein' für dasjenige, dem es (weiß bzw. die Weiße) zukommt, sind verschieden und folglich mehr als nur Eines. Mit dieser Verschiedenheit des Seins meint Aristoteles offenkundig die ontische Differenz zwi-
Der Umstand, daß hier das „εν" als ,,άδιαίρετον" unerwähnt bleibt, findet seinen Grund darin, daß ein Weißes eo ipso ausgedehnt sein muß, so daß es keinen bloßen geometrischen Punkt darstellen kann. Zudem: Selbst wenn sie ein Kontinuum bilden würden, so waren sie immer noch insofern Vieles (und nicht nur Eines im absoluten Sinne), als ein Kontinuum j a ins Unendliche teilbar ist (vgl. 1.2, 185b9-l 1).
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sehen Ding und Eigenschaft;42 eine Differenz, die Parmenides noch nicht sah (186a31-32). Zwar bezeichnet ,,τό λευκόν" etwas, das ein Eines (nämlich ein selbständiges Ding) ist, aber es bezeichnet dieses Eine in zweifacher Hinsicht (vgl. Met. VII.6, 103 lb23: ,,τό διττόν σημαίνει ν"), indem es einerseits die Eigenschaft und andererseits dasjenige, an dem die Eigenschaft vorkommt, thematisiert. Folglich stellt dieses Eine zumindest dem 'Sein' nach in sich bereits eine Zweiheit dar. Während mit den Ausdrücken „λευκώ" in a29 und ,,τό λευκόν" in a31 die Eigenschaft 'weiß' bzw. 'Weiße' gemeint ist 4 3 - denn nur eine Eigenschaft kann einem anderen „zukommen" -, meint der Ausdruck ,,τό λευκόν" in a30 offenkundig das weiße Ding, da dieses hier als χωριστόν gemeint ist, neben dem kein anderes χωριστόν existiert. Zugleich betont Aristoteles, daß wir es nicht mit zwei verschiedenen 'Dingen' zu tun haben - denn die Eigenschaft ist selbst ja kein Ding, sondern nur an einem Ding wenn er sagt, daß es neben dem Weißen nichts anderes Selbständiges gibt. Dieser Hinweis ist insofern von Bedeutung, als wir es ja der Voraussetzung „σημαίνοντος εν του λευκοΰ" zufolge nicht mit zwei Dingen zu tun haben sollen. Die Eigenschaft 'weiß' und dasjenige, dem die Eigenschaft 'weiß' zukommt, sind nicht als Selbständige (d.h. als zwei selbständige Dinge), sondern vielmehr dem 'Sein' nach verschieden: das eine als Ding, das andere als Eigenschaft.44
3.3.2 Eine notwendige Konklusion: Das öv als δπερ δν (186a32-b4) Da Parmenides diese ontische Differenz von Ding und Eigenschaft nicht sah, ergeben sich aus seinem Ansatz, so Aristoteles, weitere Konklusionen, die letztlich in Aporien münden bzw. gar im Widerspruch zur Ausgangsthese stehen. Zeigt Aristoteles in 186a32-b4 zunächst auf, daß der Ausdruck 'seiend' (öv) dem Ansatz von Parmenides zufolge nicht als Akzidens von etwas ausgesagt werden kann, sondern vielmehr ein An-sich-Seiendes (δπερ δν) meinen muß, so zeigt er dann in 186M-12 umgekehrt, daß auch nichts anderes als Akzidens von diesem δπερ δν ausgesagt werden kann. Notwendigerweise [ανάγκη] ist also [von Pannenides] anzunehmen, daß 'seiend' [τό öv] nicht nur Eines bezeichnet, wovon auch immer es ausgesagt wird, sondern das An-sich-Seiende und das An-sich-Eine [δπερ δ ν και δπερ εν]. Denn das akzi-
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Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, daß ein und dasselbe dem λόγος nach mehreres sein kann. Bestand die Vielheit dem λόγος nach in 1.2, 185b32-33 darin, daß dasselbe sowohl gebildet wie auch weiß sein kann (wobei beide als ποιόν in dieselbe Gattung des Seienden fallen), so ist hier nun das Weiße dem λόγος nach nicht Eines, weil „weiß" einerseits das Ding und andererseits die Eigenschaft bezeichnet, die verschiedenen Gattungen des Seienden angehören. Zur eindeutigen Bezeichnung der Eigenschaft 'Weiße' gibt es im Griechischen auch den abstrakten Terminus ,,ή λευκότης", der sich nicht auf das weiße Ding bezieht. Vgl. Leszl (1970: 247): „What interpreters fail to see is that properties (qualities, quantities, etc.) have to be properties of things other than themselves is not to deny that they have an essence taken for what they are. [...] Aristotle himself does not appear to assimilate nonseparation to this odd sort of identity in essence, but admits that properties have a being of their own."
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dentell Zukommende wird von einem Zugrundeliegenden gesagt, so daß dasjenige, dem 'seiend' akzidentell zukäme, nicht sein würde (denn es wäre doch von 'seiend' verschieden). Es gäbe also etwas, was nicht ist. Folglich kann das An-sich-Seiende nicht an einem anderen vorhanden sein; denn es [gemeint ist dasjenige, dem es zukommt] wäre nicht etwas Seiendes [δν τι], was selbst ist, außer wenn 'seiend' vieles bezeichnet derart, daß ein jedes Einzelne [die Bestimmung 'öv' und das Bestimmte] sein kann. Die Grundannahme lautet jedoch, daß 'seiend' Eines bezeichnet. (1.3, 186a32-b4) Aristoteles legt zunächst dar, daß aus der Annahme „'seiend' bezeichnet Eines", wenn man aus ihr, wie Parmenides es tut, den Schluß zieht, daß es nur Eines gibt, notwendigerweise folgt, daß „seiend" das An-sich-Seiende (δπερ δν) und das An-sich-Eine (δπερ εν) meint. Die Ausdrücke „δπερ δν" und „όπερ έν", die für dasjenige stehen, was seinem Wesen nach seiend und Eines ist, korrespondieren mit der Annahme von Parmenides, daß das öv schlechthin ausgesagt wird. 45 Mit dem „δπερ öv" und „δπερ έν" will Aristoteles zum Ausdruck bringen, daß es sich um Wesensbestimmungen des Gegenstandes handelt (vgl. Met. III.4, 1001a26ff). 46 Die Begründung dafür, daß 'das Seiende' (δν) Parmenides zufolge nicht nur Ejnes, sondern notwendigerweise (άνάγκη: a32) das An-sich-Seiende (δπερ öv) und An-sich-Eine (δπερ εν) bezeichnen muß, liegt in folgendem: Wenn das öv nicht das δπερ öv und δπερ έν als Wesensbestimmung bezeichnet, kann es folglich nur als ein Akzidens (συμβεβηκός) an einem (von ihm verschiedenen) Zugrundeliegenden vorkommen. 47 Ist es jedoch ein Akzidens, so ergibt sich folgender Widerspruch. Wird nämlich „seiend" (öv) als akzidentell Zukommendes von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, so müßte das Zugrundeliegende, von dem „seiend" als Akzidens ausgesagt wird, den Überlegungen von Parmenides zufolge letztlich nicht sein (a34-35). Denn das Zugrundeliegende ist j a von dem verschieden, was von ihm akzidentell ausgesagt wird, so daß es hier folglich verschieden von 'seiend' wäre (a35-bl). „Verschieden von 'seiend'" muß aber dem Ansatz von Parmenides zufolge „nichtseiend" bedeuten, da „seiend" j a schlechthin ausgesagt wird. 48 Würde also „seiend" als Akzidens von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, so müßte dieses Zugrundeliegende selbst ein Nichtseiendes
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48
Zur Bedeutung des „δπερ öv" und „δπερ εν" bei Aristoteles vgl. vor allem die Ausführungen von Wagner (1967: 408 f.). Vgl. auch Charlton (1970: 60): ,Jioper ti in Aristotle normally means, I think (for a fair selection of examples v. Bonitz 533b39-534a23), 'precisely what is something' in the sense in which a certain bodily condition might be said to be precisely what is healthy." Nach Ansicht von Leszl (1970: 247), der in diesem Zusammenhang auf Met. V.7 und VIII.6, 1045a36-b7 verweist, bedeutet „δπερ öv" folgendes: „being-itself, it is being in an essential way, immediately." Die Distinktion zwischen Wesensbestimmung (καθ' αύτό) und akzidenteller Bestimmung (κατά συμβεβηκός) läßt Aristoteles zufolge keine andere Möglichkeit eines 'Zukommens' zu (vgl. auch 186bl4-l8). Sie macht zugleich deutlich, daß Aristoteles hier zur Widerlegung der eleatischen Argumentation in Form einer Reductio ad absurdum zwar von eleatischen Prämissen ausgeht, zugleich jedoch auch seine eigene Theorie zu Hilfe nimmt, da Parmenides selbst ja noch nicht die Unterscheidung von Wesensbestimmung und akzidenteller Bestimmung sah. Es kann dem Ansatz von Parmenides zufolge nicht „anders seiend" bedeuten (dies wäre eine Lösung dieser Problematik, wie Piaton sie im Sophistes vorschlägt), denn dann würde ja im Widerspruch zur Ausgangsthese „seiend" auf mehrfache Weise gesagt werden.
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sein, von dem „seiend" ausgesagt wird (186bl). Da dies jedoch gegen das Principium contradictionis verstößt, kann 'seiend' innerhalb der Theorie des Parmenides nicht als ein Akzidens an einem Zugrundeliegenden vorkommen. Das An-sich-Seiende kann folglich nicht an einem anderen (von ihm verschiedenen) vorhanden sein (bl-2), da dasjenige, an dem es vorhanden wäre, selbst nur ein bestimmtes Seiendes (öv τι) sein kann. Dieses kann aber selbst nur sein (bl-2), wenn 'seiend' doch Vieles bezeichnet (b2-3); nämlich derart, daß ein jedes Einzelne (τι έκαστον) sein kann (d.h. sowohl dasjenige, an dem es vorhanden ist, als auch dasjenige, was vorhanden ist).49 Dies widerspricht jedoch der Ausgangsprämisse, der zufolge 'seiend' nur Eines bezeichnet (b3-4) und schlechthin ausgesagt wird.50 Mit anderen Worten: Weil Parmenides den Unterschied zwischen einer Bestimmung und dem bestimmten Gegenstand nicht sah, setzte er Bestimmung und bestimmten Gegenstand letztlich als identisch.51
3.3.3 Dem δπερ öv können keine anderen Akzidentien zukommen (186 b4-14) Wenn nun also das An-sich-Seiende keinem anderen zukommt, sondern das andere ihm [ ά λ λ α < τ ά ά λ λ α > έ κ ε ί ν ω ] 5 2 , weshalb bezeichnet dann 'an-sich-seiend' mehr das Seiende als das Nichtseiende? Wenn nämlich das An-sich-Seiende auch weiß/ein
1
s2
Zwar weichen die Interpretationen bezüglich des Satzes 186b 1-3 geringfügig voneinander ab, doch ist man sich hinsichtlich des Gemeinten im wesentlichen einig: Wir haben es mit einer Begründung dafllr zu tun, daß das An-sich-Seiende nicht an einem anderen vorhanden sein kann. Nach Ansicht von Wagner (1967: 11) ist das Subjekt im Satz ,,ού γαρ έσται öv τι αύτό είναι, [...]" das όπερ öv (b2) aus dem vorherigen Satz, so daß sich folgende Bedeutung ergibt: „[das όπερ öv ist nicht Bestimmtheit an einem anderen], denn das δπερ öv kann nicht etwas bestimmtes Seiendes sein, was selbst ist, [denn es ist nur die Bestimmung, und die kann nur 'seiend' sein, wenn 'seiend' vieles bezeichnet]." Demgegenüber bin ich der Auffassung, daß das Subjekt des Satzes ,,ού γάρ έσται öv τι αύτό είναι, [...]" das „andere" (αλλω: bl) ist, an dem das δπερ öv vorkäme, so daß sich folgende Bedeutung ergibt: „[das δπερ öv ist nicht Bestimmtheit an einem anderen], weil das andere (wie gezeigt wurde) selbst nur dann ein bestimmtes Seiendes sein kann, was selbst ist, wenn „seiend" vieles bezeichnet." Der Unterschied liegt in folgendem: Wagners Interpretation zufolge kann das δπερ öv nur dann eine Bestimmtheit an einem anderen sein, wenn es selbst ein Seiendes ist, woraus sich ergibt, daß 'seiend' auf mehrfache Weise gesagt wird, insofern es sowohl die Bestimmtheit als auch dasjenige, an dem die Bestimmtheit vorkommt, bezeichnet. Meiner Interpretation zufolge kann das οπερ öv nur dann eine Bestimmtheit an einem anderen sein, wenn das andere selbst ein Seiendes ist, woraus sich ebenfalls ergibt, daß 'seiend' auf mehrfache Weise gesagt wird, insofern es sowohl die Bestimmtheit als auch dasjenige, an dem die Bestimmtheit vorkommt, bezeichnet. Eine analoge Argumentation ließe sich für das „iv" konstruieren (vgl. dazu Metaph III.4, 1001a25 ff.). Sie würde lauten: Wäre 'εν' nur eine akzidentelle Bestimmung an einem Zugrundeliegenden, so wäre dieses Zugrundeliegende verschieden von seiner Bestimmung 'έν' und folglich nicht έν, sofern auch „εν" schlechthin/einfach gesagt wird. Eine Schwierigkeit, die mit der von Aristoteles in 186a32-bl2 geführten Argumentation gegen Parmenides verbunden ist, besteht jedoch darin, daß er hier vorauszusetzen scheint, daß 'seiend' ein reales (d.h. sachhaltiges) Prädikat ist. Denn das Ziel der Untersuchung besteht j a in einem Widerspruch zwischen zwei Bestimmungen, die als inhaltlich entgegengesetzte Bestimmungen nicht an demselben vorkommen können: 'seiend' und 'nicht-seiend' werden hier in einem analogen Sinne als Prädikate wie 'weiß' und 'nicht-weiß' behandelt. Die Wörter ,,τά αλλα", die sich nicht in den MSS finden, stammen von Ross (1936: 475). Vgl. dazu auch Wagner (1967: 409): „So nach dem Textvorschlag von Ross, aber auch nach der Vermutung, zu der ich selbst neige: ίχλλα δ' εκεί νιο; einmal ά λ λ ά gelesen, fiel das δ'."
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Weißes wäre,53 das Weißsein aber nicht an-sich-seiend ist (denn 'seiend' kann ihm ja auch nicht akzidentell zukommen, weil nichts seiend ist, was nicht an-sich-seiend ist), so ist das Weiße also nicht seiend; aber nicht in dem Sinne [nicht seiend] wie etwas bestimmtes Nichtseiendes, sondern ganz und gar nichtseiend [ούχ οΰτω δέ ώσπερ τι μή δν, άλλ' δλως μή δν], Folglich wäre das An-sich-Seiende nicht seiend. Denn es war ja als wahr gesagt, daß es weiß [Weißes] ist, dies aber bezeichnete ein Nichtseiendes. So daß auch 'weiß' das An-sich-Seiende bezeichnet. Folglich bedeutet 'seiend' doch mehreres. Und auch eine Größe wird das Seiende nicht haben können, wenn 'seiend' das An-sich-Seiende meint. Denn für einen jeden der Teile wäre das Sein verschieden. (1.3, 186b4-14) Nachdem festgestellt wurde, daß 'seiend' nicht nur Eines bezeichne, sondern ein ganz bestimmtes Eines bezeichnen muß, nämlich das An-sich-Seiende (δπερ δν) und An-sich-Eine (δπερ εν), geht Aristoteles nun dazu über, zu zeigen, daß sich von diesem δπερ δν, das nicht von einem anderen als Akzidens ausgesagt werden kann, selbst auch nichts anderes als Akzidens aussagen läßt. Denn, so lautet das Argument, wieso soll das δπερ δν mehr das Seiende bezeichnen als das Nichtseiende (d.h. wieso sollte es eher ein Seiendes und nicht vielmehr ein Nichtseiendes sein), wenn anderes als Akzidens von ihm ausgesagt wird (b4-6)? Nimmt man nämlich das Beispiel 'weiß' (τό λ ε υ κ ό ν ) als eine Qualität, die vom δπερ öv ausgesagt wird, so wäre das δπερ δν zugleich auch ein Weißes (b6). Nun ist das Weißsein den Voraussetzungen zufolge aber nicht an-sich-seiend (b7), denn wir sahen, daß 'seiend' nur das δπερ δν ist. Folglich kann dem Weißsein 'seiend' auch nicht akzidentell zukommen, denn nichts außer dem δπερ δν ist seiend (b7-8). (Wenn dem Weißsein also 'seiend' zukommen soll, so mtlßte es das δπερ δν und nur das δπερ δ ν sein.) Also ist Weißsein nicht seiend, und zwar, wie Aristoteles betont, ganz und gar nicht seiend (vgl. „δλως μή δ ν"), und nicht nur etwas bestimmtes Nichtseiendes (τι μή δν). 54 Nun ergeben sich die Aporien von selbst: Ist also das Weiße nicht seiend (b8), so ist folglich auch das δπερ δν, von dem 'weiß' ausgesagt wird, nicht seiend (blO). (Und diese Aporie entsteht ebenfalls bei jeder anderen qualitativen Bestimmung, die als Akzidens vom δπερ δν ausgesagt wird.) Dies steht jedoch im Widerspruch zur Ausgangsthese, daß das δπερ δν seiend - ja sogar das einzig Seiende - ist. Wenn es also wahr sein soll, daß das δπερ δν weiß bzw. ein Weißes ist - dies ist der Ausgangspunkt der Überlegung in b6 -, so muß 'weiß' (und folglich auch jede andere qualitative Bestimmung, die als Akzidens vom δπερ δν ausgesagt werden soll) ebenfalls das An-sich-Seiende bezeichnen (bl 1-12) und somit eine wesenhafte Seinsbestimmung sein. 55 Also würde nicht nur 'seiend' (öv), sondern auch
55
Die Übersetzung von Zekl (1987: 15), der den Ausdruck ,,οπερ öv" mit „der Begriff 'seiend'" übersetzt - „Wenn nämlich einmal der Begriff „seiend" auch weiß sein soll, [. . .]" ist insofern problematisch, als Aristoteles sicherlich nicht meint, daß ein Begriff weiß sein soll. Dieser Begriff des „ti μή öv", der noch einmal in 187al-l 1 Erwähnung findet, wird später die Lösung für Aristoteles darstellen, daß ein Werden und Entstehen aus einem μή öv als μή öv τι möglich ist. Vgl. Wagner (1967: 410): „Die Ableitung, welche die Folgerungen des Parmenides in ihre Umkehrung und die Grundthese zur Auflösung führt, erfolgt in zwei Stufen: 1. Jeder Versuch, das δπερ öv zu bestimmen, muß im Rahmen der Einheitsthese es als schlechthin nichtseiend denken. 2. Jeder Versuch, dennoch eine Bestimmung für das δπερ öv zu erreichen, die es n i c h t
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'weiß' (λευκόν) das δπερ öv bezeichnen, so daß mithin 'seiend' doch auf mehrfache Weise gesagt würde: Das δπερ όν wäre sowohl eine ουσία (öv) als auch ein ποιόν (Weißes). Die falsche Annahme ,,άπλώς τό δν λέγεσθαι" (186a2425) ist vor diesem Hintergrund einer Reductio ad absurdum mit der Konklusion ,,πλείω αρα σημαίνει τό δν" (186b 12) als widerlegt zu betrachten. Analoges gilt für die quantitativen Bestimmungen. Auch eine Größe kann das öv als δπερ δν nicht haben, sofern 'öv' nur Eines bezeichnen soll. Denn etwas, dem Größe zukommt, ist teilbar und setzt somit eo ipso eine Vielheit voraus: Da das 'Sein' für einen jeden Teil (von zwei Teilen) verschieden wäre, würde auch hier das 'öv' mehreres bezeichnen (bl2-14). 56 Mit dem Hinweis auf die Teilbarkeit, die hinsichtlich der Größe als eine Teilbarkeit dem Stoff nach zu verstehen ist, leitet Aristoteles nun zu der Untersuchung über, die er in 186a23 als die dem Parmenides eigentümliche (ϊδιον) angekündigt hat. Wie bereits erwähnt wurde, ist Aristoteles der Ansicht, daß Parmenides im Gegensatz zu Melissos das Eine dem Begriff nach (κατά τον λόγον) aufgefaßt hat. So verwundert es auch nicht, daß er im Anschluß an den Hinweis, daß das Eine als über Größe Verfügendes dem Stoff nach teilbar und somit vieles ist, nun zu einer Untersuchung übergeht, die zeigen soll, daß das Eine, selbst wenn man es nur dem Begriff nach als Eines aufifaßt, ebenfalls nämlich dem λόγος nach - teilbar und somit vieles ist.
3.3.4 Die begriffliche Teilbarkeit des δπερ öv (186b 14-35) Um zeigen zu können, daß das δπερ δν auch dem λόγος nach teilbar ist, wählt Aristoteles das Beispiel vom Menschen (ό άνθρωπος) und seiner Bestimmung als „zweifüßiges Lebewesen" (ζωον δίπουν). Bezüglich der Funktion dieses Beispiels gibt es jedoch zwei verschiedene Interpretationen: Während Ross (1936: 476 f.) und Gershenson/Greenberg (1962: 148 f.) der Ansicht sind, Aristoteles läßt die Eleaten hier zunächst zugestehen, daß es viele Entitäten (z.B. Menschen und andere Dinge) gibt, in bezug auf die er dann fragt, ob diese analysierbar sind, ist Charlton (1970: 62) der Auffassung, Aristoteles habe das Beispiel „Mensch" für ein δπερ öv - ebenso wie das zuvor genannte Beispiel „weiß" - zur Illustration eines formalen Gesichtspunktes gewählt, an dem er aufzeigen will, daß ein jedes δπερ öv dem λόγος nach in ein anderes δπερ öv τι auseinanderfällt: S o m e (e.g. Ross, Gershenson, and Greenberg) suppose that Aristotle is making the Eleatics grant that there really are entities like men in the universe, and asking whether they are analysable. [ . . . ] I prefer the v i e w o f Philoponus that man is being used as an illustration o f a formal point, like pale in "26-31, and that Aristotle is
56
zum Nichtseienden macht, verlangt, auch der angesetzten Bestimmtheit die einzig zugelassene Form des Seins, nämlich den Charakter des δπερ öv zuzudenken - und also die Einheitsthese aufzugeben." Zur Definition des Quantitativen als etwas, das aus Teilen besteht, vgl. Met. V.13, 1020a7 ff. Zur Problematik der Größe bei den Eleaten vgl. auch Met. 111.4, 1001b7 ff.
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contending that, if what it is for Parmenides' one reality to be real is analysable in the way in which what it is to be a man is analysable, there will be a plurality of things, each of which is what it is to be real; [...]. (Charlton, 1970: 62) Da die nachfolgende Untersuchung offensichtlich den Nachweis, daß das Seiende nicht nur Eines ist, zum Ziele hat - dies wird aus der abschließenden Konklusion ,,δτι μέν οΰν ούτως έν είναι τό δν άδύνατον, δήλον" (187a 10-11) deutlich -, schließe ich mich der Ansicht von Charlton an. Würde Aristoteles hier nämlich die Eleaten zunächst zugestehen lassen, daß es viele verschiedene Dinge - wie z.B. Menschen usw. - gibt, und würde er dann die Frage stellen, ob diese weiter analysierbar sind, so würde sich die weitere Untersuchung doch insofern erübrigen, als ihr Ziel - nämlich der Nachweis, daß das Seiende nicht nur Eines ist - bereits am Ausgangspunkt zugestanden wäre. Das Beispiel „Mensch" unterscheidet sich jedoch insofern von dem vorherigen Beispiel „weiß", als „Mensch" im Unterschied zu „weiß", welches ein συμβεβηκός an einem δπερ öv darstellte, nun das δπερ δν selbst meint. Für den Argumentationszusammenhang besagt dieser Unterschied folgendes: Selbst wenn das δπερ öv von keinem anderen als Akzidens ausgesagt wird (186a32b4), und selbst wenn andererseits auch keine Akzidentien von ihm ausgesagt werden (b4-12) - was für sich genommen schon seltsam genug wäre -, so stellt es dennoch als bloße ουσία ohne Akzidentien immer noch insofern eine Vielheit dar, als es dem λόγος nach in ein anderes δπερ δν τι differenziert werden kann, das selbst aus verschiedenen begrifflichen Teilen besteht. Eine Gliederung des schwierigen Abschnitts 186b 14-3 5 ergibt folgendes Bild: Abb. 3.1: Die Argumentationsstruktur in 186 b!4-35: Ausgangsthese: „Es gibt nur ein δπερ δν" [z.B. Mensch] Dann gibt es ein anderes δπερ öv τι, weil das δπερ δν dem λόγος nach teilbar ist [z.B. 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen'] Denn: Wenn sie nicht δπερ δν τι sind [Beginn einer Reductio ad absurdum] dann sind 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' συμβεβηκότα (1) entweder an Mensch
(2) oder an einem anderen Dies ist unmöglich, denn: συμβεβηκός ( = D e f )
(a) etwas, was zukommen und nicht zukommen kann ('sitzen') [συμβεβηκός κατά συμβεβηκός]
(b) etwas, in dem der λόγος dessen, dem es akzidentell zukommt ('stupsig'), enthalten ist [συμβεβηκός καθ' αύτό]
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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Zudem: In den λόγοι der Teile einer Definition ist nicht der λόγος des Ganzen enthalten + Also Wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' συμβεβηκότα sind + Dann: (1) an Mensch
(2) an einem anderen
(a) συμβεβηκός κατά συμβεβηκός (b) συμβεβηκός καθ' αϋτό [Dies ist widersinnig, da der [Dies ist unmöglich, da weder in 'zweifüßig' Mensch dann auch nicht noch in 'Sinnenwesen' der λόγος von zweifüßig sein könnte.] 'Mensch' enthalten ist.] Also bleibt nur: (2) an einem anderen (a) συμβεβηκός κατά συμβεβηκός [Dann wäre auch 'Mensch' ein συμβεβηκός]
[(b) συμβεβηκός καθ' αύτό] [Dies wird von Aristoteles gar nicht in Betracht gezogen, da der Mensch dann niemals zweifüßig oder Sinnenwesen wäre] Konklusion: 'Soll das Ganze also aus Unteilbarem bestehen?'
Ich beginne meine Analyse mit dem Ausgangspunkt der Argumentation: Daß aber das An-sich-Seiende in ein anderes bestimmtes An-sich-Seiendes unterteilbar ist, ist auch dem Begriff nach offenkundig: wie z.B. wenn Mensch ein bestimmtes An-sich-Seiendes ist, dann sind notwendigerweise auch Sinnenwesen und Zweif ü ß i g e s ein bestimmtes An-sich-Seiendes. (1.3, 1 8 6 b l 4 - 1 6 )
Aristoteles greift hier mit dem „Menschen" als Beispiel für ein δπερ δν, dessen Name (ονομα: „Mensch") durch seinen definitorischen Begriff (λόγος: „zweifüßiges Sinnenwesen") eine Vielheit impliziert,57 auf die Methode der Diairesis aus Kapitel 1.1 zurück. Dort wurde das Verhältnis von einem unbestimmten Wahrnehmungsding zu seinen es konstituierenden άρχαί durch das Verhältnis von einem Namen ('Kreis') zu seinem definitorischen Begriff veranschaulicht. Zugleich entspricht das Beispiel den eleatischen Prämissen, da sowohl durch den Namen 'Mensch' als auch durch den Begriff 'zweifüßiges Sinnenwesen' ein Eines bezeichnet wird, auch wenn dies aus aristotelischer Sicht kein absolut Eines ist.58 Aristoteles führt zunächst seine eigene These an, die er im folgenden ausführlich begründen wird: Nehmen wir einmal an, Mensch sei so ein bestimmtes 57
58
Wobei zu betonen ist, daß auch die Definition ,zweifüßiges Sinnenwesen" Aristoteles zufolge zwar eine Einheit bezeichnet (vgl. Met. VII. 12), doch ist diese Einheit eine solche, die aus den Bestandteilen 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' erst konstituiert wird und als eine solche aus 'Teilen' bestehende Einheit keine absolute Einheit mehr ist. Vgl. vor allem Met. IV.4, wo Aristoteles ausführt, daß der Name „Mensch" ein Eines bezeichnet, nämlich 'zweifüßiges Sinnenwesen', das der λόγος von 'Mensch' ist.
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όπερ όν, so müßte auch der λόγος von Mensch, nämlich 'zweifüßiges Sinnenwesen', ebenfalls ein solches bestimmtes δπερ δν darstellen (und letztlich sogar ein jedes von beiden), woraus sich ergibt, daß das δπερ δν doch mehreres ist und 'seiend' nicht nur Eines bezeichnet.59 In der Aussage, daß das δπερ δν in ein anderes (άλλο) δπερ δν τι unterteilt werden kann, liegt die Betonung auf dem Ausdruck „αλλο", 60 wodurch verdeutlicht werden soll, daß der λόγος des Menschen diesen als etwas bestimmt, was in einer bestimmten Hinsicht von Mensch verschieden ist. Nun soll diese Verschiedenheit jedoch nicht eine solche sein, wie sie beim „weißen Menschen" vorliegt, wo „weiß" von Mensch κατά συμβεβηκός ausgesagt wird; vielmehr soll sie eine solche sein, bei der etwas καθ' αυτό vom Menschen ausgesagt wird und doch von Mensch verschieden ist. Diese Eigenheit wird gerade durch einen definitorischen Begriff erfüllt. Denn durch eine Definition wird einerseits das zu Definierende (Definiendum) seinem Wesen nach (καθ' αυτό) bestimmt,61 und andererseits liegt insofern eine Verschiedenheit von Definiens und Definiendum vor, als das Definiendum im Definiens nicht vorkommen darf. Das Definiens führt das Definiendum vielmehr auf etwas anderes zurück, wobei dessen Bestandteile (genus proximum und differentia specified) für sich betrachtet mit dem Definiendum nicht identisch sind. Weder ist nämlich jedes Zweifüßige noch ist jedes Sinnenwesen ein Mensch. Zur Begründung seiner These, daß auch 'ζωον' und 'δίπουν' ein δπερ δν τι sind, wenn 'άνθρωπος' ein δπερ δν τι ist, bedient sich Aristoteles erneut des Mittels einer Reductio ad absurdum, in der davon ausgegangen wird, daß 'ζωον' und 'δίπουν' kein δπερ δν τι sind: Denn wenn sie kein bestimmtes An-sich-Seiendes wären, so wären sie akzidentell Zukommendes [συμβεβηκότα], Und sie würden entweder dem Menschen oder einem anderen bestimmten Zugrundeliegenden [akzidentell zukommen]. Dies aber ist unmöglich. (1.3, 186b 17-18) Aus der Disjunktion „entweder δπερ δν τι oder συμβεβηκότα", die aus aristotelischer Sicht als vollständig zu betrachten ist, wird deutlich, daß Aristoteles das δπερ δν, das er den συμβεβηκότα gegenüberstellt, als Wesensbestimmung versteht. Seine Begründung lautet: Wenn 'ζωον' und 'δίπουν' keine Wesensbestim-
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Es ist unklar, ob Aristoteles hier meint, mit 'ζώον' und 'δίπουν' läge ein einziges δπερ öv τι vor ('ζωον δίπουν'), so daß sich die Zweiheit 'άνθρωπος' und "ζώον δίπουν' ergäbe, oder ob er meint, ein jedes von diesen beiden ('ζωον' und 'δίπουν') sei flir sich ein δπερ δν τι. Denn einerseits spricht Aristoteles zunächst im Singular von „εις δπερ öv τι αλλο" (b 14-15), was dafllr spricht, daß 'ζφον' und 'δίπουν' zusammen ein δπερ δν τι darstellen, doch andererseits spricht er im Plural von „συμβεβηκότα" (bl7), wenn er die Möglichkeit erwähnt, daß sie nicht ein δπερ δν τι sind und folglich Akzidentien sein müssen. Bereits die antiken Kommentatoren waren sich nicht einig, ob in bI4-15 der Singular „öv τι αλλο" oder der Plural „δντα" stehen muß. Zugleich zerfällt das δπερ öv nicht nur in ein anderes (αλλο), sondern auch in ein bestimmtes (τι) anderes δπερ öv (vgl. dazu 1.3,187a8-9: „Wer begreift schon 'das Seiende selbst', wenn es nicht ein bestimmtes An-sich-Seiendes [δπερ öv τι] ist"). Das δπερ öv muß Aristoteles zufolge immer schon als ein δπερ öv τι gefaßt werden, da es sich sonst aufgrund der inhaltlichen Leere seines Begriffs jeglichem Verstehen entzieht. Vgl. Met. VII. 12; De Int. 5; An. post. II.5.
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mungen (δπερ öv τι) sind, so bleibt nur übrig, daß sie Akzidentien (συμβεβηκότα) sind. Sind sie jedoch Akzidentien, so kommen sie an etwas vor (vgl. 186a34-35) und mithin (notwendigerweise) entweder an Mensch oder an einem anderen. Beides aber ist - wie Aristoteles im nachfolgenden zeigen wird - unmöglich. Es deutet sich an dieser Stelle bereits ein für das weitere Verständnis der Argumentation wichtiger Gesichtspunkt an. Die logischen Disjunktionen „entweder δπερ öv τι oder συμβεβηκότα" und „entweder an Mensch oder an einem anderen", die sich auf das vom Menschen zu Prädizierende ,,ζωον δίπουν" beziehen, werden hier nicht aus Sicht des Subjekts „άνθρωπος", sondern aus Sicht des Prädikats ,,ζωον δίπουν" aufgestellt. Denn es heißt ja, daß die συμβεβηκότα entweder an Mensch oder an einem anderen vorkommen. Würden die Disjunktionen aus Sicht des Subjekts aufgestellt werden, so würde die zweite Disjunktion eher lauten „entweder ist es συμβεβηκός an Mensch oder nicht1", von einem 'anderen' wäre hier zunächst keine Rede. Daß ,,ζωον" und „δίπουν" jedoch συμβεβηκότα an Mensch oder einem anderen sind, ist Aristoteles zufolge unmöglich: Denn ein Akzidens [συμβεβηκός] wird dies genannt: Entweder etwas, daß beliebig an etwas vorkommen und nicht vorkommen kann [δ έ ν δ έ χ ε τ α ι ΰ π ά ρ χ ε ι ν καί μή ύ π ά ρ χ ε ι ν ] , oder etwas, in dessen Begriff das, dem es akzidentell zukommt, vorhanden ist, [oder etwas, in dem der Begriff dessen, dem es zukommt, schon vorhanden ist] 62 (z.B. ist 'sitzen' [καθήσθαι] abtrennbar, in 'stupsig' [τό σιμόν] 6 3 hingegen ist der Begriff der Nase vorhanden, von der man sagt, daß 'stupsig' ihr akzidentell zukommt). (1.3, 186b 1 8 - 2 3 )
Betrachtet man die drei Alternativen genauer, so ergibt sich folgendes Bild: Ein συμβεβηκός ist entweder etwas, (1) was [an etwas] vorhanden und nicht vorhanden sein kann (b 19-20); oder etwas, (2) in dessen λόγος dasjenige, dem es nebenbei zukommt, vorhanden ist (b20); oder etwas, (3) in dem der λόγος [dessen] vorhanden ist, dem es nebenbei zukommt (b20-21). Ist in (2) davon die Rede, daß in dem λόγος (des συμβεβηκός) dasjenige enthalten ist, dem es zukommt, so ist in (3) davon die Rede, daß in dem συμβεβηκός der λόγος (dessen) enthalten ist, dem es nebenbei zukommt. Die in eckige Klammem gesetzte dritte Variante findet sich in den meisten MSS nicht. Da Aristoteles im folgenden auch nur zwei Beispiele anführt und behandelt, „liegt es nahe, die Disjunktion auch nur zweifach anzusetzen, und die dritte Möglichkeit als varia lectio - welches Lesers auch immer - zum zweiten aufzufassen" (Zekl, 1987: 242, Fn.28). Ross (1936: 340 und 477) läßt es ebenso wie Philoponus, Simplicius, Hardie/Gaye (1930) und Wicksteed/Cornford (1980: 34/35) ganz weg, während Wagner (1967: 12) es in Klammem setzt. Demgegenüber wird es von Prantl (1854: 21), Gohlke (1956: 37) und Carteron (21952: 35) stehengelassen. Charlton (1970: 6 und 46), der es ebenfalls stehenläßt, klammert jedoch die zweite Variante (,,ή οΰ έν τω λόγω υπάρχει τό φ συμβέβηκεν": 186 b20) ein, weil seiner Ansicht nach die dritte Variante (,,έν ω ό λόγος υπάρχει φ συμβέβηκεν": b20-21) - obgleich sie als Formulierung dessen, was Aristoteles meint, schlechter ist - parallel zum Beispiel von b22-3 ,,έν δέ τω σιμω υπάρχει ό λόγος ό της ^ινός fj φαμέν συμβεβηκέναι τό σιμόν" formuliert ist. Die Übersetzung von ,,τό σιμόν" mit „stupsig" ist keine wörtliche Übersetzung; zudem stellt das Adjektiv „stupsig" im Deutschen einen Neologismus dar. Wörtlich übersetzt bedeutet ,,τό σιμόν" soviel wie „sttllp- oder stumpfnasig" und bezeichnet eine Krummheit, die nur an Nasen vorkommt. Anders als im Deutschen, wo in „stumpfnasig" bereits das Wort „Nase" enthalten ist, ist im Griechischen in „σιμόν" das Wort ,^ίς" nicht enthalten. Dieses Verhältnis soll durch die Übersetzung „stupsig" wiedergegeben werden. Einige Übersetzer wählen zur Verdeutlichung andere Beispiele, bei denen sich dasselbe Verhältnis auch im Deutschen widerspiegelt: z.B. „blond", das nur von Haaren, oder „schielend", das nur von Augen ausgesagt werden kann.
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Aristoteles legt hier eine Bedeutungsunterscheidung von „Akzidens" (συμβεβηκός) zugrunde, die als vollständig (vgl. 'ή...ή': bl9-20) anzusehen ist. Dieser Bedeutungsunterscheidung zufolge ist ein Akzidens entweder (1) etwas, das beliebig an etwas vorhanden und nicht vorhanden sein kann, oder (2) etwas, in dem der Begriff dessen, dem es akzidentell zukommt, vorhanden ist.64 Beide Bedeutungen werden durch Beispiele verdeutlicht: So ist „sitzen" (καθήσθοα) als Abtrennbares (χωριζόμενοv) ein συμβεβηκός in der Bedeutung (1), während „stupsig" (τό σιμόν) als etwas, in dem der λόγος dessen enthalten ist, dem es nebenbei zukommt - nämlich der Nase (ρίς) -, ein συμβεβηκός in der Bedeutung (2) ist. Wird hier von der Eigenschaft des 'Sitzens' gesagt, daß sie abtrennbar sei, so ist freilich nicht gemeint, daß sie als Selbständiges gleichsam wie ein Ding (ουσία) neben anderen Dingen existieren kann.65 Vielmehr scheint mit dem Ausdruck ,,χωριζόμενον" hier zunächst gemeint zu sein, daß das 'Sitzen' vom Subjekt aus betrachtet eine solche Eigenschaft ist, die an dem Subjekt vorhanden oder nicht vorhanden sein kann, ohne daß sich das Subjekt durch seine An- oder Abwesenheit in seinem Wesen ändert. Schaut man jedoch genauer hin, so ergibt sich allerdings folgende Schwierigkeit bezüglich dieser Bedeutung. Da nämlich auch 'stupsig' in bezug auf das Subjekt der 'Nase' vom Subjekt aus betrachtet eine solche Eigenschaft ist, die an dem Subjekt vorhanden oder nicht vorhanden sein kann, ohne daß sich das Subjekt durch seine An- oder Abwesenheit in seinem Wesen ändert - so muß ja nicht jede Nase stupsig sein -, hätten wir es in bezug auf das ,,χωριζόμενον", wenn wir es in diesem Sinne verstehen, nicht mit einem unterscheidenden Kriterium zwischen den Bedeutungen (1) und (2) zu tun. Da in dem ,,χωριζόμενον" aber offenkundig ein die Bedeutungen (1) und (2) unterscheidenes Kriterium zu sehen ist (vgl. die Gegenüberstellung „μέν.,.δέ" in 186b21-23), scheint mir mit dem ,,χωριζόμενον" primär gemeint zu sein, daß man „Sitzen" abgetrennt und unabhängig von demjenigen erklären kann, an dem es vorkommt.66 Dies ist nämlich bei „stupsig" insofern nicht der Fall, als wir zur Erklärung des Wortes „stupsig" immer schon auf den Begriff der Nase verweisen müssen. Das „Zukommen-und-nicht-Zukommen-Können" (vgl. „ενδέχεται ύπάρχειν και μή ύπάρχειν": b 19-20), von dem in der Bedeutung (1) die Rede ist, ist aufgrund der die einzelnen Bedeutungen des συμβεβηκός trennenden Disjunktion Ich fasse die in Fn.62 dargelegten Varianten (2) und (3) in dieser Weise zusammen. In 1.2, 185a31 -32 wurde ausdrücklich hervorgehoben, daß nichts außer der ουσία abtrennbar (χωριστόν) ist. In diesem Sinne heißt es auch in 1.5, 188al2-13, daß die Zustande (τά πάθη) nicht abtrennbar (αχώριστα) sind. Da Aristoteles hier nun einer Eigenschaft zuspricht, daß sie 'χωριζόμενον' (186b22) bzw. 'χωριστόν' (b28) sei, haben wir es offenkundig mit einer Äquivozität des Wortes „χωριστόν" zu tun (vgl. dazu Gohlke (1956: 311, Fn.5), der dies als eine „ausgesprochene Ungeschicklichkeit" betrachtet). Vgl. Met. VII.5, 1030b23-26: „Darunter versteht man nämlich alles dasjenige, in welchem der Begriff oder Name dessen, an welchem es eine Affektion ist, enthalten ist, und was man nicht abgetrennt davon erklären kann [μή ένδέχεται δηλώσαι χωρίς], wie man wohl das Weiße erklären kann ohne den Menschen, aber nicht das Weibliche ohne das Tier." [Übers, nach Bonitz].
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„entweder ... oder*' ('ή...ή': bl9-20) hier nicht als eine allen Bedeutungen von συμβεβηκός gemeinsame und grundlegende Charakterisierung, sondern als eine der anderen Bedeutung (2) gegenüberstehende Alternative zu betrachten. Der Gedanke, daß das ,,ένδέχεται ΰπάρχειν και μή ΰπάρχειν" eine allen Bedeutungen des συμβεβηκός gemeinsame und grundlegende Bestimmung ist, liegt ja zunächst nahe, sofern man die Disjunktion aus Sicht des Subjekts betrachtet. Dann nämlich wäre sowohl 'sitzen' als auch 'stupsig' zunächst etwas, das zukommen oder nicht zukommen kann, wobei sich 'sitzen' und 'stupsig' weitergehend darin unterscheiden würden, daß in dem einen Fall der λόγος dessen, dem es zukommt, im συμβεβηκός enthalten ist, während in dem anderen Fall der λόγος dessen, dem es zukommt, im συμβεβηκός nicht enthalten ist. In diesem Sinne charakterisieren Gershenson und Greenberg (1962: 149) die uns für gewöhnlich begegnende aristotelische Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός.67 Da nun aber an der uns vorliegenden Textstelle in Phys. 1.3 das ,,ένδέχεται ΰπάρχειν και μή ΰπάρχειν" aufgrund der Disjunktion „entweder ... oder" offenkundig nicht als eine gemeinsame und grundlegende Bestimmung des συμβεβηκός angeführt wird, sind Gershenson und Greenberg der Ansicht, daß wir es hier mit einer eleatischen Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός zu tun haben: Aristotle first defines an advenient, according to Eleatic usage. The definition has two parts ( 1 8 6 B 1 8 - 2 0 : »An advenient is either that which may either exist or not e x ist (belong or not belong, indifferently, [to the subject it modifies]) or that which inv o l v e s in its definition that to which it is advenient.« N o w in Aristotelian usage all accidental attributes may either belong or not belong, indifferently, to the subject they modify; a subset o f these attributes would have the additional property o f involving their subject in their definition. Therefore, if Aristotle were defining σ υ μ βεβηκός, he w o u l d not have found it necessary to present these two parallel definitions, but w o u l d have subordinated the second to the first. It is therefore clear that the twofold definition o f advenient given here reflects precisely the meaning o f this word for the Eleatics; the first reflects the way they used the word in speaking about true being, and the second reflects its usage in the method o f division, and hence in the world o f appearance. (Gershenson/Greenberg, 1962: 148 f.)
Dieser von Gershenson und Greenberg vorgelegten Interpretation, die in der zweigliedrigen Definition des συμβεβηκός eine eleatische Definition sehen, welches im Einklang mit ihrer Grundthese steht, daß Aristoteles im zweiten Teil seiner Argumentation gegen die Eleaten aus eleatischer Sicht und eleatische Prämissen verwendend argumentiert, ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: Zum einen hat Aristoteles in 186a31 -32 betont, daß die Eleaten den Unterschied von Ding und Eigenschaft noch nicht kannten. Wie sollte es ihnen da möglich sein, eine BedeutungsdifTerenzierung des συμβεβηκός vorzunehmen? Zum anderen ist in den Kapiteln 1.2 und 1.3 von der sogenannten Doxa-Lehre des ParZur gewöhnlichen Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός vgl. Met. V.30, VII.5, VI.2, X.10, XI.8 und Phys. VIII.5, 256b9-10, wo Aristoteles die grundlegende Bedeutung von „συμβεβηκός" darin sieht, daß das συμβεβηκός zwar faktisch, nicht aber notwendig und auch nicht in der Regel zukommt, bzw. darin, daß es zwar faktisch zukommt, daß aber zugleich die Möglichkeit besteht, daß es nicht zukommt.
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menides, der Gershenson und Greenberg den zweiten Teil der Definition des συμβεβηκός zuordnen, noch keine Rede.68 Meines Erachtens ist die in 186b 1823 vorgelegte Bedeutungsdifferenzierung des συμβεβηκός durchaus als eine aristotelische Bedeutungsdifferenzierung zu verstehen, die insofern ohne Schwierigkeiten als eine aristotelische Differenzierung angesehen werden kann, als man sich der Tatsache bewußt sein muß, daß Aristoteles die Bedeutungsdifferenzierung hier nicht aus Sicht des Subjekts, sondern vielmehr aus Sicht des Prädikats vornimmt. Dies läßt sich durch folgende Überlegungen stützen: (i) Aus Sicht des Prädikats kommt das συμβεβηκός dem Menschen oder einem anderen zu (aus Sicht des Subjekts käme das συμβεβηκός dem Menschen zu oder nicht zu), (ii) Aus Sicht des Prädikats ist im συμβεβηκός der λόγος dessen enthalten, dem es zukommt, bzw. ist im λόγος des συμβεβηκός dasjenige enthalten, dem es zukommt (aus Sicht des Subjekts wäre es selbst im λόγος des συμβεβηκός enthalten, das ihm zukommt), (iii) Aus Sicht des Prädikats wird 'sitzen' ohne Bezug auf irgendein zugehöriges Subjekt angeführt (aus Sicht des Subjekts wäre der Bezug des Beispiels 'sitzen' bereits mitgegeben), (iv) Versteht man die Bedeutungsdifferenzierung als aus Sicht des Prädikats vorgenommen, so erklärt sich auch der Umstand, warum Aristoteles 'sitzen' im Gegensatz zu 'stupsig' als ein „χωριζόμενοv" bestimmt. Denn aus Sicht des Prädikats kann 'sitzen' getrennt von einem Subjekt, dem es zukommt, erklärt werden, was bei 'stupsig' nicht der Fall ist. Zur Verdeutlichung meiner These sei eine Textstelle aus der Topik hinzugezogen, in der Aristoteles eine Definition von „συμβεβηκός" gibt, die zu der in Phys. 1.3 aufgestellten Definition in einer auffallenden Parallele steht: Akzidenz [συμβεβηκός] ist was keines von diesen ist, nicht Definition [δρος], nicht Proprium [ίδιον], nicht Gattung [γένος], aber dem Dinge [τω πράγματι] zukommt, und was einem und demselben, sei es was immer, zukommen und nicht zukommen kann [και δ ένδέχεται ύπάρχειν ότωοΰν ένϊ και τω αϋτω και μή ϋπάρχειν], wie es z.B. einem und demselben zukommen und nicht zukommen kann, daß es sitzt. Gleiches gilt von dem Weißen. Nichts hindert ja, daß dasselbe Ding bald weiß, bald nicht weiß ist. Von den Begriffsbestimmungen des Akzidenz ist die zweite besser. Um die zuerst aufgestellte zu verstehen, muß man zuvor wissen, was Definition, Gattung und Proprium ist, dagegen genügt die zweite für sich, um uns erkennen zu lassen, was das Akzidentelle an sich ist. {Top. 1.5, 102b4-14; Ubers, nach Rolfes)
In der zweiten Definition bestimmt Aristoteles das συμβεβηκός als dasjenige, „was einem und demselben, sei es was immer, zukommen und nicht zukommen kann" (102b6-7), wobei er bezeichnenderweise als Beispiel ebenfalls 'sitzen' nennt. Legt man diese Definition zugrunde, so wird deutlich, warum für 'stupsig' nicht gilt, daß es zukommen und nicht zukommen kann, bzw. warum es im Gegensatz zu 'sitzen' kein χωριζόμενον ist: Denn für 'stupsig' ist es unmöglich, daß es einem und demselben, sei es was immer (vgl. „ότωοΰν": b6), zukommen und nicht zukommen kann, weil es ja auf ein bestimmtes Subjekt bezogen ist, Dies findet seinen Grund darin, daß Parmenides in seiner Doxa-Lehre das Vorhandensein einer Vielheit, welches er in seiner hier zur Diskussion stehenden Aletheia-Lehre leugnet, schließlich zugesteht.
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von dem es zwar aus Sicht des Subjekts ('Nase'), nicht aber aus Sicht des Prädikats ('stupsig') abtrennbar ist. Aus Sicht des Subjekts, dem ein Prädikat zukommt, ist sowohl 'sitzen' als auch 'stupsig' als ein συμβεβηκός anzusehen, das zukommen oder nicht zukommen kann. Aus Sicht des Prädikats hingegen, das einem Subjekt zukommt, gilt für das 'sitzen', daß es zukommen und nicht zukommen kann, während dies bei 'stupsig' in dem dargelegten Sinne nicht der Fall ist. Das „Zukommen-und-Nicht-zukommen-können" bezieht sich somit auf ein beliebiges Subjekt. Mit anderen Worten: Wir haben es hier in Kapitel 1.3 mit zwei verschiedenen συμβεβηκότα zu tun, die sich mit Hilfe der Begriffe συμβεβηκός κατά συμβεβηκός (z.B. 'sitzen') einerseits und συμβεβηκός καθ' αυτό (z.B. 'stupsig') andererseits unterscheiden lassen.69 Während Aristoteles den Ausdruck 'stupsig' für gewöhnlich als Beispiel für eine besondere καθ' αύτό-Prädikation verwendet, so wird er hier jedoch als ein συμβεβηκός verstanden. Der Grund für die Verschiedenheit von 'stupsig' als καθ' αύτό-Prädikat einerseits und als κατά συμβεβηκός-Prädikat andererseits ist in der Verschiedenheit des Betrachtungspunktes zu sehen: Denn vom Subjekt (ΰποκείμενον) aus betrachtet, das in diesem Falle diese Nase ist, kommt 'stupsig' der Nase in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) zu, da die Nase auch eine Nase bleibt, wenn sie nicht stupsig ist. Vom Prädikat ('stupsig') aus betrachtet kommt 'stupsig' der Nase jedoch an sich (καθ' αυτό) zu, da es, soll es überhaupt einem Subjekt zukommen, einzig der Nase zukommen kann. Im folgenden wird Aristoteles nun die aufgezeigten Bedeutungsmöglichkeiten des συμβεβηκός in bezug auf das ,,ζφον δίπουν" einzeln durchgehen und zeigen, daß ,,ζφον δίπουν" in keiner der dargelegten Bedeutungen ein συμβεβηκός sein kann. Weiter: Was an [Teilen] in dem definierenden Begriff [έν τω όριστικω λόγω] enthalten ist, oder aus welchen er besteht, in deren Begriff ist nicht der Begriff des Ganzen enthalten, wie z.B. in 'zweifüßig' nicht der Begriff des 'Menschen' oder in 'weiß' nicht der Begriff des 'weißen Menschen' [enthalten ist]. Wenn sich dies also auf diese Weise verhält und 'zweifüßig' dem Menschen akzidentell zukäme, dann wäre es selbst ['zweifüßig'] notwendigerweise abtrennbar, so daß es möglich würde, daß der Mensch auch einmal nicht zweifüßig wäre; oder aber im Begriff des Zweifüßigen wäre der Begriff des Menschen enthalten. Dies aber ist unmöglich. Denn jenes [zweifüßig] ist in dem Begriff von diesem [Mensch] enthalten. (1.3, 186b23-31)
Zunächst stellt Aristoteles als weitere Prämisse der Argumentation heraus, daß in den Teilen einer Definition nicht der Begriff des Ganzen enthalten ist. So ist weder in 'zweifüßig' noch in 'Sinnenwesen' der Begriff des 'Menschen' enthal-
Der Begriff eines „συμβεβηκός καθ' αύτό" findet sich u.a. in Met. V.30, 1025a30-34, Phys. II.2, 193b27-28 und 111.4, 203b33. Vgl. auch An. post. 1.4, wo Aristoteles zwischen einer zweifachen Bedeutung von ,,καθ' αύτό" differenziert: (1) Aus Sicht des Subjekts gehört ein Prädikat (Ρ) καθ' αύτό zu einem Subjekt (S), wenn Ρ im Begriff von S enthalten ist (so gehört z.B. δίπουν und ζώον καθ' αύτό zu άνθρωπος). (2) Aus Sicht des Prädikats gehört ein Prädikat (P) καθ' αύτό zu einem Subjekt (S), wenn S im Begriff von Ρ enthalten ist (so gehört z.B. σιμόν καθ' αύτό zu ρίς). Vgl. dazu auch Gill (1989: 114 f.).
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ten.70 In dieser Hinsicht verhält sich die Bestimmung 'zweifüßig' in bezug auf Mensch analog zur Bestimmung 'weiß' in bezug auf Mensch. Denn weder ein Weißes noch ein Zweifüßiges ist notwendigerweise ein Mensch, woraus deutlich wird, daß die Extensionen der Begriffe 'Mensch' und 'Zweifüßiges' verschieden sind.71 Hinsichtlich der Bedeutungsmöglichkeiten des συμβεβηκός in bezug auf 'Sinnenwesen' und 'zweifüßig' beginnt Aristoteles mit der Untersuchung der Möglichkeit, daß diese ein συμβεβηκός an 'Mensch' darstellen: Wenn sich das alles also in der beschriebenen Weise verhält (b25-26), und wenn 'zweifüßig' dem Menschen als συμβεβηκός zukommt (b27-28), so ergibt sich folgendes: (i) Entweder ist 'zweifüßig' von Mensch abtrennbar (χωριστόν), so daß Mensch auch einmal nicht zweifüßig wäre, oder (ii) im λόγος von 'zweifüßig' ist der λόγος von Mensch enthalten. Beides ist aber unmöglich.72 Wenn (i) 'zweifüßig' in der Bedeutung eines 'χωριστόν' ein συμβεβηκός an Mensch wäre, so würde sich die widersinnige Konklusion ergeben, daß Mensch auch einmal nicht zweifüßig wäre, welches Aristoteles als einen derart offenkundigen Widerspruch betrachtet, daß er selbst keine weitere Begründung anführt.73 Wenn aber (ii) 'zweifüßig' im Sinne von 'stupsig' ein συμβεβηκός an Mensch wäre, so stünde dies im Widerspruch zu dem bereits Dargelegten (vgl. b23-26), dem zufolge nicht in „zweifüßig" der λόγος des Menschen, sondern umgekehrt in „Mensch" der λόγος des Zweifüßigen enthalten ist. Um also weiterhin behaupten zu können, 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' seien συμβεβηκότα, bleibt einzig die letzte Alternative übrig, der zufolge sie συμβεβηκότα an einem anderen sind: Wenn aber 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen akzidentell zukommen, und wenn ein jedes von beiden kein bestimmtes An-sich-Seiendes ist, dann wäre auch 'Mensch' ein akzidentell Zukommendes für ein [von sich] Verschiedenes. Aber das An-sich-Seiende soll doch für nichts ein akzidentell Zukommendes sein, und dasjenige, von dem beide [und jedes für sich] [και έκατέρον] [ausgesagt werden], soll das 'aus diesen' [τό έκ τούτων] genannt werden. Soll also das Ganze aus Unteilbarem bestehen [έξ αδιαιρέτων αρα τό πάν]? (1.3, 186b31-35)
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„Zweifüßig" und „Sinnenwesen" sind keine propria des Menschen (vgl. Top. 1.5). Der Unterschied der Bestimmungen von „weiß" und ,zweifüßig" in bezug auf Mensch kommt darin zum Ausdruck, daß als Ganzes fllr „weiß" der 'weiße Mensch', als Ganzes fllr „zweifüßig" hingegen nur der 'Mensch' (und nicht der 'zweifüßige Mensch') genannt wird. Während 'weiß' und 'Mensch' Aristoteles zufolge eine Vielheit darstellen und erst in Form von 'weißer Mensch' eine Einheit bilden, stellen 'Sinnenwesen' und 'zweifüßig' die Einheit 'Mensch' dar, die durch sie erst konstituiert wird und bei der das eine nicht am anderen teilnimmt, da das Genus nicht an seinen Unterschieden teilnimmt (vgl. Met. VII. 12 und VII.5). Eine analoge Argumentation ließe sich auch für 'Sinnenwesen' als σομβεβηκός an Mensch rekonstruieren, was Aristoteles hier nicht tut. Es ist hier nicht gemeint, daß es keine nicht-zweifüßigen Menschen geben könne - man denke an einen Unfall, wo ein Mensch ein Bein verliert - oder gar, daß diese nicht-zweifüßigen Unfallopfer keine Menschen mehr wären. Vielmehr ist gemeint, daß, wenn 'zweifüßig' dem Menschen als σομβεβηκός zukommt, es ihm nicht notwendig bzw. nicht in der Regel (ως έπΐ τό πολύ) zukommt, zweifüßig zu sein. Der nicht-zweifüßige Mensch stellt jedoch nicht den Regelfall dar. Deutlicher würde die Aporie in bezug auf 'Sinnenwesen' ausfallen, denn ein Mensch ist zwar in der Regel zweifüßig, jedoch ist er notwendigerweise ein Sinnenwesen.
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In vereinfachter Gestalt lautet das hier dargelegte Argument wie folgt: (1) Wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen ( α λ λ φ ) - d.h. nicht dem Menschen - als συμβεβηκότα zukämen, und wenn (2) 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' kein δπερ öv τι sind,74 dann (3) wäre letztlich auch 'Mensch' ein συμβεβηκός für ein (von sich) Verschiedenes (vgl. ,,έτέρφ"), was im Widerspruch zur Ausgangsprämisse steht, der zufolge doch angenommen wurde, daß Mensch ein δπερ δν τι sei (vgl. 186 bl 5-16). Die Schwierigkeit, die mit diesem Argument verbunden ist, liegt nun in der Konklusion (3), da aus den Prämissen nicht unmittelbar einsichtig ist, wie Aristoteles zu dieser Konklusion gelangt, die offenkundig die Widersinnigkeit der Annahme (1) deutlich machen soll. Kommen 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen als συμβεβηκότα zu, so bestehen auch hier zunächst grundsätzlich beide Bedeutungsmöglichkeiten von ,,συμβεβηκός". Aristoteles scheint jedoch die zweite Bedeutungsmöglichkeit von ,,συμβεβηκός" im Sinne von 'stupsig' aus dem Grunde erst gar nicht in Erwägung zu ziehen, da, wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen in dem Sinne akzidentell zukämen, wie 'stupsig' der Nase akzidentell zukommt, ein Mensch niemals zweifüßig oder ein Sinnenwesen sein könnte, was offensichtlich absurd ist. Folglich bleibt nur die erste Bedeutungsmöglichkeit von ,,συμβεβηκός" im Sinne von 'sitzen' (ένδέχεται ΰπάρχειν και μή ΰπάρχειν) übrig. Warum also würde auch 'Mensch' zu einem συμβεβηκός an einem von ihm Verschiedenen, wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' συμβεβηκότα an einem anderen wären? Innerhalb der Sekundärliteratur wird diese Frage zumeist dadurch beantwortet, daß Mensch ja „zweifüßiges Sinnenwesen" bedeutet, so daß, wenn „zweifüßiges Sinnenwesen" von einem anderen als συμβεβηκός ausgesagt wird, auch „Mensch" von diesem anderen als συμβεβηκός ausgesagt würde. Zur Stützung dieser Interpretation wird auf b34-35 hingewiesen, wo es heißt, daß dasjenige, von dem beide [oder jedes für sich] ausgesagt werden, das „aus diesen" genannt werden soll. In dieser Aussage wird dann die implizite Behauptung gesehen, daß Mensch das „aus diesen" (nämlich aus 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen') sei.75
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Diese Prämisse ergibt sich unmittelbar aus (1), denn ein συμβεβηκός soll ja gerade kein δπερ öv τι sein. Vgl. Turnbull (1976: 47): „If animal and biped hold for something else that is other than man, then (since they form the definition of man) man must hold for it also. But then man could not be that very being." Vgl. auch Ross (1936: 477 f.). Nach Ansicht von Ross endet das Hauptargument in b33 mit ,,έτέρφ", wobei er das nachfolgende „ ά λ λ α ... πάν" (b33-35) als zusätzliche Reflexion von Aristoteles ansieht. Obgleich die MSS nicht eindeutig sind und eher dafür sprechen, das „και έκατέρον" (b34-35) stehenzulassen, setzt Ross es in Klammern, da in dem Satz „dasjenige, von dem beides und jedes fllr sich ausgesagt wird, soll das 'aus diesen' genannt werden" das „und jedes für sich" seiner Ansicht nach überflüssig ist, sofern die Aussage besagen soll, daß Mensch aus ,zweifüßig und Sinnenwesen" zusammengesetzt ist. Einige Interpreten haben die Begründung der Konklusion in dem Abschnitt b34-35 gesehen, weshalb Laas (vgl. Ross, 1936: 478) für eine Umstellung des Textes plädiert, die bereits von Simplicius erwogen wurde. Gegen diese Möglichkeit der von Laas vorgeschlagenen Textumstellung hat Ross jedoch triftige Argumente angeführt.
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
Diese Interpretation erweist sich jedoch aus folgenden Gründen als problematisch: Soll das in b34-35 Gesagte als Begründung der Konklusion fungieren, so würde man erwarten, daß es eigentlich an früherer Stelle - unmittelbar nach der Konklusion - stehen müßte und mit einem Begründungspartikel (γάρ) eingeleitet wäre.76 Zudem ist folgender Einwand zu erheben: Die Argumentation, der zufolge angenommen wird, daß 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen als συμβεβηκότα zukommen, setzt doch gerade voraus, daß sie nicht Mensch zukommen, und zwar weder καθ' αυτό noch κατά συμβεβηκός. Denn daß sie Mensch (a) nicht κατά συμβεβηκός zukommen, wurde im Vorhergehenden (b26-31) gezeigt, und daß sie Mensch (b) nicht καθ' αυτό zukommen, ist ja gerade die Ausgangsprämisse der Gesamtargumentation (εί γάρ μή δπερ δν τν: 186 bl7), die durch eine Reductio ad absurdum erst widerlegt werden soll. Würde Aristoteles folglich die Konklusion „Mensch wäre ebenfalls ein συμβεβηκός" damit begründen, daß „zweifüßiges Lebewesen" καθ' αύτό von Mensch ausgesagt wird, so würde er in seiner Begründung bereits voraussetzen, was erst durch die Unmöglichkeit der letzten Alternative („an einem anderen") bewiesen werden soll. Da es jedoch als unwahrscheinlich erscheint, daß Aristoteles hier einen derartigen formalen Argumentationsfehler begeht, muß der Grund dafür, daß auch 'Mensch' zu einem συμβεβηκός würde, ein anderer sein, den ich in folgendem sehe: (1) Wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' einem anderen (d.h. nicht dem Menschen) als συμβεβηκότα zukämen, würde sich die Frage stellen, in welchem Verhältnis der 'Mensch' dann zu diesem anderen stünde. Nun lautete der Ausgangspunkt der gesamten Argumentation, daß 'Mensch' ein An-sich-Seiendes (δπερ öv) ist (186bl5-16). Folglich gilt: (a) 'Mensch' darf nicht völlig getrennt von dem anderen, dem 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' nun als συμβεβηκότα zukommen sollen, existieren, da wir sonst bereits zwei An-sich-Seiende und somit eine Vielheit hätten, (b) Folglich muß 'Mensch' ebenfalls in einer Relation zu dem anderen ύποκείμενον stehen, so daß 'Mensch' entweder (bl) καθ' αύτό als δπερ öv und Wesensbestimmung diesem anderen zukommt oder (b2) als συμβεβηκός. Würde 'Mensch' nun dem anderen (bl) καθ' αύτό als Wesensbestimmung zukommen, so gäbe es entweder wiederum zwei An-sich-Seiende, sofern 'Mensch' und das andere ύποκείμενον nach Voraussetzung („entweder Mensch oder einem anderen Zugrundeliegenden": 186bl7-18) nicht identisch sind, oder aber, falls Mensch mit diesem anderen ύποκείμενον identisch ist, ergäbe sich, daß 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' dann als συμβεβηκότα an dem anderen ύποκείμενον auch 'Mensch' als συμβεβηκότα zukämen, was jedoch bereits in b24-31 ausgeschlossen wurde. Folglich bleibt einzig die Möglichkeit (b2) übrig, daß auch 'Mensch' neben 'zweifüßig ' und 'Sinnenwesen' ein συμβεβηκός an dem anderen ύποκείμενον ist. Die Unmöglichkeit dieser Alternative zeigt Aristoteles im folgenden: 76
Ross (1936: 477 f.) scheint dieses Problem zu sehen, weshalb er auch b34-35 nicht als eine Begründung der Konklusion, sondern als Teil einer zusatzlichen Reflexion von Aristoteles ansieht. Dennoch ist auch er der Ansicht, daß die Begründung für die Konklusion darin zu sehen ist, daß die Definition von „Mensch" ,zweifüßiges Sinnenwesen" lautet, und daß folglich auch „Mensch" zu einem συμβεβηκός wird, wenn „zweifüßiges Sinnenwesen" ein συμβεβηκός ist.
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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Aber das An-sich-Seiende soll doch für nichts ein akzidentell Zukommendes sein, und das, von dem beide [und jedes für sich][icai έκατέρον] [ausgesagt werden], soll das 'aus diesen' [τό έκ τούτων] genannt werden. Soll also das Ganze aus Unteilbarem bestehen [έξ άδιαιρέτων άρα τό πάν]? (1.3, 186b33-35) Die Aporien, die entstehen würden, wenn 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' - und letztlich auch 'Mensch' - συμβεβηκότα an einem anderen ύποκείμενον wären, zeigt Aristoteles mit Hilfe der beiden Imperative ,,εστω" (b34) und ,,λεγέσθω" (b35) auf: (1) „Das δπερ δν soll aber für nichts ein συμβεβηκός sein" ( ά λ λ α τό δπερ öv εστω μηδενι συμβεβηκός: b33-34). Dies ist so zu verstehen, daß Aristoteles darauf aufmerksam machen will, daß mit dem 'Menschen' nun als συμβεβηκός ein Widerspruch zur Ausgangsprämisse „wenn Mensch ein δπερ öv τι ist" (ό άνθρωπος εϊ εστίν δπερ öv τι: bl5-16) vorliegt. Zugleich greift Aristoteles mit seinem Einwand auf 186a32-b4 zurück, wo sich aus der eleatischen Prämisse ,,άπλώς τό öv λέγεσθαι" (186a24-25) notwendigerweise ergab, daß das öv ein δπερ öv sein muß und kein συμβεβηκός sein kann. Da für ein jedes δπερ öv gilt, daß es kein συμβεβηκός sein darf, würde das Beispiel des 'Menschen', das für ein beliebiges δπερ öv steht, im Widerspruch zu den bereits gewonnenen Konklusionen innerhalb der eleatischen Theorie stehen, wenn es nun als ein συμβεβηκός aufzufassen wäre. 77 In diesem Sinne ist das durch die Imperativform „έστω" (b34) zum Ausdruck gebrachte „sein sollen" auf die eleatischen Prämissen und auf die aus ihnen notwendigerweise resultierenden Konklusionen zu beziehen, denen zufolge das δπερ öv für nichts ein συμβεβηκός sein soll. (2) „Wovon beides und jedes (für sich) gesagt wird, soll das 'aus diesen' genannt werden" (καθ' οΰ αμφω [και έκατέρον], και τό έκ τούτων λεγέσθω: b34-35). Aristoteles hat in 186a33-bl2 gezeigt, daß sich aus der eleatischen Annahme folgendes ergibt: Weder kann das öv als συμβεβηκός von etwas ausgesagt werden, noch kann ein συμβεβηκός vom öv ausgesagt werden. Soll jedoch trotzdem etwas vom δπερ öv ausgesagt werden, dann ist dies nur in der Weise möglich, daß das Ausgesagte ein konstitutiver (begrifflicher) Bestandteil des δπερ öv ist, von dem es ausgesagt wird. In diesem Sinne ist z.B. 'zweifüßig', welches vom Menschen ausgesagt wird, ein konstitutiver (begrifflicher) Bestandteil von 'Mensch'. Versteht man nun den zweiten Einwand von Aristoteles in dem Sinne, daß „dasjenige, von dem 'zweifüßiges Sinnenwesen' [d.h. beides] und 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' [d.h. jedes von beiden] ausgesagt wird, das 'aus diesen' genannt werden soll", so macht Aristoteles hier darauf aufmerksam, daß das Ausgesagte den eleatischen Prämissen zufolge nur als ein logischer Bestandteil, und nicht als ein συμβεβηκός ausgesagt werden kann. Dies impliziert jedoch letztlich, daß wir es nicht mit einer absoluten Einheit zu tun haben. Denn Zudem gäbe es in diesem Falle letztlich nur Akzidentien (συμβεβηκότα). Denn würde man die dargelegte Argumentation nun auf das andere ύποκείμενον als δπερ öv, von dem 'δίπουν', 'ζώον' und 'άνθρωπος' als συμβεβηκότα ausgesagt werden, anwenden, so käme man zu demselben Ergebnis, daß auch dies letztlich ein συμβεβηκός an einem anderen wäre usw. Gäbe es jedoch nur noch Akzidentien (συμβεβηκότα), so gäbe es gar nichts Erstes, und wir gelangten letztlich in einen Regressus ad infinitum (vgl. dazu Met. IV.4).
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anhand des Beispiels „zweifüßig", das einen konstitutiven, logischen Bestandteil von „Mensch" darstellt, haben wir gesehen, daß 'zweifüßig' zwar nicht als σ υ μ βεβηκός von Mensch ausgesagt wird, daß es aber dennoch von 'Mensch' insofern unterschieden ist, als nicht jedes Zweifüßige ein Mensch ist.78 Mit diesen beiden Einwänden ist nun auch die Unmöglichkeit der letzten Alternative von 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen' als συμβεβηκότα an einem anderen aufgezeigt worden. Es folgt somit, daß 'zweifüßig' und 'Sinnenwesen', sind sie keine συμβεβηκότα an 'Mensch', ebenfalls als δπερ δν τι dem δπερ öv 'Mensch' zukommen, so daß das Seiende doch auf mehrfache Weise gesagt wird. Diese die eleatische Annahme von der absoluten Einheit des Seienden widerlegende Konklusion läßt sich nun einzig dadurch vermeiden, daß man behauptet, das Ganze sei ganz und gar nicht teilbar, und zwar weder dem Stoff noch dem Begriff nach. Auf diese Überlegung deutet Aristoteles mit seiner abschließenden Frage ,,έξ αδιαιρέτων αρα τό παν;" hin, mit der zugleich angedeutet ist, daß sich der eleatische Monismus nun in eine Art - stofflichen (bl214) und begrifflichen (bl4-35) - Atomismus verwandeln würde, dem zufolge dann gelten würde, daß in Analogie zum Beispiel des Menschen ein jedes Seiende weder stofflich noch begrifflich teilbar ist. So überrascht es auch nicht, daß Aristoteles im nachfolgenden Abschnitt gerade auf die Atomisten Bezug nehmen wird (vgl. 187al ff.).
3.3.5 Die abschließende Konklusion (187al-l 1) Die Nähe zum Atomismus, in die der eleatische Monismus aufgrund der dargelegten Argumentation mit der abschließenden Frage ,,έξ άδιαιρέτιον αρα τό π ά ν " gelangt, wird von Aristoteles im folgenden durch zwei Beispiele verdeutlicht: Einige aber haben den beiden Argumenten [τοις λόγοις άμφοτέροις] Zugeständnisse gemacht: dem [Argument], daß alles Eines sei, wenn 'seiend' Eines bezeichnet, damit, daß das Nichtseiende existiere [δτι έστι τό μή δν], dem [Argument] aus der Zweiteilung [τω δέ έκ της διχοτομίας], indem sie unteilbare Größen [άτομα μεγέθη] setzten." (1.3, 187al-3)
Mit der Bemerkung, daß einige beiden Argumenten nachgegeben bzw. Zugeständnisse gemacht haben (vgl. ,,ένέδοσαν"), ist gemeint, daß einige Nachfahren der Eleaten die beiden eleatischen Argumente modifizierten und nicht uneingeIn Kat. 5, 3a22-28 weist Aristoteles darauf hin, daß „zweifüßig" zwar von dem ύποκείμενον Mensch gesagt wird, aber - anders als „weiß" (vgl. Kat. 2, la23-29) - nicht in dem ύποκείμενον ist. Die in einer Definition enthaltene differentia specißca, auch wenn sie ebenfalls durch Eigenschaftswörter wie z.B. „zweifüßig" ausgedrückt wird, darf nicht mit gewöhnlichen Eigenschaftswörtern wie z.B. „weiß" in bezug auf 'Mensch' gleichgesetzt werden. Denn während 'weiß' zur Substanz 'Mensch' hinzukommt, wird diese durch die differentia specißca 'zweifüßig' mit dem dazugehörigen genus proximum 'Sinnenwesen' erst konstituiert. In diesem Sinne ist „zweifüßig" nicht i n dem ύποκείμενον 'Mensch' (vgl. auch Met. V.24, 1023a35-b2 und V1II.3, 1043bl0-ll).
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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schränkt für richtig hielten. Nahmen die antiken Kommentatoren noch an, Aristoteles beziehe sich mit dem Ausdruck ,,ενιοι" einerseits auf die Platoniker und andererseits auf Xenokrates, so ist man heute weitgehend der Ansicht, daß hier die Atomisten gemeint sind.79 Diese nahmen nämlich mit der Existenz eines „Leeren" sowohl die Existenz eines Nichtseienden an, als auch findet sich gerade bei ihnen die Annahme von „unteilbaren Größen" (ατομα μεγέθη). Mit dem einen Argument, das diese Nachfahren dadurch modifizierten, daß sie annahmen, Nichtseiendes existiere, ist das Argument „wenn 'seiend' Eines bezeichnet, so ist alles Eines" gemeint, das Aristoteles in 186a25-bl2 untersucht hat. Aristoteles zufolge sind es gerade die Atomisten gewesen, die mit der Annahme eines „Leeren" (κενόν) die Existenz eines Nichtseienden (μή öv) behauptet haben, welches sie dem Seienden gegenüberstellten.80 Mit dem anderen Argument, welches sie dadurch modifizierten, daß sie unteilbare Größen setzten, ist das Argument aus der Zweiteilung (διχοτομία) gemeint, das sich vermutlich auf den Eleaten Zenon bezieht. Mit diesem Argument aus der Zweiteilung ist der Gedanke einer unendlichen Teilbarkeit gemeint, die letztlich in Aporien führt. Diesen Aporien begegneten die Atomisten mit der Annahme unteilbarer Größen.81
79
80
Alexander, Porphyrios und Themistius meinten, das erste Argument beziehe sich auf Piatons μή öv aus dem Sophistes und das zweite Argument auf Xenokrates' These von den unteilbaren Linien. (Prantl, 1854: 475, Fn.14; Wicksteed/Comford, 1980: 37 und Zekl, 1987: 242, Fn.29 und 30 haben sich dieser Ansicht angeschlossen.) Simplicius hatte allerdings bereits in bezug auf die Zuordnung des ersten Arguments zu Piaton Bedenken, da dieser ja nicht ein μή öv απλώς, sondern μή öv τι annahm. Aufgrund der Tatsache, daß hier davon die Rede ist, daß einige beiden Argumenten Zugeständnisse gemacht haben, scheint es jedoch nicht sinnvoll zu sein, ftlr ein jedes Argument einen verschiedenen Vertreter heranzuziehen (vgl. Barnes, 1982: 359 und Sorabji, 1983: 342 f.). Seit den Arbeiten von Ross (1936: 479 f f ) und Furley (1967: 81 f.) ist man weitgehend der Ansicht, daß Aristoteles hier nur die Atomisten im Sinn haben kann, die eben beiden Argumenten Zugeständnisse machten und als Nachfahren des eleatischen Monismus angesehen werden. Vgl. Met. 1.4, 985b4-10. Im Anschluß an die Überlegungen von Melissos (vgl. Frg. B7), dem zufolge die Möglichkeit der Bewegung die Existenz eines Leeren voraussetzen würde, wohin das Bewegte ausweichen kann (vgl. auch De gen. et corr. 1.8, 325a2 f.), nahmen die Atomisten gerade diese Existenz eines Nichtseienden in Form des Leeren an, um so das Faktum der Bewegung erklären zu können. Die Interpreten sind sich allerdings nicht einig, welches Argument aus der Zweiteilung bei Zenon Aristoteles hier im Sinn hat. Ross (1936: 479 ff.) nennt das zenonsche Argument, daß bei einer Vielheit von getrennten Größen notwendig eine dritte Größe zwischen zwei Größen angenommen werden muß, was zu einem infiniten Regreß führt (vgl. DK 29B3). Charlton (1970: 63) und Sorabji (1983: 342) sind demgegenüber der Ansicht, daß mit dem Argument aus der Zweiteilung Zenons Paradoxien der Bewegung - und hier vor allem das Paradoxon des Stadiums (DK 29 A25 und 27) - gemeint seien (vgl. auch Phys. VI.9, 239bl8-22; III.7, 207bl 1-14). Nach Ansicht von Barnes (1982: 359) braucht man in bezug auf das zenonsche Argument aus der Zweiteilung kein bestimmtes Argument im Sinn zu haben, da sich das Argument aus der Zweiteilung bei Zenon auf jedes Argument dieser Art von unendlicher Teilung bezieht. In bezug auf die Textstelle 187al-3 schließe ich mich der Ansicht von Barnes an, da hier sowohl das von Ross als auch das von Charlton und Sorabji genannte Argument gemeint sein kann. Denn die Atomisten begegneten sowohl dem Argument von der Annahme einer dritten Größe zwischen zwei Größen, indem sie annahmen, daß es Leeres zwischen zwei Größen gebe, als auch den Paradoxien der Bewegung, indem sie unteilbare Größen annahmen. Welches Argument hier auch immer gemeint sein mag, so ist doch folgendes klar: Das zenonsche Argument aus der Zweiteilung meint eine unendliche Teilbarkeit, die zu Aporien führt.
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Die Atomisten haben Aristoteles zufolge einen Ausweg aus den zuvor dargelegten Aporien gesucht, in die die λόγοι der Eleaten gefiihrt haben, indem sie weitere Prämissen annahmen und auf diese Weise sowohl die Existenz einer Vielheit wie auch die Existenz eines Nichtseienden zugestanden, so daß sie eine Erklärung für die Möglichkeit von Bewegung geben konnten. Als Nachfahren der Eleaten sind die Atomisten zwar von eleatischen Grundlagen ausgegangen, doch haben sie diese auch in entscheidender Weise modifiziert.82 Aristoteles selbst stimmt im übrigen keiner der beiden Modifikationen zu: Weder ist er der Ansicht, daß es ein Leeres gibt (vgl. Phys. IV.6-9), noch ist er der Ansicht, daß es unteilbare Größen gibt (vgl. Phys 1.5, 188all-12, VI.9; Met. V.13, XIII.8, 1083b 15). Hinsichtlich der Frage, ob es ein Nichtseiendes gebe, hat es auch hier den Anschein, als suche Aristoteles den Mittelweg zwischen zwei konträren Positionen: So verneint er sowohl die Ansicht der Atomisten, daß es ein schlechthin Nichtseiendes (μή öv άπλώς) in Gestalt des Leeren gibt, als auch die Ansicht der Eleaten, daß es überhaupt kein Nichtseiendes gibt. Aristoteles ist vielmehr der Auffassung, daß es in Gestalt der στέρησις ein Nichtseiendes gibt, das für sich betrachtet einerseits zwar ein An-sich-Nichtseiendes (καθ' αύτό μή δν) darstellt (vgl. 1.8, 191M5-16), daß jedoch andererseits nur an einem anderen Zugrundeliegenden als Akzidens (συμβεβηκός) vorkommen kann (vgl. 1.7, 190 b27). Im Anschluß an den Hinweis auf die Atomisten setzt Aristoteles nun wie folgt fort: Es ist aber auch klar, daß nicht wahr ist, daß es, wenn 'seiend' Eines bezeichnet, und wenn es nicht zugleich das (kontradiktorische) Gegenteil bezeichnen kann, dann nichts Nichtseiendes gibt [ούκ εσται οϋθέν μή δν]. Denn es steht dem nichts entgegen, daß das Nichtseiende [zwar] nicht schlechthin ist, gleichwohl aber ein bestimmtes Nichtseiendes [sein kann] [οΰθέν γαρ κωλύει, μή άπλώς είναι, ά λ λ α μή δν τι είναι τό μή δν]. Die Behauptung also, daß, wenn es neben dem 'Seienden selbst' [παρ' αύτό τό δν] nicht ein anderes Bestimmtes gibt, dann alles Eines wäre, ist widersinnig. Denn wer begreift das Seiende selbst [αύτό τό δν], wenn es nicht ein bestimmtes An-sich-Seiendes ist [ει μή τό δπερ δν τι είναι]; wenn aber dies [der Fall ist], so hindert auf gleiche Weise nichts, daß das Seiende vieles ist, wie gesagt wurde. Daß also das Seiende unmöglich in diesem Sinne Eines ist, ist klar. (1.3, 187a3-l 1)
Dieser Abschnitt ist als eine in sich zusammenhängende Argumentation zu verstehen. Dies wird bereits durch die verknüpfenden Partikel ,,φανερόν δέ και" (a3), ,,ούθέν γαρ" (a5), ,,τό δέ δή" (a6-7), ,,τίς γαρ μανθάνει" (a8), ,,εί δέ τοΰτο" (a9) und ,,δτι μέν οΰν" (a 10) deutlich. Die Funktion dieses Abschnitts besteht in folgendem: Am Ende der Argumentation in 186b 14-35, die schließlich zeigte, daß das eine δπερ δν auch dem λόγος nach in ein anderes δπερ δν τι Vgl. auch De gen. et corr. 1.8, 325a2-b5, wo Aristoteles die Theorie von Leukipp in der Weise beschreibt, daß Leukipp den Eleaten in einigen Punkten zustimmt, während er in anderen Punkten abweicht. Er stimmt ihnen dahingehend zu, daß es (a) Bewegung nicht ohne Leeres gebe, daß (b) Leeres ein Nichtseiendes (τό τε κενόν μή öv [...] είναι) sei und daß (c) nichts vom Seienden nichtseiend sei. Er weicht jedoch von der Lehre der Eleaten darin ab, daß er (d) annimmt, es gebe unendlich viele unteilbare Größen, und daß er (e) der Auffassung ist, es 'gebe' Leeres, welches für ihn eine Bedingung der Möglichkeit von Bewegung darstellt.
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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analysierbar ist, wies Aristoteles darauf hin, daß Parmenides letztlich nur der Ausweg bleibt, jegliche Möglichkeit einer Teilbarkeit - sei dies eine stoffliche oder begriffliche - zu leugnen. Dieser Ausweg, so argumentierte Aristoteles weiter, erweckt den Anschein, als ob der Monismus nun zu einer Art Atomismus geworden sei, weshalb Aristoteles auch die Zugeständnisse der Atomisten gegenüber der eleatischen Argumentation erwähnte, nach deren Ansicht es sowohl ein Nichtseiendes als auch unteilbare Größen gibt. In der abschließenden Argumentation 187a3-l 1 geht es Aristoteles nun darum, zu zeigen, daß die Atomisten gute Gründe hatten, die beiden erwähnten Argumente der Eleaten zu modifizieren, wobei sie jedoch mit der Annahme der Existenz eines schlechthin Nichtseienden nach Ansicht von Aristoteles zu weit gegangen sind. Aristoteles beginnt seine Argumentation in 187a3 mit der Behauptung, daß folgender Schluß (187a3-5) der Eleaten nicht wahr (ουκ αληθές) sei: (I) Wenn (i) 'seiend' Eines bezeichnet, und wenn es (ii) nicht zugleich das (kontradiktorische) Gegenteil (bezeichnet), dann (iii) gibt es nichts Nichtseiendes. 83
Da der Ausdruck ,,άντίφασις" bei Aristoteles sowohl ein Glied eines kontradiktorischen Gegensatzes wie auch die gesamte Gegensatzrelation meinen kann, stellt sich zunächst die Frage, worauf der Ausdruck ,,άντίφασις" an unserer Textstelle zu beziehen ist. Mit Ausnahme von Wicksteed/Comford (1980: 39) und Carteron ( 2 1952: 35), die den Ausdruck ,,άντίφασις" hier auf die gesamte Relation bezogen verstehen, so daß ein bestimmtes Wort nicht zugleich χ und nicht-* bezeichnen kann, sind die meisten Interpreten, denen ich mich anschließe, der Auffassung, daß hier eher ein Gegensatzglied gemeint ist. Dieser Interpretation zufolge würde hier zum Ausdruck gebracht, daß ein bestimmtes Wort nicht zugleich nicht-jc bezeichnen kann, wenn es χ bezeichnet.84 Bezüglich des Ausdrucks ,,άντίφασις" stellt sich die weitere Frage, welcher Gegensatz bzw. welches Gegensatzglied hier gemeint ist. Denn mit dem „kontradiktorischen Gegenteil" in der Aussage „wenn 'seiend' Eines bezeichnet und nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil" können ja verschiedene Gegensätze gemeint sein: Entweder (a) 'Nicht-Eines' als kontradiktorisches Gegenteil von 'Eines' (vgl. Prantl, 1854: 23) oder (b) 'nicht-seiend' als kontradiktorisches Gegenteil von 'seiend' (vgl. Wagner, 1967: 13 und Charlton, 1970: 7). Die Konklusion dieses Schlusses - „es gibt kein Nichtseiendes" - deutet zwar daraufhin, daß mit der άντίφασις hier primär das 'Nichtseiende' als kontradiktorisches Gegenteil des 'Seienden' gemeint ist, doch ist zugleich darauf hinzuweisen, daß aus Sicht von Parmenides das Nicht-Eine als kontradiktorischer Gegensatz des Einen ebenfalls ein Nichtseiendes darstellt, da es nach Ansicht von Parmenides ja nur das im absoluten Sinne zu verstehende eine Seiende geben Daß es nach Ansicht von Parmenides ein Nichtseiendes nicht geben kann, wird unter anderem in Frg. B8, Z.46 deutlich: „ούτε γαρ ούκ έόν έστι". Parmenides weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß das Nichtseiende das Seiende daran hindern würde, zur Einheitlichkeit zu gelangen. Vgl. Zekl (1987: 17), Prantl (1854: 23), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 341, 481), Wagner (1967: 13,411), Charlton (1970: 7) und Gohlke (1956: 38).
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Physik I. 3: 'Die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
kann. Aus Sicht von Parmenides ist der Schluß (I) wie folgt zu verstehen: „Wenn (i) 'seiend' Eines bezeichnet, und wenn (ii) 'seiend' nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil von 'seiend' (d.h. wenn es nicht zugleich 'nicht-seiend') bezeichnen kann, dann (iii) gibt es folglich kein Nichtseiendes." Mit anderen Worten: Wenn das Eine, das durch 'seiend' bezeichnet wird, ein Seiendes bzw. gar das Seiende selbst ist, und wenn 'seiend' nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil bezeichnen kann - d.h. wenn das als 'Seiendes' bezeichnete Eine nicht zugleich ein Nichtseiendes sein kann -, so kann es überhaupt kein Nichtseiendes geben, da von einem Nichtseienden niemals 'seiend' ausgesagt werden kann, ohne daß dadurch das Principium contradictionis verletzt wäre. Der Grund, warum Aristoteles diesen Schluß als „nicht wahr" kennzeichnet, ist primär nicht in den Prämissen (i) und (ii) zu suchen - diesen würde Aristoteles zunächst noch in einem gewissen Sinne zustimmen -,85 sondern vielmehr in dem Schluß von diesen Prämissen auf die Konklusion (iii). Aristoteles zeigt die Ungültigkeit des Schlusses dadurch auf, das er die Wahrheit der Konklusion bestreitet. So weist er im nachfolgenden Satz ,,ούθέν γαρ ..." (a5-6), der eine Begründung des vorhergehenden Satzes darstellt, darauf hin, daß die Annahme, daß es ein schlechthin Nichtseiendes (μή öv άπλώς) nicht geben kann, nicht bedeutet, daß es auch ein bestimmtes Nichtseiendes (μή όν τι) nicht geben kann.86 Die Atomisten sind nach Ansicht von Aristoteles jedoch mit ihrer Modifikation der eleatischen Annahme insofern zu weit gegangen, als sie mit der Annahme eines Leeren die Existenz eines schlechthin Nichtseienden behauptet haben. Zwar kann es auch nach Ansicht von Aristoteles ein schlechthin Nichtseiendes nicht geben - in diesem Punkt stimmt er den Eleaten durchaus zu -, doch bedeutet dies fur Aristoteles andererseits nicht, daß es nicht ein bestimmtes Nichtseiendes geben kann (,,ούθέν γαρ κωλύει, μή άπλώς είναι, άλλα μή δν τι είναι τό μή δν": 187a5-6): „Das μή δν ist zwar nicht ein άπλώς μή δν, gleichwohl aber kann es ein μή δν τι sein." Die durch den Ausdruck „άλλα" angezeigte Gegenüberstellung in dieser Aussage besteht darin, daß dem μή δν einerseits ein ,,μή-δν-άπλώς-εΐναι" abgesprochen und andererseits ein ,,μή-δντι-εΐναι" zugesprochen wird. Der in 187a5-6 von Aristoteles ausgedrückte Gedanke läßt sich wie folgt fassen: „Es steht (dem Gedanken) nichts im Wege, daß das μή δν zwar nicht auf absolute Weise existiert (d.h. nicht ein absolutes μή δν ist), gleichwohl aber ein bestimmtes μή δν sein kann." Wenn das 'öv' also Eines bezeichnet, und wenn es nicht zugleich sein kontradiktorisches Gegenteil bezeichnet, so kann es Aristoteles zufolge dennoch ein μή δν τι geben. Daß es dennoch ein μή öv τι geben kann - und letztlich sogar 85
In Met. IV. 4 hebt Aristoteles ausdrücklich hervor, daß ein Wort ein je Eines und nicht zugleich dessen Gegenteil bezeichnet (vgl. das Beispiel 'Mensch' und 'Nicht-Mensch' in 1006b). Gleichwohl ist hervorzuheben, daß Aristoteles die Prämisse (i) „'öv' bezeichnet Eines" in einem anderen Sinne als Parmenides versteht. Versteht Aristoteles sie nämlich in dem Sinne, daß der Ausdruck 'öv' etwas bezeichnet, das für sich betrachtet jeweils ein Eines ist, so versteht Parmenides sie in dem Sinne, daß der Ausdruck 'öv' letztlich nur ein einziges Eines bezeichnet. In Soph. El. 5 weist Aristoteles auf die Fehlschlüsse hin, die entstehen, wenn man nicht zwischen „schlechthin sein" und „etwas sein" bzw. „schlechthin nicht-sein" und „etwas nicht-sein" unterscheidet.
Die ungültigen Schlüsse bei Parmenides
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geben muß -, kann durch folgende Überlegung deutlich gemacht werden: Selbst wenn Parmenides mit seiner Behauptung, daß alles dem λόγος nach Eines (und zwar ein Seiendes) ist, recht hat, so darf hierbei nicht übersehen werden, daß Parmenides mit dieser Behauptung insofern die Gültigkeit des Principium contradictionis voraussetzt, als er sagt, daß 'seiend' nicht zugleich das kontradiktorische Gegenteil bezeichnen soll. Dieses öv soll seiner Ansicht zufolge nämlich nicht zugleich als μή öv verstanden werden. Nun setzt das Principium contradictions jedoch voraus, daß es in gewisser Weise ein μή δν τι gibt. Denn das Principium contradictionis besagt ja, daß es unmöglich ist, daß dasselbe zugleich dieses und nicht dieses ist. Indem die Eleaten die Gültigkeit des Principium contradictionis voraussetzen, setzen sie - ohne es zu wollen - implizit auch die Existenz eines μή öv τι voraus: Wenn etwas F ist, soll es j a nicht zugleich nicht-F sein. Es zeigt sich vor dem Hintergrund dieser Überlegung, daß die Behauptung, daß alles dem λόγος nach Eines ist, letztlich eine Verletzung des Principium contradictionis bedeutet, deren Gültigkeit jedoch für diese Annahme insofern vorausgesetzt werden muß, als sie besagen soll, daß alles dem λόγος nach Eines und nicht zugleich nicht-Eines (d.h. Vieles) ist. Im Anschluß an den Nachweis der Ungültigkeit des ersten Schlusses (187a36) zeigt Aristoteles nun auch die Ungültigkeit eines zweiten Schlusses (187a6-8) auf, der letztlich zur Konklusion führen soll, daß alles nur Eines ist: (II) Wenn es neben dem Seienden selbst nicht etwas anderes gibt, dann ist alles Eines [παρ' α ύ τ ό τό δ ν εί μ ή τι έ σ τ α ι α λ λ ο , ε ν π ά ν τ α ε σ ε σ θ α ι ] .
Dieser Schluß, den ich im Gegensatz zu Wagner ebenfalls als einen Schluß betrachte, den Aristoteles dem Parmenides zuschreibt, 87 ergibt sich für Parmenides als weitere Konsequenz aus dem ersten Schluß: Wenn das 'öv' nämlich Eines und nicht zugleich das Gegenteil bezeichnet, und wenn es nach Ansicht von Parmenides folglich kein μή öv geben kann, so kann es auch nicht etwas anderes neben dem öv geben. Dieses andere wäre nämlich ein vom öv Verschiedenes und somit als 'nicht-dieses-öv' nach eleatischem Verständnis ein μή öv (vgl. 186a32-bl2). Folglich muß alles Eines sein.88 Aristoteles behauptet nun, daß „also [δή] (auch) diese Behauptung unsinnig [άτοπον] sei". Das Wort „also" (δή) deutet daraufhin, daß aufgrund der Ungültigkeit des ersten Schlusses, der zu einer falschen Konklusion führte, auch der zweite Schluß zu Widersinnigem fuhrt, da er auf den ersten Schluß aufbaut. Aristoteles begründet die Widersinnigkeit des zweiten Schlusses mit dem Hin87
Wagner (1967: 411) ist der Ansicht, daß dieses weitere Argument aus dem Umkreis von Piaton zu stammen scheint (vgl. Met. XIV.2, 1089al ff.) und den Gedanken zum Ausdruck bringen soll, daß die Einheitsthese nur zu vermeiden ist, wenn man neben dem Sein selbst ein von ihm Verschiedenes in Anschlag bringt. Aristoteles hält dem, so Wagner, entgegen, daß dies gar nicht nötig sei, da das 'Sein selbst' nur als ein bestimmtes und somit Vielheit voraussetzendes Sein zu verstehen ist. Daß es sich bei diesem Argument nicht um ein platonisches, sondern um ein weiteres Argument von Parmenides handelt, wird deutlich, sofem man das Fragment B8, Z.36/37 von Parmenides betrachtet, wo sich die Prämisse des Schlusses (II) in nahezu wörtlicher Weise wiederfindet: „ουδέν γάρ εστίν ή έσται άλλο πάρεξ τοΰ έόντος".
124
Physik I.
3: ' D i e Fortsetzung der Auseinandersetzung mit den Eleaten'
weis, daß niemand das Seiende selbst (αυτό τό öv) begreift, wenn es sich dabei nicht um ein bestimmtes An-sich-Seiendes (δπερ öv τι) handelt (187a8-9): „Denn wer begreift das Seiende selbst [αυτό τό öv], wenn es nicht ein bestimmtes An-sich-Seiendes ist [εί μή τό δπερ δν τι είναι]?" (187a8-9). Ein 'leeres Seiendes' ohne jegliche Bestimmung ist nicht begreifbar, denn das Verstehen ist immer schon ein Verstehen von etwas, wobei dieses 'etwas' nur im Unterschied zu etwas anderem als dieses 'etwas' verstanden werden kann.89 Sobald dies jedoch zugestanden ist - und letztlich gestehen auch die Eleaten dies zu, indem sie ihrerseits ebenfalls weitere inhaltliche Bestimmungen des öv in Gestalt des 'Begrenztseins', 'Unbewegtseins', 'Einesseins' usw. anführen -, wird offenkundig, daß nicht alles Eines sein kann: Denn angenommen, dieses δπερ δν τι ist ein Mensch, und jedes öv wäre dem λόγος nach Eines, so wäre auch Menschsein und Nicht-Menschsein Eines (vgl. Met. IV.4), was jedoch eine Verletzung des Principium contradictionis darstellt, dessen Gültigkeit die Eleaten selbst voraussetzen. Nun aber ist endgültig klar, daß „nichts mehr im Wege steht, daß das Seiende eine Vielheit ist [πολλά είναι τά οντα], wie gesagt wurde. Es ist klar, daß das Seiende unmöglich in diesem Sinne Eines ist" (187a9-l 1). Mit dem „in diesem Sinne Eines [ούτως έν]" meint Aristoteles die Weise, in der die Eleaten ihr 'Eines' aufgefaßt haben, nämlich als ein absolut Eines, das keine Differenzen und letztlich auch keine Bewegung zuläßt.90
90
Vgl. Wagner (1967: 411): ,,αύτό τό öv ist als solches so vollkommen leer wie das είναι [. ..]; es kann weder höchste noch sonst eine Gattung sein; es fehlt ihm dazu die eigene Bestimmtheit. Das »Sein selbst« läßt sich also stets nur als b e s t i m m t e Seinsbestimmtheit, d.h. als Wesen (Gattung, Art und Differenz), denken." Vgl. auch Gershenson/Greenberg (1962: 149): „' ...Once and for all it is clear that being cannot be one in this sense (in this sense of being one indivisible unit).'"
4. Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras' Nachdem Aristoteles in der Auseinandersetzung mit den Eleaten die Unmöglichkeit der Annahme eines einzigen, unbewegten Seienden herausgestellt hat, so daß nach diesem keine Einwände mehr gegen die in der 'Grundannahme' (1.2, 185al2-14) zum Ausdruck gebrachte These von der Vielheit und Bewegung der φύσει δντα bestehen, kann er im Anschluß daran nun dazu übergehen, sich mit denjenigen Vorgängern auseinanderzusetzen, die diese 'Grundannahme' nicht bezweifelt haben und im Hinblick auf ihre Theoriebildung von der Vielheit und Bewegung der φύσει δντα ausgegangen sind.1
4.1 Die beiden Gruppen der Naturphilosophen (φυσικοί) (187aI2-26'·) In Kapitel 1.4 beginnt Aristoteles seine Auseinandersetzung mit den Naturphilosophen (φυσικοί), wobei die Bezeichnung ,,οί φυσικοί" darauf hindeutet, daß diese Denker im Gegensatz zu den Eleaten, von denen es in Kapitel I. 2 hieß, daß sie nicht über Natur gehandelt haben (vgl. „περί φύσεως μέν οϋ": 185al8), über Natur handelten (vgl. ,,οί περί φύσεως": 187a35). Aristoteles teilt die Naturphilosophen zunächst in zwei Gruppen ein. Wie andererseits die Naturphilosophen sprechen, [davon] gibt es zwei Weisen. Die einen nämlich machen den zugrundeliegenden Körper [τό [όν]2 σώμα τό ύποκείμενον] zu Einem, entweder einen von den drei [Elementen] oder einen anderen, der dichter als Feuer aber dünner als Luft ist, das andere bringen sie durch Dichte und Dünne [πυκνότητι και μανότητι] hervor und machen Vieles [daraus]. (Diese aber sind Gegensätze, allgemein [gefaßt] sind es Übermaß und Mangel [υπεροχή και έλλειψις], so wie Piaton vom 'Großen und Kleinen' [τό μέγα και τό μικρόν] spricht, nur daß er diese zum Stoff [ύλην] macht, das Eine aber zur Form [τό είδος], wohingegen diese das eine Zugrundeliegende zum Stoff [machen], die Gegensätze aber zu Unterschieden und Formen.) Die anderen aber lassen aus dem Einen die darin enthaltenen Entgegensetzungen sich aussondern, so wie Anaximander sagt und alle die, die sagen, daß es Eines und Vieles gibt, wie Empedokles und Anaxagoras. Aus der Mischung nämlich sondern auch diese das andere aus. Sie unterscheiden sich aber voneinander darin, daß der eine einen Umlauf aus diesen macht, der andere es Auf eine erste Gruppe von Vorgangem, die den eleatischen Monismus zu überwinden suchte, wurde bereits in 1.3, 187al-3 hingewiesen. Dort war von den Atomisten die Rede, die den eleatischen Überlegungen Zugestandnisse gemacht haben. Zur Athetierung des Ausdrucks „öv", das sich in den MSS und bei Philoponus, nicht aber bei Simplicius findet, vgl. Ross (1936: 482): „τό δν σώμα is not a natural phrase, and if öv be kept, the text is best translated 'some, making being a single body, viz. the underlying body'. [...] It seems best to treat öv as a gloss, it is quite a natural one in view of the general trend of chapters 2 and 3."
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
aber nur einmal ablaufen läßt; und der eine setzt die Gleichteiligen [όμοιομερή] und die Gegensätze als unendlich, der andere aber nimmt nur die sogenannten Elemente [τά κ α λ ο ύ μ ε ν α στοιχεία]. (1.4, 187al2-26)
Besteht das gemeinsame Charakteristikum der beiden Gruppen, in die Aristoteles die Naturphilosophen unterteilt („oi μέν (a 12) ... οί δ' (a20)"), darin, daß sie Einheit und Vielheit zusammendenken, so unterscheiden sie sich dadurch voneinander, daß sie das Verhältnis von Einheit und Vielheit auf je verschiedene Weise begreifen: Nimmt die erste Gruppe ein zugrundeliegendes (homogenes) Eines an, aus dem sie durch die Gegensätze Dichte und Dünne die Vielheit werden lassen,3 so betrachtet die zweite Gruppe, zu der Aristoteles namentlich Anaximander, Empedokles und Anaxagoras zählt, dieses Eine als eine (nichthomogene) Einheit, die in sich bereits eine aktuelle Vielheit von Verschiedenem enthält (vgl. ,,έν και πολλά": 187a21-22).4 Bei Empedokles und Anaxagoras stellt diese Einheit eine Mischung (μίγμα: a23) dar, aus der die Vielheit einzelner Dinge dadurch entsteht, daß sich das Einzelne aus dem Ursprungseinen aussondert.5 Aristoteles verwendet in seiner Einteilung der φυσικοί, die sich durch das ,,έν και πολλά" thematisch an die Auseinandersetzung mit den Eleaten anschließt, bereits Begriffe, die später für seinen eigenen theoretischen Ansatz in Kapitel I. 7 von zentraler Bedeutung sein werden. So ist hier schon vom ,,ύποκείμενον" (al3,19), von den ,,έναντία" (al6, 25/26) und gar von ,,ΰλη" und „είδος" (a 18-20) die Rede. Die allgemeinen Begriffe „υπεροχή" und ,,ελλειψις" deuten zudem auf das korrelative Begriffspaar von „είδος und στέρησις" voraus. Die Einteilung der φυσικοί läßt sich schematisch wie folgt darstellen:6
5
Die Auswahl der Verben, mit Hilfe derer Aristoteles die Theorie der Naturphilosophen beschreibt („ποιήσαντες" (al3), ,,γεννώσι" (al5), ,,ποιοϋντες" (al5-16), „ποιεί" (al8)) macht deutlich, daß es hier um die Beschreibung einer Theorie geht, in der gedanklich erzeugt, hergestellt und gemacht wird. Daß Aristoteles hier die Vielheit des Einen bei der zweiten Gruppe nicht als eine potentielle, sondern als eine aktuelle Vielheit versteht, wird durch den Ausdruck ,,ένούσας" (a20) angedeutet. Vgl. auch Met. XII.2, 1069b20-23: „Und dies ist das Eine des Anaxagoras Denn filr das 'alles zusammen' [όμοϋ πάντα] - auch filr die Mischung [τό μίγμα] des Empedokles und des Anaximander und nach der Lehre des Demokrit - hieße es besser 'alles war zwar der Möglichkeit nach Eines, nicht aber der Wirklichkeit nach'." Vgl. auch Charlton (1970: 63 f.), der den Unterschied zwischen beiden Gruppen in die Begriffe „uniform matter" und „multiform/diverse matter" faßt. KRS (21983: 113 Fn.2) sehen den Gegensatz zwischen beiden Gruppen als einen Gegensatz zwischen denen, „die das Eine als Substrat festhalten (who retain the One as a substratum), und denen, die das (wie Anaximander) nicht tun (who (like Anaximander) do not)". Diese Einteilung unterscheidet sich hinsichtlich der Anzahl der άρχαί allerdings von der in Kapitel 1.2 dargelegten Einteilung der Theorien der Vorgänger: Wurde in Kapitel 1.2 gesagt, daß die Naturphilosophen eine bewegte άρχή annehmen, so werden hier nun mit Empedokles, der die vier Elemente zugrunde legte, und Anaxagoras, der eine unendliche Anzahl von 'Gleichteiligen' und Gegensätzen annahm, auch solche Denker zu den Naturphilosophen gezählt, die mehr als eine άρχή annehmen (vgl. auch Gigon, 1966: 149 f.).
Die beiden Gruppen der Naturphilosophen ( φ υ σ ι κ ο ί ) Abb. 4.1: Die Einteilung
der
127
φυσικοί
.Einheit und Vielheit" (bei den Naturphilosophen)
(1) Eine homogene Einheit (ein Grundstoff) „Eines"
Luft Wasser
Feuer
(2) Eine inhomogene Einheit (ein 'Gemisch') „Eines und Vieles"
dichter (a) Anaximander (b) Empedokles als Feuer, - vier στοιχεία dünner als Luft
durch: [„Dichte und Dünne"] entsteht ί Vieles einzelne
(c) Anaxagoras - unendlich viele όμοιομερή und Gegensätze - Umlauf (περί- - nur einmal οδος) (άπαξ)
durch: [„Aussonderung"] entsteht + Vieles einzelne
4.1.1 Die erste Gruppe der Naturphilosophen (187al2-20) Aristoteles schreibt den Vertretern dieser Gruppe die Eigenheit zu, daß sie den zugrundeliegenden Körper zu Einem machen und entweder als einen der drei (Grundstoffe) ansetzen7 oder als einen anderen (Stoff), der dichter als Feuer, aber dünner als Luft ist. Bei der Auflistung der Grundstoffe der Naturphilosophen erwähnt Aristoteles häufig einen Stoff, der zwischen (μεταξύ: vgl. 1.6, 189b2-6) den Elementen liegt; entweder zwischen Feuer und Luft (1.4, 187al415)8 oder zwischen Wasser und Feuer (1.6, 189b3) bzw. mitunter auch zwischen Luft und Wasser.9 Vieles deutet darauf hin, daß Aristoteles an mehreren Stellen Anaximander als Vertreter dieser Zwischensubstanz ansieht.10 Würde Aristoteles auch in 187al4-15 an Anaximander als Vertreter der Zwischensubstanz denken,
8 9
Gemeint sind entweder Wasser (Thaies), Luft (Anaximenes und Diogenes) oder Feuer (Hippasos und Heraklit); vgl. Met. 1.3 und Phys. 1.2, 184bl7-18. Keiner der Naturphilosophen hat die Erde als einzigen Grundstoff angenommen (vgl. dazu Met. I. 7, 989 a4 ff ). Vgl. auch Met. 1.7, 988a30 und De gen. etcorr. II.l,328b35; II.5, 332al9. Vgl. Phys. III.4, 203al6; III.5, 205a27; De Caelo III.5, 303b 10; De gen. et corr. II.5, 332a21 und Met. 1.8, 989al4. Vgl. K.RS ( 2 1983: 111 f.): „In three or four of these passages it looks as though Anaximander is meant as the proponent of an intermediate substance, not because he is directly named but because the substance is implied to have been called simply τό άπειρον. [...] Were it not for one passage, namely 104 [gemeint ist Phys. 1.4, 187al4-15], there would be no difficulty in accepting that Aristotle has Anaximander in mind in most, at any rate, of his references to an intermediate material principle. One of Aristotle's most acute ancient commentators, Alexander of Aphrodisias, did in fact accept this; so, usually, did Simplicius."
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
so entstünde jedoch die Schwierigkeit, daß dieser dann in Kapitel 1.4 als Vertreter von beiden Gruppen der Naturphilosophen angefiihrt würde. In der ersten Gruppe käme er als Vertreter der Zwischensubstanz vor, während er in der zweiten Gruppe mit Namen genannt wird (vgl. a21). n Die plausibelste Lösung dieser Schwierigkeit scheint mir die folgende zu sein:12 Auch wenn Aristoteles für gewöhnlich Anaximander im Sinn hat, wenn er von der Zwischensubstanz spricht, so ist klar, daß er hier nicht zur ersten Gruppe gezählt werden soll. Der Grund, warum Aristoteles hier dennoch von der Zwischensubstanz spricht, obgleich er Anaximander zur zweiten Gruppe zählt, ist vermutlich darin zu sehen, daß er beim Aufzählen der von den Naturphilosophen vertretenen Elemente aus Gründen der Vollständigkeit auch die Zwischensubstanz erwähnt.13 Aus diesem einen homogenen Stoff lassen nun die Vertreter der ersten Gruppe die vielen Dinge durch 'Dichte' und 'Dünne' (vgl. ,,πυκνότητι και μανότητι") entstehen.14 Diese beiden Bewegungsursachen, die hier durch abstrakte Termini („Dichte" und „Dünne") bezeichnet werden und die in dem Prozeß der Erzeugung einer Vielheit aus der zugrundeliegenden Einheit die aktive Rolle übernehmen,15 bilden einen konträren Gegensatz (έναντίον), den Aristoteles unter die allgemeinen Begriffe „Übermaß und Mangel" (υπεροχή και ελλειψις) zusammenfaßt. 16 Durch die allgemeinen Begriffe von „Übermaß und Mangel",
12
14
Es ist vermutlich diese Schwierigkeit, die Prantl (1854: 476, Fn.16) zur Ansicht führte, daß hier nicht Anaximander, sondern Diogenes von Apollonia als Vertreter der Zwischensubstanz gemeint sei. Simplicius (149.13, 151.21) weist daraufhin, daß Nikolaus und Porphyrios ebenfalls an Diogenes dachten. Wenn Aristoteles in Phys. 1.4 jedoch an Diogenes als Vertreter der Zwischensubstanz denken würde, so wäre damit die weitere Frage verbunden, warum er dann in Met. 1.3, 984a5 (vgl. auch De An. 1.2, 405 a22) Diogenes neben Anaximenes als Vertreter der Luft nennt. Ross (1936: 482 f.) spricht sich ebenso wie Wicksteed/Comford (1980: 40 f.) zwar dagegen aus, daß hier Anaximander gemeint sei, zugleich aber äußert er ebenfalls Zweifel daran, daß Diogenes oder Idaeus von Himera gemeint seien. Seiner Ansicht nach muß der Vertreter der Zwischensubstanz ein Mitglied der Schule des Anaximenes gewesen sein. Vgl. KRS( 2 1983: 112 f.). Daß die Differenzierung der beiden Gruppen hier nicht in einem eindeutig festgelegten Sinne zu verstehen ist, zeigt sich nicht nur daran, daß Anaximander als Vertreter der Zwischensubstanz ebenfalls in der ersten Gruppe Platz findet, sondern auch daran, daß Empedokles mit seinen vier als υποκείμενα für die bewegenden Prinzipien „Streit" und „Liebe" fungierenden Elementen in Kapitel 1.6 mit den Vertretern der ersten Gruppe, die jeweils ein Element als ύποκείμενον für die bewegenden Prinzipien „Dichte" und „Dünne" annahmen, parallel gesetzt wird. Die Differenzierung, die Aristoteles zu Beginn des Kapitels 1.4 vornimmt, ist vor allem vor dem Hintergrund der Diskussion bezüglich der Einheit und Vielheit bei den Eleaten zu sehen. Aristoteles spricht von den abstrakten Termini ,,πυκνότης" und ,,μανότης", mit denen nicht „das Dichte" und „das Dünne", sondern „die Dichte (Dichtheit)" und „die Dünne (Dünnheit)" gemeint sind. Hierbei ist zu beachten, daß die Gegensätze „in der frühen griechischen Philosophie eben nicht in unserem Sinne als Eigenschaften angesehen wurden. Sie galten vielmehr als Dinge, die sozusagen agieren und deshalb auch bisweilen Kräfte (dynameis) heißen" (Graeser: 1989: 18). Vgl. Met. 1.3 und 1.4, wo Aristoteles die Suche der Naturphilosophen nach den Prinzipien so darstellt, daß sie zunächst auf einen Stoff als Zugnindeliegendes gestoßen sind und von dort aus „von der Wahrheit selbst genötigt" dazu übergingen, eine andere Ursache als Ursache der Veränderung aufzusuchen, da das Zugrundeliegende nicht selbst seine eigene Veränderung bewirken kann. Gigon (1966: 152) weist daraufhin, daß das Schema υπεροχή - μέσον - έλλειψις, das bekanntlich weite Teile der Lehre von den άρεταί in der Ethik beherrscht, auch, wie sich hier zeigt, auf die Lehre von den άρχαί einwirkt. Zugleich steht dieses Schema allerdings auch für
Die beiden Gruppen der Naturphilosophen ( φ υ σ ι κ ο ί )
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die sowohl den Gegensatz der Naturphilosophen von „Dichte und Dünne" wie auch den platonischen Gegensatz vom „Großen-und-Kleinen" umfassen, wird es für Aristoteles möglich, die erste Gruppe der Naturphilosophen mit Piaton zu vergleichen. Hierbei ist jedoch zu betonen, daß wir es mit einem Vergleich zu tun haben, der nicht in dem Sinne zu verstehen ist, daß Piaton hier von Aristoteles zur ersten Gruppe der Naturphilosophen gezählt wird.17 Charlton (1970: 63) scheint nämlich davon auszugehen, daß Piaton hier von Aristoteles zur ersten Gruppe der Naturphilosophen gezählt wird, wenn er sagt: „Aristotle says, that Plato belongs to the first group - [...]." Daß Piaton hier jedoch nicht zur ersten Gruppe der Naturphilosophen gezählt wird, wird bereits daraus ersichtlich, daß Piaton im Gegensatz zu den Naturphilosophen den zugrundeliegenden Körper nicht als Einen ansetzt. Der Grund für den Vergleich zwischen Piaton und den Naturphilosophen liegt eher in einer formalen als in einer inhaltlichen Übereinstimmung der Prinzipienrelationen. Diese formale Übereinstimmung läßt sich daran ablesen, daß sich bei beiden jeweils ein in der allgemeinen Gestalt von „Übermaß-Mangel" zu bestimmendes quantitativ bestimmtes Gegensatzpaar - „Großes-Kleines" einerseits und „Dichte-Dünne" andererseits - und eine homogene Einheit findet. Ist jedoch bei den Naturphilosophen das Gegensatzpaar „Dichte-Dünne" von formaler und das homogene Eine von stofflicher Natur, so ist bei Piaton das Gegensatzpaar „τό μέγα και τό μικρόν" 18 umgekehrt von stofflicher und das einheitliche „είδος" von formaler Natur.
4.1.2 Die zweite Gruppe der Naturphilosophen (187a20-26) Die zweite Gruppe der Naturphilosophen zeichnet sich gegenüber der ersten Gruppe dadurch aus, daß sie eine Einheit annimmt, die bereits aktuell Vieles als Verschiedenes in sich enthält, das in einem Prozeß der Aussonderung (έκκρίνεσθαι: a20-21; 23) aus dieser Einheit, die Empedokles und Anaxagoras als eine Mischung verstehen, vereinzelt bzw. differenziert wird. Aristoteles sieht das Gemeinsame von Anaximander, Empedokles und Anaxagoras darin, daß sie sagen, es gebe Eines und Vieles (έν και πολλά: a21-22), wobei sie das Viele als bereits in dem Einen auf undifferenzierte Weise Enthaltenes betrachten.
die in Physik Α zugrunde gelegte Methode, der zufolge zwischen zwei einander konträr entgegengesetzten Theorien die mittlere Position zu finden ist. Vgl. auch Gadamer (1996: 104): „Das vierte Kapitel geht auf die Naturkundigen (φυσικοί) ein, die manchmal Physiologen und manches andere Mal Physiker genannt werden. Es gibt hier keine feststehende Terminologie. In jedem Falle ist klar, daß es sich um Bezeichnungen handelt, die alle vorangehenden Denker umfassen - außer den Eleaten und in gewissem Maße auch außer den Pythagoreern und Piaton." Zum Ausdruck ,,τό μέγα και τό μικρόν" als aristotelische Bezeichnung des materiellen Prinzips bei Piaton vgl. Ross (1924: 169-71) und Stenzel (1924). Vgl. auch die Ausführungen in Kap. 9.1.4.
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
Auf die Lehre des Anaximander, die hier nur in einem Satz erwähnt wird, geht Aristoteles nicht näher ein.19 Ihm geht es, wie der weitere Verlauf von Kapitel I. 4 zeigt, vielmehr um die Lehre des Anaxagoras, die hier der Lehre des Empedokles gegenübergestellt wird.20 Beide Theorien unterscheiden sich Aristoteles zufolge voneinander (vgl. ,,διαφέρουσι αλλήλων": a23-24) in folgenden Hinsichten: (1) Die Art der Aussonderung: Setzt Empedokles die Aussonderung als einen Kreislauf (περίοδος) an,21 so findet sie bei Anaxagoras nur einmal (άπαξ) statt.22 (2) Die Anzahl der Bestandteile (στοιχεία): Setzt Anaxagoras die Anzahl der 'Gleichteiligen' (τά όμοιομερή) und der Gegensätze (τάναντία) als unbegrenzt, so nimmt Empedokles nur die 'sogenannten [vier] Grundstoffe' (τά καλούμενα στοιχεία) an. Es fällt auf, daß Aristoteles in bezug auf beide Vorgänger zunächst nur an deren stofflichen Prinzipien, nicht aber an deren Ursachen der Bewegung interessiert zu sein scheint. Denn im Gegensatz zur ersten Gruppe der Naturphilosophen, wo Aristoteles die Bewegungsursachen 'Dichte' und 'Dünne' ausdrücklich nennt, ist hier weder in bezug auf Empedokles von 'Streit' und 'Liebe' (νεΐκος και φιλία) 23 noch in bezug auf Anaxagoras vom 'Geist' (νους) die Rede, die bei diesen Vorgängern die Ursachen der Bewegung darstellen. Aristoteles erwähnt diese Bewegungsursachen hier vermutlich aus dem Grunde noch nicht, da es ihm in seiner Einteilung der Naturphilosophen primär um den Gegensatz zwischen denjenigen, die die Vielheit durch Dichte und Dünne entstehen lassen, und denjenigen, die die Vielheit durch Aussonderung entstehen lassen, geht, wobei es für letzteres zunächst von sekundärer Bedeutung ist, ob diese Aussonderung durch 'Streit und Liebe' oder durch den 'Geist' bewirkt wird.24 Mit den „sogenannten Grundstoffen" sind die vier Ele-
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Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß Anaximander im Unterschied zum hier von Aristoteles erwähnten „Aussondern" (έκκρίνεσθαι) selbst von einem „Absondern" (άποκρίνεσθαι) spricht (vgl. Frg. DK 12A9; Simplicius in Phys. 24, 21). KRS ( 2 1983: 130) bemerken dazu: „Nevertheless, we may accept the warning about έκκρίνεσθαι in Aristotle; it seems quite likely that this is a distortion of άποκρίνεσθαι. [...] At all events we have no right to assume with Aristotle that the opposites were in (ένοΰσας) the Indefinite, and were separated out of it; still less may we define the Indefinite as a mixture, as Aristotle perhaps did [in Met. Λ 2, 1069b20]" Eine Gegenüberstellung von Anaxagoras und Empedokles findet sich auch in 1.4, 188al7-18 und in 1.6, 189al 5-17, wo jeweils daraufhingewiesen wird, daß es Empedokles mit seiner begrenzten Anzahl von άρχαί besser gemacht habe als Anaxagoras mit seinen unbegrenzt vielen άρχαί. Zur Gegenüberstellung der Lehren von Anaxagoras und Empedokles vgl. auch De Caelo III.3, 302a28-b9. Vgl. Empedokles, Frg. DK 31Β17. Vgl. Anaxagoras, Frg. DK 59B12. Anaxagoras ist der Ansicht, daß wir nicht einen Kreislauf der Veränderungen vorliegen haben, der eine Rückkehr zum Ausgangspunkt beinhaltet; vielmehr haben wir es mit einem kontinuierlich fortschreitenden Prozeß der Absonderung des einen aus einem anderen zu tun. Vgl. Phys. 1.6, 189a24-26 und Met. I.3-I.4. Zu dem Gegensatzpaar Streit (Νεΐκος) und Liebe (Φιλότης), das Empedokles selbst als getrennt von den vier Bestandteilen betrachtet (B17, Ζ. 19-20), vgl. Frg. DK 31Β17; B21; B30. Vgl. auch Gadamer (1996: 104 f.): „Πυκνότης/μανότης und έκκρισις sind offensichtlich zwei verschiedene Theorien, und auf ihre Verschiedenheit beruht die Klassifikation fllr den Naturkundigen."
Die beiden Gruppen der Naturphilosophen ( φ υ σ ι κ ο ί )
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mente Feuer, Wasser, Luft und Erde gemeint.25 Den Grund, warum hier den „Grundstoffen" ein „καλούμενα" vorangestellt wird, sieht Charlton (1970: 46) darin, daß mit den „καλούμενα στοιχεία" Aristoteles zufolge schlicht die Dinge gemeint sind, die die Philosophen Elemente nennen.26 Anaxagoras wird demgegenüber zugeschrieben, daß er die Zahl der Gleichteiligen (τά όμοιομερή) und der Gegensätze (τάναντία) als unbegrenzt (άπειρα) gesetzt habe.27 Unter den „όμοιομερή" - wobei sich dieser Ausdruck in den Fragmenten des Anaxagoras, der selbst von „Samen" (σπέρματα: Frg. B4) spricht, nicht findet -28 versteht Aristoteles solcherlei 'Dinge' wie z.B. Fleisch, Knochen und Blut,29 die „aus gleichen Teilen" bestehen; jeder Teil eines Stückes Fleisch ist selbst ebenfalls Fleisch.30 Neben den 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) ist in 187a25-26 auch von den 'Gegensätzen' (τάναντία) die Rede.31 Um verstehen zu können, was es mit diesen „όμοιομερή" und „τάναντία" bei Anaxagoras auf sich hat, mag es hilfreich sein, einen Blick auf folgende von Barnes (1982: 320)
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In Phys. I1I.5, 204b33-35 führt Aristoteles die vier Elemente explizit als die „sogenannten Grundstoffe" an (vgl. auch Met. 1.3, 984a5 f.; 1.4, 985a31-3; 1.8, 989a20-30; 1.10, 993al7-25). Zu den vier Elementen bei Empedokles vgl. Frg. DK 31B6; DK 31B17; DK 31B21; DK 31B38. Ross (1936: 484) - vgl. auch Wagner (1967: 412) und Hardie/Gaye (1930) - weist darauf hin, daß Aristoteles diese 'Grundstoffe' selbst als komplexe Gebilde betrachtet, die aus einer prima materia und den Gegensätzen 'heiß-kalt' und 'trocken-feucht' zusammengesetzt sind, so daß sie nach Ansicht von Aristoteles keine grundlegenden, sondern nur 'sogenannte' Elemente sind. Daß der Ausdruck „απειρα" in 187a26 im Sinne von „der Zahl nach unendlich" - und nicht im Sinne von „der Größe nach unbegrenzt" - zu verstehen ist, wird aus dem Gegensatz deutlich, daß Empedokles nur (μόνον) die sogenannten Grundstoffe angenommen hat. Vgl. auch die diabetische Einteilung der zahlenmäßigen Möglichkeiten von άρχαί in Kapitel 1.2, wo „άπειρον" ebenfalls die Bedeutung „der Zahl nach unendlich" besitzt. Daß Aristoteles die όμοιομερή des Anaxagoras als dessen άρχαί verstand, wird aus Met. 1.3,984al 1-16 deutlich. Vgl. KRS ( 2 1983: 376): „[...]; what the later commentators called όμοιομέρειαι, he himself seems to have called 'seeds'. Aristotle, who was probably the first to apply the phrase τά όμοιομερή to the theories of Anaxagoras, seems at least to have used it consistently." (Vgl. auch Wagner, 1967: 413 und Barnes, 1982: 311 ff.). Vgl. Furth (1987a: 33), der in bezug auf die όμοιομερή eines Lebewesens daraufhinweist, daß diese für Aristoteles nicht unabhängig vom Lebewesen als solche existieren können. Außerhalb des lebendigen Organismus ist Blut nur auf homonyme Weise - d.h. nur dem Namen, nicht aber der Funktion nach - Blut. Vgl. auch Wagner (1967: 413) und Prantl (1854: 476, Fn.17): „Gleichtheilig (όμοιομερές) nennt Arist. dasjenige, dessen Theile denselben Namen wie das Ganze haben (z.B. Wasser, Holz, Fleisch u. dgl. im Gegensatz z.B. gegen Gesicht oder Hand, deren Theile nicht wieder Gesicht oder Hand sind), [...]." Der Teil ist bei den 'Gleichteiligen' synonym mit dem Ganzen (vgl. De gen. et corr. 1.1, 314a 18-20). Zwar hat jeder Teil eines Stückes Fleisch dieselbe materielle Konstitution wie das gesamte Stück Fleisch, doch bedeutet dies nicht, daß jeder Teil von Fleisch nur Fleisch - und sonst nichts - ist. Denn würde jeder Teil von Fleisch nur Fleisch sein, so würde das Problem auftreten, inwiefern Aristoteles in bezug auf die Elemente des Anaxagoras überhaupt von 'όμοιομερή' sprechen kann, sollen diese doch auch alles andere beinhalten, das sich aus ihnen aussondert. Barnes (1982: 325) löst diesen scheinbaren Widerspruch durch den Hinweis, daß jeder Teil eines Klumpens Gold selbst Gold in dem Sinne ist, daß er dieselbe materielle Beschaffenheit wie das ganze Stück Gold hat (und insofern ein 'Gleichteiliges' ist), wobei jedoch die materielle Beschaffenheit der Teile wie auch des Ganzen durch anderes konstituiert sein kann. Vgl. KRS ( 2 1983: 377): „Our own reconstruction of Anaxagoras' system suggests that the fuller statement is correct. For in that system as reconstructed the opposites and the natural substances do indeed together comprise the 'everything' of which everything contains a 'portion'."
Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
132
zusammengestellte Liste der in den Fragmenten von Anaxagoras angeführten 'Dinge' zu werfen: We might start by considering Anaxagoras' examples of 'things'. They are: air, fire (197); wet, dry, hot, cold, bright, dark, earth (201); hair, flesh (B 10); thin, thick (B 12); cloud, water, stone (B 16). The doxographers add such things as: gold, blood, lead (Simplicius, A 41); white, black, sweet (Aristotle, Phys 187 b5 = A 52). We do not, of course, know whether these latter examples actually occurred in Anaxagoras' text. Da Anaxagoras neben solchen stofflichen 'Dingen' wie Fleisch, Haar, Stein, Feuer, Wasser und Luft selbst auch Gegensätze, wie z.B. trocken-naß, heiß-kalt und dünn-dick, als Beispiele nennt, liegt es für Aristoteles nahe, in bezug auf die Theorie von Anaxagoras auch die Gegensätze als grundlegend anzusehen. In Analogie zu den stofflichen 'Dingen' (Fleisch, Wasser, Haar, Stein usw.) verfügen diese ebenfalls über eine 'gleichteilige' (όμοιομερή) Struktur, sofern man sie, wie Anaxagoras dies nach Ansicht von Aristoteles getan zu haben scheint, in einem 'dinglichen' Sinne als z.B. 'Trockenes und Nasses', 'Heißes und Kaltes', 'Weißes und Schwarzes' auffaßt. 32 In einem dinglichen Sinne verstanden ist z.B. ein materieller Teil eines Weißen j a ebenfalls ein Weißes.
4.2 Anaxagoras'
Lehre von den unendlich vielen
άρχαί
In Kapitel I. 4 setzt sich Aristoteles vor allem mit der Lehre von Anaxagoras auseinander, der die Zahl der Gleichteiligen und Gegensätze als unendlich gesetzt hat. Da diese Position in bezug auf die eleatische These „ ε ί ν α ι έν τά π ά ν τ α " das andere Extrem der zahlenmäßigen Möglichkeiten von ά ρ χ α ί darstellt (eine ά ρ χ ή - unendlich viele ά ρ χ α ί ) , scheint Aristoteles somit dem bereits herausgearbeiteten methodischen Konzept treu zu bleiben, dem zufolge zunächst die Extreme, die sich häufig in Form von konträren Gegensätzen darlegen, zu betrachten sind, um von dort aus zu einer mittleren Position zu gelangen. In Analogie zu den Atomisten hat auch Anaxagoras seine Theorie als Reaktion auf die Lehre der Eleaten verstanden. 33 Sagt Parmenides in Fragment B8, Z.5-6 „weder war es jemals noch wird es irgendwann einmal sein, da es jetzt als Ganzes beisammen ist, als Eines und kontinuierlich Zusammenhängendes" (ούδέ ποτ' ήν ούδ' έ σ τ α ι , έπεί νυν έ σ τ ι ν όμοΰ π α ν , εν, συνεχές), so stellt Anaxagoras diesem Gedanken im ersten Satz seines Fragments Β1 folgendes gegen32
Die Substantiation von Qualitäten ist ein „common feature of Greek thought" (Barnes, 1982:
33
3 2 2 )
·
Auch wenn Anaxagoras und die Atomisten darin übereinkommen, daß sie beide unendlich viele άρχαί angenommen haben, unterscheiden sie sich doch in folgenden Punkten voneinander: (1) Zum einen nimmt Anaxagoras (im Gegensatz zu den Atomisten) keine unteilbaren Größen an. (2) Zum anderen sind die Atome der Gattung nach eines und nur in der Gestalt (σχήμα) unterschieden, wahrend sich die όμοιομερή jedoch auch der Art nach voneinander unterscheiden und einander entgegengesetzt sind (vgl. 1.2, 184b20-22). (3) Die Atomisten nehmen (im Gegensatz zu Anaxagoras) mit dem 'Leeren' die Existenz eines Nichtseienden an.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
133
über: „Zusammen waren alle Dinge, unbegrenzt sowohl der Anzahl als auch der Kleinheit nach; denn auch das Kleine war unbegrenzt" (όμοΰ χρήματα πάντα ήν, άπειρα και πλήθος και σμικρότητα· και γαρ τό σμικρόν άπειρον ήν). Anaxagoras ersetzt hier sowohl das „όμοΰ πάν, έν" des Parmenides durch das „όμοΰ χρήματα πάντα", als auch spricht er im Gegensatz zu Parmenides von dem 'Zusammensein aller Dinge' in der Vergangenheitsform (ήν). Zudem widerspricht Anaxagoras mit der „Unbegrenztheit der Kleinheit nach" der eleatischen These von der Unteilbarkeit des Einen, wie Parmenides sie in Fragment B8, Z.22 vertritt.34 Die in Kapitel I. 4 vorliegende Auseinandersetzung mit Anaxagoras läßt sich in folgende zwei Abschnitte gliedern: (1) 187a26-b7: Die Rekonstruktion der Prämissen, die Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangen ließen (dies bezeichne ich als die „Genese der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί"). (2) 187b7188al8: Die Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί.
4.2.1 Zur Genese der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187a26-b7) Aristoteles beginnt seine Untersuchung der Theorie des Anaxagoras mit der Frage, wie dieser zur Annahme unbegrenzt vieler άρχαί gelangt ist:35 Anaxagoras aber scheint [εοικε] so zur Unendlichkeitsthese gelangt zu sein, weil er die von den Naturphilosophen gemeinsam zugrunde gelegte Meinung [δόξαν] für wahr hielt, daß aus dem Nichtseienden nichts wird [ώς ού γιγνομένου οΰδενός έκ οΰ μή δντος] (deshalb nämlich reden sie so: »Zusammen war alles« [ήν όμοΰ πάντα] und »das Werden [Entstehen] eines derartigen [Einzeldings] erweist sich als Eigenschaftsveränderung« [τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι], die anderen sprechen hier von »Vermischung« [σΰγκρισιν] und »Entmischung« [διάκρισιν]). Zudem aber aufgrund der Tatsache, daß die Gegensätze auseinander werden. Also waren sie schon [ineinander] enthalten [ένυπήρχεν άρα]. Denn wenn alles Werdende notwendigerweise entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem wird [ει γαρ πάν μέν τό γιγνόμενον άνάγκη γίγνεσθαι ή έξ δντων ή έκ μή δντων], von diesen aber das Werden aus Nichtseiendem unmöglich ist (denn über diese Ansicht sind alle, die über Natur [gehandelt haben], einer Meinung), so ergibt sich folglich, meinten sie, das Übrige mit Notwendigkeit, nämlich daß es [das Werdende] aus Seiendem und darin schon Enthaltenem wird [έξ δντων μέν και ένυπαρχόντων γίγνεσθαι], das aber wegen der Kleinheit der Volumina für uns nicht wahrnehmbar ist. Deshalb sagen sie doch, daß alles in allem gemischt sei [πάν έν παντί μεμΐχθαι], weil sie doch alles aus allem werden sahen [διότι πάν έκ παντός έώρων γιγνόμενον]. Die Dinge erscheinen allerdings als Verschiedene und werden als verschieden voneinander angesprochen wegen des Bestandteils, der in dieser Mischung der unendlich (vielen) Stoffe am meisten enthalten ist. Denn in reiner Weise 34
Vgl. dazu auch K.RS ( 2 1983: 358). Auch wenn hier noch nicht explizit von „άρχαί", sondern von ,,όμοιομερή" und ,,τάναντία" bzw. in bezug auf Empedokles von „στοιχεία" - die Rede ist, macht sowohl der Kontext wie auch die Einteilung der „άρχαί" in 1.2, 184b 14-25 deutlich, daß Aristoteles die ,,όμοιομερή" und ,,τάναντία" des Anaxagoras als άρχαί verstanden hat (vgl. auch 1.4, 187b 10-11, wo dann explizit von „άρχαί" die Rede ist).
134
Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
[εϊλικρινώς] gebe es ein ganz und gar Weißes oder Schwarzes oder Süßes oder Fleisch oder Knochen gar nicht; wovon aber ein jedes am meisten hat, dies scheint die Natur des Dings [την φύσιν τοΰ πράγματος] zu sein. (1.4, 187a26-b7)
In bezug auf die hier dargelegte logische Genese der Unendlichkeitsthese bei Anaxagoras, die durch eine Rekonstruktion der Prämissen, die diese These zu implizieren scheinen, verdeutlicht werden soll, ist hervorzuheben, daß Aristoteles davon spricht, daß Anaxagoras aufgrund der angeführten Gründe zur Unendlichkeitsthese gelangt zu sein scheint (εοικε: a26). Durch den Ausdruck ,,έοικε" gibt Aristoteles einerseits zu verstehen, daß die genannten Gründe vermutlich die Gründe sind, die Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangen ließen, welches jedoch nicht bedeutet, daß die Gründe selbst nur vermutlich Anaxagoras zugeschrieben werden können, denn Aristoteles zählt ja gerade den ersten Grund ,,ώς ού γιγνομένου ούδενός έκ ο ΰ μή οντος" (187a28-29) zu den sichersten Prämissen aller Naturphilosophen. Andererseits deutet Aristoteles durch den Ausdruck ,,έοικε" an, daß die angeführten Gründe seiner Ansicht nach nur scheinbar zu der von Anaxagoras gezogenen Konklusion fuhren. 36 Die von Aristoteles genannten Prämissen, die die Konklusion bezüglich der unbegrenzten Anzahl von ά ρ χ α ί zu implizieren scheinen, lauten wie folgt: (1) Aus Nichtseiendem wird nichts (vgl. ,,ώς ού γ ι γ ν ο μ έ ν ο υ οΰδενός έκ τοΰ μή δντος": 187a28-29). (2) Gegensätze -werden auseinander (vgl. „γίγνεσθαι έξ α λ λ ή λ ω ν τάναντία: 187a31").
Die Prämisse (1) ,^4us Nichtseiendem wird nichts" (187a28-29) Bezüglich der Prämisse (1), in der einerseits das von den Naturphilosophen übernommene eleatische Erbe zum Ausdruck kommt, 37 und mit der andererseits auf das Ende von Kapitel 1.3 zurückverwiesen wird, wo es ja gerade um die Frage nach der Existenz eines Nichtseienden ging, sind sich, so Aristoteles, alle Naturdenker einig. Daß diese Prämisse von den Naturphilosophen in ihren Überlegungen zugrunde gelegt wurde, zeigt Aristoteles durch folgende bei Anaxagoras und anderen Naturphilosophen zu findende Aussagen, die bereits Konklusionen aus dieser Prämisse darstellen: „Deshalb nämlich reden sie so: [a] »Zusammen
37
Vgl. auch Phys. III.4,203a23-25: „Und der eine [Anaxagoras] sagt, jedes beliebige der Teile sei eine Mischung ebenso wie das Ganze, weil man doch sehe, daß Beliebiges aus Beliebigem wird. Deshalb scheint [έοικε] er zu behaupten, daß einmal alle Dinge zusammen waren, [...]." Das ,,έοικε" kann hier einerseits andeuten, daß Aristoteles meint, sein angeführtes Argument („weil man doch sehe, daß ...") sei selbst nur insofern eine Vermutung, als sich dieser Satz nicht explizit in den Fragmenten des Anaxagoras findet (so versteht es Cornford, 1930: 90). Andererseits kann es besagen, daß Aristoteles meint, die Verbindung zwischen seinem Argument („weil man doch sehe, daß ...") und der Konklusion („alle Dinge waren einmal zusammen") sei nur insofern eine scheinbare, als das angeführte Argument Aristoteles zufolge nicht notwendigerweise zur Konklusion fuhrt (so versteht es Barnes, 1982: 331, Fn.25). Vgl. dazu auch Phys. 1.8, 191a23-33 und Parmenides, Frg. DK 28B8, Z.12-13.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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war alles« [ήν ό μ ο ΰ π ά ν τ α ] 3 8 und [ b l ] » d a s Werden [Entstehen] eines derartigen [Einzeldings] erweist sich als Eigenschaftsveränderung« [τό γ ί γ ν ε σ θ α ι τοιόνδε κ α θ έ σ τ η κ ε ν ά λ λ ο ι ο ΰ σ θ α ι ] , [b2] die anderen sprechen hier von » V e r mischung« [ σ ύ γ κ ρ ι σ ν ν ] und »Entmischung« [ δ ι ά κ ρ ι σ ι ν ] " (187a29-31). 3 9 D a sich Anaxagoras in Frg. Β 1 7 dafür ausspricht, das Werden und Vergehen als ein Vermischen und Entmischen zu verstehen, liegt es nahe, ihn als einen Vertreter derjenigen Gruppe anzusehen, von der es heißt [b2] ,,οί δέ σ ύ γ κ ρ ι σ ι ν καν δ ι ά κ ρ ι σ ι ν " (a31). 4 0 Dann aber stellt sich die Frage, w e n Aristoteles nun mit denjenigen im Sinn hätte, die [ b l ] von der , , γ έ ν ε σ ι ς " als , , ά λ λ ο ί ω σ ι ς " sprechen (a30). In De gen. et corr. I. 1 schreibt Aristoteles die Gleichsetzung der γ έ ν ε σ ι ς mit einer ά λ λ ο ί ω σ ι ς den Naturphilosophen der ersten Gruppe, d.h. denjenigen, die j e w e i l s nur einen homogenen Stoff als Zugrundeliegendes gesetzt haben, als eigentümliche Ansicht zu. Gleichwohl habe auch Anaxagoras, so Aristoteles, diese Ansicht vertreten, obwohl sie eigentlich im Widerspruch zu seiner Theorie steht. Während der Satz [a] in der Sekundärliteratur eindeutig Anaxagoras zugeschrieben wird, entsteht bei der Zuordnung der Sätze [ b l ] und [b2] j e d o c h folgendes Problem: Wenn mit demjenigen, der [ b l ] die γ έ ν ε σ ι ς als ά λ λ ο ί ω σ ι ς versteht (a30), ebenfalls Anaxagoras gemeint wäre, so könnte mit [b2] „oi δέ σ ύ γ κ ρ ι σ ι ν κ α ι δ ι ά κ ρ ι σ ι ν " im Sinne einer Abgrenzung dazu letztlich nur EmVgl. Anaxagoras, Frg. DK 59B1: ,,όμού χρήματα πάντα ήν, [...]." Diese Aussage zeigt auf folgende Weise, daß Anaxagoras die Prämisse (1) angenommen hat: Wenn aus Nichtseiendem nichts wird, und wenn es dennoch ein Werden in der Welt gibt, kann sich dieses Werden nur aus Seiendem vollziehen (vgl. 187a32-37). Folglich muß alles, was wird, bereits irgendwie vorhanden sein, welches für Anaxagoras bedeutet, daß es in einer ursprünglichen Mischung von allem in allem vorhanden ist. Zekl (1987: 242, Fn.36) betrachtet den Satz ,,τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι" als ein wörtliches Zitat und verweist auf Anaxagoras, Frg. DK 59B17: „Die Griechen denken nicht richtig über das Werden und Vergehen [τό γίνεσθαι και άπόλλυσθαι], Denn kein Ding [χρήμα] wird oder vergeht; sondern [ausgehend] von seienden Dingen [από έόντων χρημάτων] wird es zusammengemischt und getrennt [συμμίσγεταί τε και διακρίνεται]. Und so würden sie wohl richtig das Werden ein 'Zusammengemischt-werden' und das Vergehen ein 'Abgetrennt-werden' nennen." Zwar betrachtet auch Ross (1936: 484) den Satz ,,τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι" als ein wörtliches Zitat aus einem Fragment von Anaxagoras, doch hat Aristoteles Ross zufolge ein anderes Fragment als B17 im Sinn, das uns nicht erhalten ist (vgl. auch De gen. et corr. 314al3-15: „λέγει γοϋν (Αναξαγόρας) ώς τό γίγνεσθαι και άπόλλυσθαι ταύτόν καθέστηκε τω άλλοιοΰσθαι"). Denn in Frg. Β17 ist davon die Rede, daß das Entstehen als Vermischen und Entmischen (und nicht davon, daß es als Eigenschaftsveränderung) zu verstehen sei. Da Aristoteles Ross zufolge jedoch sowohl in Phys. 1.4 wie in De gen. et corr. 314a 13-15 von Anaxagoras eindeutig sagt, daß er die ,,γένεσις" mit einer ,,άλλοίωσις" gleichgesetzt habe - obgleich dies von Aristoteles für gewöhnlich den Naturphilosophen der ersten Gruppe zugeschrieben wird, die nur einen einzigen Stoff zugrunde legten (vgl. De gen. et corr. 314b 1-6; bl8-19) - ist Ross der Auffassung, daß das ,,τό γίγνεσθαι τοιόνδε καθέστηκεν άλλοιοΰσθαι" auf (ein nicht überliefertes Fragment von) Anaxagoras zu beziehen sei, während mit dem „oi δέ σύγκρισιν και διάκρισιν" (a31) dann primär Empedokles gemeint wäre (vgl. auch Wicksteed/Cornford, 1980: 42 f.). Die Rede von 'Vermischung' und 'Entmischung' findet sich auch bei Empedokles, der ebenso wie Anaxagoras die Ansicht vertritt, daß es in seinem Kreislauf des Werdens Geburt und Tod im strengen Sinne nicht gibt. Es gibt nur Mischung (μΐξις) und Austausch (διάλλαξις) des Gemischten. „Geburt" (φύσις) aber heißt es bloß bei den Menschen (vgl. Frg. DK 31B8; Bl 1; B12; B15; B21).
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
pedokles (und eventuell die Atomisten), nicht aber Anaxagoras gemeint sein. Folglich könnte Aristoteles hier nicht Frg. B17 im Sinn haben, wo sich Anaxagoras dafür ausspricht, das Werden ein 'Vermischen' und das Vergehen ein 'Entmischen' zu nennen, obgleich die angeführten Zitate doch gerade auf dieses Fragment hinzudeuten scheinen. Mit dieser Interpretation ist zudem das Problem verbunden, daß nun die erste Gruppe der Naturphilosophen in den Beispielsätzen [a], [bl] und [b2] nicht mehr vertreten wäre. Aristoteles leitet die von ihm angeführten Zitate jedoch mit dem Hinweis darauf ein, daß die Prämisse (1) die gemeinsame Meinung der Naturphilosophen" (vgl. „την κοινήν δόξαν των φυσικών": a27-28) sei, welches er dadurch begründet, daß , j i e wegen diesem wie folgt sprechen". Das Wort ,,λέγουσιν" (a29) ist hier offenkundig auf alle zuvor erwähnten Naturphilosophen zu beziehen, so daß man eigentlich erwarten dürfte, daß in den nachfolgenden Zitaten auch die Naturphilosophen der ersten Gruppe vertreten sind. Angesichts der Tatsache, daß in bezug auf die in der Sekundärliteratur häufig zu begegnende Zuordnung der Beispielsätze a29-31 die erste Gruppe der Naturphilosophen keine Erwähnung findet, verwundert es nicht, daß einige Interpreten den Ausdruck ,,λέγουσιν" im Singular übersetzen und nur auf Anaxagoras beziehen.41 Die skizzierten Schwierigkeiten lassen sich jedoch durch folgende Interpretation vermeiden: (i) Anaxagoras hielt die von allen Naturphilosophen gemeinsam zugrunde gelegte Prämisse, daß aus Nichtseiendem nichts wird, für wahr, (ii) Daß alle Naturphilosophen diese Prämisse zugrunde legten, zeigt sich aus folgenden Aussagen, die'sich bei ihnen finden, wobei sich der Ausdruck ,,λέγουσιν" auf alle Naturphilosophen - d.h. sowohl auf die erste wie die zweite Gruppe - bezieht: [a] Zusammen war alles": Dies ist nicht nur auf Anaxagoras, sondern auf alle Vertreter der zweiten Gruppe zu beziehen, die ein 'Gemisch' angenommen haben.42 [bl] „Die γένεσις erweist sich als eine άλλοίωσις": Dies ist primär auf die erste Gruppe der Naturphilosophen zu beziehen, denen Aristoteles diese Ansicht für gewöhnlich als ihnen eigentümlich zuschreibt (vgl. De gen. et corr. I. 1). [b2] ,,οί δέ σύγκρισιν και διάκρισιν": Dies bezieht sich dann wieder auf die zweite Gruppe der Naturphilosophen - vor allem auf Anaxagoras und Empedokles -, die in einem Gegensatz (δέ) zur ersten Gruppe steht. Nun ist der Grund dafür, daß die Sätze [bl] und [b2] als Zeichen dafür fungieren, daß die Naturphilosophen die Prämisse (1), der zufolge aus Nichtseiendem nichts wird, zugrunde gelegt haben, darin zu sehen, daß es in beiden FälSo übersetzt Zekl (1987: 19): „ [ . . . ] - d e s w e g e n gibt es ja solche Sätze (bei ihm) wie: [...]". Wicksteed und Cornford (1980: 43) übersetzen: „This made him declare that originally [...]". Wagner (1967: 4 1 4 ) und Charlton (1970: 8) übersetzen den Ausdruck , , λ έ γ ο υ σ ι ν " zwar im Plural, doch scheinen sie andererseits der Auffassung zu sein, daß hier nur die zweite Gruppe der Naturphilosophen gemeint sei. Vgl. dazu Met. XII.2, 1069b20-23, w o Aristoteles das ,,όμοΰ π ά ν τ α " des Anaxagoras mit dem Gemisch [τό μ ί γ μ α ] des Empedokles und Anaximander auf eine Ebene stellt: „Und dies ist der Sinn des Einen bei Anaxagoras. Denn filr das »alles beisammen« - auch für das Gemisch des Empedokles und des Anaximander und nach der Lehre des Demokrit - hieße es besser: »Es war alles beisammen« der Möglichkeit nach, der Wirklichkeit nach aber nicht. Sie haben also im Grunde den Stoff gemeint." (Übers, nach Bonitz).
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen ά ρ χ α ί
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len - sei es, daß man das Entstehen (γένεσις) als Eigenschaftsveränderung (άλλοίακπς) versteht, oder sei es, daß man das Entstehen (γένεσις) und Vergehen (φθορά) als Vermischen (σύγκρισις) und Entmischen (διάκρισις) auffaßt kein Werden im strengen Sinne als Entstehen von etwas aus einem Nichtseienden gibt. Denn sowohl die άλλοίωσις wie auch die σύγκρισις und διάκρισις setzen bereits etwas Seiendes voraus, das entweder eigenschaftlich verändert oder (mit anderem) zusammengemischt bzw. (von anderem) entmischt wird.
Die Prämisse (2) „Gegensätze werden auseinander" (187a31) Aristoteles fuhrt die Prämisse (2) als einen weiteren Grund (vgl. ,,ετι δ' έκ ...": a31) dafür an, warum Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangt ist. Die Prämissen (1) und (2) scheinen ihren Grund in der empirischen Wahrnehmung zu haben. Denn ebenso wie man beobachten kann, daß etwas immer schon aus etwas - und somit nicht aus einem völligen Nichts - wird,43 kann man auch beobachten, daß z.B. ein Weißes aus einem Schwarzen oder ein Kaltes aus einem Wannen wird. Eben dieses Werden eines Weißen aus einem Schwarzen oder eines Kalten aus einem Warmen ist wohl gemeint, wenn Aristoteles hier vom „Werden der Gegensätze auseinander" spricht.44 Nun tritt die Prämisse (2) aus Sicht von Anaxagoras jedoch in folgenden Konflikt mit der Prämisse (1): Wenn ein Weißes aus einem Schwarzen wird, und wenn sich dieses Schwarze begrifflich als ein Nichtweißes bestimmen läßt, so läßt sich dieses Werden eines Weißen aus einem Schwarzen begrifflich auch als das Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen fassen. Da Anaxagoras nun ebenso wie die Eleaten - noch nicht zwischen einem schlechthin Nichtseienden (μή όν άπλώς) einerseits und einem akzidentell Nichtseienden (μή öv κατά συμβεβηκός) andererseits zu differenzieren vermochte, liegt es nahe, daß ihm das Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen wie das Werden eines 'Seienden' aus einem 'Nichtseienden' erschien. Dieses Werden eines 'Seienden' aus einem 'Nichtseienden' würde jedoch einen Widerspruch zur Prämisse (1) bedeuten, der zufolge „aus Nichtseiendem nichts wird". Folglich zog Anaxagoras aus der Prämisse (2) „Gegensätze werden auseinander" vor dem Hintergrund der Prämisse (1) „aus Nichtseiendem wird nichts" die Konklusion (i), daß die
Vgl. auch 1.7, 190b 1 -3, wo Aristoteles sagt, daß für einen, der genau hinschaut (έπισκοποϋντι), klar ist, daß auch die Dinge aus etwas entstehen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß sich die Unmöglichkeit des Werdens aus Nichtseiendem bei den Eleaten aufgrund der Undenkbarkeit des Nichtseienden eher als ein Resultat theoretischer Überlegungen erwies. Sagen wir (i) „ein Warmes wird aus einem Kalten", so meinen wir, daß dasjenige, was vor dem Wechsel kalt war, nun nach dem Wechsel warm ist. Sagen wir jedoch (ii) „ein Warmes wird aus einem Warmen", so meinen wir, daß aus einem Kalten durch ein anderes Warmes ein Warmes wird, so daß das „Werden aus" hier eigentlich ein „Werden durch" meint. Spricht Aristoteles in Kapitel 1.4 bezüglich der Theorie des Anaxagoras von einem „Werden aus", so ist hier offenkundig die Bedeutung (i) gemeint.
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
Gegensätze also ineinander enthalten waren (vgl. ,,ένυπήρχεν άρα": 187b32),45 so daß z.B. ein Partikel Weißes im Schwarzen und umgekehrt ein Partikel Schwarzes im Weißen enthalten ist. Diese Konklusion (i), die selbst nicht aus der empirischen Beobachtung hergeleitet werden kann und eher theoretischer Natur ist,46 ergibt sich als Folge aus den Prämissen (1) und (2), wie Aristoteles im nachfolgenden (187a32-b2) darlegt. Die Begründung lautet: Denn wenn alles Werdende notwendigerweise entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem wird [ει γαρ παν μέν τό γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν α ν ά γ κ η γ ί γ ν ε σ θ α ι ή έξ δντων ή έκ μή όντων], von diesen aber das Werden aus Nichtseiendem unmöglich ist (denn über diese Ansicht sind alle, die über Natur [gehandelt haben], einer Meinung), 47 so ergibt sich folglich, meinten sie, 48 das Übrige mit Notwendigkeit, nämlich daß es [das Werdende] aus Seiendem und 4 darin schon Enthaltenem wird [έξ δντων μέν και ένυπαρχόντων γίγνεσθαι], das aber wegen der Kleinheit der Volumina 50 für uns nicht wahrnehmbar ist. Deshalb sagen sie doch, daß alles in allem gemischt sei [πάν έ ν παντί μεμΐχθαι], weil sie doch alles aus allem werden sahen [διότι πάν έκ παντός έώρων γιγνόμενον]. (1.4, 187a32-b2)
Aus dem Gesagten wird folgendes deutlich: Nach Ansicht von Anaxagoras wird ein Weißes in der Weise aus einem Schwarzen, als in dem Schwarzen bereits ein Partikel 'Weißes' enthalten ist, das sich aus dem Schwarzen aussondert. Anaxagoras versteht das Werden eines Weißen aus einem Schwarzen als Aussondern eines Weißen aus einem Schwarzen. Damit sich das Weiße jedoch aus einem Schwarzen aussondern kann, muß es zuvor bereits in dem Schwarzen enthalten
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Das Wort „ineinander" ist hier dem Sinn nach zu ergänzen (vgl. auch Hardie/Gaye, 1930; Ross, 1936. 341; Carteron, 21952: 36; Wicksteed/Cornford, 1980: 43; KRS, 21983: 369). In 187b22 spricht Aristoteles dann explizit vom „Ineinandersein von allem in jedem" (ει πάντα μέν ένυπάρχει τα τοιαύτα έν άλλήλοις). Während Aristoteles hier also primär sagen will, daß die Gegensätze nach Ansicht von Anaxagoras ineinander enthalten waren, sind Zekl (1987: 19), Prantl (1854: 25), Wagner (1967: 14), Charlton (1970: 8) und Gohlke (1956: 40) der Auffassung, daß Aristoteles hier sagen will, daß die Gegensätze nach Ansicht von Anaxagoras im Urgemisch enthalten waren. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Frg. DK 59B10: „Denn wie könnte wohl aus Nicht-Haar Haar und Fleisch aus Nicht-Fleisch werden?" Barnes (1982: 333) bemerkt hierzu: „'Hair cannot come from what is not hair.' The principle suggested by that thought is: (2) For any pair of stuffs, S, S': if S' comes from S, then S = S'. But (2) is absurd; and Anaxagoras surely has in mind a less extravagant principle, namely: (3) For any stuff S' and object x: if S' comes from x, then S' was in x. Hair cannot come from 'what is not hair', i.e. from what does not contain hair. [...] Principle (3), I suggest, was not forced upon Anaxagoras by Elea; nor did he propose it on the basis of empirical research: rather, it seemed to him to be a self-evident truth." Vgl. 1.4, 187a27-29. Das Wort ,,ένόμισαν" (sie meinten) deutet daraufhin, daß Aristoteles der Ansicht ist, daß sich die von ihnen gezogene Konklusion nicht notwendigerweise ergibt. Das ,,καί" ist hier in einem explikativen Sinne zu verstehen: „aus Seiendem als schon darin Enthaltenem". Damit ist gemeint, daß das Darin-Seiende nicht ein der Möglichkeit nach Seiendes, sondern vielmehr eine aktuelle Entität ist, die in dem anderen bereits Existenz hat. Mit dem Ausdruck ,,ό ογκος" ('die Masse') meint Aristoteles, wie Wagner (1967: 414) bemerkt, eher das Volumen (die Ausdehnungsgröße) als das Gewicht (Massengröße). Vgl. im Zusammenhang mit der Nicht-Wahrnehmbarkeit dieser Teile auch Frg. DK 59A46, wo Anaxagoras eine Erklärung dafilr gibt, wie es möglich ist, daß aus unserer Nahrung Haar, Knochen und Sehnen werden können, obgleich wir weder Haar noch Knochen oder Sehnen essen. Anaxagoras geht davon aus, daß in der Nahrung Teile von Blut, Haar, Knochen, Sehnen usw. enthalten sind, die nur für den Verstand, nicht aber für die Wahrnehmung zu sehen sind („[...], άλλ' έν τούτοις έστ'ι λόγω θεωρητά μόρια").
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sein. Auf diese Weise ist das Weiße, das aus dem Schwarzen wird, zwar bereits als ein aktuell Seiendes im Schwarzen enthalten, doch ist es insofern noch kein Bestimmtes und Einzelnes im konkreten Sinne, als etwas erst nach seiner Aussonderung ein Bestimmtes und Einzelnes sein kann.51 Gleichwohl ist für Aristoteles mit diesem Aussonderungsmodell der Begriff des Werdens im strengen Sinne eigentlich aufgehoben. Statt des Werdens eines Weißen aus einem Schwarzen, welches ftlr Aristoteles bedeutet, daß dort, wo vorher ein Schwarzes war, nun ein Weißes ist, liegt nun ein Aussondern eines Weißen aus einem Schwarzen vor, bei dem gilt, daß das Ausgesonderte bereits vor der Aussonderung aktuell vorhanden ist.52 Mit anderen Worten: Das Weiße, das empirisch betrachtet aus einem Schwarzen wird (vgl. „γίγνεσθαι έξ αλλήλων τάναντία": 187a31 -32), 'wird' theoretisch betrachtet eigentlich aus einem Weißen (vgl. ,,έξ όντων μεν και ένυπαρχόντων γίγνεσθαι": 187a36-37), das als ein bereits aktuell seiender Partikel in dem Schwarzen enthalten und wegen der Kleinheit der Volumina für uns nicht wahrnehmbar ist. Gilt dieses Modell des Werdens für das Werden der Gegensätze, die gleichsam den Extremfall darstellen, da man sich bei einem Schwarzen am wenigstens vorzustellen vermag, daß es Weißes enthält,53 so liegt es nahe, dasselbe Verhältnis analog auch auf alle anderen Werdeprozesse zu übertragen, so daß für das aus der Nahrung werdende Haar theoretisch betrachtet gilt, daß es insofern aus einem in der Nahrung bereits enthaltenen Partikel Haar 'wird', als sich dieser Partikel Haar' aussondert. Vor diesem Hintergrund gelangt Anaxagoras schließlich zur Konklusion (ii), daß „alles in allem enthalten ist" (vgl. „παν έν παντι μεμΐχθαι": 187bl), wenn man die zusätzliche Prämisse (3) hinzunimmt, daß „sie sahen, daß alles aus allem wird" (vgl. „διότι πάν έκ παντός έώρων γιγνόμενον": bl-2). Aristoteles führt die Prämisse (3) „διότι π ά ν έκ παντός έώρων γιγνόμενον" (bl-2), in der der Bezug zur Wahrnehmung durch das „έώρων" explizit ausgesprochen ist,54 als eine Begründung (διότι) für die These, daß „alles in allem gemischt sei", an. Mit diesem Bezug zur Wahrnehmung ist gemeint, daß uns die Beobachtung zunächst zu lehren scheint, daß ein jedes aus jedem - und somit letztlich Beliebiges aus Beliebigem - werden kann. Daß das „alles aus allem" im
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Vgl. Frg. DK 59B1 („και πάντων όμοϋ έόντων ούδέν ενδηλον ήν υπό σμικρότητος") und DK 59 Β4 („πριν δέ άποκριθήναι ταΰτα πάντων όμοΰ έόντων ούδέ χροιή ενδηλος ήν ουδεμία· άπεκώλυε γάρ ή σύμμιξις άπάντων χρημάτων, [...]."). Vgl. auch 1.4, 187b22-23: „[...], και μή γίγνεται ά λ λ ' έκκρίνεται ένόντα, [...]." Im Unterschied zu Met. IV.5, 1009a22-27 und XI.6, 1063b25-30 geht Aristoteles hier jedoch nicht auf die mit diesem Modell verbundene Gefahr einer Verletzung des Principium contradictions ein, die darin gesehen werden kann, daß ein Schwarzes, das zugleich ein aktuell Weißes enthalt, in gewisser Weise sowohl ein Schwarzes wie auch ein Weißes ist. Aristoteles weist in Kapitel 1.4 vermutlich aus dem Grunde nicht auf diese Gefahr hin, da hier ja zunächst insofern keine Verletzung des Principium contradictionis vorliegt, als von einem Schwarzen, auch wenn es weiße Teile enthalt, j a nur gesagt wird, daß es ein Schwarzes, nicht aber, daß es auch ein Weißes sei. Denn in 1.4, 187b2-4 heißt es, daß dasjenige als ein solches bezeichnet wird, von dem es am meisten enthalt. Andere Belege dafür, daß Aristoteles diese Prämisse des Anaxagoras als unmittelbar aus der empirischen Wahrnehmung hergeleitet betrachtet, finden sich in Met. IV.5, 1009a22-27 und Phys. III.4, 203a23-27.
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Sinne von J e d e s Beliebige aus jedem Beliebigen" zu verstehen ist, wird in I. 4, 187b24 deutlich, wo Aristoteles davon spricht, daß Beliebiges (ότιοΰν) aus Beliebigem (έξ ότουοΰν) wird. 55 Der Annahme des Werdens eines Beliebigen aus einem Beliebigem wird Aristoteles in Kapitel I. 5 (vgl. 188a31-36) entgegentreten, da das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen nach Ansicht von Aristoteles keine regelhaften Strukturen mehr zuläßt, so daß vor diesem Hintergrund eine Wissenschaft von den φύσει οντά letztlich als unmöglich erscheint. Zur Stützung seiner These, daß Beliebiges aus Beliebigem wird, würde Anaxagoras vermutlich die Beobachtung anführen, daß wir zwar alles mögliche, jedoch keine Haare essen, und daß die Haare doch aus der Nahrung zu werden bzw. zu wachsen scheinen. 56 Anaxagoras' Erklärung für diese Beobachtung besteht darin, daß in jeder beliebigen Nahrung bereits nicht wahrnehmbare Haarteile enthalten sind, die sich in unserem Körper aus der Nahrung aussondern und so das Wachsen der Haare ermöglichen. Diese Erklärung scheint zunächst nicht unplausibel zu sein, zumal sich aus ihr fernerhin ergibt, daß es nur unserer Wahrnehmung so scheint, als würde Beliebiges aus Beliebigem (z.B. Haar aus Fleisch) werden, während unsere Vernunft jedoch sieht, daß letztlich ein jedes nur aus etwas von seiner Art 'werden' kann: Ein bestimmtes Haar aus einem im Fleisch oder anderswo enthaltenen Haarpartikel und ein bestimmtes Weißes aus einem im Schwarzen oder anderswo enthaltenen Partikel 'Weißes'. 57 Auch wenn mit dieser Erklärung in bezug auf die Theorie nun zunächst keine Beliebigkeit des Werdens mehr vorhanden ist, bleibt diese Beliebigkeit hinsichtlich der Wahrnehmung gleichwohl erhalten. Zudem ergibt sich aus dieser Erklärung auf der theoretischen Ebene nun die Konsequenz, daß letztlich „alles in allem" sein muß, so daß sich die Frage nach der Beliebigkeit von der Ebene des Werdens zur Ebene des Seins hin verlagert hat. Zwar nimmt Anaxagoras im Gegensatz zu den Eleaten die Wahrnehmung als eine Quelle fiir unser Wissen über die Natur durchaus ernst - dies wird bereits daraus ersichtlich, daß er die in der Welt wahrzunehmenden Bewegungen im Gegensatz zu den Eleaten als existent annimmt -,58 doch andererseits gerät er mit seiner Theorie - ebenso wie die Eleaten - in einen Konflikt mit der Wahrnehmung. Denn für die Wahrnehmung gilt Anaxagoras zufolge j a weiterhin, daß Beliebiges aus Beliebigem (z.B. Haar aus Fleisch) wird, während der Theorie zufolge gesagt werden muß, daß Bestimmtes aus Bestimmtem (z.B. ein bestimmtes Haar aus einem Haarpartikel) 'wird'. Im Gegensatz zu den Eleaten versucht Anaxagoras diesen Konflikt nicht dadurch zu lösen, daß er die Wahrnehmung grundsätzlich als täuschend und
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Vgl. auch Phys. III.4, 203a23-27: „Und dieser [Anaxagoras] (behauptet), daß jeder beliebige Teil ebenso wie das Ganze eine Mischung sei, weil man doch sehe, daß Beliebiges aus Beliebigem wird [δια τό όράν ότιοΰν έξ ότουοΰν γιγνόμενον]. Deshalb nämlich scheint er auch zu behaupten, daß einmal 'alle Dinge zusammen' gewesen seien, [...]." Vgl. Anaxagoras, Frg. DK 59B10, A46 und A44 (vgl. dazu ebenfalls Barnes, 1982: 332). Zur Differenz zwischen dem 'Sehen mit der Wahrnehmung' und dem 'Sehen mit der Vernunft (λόγος)' vgl. Frg. DK 59A46, DK 59A97 und KRS (21983: 374-6) Wobei es ihm nicht nur darum geht, Bewegung in der Welt als existent anzunehmen, sondern auch eine Begründung dafür zu geben, wie diese Bewegung möglich ist (vgl. KRS, 21983: 364).
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Falschheiten erzeugend betrachtet - dies geht für Anaxagoras ja schon allein aus dem Grunde nicht, da er aus der Beobachtung, daß jedes aus jedem wird, auf die Konklusion, daß jedes in jedem enthalten ist, schließt -, sondern vielmehr dadurch, daß er der Wahrnehmung nur eine gewisse 'Ungenauigkeit' zuschreibt, insofern die in einem jeden enthaltenen kleinsten Partikel aufgrund ihrer Kleinheit durch die Wahrnehmung nicht erfaßt werden können. Diese Lösung erweist sich für Aristoteles jedoch als unbefriedigend. Zwar würde wohl auch Aristoteles zustimmen, daß der Verstand anderes zu 'sehen' imstande ist als die Wahrnehmung - vgl. hierzu die Unterscheidung des ήμνν γνωριμώτερον und φύσει γνωριμώτερον als eine Unterscheidung zwischen dem der Wahrnehmung und dem dem Begriff nach Bekannteren in Phys. 1.1 -, nicht jedoch würde er zustimmen, daß der Verstand generell etwas im Widerspruch zur Wahrnehmung Stehendes sieht. Denn das durch den Verstand Gesehene soll Aristoteles zufolge vielmehr eine Erklärung des Wahrgenommenen darstellen. Anaxagoras' Theorie verfehlt in gewisser Weise gerade dasjenige, was sie zu leisten beansprucht: Anstatt, daß sie eine Erklärung dafür gibt, wie es möglich ist, daß Gegensätze (Weißes und Schwarzes) auseinander werden, leugnet diese Theorie vielmehr, daß Gegensätze auseinander werden, indem sie behauptet, daß ein Weißes in der Weise eigentlich aus einem Weißen 'wird', als sich ein Partikel 'Weißes' aus etwas aussondert. Auf diese Weise aber hebt sie sich selbst als eine sinnvolle Theorie des Werdens auf.59 Aus Sicht der Theorie von Anaxagoras ist es letztlich nur zufällig, daß ein Weißes aus einem Schwarzen wird. Es hätte ebensogut - vielleicht sogar besser - aus Fleisch werden können. Denn es ist doch davon auszugehen, daß in einem Schwarzen wohl „am wenigsten" Weißes enthalten ist. Angesichts der Tatsache, daß das „Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen", das als Grund für die These „παν έν παντί μεμΐχθαι" fungiert, durch die Wahrnehmung begründet ist (vgl. ,,έώρων"), drängt sich nun aber die Frage auf, ob Aristoteles in seiner Wahrnehmung - anders als Anaxagoras - nicht ein Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen beobachtet, und wenn ja, wie es möglich ist, daß beide Verschiedenes wahrnehmen. Nun geschieht es in bezug auf die Wahrnehmung nicht selten, daß dasselbe, was der eine als süß empfindet, ein anderer als bitter empfinden kann (vgl. Met. IV.5, 1010b). Im Gegensatz zu Anaxagoras würde Aristoteles vermutlich sagen: „Ich sehe nicht, daß Beliebiges aus Beliebigem wird. Ein Mensch zeugt einen Menschen, ein Pferd zeugt ein Pferd, und Weißes wird aus Nichtweißem, jedoch nicht aus einem beliebigen Nichtweißen, sondern nur aus einem Schwarzen oder aus etwas, das zwischen einem Schwarzen und einem Weißen liegt (vgl. 1.5, 188a36-bl)." Mit anderen Worten: Anaxagoras und Aristoteles scheinen ihre Wahrnehmungen jeweils be-
Zur Problematik einer Theorie, die sich selbst als eine sinnvolle aufhebt, vgl. auch Prauss (1980: 42), der in bezug auf die Erkenntnistheorie bei Descartes ausführt: „Eine solche Theorie jedoch, die im Verlaufe ihrer Ausbildung dahin gelangt, den von ihr selbst gewählten Gegenstand, den sie als Theorie erklaren will, statt dessen vielmehr zu leugnen, hebt eben damit sich als eine sinnvolle Theorie selber auf."
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reits auf verschiedene Weise zu interpretieren,60 Während Aristoteles seinen Blick gerade auf die Regelhaftigkeiten in der Natur richtet, die ihm als Grundlage für eine Wissenschaft von der Natur als notwendig erscheinen, so daß er die vorhandenen Beliebigkeiten des Werdens, die er gleichwohl nicht leugnen will, eher als Zufall oder als Ausnahme von der Regel deutet, richtet Anaxagoras seinen Blick gerade auf die Beliebigkeiten, wobei er die Regelhaftigkeiten in der Natur dadurch erklären kann, daß z.B. aus einem Stein häufiger ein Stein 'wird', weil in einem Stein ja auch in überwiegender Anzahl 'Steinpartikel' enthalten sind.61 Anaxagoras' Theorie des Werdens führt an zwei Punkten in einen offenkundigen Konflikt mit der Wahrnehmung, den er auf folgende Weise zu lösen versucht: (1) Der Widerspruch zwischen der Konklusion „die Gegensätze sind also ineinander enthalten" (vgl. ,,ένυπήρχεν αρα": 187a32) und unserer Wahrnehmung, der zufolge z.B. ein Weißes nicht ein Schwarzes enthält, wird mit dem Hinweis auf die Kleinheit der Volumina, die für uns nicht wahrnehmbar sind, gelöst. (2) Der Widerspruch zwischen der Konklusion „alles ist in allem" (vgl. „πάν έν παντί μεμΐχθαι": 187bl), der zufolge eigentlich alles gleich sein müßte, und unserer Wahrnehmung, der zufolge uns die uns umgebenden Dinge als unterschiedlich erscheinen und wir ihnen gar verschiedene Namen geben, erfährt folgende Lösung: Die Dinge erscheinen allerdings als Verschiedene und werden als verschieden voneinander angesprochen wegen des Bestandteils, der in dieser Mischung der unendlich (vielen) Stoffe am meisten enthalten ist. Denn in reiner Weise [είλικρινώς] gebe es ein ganz und gar Weißes oder Schwarzes oder Süßes oder Fleisch oder Knochen gar nicht; wovon aber ein jedes am meisten hat, dies scheint die Natur des Dings [την φ ύ σ ι ν τοΰ πράγματος] zu sein. (1.4, 187b2-7)
Die hier von Aristoteles angeführten Beispiele stehen sowohl für die sogenannten 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) - wie z.B. Fleisch und Knochen - als auch für die 'Gegensätze' (τάναντία) - wie z.B. Weißes, Schwarzes und Süßes -, wobei daran zu erinnern ist, daß die Gegensätze selbst ebenfalls über eine 'gleichteilige' Struktur verfügen. Der Grund dafür, daß die einzelnen 'Dinge' durchaus Daß wir es in bezug auf das „παν ίκ παντός γιγνόμενον" nicht mit einem Satz der unmittelbaren Wahrnehmung, sondern bereits mit einer Interpretation derselben zu tun haben, wird daraus deutlich, daß 'ein jedes' bzw. 'alles' (vgl. „παν έκ παντός") ja nicht Gegenstand der Wahrnehmung sein kann. Andererseits wird Aristoteles in seiner Theorie allerdings auch eine Lösung für die 'scheinbare' Beliebigkeit des Werdens von Haar aus Nahrung geben müssen. Diese Lösung ist Aristoteles zufolge wohl in einer Stoffümwandlung durch eine Eigenschaftsveränderung (vgl. 1.7, 190b8-9) zu sehen. Mit anderen Worten: Fleisch ist in dem Sinne der Möglichkeit nach Haar, als durch eine Stoffumwandlung Haar aus Fleisch werden kann. Dennoch bedeutet diese Stoffumwandlung nicht, daß aus dem Fleisch Beliebiges werden kann. Mit dem Problem der Nahrung setzt sich Aristoteles in De An. II.4, 416al9-b31 auseinander, wo er zwischen folgenden Bedeutungen des Wortes „Nahrung" differenziert: (a) „Nahrung" bezeichnet einerseits dasjenige, was man ißt (das Unverdaute) - in diesem Sinne kann man von einem Werden aus Beliebigem sprechen („ich esse Fleisch, aus dem Haar wird"); (b) „Nahrung" bezeichnet andererseits dasjenige, was der Körper schließlich aufnimmt (das Verdaute) - in diesem Sinne kann man von einem Werden aus Gleichartigem sprechen („ich esse Fleisch, das zu Haar verdaut wird, und aus dem dann Haar 'wird'").
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als unterschiedlich erscheinen und wir ihnen deshalb auch verschiedene Namen beilegen, obgleich doch eigentlich ein jedes mit jedem identisch sein müßte, wenn alles in allem gemischt ist, ist Anaxagoras zufolge darin zu sehen, daß die Dinge - sei es ein Stück Weißes oder ein Stück Fleisch gerade weil sie jeweils für sich ein Gemisch darstellen und es somit kein absolut 'reines' Weißes oder anderes gibt,62 die Möglichkeit eröffnen, daß in diesem Gemisch ein Bestandteil von allen in überwiegender Zahl enthalten ist, der dann die Natur (φύσις) dieses Dings auszumachen scheint.63 Im wesentlichen ist das hier von Aristoteles Gesagte eine angemessene Schilderung dessen, was Anaxagoras in den Fragmenten B6 und Β12 darlegt.64 Angesichts der dargelegten Interpretation lauten die Annahmen, die Anaxagoras nach Ansicht von Aristoteles letztlich zur Unendlichkeitsthese führten, wie folgt:65 Prämisse (1): Prämisse (2): Konklusion (i): Prämisse (3): Konklusion (ii): Konklusion (iii):
Aus Nichtseiendem wird nichts. (187 a28-29) Gegensätze werden auseinander. (187a31-32) Die Gegensätze waren ineinander enthalten. (187a32) [K (i) folgt aus Ρ (1) und Ρ (2)] Jedes (Beliebige) wird aus jedem (Beliebigen). (187b2). Alles ist in allem gemischt. ( 1 8 7 b l ) [K (ii) folgt aus Ρ (1), Ρ (2), und Ρ (3)] Die Zahl der ά ρ χ α ί ist unbegrenzt, (vgl. 187a25-26)
Hierbei sind es, wie Aristoteles in 187a26-32 dargelegt hat, vor allem die Prämissen (1) und (2), die Anaxagoras vermutlich (vgl. ,,εοικε": a26) zur Unendlichkeitsthese hinsichtlich der Anzahl der άρχαν gelangen ließen. Dieser Zusammenhang zwischen den Prämissen (1) und (2) und der Konklusion (iii) ist jedoch keineswegs offensichtlich, zumal zu bedenken ist, daß sowohl die Vertre-
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Im Gegensatz zu Anaxagoras, der davon ausgeht, daß es kein Weißes in absolut reiner Form gibt, ist Parmenides - wie wir in Kapitel 1.3 gesehen haben - der Ansicht, daß etwas, wenn es z.B. ein Weißes ist, ein ganz und gar Weißes sein muß. Dies bedeutet jedoch, daß ein Weißes nicht zugleich als ein anderes erscheinen kann, da es nicht zwei Bestandteile geben kann, die zugleich am meisten vorkommen. Auf das Problem, daß ein Weißes somit genaugenommen nicht als ein anderes angesprochen werden kann, wird Aristoteles in 1.4, 188a5-9 eingehen. Vgl. Zekl (1987: 242, Fn.38) und Barnes (1982: 328). Barnes sieht in der Annahme, daß das meiste, welches in einem Weißen vorkommt, Weißes ist, die Gefahr einer zirkulären Definition, der zufolge etwas dann 'Weißes' genannt wird, wenn es am meisten weiße Partikel enthält, wobei andererseits etwas dann am meisten weiße Partikel enthält, wenn es 'Weißes' genannt wird. Eine weitere Schwierigkeit innerhalb der Theorie des Anaxagoras scheint mir auch in folgendem zu liegen: Wenn man, wie Anxagoras dies tut, davon ausgeht, daß jedes aus jedem werden kann, welches letztlich zur Konsequenz führt, daß in einem jeden ein jedes in unendlicher Anzahl enthalten ist, so stellt sich die Frage, wie Uberhaupt davon gesprochen werden kann, daß etwas in einem jeden am meisten enthalten ist. Denn die Rede davon, daß etwas in einem jeden am meisten enthalten ist, setzt doch gerade voraus, daß nicht jedes in jedem in unendlicher Anzahl enthalten ist. Obgleich Aristoteles in bezug auf den Unendlichkeitsbegriff in 187b7-13 zwischen einer Unendlichkeit (a) der Zahl nach (κατά πλήθος), (b) der Größe/Kleinheit nach (κατά μέγεθος) und (c) der Art nach (κατ' εΐδος) unterscheidet, ist er in bezug auf die bei Anaxagoras zu findende These von der „Unendlichkeit der άρχαί" doch vor allem an der Unendlichkeit der Zahl nach interessiert. Dies wird sowohl aus 1.2, 185b 15-22 wie auch aus 1.4, 187a25-26 deutlich.
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ter der ersten Gruppe der Naturphilosophen wie auch Empedokles, die diese Prämissen ebenfalls zugrunde gelegt haben, nicht zu einer unendlichen Anzahl von άρχαί gelangt sind. Neben Anaxagoras hat bekanntlich auch Anaximander, der von Aristoteles ebenfalls als Vertreter der zweiten Gruppe erwähnt wird (vgl. 187a21), alles aus einem Unbegrenzten (άπειρον) hervorgehen lassen. Nun besteht der Grund, den Aristoteles an anderer Stelle für die Annahme eines Unbegrenzten bei Anaximander anführt, darin, daß ansonsten „das Werden und Vergehen irgendwann nachlassen würden".66 Vor diesem Hintergrund hat es den Anschein, als würde die Setzung einer ursprünglichen Einheit von vielen Dingen, wie wir sie bei den Vertretern der zweiten Gruppe vorfinden, die Annahme eines άπειρον naheliegender erscheinen lassen. Warum jedoch, so wäre nun zu fragen, ist Empedokles, der von Aristoteles hier ja auch zur zweiten Gruppe gezählt wird, dann nicht ebenfalls zum άπειρον gelangt, zumal auch er die Wahrheit der beiden Prämissen (1) und (2) vorausgesetzt hat und von einem vielheitlichen Einen im Sinne eines Gemischs ausging. Eine Antwort auf diese Frage gibt Aristoteles in folgender Differenzierung: Im Unterschied zu Anaxagoras, der die Aussonderung nur einmal (απαξ) stattfinden läßt, macht Empedokles einen Kreislauf (περίοδος) daraus. Ebenso wie die Ausdrücke ,,απειρα" (a27) und ,,τά καλούμενα στοιχεία μόνον" (a26) einen Gegensatz bilden, stehen auch die Ausdrücke „απαξ" („nur einmal": a25) und ,,περίοδον" („Kreislauf: a24) in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander. Mit dem Hinweis, daß Anaxagoras das Aussondern nur einmal stattfinden läßt, ist gemeint, daß wir es bei Anaxagoras nicht mit einem Kreislauf, sondern vielmehr mit einem kontinuierlich fortschreitenden Prozeß der Aussonderung zu tun haben.67 Demgegenüber ist mit dem Konzept des Kreislaufs des Werdens der Gedanke verbunden, daß das Werden des einen als das Vergehen eines anderen und umgekehrt betrachtet wird.68 Dieser Gedanke stellt für Aristoteles eine Möglichkeit dar, daß man nicht eine unendliche Vielheit annehmen muß, damit das Werden und Vergehen nicht nachläßt.69 Vor diesem Hintergrund wird nun aber deutlich, daß der von Aristoteles
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Vgl. Phys. III.4, 203bl8-20: „έτι τώ οΰτως α ν μόνως μή ϋπολείπειν γένεσιν και φθοράν, εί άπειρον εϊη οθεν αφαιρείται τό γιγνόμενον" (Vgl. auch Anaximander, Frg. DK 12 A14). Der Ausdruck „απαξ" meint auch nicht eine einmalige Aussonderung von allem zu einem einzigen Zeitpunkt (vgl. dazu Phys. III.4, 203a27-8). Der Gegensatz zwischen ,,περίοδον" und „απαξ" meint den Gegensatz zwischen einem 'Kreislauf, bei dem das Vergehen des einen das Entstehen eines anderen bedeutet, und einer 'stetigen Einmaligkeit', bei der sich das Aussondern kontinuierlich in eine Richtung fortsetzt. Zwar findet sich auch bei Anaxagoras eine gewisse Reziprozität des Werdens, wenn Aristoteles in 187b24-25 das Beispiel nennt, daß sich aus einem Stück Fleisch ein Quantum Wasser aussondert, aus dem sich dann wieder ein Stück Fleisch aussondert, doch ist diese Art von Reziprozität insofern von dem 'Kreislauf des Empedokles verschieden, als bei Anaxagoras das Werden des einen nicht das Vergehen des anderen bedeutet. Bei Anaxagoras bleibt nämlich das Schwarze, aus dem ein Weißes durch Aussonderung wird, erhalten und ist selbst nicht zum Weißen geworden. Auf diese Weise entsteht ja gerade die von Anaxagoras angenommene Unendlichkeit. Vgl. Empedokles, Frg. DK 31B17. Daß Aristoteles die Überlegungen von Empedokles in diesem Sinne versteht, wird auch aus Met. III.4, 1000a24-1001a3 deutlich. Vgl. Phys. III.8, 208a8-l 1: „Damit nämlich das Werden nicht nachlasse, ist es durchaus nicht notwendig, daß es in Wirklichkeit einen unbegrenzten wahrnehmbaren Körper gibt. Denn es
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in 187a23-25 genannte Unterschied zwischen Anaxagoras und Empedokles in Gestalt des ,,απαξ" und „περίοδος" nicht nur aus rein informativen Gründen angeführt wird, sondern daß er insofern eine bestimmte Funktion hat, als gerade in ihm die Begründung dafür zu sehen ist, warum Empedokles nicht zur Annahme eines άπειρον gelangt ist. Es wird zugleich deutlich, daß nicht nur die beiden in diesem Zusammenhang explizit genannten Prämissen (1) und (2), sondern daß vielmehr ein ganzes Geflecht von Annahmen Anaxagoras letztlich zur Annahme eines άπειρον gelangen ließ. Zu diesem Theoriengeflecht gehören: (a) Die Prämissen (1), (2) und (3); (b) die aus den Prämissen gefolgerten Konklusionen (i) und (ii); (c) die Setzung einer ursprünglichen Einheit als Gemisch, aus der sich das Einzelne „nur einmal" aussondert; und schließlich (d) die Tatsache, daß uns die umgebenden Erscheinungen als unbegrenzt viele gegenüberstehen, die hinsichtlich ihres Werdens nach einer Erklärung verlangen. 70 Da die kontinuierlich voranschreitende Aussonderung kein Ende nehmen wird, und da Anaxagoras das Werden des einen nicht in einem zyklischen Sinne als des Vergehen eines anderen betrachtet, ergibt sich für ihn notwendigerweise die Annahme einer Unendlichkeit von Bestandteilen. 7 ' Mansfeld beschreibt diese aus dem Modell des Anaxagoras resultierende Unendlichkeit wie folgt: Für alles andere aber gilt, daß wenn a in b enthalten ist, umgekehrt b auch in a sein muß. In b ist aber nicht nur a, sondern auch c; a ist also in b + c, also sind b + c auch in a. Weiter generalisiert ergibt dies, daß - außer im Geist - in j e d e m Seienden alles andere, das sonst noch ist, vertreten ist. [ . . . ] Dieses Mischungsverhältnis nimmt aber nach Anaxagoras kein Ende: denn auch in jedem enthaltenen Anteil selbst, z.B. in der dem Fleisch beigemischten Erde, sind wieder Anteile aller Stoffe enthalten, w i e auch wieder in den verschiedenen Anteilen innerhalb dieser Anteile. Die Materie ist ein sich in seiner Zusammensetzung in infinitum wiederholendes und schwindelerreg e n d e s kaleidoskopisches Gebilde. (Mansfeld, 1986: 160)
Aristoteles ist der Ansicht, daß Anaxagoras in bezug auf das Enthaltensein von einem Weißen in einem Schwarzen dieses Weiße nicht im Sinne einer bloß potentiellen, sondern vielmehr im Sinne einer aktuellen Entität (vgl. ,,έξ δντων μεν κ α ι ένυπαρχόντων γίγνεσθαι": 187a36-37) versteht, die im Schwarzen enthal-
kann j a des einen Untergang des anderen Entstehen sein [τήν θατέρου φθορά ν θατέρου ε ί ν α ι γένεσιν], wobei das Ganze begrenzt ist." Vgl. auch Gigon (1966: 154): „Angesichts der Vielfalt der Erscheinungen und Veränderungen, die wir konstatieren, läßt sich die Annahme eines Entstehens aus Nichtseiendem nur vermeiden, wenn Alles, was wir konstatieren, schon seiend ist und sich in Seiendem vollzieht; und dies ist nur bei der Annahme einer unbegrenzten Vielheit möglich." Betrachtet man, wie Anaxagoras in seinen Fragmenten zur Annahme unendlich vieler ά ρ χ α ί gelangt, so deutet er in Frg. DK 59B1 daraufhin, daß die Unendlichkeit der Zahl nach als Folge aus einer Unendlichkeit der Kleinheit nach zu betrachten ist (vgl. auch Barnes, 1982: 323 f. und 335). Diese These von der 'Unendlichkeit der Kleinheit nach' resultiert aus der These von der 'unendlichen Teilbarkeit' eines jeden, die Anaxagoras in Frg. DK 59B3 wie folgt begründet: Wenn man sagt, es gibt einen kleinsten Teil, so würde man behaupten, daß dasjenige, was ist - nämlich ein noch kleinerer Teil als der Kleinste, der existieren muß, da jedes aus jedem wird, und folglich auch aus dem angeblich kleinsten Teil noch etwas werden muß, was folglich kleiner sein muß nicht ist.
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ten ist.72 Ist das Weiße jedoch als ein aktuell Seiendes im Schwarzen enthalten, und werden die Gegensätze von Anaxagoras in einem dinglichen Sinne aufgefaßt, so kann das Weiße nicht als eine Eigenschaft, sondern es muß vielmehr analog zur Hand als Teil des Körpers - als ein dingliches Teilchen im Schwarzen enthalten sein. Daß Aristoteles die άρχαί des Anaxagoras in diesem materiellen Sinne als 'dingliche Teilchen' versteht, kommt sowohl in der von ihm gewählten Bezeichnung „Gleichteilige" (όμοιομερή) als auch in seiner gesamten Kritik an der Lehre von Anaxagoras zum Ausdruck, in der gerade der Begriff des Teilchens eine zentrale Rolle spielen wird (vgl. vor allem 187b 13 ff.). Barnes (1982: 323) hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, daß die Lehre von Anaxagoras nicht als eine Teilchentheorie gelesen werden muß, ja daß sie sogar plausibler wird, wenn man dies nicht tut. Dies bedeutet im Hinblick auf die aristotelische Widerlegung der Theorie des Anaxagoras, daß sein Verständnis dieser Theorie als eine Teilchentheorie nicht zwingend ist.73
4.2.2 Zur Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler άρχαί (187b7-188al8) In Analogie zur Widerlegung der eleatischen Theorie beginnt Aristoteles seine Widerlegung der Theorie des Anaxagoras ebenfalls mit einem wissenschaftstheoretischen Einwand, dem zufolge Wissenschaft unmöglich ist, wenn es unendlich viele άρχαί gibt.
4.2.2.1 Ein wissenschaftstheoretischer Einwand (187b7-13) Wenn nun also das Unendliche als Unendliches [τό μ ε ν ά π ε ι ρ ο ν ή άπειρον] unerkennbar ist, so ist das der Menge [ κ α τ ά πλήθος] oder der Größe [κατά μέγεθος] nach Unendliche ein unerkennbares Quantitatives [πόσον τι], das der Form nach [κατ είδος] Unendliche aber ein unerkennbares Qualitatives [ποιόν τι]. Sind aber die Prinzipien sowohl der Menge wie der Art nach unendlich, so ist ein Wissen von dem, was aus ihnen ist, unmöglich. Denn wir nehmen an, über ein Zusammengesetztes dann ein Wissen zu haben, wenn wir wissen, aus welchen und wievielen [Bestandteilen] es besteht. (1.4, 187b7-13)
Ebenso wie es in bezug auf das eleatische Eine keine Wissenschaft geben kann denn das Wissen des Einzelnen besteht Aristoteles zufolge im Wissen seiner άρχαί (vgl. Phys. 1.1), und das eleatische Eine kann keine άρχή sein, da ,,άρχή" immer ,,άρχή von etwas" ist und als solche zumindest eine Zweiheit voraussetzt -, kann es für Aristoteles auch dann keine Wissenschaft geben, wenn die Anzahl
73
Vgl. auch Met. XI.6, 1063b26-30: „Denn wenn er [Anaxagoras] sagt, daß in jedem ein Teil von jedem sei, so sagt er doch, daß jedes sowohl bitter wie süß ist, und ebenso bei jedem beliebigen der übrigen Gegensätze, sofern sich ja alles in allem nicht nur der Möglichkeit, sondern der Wirklichkeit nach und ausgesondert vorfindet." Zu dieser Problematik vgl. auch Sorabji (1988: 60-78).
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen ά ρ χ α ί
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der άρχαί als unendlich gesetzt wird, da das Unendliche als Unendliches unerkennbar ist.74 Wird nun der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie zufolge jedes Einzelne als aus seinen es konstituierenden άρχαί heraus erkannt, und werden diese άρχαί eines jeden Einzelnen von Anaxagoras insofern als unendlich gesetzt, als jedes Einzelne eine unendliche Mannigfaltigkeit von unendlich vielen und verschiedenen Bestandteilen darstellt - dies ist dem Werdemodell des Anaxagoras zufolge aus dem Grunde anzunehmen, da sonst nicht jedes aus jedem werden könnte -, so würde die Erkenntnis des Einzelnen die Erkenntnis eines Unendlichen als Unendliches (άπειρον η άπειρον) bedeuten. Dies aber ist für Aristoteles unmöglich. Ist das Unendliche als Unendliches unerkennbar, so ist das der Menge oder der Größe nach Unendliche ein unerkennbares Quantitatives und das der Form nach Unendliche ein unerkennbares Qualitatives. Wären also die άρχαί unendlich - sei es der Menge (κατά πλήθος) oder der Form nach (κατ είδος) -,75 so wäre es unmöglich, ein Wissen über dasjenige zu gewinnen, was aus diesen ist (blO-11). Denn wir nehmen ja an, dann ein Wissen über ein Zusammengesetztes (σύνθετον) zu haben, wenn wir wissen, aus welchen (vgl. κατ' είδος) und wievielen (vgl. κατά πλήθος) άρχαί es besteht (b 11-13). Die Kenntnis der άρχαί eines Einzelnen schließt Aristoteles zufolge zugleich das Wissen um die Art (κατ είδος) und die Zahl (κατά πλήθος) dieser άρχαί mit ein. Diese müssen der Zahl nach begrenzt sein, da wir ein Unendliches in begrenzter Zeit nicht durchzuschreiten imstande sind. Aristoteles geht es in seinem wissenschaftstheoretischen Einwand darum, daß bei Annahme unendlich vieler άρχαί nicht mehr dasjenige erkennbar wäre, was aus den άρχαί ist, so daß die άρχαί ihre Funktion verlieren würden, aufgrund derer sie angenommen werden: nämlich das zu sein, aus dem das Einzelne erkannt wird.
4.2.2.2 Die Widerlegung der Prämissen von Anaxagoras (187bl3-188al8) Im Anschluß an seinen wissenschaftstheoretischen Einwand zeigt Aristoteles nun im einzelnen - jeweils von den Prämissen des Anaxagoras ausgehend - in 74
75
Die Spezifizierung der Betrachtung des Unendlichen als Unendliches ist insofern von Bedeutung, als sich über das Unendliche, sofern es nicht als Unendliches betrachtet wird, gleichwohl ein Wissen gewinnen läßt (vgl. Met. II.2, 994b20-3 und Phys. III.7, 207a24-26). Ross (1936: 485) bemerkt hierzu: „The addition is necessary, since what is indefinite in one respect may de definite and knowable in another; cf. a surface that is indefinitely long but of a definite breadth." Aristoteles erwähnt an dieser Stelle das „der Größe nach (κατά μέγεθος) Unendliche" wohl aus dem Grunde nicht mehr, da hier von den άρχαί in bezug auf dasjenige, wovon sie άρχαί sind, die Rede ist. Eine der Größe nach unbegrenzte άρχή kann aber wohl kaum als 'Bestandteil' von etwas fungieren, wird sie doch von demjenigen 'begrenzt', dessen άρχή sie ist (vgl. Phys. III.5, 204b 11-22). Zudem könnte es in diesem Falle nur eine einzige unendlich große ά ρ χ ή und sonst nichts - geben. Andererseits spricht Anaxagoras davon, daß es keinen „kleinsten Teil" geben kann (vgl. Frg. DK 59B3), so daß die 'Unendlichkeit der Größe nach' auch dahingehend verstanden werden kann, daß die άρχαί unendlich klein sind. Sind sie jedoch unbegrenzt teilbar und unendlich klein, so sind sie der Zahl nach unendlich.
Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
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Form einer Reductio ad absurdum auf, daß diese Prämissen in Widersprüche führen. Hierbei werden zugleich die verschiedenen Unendlichkeitsbegriffe - (a) der Zahl nach, (b) der Größe nach und ( c ) der Art nach - Berücksichtigung finden. Zum Z w e c k e einer Orientierung werde ich zunächst durch eine schematische Gliederung der Widerlegungen den Zusammenhang der einzelnen Argumente darlegen, wodurch deutlich wird, daß Aristoteles nicht beliebige Argumente g e g e n die Theorie von Anaxagoras anführt, sondern vielmehr zeigen will, daß die Ausgangsprämissen, die Anaxagoras zur Unendlichkeitsthese gelangen ließen, einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Abb. 4.2: Eine Gliederung der Widerlegungen
in
187bl3-188al8
(1) 'Die 'Gleichteiligen' (όμοιομερτΐ) sind der Größe nach nicht unbegrenzt' [187b 13-21] I Ausgehend von den Prämissen des Anaxagoras (a)'jedes ist in jedem' (187b22) (b) 'ei gibt kein Entstehen, sondern nur Aussondern'' (187b23) (c)'jedes wird aus jedem' (187b24) werden diese nun einzeln widerlegt:
(2) 'Es ist nicht jedes in jedem' (187b22-34) ( 3 . 1 ) ' A u s dem Kleinsten wird nichts mehr' (187b35-188a2)
(3) 'Es wird nicht jedes aus jedem'
(4) 'Das Werden ist keine Aussonderung'
(3.2) D i e ' m e h r f a c h e ' (4.1) Die Unmöglichkeit (4 2) Die UnmöglichUnendlichkeit der Entmischung in bezug keit der Entmischung (182a2-5) auf π ο ι ό ν und ποσόν in bezug auf die (188a5-13) 'Gleichartigen' (ομοειδή) (188al3-18)
4.2.2.2.1 ( 1 ) D i e Gleichteiligen sind der Größe nach begrenzt ( 1 8 7 b 13-21) Weiter: Wenn aber mit Notwendigkeit gilt, daß etwas, dessen Teil [τό μόριον] in bezug auf Größe und Kleinheit [κατά μέγεθος και μικρότητα] von beliebigen Ausmaßen sein kann, auch selbst dies sein kann (ich meine hier aber einen von den Teilen, in welche als schon enthaltene das Ganze [τό δλον] auseinandergenommen wird); und wenn es aber 76 unmöglich ist, daß ein Tier oder eine Pflanze bezüglich Größe und Kleinheit von beliebigen Ausmaßen ist, so ist klar, daß auch keines der Teile beliebig [groß oder klein] ist; denn das Ganze verhielte sich j a sonst auf ähnliche Weise. Fleisch aber und Knochen und dergleichen sind nun solche Teile eines Tieres, und Früchte die von Pflanzen. Es ist also klar, daß es unmöglich ist, daß Fleisch oder Knochen oder anderes derart von beliebiger Größe ist, sei es in bezug auf das Mehr oder in bezug auf das Weniger. (1.4, 187b 13-21)
76
Ich lese in 1 8 7 b l 6 ,,δέ" (vgl. Π ) statt d e s v o n Bonitz vorgeschlagenen ,,δή".
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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Das Ziel dieser Argumentation besteht im Nachweis der Unmöglichkeit des Unbegrenzt-groß-oder-klein-seins solcher Teile eines Sinnenwesens oder einer Pflanze, in die als ursprünglich enthaltene Teile das Ganze auseinanderfällt, und die in Form von Fleisch, Knochen und dergleichen als 'Gleichteilige' (όμοιομερή) bezeichnet werden können. Da diese 'Gleichteiligen' neben den Gegensätzen innerhalb der Theorie des Anaxagoras als άρχαί fungieren (vgl. 187a25-26), richtet sich diese Argumentation somit gegen die Annahme eines „άπειρον κατά μέγεθος" in bezug auf die άρχαί. 77 Aristoteles wendet sich mit diesem Argument vermutlich gegen das Fragment DK 59B3, in dem Anaxagoras dafür argumentiert, daß es keinen kleinsten oder größten Teil gibt, da es immer noch einen kleineren und größeren Teil geben kann. Die in bl6-17 als Prämisse eingeführte These, daß die Tiere und Pflanzen unmöglich von unbegrenzter Größe oder Kleinheit sein können, aus der Aristoteles folgert, daß auch die 'Gleichteiligen', aus denen die Tiere und Pflanzen bestehen, selbst von begrenzter Größe bzw. Kleinheit sein müssen (bl7-18), ist einerseits zwar als aus der Wahrnehmung begründet zu betrachten, andererseits scheint sie jedoch aufgrund der in ihr ausgesprochenen „Unmöglichkeit" (vgl. ,,άδύνατον": bl6) noch einen anderen Grund zu haben. Denn in der Wahrnehmung können wir ja nur faktisch feststellen, daß es keine Tiere und Pflanzen von unbegrenzter Größe oder Kleinheit gibt. Die behauptete Unmöglichkeit ergibt sich hingegen vermutlich aus folgender Überlegung: Vorausgesetzt, daß jedes Tier und jede Pflanze einen Körper (σώμα) darstellt, so folgt aus der Definition von „Körper" (σώμα) als „das durch eine Oberfläche Begrenzte" (τό έπιπέδφ ώρισμένον: Phys. III.5, 204b5-6), daß es keine unbegrenzten Körper geben kann (ούκ αν εϊη σώμα άπειρων: 204 b6). Bonitz hat nun daraufhingewiesen, daß das ,,δέ" (aber) in 187b 16 durch ein ,,δή" (also) ersetzt werden müsse, da wir seiner Ansicht zufolge nur so einen sinnvollen Satz in 187b 13-18 erhalten. Ross verteidigt diese Korrektur von Bonitz wie folgt: If we read έτι δ' εί ά ν ά γ κ η in b 13, we must, to get a properly constructed sentence, accept Bonitz's δή for δέ in 16. A way of escape is provided if we accept the reading of Ε and P. in b 13 ετι δέ άνάγκη. But we should then lose a very typical Aristotelian sentence (to which Bonitz cites many parallels); and Bonitz's emendation derives some support from Alexander's paraphrase at b 16 εί οΰν τά ζώα και τά φυτά μήτε πηλίκα έστί μήτε ποσά (S. 168.3, 10); and it looks as if E's reading were due to an attempt to put the sentence right after δή had already been corrupted into δέ. (Ross, 1936: 485)
Ross (1936: 342) paraphrasiert den Satz 187 bl3-18 wie folgt: Soll hier gezeigt werden, daß die άρχαί der Größe nach (κατά μέγεθος) nicht unbegrenzt sein können, so ist gemeint, daß sie weder unbegrenzt groß noch unbegrenzt klein sein dürfen. Zwar stellt Aristoteles den Begriff der Größe als eine quantitative Bestimmung zunächst dem Begriff der Kleinheit als entgegengesetzte quantitative Bestimmung gegenüber (187b 14), doch in der abschließenden Konklusion 187b20-21 faßt er dann den Begriff der Größe (μέγεθος) als Gattungsbegriff für eine jegliche quantitative Bestimmung auf, der in ein Mehr (μείζον) und Weniger (έλαττον) differenziert werden kann.
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
If that whose constituent parts may be indifferently of any greatness or smallness may necessarily itself be so too, then if a living thing cannot be indifferently of any greatness or smallness, neither can any of its parts, e.g. flesh, bone, fruit.
Betrachtet man nun aber die von Prantl vorgeschlagene Übersetzung des Satzes 187b 13-18, so wird deutlich, daß sich ebenfalls ein sinnvoller Satz ergibt, wenn das ,,δέ" (aber) in b l 6 nicht durch ein ,,δή" (also) ersetzt wird: Ferner, wenn es nothwendig ist, daß dasjenige, dessen Theil beliebig groß oder klein sein kann, selbst beliebig groß oder klein sein könne (ich meine aber dabei einen der derartigen Theile, in welche als in ihm enthaltene das Ganze getheilt wird), und wenn andrerseits es unmöglich ist, daß ein Thier oder eine Pflanze beliebig groß oder klein sei, so ist augenfällig, daß auch nicht bei irgend einem Theile derselben dies der Fall sein kann, [...]. (Prantl, 1854: 25-27)
Hat das Argument der Interpretation von Ross zufolge in vereinfachter Form die Gestalt „(p —» q) —» (^q —» -p)", so hat es der Interpretation von Prantl zufolge - der ich mich anschließe - in vereinfachter Form die Gestalt ,,((p —» q) λ ^q) - p " . Da „(p —> q) ( - q - > - p ) " mit ,,((p q) Λ - q ) -η)" logisch äquivalent ist, stellt es für das Argument zwar selbst keinen wesentlichen Unterschied dar, welcher Interpretation man hier den Vorzug gibt, doch ist der Übersetzungsvorschlag von Prantl mit dem Vorteil verbunden, daß man im griechischen Text keine Veränderung vorzunehmen braucht. Zekl (1987: 21), der sich der von Bonitz und Ross vorgeschlagenen Ersetzung des ,,δέ" („aber") in b l 6 durch ,,δή" („also") anschließt, übersetzt den Abschnitt wie folgt: Weiter, wenn (Folgendes mit) Notwendigkeit (gilt): Etwas, dessen Teil nach Größe und Kleinheit von ganz beliebigen Ausmaßen sein kann, muß diese Eigenschaft auch selbst haben - [...] -: wenn es daher unmöglich ist, daß ein Tier oder eine Pflanze nach Größe und Kleinheit von beliebigen Ausmaßen sein kann, so ist es offenkundig, daß dies auch für keinen seiner Teile gelten kann; [...].
In dieser Übersetzung wird nun das ,,δή" (daher) auf die Prämisse „wenn es unmöglich ist, daß ein Tier oder eine Pflanze nach Größe und Kleinheit von beliebigen Ausmaßen sein kann" bezogen, so daß sich die Bedeutung ergibt, daß diese Prämisse aus dem zuvor Gesagten folgt. Dies kann hier jedoch nicht gemeint sein, denn die Tatsache, daß ein Tier oder eine Pflanze nicht von unbegrenzter Ausdehnung sein kann (bl 6-17), folgt j a nicht aus bl 3-16. Meiner Interpretation zufolge, die sich der Übersetzung von Prantl anschließt, 78 liegt in b 13-18 folgende Argumentationsform vor: Aus den Prämissen (1) „ei ά ν ά γ κ η , οΰ τό μόριον ... ένδέχεσθαι" (187bl3-14) und (2) ,,εί δή αδύνατον ... και μικρότητα" (187bl6-17) schließt Aristoteles auf die Konklusion ,,φανερόν δ τ ι . . . ότιοΰν" (187b 17-18). Formal betrachtet läßt sich dieses Argument wie folgt darstellen: Aus den Prämissen (1) „ V * ( 3 y ( ε Τ A ye MG) - » * ε MG)" - „für jedes χ gilt Vgl. auch die Interpretation von Wicksteed/Cornford (1980: 45): „If this is a necessary consequence, and if it is impossible that [...], the same must be true of any part of it." Eine analoge Argumentationsform findet sich auch in den weiteren Argumenten; vgl. 187b22-27.: „έτι ei [...], κ α ι [ei] μή [...], [καϊ εί] γ ί γ ν ε τ α ι [...], [ει δέ] ά π α ν [...], φ α ν ε ρ ό ν δτι [...].").
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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[notwendigerweise], daß es beliebig groß oder klein sein kann, wenn es wenigstens ein y gibt, für das gilt: y ist Teil von x, und y kann beliebig groß oder klein sein" - und (2) „-• α ε MG" - „a (ein ζφον oder φυτόν) kann nicht beliebig groß oder klein sein" - wird auf die Konklusion „ V y ( ε Τ - > ~y ε MG)" - „für alle y gilt: wenn y Teil von α (ζωον oder φυτόν) ist, dann kann y nicht beliebig groß oder klein sein" - geschlossen. Daß dieses Argument gültig ist, zeigt folgende formale Herleitung: (1) V λ ( 3 y ( ε Τ Λ y ε MG) - > κ MG) (2) - α ε MG (3) V λ (-* ε MG - » - 3 y ( εΤ A y ε MG)) (4) - α ε MG - » - 3 y ( ε Τ A y ε MG) (5) - 3 y ( ε Τ Α y ε MG) (6) V y (εΤ Λ y ε MG) (7) V y ( ε Τ —> ε MG)
Prämisse Prämisse Modus Tollens, 1 V -Beseitigung,3 Abtrennungsregel, 2,4 Quantorenumwandlung,5 Konklusion, Gesetz der Dualität, 6
In den nachfolgenden Sätzen 187b 18-21 wird nun das Ergebnis dieser Argumentation von Aristoteles auf die konkreten Teile eine konkreten Ganzen übertragen: Aus der weiteren Prämisse (187b 18-19), daß Fleisch, Knochen und dergleichen solche Teile eines ζωον sind ( ε 7), folgt (187b20-21), daß Fleisch, Knochen und dergleichen nicht beliebig groß oder klein sein können (- 1 b ε MG). Die Herleitung ergibt sich formal wie folgt: (8) ε Τ (9) ε Τ - » (10) - ' i e M G
- b ε MG
Prämisse V -Beseitigung, 7 Konklusion, Abtrennungsregel, 8,9
Im Anschluß an diese formale Darstellung der Argumentation in 187b 13-21 werde ich nun auf den Inhalt der einzelnen Prämissen und Konklusionen im einzelnen eingehen: Prämisse (1): „Es ist notwendig, daß dasjenige, dessen Teil (τό μόριον) beliebig klein oder groß sein kann, selbst auch beliebig klein oder groß sein kann." (187b 1314) Diese Prämisse stellt eine hypothetische Aussage dar, die sich aus einem Antecedens und einem Konsequens zusammensetzt: „Wenn der Teil von einem Ganzen beliebig groß oder klein sein kann, dann kann notwendigerweise auch das Ganze beliebig groß oder klein sein." Die These, daß die 'Gleichteiligen' beliebig klein oder groß sein können, findet sich bei Anaxagoras in Fragment DK 59B3, wo er sie als Folge des Gedankens, daß es keinen kleinsten oder größten Teil gibt, ausspricht. Nach Ansicht von Aristoteles ergibt sich nun aus dieser Annahme die notwendige Konsequenz, daß auch das Ganze, dessen Teil beliebig klein oder groß sein kann, selbst ebenfalls beliebig klein oder groß sein können muß. Nun ist zwar nachvollziehbar, daß ein Ganzes, dessen einer Teil unendlich groß ist, selbst auch unendlich groß sein muß, doch im umgekehrten
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
Falle scheint dies nicht unmittelbar einleuchtend zu sein. Denn angenommen, ein Teil eines Ganzen sei unendlich klein, so muß doch das Ganze nicht ebenfalls unendlich klein sein. Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, daß Aristoteles nur ganz bestimmte Teile im Sinn hat. So gibt er auch eigens an, was man hier unter „Teil" (τό μόριον) zu verstehen hat. Seine Bestimmung der Teile als dasjenige, „in welche als schon enthaltene (Teile) das Ganze auseinandergenommen wird" (bl5-16), macht deutlich, daß hier nicht von beliebigen quantitativen Teilen als Ergebnis einer mathematischen Teilung die Rede ist - diese können j a nur „der Möglichkeit nach" in dem Ganzen als unendlich viele enthalten sein -, sondern daß hier vielmehr von solchen Teilen gesprochen wird, die in dem Ganzen bereits aktuell (vgl. ,,ένυπάρχον": b l 5 ) enthalten sind. Es sind diejenigen 'Teile' gemeint, von denen in 187b6-7 gesagt wurde, daß sie als in einem Ganzen der Zahl nach am meisten enthaltene die φύσις eines Dings bestimmen; in diesem Sinne können z.B. Fleisch und Knochen als 'wesentliche' Bestandteile eines Tieres und die Früchte als 'wesentliche' Bestandteile einer Pflanze angesehen werden. Wäre nun ein jedes Fleischteil unbegrenzt klein, so wäre, selbst wenn es unendlich viele Fleischteile gäbe, die zusammen j a als unendlich kleine etwas nicht größer machen würden (vgl. Met. III.4, 1001b7-25), das Ganze ebenfalls unendlich klein. 79 Dieses in der Prämisse (1) ausgesprochene Verhältnis, dem zufolge dasjenige, was für die Teile gilt, auch fiir das Ganze gelten soll, ist gerade vor dem Hintergrund zu sehen, daß es sich hier um die sogenannten 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) handeln soll. Prämisse (2): „Es ist unmöglich, daß ein Tier oder eine Pflanze von beliebiger Größe oder Kleinheit ist." (187b 16-17)
Die Prämisse (2), die mit den Beispielen „Tier oder Pflanze" eine Konkretion des in der Prämisse (1) genannten Ganzen beinhaltet, stellt eine Negation des Konsequens der Prämisse (1) dar. Besagte dieses Konsequens, daß ein Ganzes beliebig groß oder klein sein kann - wobei hier jedes Ganze gemeint ist, deren Teile beliebig groß oder klein sein können -, so wird nun in Prämisse (2) gesagt, daß es bestimmte Ganzheiten - wie z.B. Tier und Pflanze - gibt, die nicht beliebig groß oder klein sein können. Aus der Regel der Verneinung des Konsequenz {modus tollens) folgt somit, daß es unmöglich ist, daß die Teile (von Tier und Pflanze) unendlich groß oder klein sein können: Die Konklusion: „Es ist offenkundig, daß keiner der Teile beliebig (groß oder klein) sein kann." (187b 17-18)
Die an diese Konklusion angefügte Begründung „denn das Ganze verhielte sich auf gleiche Weise" (έσται γαρ κ α ι τό δλον ομοίως: 187b 18) erinnert noch einmal an das in der Prämisse (1) Gesagte: Könnten nämlich die Teile von Tier und Pflanze beliebig groß oder klein sein, so müßte im Widerspruch zur Prämis79
Vgl. auch Wagner (1967: 415), der darauf hinweist, daß diese Teile eine bestimmte Größe nicht unterschreiten dürfen, sofern sie selbst noch eine Bestimmung haben sollen.
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se ( 2 ) auch das Ganze beliebig groß oder klein sein können. Im nachfolgenden ( 1 8 7 b 18-21) überträgt Aristoteles dieses Ergebnis dann auf die konkreten Teile ( ό μ ο ι ο μ ε ρ ή ) eines Ganzen: Der Schluß auf die konkreten Teile: „Fleisch aber und Knochen und dergleichen sind nun solche Teile eines Tieres, und Früchte die von Pflanzen. Es ist also klar, daß es unmöglich ist, daß Fleisch oder Knochen oder anderes derart von beliebiger Größe ist, sei es in bezug auf das Mehr, sei es in bezug auf das Weniger." (187b 18-21) D i e s e Konklusion bezüglich der konkreten Teile „Fleisch" und „Knochen", die nicht beliebig groß oder klein sein können, wird filr die nachfolgenden Argumente insofern von Bedeutung sein, als sie dort als eine zusätzliche Prämisse verwendet wird.
4 . 2 . 2 . 2 . 2 (2) Es ist nicht j e d e s in j e d e m ( 1 8 7 b 2 2 - 3 4 ) Weiter: Wenn alles derartige ineinander enthalten ist [έτι ει π ά ν τ α μέν έ ν υ π ά ρ χ ε ι τ ά τ ο ι α ΰ τ α έν άλλήλοις], und [wenn] das 'Darinseiende' [ένόντα] nicht 'wird/entsteht' [μή γίγνεται], sondern 'ausgesondert' [εκκρίνεται] und nach dem überwiegenden Anteil benannt wird, und [wenn] Beliebiges aus Beliebigem wird/entsteht [γίγνεται δέ εξ ότουοΰν ότιοΰν] (wie z.B. Wasser aus Fleisch und Fleisch aus Wasser ausgesondert wird), [wenn] aber jeder begrenzte Körper von einem [anderen] begrenzten Körper ausgeschöpft wird, so ist offenkundig, daß nicht ein jedes in jedem enthalten sein kann [φανερόν δτι ούκ ένδέχεται έν έ κ ά σ τ ω έκαστον ϋπάρχειν], Denn nimmt man das aus dem Wasser [abgesonderte] Fleisch weg, und wenn aus dem übriggebliebenen [Wasser] weiteres Entstehendes sich ablöst, und wenn dies sich Aussondemde auch immer weniger sein wird, so wird es aber eine bestimmte Größe in bezug auf die Kleinheit nicht unterschreiten. So daß, wenn die Ausscheidung zum Stillstand käme, nicht alles in allem enthalten wäre [ούχ α π α ν έν παντί ένέσται] (in dem übriggebliebenen Wasser wäre dann nämlich kein Fleisch mehr enthalten); wenn aber kein Stillstand einträte, sondern immer weitere Wegnahme statthätte, dann wären in einer begrenzten Größe gleichartig begrenzte [Anteile], aber unbegrenzt an Menge enthalten. Dies ist jedoch unmöglich. (1.4, 187b22-34) In dieser Argumentation, die zeigen soll, daß nicht j e d e s in j e d e m sein kann (δτι ο ύ κ έ ν δ έ χ ε τ α ι έ ν έ κ ά σ τ ω έ κ α σ τ ο ν ϋ π ά ρ χ ε ι ν : b26-27), geht Aristoteles von drei Prämissen aus, die er bereits als Annahmen des Anaxagoras eingeführt hat und die in den nachfolgenden Argumenten nun einzeln in Form einer Reductio ad absurdum widerlegt werden sollen. D i e drei Prämissen lauten: (1) (2) (3)
„Alles derartige [die όμοιομερή] ist ineinander enthalten" ( π ά ν τ α μέν έ ν υ π ά ρ χ ε ι τ ά τ ο ι α ύ τ α έν άλλήλοις: 187b22) - (vgl. 187a32 und 187bl). „Es 'entsteht/wird' [γίγνεται] nichts, sondern es findet nur eine Aussonderung [έκκρίνεται] von bereits 'Darinseiendem' [ένόντα] statt, das nach dem überwiegenden Bestandteil benannt wird" (187b22-24) - (vgl. 187a30-b7). „Aus Beliebigem wird Beliebiges [γίγνεται δέ έξ ότουοΰν ότιοΰν] (z.B. aus Fleisch Wasser und aus Wasser wiederum Fleisch)" (187b24-25) - (vgl. 187bl2)·
Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
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Die Wahl der Beispiele „Wasser" und „Fleisch" in der Prämisse (3) ,,γίγνεται 80 δέ έξ ότουοΰν ότιοΰν" macht folgenden für ein Verständnis der Argumentation wichtigen Gesichtspunkt deutlich: Da Wasser und Fleisch zu den sogenannten 'Gleichteiligen' (όμοιομερή) zählen, ist davon auszugehen, daß es hier primär um das 'Werden' der όμοιομερή auseinander geht, und nicht darum, wie z.B. Menschen oder Pferde entstehen. Innerhalb der Theorie des Anaxagoras scheint es - so wie Aristoteles sie darlegt - zwei Ebenen des Werdens zu geben: Einerseits gibt es das Werden der όμοιομερή (z.B. Fleisch, Wasser, usw.) auseinander und andererseits gibt es das Werden der komplexeren Dinge (z.B. Menschen, Pferde). Ein Mensch wird ja anders als Fleisch nicht dadurch, daß sich aus etwas ein Partikel 'Mensch' absondert. Vielmehr scheint ein Mensch der Theorie von Anaxagoras zufolge dadurch zu entstehen, daß sich aus etwas die fiir einen Menschen wesentlichen Partikel 'Fleisch', 'Knochen', 'Wasser' usw. absondern, die sich dann zu einem Menschen zusammenschließen. Daß es hier aber primär um das Werden der όμοιομερή auseinander geht, das für das Werden der komplexeren Dinge grundlegend ist, zeigt sich auch daran, daß, sollte die Überlegung in 1.3, 187b2-7, der zufolge etwas danach benannt werden soll, was in ihm am meisten enthalten ist, nicht nur fiir die όμοιομερή, sondern auch fiir die komplexeren Dinge gelten, dann der Mensch entweder nicht „Mensch", sondern eher „Wasser" oder „Fleisch und Knochen" heißen müßte, oder aber, daß es auch „Menschenteile" gibt, die im Menschen am meisten enthalten sind. Letzteres würde jedoch letztlich zur absurden Konsequenz führen, daß es dann auch „Sokratesteile" geben müßte, die in Sokrates am meisten enthalten wären. Mit seiner These „alles ist in allem" meint Anaxagoras jedoch nicht, daß z.B. in Piaton auch ein Partikel 'Sokrates' enthalten ist. Neben den drei genannten Prämissen führt Aristoteles nun noch folgende weitere (nicht von Anaxagoras stammende) Prämisse (4) ein: (4) „Jeder begrenzte Körper wird von einem begrenzten Körper ausgeschöpft [άπαν δέ σώμα πεπερασμένον αναιρείται υπό σώματος πεπερασμένου]" (187b2526).
Die Prämisse (4) führt nun in einen Konflikt mit den Prämissen (1), (2) und (3), wodurch dann die Falschheit der von Anaxagoras zugrunde gelegten Prämissen (1), (2) und (3) gezeigt werden soll. Mit der Prämisse (4) ist folgendes gemeint: Jeder Körper, der als Körper per definitionem begrenzt ist, kann von einem anderen Körper (d.h. ebenfalls von einem Begrenzten) so ausgeschöpft werden, daß kein Rest übrigbleibt. 81 Mit anderen Worten: Jeder Körper kann als Begrenztes selbst nur aus Begrenztem - und nicht aus Unbegrenztem - bestehen. Diese Prämisse faßt genaugenommen das Ergebnis der vorhergehenden Argu-
81
Anstelle des Ausdrucks ,,γίγνεται" müßte Aristoteles hier jedoch genaugenommen den Ausdruck ,,έκκρίνεται" verwenden, da in der vorangegangenen Prämisse (2) ja gerade behauptet wurde, daß es bei Anaxagoras kein „Werden/Entstehen", sondern nur ein „Aussondern" gibt. Vgl. auch Wagner (1967: 15): „Wenn man annimmt, daß ein Körper endlicher Größe durch fortgesetzte Wegnahme eines endlichen großen Körpers exhauriert werden kann."
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mentation in 187b 13-21 zusammen und kann so als eine auf begründete Weise eingeführte Prämisse betrachtet werden. Da kein Beispiel angeführt werden kann, das das Werden eines jeden aus einem jeden in seiner Gesamtheit verdeutlichen würde, beschränkt sich Aristoteles auf das Beispiel von Wasser und Fleisch, die als Beliebige wechselseitig auseinander werden und bestehen sollen. Aristoteles argumentiert nun wie folgt: (I) Wenn wir aus einem Quantum Wasser ein bestimmtes Quantum Fleisch entnehmen (bzw. wenn sich dieses Quantum Fleisch aus einem Quantum Wasser aussondert), und wenn wir im Anschluß daran aus dem übriggebliebenen Quantum Wasser erneut ein Quantum Fleisch entnehmen - was ja möglich sein muß, da sich sonst an dieser Stelle bereits ergeben würde, daß nicht alles in allem wäre (es wäre dann nämlich kein Fleisch mehr in dem übriggebliebenen Quantum Wasser) -, so wird dieses zweite entnommene Quantum Fleisch nun schon an Menge geringer sein als das erste entnommene Quantum Fleisch (und so wird es auch bei allen weiteren Entnahmen kontinuierlich weniger werden), da ja auch das Wasserquantum, aus dem das Fleisch entnommen wird, mit jeder Entnahme eines Quantums Fleisch kontinuierlich kleiner werden wird. (II) Auch wenn das jeweils zu entnehmende Quantum Fleisch immer kleiner werden wird, so wird es doch eine bestimmte Größe an Kleinheit nicht unterschreiten, da wir es der Prämisse (4) zufolge ja mit einem begrenzten Körper zu tun haben, deren Teile selbst von begrenzter Größe sein müssen.82 Nun aber folgt, daß (III. 1) entweder die Aussonderung irgendwann aufhört, so daß nach der letzten Aussonderung des letzten Quantums Fleisch im restlichen Wasser kein Quantum Fleisch mehr vorhanden wäre - in diesem Falle wäre nicht jedes in jedem, da im übriggebliebenen Wasser kein Fleisch mehr wäre -; oder aber es folgt, daß (III.2) die Aussonderung kein Ende nimmt, so daß angenommen werden muß, daß in einer begrenzten Größe (dem Wasserquantum) gleichartig Begrenztes (die Fleischportionen)83 in unendlicher Anzahl enthalten wäre. Dies ist jedoch aufgrund der Prämisse (4) unmöglich. In diesem Falle wäre nämlich das Wasserquantum einerseits unendlich groß und andererseits wäre es von Anfang an eigentlich nicht als „Wasser", sondern vielmehr als „Fleisch" zu bezeichnen. Da dies jedoch widersinnig ist, bleibt einzig übrig, daß die Aussonderung irgendwann zu einem Ende kommt und somit nicht jedes in jedem sein kann.
83
So wurde in 187b 18-21 daraufhingewiesen, daß das Fleisch nicht beliebig groß oder klein sein kann. Vgl. Ross (1936: 342), der das ,,'ίσα πεπερασμένα" im Sinne von „equal finite magnitudes" versteht.
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
4.2.2.2.3 (3) Es wird nicht jedes aus jedem (187b35-188a5)
(3.1) 'Aus dem Kleinsten wird nichts mehr' (187b35-188a2) Außerdem, wenn jeder Körper durch Wegnahme von etwas notwendig weniger [ελαττον] wird, das Quantum von Fleisch aber sowohl in bezug auf Größe wie in bezug auf Kleinheit begrenzt ist, so ist offenkundig, daß aus dem kleinsten Fleischteil kein Körper mehr ausgesondert wird. Denn es [das Fleischteil] wäre [dann] ja kleiner als das kleinste [εσται γ α ρ έλάττων 8 4 της έλαχίστης]. (1.4, 187b35-188a2)
Das Ziel dieses Arguments besteht darin, ausgehend von dem zuvor Gesagten zu zeigen, daß nicht nur nicht jedes in jedem enthalten sein kann, sondern auch, daß nicht jedes aus jedem werden kann. Dies bedeutet zugleich eine Widerlegung der in 187b24 angeführten Prämisse (3). Das Argument lautet: Wenn jeder Körper durch Wegnahme von etwas notwendig kleiner wird (vgl. Argument (2): 187b22-34), und wenn ein Fleischquantum (als Körper) sowohl der Größe wie auch der Kleinheit nach begrenzt ist (vgl. Argument (1); 187bl3-21), so folgt, daß sich aus dem kleinsten Fleischteil kein Körper mehr aussondern kann, da sonst das kleinste Fleischteil weniger würde und somit kleiner als das kleinste wäre. Wurde im Argument (2) gezeigt, daß irgendwann im Wasser kein Fleisch mehr enthalten ist, das sich aussondern kann, so zeigt das Argument (3.1) nun umgekehrt, daß das ausgesonderte Fleisch irgendwann so klein ist, daß sich aus ihm nichts mehr aussondern kann. Die Aussonderung hat somit irgendwann in beide Richtungen ein Ende.
(3.2) Die 'mehrfache' Unendlichkeit (188a2-5) Weiter: In den unendlich [vielen] Körpern [έν τοις άπείροις σ ώ μ α σ ι ν ] 8 5 wäre bereits unendlich viel Fleisch und Blut und Gehirn enthalten, zwar voneinander getrennt/unabhängig [κεχωρισμένα μέντοι άπ α λ λ ή λ ω ν ], aber doch um nichts weniger seiend [ούθέν δ' ήττον δντα], und ein jedes in unendlicher [Anzahl] [καν άπειρον εκαστον]. Dies aber ist unlogisch. (1.4, 188a2-5)
Mit diesem Argument, daß sich inhaltlich an das Ende von Argument (2) anschließt, wo sich die absurde Konsequenz ergab, daß in einem Begrenzten Zur Frage, ob hier „έλάττων" als auf „σαρκός" bezogen (vgl. S p ) oder „ελαττον" als auf „σώμα" bezogen (vgl. Π S' T) steht, vgl. Ross (1936: 486): „188*1. εσται γάρ έλάττων της έλαχίστης, 'for then there will be a portion of flesh left which will be less than the least'. So S. 171. 19, 20, 26. The MSS. of Philoponus vary between έλάττων and ελαττον. The MS. reading is a natural corruption due to the assumption that the subject of εσται is σώμα. But this does not suit the argument, for what Aristotle has proved (187b 13-21) is not that there is a portion of flesh that which no body can be smaller (this would contradict his doctrine of the infinite divisibility of matter), but that there is a portion of flesh than which no portion o f f l e s h can be smaller." Mit dem Ausdruck ,,άπείροις σώμασιν" bezieht sich Aristoteles weiterhin auf die 'Gleichteiligen' (όμοιομερή).
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gleichartig Begrenztes aber unbegrenzt an Zahl enthalten wäre, versucht Aristoteles ebenfalls zu zeigen, daß es unmöglich ist, daß jedes aus jedem wird. Der Grund für diese Unmöglichkeit besteht diesem Argument zufolge darin, daß das 'Werden eines jeden aus einem jeden' eine widersinnige Prämisse voraussetzen würde. Nahm Aristoteles in den bisherigen Argumenten vor allem auf eine Unendlichkeit der Größe nach (κατά μέγεθος) Bezug,, so ist nun primär eine Unendlichkeit der Zahl nach (κατά πλήθος) gemeint. Denn Aristoteles spricht hier j a von „Körpern" (vgl. ,,σώμασιν") im Plural, welches bei Annahme eines unbegrenzt großen Körpers keinen Sinn ergeben würde, da es dann ja nur einen einzigen Körper geben könnte. Nach Ansicht von Ross (1936: 486) muß nun in 188a4 dem Sinn des Textes zufolge eine Negation (οΐ>) eingefugt werden, ohne welche er den Ausdruck ,,μέντοι" (a3) für bedeutungslos („unmeaning") hält und in bezug auf das ,,δ'" (a4) darauf hinweist, daß keine Opposition zwischen den beiden Satzteilen ,,μέντοι - δ'" besteht, auch wenn dies durch das ,,δ'" (a4) impliziert zu sein scheint: 86 With the MS. reading, μέντοι is unmeaning, and there is no opposition between the clauses such as δ' implies. For the position of οΰ cf. E.N. 1147 b29 τ ά δ' ά ν α γ κ α ΐ α μεν οΰ, αιρετά δέ καθ' α υ τ ά and Βζ,. Index 539 alO-14. (Ross, 1936: 486)
Der Grund, warum Ross hier die Einfügung des Negationspartikels „ου" vorschlägt, ist vermutlich in folgendem zu sehen. Nach Ansicht von Ross scheint Aristoteles hier zum Ausdruck bringen zu wollen, daß die Bestandteile Fleisch, Knochen, Blut, usw. in den unendlich vielen Körpern bereits enthalten sein müssen, 'zwar nicht getrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend'. Mit anderen Worten: Es wird darauf hingewiesen, daß die Bestandteile, obgleich sie ursprünglich nicht getrennt voneinander, sondern gleichsam vermischt in den unendlich vielen Körpern enthalten sind, dennoch als Vermischte bereits aktuelle Entitäten und nicht weniger 'seiend' sind. Würde Aristoteles demgegenüber wie die MSS lauten - ohne die Negation ,,ού" sagen „zwar getrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend", so scheint diese Gegenüberstellung zunächst insofern keinen Sinn zu ergeben, als ja das 'Getrenntsein-voneinander' für Aristoteles gerade eine Voraussetzung für das 'Seiendsein', nicht aber einen Gegensatz dazu darstellt. Die Hinzufügung eines ,,οΰ" erweist sich jedoch als unnötig und den Sinnzusammenhang verfälschend, wenn man bedenkt, daß das „Abgetrenntsein" (vgl. ,,κεχωρισμένα") ein mehrdeutiger Ausdruck ist. Auch wenn der Theorie von Anaxagoras zufolge im Ursprung alles miteinander vermischt war, so existieren die einzelnen Bestandteile später in den einzelnen Körpern doch jeweils in dem Sinne als 'abgetrennt' voneinander, daß z.B. die Fleischteile zunächst unabhänZekl (1987: 243, Fn.42) schließt sich der Textkorrektur von Ross an und begründet sie mit dem Hinweis darauf, daß die Ergänzung einer Negation in bezug auf Fragment DK 59B4 als notwendig erscheint. Demgegenüber schließt Wagner (1967: 415) zwar nicht aus, daß ein ,,οΰ" einmal im Text gestanden hat, doch würde er es eher tilgen, da weder Zeugnisse noch Logik für das ,,οΰ" sprechen.
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gig von Blutteilen, Sehnenteilen usw. existieren. Nur auf diese Weise ist es nämlich möglich, daß Fleisch auch getrennt von Blut und getrennt von einem lebendigen oder toten Organismus z.B. in einem Wasserquantum existieren kann, was ja möglich sein muß, sofern jedes aus jedem und somit ein Fleischteil auch aus einem Wasserquantum werden soll. Aristoteles zufolge ist diese Auffassung jedoch ganz und gar unmöglich. Seiner Ansicht nach ist Fleisch - ebenso wie Blut, Gehirn, usw. - getrennt von einem Organismus und getrennt von Blut, Sehnen usw. kein Fleisch mehr; bestenfalls trägt es dann den Namen „Fleisch" nur noch auf homonyme Weise. Bedenkt mein dies, so meint Aristoteles mit dem „zwar abgetrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend" (188a3-4), daß in den unendlich vielen Körpern bereits unendlich viel Fleisch, Blut und Gehirn enthalten wäre, das zwar der Theorie von Anaxagoras zufolge jeweils in dem Sinne voneinander abgetrennt sein muß, daß ein Partikel Fleisch auch getrennt von Blut usw. und überhaupt getrennt von einem Organismus z.B. in einem Quantum Wasser vorkommen kann - denn sonst könnte ja nicht jedes aus jedem werden -, das aber dennoch als Abgetrenntes nicht weniger seiend sein darf - denn Anaxagoras zufolge kann etwas ja nur aus einem Seienden werden. Demgegenüber ist das Fleisch der Theorie von Aristoteles zufolge als in diesem Sinne 'abgetrennt' kein Fleisch mehr. Mit dem „zwar abgetrennt voneinander, aber doch um nichts weniger seiend" will Aristoteles gerade darauf aufmerksam machen, daß seiner Ansicht nach ein in diesem Sinne Abgetrenntes eben nicht mehr seiend wäre. Das Argument, das darauf hinausläuft, daß es der Theorie des Anaxagoras zufolge gewissermaßen eine 'mehrfache' Unendlichkeit geben muß, damit jedes aus jedem werden kann, ist nun wie folgt zu verstehen: In den unendlich vielen Körpern und 'Gleichteiligen' müßte der Theorie von Anaxagoras zufolge bereits unendlich viel Blut, Fleisch, Gehirn, usw. enthalten sein (d.h. unendlich vieles der Art nach Verschiedenes), damit jedes (d.h. ein jedes der unendlich vielen der Art nach verschiedenen Teile) aus jedem werden kann. In einem jeden 'Gleichteiligen' müssen somit bereits alle anderen 'Gleichteiligen' enthalten sein. Sind diese jedoch der Art nach unendlich verschieden, so müssen in einem 'Gleichteiligen' folglich unendlich viele verschiedene 'Gleichteilige' enthalten sein. Und diese in einem 'Gleichteiligen' enthaltenen 'Gleichteiligen' sind zwar unabhängig (getrennt) voneinander, aber dennoch - Anaxagoras zufolge - um nichts weniger 'seiend', da das Werden nur aus Seiendem möglich ist (vgl. 187a32-37). Zugleich muß ein jedes von diesen in einem 'Gleichteiligen' enthaltenen 'Gleichteiligen' der Zahl nach unbegrenzt sein, da sonst, wie die Argumente zuvor zeigten, die Aussonderung irgendwann ein Ende hätte und dann nicht mehr alles in allem wäre. Auf diese Weise ergibt sich eine 'mehrfache' Unendlichkeit, die Aristoteles zufolge widersinnig (αλογον) ist.87
Vgl. Phys. VIII. 1, 252al3, wo Aristoteles in bezug auf Anaxagoras davon spricht, daß das Unendliche zu einem Unendlichen keinen λόγος hat (τό δ' άπειρον πρός τό άπειρον ούδένα λόγον εχει).
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen ά ρ χ α ί
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4.2.2.2.4 (4) Das Werden ist kein Aussondern (188a5-18) Nachdem die beiden Prämissen (1) Jedes ist in jedem" und (2) Jedes wird aus jedem" in den vorherigen Argumenten widerlegt wurden, geht es nun im letzten Teil um die Prämisse (3) (187b23), der zufolge es kein Entstehen/Werden, sondern nur das Aussondern eines bereits Seienden gibt.88 Zeigt Aristoteles zunächst, daß das Entmischungsmodell in bezug auf die Quantitäten (ποσόν) und Qualitäten (ποιόν) in Aporien führt, so zeigt er im Anschluß daran, daß das Entmischungsmodell hinsichtlich der 'gleichartigen Dinge' (ομοειδή) nicht alle (und schon gar nicht die für Aristoteles wesentlichen) Formen des Werdens umgreift.
(4.1) Die Unmöglichkeit der Entmischung in bezug auf Quantitäten und Qualitäten Vor dem Hintergrund der von Aristoteles in 187b22-34 dargelegten Argumentation, daß die Entmischung bei einem jeden Seienden irgendwann zu einem Ende gelangt, wo nichts weiteres mehr aus ihm ausgesondert werden kann, läßt sich die Aussage von Anaxagoras, daß es niemals ein völliges Auseinandertreten/Entmischen gibt, in einem gewissen Sinne als „Ausflucht" (Prantl, 1854: 27) verstehen. Daß aber das Getrenntwerden [τό διακριθήσεσθαι] niemals völlig vollzogen wird, ist zwar ohne Wissen [οΰκ είδότως], aber dennoch richtig [όρθώς] gesagt. Denn die Affektionen sind nicht abtrennbar [τα γαρ πάθη αχώριστα]. Wenn nun die Farben und die Beschaffenheiten [τά χρώματα και αί έξεις] gemischt sind, und wenn sie dann getrennt würden, so würde es etwas Weißes und etwas Gesundes geben, das nicht etwas anderes Seiendes ist und auch nicht an einem Zugrundeliegenden vorkommt [εσται τι λ ε υ κ ό ν καΐ υγιεινό ν ο ύ χ ετερόν τι δν οϋδέ καθ' υποκειμένου]. So daß der Geist [ό νοΰς] widersinnig ist, weil er Unmögliches versucht, wenn er nämlich zwar trennen will, dies aber durchzuführen sowohl hinsichtlich des Quantitativen wie hinsichtlich des Qualitativen [κατά τό ποσόν και κ α τ ά τό ποιόν] unmöglich ist: hinsichtlich des Quantitativen, weil es eine kleinste Größe nicht gibt; hinsichtlich des Qualitativen aber, weil die Affektionen nicht abtrennbar sind. (1.4, 188a5-13)
Den Gedanken von Anaxagoras, daß es bei der Entmischung nie zur völligen Trennung kommen kann (vgl. Frg. DK 59B6, B12 und B8), bezeichnet Aristoteles als zwar richtig, doch fügt er hinzu, daß dies von Anaxagoras ohne Wissen gesagt wurde. Was Anaxagoras selbst mit diesem Gedanken gemeint hat, läßt sich gut am Beispiel der Gegensätze verdeutlichen. Bereits Heraklit (vgl. DK 22B88 u.a.) führte in bezug auf die Gegensätze aus, daß das eine Glied nie ohne das andere Glied sein kann. Anaxagoras' Behauptung, daß es nie zu einer vollSo sind die beiden folgenden Argumente nicht nur, wie Wagner (1967: 16) meint, als „weitere Schwierigkeiten" zu betrachten, sondern sie stehen in einem systematischen Zusammenhang mit dem Ganzen.
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kommenen Trennung kommt - woraus sich zugleich ergibt, daß „nichts in absoluter Reinheit vorkommt" (vgl. 187b4-7) -, erweist sich als Bedingung der Möglichkeit dafür, daß 'in jedem ein Anteil von jedem ist' und daß die Gegensätze als Seiende ununterbrochen auseinander werden können. Denn selbst in dem aus einem Weißen ausgesonderten Schwarzen befindet sich wiederum ein Weißes, das sich aussondern kann. Zwar hat Anaxagoras mit der These, daß die Trennung nicht völlig vollzogen wird, recht, doch sprach Anaxagoras dies, so Aristoteles, ohne Wissen aus. Denn der Grund, den Anaxagoras selbst dafür anführt, daß die Trennung nicht völlig vollzogen werden kann - nämlich der Umstand, daß 'in jedem ein Anteil von jedem ist', wodurch erst das Werden eines jeden aus einem jeden möglich wird -, hat sich in den vorangegangenen Argumenten bereits als falsch erwiesen. Aristoteles' eigener Grund dafür, daß die Trennung nicht völlig vollzogen wird, ist folgender: Die Affektionen sind nicht abtrennbar von demjenigen, an dem sie vorkommen. Die Weiße als Eigenschaft, die Anaxagoras in einem dinglichen Sinne aufgefaßt zu haben scheint, kann nach Ansicht von Aristoteles nicht selbständig getrennt, sondern nur an einem anderen vorkommen. 89 Sie ist, wie Aristoteles in Kat. 2 ausdrücklich hervorhebt, zwar in einem ύποκείμενον, doch ist sie nicht als ein (materieller) Teil im ύποκείμενον. Der Theorie von Anaxagoras zufolge, so wie Aristoteles sie versteht, kommt die 'verdinglichte' Weiße jedoch als ein physikalisch-materieller Teil - analog zu Hand und Fuß - in einem Körper vor und hat zudem eine selbständige Existenz, weil Anaxagoras noch nicht zwischen Ding und Eigenschaft unterschieden hat. Für Anaxagoras gibt es nach Ansicht von Aristoteles letztlich nur 'Dingliches'. 90 Mit den „Farben" (τά χρώματα) und „Beschaffenheiten" (αί εξεις) nennt Aristoteles zunächst zwei Arten von Affektionen (πάθη), 91 die jeweils durch ein konkretes Beispiel veranschaulicht werden: Weißes (λευκόν) als Beispiel für ei-
90
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Vgl. hierzu auch Met. 1.8, 989b2-4, wo Aristoteles darauf hinweist, daß der Theorie von Anaxagoras zufolge die Affektionen (τα πάθη) und Akzidentien (τα συμβεβηκότα) von den Dingen (των ουσιών) getrennt würden, weil sich dasjenige, was sich mischen läßt, auch abtrennen läßt. Nach Ansicht von Ross (1936: 484 und 486) ist hier die aristotelische Kritik an Anaxagoras aus dem Grunde unberechtigt, da Aristoteles das Argument auf die Qualitäten bezieht, während es so gut wie sicher ist, daß Anaxagoras mit 'τό λευκόν' nicht die Weiße, sondern dasjenige, was weiß ist, gemeint hat (1936: 486): „Anaxagoras says (fr. 8) ού ... άποκέκοπται πελέκει οϋτε τό θερμόν άπό τοΰ ψυχροΰ οϋτε τό ψυχρόν άπό τοΰ θερμοΰ, and Aristotle takes him to refer to the qualities. But it is almost certain that Anaxagoras meant 'that which is hot' and 'that which is cold'; cf. 187 a25 n." Zwar weist Ross zu Recht darauf hin, daß Anaxagoras selbst nicht zwischen Eigenschaften und Dingen unterschieden hat, doch ist gerade in dieser Nichtunterscheidung von 'Ding' und 'Eigenschaft' die aristotelische Kritik am Modell des Anaxagoras zu sehen, der nach Ansicht von Aristoteles die Qualitäten als Dinge aufgefaßt hat. Die „Affektionen" (πάθη) sind hier als Gattung gemeint. In Kat. 8 fallen die Beschaffenheiten (αί έξεις) unter die Qualitäten (ποιότητα) und meinen einen Habitus, der im Gegensatz zur Disposition (διάθεσις) von längerer Dauer und bleibender ist. Krankheit und Gesundheit werden dort zwar zu den Dispositionen (διάθεσεις) gezählt, doch weist Aristoteles darauf hin, daß beide auch (durch die Länge der Zeit) zu einem Habitus (έξις) werden können, wobei dann die Gesundheit eher das Natürliche ist. Vgl. auch Met. V.20, 21 wo die Gesundheit ebenfalls als Beispiel für eine έξις und 'weiß' als Beispiel für ein πάθος angefllhrt wird.
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ne Farbe und Gesundes (ύγιεινόν) als Beispiel für eine Beschaffenheit. 9 ? Aristoteles argumentiert nun wie folgt: (1) „Wenn diese Farben und Beschaffenheiten gemischt sind, und wenn diese dann entmischt werden, so wird es etwas Weißes und etwas Gesundes geben, das nicht etwas anderes Seiendes ist und auch nicht an einem ύποκείμενον vorkommt." Bezeichnenderweise spricht Aristoteles bei der Beschreibung des Zustands des 'Gemischtseins von allem' noch nicht in einem konkreten Sinne vom „Weißen" und „Gesunden", sondern zunächst noch in einem allgemeinen Sinne von „Farben" und „Beschaffenheiten". Dies entspricht der Ansicht von Anaxagoras, daß in dem Zustand des ,,ήν όμοΰ π ά ν τ α " die einzelne Farbe und Beschaffenheit j a noch nicht erkennbar ist.93 Erst durch die Entmischung aus dem „alles zusammen" (ήν όμοΰ πάντα), bei der nun das Weiße - ebenso wie auch alles andere - durch die Aussonderung bzw. Differenzierung gleichsam erst „entsteht, wird einzelnes erkennbar. Dieses Weiße sondert sich nun aus dem Zustand des „alles zusammen" aus und wird nicht etwas anderes Seiendes sein (οΰχ έτερον τι δν: a8) als eben Weißes. Auch wenn das so ausgesonderte Weiße der Theorie von Anaxagoras zufolge zugleich alle anderen Bestandteile enthalten muß - denn sonst könnte j a nicht jedes aus jedem werden -, ist es selbst doch nur Weißes und nichts anderes. Denn wäre es zugleich auch etwas anderes, so wäre es weiterhin mit dem anderen vermischt und hätte noch keine eindeutige Bestimmung: es wäre noch nicht Weißes. Aus eben diesem Grunde wird es auch nicht an einem ύποκείμενον sein. Denn das Weiße kann j a insofern nur Weißes und nicht ein anderes Seiendes sein, als seine φύσις durch denjenigen Bestandteil bestimmt ist, der am meisten in ihm enthalten ist (vgl. 187b2-7). (Zugleich beinhaltet dieses Weiße, das in der beschriebenen Weise nur Weißes ist, aber auch alle anderen Bestandteile und ist insofern kein ganz und gar reines Weißes.) Hieraus zieht Aristoteles nun die Konklusion, daß „folglich [ώστε] der Geist [νους] widersinnig [άτοπος] ist, weil er Unmögliches versucht, [,..]". 94 Dieses Unmögliche, das der Geist (νους) des Anaxagoras versucht und das ihn so widersinnig erscheinen läßt, besteht Aristoteles zufolge darin, daß er einerseits die Trennung zwar will - denn sonst gäbe es überhaupt keine Bewegung und überhaupt kein distinktiv bestimmtes Einzelnes -, Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Aristoteles mit dem Neutrum ,,τό λευκόν" sowohl das Weiße (als Ding) als auch die Weiße (als Eigenschaft) meinen kann. Insofern „λευκόν" hier jedoch ein Beispiel filr eine Farbe und „ύγιεινόν" ein Beispiel für eine Beschaffenheit sein soll, scheint zunächst nur die Weiße und die Gesundheit gemeint sein zu können. Andererseits ist jedoch zu bedenken, daß Anaxagoras nach Ansicht von Aristoteles nicht zwischen Dingen und Eigenschaften unterschieden hat, bzw. daß er auch die Eigenschaften in einem dinglichen Sinne aufgefaßt hat. Dies ist aus dem Grunde hervorzuheben, da in der Rede vom „11 λευκόν και ύγιεινόν" (a8) sinnvollerweise nur „etwas Weißes und Gesundes", nicht aber „eine bestimmte (bzw. etwas) Weiße und Gesundheit" gemeint sein kann. Wenn ich hier also in meiner Übersetzung von „Weißem" und „Gesundem" spreche, so ist dabei zu beachten, daß damit nicht „etwas Weißes" im aristotelischen Sinne als etwas, an dem sich die Eigenschaft Weiße findet (etwas, was weiß ist) gemeint ist, sondern daß Aristoteles hier eher aus der Sicht von Anaxagoras die verdinglichte Eigenschaft der Weiße im Sinn hat. Vgl. Frg. DK 59B4: „Bevor aber diese Dinge ausgesondert wurden, war alles zusammen und es war noch nicht einmal eine einzige Farbe klar zu erkennen." Zum „Geist" (νους), der bei Anaxagoras der Ursprung aller Aussonderung und somit das Prinzip der Bewegung ist, vgl. Frg. DK 59B13
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daß er sie andererseits jedoch nicht durchzuführen imstande ist - weder hinsichtlich der Quantität (da es keine kleinste Größe gibt) noch hinsichtlich der Qualität (da die Affektionen nicht abtrennbar sind). Mit anderen Worten: Der Geist will die Trennung aus der Urmischung, er will, daß Einzeldinge (Weißes, Gesundes ...) werden. Hierzu ist es jedoch nötig, daß das Weiße von allem anderen abgetrennt wird. Dies aber ist unmöglich, weil (a) Weißes als ein Qualitatives niemals von dem abtrennbar ist, an dem es vorkommt, und weil (b) das Weiße als bestimmtes einzelnes Quantitatives auch ein bestimmtes begrenztes Quantum darstellt. Letzteres führt insofern in einen Konflikt mit der Theorie des Anaxagoras, als dieser Theorie zufolge jedes Einzelne letztlich ein unbegrenztes Quantum darstellen muß. So würde der Geist im Hinblick auf die Quantität letztlich Unendliches von Unendlichem trennen, was jedoch bedeutet, daß er eigentlich gar nicht trennt. Damit ihm die Abtrennung hinsichtlich der Quantität gelänge, müßte es eine kleinste Größe geben, die es Anaxagoras zufolge jedoch nicht geben kann.95
(4.2) Die Unmöglichkeit der Entmischung in bezug auf die 'Gleichartigen' (ομοειδή) Hat Aristoteles zuvor gezeigt, daß das Werden als Aussonderung in bezug auf die Qualitäten und Quantitäten in Aporien fuhrt, so geht er nun dazu über, selbiges auch in bezug auf die 'Gleichartigen' (ομοειδή) zu zeigen. N i c h t richtig aber ist auch, w i e er das Entstehen der Gleichartigen [των ο μ ο ε ι δ ώ ν ] annimmt. Zwar wird L e h m in einer W e i s e zu L e h m zerteilt, in einer anderen W e i s e aber auch nicht. U n d e s ist nicht d i e s e l b e Weise, w i e Steine aus e i n e m Haus [sind und werden], und ein H a u s aus Steinen [ist und wird], s o auch Wasser u n d Luft auseinander ist und wird. B e s s e r ist es, w e n i g e r und eine begrenzte Anzahl [von ά ρ χ α ί ] anzunehmen, w i e e s E m p e d o k l e s tut. (1.4, 1 8 8 a l 3 - 1 8 )
Die Beispiele „Lehm", „Stein", „Wasser" und „Luft" machen deutlich, daß mit den hier erwähnten „Gleichartigen" die zuvor als „Gleichteilige" (όμοιομερή) bezeichneten Dinge gemeint sind.96 Auch bei diesen 'Gleichartigen' bzw. 'Gleichteiligen' hat Anaxagoras nach Ansicht von Aristoteles das Werden/Entstehen (γένεσις) nicht richtig angenommen, insofern er es ebenfalls (nur) im Sinne einer Aussonderung versteht.
95
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Wagner (1967: 416) ist der Auffassung, daß Aristoteles' Kritik darin besteht, daß der Geist mit seiner Absonderung nicht an ein Ende gelangt: „So daß der Weltgeist also prinzipiell seine Absicht nicht zu Ende führen kann." (Vgl. auch Zekl, 1987: 23). Meiner Interpretation zufolge besteht die Kritik von Aristoteles jedoch primär nicht darin, daß der Geist mit der Absonderung nicht zu einem Ende kommt - denn dieses „Nicht-zu-einem-Ende-kommen" wird ja von Anaxagoras selbst behauptet, wenn er sagt, daß „die Entmischung niemals völlig vollzogen wird" sondern vielmehr darin, daß es nach Ansicht von Aristoteles letztlich zu überhaupt keiner Aussonderung kommen kann. Vgl. auch Düring (1966: 228), Ross (1936: 3 4 2 , 4 8 6 ) und Wagner (1967: 16).
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Zwar gibt es, so Aristoteles, durchaus eine derartige Zerteilung, bei der ein Ganzes in seine gleichartigen Teile auseinandergenommen wird, so daß durch eine 'Entmischung' mehreres 'entsteht' und dieses bereits vorher in dem Ganzen aktuell vorhanden war; dies ist z.B. bei der Zerteilung von Lehm zu Lehm(klumpen) (vgl. ,,ό πηλός εϊς πηλούς": al4) der Fall.97 Andererseits gibt es eine derartige Zerteilung von Lehm zu Lehm(klumpen) auch nicht (vgl. ,,έστι δ' ώς οΰ": al4-15). Mit dieser Bemerkung will Aristoteles darauf hinweisen, daß Lehm nicht nur zu Lehm(klumpen) zerteilt werden kann. Denn es gibt ja auch andere (inhomogene) 'Zerteilungsformen' von Lehm, wie z.B. das Auseinandernehmen des Lehms in seine Bestandteile Wasser und Erde.98 Zwar würde auch Anaxagoras zugestehen, daß aus Lehm Wasser und Erde werden kann, doch wäre dieses Werden bei Anaxagoras in einem anderen Sinne zu verstehen als Aristoteles dies meint. Denn Anaxagoras zufolge kann Wasser und Erde aus Lehm insofern werden, als seiner Theorie zufolge ja alles aus Lehm werden kann. Aristoteles zufolge wird Wasser und Erde jedoch in einem spezifischen Sinne aus Lehm, dessen konstitutive Bestandteile sie darstellen. Fernerhin „ist es nicht dieselbe Weise wie einerseits Steine aus einem Haus werden und sind und wie ein Haus aus Steinen wird und ist, und wie andererseits Wasser und Luft auseinander werden und sind" (188al5-17). Im Gegensatz zum 'ungeordneten' Lehmhaufen, der sich in Lehmklumpen zerteilen läßt, stellt ein Haus eine bestimmte Ordnung von Steinen bzw. einen „geordneten Steinhaufen" dar (vgl. 1.5, 188b 16-20). Auch wenn das Wasser ebenfalls zu den 'Gleichteiligen' zu zählen ist, so wird die aus dem Wasser werdende Luft nach Ansicht von Aristoteles doch weder durch eine bloße Zerteilung eines ungeordneten Ganzen, wie dies bei den Lehmklumpen aus Lehm der Fall ist, noch durch eine Zerteilung eines geordneten Ganzen, wie dies bei den Steinen aus einem Haus der Fall ist.99 Vielmehr wandelt sich hier etwas in seinem Stoff (vgl. 1.7, 190b8-9). Dort,
98 99
Das Beispiel einer Zerteilung von Lehm zu Lehm(klumpen) stellt allerdings insofern eine einseitige Beschreibung der Theorie des Anaxagoras dar, als sich Lehm Anaxagoras zufolge ja auch aus Fleisch absondern kann. Aristoteles will mit diesem Beispiel vielleicht daraufhinweisen, daß Anaxagoras aufgrund der Beobachtung von derartigen 'Werdeprozessen' zu seinem Aussonderungsmodell des Werdens gelangt ist. Zugleich mag in dem Beispiel „Lehm" auch eine gewisse abschätzige Ironie liegen, denn „πηλός" kann neben „Lehm" und „weicher Erde" auch „Schlamm", „Kot" und „Schmutz" bedeuten. Man denke in diesem Zusammenhang z.B. an Piaton, Parm. 130b-d, wo Parmenides dem Sokrates die Frage stellt, ob man auch eine Idee der Haare, des Kots und des Schmutzes anzunehmen habe. Charlton (1970: 65) weist in diesem Zusammenhang auf Piaton, Theaitet 147c hin. Der Vergleich des Werdens von 'Haus aus Steinen' mit dem Werden von 'Luft aus Wasser' hat vermutlich folgende Funktion: Anaxagoras muß erklaren, wie Luit aus Wasser und umgekehrt Wasser aus Luft wird. Zugleich muß er erklären, inwiefern sich das Werden von Luft aus Wasser - auch wenn es seiner Theorie zufolge mit dem Werden der Lehmklumpen aus Lehm insofern identisch ist, als beidemal eine Aussonderung stattfindet - vom Werden der Lehm(klumpen) aus Lehm unterscheidet. Denn beim Werden von Luft aus Wasser sind die Namen des Gewordenen („Luft") und desjenigen, woraus es geworden ist („Wasser") ja verschieden, während sie beim Werden von Lehm aus Lehm nicht verschieden sind. Nun meint Aristoteles vermutlich, daß Anaxagoras diesen sprachlichen Unterschied vielleicht darauf zurückführen könnte, daß wir es in bezug auf das Werden von Lehm aus Lehm mit einem ungeordneten Ganzen, in bezug auf das Werden von Luft aus Wasser jedoch mit einem geordneten Ganzen zu tun haben. Anaxagoras könnte dann argumentieren, daß analog zum Werden eines Hauses aus Steinen auch beim Werden von Luft aus Wasser das Entstandene nicht nach dem
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Physik I. 4: 'Die Auseinandersetzung mit Anaxagoras'
wo vorher Wasser war, ist jetzt Luft und kein Wasser mehr. Dies unterscheidet diesen Werdeprozeß von allen anderen. Denn in bezug auf das Werden von Lehm(klumpen) aus Lehm gilt ja, daß dort, wo vorher Lehm war, jetzt immer noch Lehm ist; und in bezug auf das Werden eines Hauses aus Steinen gilt, daß dort, wo vorher Steine waren, jetzt ebenfalls Steine sind, jedoch Steine, die sich in einer bestimmten Anordnung befinden und zu einer bestimmten Funktion zusammengestellt sind, die wir „Haus" nennen. In beiden Fällen ist dasjenige, woraus etwas wird, nicht verschwunden. Dieses Nichtverschwinden dessen, woraus etwas wird, ist gerade für das Aussonderungsmodell kennzeichnend, das allerdings nicht zu erklären vermag, wie Luft aus Wasser in der Weise wird, daß nun dort, wo vorher Wasser war, Luft und kein Wasser mehr ist. Das Werden von Luft aus Wasser steht Aristoteles zufolge gerade für einen solchen Prozeß, bei dem das Entstehen des einen den Untergang des anderen bedeutet; ein Prozeß, der gerade nicht zur Unendlichkeit führt, sondern der das Werden als in einen Kreislauf eingeschlossen versteht.100 Aus dieser Argumentation wird deutlich, daß nicht jede Form des Werdens ein Aussondern darstellt. Die Prämisse (2), der zufolge es kein 'Werden/Entstehen', sondern nur ein Aussondern gibt (187b23), kann mithin als widerlegt betrachtet werden, wobei Aristoteles jedoch nicht den Fehler begeht, das konträre Gegenteil der Prämisse des Anaxagoras zu behaupten, so daß es nun überhaupt kein Werden im Sinne einer Aussonderung gäbe. Vielmehr weist Aristoteles mit dem Beispiel des Werdens von 'Lehm aus Lehm' daraufhin, daß es durchaus ein Werden als Aussondern gibt, wobei er selbst jedoch dieses Aussondern nicht als ein 'Werden' im eigentlichen Sinne bezeichnen würde. Begann die Auseinandersetzung mit Anaxagoras in 187a21 mit einem Vergleich seiner Lehre mit der des Empedokles, so findet sie nun ihren Abschluß in der Bemerkung, daß es besser ist, weniger und (der Zahl nach) Begrenztes (als άρχαί) anzunehmen,101 wie Empedokles es tut.102 Ross weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß in dieser Aussage ein Vorläufer von „Ockhams Rasiermesser" gesehen werden kann: The principle enunciated is the ancestor of Occam's razor. Cf. 189al4-16, 259a9. (Ross, 1936: 487)
100 101 102
benannt wird, woraus es geworden ist, weil es ein anders geordnetes Ganzes darstellt. Diese Erklärungsmöglichkeit will Aristoteles jedoch dadurch ausschließen, daß er die Unterschiedlichkeit des Werdens eines Hauses aus Steinen und des Werdens von Luft aus Wasser betont. Vgl. auch Met. II.2, 994a22-994b2. In dem Satz „βέλτιόν τε έλάττω και πεπερασμένα λαβείν" (188al 7-18) meint der Ausdruck „πεπερασμένα" offenkundig die Begrenztheit der Zahl nach (vgl. auch 1.6, 189al5-16). Wagner (1967: 416) meint, daß der Schlußsatz in der Luft hängt und den Anschein erweckt, als gehöre er nicht hierher. Seiner Ansicht nach hätte dieser Satz bereits im Anschluß an 187b 1113 stehen können, weshalb er die Vermutung äußert, daß die weiteren Argumente vielleicht später dazwischengeschoben wurden. Demgegenüber hat die vorliegende Interpretation jedoch den systematischen Zusammenhang der nachfolgenden Argumente in bezug auf eine Widerlegung der von Anaxagoras zugrunde gelegten Prämissen deutlich gemacht. Da in diesen Widerlegungen bereits Gesichtspunkte vorkommen, die - wie wir sehen werden - filr Aristoteles in bezug auf die Darlegung der eigenen Theorie von Bedeutung sind, scheint mir die Vermutung von Wagner eher unwahrscheinlich zu sein.
Anaxagoras' Lehre von den unendlich vielen άρχαί
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Dieser Hinweis von Ross bedarf jedoch insofern einer differenzierteren Betrachtung, als im Gegensatz zu dem mitunter auch als „Ökonomieprinzip" bezeichneten Prinzip von Ockham ('entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem'), für das es wesentlich ist, daß in einem absoluten Sinne 'überhaupt weniger' Entitäten anzunehmen sind, das Wort „weniger" (έλάττω) in 188a 17 nur einen relativen Sinn hat und „weniger als unendlich viele" meint. Diese relative Bedeutung des Wortes „weniger" wird durch den das Wort „έλάττω" explizierenden Ausdruck ,,καί πεπερασμένα" (188a 18) angedeutet und in 1.6, 189a 15-16 explizit ausgesprochen: ,,βέλτιον δ' έκ πεπερασμένων, ώσπερ 'Εμπεδοκλής, ή έξ απείρων". Die Behauptung aber, daß es besser ist, weniger als unendlich viele Prinzipien anzunehmen (Aristoteles), ist von der Behauptung, daß es besser ist, überhaupt weniger Prinzipien anzunehmen (Ockham), in seiner wissenschaftstheoretischen Bedeutung zu unterscheiden. Anaxagoras' Annahme unendlich vieler der Art nach verschiedener άρχαί kann nun insofern als widerlegt betrachtet werden, als Aristoteles einerseits gezeigt hat, daß die Annahme unendlich vieler άρχαί in Aporien führt, und als er andererseits auf dem Wege einer Reductio ad absurdum nachgewiesen hat, daß die Prämissen, die Anaxagoras letztlich zur Annahme unendlich vieler άρχαί geführt haben, selbst falsch sind oder nicht notwendigerweise zur Konklusion einer unbegrenzten Anzahl von άρχαί führen.
5. Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί' 5.1 Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger
(188al9-27)
Alle [πάντες] machen sie also [δή] die (konträren) Gegensätze 1 zu Prinzipien [τάν α ν τ ί α ά ρ χ ά ς ποιοΰσιν], sowohl die, welche sagen, daß das Ganze Eines und nicht bewegt sei (denn auch Parmenides macht das Wanne und das Kalte zu Prinzipien, er nennt sie aber »Feuer« und »Erde«), wie auch die, die Dünnes und Dichtes [annehmen], und Demokrit, der das Volle und das Leere nimmt, von denen er behauptet, daß das eine seiend und das andere nicht-seiend sei. Zudem [unterscheidet er] nach Lage [θέσει], Gestalt [σχήματι] und Ordnung [τάξει]. Diese aber sind Gattungen von Gegensätzen [γένη έναντίων]: die [Gegensätze] der Lage sind: oben-unten; vorne-hinten; die der Gestalt: gewinkelt-winkellos, gerade-rund. Daß also alle irgendwie Gegensätze zu Prinzipien machen, ist klar [δτι μεν ούν τ ά ν α ν τ ί α πως πάντες ποιοΰσι τάς άρχάς, δήλον]. (1.5, 188al9-27)
Die Behauptung, daß „also (δή) alle die Gegensätze zu Prinzipien machen" (188al9), überrascht zunächst aufgrund seines konklusiven Charakters, denn bisher ist ja noch nicht gezeigt worden, daß alle die Gegensätze zu Prinzipien machen. Auch ist in den nachfolgend angeführten Beispielen, durch die diese Behauptung eine Begründung (γάρ: a20) erfahren soll, keineswegs von allen Vorgängern die Rede. Aus diesem Grunde liegt es nahe, das Wort „alle" hier in einem eingeschränkten Sinne zu verstehen, dem zufolge es sich zunächst einmal auf all die Vorgänger bezieht, von denen in der bisherigen Untersuchung die Rede war. Hierzu zählen vor allem die Eleaten und die Naturphilosophen, die dann auch in den nachfolgend angeführten Beispielen durch ein „sowohl ... als auch" (vgl. „01 τε ... και οί": al9-22) ausdrücklich gegenübergestellt werden. Parmenides wird als Vertreter der Eleaten zu denjenigen gezählt, „die sagen, das Ganze sei Eines und nicht bewegt", während mit denjenigen, die Dünnes und Dichtes [annehmen], die Naturphilosophen der ersten Gruppe aus Kapitel 1.4 gemeint sind. Von denen hieß es dort, daß sie alles durch Dichte und Dünne hervorgehen ließen (187al5-16). Schließlich wird auch noch Demokrit (188a22) mit seinen verschiedenen Gegensätzen erwähnt.2 Zwar wurden bei der Auseinandersetzung mit den Eleaten und den Naturphilosophen auch andere VorgänMit dem Ausdruck ,,έναντία" meint Aristoteles für gewöhnlich konträre Gegensätze (vgl. Kat. 10 und Met. V.10; X.4). Die hier angeführten Beispiele lauten: „Warmes-Kaltes", „FeuerErde", „Voiles-Leeres", „oben-unten", „vorne-hinten", „gewinkelt-winkellos", „gerade-rund"; (vgl. auch Happ, 1971: 280, Fn.8). Die Nennung Demokrits mit dem Hinweis, daß er das eine als seiend und das andere als nichtseiend gesetzt habe, mag als ein weiterer Beleg dafür gelten, daß Aristoteles in 1.3, 187al-3 die Atomisten im Sinn hat.
Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger
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ger, wie z.B. Melissos, Heraklit, Lykophron, Piaton, Empedokles, Anaxagoras und Anaximander, explizit mit Namen genannt, in bezug auf die in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, daß einige von ihnen ebenfalls bestimmte Gegensätze als grundlegend angesehen haben, doch werden diese Gegensätze hier zu Beginn von Kapitel 1.5 nicht erwähnt. Erst am Ende des Kapitels ist auch von den Gegensätzen „Streit-Liebe" (188b34-35: Empedokles), „Großes-Kleines" (189a8: Piaton) und „Ungerades-Gerades" (188b34: Pythagoreer) die Rede.3 Der Grund, warum sie nicht bereits zu Beginn, sondern erst am Ende von Kapitel 1.5 Erwähnung finden, ist vermutlich darin zu sehen, daß diese Vorgänger im Vergleich zu den zu Beginn genannten Vorgängern kategorial verschiedene - nämlich frühere und dem Begriff nach bekanntere - Gegensätze angenommen haben, so daß in Entsprechung zu der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie auch in Kapitel 1.5 in bezug auf die Gegensätze zunächst von den der Wahrnehmung nach bekannteren Gegensätzen ausgegangen werden soll, um von dort aus zu den dem Begriff m.c\\ bekannteren Gegensätzen zu gelangen.4 Als solche der Wahrnehmung nach bekanntere Gegensätze erweisen sich gerade die zu Beginn genannten Beispiele „Warmes-Kaltes", „Feuer-Erde", „DünnesDichtes", „Voiles-Leeres", „oben-unten", „vorn-hinten", „gewinkelt-winkellos" und „gerade-rund", von denen Aristoteles einige in 188b26-189a9 ausdrücklich als der Wahrnehmung nach bekanntere Gegensätze bestimmt. Der einführende Abschnitt 188al9-27 läßt sich im Hinblick auf seine Begründungsstruktur in folgende Teile gliedern: (1) Die Behauptung: „Alle machen die Gegensätze zu Prinzipien" (188al9); (2) die Begründung der Behauptung durch Beispiele (188al9-26); (3) die Konklusion, der zufolge das Behauptete nun klar sein soll: „Es ist also klar, daß alle irgendwie Gegensätze zu Prinzipien machen" (188a26-27).5 Nun unterscheidet sich die Behauptung, daß alle die Gegensätze zu άρχαί machen (vgl. ,,τάναντία άρχάς ποιοΰσιν": 188al9), in einer wesentlichen und häufig übersehenen Hinsicht von der Konklusion des Kapitels 1.5, der zufolge klar sein soll, daß die άρχαί Gegensätze sein müssen (vgl. ,,δτι μέν οΰν εναντίας δει τάς άρχάς είναι, φανερόν": 189a9-10). Wird nämlich in 188a 19 Eine schematische Darstellung der von Aristoteles in Physik I angeführten Gegensätze der Vorgänger findet sich im Anhang 11.2, Darstellung (2). Die von den Vorgängern vorgenommene Setzung der Gegensätze als Prinzipien kann durchaus als aus der Wahrnehmung hergeleitet betrachtet werden, da ja die Beobachtung, daß die uns umgebenden Naturdinge in verschiedenartigen gegensätzlichen Verhältnissen zueinander stehen, den Schluß nahelegt, daß die Gegensätze eine grundlegende Struktur in der Natur darstellen. Der Satz „cm μέν οΰν τάναντία πως πάντες ποιοϋσι τάς άρχάς, δήλον" kann auf zweifache Weise verstanden werden: (i) „es ist nun klar, daß alle die Gegensätze zu άρχαί machen"; (ii) „es ist nun klar, daß alle die άρχαί zu Gegensätzen machen". Da jedoch die Konklusion a26-27 das in der Prämisse aI9 Gesagte wiederholt, das nun durch die Anführung der Beispiele klar sein soll, ist davon auszugehen, daß hier die Bedeutung (i) gemeint ist (vgl. auch Philoponus, der das „τάς" in a26 vor „άρχάς" streicht). Mit Ausnahme von Zekl (1987: 25), der auf die Bedeutung (ii) zurückgreift, Ubersetzen die meisten Interpreten diesen Satz in der Bedeutung (i): Vgl. Prantl (1854: 29), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 343), Wagner (1967: 17), Charlton (1970: 11), Gohlke (1956: 43), Carteron ( 2 1952: 39) und Wicksteed/Comford (1980: 51).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
zunächst von bestimmten Gegensätzen gesagt, daß sie Prinzipien sind, so wird in 189a9-10 umgekehrt von den Prinzipien gesagt, daß sie Gegensätze bzw. gegensätzlich sind.6 Diese Umstellung des Subjekt- und Prädikatausdrucks deutet auf eine Entwicklung innerhalb des Kapitels hin, die wie folgt zu verstehen ist: Ausgehend von der These der Vorgänger „die Gegensätze sind άρχαί" (die Vorgänger waren Aristoteles zufolge der Ansicht, daß konkrete, von ihnen jeweils vorgefundene Gegensätze άρχαί seien) soll zu der These „die άρχαί sind Gegensätze bzw. gegensätzlich" übergangen werden. Der damit verbundene Weg von einer extensionalen Bestimmung der άρχαί („diese oder jene konkreten Gegensätze sind die άρχαί") zu einer intensionalen Bestimmung der άρχαί („die άρχαί sind gegensätzlich") spiegelt gleichsam den in Kapitel 1.1 beschriebenen methodischen Weg wider, der von der Wahrnehmung zum Begriff führen soll. Befinden sich die Vorgänger - und hier ist vor allem an diejenigen Vorgänger zu denken, deren Gegensätze der Wahrnehmung nach bekannter sind - Aristoteles zufolge noch auf der Ebene der Wahrnehmung, auf der der eine oder andere Gegensatz als fundamental erscheinen mag und zum Prinzip erhoben wird,7 so führt die in 188a30 von Aristoteles eingeleitete Analyse, die er als eine Analyse „dem Begriff nach" (έπί του λόγου: a31) versteht, zu gemeinsamen Merkmalen all dieser Wahmehmungsgegensätze, die schließlich in der begrifflichen Konklusion von der gegensätzlichen Struktur der Prinzipien (189a9-10) mündet. Dieser methodische Weg von einer extensionalen zu einer intensionalen Bestimmung eines zu erkennenden Gegenstandes findet sich bei Aristoteles gerade in bezug auf eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Vorgänger auch an anderen Stellen seines Werkes wieder. So werden z.B. in Met. VII.2, 1028b8 ff. in bezug auf die Frage, was die ουσία ist, zunächst einmal in einem extensionalen Sinne Diese Differenz ist - soweit ich sehen kann - einzig von McMullin (1963: 186, Fn. 16) beobachtet worden: „The conclusion of the chapter clearly should say that the contraries are principles, not (as it does) that the principles are contraries. It is the former claim that the argument tends to support, and it will shortly appear that one of the principles is not in fact, a contrary." Obgleich McMullin zu Recht einen Unterschied zwischen der Behauptung und der Konklusion beobachtet, scheint er mit seiner Kritik daran gleichwohl die Pointe von Kapitel I. 5 zu verfehlen. Nach Ansicht von McMullin hätte Aristoteles in seiner abschließenden Konklusion anstelle der Behauptung, daß die Prinzipien Gegensätze sind, besser sagen sollen, daß die Gegensätze Prinzipien sind, da sich zeigen wird, daß eines der Prinzipien - nämlich das ύποκείμενον - kein Glied eines Gegensatzes darstellt. Nun ist dieser Kritik von McMullin jedoch folgendes entgegenzuhalten: Wenn Aristoteles anstelle der Behauptung „Prinzipien sind Gegensätze", welches im Widerspruch dazu steht, daß das ύποκείμενον keinen Gegensatz darstellt, besser gesagt hätte „Gegensätze sind Prinzipien", so stünde dies jedoch im Widerspruch dazu, daß - wie Aristoteles zeigen wird - einerseits nicht jeder Gegensatz als Prinzip fungieren soll, und daß andererseits nicht nur die Gegensätze Prinzipien sein sollen. McMullin scheint in seiner Kritik folgenden Gesichtspunkt zu übersehen: Mit der Behauptung „die Gegensätze sind άρχαί" schreibt Aristoteles den Vorgängern vereinfacht gesagt zunächst eine extensionale Bestimmung der άρχαί zu. Von dieser extensionale Bestimmung der άρχαί ausgehend will er selbst zu einer intensionalen Bestimmung der άρχαί gelangen, die darin besteht, daß „die άρχαί gegensätzlich sind". Daß dies jedoch nicht das letzte Wort über die άρχαί sein kann, wird bereits im nachfolgenden Kapitel 1.6 deutlich, wo Aristoteles zeigen wird, daß die Annahme, daß die άρχαί nur gegensätzlich sind, ebenfalls in Aporien führt. Vgl. auch die von Aristoteles in 188al9-26 angeführten Gegensätze „Warmes-Kaltes", „Dichtes-Dünnes", „Feuer-Erde", „Voiles-Leeres", „oben-unten", „vorne-hinten", „gewinkeltwinkellos", „gerade-rund", die eher der Wahrnehmung nach bekannter sind (vgl. 188b31189a9).
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die verschiedenen Beispiele der Vorgänger fiir dasjenige, was sie als ο υ σ ί α bezeichnet haben, angeführt, um dann zu einer intensionalen Untersuchung überzugehen, die die vier Hauptbedeutungen von ,,οΰσία" betrachtet. Aristoteles schließt die extensionale Bestimmung dort mit folgender Bemerkung ab: Welche nun von diesen Ansichten richtig ist, welche falsch, und welche Wesenheiten es gibt, und ob gewisse Wesenheiten außer den sinnlichen existieren oder nicht und wie diese existieren, und ob es außer den sinnlichen eine vollständig abtrennbare Wesenheit gibt und warum und wie, oder ob es keine gibt - dies müssen wir untersuchen, indem wir zuerst den Grundzügen nach bestimmen, was die Wesenheit ist. (Met. VII.2, 1028b27-32; Übers, nach Bonitz)
Angesichts der Tatsache, daß eine extensionale Bestimmung der άρχαί dazu führt, daß zunächst verschiedene Kandidaten für die zu suchenden ά ρ χ α ί genannt werden, verwundert es auch nicht, daß die Vorgänger jeweils verschiedene Gegensätze als grundlegend betrachtet haben. Aristoteles weist in Kapitel 1.5 meiner Interpretation zufolge indirekt darauf hin, daß sich einzig auf der Grundlage einer intensionalen Bestimmung der άρχαί eine extensionale Bestimmung derselben geben läßt, und nicht umgekehrt. Denn es ist ja ebenfalls möglich, daß keines der von den Vorgängern auf extensionale Weise angeführten Gegensatzpaare die Kriterien einer ,,άρχή" erfüllt. Die Behauptung, daß alle die Gegensätze zu ά ρ χ α ί machen, wird von Aristoteles durch folgende Beispiele begründet: (a) Diejenigen, die das Ganze als eines und nicht bewegt setzen (Parmenides); (b) diejenigen, die Dünnes und Dichtes annehmen; (c) Demokrit. (a) 'Parmenides': Es überrascht zunächst, daß Parmenides hier als ein Vorgänger genannt wird, der mit dem Warmen und Kalten Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben soll, wurde von ihm in der vorangegangenen Untersuchung doch gesagt (vgl. 1.2, 184b 15-16), daß er nur ein einziges, unbewegtes Prinzip angenommen habe. Angesichts dieser Unstimmigkeit ist mitunter die Kritik geäußert worden, Aristoteles versuche hier auf gewaltsame Weise zu zeigen, daß alle seine Vorgänger Gegensätze als Prinzipien angenommen haben, um so seine eigene Gegensatzlehre durch einen allgemeinen Consensus bzw. durch einen Autoritätsbeweis stützen zu können. 8 Der Gedanke, daß Aristoteles in 188al9-30 einen Autoritätsbeweis anführt, dem er dann in 188a30-b26 seine eigene Argumentation „dem Begriff nach" hinzufügt, findet sich unter anderem bei Charlton und Ross: In this chapter Aristotle offers two arguments for the view that the principles of physical things are opposites. One (188al9-30, 188b26-189al0) is an argument from authority or ex consensu sapientium. [...] The other argument, 188a30-b26, is based on consideration of the logos (a31). (Charlton, 1970: 65 f.) 31. έπί τοΰ λόγου, 'in the case o f , i.e. by reference to, the argument (cf. 262al9, and contrast 188b29). The appeal to argument is contrasted with the appeal to authority (a26). (Ross, 1936: 488 f.)
Vgl. Cherniss (1935: 49 f.) und Gigon (1966: 119).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Angesichts der dargelegten Interpretation bezüglich des methodischen Wegs in Kapitel 1.5, der sich als Weg von einer extensionalen zu einer intensionalen Bestimmung der άρχαί erweist, scheint die Interpretation des Abschnitts 188al9-30 im Sinne eines Autoritätsbeweises jedoch insofern problematisch zu sein, als auf diese Weise die Unterschiede zwischen den Überlegungen der Vorgänger (bestimmte Gegensätze sind άρχαί) und den Überlegungen von Aristoteles (άρχαί sind gegensätzlich) in gewisser Weise nivelliert würden. Zudem wird in Kapitel 1.7 deutlich werden, daß der Gedanke einer konträren Gegensätzlichkeit der Prinzipien, wie sie gerade bei den Vorgängern in Kapitel 1.5 zu finden ist, im weiteren Verlauf der Untersuchung eine entscheidende Modifikation erfährt. Zwar wird es auch dem aristotelischen Modell des Werdens zufolge eine Gegensätzlichkeit der Prinzipien in Gestalt von είδος und στέρησις geben, doch stellt dieser Gegensatz keinen konträren Gegensatz im engeren Sinne dar. Darüber hinaus wird die Funktion der konträren Gegensätze, die in Kapitel 1.5 darin besteht, das Werden eines Bestimmten aus einem Bestimmten zu erklären, in Kapitel 1.7 insofern eine entscheidende Modifikation erfahren, als dort auch das ύποκείμενον, von dem in Kapitel 1.5 noch keine Rede ist,9 in einem nicht unerheblichen Maße für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein wird. Diese Differenzen lassen es zumindest als fragwürdig erscheinen, ob Aristoteles seine eigene - von den Vorgängern in wesentlichen Punkten unterschiedene Gegensatzlehre der Prinzipien durch einen Autoritätsbeweis abzusichern bemüht ist. Die bei den Vorgängern vorzufindende Struktur der konträren Gegensätzlichkeit der Prinzipien stellt für Aristoteles eher einen Schritt auf dem Weg zur eigenen Theorie dar. Die bereits angesprochene Unstimmigkeit, der zufolge von Parmenides einerseits gesagt wird, daß er nur ein einziges unbewegtes Prinzip angenommen habe (184b 15-16), während ihm andererseits die beiden gegensätzlichen Prinzipien des Warmen und des Kalten zugeschrieben werden (188al9-22), löst sich auf, sofern man bedenkt, daß sich bei Parmenides neben der sogenannten „wohlgerundeten Wahrheit" und ihrem „unerschütterlichen Herz" (vgl. ,,ήμέν άληθείης εύκυκλέος άτρεμές ήτορ"), in deren Kontext es nur das eine absolute und unbewegte Seiende geben kann, auch die sogenannten „Meinungen der Sterblichen" (vgl. ,,βροτών δόξας") finden, in deren Zusammenhang Parmenides schließlich eine Kosmologie entwirft, in der er eine Erklärung für die Möglichkeit der Bewegung gibt. Nachdem sich der Weg der Wahrheit, dem zufolge es In Kapitel 1.6, wo das ύποκείμενον wieder ins Spiel gebracht wird, wird es ja gerade um den Nachweis gehen, daß die Gegensätze nicht allein die Prinzipien sein können. (Vgl. auch Met. XIV.1, 1087b3 ff., wo es heißt, daß nicht die Gegensatze im eigentlichen Sinne (κυρίως) Prinzip von allem (άρχή πάντων) sind, sondern vielmehr etwas anderes - das ύποκείμενον -, das auch noch von den Gegensätzen vorausgesetzt werden muß; vgl. auch Met. XI. 1, 1059a21-23 und XII.10, 1075a28-34.) In seinem zusammenfassenden Rückblick in 1.7, 191al5-19 wird in bezug auf das Kapitel 1.5 gesagt werden, daß dort nur die Gegensätze als Prinzipien angenommen wurden, während das Kapitel 1.6 zeigte, daß ihnen notwendigerweise ein drittes Prinzip zugrunde gelegt werden müsse. Das Kapitel 1.7 habe dann den „Unterschied unter den Gegensätzen" (διαφορά των εναντίων) aufgezeigt, womit vor allem der Unterschied zwischen den konträren Gegensätzen der Vorgänger und dem aristotelischen Gegensatz von „είδος στέρησις" gemeint ist.
Die gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger
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nur ein einziges, unbewegtes Seiendes geben kann, in bezug auf eine Wissenschaft von der Natur als unzureichend und in Aporien führend erwiesen hat, kann für Aristoteles folglich nur noch der Weg der Meinungen von Interesse sein, auf den er sich hier in Kapitel 1.5 offenkundig bezieht. In bezug auf diesen „Weg der Meinungen" legt Parmenides die beiden entgegengesetzten Prinzipien „Feuer" und „Nacht" zugrunde, 10 die Aristoteles als „Warmes und Kaltes" (θερμόν κ α ι ψυχρόν: 188a20-21) bezeichnet, wobei er daraufhinweist, daß Parmenides selbst sie „Feuer und Erde" (πΰρ κ α ι γήν: a21-22) genannt habe." (b) 'Diejenigen, die Dünnes und Dichtes annehmen' (vgl. „oi μ α ν ό ν κ α ι π υ κ ν ό ν " : a22): Auch wenn man für gewöhnlich Anaximenes als denjenigen Vorsokratiker ansieht, der zuerst vom 'Dichten und Dünnen' gesprochen hat (vgl. Frg. DK 13B1; A6), so macht hier sowohl der Plural „oi" (a22) als auch die Textstelle in 1.4, 187a 15-16 deutlich, daß sich Aristoteles mit diesem Beispiel nicht nur auf Anaximenes, sondern auf all die Naturphilosophen bezieht, die einen Stoff zugrunde legten, aus dem sie durch Dichte und Dünne die Vielheit entstehen ließen. Verwandte Aristoteles in Kapitel 1.4 jedoch noch die abstrakten Termini „Dünnheit (μανότης) und Dichtheit (πυκνότης)", so spricht er hier nun mit Hilfe konkreter Termini vom „Dünnen (μανόν) und Dichten (πυκνόν)". 1 2 Ein Grund dafür, daß in Kapitel 1.5 von „μανόν κ α ι π υ κ ν ό ν " die Rede ist, mag vielleicht darin liegen, daß der Intention dieses Kapitels zufolge zunächst nur Gegensätze als Prinzipien angenommen werden sollen. Als Prinzipien sollen sie jedoch den Charakter eines Selbständigen tragen, wie das aus aristotelischer Sicht bei dem „Dünnen und Dichten" gegenüber der „Dünnheit und Dichtheit" eher der Fall ist, da letztere Aristoteles zufolge für Eigenschaften und somit für etwas Unselbständiges stehen. Da in Kapitel 1.6 dann gerade die Unselbständigkeit dieser Gegensätze herausgestellt werden soll, denen ein drittes Prinzip zugrunde gelegt werden muß, liegt es für Aristoteles nahe, dort wieder von „Dünnheit und Dichtheit" zu sprechen.
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Vgl. Parmenides, Frg. DK 28B8, Z.55-59: ,,τάντία δ' έκρίναντο δέμας και σήματ' έθεντο χωρίς άπ' αλλήλων, τή μέν φλογός αϊθέριον πΰρ, ήπιον ον, μέγ' έλαφφόν, έωυτω πάντοσε τωύτόν, τω δ' έτέρω μή τωΰτόν· άτάρ κάκεΐνο κατ' αύτό τάντία νΰκτ' αδαή, πυκινόν δέμας έμβριθές τε." Vgl. auch Met. 1.5, 986bl8-987a2, wo es heißt, daß Parmenides - gezwungen, den Erscheinungen nachzugeben - eine Vielheit fllr die Wahrnehmung annimmt und die beiden Prinzipien „Warmes und Kaltes" bzw. „Feuer und Erde" zugrunde legt (vgl. auch De gen. et corr. 318b6, 330bl4). Zu den Begriffen „Feuer und Erde" vgl. Ross (1936: 488): „The identification of the second μορφή with earth must be regarded as a mistake. The second principle is night (cf. S. 25.16) and by this Parmenides means the Pythagorean 'mist', 'air', or 'void' (cf. what Plato makes the Pythagorean Timaeus say, Tim. 58d). Later in the history of Pythagoreanism, fire and earth probably came to be treated as the primary elements (cf. Tim. 31b, and Burnet, § 147), and this may explain Aristotle's words." Ross merkt an, daß man dem Feuer zwar die Eigenschaft der Wärme und der Nacht die Eigenschaft der Kälte zuschreiben kann, doch bezweifelt er, daß dies diejenigen Eigenschaften sind, die Parmenides selbst zuschreiben würde (487 f.). Angemessener wäre es wohl, vom „Hellen und Dunklen" zu sprechen (vgl. Frg. DK 28B9, wo Parmenides von „Licht" (φάος) und „Nacht" (νΰξ) spricht). In 1.5, 189a8-9 spricht er dann ebenfalls von ,,τό μανόν και τό πυκνόν", während er in 1.6, 189a22-23 und 189b9 dann wieder von „μανότης" und „πυκνότης" spricht.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
(c) 'Demokrit': Auch in bezug auf Demokrit weist Aristoteles daraufhin, daß dieser bestimmte Gegensätze zu Prinzipien gemacht habe:13 So findet sich bei ihm sowohl der Gegensatz zwischen dem „Vollen und Leeren" (τό πλήρες και κενόν: a22-23), den Aristoteles als Gegensatz zwischen dem Seienden und Nichtseienden interpretiert, als auch unterscheidet Demokrit die Atome nach Lage, Gestalt und Ordnung, die jeweils Gattungen von Gegensätzen darstellen. In diesem Zusammenhang nennt Aristoteles jedoch nur in bezug auf 'Lage' (oben-unten; vorne-hinten) und 'Gestalt' (gewinkelt-winkellos; gerade-rund), nicht aber in bezug auf Ordnung' die dazugehörigen Gegensätze.14 Mit diesen Beispielen soll nun die zu Beginn aufgestellte Behauptung, daß die Vorgänger Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben (188a 19), als begründet betrachtet werden: δτι μέν οΰν τάναντία πως πάντες ποιοΰσι τάς άρχάς, δήλον (188a26-27).
5.2 Die drei Kriterien einer άρχή (188a27-30) Nachdem Aristoteles durch Beispiele gezeigt hat, daß die Vorgänger Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben, setzt er mit dem Hinweis darauf fort, daß sie auch einen guten Grund (vgl. „ευλόγως": a27) hatten, dies zu tun: Und dies aus gutem Grunde [ευλόγως]. Denn die Prinzipien dürfen weder auseinander sein noch aus anderem [μήτε έ ξ ά λ λ ή λ ω ν ε ί ν α ι μήτε έ ξ ά λ λ ω ν ] , und alles muß aus diesen sein [ κ α ί έ κ τούτων π ά ν τ α ] . D e n ersten Gegensätzen aber kommt [genau] dies zu: W e g e n der Tatsache, daß sie die ersten sind, sind sie nicht aus anderem, und w e g e n der Tatsache, daß sie Gegensätze sind, sind sie nicht auseinander. (1.5, 1 8 8 a 2 7 - 3 0 )
Mit dem Hinweis, daß die Vorgänger aus gutem Grunde (ευλόγως) Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben, ist allerdings nicht gemeint, daß sie diese Gründe selbst für ihre Setzung von Gegensätzen als Prinzipien angeführt haben. Wenig später weist Aristoteles nämlich ausdrücklich darauf hin, daß die Vorgänger ihre „Bestandteile und die von ihnen sogenannten Prinzipien zwar als Gegensätze angesprochen haben, jedoch ohne einen Grund dafiir zu geben (vgl. „άνευ λόγου τιθέντες"), und gleichsam von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wurden" (188b27-30). Mit dem „ευλόγως" ist vielmehr gemeint, daß die Vorgän13
Vgl. auch Met. 1.4, 985b 10-19. Prantl (1854: 29) bezieht den Gegensatz „vorne-hinten" demgegenüber auf die 'Ordnung' (τάξις). Zekl (1987: 243, Fn.48) weist daraufhin, daß Susemihl die Tatsache, daß für τάξις kein Beispiel genannt wird, durch eine Konjektur zu verbessern suchte, indem er „τάξεως" vor ,,πρόσθεν όπισθεν" (a25) einfügte. Ross (1936: 488) hält diese Konjektur für unnötig, da einerseits in De hist. an. 494a20 der Gegensatz ,,πρόσθιον κ α ι όπίσθιον" als eine Differenz von θέσις genannt wird, und da es andererseits für Aristoteles nicht ungewöhnlich ist, daß er hier kein Beispiel anführt. Was mit den Unterschieden der Gattungen gemeint ist, verdeutlicht Aristoteles in Met. 1.4, 985b 15; vgl. dazu Ross (1936: 488): „σχήμα is a characteristic intrinsic to a particular atom; θέσις is the position of one atom relatively to the atoms next it (e.g. AI differs from AH in respect of the θέσις of the second letter relatively to the first); τάξις is the order in which two atoms occur (e.g. ANH differs from NAH in τάξις)."
Die drei Kriterien einer άρχή
173
ger, auch wenn sie selbst keinen Grund für die Setzung ihrer Gegensätze als Prinzipien gegeben haben, gleichwohl einen guten Grund dafür hätten anführen können. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der durch das „ευλόγως" eingeleitete und von Aristoteles in 188a27-30 angeführte Grund für die Setzung von Gegensätzen als άρχαί als derart gut zu betrachten ist, daß er als eine sichere Begründung gelten kann, so daß nun klar ist, daß die Gegensätze Prinzipien sein müssen, oder ob er eher in dem Sinne als gut zu betrachten ist, daß er die Setzung der Gegensätze als Prinzipien lediglich plausibel und wahrscheinlich macht. Der weitere Verlauf des Kapitels 1.5 deutet darauf hin, daß mit der durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation eher eine gewisse Plausibilität als eine unbezweifelbare Sicherheit für die Setzung von Gegensätzen als Prinzipien gegeben ist. Denn wäre letzteres der Fall, so könnte Aristoteles die Untersuchung an diesem Punkte bereits abbrechen und müßte nicht noch eine Untersuchung ,,έπι του λόγου" (188a31) folgen lassen. Der Funktion einer durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation im Sinne einer Begründung, die eine Annahme zwar plausibel und wahrscheinlich macht, sie aber dennoch nicht hinreichend begründet, begegnet man auch an anderen Stellen der Physik,15 So sagt Aristoteles in Phys. III.4 folgendes: Aus gutem Grund [ευλόγως] setzen alle dies [das Unbegrenzte] als Prinzip. Denn weder kann es umsonst [μάτην] vorhanden sein, noch kann ihm eine andere Funktion [δΰναμις] zukommen außer der als Prinzip. Alles nämlich ist entweder Prinzip oder aus einem Prinzip, vom Unbegrenzten aber gibt es kein Prinzip. Denn es wäre eine Grenze von ihm. (III.4, 203b4-7)
Die beiden Textstellen 188a27-30 und 203b4-7 weisen hinsichtlich der Verwendung des Ausdrucks „ευλόγως" folgende Parallelen auf: Beidemal nehmen die Vorgänger etwas aus gutem Grunde an, wobei dieser Grund nicht von ihnen selbst, sondern vielmehr von Aristoteles gegeben wird. Beidemal ist der Grund als ein in dem Sinne „guter Grund" zu betrachten, daß er die Annahme zwar sehr plausibel macht, wobei er jedoch letztlich nicht als Beweis der Annahme fungiert.16 Denn ebenso wie in III.4 die Untersuchung darauf hinauslaufen wird, daß 15
,6
Eine ausführliche Liste derjenigen Textstellen, an denen Aristoteles die Ausdrücke „εύλογος" bzw. „ευλόγως" in ihren unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, findet sich bei LeBlond ( 1 9 3 8 )
·
LeBlond (1938: 32 und 119) spricht in bezug auf die Verwendung des Ausdrucks „ευλόγως" in 1.5, 188a27 von einem „εύλογος dialectique". Diesem „εύλογος dialectique" begegnet man LeBlond zufolge bei Aristoteles auf zweifache Weise: (1) Bezüglich einer Meinung, die von Aristoteles nicht akzeptiert wird („a propos d'une opinion non admise par Aristote"; S. 109); (2) bezüglich einer Meinung, die von Aristoteles akzeptiert wird („a propos d'une opinion admise par Aristote"; S. 119). LeBlond zählt die Verwendung des Ausdrucks „ευλόγως" in 1.5, 188a27 zu den „εύλογος dialectique" bezüglich einer Meinung, die von Aristoteles akzeptiert wird: „Ainsi, avant de prouver, comme nous l'avons dit, qu'il faut nöcessairement poser les contraires comme principes, Aristote, dans les Physiques, reconnatt que cette position est ευλόγως, parce que les premiers contraires remplissent adiquatement les conditions de principe. [...] une explication εύλογος est, en effet, une explication, qui n'est pas forcement vraie, ni necessaire, mais qui, au moins, est ad6quate."(S. 41 f.). Vgl. auch S. 32: „Εύλογος dialectique, on a pu le conjecturer d'apres les exemples apportis jusqu'ici, qualifie le plus souvent une opinion qu'Aristote ne prend pas ä son compte; on le trouve cependant aussi accold, ä des opi-
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
die Setzung des Unbegrenzten als ein Prinzip zwar nicht falsch ist, aber dennoch die Wahrheit nicht als Ganze trifft,17 so wird auch die Untersuchung in Physik I darauf hinauslaufen, daß die Annahme, die Gegensätze seien Prinzipien, zwar nicht falsch ist, aber dennoch die Wahrheit nicht als Ganze trifft: Denn einerseits wird sich zeigen, daß genaugenommen nicht die Gegensätze Prinzipien sind, sondern daß vielmehr die Prinzipien gegensätzlich sind. Und andererseits wird in Kapitel 1.6 deutlich werden, daß die Prinzipien nicht nur gegensätzlich sein dürfen. Schließlich wird die gegensätzliche Struktur der Prinzipien nach Ansicht von Aristoteles auch nicht im Sinne einer konträren Gegensätzlichkeit (έναντία), sondern letztlich im Sinne einer Gegensätzlichkeit von είδος und στέρησις zu verstehen sein (vgl. Kapitel 1.7), die im Vergleich zu einem konträren Gegensatz einen umfassenderen Gegensatz darstellen. Mit dem Ausdruck ,,καί τοΰτο ευλόγως" (188a27) ist abschließend betrachtet folgendes gemeint: Die Vorgänger hatten einen guten - d.h. plausiblen18 - Grund dafür, die Gegensätze zu Prinzipien zu machen, obgleich sie diesen Grund selbst nicht anführten (άνευ λόγου τιθέντες: 188b29). Auch wenn dieser Grund die Wahrheit noch nicht in ihrer Gänze trifft - denn sonst wäre die weitere Untersuchung ,,έπι τοΰ λόγου" ja überflüssig -, liegt doch bereits eine gewisse Wahrheit in ihm. Die mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation, die Aristoteles nun dafür anführt, Gegensätze als Prinzipien zu setzen, besteht darin, daß die Gegensätze folgende drei Kriterien erfüllen, die notwendig sind, damit etwas als ein Prinzip bezeichnet werden kann: (1) Die Prinzipien dürfen nicht auseinander sein (μήτε έξ α λ λ ή λ ω ν ) . (2) Die Prinzipien dürfen nicht aus anderem sein (μήτε έξ ά λ λ ω ν ) . (3) Aus den Prinzipien muß alles sein ( κ α ι έκ τ ο ύ τ ω ν π ά ν τ α ) .
In der von Aristoteles angeführten und durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation wird die Setzung der Gegensätze als Prinzipien einzig mit Hilfe der Bedeutungen der Begriffe 'Gegensatz' (bzw. 'erster Gegensatz') und 'Prinzip' begründet. Allein die Kongruenz der Definitionen von „Prinzip" und „(erster) Gegensatz" legt es nahe, die Gegensätze als Prinzipien zu verstehen. Diese auf die Definition von Begriffen zurückgreifende Argumentationsform läßt sich auch als eine 'begrifflich-logische' (λογικώς) Argumentationsform verstehen, der Aristoteles häufig eine 'sachlich-inhaltliche' (φυσικώς) Argumentationsform gegenüberstellt.19 Frede und Patzig (1988: 59) weisen darauf hin, daß mit einer λογικώς geführten Argumentation bei Aristoteles oft eine
18 19
nions qu 'ilfait siennes, mais qu'il n'apprecie pas alors do point de la v6riti absolue. C'est ainsi qu'avant de prouver lui-meme, par des raisonnements qu'il s'efforce de faire rigoureux, qu'il faut poser les contraires comme principes, il reconnalt que les anciens ont eu raison (και τοΰτο ευλόγως) de le faire; les contraires, en effet, sont parfaitement adaptes ä la fonction de principes: [...]." Aristoteles wird dort nämlich abschließend festhalten, daß das Unbegrenzte als Stoff eine Ursache ist, dessen begrifflicher Gehalt als Privation (στέρησις) zu fassen ist (III.7,207b34-208a4). Vgl. auch die Obersetzung Charlton (1970: 11): „And that is plausible." Vgl. Phys. III.5, 204b3-205a7; An. post. 1.22, 84a8; Phys. III.3, 202a21; De Cael. A7, 275bl2; De gen. et corr. 1.1, 316all; De gen. an. II.7, 747b28; Met. VII.4, 1029bl3; Eud. Eth. 1.8, 1217b21.
Die drei Kriterien einer ά ρ χ ή
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eher sprachbezogene, begriffliche Untersuchung im Gegensatz zu einer inhaltlichen, wissenschaftlichen Untersuchung gemeint sei.20 Im Gegensatz zum Ausdruck „φυσικώς", der für eine Untersuchung steht, die tiefer in die Sache führt, bleibt die Untersuchung „λογικώς" zumeist allgemein und stellt eine eher abstrakt bleibende Annäherung an die Thematik dar. Bostock (1994: 86) hebt in diesem Zusammenhang zu Recht hervor, daß der Ausdruck „λογικώς" bei Aristoteles eine zweifache Bedeutung haben kann, insofern er entweder die 'Definition eines Wesensbegrififs' oder einfach nur 'sprachliche Anmerkungen' meint. Wenn ich die in 188a27-30 angeführte und durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation als eine λογικώς geführte Argumentation verstehe, so meine ich vor allem die in dieser Argumentation im Vordergrund stehende Bezugnahme auf die Definition der Begriffe von „Prinzip" und „(erster) Gegensatz". Aristoteles nähert sich hier der zu untersuchenden Thematik zunächst in einer eher begrifflich-allgemeinen Weise an, um dann in der nachfolgenden Untersuchung ,,έπί του λόγου" eine eingehendere Analyse folgen zu lassen. Ist mit der von mir als „λογικώς" bezeichneten Argumentation, die einen 'guten Grund' dafür anführt, die Gegensätze als Prinzipien zu setzen, eine eher formale und abstrakt bleibende allgemeine Untersuchung der Definitionen von Begriffen gemeint, so ist mit der Untersuchung ,,έπί του λόγου" eine Analyse gemeint, die sich zwar auch an der Sprache (vgl. ,,έπί τοΰ λόγου") orientiert, doch wird hier die Sprache nun eher als Mittel der inhaltlichen Beschreibung von sachlichen Phänomenen und Prozessen verstanden. Das Kriterium (1): „Prinzipien dürfen nicht auseinander sein" Diese notwendige Bedingung für ein Prinzip besagt, daß Prinzipien nicht auseinander bestehen dürfen. Wenn nämlich ein Prinzip χ aus einem Prinzip y bestünde, so wäre y ein Bestandteil von χ und somit früher als x,2' so daß χ folglich kein Prinzip mehr wäre, da es etwas gäbe, das früher als χ wäre (der Ausdruck „άρχή" bezeichnet das Prinzip im Sinne eines „Anfangs"22). Die ersten Gegensätze23 erfüllen dieses Kriterium nun insofern, als sie Gegensätze sind (vgl. „δια δέ τό έναντία μή έξ άλλήλων": 188a30). Aristoteles führt diesen Gedanken selbst nicht weiter aus, doch ist davon auszugehen, daß er hier daran 20
21
23
Vgl. auch Mesch (1994: 99), der den Ausdruck „λογικώς" bei Aristoteles auf eine dialektische, sprachbezogene Untersuchungsweise und den Ausdruck „φυσικώς" auf eine eher der spezifischen Natur der Sache angemessene, sachbezogene Untersuchungsweise bezieht. Daß die Teile ontologisch gesehen früher als das Ganze, dessen Teile sie darstellen, sind, haben wir bereits in Kapitel 1.1 gesehen (vgl. in diesem Zusammenhang auch Pines (1961: 23, Fn.147)). Zur Bedeutung von „άρχή" als Anfang vgl. auch Lumpe (1955: 105): „Das Wort άρχή (vgl. Liddell-Scott, Greek-English Lexicon I, Oxf. 1925, S. 252a) hängt mit dem Verbum αρχειν (erster sein: 1. anfangen, 2. herrschen) zusammen und bedeutet im vulgären Sprachgebrauch 1. Anfang, 2. Herrschaft (erster Platz). Die zeitliche Bedeutung findet sich schon bei Homer (z.B. II. XXII 116); natürlich kommt das Wort in diesem Sinne auch bei den Vorsokratikern häufig vor, z.B. Xenophan. frg 10: »Da von Anfang an (έξ άρχής) alle nach Homer gelernt haben...«". Aristoteles spricht hier nicht von beliebigen, sondern von ersten Gegensätzen, welches bereits auf eine Hierarchisierung der Gegensätze hindeutet.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
denkt, daß z.B. ein Schwarzes nicht aus einem Weißen besteht, da sich die Gegensätze gegenseitig vernichten.24 Es ist hier nicht davon die Rede, daß Gegensätze nicht auseinander werden - in Kapitel I. 4 wurde ja eigens darauf hingewiesen, daß Gegensätze auseinander werden (vgl. „γίγνεσθαι έξ αλλήλων τάναντία": 187a31-32; vgl. auch 1.6, 189al7-20) -,2S sondern vielmehr davon, daß Gegensätze nicht auseinander sind.26 Das Kriterium (2): „Prinzipien dürfen nicht aus anderem sein" Das Kriterium (2) beruht - in Entsprechung zum Kriterium (1) - auf dem Gedanken, daß, wenn ein Prinzip χ aus einem anderen wäre (bestünde), dieses andere früher als das Prinzip χ wäre und χ folglich kein Prinzip mehr darstellen könnte. Den Grund, den Aristoteles hier dafür anführt, daß die ersten Gegensätze dieses Kriterium erfüllen, besteht jedoch nicht mehr darin, daß sie Gegensätze sind, sondern vielmehr darin, daß sie erste sind (vgl. „δια μεν τό πρώτα είναι μή έξ άλλων": 188a29-30). Durch den Ausdruck „erste" soll somit angezeigt werden, daß ihnen nichts anderes vorausliegt. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß den Gegensätzen als ersten Gegensätzen genaugenommen nur keine anderen Gegensätze vorausliegen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß ihnen notwendigerweise auch nichts anderes vorausliegen kann. Obgleich Aristoteles diese Überlegung an dieser Stelle nicht thematisiert, wird sie doch in Kapitel 1.6 insofern von Bedeutung sein, als Aristoteles dort zeigen wird, daß fur die Gegensätze ein ϋποκείμενον, an dem sie vorkommen, vorauszusetzen ist. Gerade weil die Gegensätze das zweite Kriterium nicht als Gegensätze, sondern als erste erfüllen, deutet sich hier bereits eine Differenz von Gegensätzen und Prinzipien an. Denn auch alles andere, das zwar nicht einen Gegensatz darstellt, aber dennoch ein Erstes ist, würde dieses Kriterium ja ebenfalls erfüllen. So wird bereits deutlich, daß nicht nur Gegensätze Prinzipien sein können, auch wenn Aristoteles dies hier noch nicht sagt. Das Kriterium (3): „Aus den Prinzipien muß alles sein" Dem Kriterium (3) liegt folgender Gedanke zugrunde: Wenn nicht alles aus den aufgestellten Prinzipien besteht, so muß es noch etwas anderes geben, das dann selbst entweder ebenfalls ein Prinzip ist oder aber aus einem anderen noch 24 25
26
Vgl. Phys. 1.9, 192a21-22: ,,φθαρτικά γαρ άλλήλιον τά έναντία". In diesem Zusammenhang ist allerdings auf eine zweifache Bedeutung des „Werdens-derGegensätze-auseinander" aufmerksam zu machen. Ist das „Werden-der-Gegensätze-auseinander" in 1.4, 187a31-32 in dem Sinne gemeint, daß die einzelnen Glieder eines Gegensatzes in dem Sinne auseinander werden, daß z.B. ein Weißes aus einem Schwarzen wird, so bedeutet das „Werden-der-Gegensätze-auseinander" in 1.6, 189al7-20, daß einige Gegensatipaare (wie z.B. „weiß-schwarz") insofern aus anderen, früheren Gegensatzpaaren werden, als die Gegensatzpaare auseinander herleitbar sind. Wir sahen in Kapitel 1.4, daß Anaxagoras aufgrund zusätzlicher Prämissen aus der Annahme „Gegensätze werden auseinander" auf die Konklusion „Gegensätze sind auseinander" - bzw. „Gegensätze sind ineinander enthalten" (vgl. ,,ένυπήρχεν αρα": 187a32) - geschlossen hatte. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung ,,τό έναντία μή έξ αλλήλων" (188a30) als eine explizite Abgrenzung zur Theorie von Anaxagoras zu verstehen.
Die Funktion des Kap. I. 5 im Gesamtkontext von Physik A
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nicht erwähnten Prinzip besteht.27 Die Angabe der Prinzipien von etwas impliziert für Aristoteles zugleich die Vollständigkeit der Angabe derselben, da die die Prinzipien als ein ontologisch Erstes ja alles andere begründen sollen. Es fällt jedoch auf, daß Aristoteles im Unterschied zu den Kriterien (1) und (2) hier nun keinen eigenen Grund mehr dafür angibt, wieso auch dieses Kriterium von den Gegensätzen erfüllt wird. Der Grund für das Fehlen einer Begründung kann nur darin gesehen werden, daß die Gegensätze bei genauerem Hinsehen dieses Kriterium auch gar nicht erfüllen. Zwar liegt es zunächst nahe, hier daran zu denken, daß ein kontradiktorischer Gegensatz einen allumfassenden Charakter hat, so daß z.B. jedes Seiende entweder ein Weißes oder ein Nichtweißes ist, schaut man aber genauer hin, so werden angesichts dieser Erklärung folgende Schwierigkeiten deutlich: Zum einen ist hier ja nicht von kontradiktorischen, sondern vielmehr - wie auch die Beispiele deutlich machen - von konträren Gegensätzen (έναντι.α) die Rede. Bei den konträren Gegensätzen kann es jedoch sowohl ein 'Mittleres' geben, als auch sind die konträren Gegensätze anders als die kontradiktorischen Gegensätze keineswegs allumfassend. Zwar läßt sich das Mittlere noch als Mischung aus den beiden konträren Gegensatzglieder herleiten, doch ist es demgegenüber unmöglich, aus dem konträren Gegensatz „weiß und schwarz" diejenigen Entitäten herzuleiten, die farblos sind. Zum anderen wird Aristoteles in 189a32-34 selbst zeigen, daß aus den Gegensätzen insofern nicht alles ist, als er dort darauf aufmerksam machen wird, daß die ουσία nicht aus den Gegensätzen hergeleitet werden kann. Obgleich die durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation vor diesem Hintergrund zunächst einen plausiblen Grund dafür abgibt, die Gegensätze zu Prinzipien zu machen - wobei einschränkend vorausgesetzt wird, daß hier nur von den ersten Gegensätzen die Rede ist -, haben sich bei genauerem Hinsehen jedoch bereits erste Schwierigkeiten ergeben, aufgrund derer eine eingehende Auseinandersetzung mit der These, daß die Gegensätze als Prinzipien zu setzen sind, notwendig zu sein scheint, wie Aristoteles sie im folgenden durchführen wird.
5.3 Die Funktion des Kapitels I. 5 im Gesamtkontext von Physik A Zeichneten sich die vorhergehenden Kapitel vor allem durch eine doxographische Auseinandersetzung mit den Lehren der Vorgänger aus, so beginnt das Kapitel 1.5 zunächst zwar ebenfalls mit einem doxographischen Hinweis auf die gegensätzliche Struktur der Prinzipien bei den Vorgängern, doch scheinen ihre Meinungen nun im weiteren Verlauf des Kapitels zunehmend in den Hintergrund zu treten und durch eigene Überlegungen von Aristoteles ersetzt zu werden, um erst in 188b26-189al0 wieder Erwähnung zu finden.
27
Vgl. Phys. III.4, 203b6: „άπαντα γάρ ή άρχή ή έξ αρχής, [...]."
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Lange Zeit war man der Ansicht, daß Aristoteles seine eigene Theorie der Prinzipien der φύσει δντα erst in Kapitel 1.7 beginnen läßt.28 Die vorhergehenden Kapitel deutete man entweder als Vorbereitung des eigenen Ansatzes, oder man verstand sie sogar bloß als eine bei Aristoteles häufig anzutreffende doxographische Darstellung der Meinungen der Vorgänger, die mit dem eigenen Ansatz nicht wesentlich verbunden ist. Ross äußerte jedoch Zweifel an diesem Konzept und vertrat die Auffassung, daß Aristoteles mit der eigenen positiven Darlegung der ersten Prinzipien bereits in Kapitel 1.5 beginnt: 188 al9. Aristotle begins here [Kapitel 5] his positive account of the first principles. (Ross, 1936: 487)29 Die Ansicht, daß Aristoteles bereits in Kapitel 1.5 mit der eigenen positiven Darlegung der ersten Prinzipien beginnt, hat sich in der nachfolgenden Diskussion innerhalb der Sekundärliteratur weitgehend durchgesetzt, so daß man dort zunehmend der Auffassung begegnet, Aristoteles argumentiere in Kapitel 1.5 bereits von seinem eigenen Standpunkt her.30 Happ betrachtet den Abschnitt 188a27 ff. in Kapitel 1.5 als „aristotelischen Neuansatz", der seiner Ansicht nach sogar unabhängig von dem vorhergehenden doxographischen Bericht und ohne diesen verständlich ist: Dieser aristotelische Neuansatz 188a 27 ff ist unabhängig von dem vorhergehenden doxographischen Bericht und ohne diesen verständlich: Alles Werden vollzieht sich aus, in, zwischen Gegensätzen, modern ausgedrückt: dialektisch, und zwar zwischen 'konträren' Gegensätzen. Also stellt sich - grob gesagt - Aristoteles das Werden nicht als unvermitteltes Aufeinanderprallen das gesamte Sein umspannender Gegensätze vor, sondern als gebändigte Evolution jeweils inmitten beschränkter Seinsbereiche, innerhalb derer sich gleichrangige Gegensätze auf der Ebene eines 'Dritten' treffen. Diese Dreiheit von Prinzipien wird im Folgenden expliziert und gegen Einwände gesichert: [...]. (Happ, 1971: 280) Happ scheint zudem der Ansicht zu sein, daß in den Kapiteln 1.5 und 1.6 - analog zu Kapitel 1.7 - auch bereits die drei Prinzipien vertreten sind, die später explizit als ύλη, είδος und στέρησις herausgestellt werden. Die Funktion des Kapitels 1.7 sieht Happ darin, daß Aristoteles dort „die gefundenen drei Prinzipien unter neuen Aspekten daraufhin prüfen will, ob sie sich nicht letztlich wieder in zwei überführen lassen" (1971: 282). Gleichwohl verwundert es ihn, „daß seit Kap. 4 (187 a l 8 f) das Wort ύ λ η nicht mehr begegnet ist, obwohl Gelegenheit dazu war"):
28
29
Vgl. S. Mansion (1961: 41), A. Mansion ( 2 1946: 70 f.), Weiss (1942: 34), Wieland (1962: 108 f.) u.a. Dieser Ansicht hat sich unter anderem Guzzoni (1975: 40, Fn.17) angeschlossen: „Wir sehen also den entscheidenden Einschnitt in der gleichwohl durchaus einheitlichen und in sich geschlossenen Untersuchung, die das Buch Α darstellt, zwischen dem 4. und dem 5. Kapitel. Mit dem letzteren beginnt Aristoteles' eigene positive Entwicklung des Problems. Allerdings stellen wir uns mit dieser Auffassung in Widerspruch zu fast allen Auslegern dieses Buches, die gewöhnlich erst das 7. Kapitel für die Darstellung von Aristoteles' eigener Lehre halten und dementsprechend die voraufgehenden Kapitel als Vorbereitung fllr die Darstellung ansehen." Vgl. Bostock (1982), Bolton (1991), Irwin (1988) und Happ (1971).
Die Funktion des Kap. I. 5 im Gesamtkontext von Physik A
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Es fällt auf, daß seit Kap. 4 (187 a 18 f.) das Wort ΰλη nicht mehr begegnet ist, obwohl Gelegenheit dazu war, nicht nur im doxographischen Bericht. Da Aristoteles sich ja durchaus nicht scheut, auch bei einem historischen Referat seine eigenen Begriffe zu verwenden, könnte man meinen, in dem 'zeitlich frühen' phys. α sei der Terminus υλη noch nicht so gängig gewesen, daß er sich gleich überall eingestellt hätte. Dem widerrät aber die unbefangene Art, mit der Kap. 4 und 7 (s.u.) das Wort ohne weiteres verwendet wird. Also mag das Fehlen in den Kapiteln dazwischen auf Zufall beruhen. (Happ, 1971: 282, Fn.17)
Demgegenüber scheint es mir jedoch alles andere als auf einen Zufall zurückzuführen zu sein, daß Aristoteles in den Kapiteln 1.5 und 1.6 das Wort „ΰλη" nicht verwendet. Wir werden nämlich sehen, daß Aristoteles in diesen beiden Kapiteln eben noch nicht seine eigene Theorie der drei Prinzipien von ΰλη, είδος und στέρησις darlegt, sondern sich vielmehr auf dem Wege zur eigenen Theorie hin bewegt. Nun scheinen beide Ansichten - sowohl diejenige, die die Darlegung der eigenen aristotelischen Theorie erst in Kapitel 1.7 beginnen läßt und das zuvor Gesagte gleichsam nur als doxographischen Vorbericht versteht, der nicht wesentlich mit dem eigenen Ansatz von Aristoteles verbunden ist, wie auch diejenige, der zufolge Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnt - einen wesentlichen Gesichtspunkt der Funktion der Kapitel 1.5 und 1.6 zu übersehen. Gegenüber der zuerst genannten Interpretation ist hervorzugehen, daß die in den Kapiteln 1.1 bis 1.6 erarbeiteten Überlegungen fur ein Verständnis des in Kapitel 1.7 Gesagten eine wichtige Rolle spielen werden. Aristoteles hebt in seiner Auseinandersetzung mit den Vorgängern gerade diejenigen Aspekte in ihren Theorien hervor, die für den eigenen Ansatz in Kapitel 1.7 insofern von Bedeutung sind, als er sie entweder in modifizierter Form übernimmt oder als er sich von ihnen deutlich abgrenzen will. Es ist zudem darauf hinzuweisen, daß die in 1.5, 188a30 ff. angeführte Argumentation deutlich macht, daß Aristoteles hier seine eigene Terminologie verwendet (vgl. dazu die Bemerkungen zum „Werden aus etwas κατά συμβεβηκός" in 188a33 ff.) und nun keinen Vorgänger mehr mit Namen als Vertreter der dort dargelegten Theorie nennt. Gegenüber der anderslautenden Interpretation, die davon ausgeht, daß Aristoteles mit der positiven Darlegung der eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnt, ist allerdings hervorzuheben, daß sich Aristoteles, wenn er die Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnen würde, mit einigen der in den Kapiteln 1.5 und 1.6 aufgestellten Thesen in einen Widerspruch zu den Ausführungen in Kapitel 1.7 begeben würde. Zu diesen Widersprüchen, auf die vor allem Bostock (1982: 189 ff.) aufmerksam machte, ist z.B. der Umstand zu zählen, daß in Kapitel 1.5 von einer Statue und einem Haus gesagt wird, daß es einen (genau bestimmten) Gegensatz habe (vgl. 188b8-21), während sich Aristoteles in den Kapiteln 1.6 (189a32-33) und 1.7 dafür ausspricht, daß es für die ουσία keinen konträren Gegensatz gibt. Bostock, der davon ausgeht, daß Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in den Kapiteln 1.5 und 1.6 beginnt, deutet diese Widersprüche als Inkonsistenzen innerhalb der aristotelischen Theorie.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Meiner Ansicht nach entwickelt Aristoteles in den Kapiteln 1.5 und 1.6 die Gedanken seiner Vorgänger - wobei er eigene Argumente und eigene Terminologien verwendet -, um sie gleichsam zu seiner eigenen Theorie hinzuführen. Die Kapitel 1.5 und 1.6 stellen somit für Aristoteles einen weiteren Schritt auf dem Weg hin zur eigenen Theorie dar, welches dem bereits mehrfach betonten Untersuchungscharakter dieses Buches entspricht. Zwar hat bereits Bostock diese Interpretationsmöglichkeit als Lösung der offenkundigen Widersprüche zwischen dem in den Kapiteln I.5/I.6 Gesagten einerseits und dem in Kapitel 1.7 Gesagten andererseits in Erwägung gezogen,31 doch verwirft er diese Interpretationsmöglichkeit - „But I think the suggestion is really not very convincing" (1982: 194) , da seiner Ansicht nach kaum ein Zweifel daran bestehen kann, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 in eigener Person argumentiert: There can be little doubt that in chapter 5 he is sincerely arguing in his own person for the (mistake) view that all change is between opposites or an intermediate. (Bostock, 1982: 194)
Nun macht aber gerade der Hinweis in Kapitel 1.7, dem zufolge in Kapitel 1.5 nur Gegensätze als Prinzipien angenommen wurden (vgl. „πρώτον μέν οΰν έλέχθη δτι άρχαί τάναντία μόνον": 191 al 5-17), welches in Kapitel 1.6 zu Aporien führen wird, offenkundig, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch nicht seine eigene Theorie darlegt. Daß das Kapitel 1.5 vielmehr als ein Schritt auf dem Weg zur eigenen Theorie hin zu verstehen ist, wird auch durch folgende Überlegungen deutlich: (1) Es fällt auf, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 - im Gegensatz zu Kapitel 1.7, wo er mehrfach in der ersten Person Singular oder Plural von einem „wir aber sagen ...", „wir dagegen behaupten ...", „ich meine ..." usw. spricht - n nicht in der ersten Person Singular oder Plural redet." In Kapitel 1.5 wird sprachlich eher in unpersönlicher Weise argumentiert (vgl. 188a31: ,,σκέψασθαι πώς συμβαίνει"; a31-32: „ληπτέο ν δή"), und Aristoteles verwendet in bezug auf die Konklusion der dargelegten Überlegungen in 188b21-26 auch den Konjunktiv (vgl. ,,εί τοίνυν τοΰτ' εστίν άληθές, [...] γίγνοιτο [...] και φθείροιτο [...]. ώστε πάντ' αν ε'ίη [...]."). Diese beiden sprachlichen Mittel deuten darauf hin, daß sich Aristoteles selbst in einer gewissen Distanz zu den in Kapitel 1.5 aufgestellten Thesen befindet. Obgleich innerhalb der Argumentationen zweifelsohne aristotelische Theoreme verwendet werden - man denke z.B. an das Werden aus etwas κατά συμβεβηκός (188a34-36) oder an die Differenzierung zwischen dem Allgemeinen als etwas, das dem Begriff nach bekannter ist, und dem Einzelnen als etwas, das der Wahrnehmung nach bekannter ist (189a5-7) -, und obgleich Aristoteles selbst auch seiner eigenen Theorie in
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Vgl. Bostock (1982: 194): „We can develop this line of argument more strongly. It is clear that in chapters 5 and 6 Aristotle represents himself as developing the thought of his predecessors, and in chapter 7 as making a new start and giving us his own views." Vgl. Phys. 1.7, 189b30 (,,ήμεΐς λέγωμεν"); b32 („φαμέν"); b34 („λέγω δέ"); 190a2 („λέγω"); a9 („λέγομεν"); al4: (,,ώσπερ λέγομεν"); al6 („λέγω"); 190b 13 („λέγω"). Einzig in 188 b27 findet sich die Rede in der ersten Person Plural (vgl. „καθάπερ εϊπομεν πρότερον"), die hier jedoch nicht zur Einführung einer eigenen Ansicht, sondern zur Erinnerung an bereits zuvor Gesagtes dient.
Die Funktion des Kap. I. 5 im Gesamtkontext von Physik A
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Kapitel 1.7 eine gewisse Gegensätzlichkeit der Prinzipien zugrunde legen wird, erweckt die Gesamtargumentation doch eher den Eindruck, daß sie zwar von Aristoteles geführt wird, daß er sich aber gleichwohl auch in einer gewissen Distanz zu ihr befindet. Im Gegensatz zu Bostock scheint es mir eher zweifelhaft zu sein, daß Aristoteles hier eindeutig in eigener Person argumentiert. (2) Im Unterschied zu Happ, der meint, daß der Abschnitt 1.5, 188a27 ff. als aristotelischer Neuansatz zu betrachten ist und ohne von den vorhergehenden doxographischen Bericht verstanden werden kann, bin ich der Auffassung, daß das in Kapitel 1.5 Gesagte in einem bewußten Gegensatz zur Theorie von Anaxagoras steht, wie sie in Kapitel 1.4 dargelegt wurde. Aristoteles bleibt auch hier dem bereits mehrfach erwähnten methodischen Weg treu, dem zufolge ausgehend von einer Theorie durch deren Widerlegung zur entgegengesetzten Theorie übergegangen wird, wobei das jeweils in einer Theorie richtig Gesagte festzuhalten ist, um sich so kontinuierlich einer mittleren Position anzunähern. Aufgrund der gegensätzlichen Anordnung des in den beiden Kapiteln 1.4 und 1.5 Gesagten halte ich es für verfehlt, in dem von Happ vorgeschlagenen Sinne einen solchen gedanklichen Einschnitt zwischen den Kapitel 1.4 und 1.5 vorzunehmen, daß mit dem Kapitel 1.5 etwas vollkommen Neues beginnen würde, das unabhängig von dem Vorhergehenden zu verstehen ist. Der Einschnitt verkennt, daß die beiden Kapitel 1.4 und 1.5 in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander stehen. Dieser Gegensatz zwischen den Kapiteln 1.4 und 1.5 läßt sich anhand der folgenden grundlegenden Thesen beider Kapitel verdeutlichen: Abb. 5.1: Die gegensätzliche Struktur der Kapitel 1.4 und 1.5 1.4 Prämissen und Konklusionen der Theorie von Anaxagoras - „Gegensätze sind ineinander enthalten." (187a32) - „Aus Beliebigem wird Beliebiges." (187b24) - „Das Entstehen erweist sich als Eigenschaftsveränderung, andere nennen es 'Vermischen' und 'Entmischen'." (187 a30-l; b23) - Die άρχαί sind der Zahl nach unbegrenzt (vgl. I87a25-6) - „Jedes Werdende wird aus Seiendem als darin bereits Enthaltenem." (187 a32-7) - Das Entstehen des einen bedeutet nicht das Vergehen eines anderen (vgl. 187a 24-5)
1.5 Prämissen und Konklusionen der Theorie der Gegensätzlichkeit der άρχαί - „Gegensätze sind nicht auseinander." (188 a30) - „Beliebiges wird nicht aus Beliebigem, außer im akzidentell zukommenden Sinn." (188 a33-4) - Es ist nur vom Entstehen aus (γίγνεσθαι έξ) und Vergehen zu (φθενρεσθαι εις), nicht aber von der Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) die Rede - Die άρχαί (nur erste Gegensätze) sind der Zahl nach begrenzt (vgl. 188a26-7) - „Jedes Werdende wird aus Gegensätzlichem oder einem Mittleren." (188b21-3) - Das Entstehen des einen bedeutet das Vergehen eines anderen (vgl. 188a35-b21)
Zwar läßt sich in einem weiten Sinne durchaus sagen, daß Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.1 beginnt, sofern man
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
die Darstellung seiner Vorgänger als auf seine eigene Theorie hingeordnet betrachtet; in einem engeren Sinne beginnt die Darlegung der eigenen Theorie jedoch erst in Kapitel 1.7. Das Kapitel 1.5, dessen Aussagen sich deutlich von der in Kapitel 1.4 dargelegten Lehre des Anaxagoras unterscheiden und zum Teil sogar in einem konträren Gegensatz dazu stehen, ist als ein weiterer Schritt auf dem Wege zur eigenen Theorie hin zu betrachten. Zwar ist das in Kapitel 1.5 Gesagte gegenüber der Theorie des Anaxagoras der Sache nach angemessener, gleichwohl aber trifft es Aristoteles zufolge die Wahrheit selbst noch nicht ganz. Vor dem Hintergrund des Untersuchungscharakters des Buches Α der Physik erklären sich dann auch die von Bostock beobachteten Widersprüche zwischen den in den Kapiteln 1.5, 1.6 und 1.7 aufgestellten Thesen in der Weise, als es ja einer Untersuchung eigentümlich ist, daß zuvor Gesagtes durch später Erkanntes modifiziert und korrigiert werden kann. So ist es auch nicht auf einen Zufall, sondern vielmehr auf einen systematischen Grund zurückzuführen, daß in Kapitel 1.5 von der ΰλη noch keine Rede ist. Denn dem Ansatz von Kapitel 1.5 zufolge sollen zunächst ja nur Gegensätze als Prinzipien angenommen werden; erst in Kapitel 1.6 wird dieser Ansatz dann von Aristoteles dahingehend problematisiert, daß die Gegensätze selbst etwas voraussetzen, an dem sie vorkommen.
5.4 Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit επί τοΰ λόγου
(188a30-b26)
Nachdem Aristoteles in Gestalt eines „guten Grundes" die Plausibilität der Setzung von Gegensätzen als Prinzipien gezeigt hat, geht er im nachfolgenden Teil dazu über, dies auch „dem λόγος nach" (έπί του λόγου) zu untersuchen: Aber dies muß auch auf einer sprachlich-argumentativen Ebene [έπί τοϋ λόγου] untersucht werden, wie es sich verhält. (1.5, 188a30-31)
Was hier mit einer Untersuchung „έπί τοΰ λόγου" gemeint ist, wurde bereits angedeutet. Klar ist, daß mit demjenigen, das in der Weise des „έπί τοΰ λόγου" untersucht werden soll, die Setzung der Gegensätze als Prinzipien gemeint ist. Die Tatsache, daß dies auch (και.) „έπί τοΰ λόγου" zu untersuchen ist, deutet auf einen gewissen Gegensatz zur vorangegangenen Argumentation hin. Nach Ansicht von Ross wird mit dem „έπί τοΰ λόγου" nun eine argumentative Begründung für die Setzung der Gegensätze als Prinzipien eingeleitet, die im Gegensatz zum Autoritätsbeweis aus dem vorangegangenen Abschnitt steht: The appeal to argument is contrasted with the appeal to authority ("26). (Ross, 1936: 489)
Diese Interpretation erweist sich jedoch insofern als problematisch, da bereits mit der durch den Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation in 188a2730 eine argumentative Begründung für die Setzung der Gegensätze als Prinzipien gegeben wurde, so daß die Bemerkung, daß dies „auch έπί τοΰ λόγου" zu untersuchen sei, keinen Sinn ergibt, wenn man sie in dem Sinne versteht, daß
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπϊ τοΰ λόγου
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dies „auch argumentativ" zu untersuchen sei. Im Gegensatz zu Ross versteht Charlton das „έπί τοΰ λόγου" nicht in dem Sinne, daß dies auch „argumentativ zu prüfen sei". Charlton sieht in ihm vielmehr den Hinweis auf eine sprachliche Untersuchung:34 [...] 'considering logoi' (Charlton, 1970: 66)
is simply considering speech, or things said, [...]).
Mit dieser Interpretation des ,,έπί τοΰ λόγου" als Hinweis auf eine „sprachliche Untersuchung" läßt sich nun auch eine Erklärung des Ausdrucks ,,καί" (a31) geben, durch das ein gewisser Gegensatz zum Vorhergehenden zum Ausdruck gebracht werden soll. Denn mit der sprachlichen Untersuchung wäre nun insofern ein Gegensatz zu der mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation in a27-30 gegeben, als sich die Argumentation in a27-30 in einem eher formalen und allgemeinen Sinne nur auf die Definition der Begriffe 'Gegensatz' und 'Prinzip' bezog, während mit der Untersuchung έπί τοΰ λόγου nun eine eher inhaltliche Argumentation eingeleitet wird, die insofern als eine Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" bezeichnet werden kann, als sie sich primär an der Sprache orientiert, in der wir über Werdeprozesse sprechen. Stellt also die mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleitete Argumentation eine eher abstrakte und formale Argumentation dar, so ist mit der Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" eine eher inhaltliche, auf die Sache bezogene, sprachliche Untersuchung gemeint, die jedoch nicht als Gegensatz zu einer empirischen Untersuchung zu verstehen ist. Die in der Untersuchung έπί τοΰ λόγου angeführten Beispiele beziehen sich vielmehr darauf, wie wir über die uns in der Wahrnehmung begegnenden Werdeprozesse sprechen. Es wird ausgehend von den Dingen, bei denen sich das Werden sprachlich als ein Prozeß zwischen konträren Gegensätzen beschreiben läßt („Weißes wird aus Schwarzem"), dasselbe Verhältnis auch auf diejenigen Dinge übertragen, bei denen in der Sprache ein Name für den jeweiligen Gegensatz fehlt: „Haus (als Zustand einer bestimmten Ordnung seiner Teile) wird aus dem Zustand des Ungeordnetseins seiner Teile". Vor diesem Hintergrund läßt sich der Gegensatz zwischen der Untersuchung „ευλόγως" und der Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" in einem übertragenen Sinne auch als Gegensatz zwischen einer λογικώς und einer φυσικώς geführten Untersuchung beschreiben. Während die mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleiVgl. auch Tumbull (1976: 49), der von „»logical grammar« of our talk of coming-to-be this or that" spricht. Nach Ansicht von Jones ist Aristoteles hier eher an der Betrachtung linguistischer Phänomene als an einer empirischen Untersuchung interessiert. In bezug auf das Kapitel 1.7 sagt Jones (1974: 478): „Therefore, we may dismiss any suggestion that we are dealing here with an empirical inquiry into change. Rather, he is considering linguistic phenomena (compare, too, 188a31 with 610-11; 190 a l 4 , »just as we speak«; 620-23)." Gegenüber dieser Interpretation sei jedoch darauf hingewiesen, daß die Betrachtung linguistischer Phänomene die gleichzeitige Möglichkeit einer empirischen Untersuchung nicht ausschließt, sondern umgekehrt sogar ermöglicht, insofern die Betrachtung linguistischer Phänomene als Orientierungspunkt in einer empirischen Untersuchung fungiert. Dies gilt um so mehr, wenn die empirische Untersuchung - wie es in Kapitel 1.5 der Fall ist - auf die Gegensätzlichkeit der Werdeprozesse gerichtet ist, die vor allem in der sprachlichen Beschreibung derselben zum Ausdruck kommt.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
tete Argumentation in a27-30 nun eher als eine Untersuchung λογικώς im Sinne einer formalen und allgemein bleibenden Untersuchung der Definitionen von Begriffen zu verstehen ist, ist die Untersuchung ,,έπι του λόγου" in a30 ff. nun eher als eine Untersuchung „φυσικώς" im Sinne einer inhaltlichen und konkret werdenden Argumentation zu verstehen, die insofern als Untersuchung ,,έπι τοΰ λόγου" bezeichnet werden kann, als sie sich primär an der Sprache orientiert, in der wir die uns in der Wahrnehmung begegnenden Werdeprozesse beschreiben. Diese mit Hilfe der Ausdrücke „λογικώς" und „φυσικώς" vorgelegte Gliederung der Untersuchung der Prinzipienhaftigkeit der Gegensätze in Kapitel 1.5 läßt sich auch durch eine in formaler Hinsicht parallel geführte Untersuchung in Physik III.5 stützen. Aristoteles behandelt dort die Frage nach der Existenz eines unbegrenzten Körpers. In Analogie zu Phys. III.5, wo die Frage nach der Existenz eines unbegrenzten Körpers sowohl λογικώς (204b4) mit Hilfe der Definition von „Körper" als auch φυσικώς (204b 10) mit Hilfe einer Einteilung von 'Körper' in 'zusammengesetzte Körper' (σύνθετον) und 'einfache Körper' (άπλοΰν) (204b 10-11) untersucht wird, leitet Aristoteles auch die Untersuchung der Prinzipienhaftigkeit der Gegensätze in Phys. 1.5 zunächst mit einer Definition von „Prinzip" ein, um dann in bezug auf die Untersuchung ,,έπί τοΰ λόγου" ebenfalls mit einer Einteilung der Seienden (τά όντα) in 'einfache Seiende' (άπλα) und 'zusammengesetzte Seiende' (σύνθετα) fortzufahren (vgl. 188b810).
5.4.1 Die Frage nach einem induktiven oder deduktiven Verfahren Zuerst also ist anzunehmen, daß nichts von allem Seienden von Natur aus entweder Beliebiges bewirkt oder Beliebiges von Beliebigem erleidet [δτι πάντων των δντων οϋθέν οΰτε ποιεΐν πέφυκεν οΰτε πάσχειν τό τυχόν ΰπό τοΰ τυχόντος], und auch wird nicht Beliebiges aus Beliebigem [ούδέ γίγνεται ότιοΰν έξ ότουοΰν], außer jemand nähme dies im akzidentell zukommenden Sinn [κατά συμβεβηκός]. (1.5, 188a31-34)
Die Untersuchung ,,έπι τοΰ λόγου" stellt sich im Anschluß an die Einführung dieser Annahmen als zweigeteilt dar: (a) Folgt zunächst eine Untersuchung der Gegensätzlichkeit des Werdens in bezug auf die 'einfachen Seienden' (άπλα δντα: 188a35-b8), so schließt sich dieser eine Untersuchung der Gegensätzlichkeit des Werdens in bezug auf die 'zusammengesetzten Seienden' (σύνθετα δντα: 188b8-21) an. Aus beiden Untersuchungen ergibt sich dann in 188b21 -23 die Konklusion (1): „Wenn dies nun alles wahr ist, dann würde jedes Werdende aus und verginge jedes Vergehende zu Gegensätzlichem und Mittlerem von diesen." Aus der Konklusion (1) wird dann mit Hilfe der zusätzlichen Prämisse „das Mittlere ist aus Gegensätzen" (b23-24) in 188b25-26 die weitere Konklusion (2) hergeleitet: „Alles von Natur aus Werdende wäre entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen." In vereinfachter Form hat die gesamte Argumentation folgende Gestalt:
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπΐ του λόγου Prämissen:
(i) (ii)
185
Nichts von allem Seienden (οντά) bewirkt oder erleidet von Natur aus Zufälliges von Zufälligem (188a31-33) Beliebiges wird nicht aus Beliebigem, außer κατά συμβεβηκός (188a33-34)
Es f o l g t eine Untersuchung bezüglich der (a) ά π λ α δ ν τ α und der (b) σ ύ ν θ ε τ α ο ν τ α , aus der s i c h dann f o l g e n d e K o n k l u s i o n ( 1 ) ergibt: Konklusion:
(1)
Jedes Werdende wird aus und jedes Vergehende vergeht zu Gegensatz oder Mittlerem (188b21-23)
A u s der Konklusion ( 1 ) ergibt sich mit der weiteren Prämisse (iii) dann die K o n k l u s i o n (2): Prämisse: Konklusion:
(iii) (2)
Das Mittlere ist aus Gegensätzen (188b23-25) Jedes von Natur aus Werdende (γιγνόμενον) ist Gegensatz oder aus Gegensätzen (188b25-26)
5 . 4 . 2 D i e Funktion der Prämissen (i) und (ii) D i e in 1 8 8 a 3 0 eingeleitete Untersuchung ,,έπι τ ο υ λ ό γ ο υ " wird in d e n in 1 8 8 a 3 0 - 3 4 eingeführten Prämissen zunächst auf die regelhaften und naturgemäßen (vgl. , , π έ φ υ κ ε ν " : a 3 2 - 3 3 ) W e r d e p r o z e s s e beschränkt. Hierbei w e r d e n die A u s n a h m e n v o n diesen regelhaften W e r d e p r o z e s s e n als 'Werden im akzidentellen S i n n e ' (vgl. „ κ α τ ά σ υ μ β ε β η κ ό ς " : a 3 4 ) zwar nicht geleugnet, g l e i c h w o h l aber w e r d e n sie für die weitere Untersuchung eingeklammert. D e r Grund für d i e s e Einklammerung ist vermutlich darin zu sehen, daß e s Aristoteles z u f o l g e v o n d e m A k z i d e n t e l l e n - e b e n s o w i e v o n d e m B e l i e b i g e n und Zufälligen - k e i n e W i s s e n s c h a f t g e b e n kann (vgl. Met. VI.2). 3 5 So sind diese akzidentellen W e r d e p r o z e s s e in b e z u g auf eine w i s s e n s c h a f t l i c h e Untersuchung zunächst zwar einzuklammern, d o c h sind sie nicht für nichtexistent zu erklären, da sonst die Natur v o n e i n e m Determinismus geprägt sein würde, d e n es für Aristoteles e b e n s o w i e die v o l l k o m m e n e n B e l i e b i g k e i t d e s W e r d e n s ebenfalls z u vermeiden gilt. 3 6
36
Aristoteles scheint die Ausdrücke „Zufälliges" (τυχόν: 188a33, b3, 5, 7, 14), „Beliebiges" (ότιοΰν: 188a34, 187b24) und Jedes" (πάν: 187b2, 188b2) in Phys. I hinsichtlich des Werdens von etwas aus etwas als Synonyme zu verwenden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung verwendet er dann vor allem den Ausdruck „τυχόν" (b3; b5; b7; bl4). Es sei daran erinnert, daß das Zufällige bei Aristoteles filr gewöhnlich mit dem Akzidentellen verbunden ist (vgl. Met. XI.8). Als Gegensatz zum Zufälligen und Beliebigen erweist sich bei Aristoteles dasjenige, was aus Notwendigkeit (έξ ανάγκης) und in der Regel (ώς έπΐ τό πολύ) stattfindet. Zur Einklammerung des Werdens im akzidentellen Sinne vgl. auch Phys. V.l, 224b26-35. In bezug auf die Thematisierung des Zufalls bei Aristoteles bemerkt Gigon (1975: 31): „Es zeigt sich deutlich, daß Aristoteles sich nicht in der Lage gesehen hat, die wahrnehmbare Wirklichkeit vollständig in den Rahmen der theoretischen Vorstellungen einzufügen. Um sich davon zu überzeugen, möge man nur daran denken, daß Aristoteles sich nicht scheut, dem Zufall Raum zu geben, etwa bei seiner Erklärung von Mißbildungen, die bei ihm im Rahmen einer im weiten Sinne verstandenen Zufallstheorie steht; ebenso bezeichnend ist sein Rückgriff auf eine Art blinder und irrationaler »Notwendigkeit«, wenn er gewisse, vor allem abnorme Eigentümlichkeiten im Werden der Dinge erklären will. All das sind Versuche, mit denen Aristoteles das, was nach seinem Wissenschaftsbegriff dem Bereich des Unerkennbaren angehören sollte,
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Spricht Aristoteles in den Prämissen einerseits noch von einem 'Wirken' (ποιεΐν) und 'Leiden' (πάσχειν) und andererseits von einem 'Werden' (γίγνεσθαι) der seienden Dinge (των όντων), so ist in der nachfolgenden Untersuchung und in den abschließenden Konklusionen dann jedoch nur noch nicht mehr von einem 'Wirken' und 'Leiden', sondern nur noch von einem 'Werden aus' (γίγνεσθαι έκ) und 'Vergehen zu' (φθείρεσθαι εις) die Rede. In bezug auf die sich hier anschließende Frage, warum dann das „Wirken" und „Leiden" in den Prämissen überhaupt Erwähnung findet, ist darauf hinzuweisen, daß die Vorgänger den Gegensätzen weitgehend eine aktive Rolle als Ursachen der Bewegung zukommen ließen (vgl. Met. 1.9, 984a22-27). Werden konstituiert sich bei ihnen als Wirkung eines aktiven Prinzips auf ein passives Prinzip, das die Wirkung erleidet (vgl. auch 1.6, 189b 11-22). Vor diesem Hintergrund sind die in den Prämissen erwähnten Begriffe des „Wirkens" und „Leidens", die zugleich in einem Zusammenhang mit den in 1.6 folgenden Aporien stehen,37 als Hinweis auf die Funktion der Prinzipien bei den Vorgängern zu betrachten. 'Wirken' und 'Leiden' stellen für Aristoteles Formen der Bewegung (κίνησις) dar (vgl. Phys. III.3, 202a30-35), bei der das Wirkende als Bewegendes (κινούν) und das Leidende als Bewegtes (κινόμενον) fungiert (vgl. Phys. V.2, 225b 13-16). In deren Relationalst 38 deutet sich bereits an, daß Wirken und Leiden fur Aristoteles nicht in einem Verhältnis der Beliebigkeit zueinander stehen können.39 Irwin scheint der Ansicht zu sein, daß sich die Prämisse (ii) „Beliebiges wird nicht aus Beliebigem" (188a33-34) auf deduktive Weise aus der Prämisse (i) „Nichts von allem Seienden bewirkt oder erleidet von Natur aus Zufälliges von Zufälligem" (188a31-33) ergibt, wenn man voraussetzt, daß jedes Werden als Handlung eines Dings auf ein anderes Ding zu betrachten ist: Aristotle now looks for some general account of change (kinesis) and becoming (genesis), and notices first the consensus that the origins are contraries (189al9-30). Since his predecessors have reached the true conclusion without any argument to give them a good reason for it (188b26-30; cf. PA 642al8-19, Met. 986b31), Aristotle offers an argument (logos, 188a31) for it. He appeals to the general principle that random things do not act on (poiein), and are not acted on by, random things (188a31-4). His appeal is justified only if every becoming is also an action of one thing on another. If it is, and if random action is impossible, random becoming is impossible. (Irwin, 1988: 70)
39
einer Klassifikation oder einem Schema unterwerfen will, das sich einer wissenschaftlichen Systematisierung fügt." In Kapitel 1.6 wird deutlich werden, daß sich Aporien ergeben, wenn nur die Gegensätze als Prinzipien angenommen werden. Eine Aporie wird z.B. darin bestehen, daß die Gegensätze weder aufeinander wirken noch etwas voneinander erleiden können (189a20-27). Vgl. dazu Phys. III. 1, 200b28-32: ,,τοΰ δέ πρός τι τό μέν καθ' ύπεροχήν λέγεται και κατ' έλειψιν, τό δέ κατά τό ποιητικόν και παθητικόν και ολως κινητικόν τε και κινητόν· τό γαρ κινητικόν κινητικόν του κινητού και τό κινητόν κινητόν υπό τοΰ κινητικού." (Vgl. auch Met. V.15, 1021al4ff.). Vgl. auch Apostle (1969: 195, Fn.5): „For example, a body is acted upon by certain things, e.g. by a body, not by a colour or a thought; [...]."
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπϊ τοϋ λόγου
187
Allerdings deutet in dem Abschnitt 188a30-34 nichts daraufhin, daß die Prämisse (ii) als Konklusion aus der Prämisse (i) anzusehen ist.40 Irwin, der die Untersuchung ,,έπί του λόγου" als ein deduktives Argument betrachtet, bei dem sich die Prämisse (ii) als Konklusion aus der Prämisse (i) herleitet, und bei dem die Prämisse (i) von Irwin als ein 'allgemeines Prinzip' {general principle) verstanden wird,41 kritisiert an diesem Argument nun, daß das Werden zwar in der dargestellten Weise als Wirkung von etwas auf etwas beschrieben werden kann, daß es jedoch nicht notwendigerweise so beschrieben werden muß. Zudem reiche die Annahme des nicht auf beliebige, sondern gegensätzliche Weise Verbundenseins der Termini eines Werdens nicht als Erklärung dafür aus, warum sich der Wechsel tatsächlich vollzieht: Aristotle argues inadequately for his proposals. To show that we can redescribe the termini of becoming in his preferred ways is not to show that we should or must. He will convince us on the further point if he shows that his description of the termini displays properties with regular law-like connexions. But he does not show it. If someone is unmusical, that explains why a change is needed for him to be musical; but it does not explain why the change happens, since someone could be unmusical and tone-deaf, and incapable of becoming musical. Similarly, all sorts of things lack the shape of a statue; but this lack is insufficient to explain the coming to be of a statue. (Irwin, 1986: 71) Zwar hat Irwin recht, wenn er sagt, daß das Fehlen einer bestimmten Form nicht hinreichend ist, um das Werden einer Statue zu erklären, doch wird dies von Aristoteles hier auch gar nicht behauptet.42 Gegen Irwins Kritik hat Bolton wie folgt argumentiert: The specific conclusion which he [Aristoteles] argues for in his proof is that all natural change is change in which one thing comes to be from some contrary (either from the exact contrary, as white to black, or from some intermediate contrary, as white to grey 188b21-6). What argument does Aristotle use for this conclusion? It has been suggested by some that Aristotle's argument is deductive, or syllogistic. He starts from a general principle, which he does not justify, that random things do not act on and are not acted on random things (188a31-3). Then he assumes, without stating is, that every becoming is an action of one thing on another and concludes that random becoming, that is, becoming between randomly connected termini, is impossible. This, then, shows that the termini of becoming cannot be contradictories since there are no causal, non-random regularities between contradictories. So the termini must be contraries since there are non-random regular connections between contraries and 40
Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik von Bolton (1991: 23-26) an der Interpretation von Irwin. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Charlton (1970: 66), der den von Aristoteles wenig später ausgesprochenen Gedanken, daß etwas immer aus seinem Gegensatz oder einem Mittleren wird, nicht als eine empirische Annahme, sondern als die rein logische Lehre, daß sich Wechsel in bestimmten Bereichen vollzieht, versteht: „Aristotle says that it is not a matter of chance what comes to be out of what, but a thing always comes from its opposite or something in between. This is not an empirical doctrine to the effect that the universe is regular; it is the purely logical doctrine that change is within definite ranges." Gleichwohl spricht von einem teleologischen Standpunkt aus betrachtet, wie Aristoteles ihn an anderer Stelle in bezug auf das Werden innerhalb der Natur expliziert, vieles dafür, daß das Fehlen einer vollendeten Form als hinreichender Grund für den Erwerb dieser Form betrachtet werden kann (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 8.2.1).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί ' changes can all be described with contraries as their termini. Those who offer this analysis of Aristotle's argument often then go on to criticize him both for supposing that the fact that change can be described in this way shows that it should be, and for the assumption that the termini of change are non-randomly, that is causally, connected. They argue, for example, that the fact that something lacks the shape of a statue is 'insufficient to explain' why it comes to be a statue, i.e. to 'explain why the change happens' [Irwin, First Principles, 70-1]. This objection, however, and the analysis of Aristotle' argument on which it is premissed, miss what it is that Aristotle is trying to show. He is not trying to establish the principle that the contrary state from which a change originates is sufficient to explain, why the change occurs to the other specific contrary state. As we have seen, the contraries are existential principles required, so to speak, to construct change. They 'explain' why change occurs in that limited sense, and not because a given contrary state is sufficient to bring it about, by a causal regularity, that some resulting contrary occurs. [...] So Aristotle is not guilty of the error with which he is charged. Nor does he in fact argue from the principle that things do not act randomly on other things to the conclusion that the termini of change are contraries. He uses the former claim, in the text, only to introduce the discussion of the latter (188a31-4). When he comes to the latter as his reasoned conclusion, at 188b21 ff., he prefaces this conclusion with the phrase: 'if then this is true . . . ' . The 'this' in this case, must refer to the immediately preceding material (188a35-b21). What Aristotle offers us there, however, is simply a review of a full range of cases where natural change (and, in a parallel way, artificial change) occurs. [...] This is the material on which Aristotle explicitly bases his general conclusion and, given this, it seems clear that his own argument (λόγος, 188a31) is an inductive argument. (Bolton, 1994: 23-25)
Im Gegensatz zu Irwin versteht Bolton die Untersuchung ,,έπί τ ο ΰ λ ό γ ο υ " als ein induktives Argument, wobei er dies als weiteren B e l e g zur Stützung seiner These v o m empirischen Charakter des B u c h e s Α der Physik nimmt. Gegenüber dem möglichen Einwand, daß Aristoteles die Prämissen (i) und (ii) doch ohne Begründung gleichsam als α priori Wahrheiten einführt, weist Bolton dann zu Recht darauf hin, daß die unbegründete Setzung apriorisch bekannter physikalischer Gesetzmäßigkeiten am Anfang einer Untersuchung im Widerspruch zu der in Kapitel 1.1 aufgestellten Methodologie stünde, der zufolge man von der Wahrnehmung ausgehend erst zu derartigen Prinzipien gelangen soll: Is it an inductive argument based on things known by experience, as Aristotle has indicated it should be? Some have wanted to argue that it is not. Rather, it has been suggested, Aristotle thinks that the claim that what is white always and only comes to be by nature from some opposite colour, and only accidentally from what is musical, is an a priori or a conceptually truth [See e.g. Charlton, Physics /-//, 66], But there is no clear indication in the text of the argument itself that Aristotle believes this. [... ] There is, then, no good reason to suppose that Aristotle thinks that the premisses of his inductive argument are either a priori or conceptual truths. Rather, since he indicates in Phys, 1.1, and in parallel passages in the Analytics, that the scientist's starting premisses are items of experience, or of what is 'more knowable to perception' (184a24-5), we should conclude that this is the way he views the premisses of his inductive argument here. (Bolton, 1994: 25-26) Auch wenn ich der Interpretation von Bolton vor allem in dem Punkt zustimme, daß sich die Argumentation in 188a35-b21, die zur Konklusion 188b21 -23 führt,
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπΐ του λ ό γ ο υ
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durch einen eher induktiven Charakter auszeichnet, 43 so scheint mir an Boltons Interpretation jedoch die Funktion, die er den Prämissen zukommen läßt, problematisch zu sein. Um nämlich seine These von einer rein induktiven Argumentation halten können, betrachtet Bolton die Prämissen nur als in die Problematik einführend: He uses the former claim [gemeint sind die Prämissen (i) und (ii)], in the text, only to introduce the discussion of the latter (188a31-4). (Bolton, 1991: 24)
Der Grund, warum Bolton die Prämissen als nur in die Problematik einführende Sätze betrachtet, ist vermutlich darin zu sehen, daß die Prämissen aufgrund des negierten Allquantors „πάντων των δντων οΰθέν" (188a32) ja nicht als empirischer Ausgangspunkt für ein induktives Argument fungieren können. Daß die Prämissen jedoch nicht nur als in die Problematik einführend, sondern vielmehr als mit der Argumentation unmittelbar verbunden zu betrachten sind, wird daraus ersichtlich, daß ein logischer Zusammenhang zwischen den Prämissen (188a31-34) und der Konklusion (188b21-23) besteht: Wird in den Prämissen gesagt, daß kein Seiendes (πάντων των δντων οΰθέν: 188a32) Zufälliges bewirkt oder Zufälliges von Zufälligem erleidet, bzw. daß Beliebiges nicht aus Beliebigem wird, so lautet die Konklusion, daß jedes Werdende (απαν τό γιγνόμενον: 188b21-22) aus Gegensätzlichem oder Mittlerem wird, bzw. daß jedes Vergehende zu Gegensätzlichem oder Mittlerem vergeht. In einer vereinfachten Form bedeutet dies, daß ein Übergang von der Prämisse „kein Werdendes wird aus einem Beliebigen" zur Konklusion ,jedes Werdende wird nicht aus einem Beliebigen" stattfindet. Nun wird in der Konklusion jedoch nicht nur diese schwache (negative) Behauptung J e d e s Werdende wird nicht aus einem Beliebigen" aufgestellt - diese Konklusion wäre allein auf formale Weise ohne eine weitere inhaltliche Argumentation aus der Prämisse durch eine Quantorenumwandlung herleitbar -, sondern es wird vielmehr die stärkere (positive) Behauptung ,jedes Werdende wird aus Gegensätzlichem oder Mittlerem" aufgestellt. In dem nun vorliegenden Schluß von der Prämisse „kein Werdendes wird aus einem Beliebigen" zur Konklusion J e d e s Werdende wird aus Gegensätzlichem oder Mittlerem" verfügt die Konklusion über einen in den Prämissen nicht enthaltenen und neu hinzugekommenen Inhalt, der einer weiteren inhaltlichen Argumentation bedarf und nicht allein auf formale Weise herleitbar ist. Diese inhaltliche Argumentation findet sich in der zwischen den Prämissen und der Konklusion befindlichen Argumentation 188a35-b21. Vor diesem Hintergrund wird nun deutlich, daß wir es weder mit einem rein deduktiven noch mit einem rein induktiven Argument zu tun haben. Vielmehr liegt eine Verflechtung von beidem vor: Mit einem deduktiven Argument haben wir es insofern zu tun, als formal gesehen der negierte Existenzquantor in der Prämisse durch einen Allquantor in der Konklusion ersetzt wird. Hierbei ist die Prämisse zunächst als 43
Für den induktiven Charakter dieser Argumentation spricht auch der Umstand, daß Aristoteles in Phys. V.5, 229a30 ff. die Bewegung von einem Entgegengesetzten zu einem Entgegengesetzten durch Beispiele aus der Erfahrung (vgl. ,,δήλον δέ και έκ της έπαγωγής": 229b2-3) stützt (vgl. auch Met. XI. 11, 1067b9-14 und Phys. V.l, 224b26-35).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Behauptung zu verstehen, die im weiteren Verlauf bewiesen werden soll. Mit einem induktiven Argument haben wir es jedoch insofern zu tun, als mit dem „Werden aus einem Gegensätzlichen oder Mittleren", das eine positive Formulierung des „Werdens nicht aus einem Beliebigen" darstellt, in der Konklusion ein neuer Inhalt hinzutritt, der in 188a35-b21 durch die Analyse von sprachlichen Beschreibungen der zu beobachtenden Werdeprozesse auf induktive Weise begründet wird. Daß nun die Prämissen in 188a31-34 selbst keineswegs begründungslos und gleichsam als α priori Wahrheiten eingeführt werden, wird vor allem daraus deutlich, daß sich Aristoteles bereits in Kapitel 1.4 in bezug auf Anaxagoras eingehend mit der These des Werdens eines Beliebigen aus einem Beliebigen auseinandergesetzt hat. In Kapitel 1.4 lautete eine der grundlegenden Annahmen des Anaxagoras wie folgt: (1) „Beliebiges wird aus Beliebigem" (187b24) bzw. J e des wird aus jedem" (187b2). Negiert man diese These (1), so erhält man die Aussage „es gilt nicht, daß jedes aus jedem wird", die mit folgender Aussage logisch äquivalent ist: „es gibt wenigstens ein χ und ein y, für die gilt, daß * nicht aus y wird". Nun sahen wir, daß Aristoteles in seinen Widerlegungen der These (1) einerseits zeigte, daß es irgendwann etwas gibt (nämlich das übriggebliebene Wasser), aus dem sich kein Fleisch mehr aussondert, während er andererseits zeigte, daß es etwas gibt (das kleinste Fleischteil), aus dem nichts mehr wird. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, daß die These (1) Jedes wird aus jedem" von Aristoteles im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Anaxagoras bereits argumentativ widerlegt worden ist, so daß die Prämisse in 1.5, 188a31-34, der zufolge gesagt wird, daß „Beliebiges nicht aus Beliebigem wird (außer in einem akzidentellen Sinne)", nicht vollkommen begründungslos in die Argumentation eingeführt wird. Gleichwohl ist hervorzuheben, daß aus der Negation der These (1) „Beliebiges (jedes) wird aus Beliebigem (jedem)" nicht unmittelbar das konträre Gegenteil folgt, nämlich daß kein Beliebiges aus einem Beliebigen wird. Aus diesem Grunde wird die Prämisse in 188a31-34 auch dahingehend abgeschwächt, daß sie nicht für ein Werden κατά συμβεβηκός Gültigkeit hat, da hier das Werden von einem Beliebigen aus einem Beliebigen (z.B. von einem Weißen aus einem Gebildeten) möglich ist. Zudem läßt Aristoteles im Anschluß an die Einführung dieser Prämissen eine Begründung (vgl. „πώς γαρ αν"...: 188a35) derselben folgen.
5.4.3 Das Werden aus Gegensätzen (188a30-b21) Die sich an die Prämissen anschließende Argumentation gliedert sich in eine Untersuchung der (i) 'einfachen Seienden' (άπλα δντα) und der (ii) 'zusammengesetzten Seienden' (σύνθετα δντα). Diese Disjunktion von „einfach oder zusammengesetzt" ist hier als eine vollständige Disjunktion anzusehen, die es erlaubt, aus beiden Untersuchungen zur Konklusion bezüglich eines ,-jeden Werdenden" und eines Jeden Vergehenden" überzugehen.
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπϊ τοϋ λόγου
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5.4.3.1 Die 'einfachen Seienden' (τά άπλα των όντων: 188a35-b8) Denn wie sollte wohl ein Weißes aus einem Gebildeten werden, wenn nicht das Gebildete ein Akzidens [συμβεβηκός] für das Nichtweiße oder Schwarze ist? Sondern ein Weißes wird aus einem Nichtweißen, und in bezug auf dieses nicht aus jedem, sondern aus einem Schwarzen oder einem der Mittleren; und ein Gebildetes wird aus einem Nichtgebildeten [ούκ έκ μουσικοΰ], 4 4 nur nicht aus jedem [Beliebigen], sondern aus einem Ungebildeten oder einem der Mittleren, wenn es dies gibt. Also vergeht es auch nicht zum ersten Beliebigen, wie z.B. das Weiße nicht zum Gebildeten, außer vielleicht einmal nebenbei zukommend, sondern zum Nichtweißen, und auch nicht zu Beliebigem, sondern zum Schwarzen oder Mittleren. In derselben Weise vergeht das Gebildete zum Nichtgebildeten, und dies nicht zu Beliebigem, sondern zum Ungebildeten oder Mittleren, wenn es dies gibt. (1.5, 188a35-b8)
Der in bezug auf das (a) Werden aus (γίγνεσθαι έκ) und das (b) Vergehen zu (φθείρεσθαι εις) zweigeteilte Abschnitt über die einfachen Seienden (άπλα οντά), für die die Beispiele ,,τό λευκόν", ,,τό μέλαν", ,,τό μουσικόν", ,,τό άμουσον" und die jeweiligen Mittleren (τό μεταξύ) angeführt werden,45 beginnt mit einer Begründung der These, daß Beliebiges - außer im akzidentell zukommenden Sinn - nicht aus Beliebigem wird: „Denn wie sollte wohl ein Weißes aus einem Gebildeten werden, wenn nicht das Gebildete ein Akzidens für das Nichtweiße oder Schwarze ist?" Ein Weißes scheint somit eigentlich aus einem Nichtweißen oder Schwarzen zu werden und nur im akzidentellen Sinne aus einem Gebildeten werden zu können, wenn das Gebildete ein Akzidens für das Nichtweiße oder Schwarze ist, aus dem das Weiße wird. Ein Interpretationsproblem, dem wir bereits in Kapitel 1.3 begegnet sind, liegt auch hier in der Doppeldeutigkeit solcher Ausdrücke wie z.B. ,,τό λευκόν", das sowohl das 'Weiße' im Sinne eines Dings46 als auch 'weiß' (bzw. die Weiße) im Sinne einer Eigenschaft47 bezeichnen kann. Wagner übersetzt den Abschnitt 188a35-188bl wie folgt: Denn wie wäre es denkbar, daß ein Gebildetes weiß würde, wenn die Bestimmtheit 'gebildet' nicht eine zusätzliche Bestimmtheit an dem Gegenstand wäre, der (primär) dadurch gekennzeichnet ist, daß er nicht weiß war (und also weiß erst wird) oder schwarz war? (Das wesentliche Verhältnis kann) vielmehr (immer nur dies sein, daß) 44 45
46
47
Vgl. Ross (1936: 489): „ούκ έκ μουσικοΰ idiomatically = έξ ού μουσικοΰ." Daß die hier genannten Beispiele zu den „άπλα των όντων" zu zählen sind, läßt sich aus dem Beginn der Untersuchung der σύνθετα των δντων ersehen (188b8-10): „In gleicher Weise aber gilt dies auch bezüglich der anderen, da auch die Nicht-Einfachen, sondern Zusammengesetzten unter den Seienden im selben Verhältnis stehen." In diesem Sinne verstehen z.B. Bolton (1991: 23), Wieland (1962: 114) und Bröcker ("1974: 58) den Ausdruck ,,τό λευκόν" hier. Prantl (1854: 31) übersetzt zunächst ebenfalls in diesem dinglichen Sinne: „Denn wie sollte das Weiße aus dem Schwarzen werden, außer wenn nicht das 'Gebildet' ein an dem Weißen oder Schwarzen eben bloß vorkommendes wäre?" Doch dann setzt er in seiner Übersetzung wie folgt fort: „Sondern Weiß wird aus Nicht-Weiß ...", um dann wieder zur dinglichen Auffassung „das Weiße", „das Gebildete" zurückzukehren. In diesem Sinne verstehen z.B. Zekl (1987: 27), Bostock (1982: 190), Guzzoni (1975: 41) und Hardie/Gaye (1930) den Ausdruck ,,τό λευκόν" hier. Wicksteed/Cornford (1980: 53) verwenden in ihrer Übersetzung die abstrakten Termini „culture" und „pallor". Happ (1971: 291) betrachtet den Unterschied zwischen den άπλα övca und den σύνθετα οντά als einen Unterschied zwischen 'akzidentellen Vorgängen' und 'substantiellem Werden'.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί' ein N i c h t w e i ß e s weiß wird, und zwar nicht ein Gegenstand von beliebiger Bestimmtheit, sondern ein schwarzer oder ein solcher, dessen Bestimmtheit einen Wert innerhalb der Dimension Schwarz-Weiß darstellt. (Wagner, 1967: 18)
Wagner, der die Gegensätze hier als Eigenschaften bzw. Bestimmtheiten versteht,48 übersetzt diesen Abschnitt jedoch nicht wörtlich, da er in seiner Übersetzung „denn wie wäre es denkbar, daß ein Gebildetes weiß würde, [...]" den Ausdruck ,,έκ" (188a35) unberücksichtigt läßt. Nimmt man das ,,έκ" jedoch ernst, so wird deutlich, daß man nicht sagen kann „aus einem Gebildeten wird weiß", denn dies würde ja bedeuten, daß aus einem Ding eine Eigenschaft würde; vielmehr muß man mit Hilfe des Ausdrucks „aus" entweder sagen „aus einem Gebildeten wird ein Weißes" oder aber „aus gebildet wird weiß". Irwin (1988: 70), der den Ausdruck ,,έκ" ebenfalls nicht berücksichtigt, übersetzt wie folgt: „The white thing became musical." In einer Fußnote merkt er an, daß die konträren Gegensätze, zwischen denen das Werden hier statthat, entweder durch die neutrale Form eines Adjektivs (τό μουσικόν, 188a36) oder durch abstrakte Nomen (άναρμοστία, 188b 14) repräsentiert werden. Seiner Ansicht zufolge behandelt Aristoteles die Gegensätze hier als Eigenschaften, welches er mit dem Hinweis auf ein bei Charlton zu findendes Argument begründet: The contraries involved in becoming and perishing are referred to both by neuter adjectives (to mousikon etc., 188a36) and by abstract nouns (anharmostia, 188b 14). Charlton reasonably remarks, [1970], 68, that Aristotle treats the contraries as properties, not things. However, he also seems to refer to the compound of a subject with a contrary; this is the hermosmenon in 188bl2. (Irwin, 1988: 510, Fn.63)
Hierzu ist jedoch zu sagen, daß Irwin mit seinem Rückgriff auf ein bei Charlton zu findendes Argument fiir die These, daß Aristoteles mit den Gegensätzen Eigenschaften gemeint habe, einem Druckfehler aufgesessen ist. Denn Charlton (1970: 67) weist in bezug auf Kapitel 1.5 zunächst nur daraufhin, daß der Ausdruck ,,τό λευκόν" sowohl das Weiße als auch die Weiße (weiß) meinen kann: Second, it is unclear whether the opposites are entities the correct expressions for which would be abstract, like 'pallor', 'knowledge of music', or concrete, like 'pale thing', 'thing which knows music'. Aristotle uses the neuter adjective with the definite article, which may be taken either way. We shall have to settle this point too when we come to chapter 7. (Charlton, 1970: 67)
In Kapitel 1.7 will Charlton dann jedoch ,,τό λευκόν" ausdrücklich im konkreten Sinne als 'das Weiße' verstanden wissen: Nevertheless, translators and commentators seem agreed that the factors distinguished when a man learns music are not the man, ignorance of music, and knowledge of music, but the man, the thing which is ignorant of music, and a thing which knows music. (Charlton, 1970: 70)
48
Vgl. auch seinen Kommentar (1967: 417), wo Wagner von „Bestimmtheiten" (weiß, gebildet) und einem „Bestimmtheitswechsel" spricht.
D i e Untersuchung der Gegensätzlichkeit έ π ί τοΰ λ ό γ ο υ
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Zwar spricht Charlton in der Tat an der von Irwin angegeben Stelle auf Seite 68 davon, daß die Gegensätze von Aristoteles als Eigenschaften behandelt werden: [ . . . ] First, if the opposed principles are taken as properties, like density and rarity, or love and strive (poetic names for combination and dissolution) they cannot act on o n e another, but there must be some third thing on which they act (188b22-6). Aristotle is unquestionably treating the opposites as properties, not things, here, [ . . . ] . (Charlton, 1970: 6 8 )
Doch sagt Charlton dies im Kontext von Kapitel 1.6. Die angegebene Textstelle, auf die sich das „here" bezieht, lautet zwar „188b22-6" und wäre somit in Kapitel 1.5 zu finden, doch aus dem Kontext heraus wird offensichtlich, daß dies ein Druckfehler ist und dort statt „188b22-6" korrekterweise „189b22-6" stehen müßte. Meines Erachtens sind die Gegensätze ,,τό λευκόν - τό μ έ λ α ν " und ,,τό μουσικόν - τό άμουσον" in Kapitel 1.5 aus folgenden Gründen in einem dinglichen Sinne als „das Weiße - das Schwarze" und „das Gebildete - das Ungebildete" zu verstehen: (1) Zunächst ist zu bedenken, daß sich Aristoteles in Kapitel 1.5 immer noch in einer Auseinandersetzung mit den Vorgängern befindet, die die Gegensätze, die sie zu Prinzipien machen, in einem dinglichen Sinne aufgefaßt haben. 49 Ihrer Ontologie zufolge gibt es gerade nicht einerseits Substanzen und andererseits Eigenschaften an diesen Substanzen, sondern es gibt nur Dingliches, das sich in entweder einfaches Dingliches oder aber zusammengesetztes Dingliches gliedern läßt. Der Aufbau der in Kapitel 1.5 zugrunde gelegten Ontologie aus 'Einfachem' ( ά π λ α ) oder 'Zusammengesetztem' (σύνθετα) wird von Aristoteles aus Sicht seiner Vorgänger beschrieben und beruht anders als in Kapitel 1.7, wo ein begrifflich-logisches Kriterium der Einteilung von 'Einfachem' ( ά π λ α ) und 'Zusammengesetztem' (συγκείμενα) zugrunde liegt, auf einem materiellen Kriterium. (2) Der Satz 188a35-36 („denn wie sollte wohl aus einem μουσικόν ein λευκόν werden, wenn nicht das μουσικόν ein Akzidens für das μή λευκόν oder μ έ λ α ν wäre") deutet darauf hin, daß „ μ έ λ α ν " und ,,μή λ ε υ κ ό ν " als „ein Schwarzes" und „ein Nichtweißes" zu verstehen sind, da der Eigenschaft 'schwarz' (Schwärze) oder 'nichtweiß' (Nichtweiße) j a nicht noch ein weiteres Akzidens (μουσικόν) zukommen kann; 50 vielmehr kommt τό μουσικόν einem Schwarzen oder einem Nichtweißen als Akzidens zu. (3) Den Satz 188a36-37 ( „ ά λ λ α λευκόν μέν γ ί γ ν ε τ α ι έξ ού λευκοΰ") verstehe ich in 49
Vgl. Graeser (1989: 18), der in bezug auf Anaximanders Fragment DK 12A9 sagt: „[...] daß die hier genannten Gegensätze in der frühen griechischen Philosophie eben nicht in unserem Sinne als Eigenschaften angesehen wurden. Sie galten vielmehr als Dinge, die sozusagen agieren und deshalb bisweilen auch Kräfte (dynameis) heißen." Vgl. auch Solmsen (1960: 82): „What mainly separates him [Aristoteles] from his precursors is that his contraries have no materiality, no independent existence, and no independent power; in fact, they are no longer »powers.«" Vgl. auch Williams (1985: 69): „The 'unnaturalness' of saying that the musical is white may be expressed in metaphysical terms by saying that a quality like whiteness can inhere only in a substance like man, not in another quality like musicality; [...]. The claim that accidents cannot inhere in other accidents says in the material mode what is said in the formal mode by the claim that predicates cannot attach directly to other predicates but only to names." Vgl. auch An. post. 1.22, 83a4-18 und Met. IV.4, 1007a33 ff.
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dem Sinne, daß ein Weißes aus einem Nichtweißen wird. Die alternative Übersetzungsmöglichkeit „weiß (bzw. Weiße) wird aus nichtweiß (bzw. aus Nichtweiße)" erweist sich aus dem Grunde als problematisch, da die Eigenschaften Aristoteles zufolge selbst keiner Veränderung unterliegen. 5 ' Daß die Weiße aus der Schwärze wird bzw. zur Schwärze vergeht, ist nur in dem Sinne möglich, daß die Schwärze an etwas durch die Weiße abgelöst wird. Dies bedeutet jedoch eher einen Wechsel der Eigenschaften als das Werden einer Eigenschaft aus einer anderen. Damit dieser Wechsel möglich ist, muß zudem ein Zugrundeliegendes (ύποκείμενον) vorausgesetzt werden, an dem die Eigenschaften wechseln. Von einem ύποκείμενον, das erst in Kapitel 1.6 thematisiert wird, ist in Kapitel 1.5 jedoch noch keine Rede. Aus diesem Grunde scheint mir auch der von Zekl vorgelegte Übersetzungsvorschlag „weiß wird etwas nur aus einem nicht-weißen Zustand" (1987: 27), der zwar das Problem erkennt, daß Eigenschaften nicht auseinander werden können und dies durch die Hinzufiigung des Wortes „etwas" zu vermeiden sucht, verfehlt zu sein, da von einem „etwas" - d.h. von einem „τι" als ύποκείμενον - im Text selbst noch keine Rede ist. (4) Versteht man - wie Happ dies tut - die Differenzierung zwischen den ά π λ α δντα und den σύνθετα δντα in dem Sinne, daß mit ersteren die Eigenschaften und mit letzteren die Substanzen gemeint sind, so daß bei den ά π λ α δντα von einer Eigenschaftsveränderung, bei den σύνθετα δντα aber von Entstehen und Vergehen die Rede ist,52 so ergeben sich folgende Schwierigkeiten: Aristoteles spricht sowohl in bezug auf die σύνθετα wie auch in bezug auf die ά π λ α δντα von einem 'Werden aus' und 'Vergehen zu'. Auch wenn Aristoteles selbst das Werden eines Weißen aus einem Schwarzen als Eigenschaftsveränderung und das Werden eines Hauses als substantielles Werden versteht, so ist hier von einer Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) als Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) jedoch noch keine Rede. Zudem stellt sich angesichts der von Happ vorgeschlagenen Interpretation die Frage, worin nun der Grund zu sehen ist, daß die Eigenschaften als 'einfach' (άπλα), die Substanzen jedoch als 'zusammengesetzt' (σύνθετα) bezeichnet werden? Sind die Substanzen nicht ebenso einfach wie die Eigenschaften, so daß diesem Ansatz zufolge eigentlich sowohl die Eigenschaften wie die Substanzen zu den einfachen Seienden zählen müßten, aus deren Zusammensetzung sich erst so etwas wie ein zusammengesetztes Seiendes (z.B. 'weißes Haus') ergibt? Hiervon ist in unserem Zusammenhang jedoch keine Rede. Nicht erst das weiße Haus, sondern das Haus wird in 188b 10-21 bereits als ein σύνθετον und als eine 51
Vgl. Met. VIII.5, 1044b21 f.; XII. 1, 1069b3; Phys. V . l , 2 2 4 b l 0 - 2 2 und 1.9, 192a22-25. Die Einsicht, daß die Eigenschaften selbst keiner Veränderung unterliegen, ist als ein Erbe Piatons anzusehen, der im Phaidon (70d-71d und 102d-103c) ausführlich darlegt, daß zwar ein Großes aus einem Kleinen, nicht jedoch die Größe aus der Kleinheit werden kann. Vgl. Happ (1971: 290 f.): „Dieses Korrigieren der Sprache von der 'Sache' aus zeigt sich sehr deutlich auch etwa phys. α 5, 188b8-l 1: Daß sich das Werde-Geschehen zwischen einander zugeordneten Gegensätzen abspiele, könne man bei 'einfachen' Dingen (d.h. de facto: bei akzidentellen Vorgängen) an der Sprache ablesen, welche den Obergang von μ έ λ α ς —> λευκός, α μ ο υ σ ο ς —> μ ο υ σ ι κ ό ς usw. deutlich benenne; dieselbe Gegensatz-Struktur liege aber auch beim 'Zusammengesetzten' (d.h. soviel wie: beim substantiellen Werden) vor, obwohl hier die Sprache das eine Gegensatz-Glied nicht ausdrücke (also eine 'Leerstelle' aufweist): [...]."
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σύνθεσις bezeichnet. (5) Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Kapitel 1.5 nicht von seinen vorangegangenen und nachfolgenden Kapiteln isoliert gelesen werden darf. In Kapitel 1.4 aber wird ,,τό λευκόν" eindeutig in einem dinglichen Sinne als 'das Weiße' verstanden (vgl. 187M-7, wo „λευκόν" neben „σάρκα" (Fleisch) und ,,όστοΰν" (Knochen) als „πράγμα" (Ding) angeführt wird; vgl. auch „λευκόν τι" in 188a6).53 (6) Aristoteles spricht in seinen Prämissen neben dem 'Werden aus' auch von einem 'Wirken' (ποιεΐν) und Leiden (πάσχειν) der seienden Dinge, welches ebenfalls darauf hindeutet, daß die άπλά δντα als Dinge - und nicht als Eigenschaften - aufzufassen sind, da von Eigenschaften wohl weniger ein Wirken oder Leiden ausgesagt werden kann.54 Vor diesem Hintergrund ergibt sich nun folgendes Bild: Nachdem die Werdeprozesse κατά συμβεβηκός eingeklammert worden sind, da sie aufgrund ihrer Beliebigkeit ein wissenschaftliches Erkennen nicht zulassen, soll im folgenden von den nicht-akzidentellen und 'eigentlichen' bzw. 'naturgemäßen' (vgl. dazu den in den Prämissen hinzugefugten Ausdruck ,,πέφυκεν") Werdeprozessen gesprochen werden. Bei diesen gilt zunächst, daß etwas! aus etwas2 wird, wobei das 'etwas 2 ' vom 'etwasi' verschieden ist: Ein Weißes wird zunächst einmal aus einem Nichtweißen. Dies leuchtet insofern ein, als ein Weißes, wenn es aus einem Weißen würde, eigentlich nicht würde, da es j a schon wäre.55 Die Formel >Tx wird aus nicht-*" stellt die allgemeinste sprachliche Formel für die Beschreibung eines Werdeprozesses dar. Nun reicht diese Bestimmung jedoch nicht aus, um die Möglichkeit des Werdens von Beliebigem aus Beliebigem auszuschließen, da ja auch „das Gebildete" unter den kontradiktorischen Gegensatz des „Nichtweißen" fallen kann. Aus diesem Grunde fährt Aristoteles wie folgt fort: „Aber nicht aus jedem Nichtweißen, sondern aus einem Schwarzen oder Mittleren." Hier wird nun der kontradiktorische Gegensatz „Nichtweißes" durch einen konträren Gegensatz „Schwarzes" oder „Mittleres" ersetzt, der die Möglichkeit des Werdens von einem Beliebigen aus einem Beliebigen ausschließt und das Werden als Werden von etwas aus einem Bestimmten konstituiert. Dieses Bestimmte wird jedoch nicht auf ein einziges Ding begrenzt, da auch die Mittleren
54
55
Analog dazu werden wir auch in Kapitel 1.7 sehen, daß dort mit den Beispielen ,,τό μουσικόν" und ,,τό μή μουσικόν" nicht die Bildung oder Nichtbildung, sondern das Gebildete und Nichtgebildete gemeint sind. Die Eigenschaften sind selbst nicht das Erleidende, sondern vielmehr dasjenige, was ein Seiendes 'erleidet'. Zwar spricht Aristoteles in Kapitel 1.6 von einem „Wirken" (ποιεΐν) der Gegensätze „Dichte und Dünne" bzw. „Streit und Liebe", doch wurde bereits daraufhingewiesen, daß diese durch abstrakte Termini bezeichneten 'Kräfte' der Vorgänger eine offenkundig dingliche Funktion haben. Aristoteles bezeichnet die Gegensätze dort mit Hilfe von abstrakten Termini, weil er ihren (von den Vorgängern übersehenen) eigenschaftlichen Charakter hervorheben will, dem zufolge notwendig ein ϋποκείμενον für diese zugrunde gelegt werden muß. Vgl. dazu die gegen die Möglichkeit des Werdens aus einem Seienden gerichtete Argumentation der Eleaten in Phys. 1.8, 191 a2-31. Zugleich ist mit dem Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen ein Gegensatz zur Theorie von Anaxagoras ausgedrückt, der zufolge ein Weißes ja genaugenommen nicht aus einem Schwarzen wird, sondern sich aus einem Schwarzen bloß aussondert, so daß hier von einem Werden im Sinne eines Entstehens eigentlich keine Rede sein kann, da es vor der Aussonderung bereits ist.
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zwischen den konträren Gegensatzgliedern in Betracht gezogen werden.56 In Analogie zum Weißen und Schwarzen wird auch ein Gebildetes zunächst aus einem Nichtgebildeten, jedoch nicht aus jedem Nichtgebildeten, sondern nur aus dem Ungebildeten oder Mittleren, wenn es dies gibt." Umgekehrt ergibt sich, daß ein Gebildetes auch nicht zu einem Beliebigen, sondern zu einem Nichtgebildeten vergeht, und zwar genauer zu einem Ungebildeten oder Mittleren, wenn es dies gibt. Analog dazu vergeht ein Weißes auch nicht zu einem Beliebigen, sondern zu einem Nichtweißen, und zwar genauer zu einem Schwarzen oder Mittleren. Es ergeben sich somit folgende Beschreibungen des Werdens: (1) (2) (Γ) (21)
Ein Weißes wird aus einem Nichtweißen (Schwarzes oder Mittleres). Ein Gebildetes wird aus einem Nichtgebildeten (Ungebildetes oder Mittleres). Ein Weißes vergeht zu einem Nichtweißen (Schwarzes oder Mittleres). Ein Gebildetes vergeht zu einem Nichtgebildeten (Ungebildetes oder Mittleres).
Zwar beschreiben die Sätze (1) und (Γ) - analoges gilt für (2) und (2') - einander entgegengesetzt verlaufende Prozesse - einmal wird ein Weißes aus einem Schwarzen, ein andermal vergeht ein Weißes zu einem Schwarzen -, gleichwohl aber scheint sich in diesen Sätzen bereits eine prinzipielle Umkehrbarkeit der Prozesse in dem Sinne anzudeuten, daß ein und derselbe Prozeß auch auf verschiedene Weise beschrieben werden kann. Führt man die hier von Aristoteles angeführten Überlegungen weiter aus, so läßt sich z.B. sowohl sagen (a) „ein Weißes wird aus einem Schwarzen" wie auch (b) „ein Schwarzes vergeht zu einem Weißen". Die Sätze (a) und (b) beschreiben zwar denselben Prozeß, doch Als Mittleres zwischen einem Weißen und einem Schwarzen betrachtet Aristoteles nicht nur das Graue, sondern jedes Farbige, da sich jedes Farbige Aristoteles zufolge aus dem Weißen (Hellen) und Schwarzen (Dunklen) zusammensetzt (vgl. dazu Charlton, 1970: 45, Owen, 1965 und Bostock, 1982: 190). Bostock (1982: 190) hat an diesen Beispielen eine zweifache Kritik zum Ausdruck gebracht: Einerseits kann ein weißes Ding auch aus einem farblosen Zustand - und somit weder aus dem konträren Gegensatz noch aus einem Mittleren - entstehen (vgl. auch Bolton, 1991: 25 f., der darauf hinweist, daß einer atomistischen Theorie zufolge, das Weiße erst durch die Zusammensetzung von Atomen entsteht, die für sich farblos sind). Andererseits stellt Bostock die Frage, ob es richtig ist, von einem Menschen, der z.B. durch einen Himschaden all seine Gedankenkraft verliert, zu sagen, er wäre ungebildet oder etwas Mittleres zwischen gebildet und ungebildet geworden. Zugunsten von Aristoteles sei jedoch daraufhingewiesen, daß er hier noch nicht seine eigene Theorie darlegt, sondern vielmehr versucht, eine Begründung für die bei den Vorgängern zu findende Setzung der Gegensätze als Prinzipien zu geben. Nicht umsonst bringt die Konklusion „wenn dies alles wahr ist, dann würde ... und verginge . . . " (188b21-23) eine gewisse Distanz von Aristoteles zu der dargelegten Argumentation zum Ausdruck. Zudem fällt auf, daß sich die angeführten Gegenbeispiele als recht ungewöhnlich erweisen. Der dargelegten Beschreibung des Werdens zufolge bezeichnen sie weniger regelhafte Prozesse als vielmehr Ausnahmen, die - analog zum Werden eines Weißen aus einem Gebildeten - eher in den Bereich des „akzidentellen Werdens" fallen. Dies wird vor allem hinsichtlich des Beispiels von dem durch einen Hirnschaden betroffenen Menschen deutlich, das Aristoteles selbst wohl als ein Werden gegen die Natur (παρά φ ΰ σ ι ν ) verstehen würde. Das Entstehen eines Weißen aus einem Farblosen beschreibt hingegen einen Gattungswechsel, über den Aristoteles an anderer Stelle (vgl. Met. X.7, 1057a24-28) sagt, daß dieser nur in einem akzidentellen Sinne möglich sei: „[...], und wenn man in den Farben vom Weißen zum Schwarzen gelangen will, so muß man früher zum Roten und zum Grauen kommen als zum Schwarzen, und in gleicher Weise verhält es sich bei allem anderen. Ein Übergang aber aus einer Gattung in eine andere, z.B. aus Farbe in Figur, ist nicht möglich, außer im akzidentellen Sinne." (Übers, nach Bonitz).
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tun sie dies von einem unterschiedlichen Standpunkt der Betrachtung aus.58 Ein Weißes, das aus einem Schwarzen wird, läßt auf ein Schwarzes schließen, das zu einem Weißen vergeht und umgekehrt. Dies deutet auf einen Kreislauf des Werdens hin, bei dem das Entstehen des einen als Vergehen eines anderen zu verstehen ist.
5.4.3.2 Exkurs: Die zugrundeliegende Ontologie von 'einfachen' (άπλα) und 'zusammengesetzten' (σύνθετα) Seienden: Eine materielle Diairesis Obgleich das Verhältnis des Werdens in bezug auf die άπλα und σύνθετα οντα als ein analoges aufgefaßt werden soll, wird bei näherem Hinsehen doch folgende Differenz deutlich. Stellt der konträre Gegensatz zu einem einfachen Seienden (zu einem Weißen) gleichfalls ein einfaches Seiendes (ein Schwarzes) dar, so scheint der Gegensatz zu einem zusammengesetzten Seienden bzw. zu einer Zusammensetzung (σύνθεσις) (zu einem Haus) selbst jedoch kein zusammengesetztes Seiendes bzw. keine Zusammensetzung zu sein; vielmehr haben wir es hier mit dem Zustand des 'Nichtzusammengesetztseins von diesem und jenem' zu tun. Fragt man nach dem Grund dafür, warum das eine (ein Weißes) als ein 'einfaches' und das andere (ein Haus) als ein 'zusammengesetztes' Seiendes bezeichnet wird, so ist zu beachten, daß das Zusammengesetztsein sowohl eines Hauses wie auch einer Statue hier noch nicht in einem logisch-kategorialen, sondern zunächst in einem materiellen Sinne zu verstehen ist. Unter einer „logischkategorialen Zusammensetzung" verstehe ich eine Zusammensetzung aus den Kategorien 'Substanz und Akzidens'. Von einer derartigen Zusammensetzung ist in Kapitel 1.5 noch keine Rede. Das Haus, das in Kapitel 1.5 als eine σύνθεσις bezeichnet wird, steht in einem Gegensatz zum „Nichtzusammengesetztsein von diesem und jenem" (vgl. ,,μή συγκεΐσθαι ά λ λ α διηρήσθαι ταδί ώδί"), wobei mit dem ,,ταδϊ ώδί" offenkundig auf materielle Bestandteile wie z.B. Steine und Ziegel referiert wird.59 Die hier für die σύνθετα δντα angeführten Beispiele eines Hauses und einer Statue zeichnen sich zudem dadurch aus, daß die materiellen Teile, aus denen sie zusammengesetzt sind, selbst nicht von der Art des Zusammengesetzten sind, denn die materiellen Teile eines Hauses stellen selbst ja keine Häuser dar. Mit anderen Worten: Das Zusammengesetzte ist gerade durch die Zusammensetzung der Art nach von demjenigen verschieden, aus dem es zusammengesetzt ist. Demgegenüber kann zwar auch ein einfaches Seiendes, wie z.B. ein Weißes, als materiell zusammengesetzt betrachtet werden, jedoch be-
59
Gill (1989: 90 f.) weist in bezug auf die in Kapitel 1.5 dargelegten Werdeprozesse daraufhin, daß sie typischerweise reversibel sind. Vgl. auch Craemer-Ruegenberg (1980: 79): „Prozesse wiederum sind genau dann entgegengesetzt, wenn sie zwischen denselben (kontraren) Extremen ablaufen, aber in umgekehrter Richtung. [...] Das Krankwerden ist vielmehr dem Gesundwerden entgegengesetzt, das Heißwerden dem Kaltwerden, das Sich-Ausdehnen dem Schrumpfen, das Weißwerden dem Schwarzwerden und so weiter." Vgl. auch Zekl (1987: 27) und Wagner (1967: 19).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
steht das Weiße im Unterschied zum Haus aus materiellen Teilen, die selbst jeweils Weißes sind. Das Weiße ist vermutlich insofern als ein einfaches Seiendes zu betrachten, als zu seiner Konstitution nicht erst verschiedenes Seiendes in einer bestimmten Anordnung zusammengesetzt werden muß (analoges gilt für das Schwarze). In diesem Sinne erfüllen die ά π λ α δντα das Kriterium der 'Gleichteiligen' (όμοιομερή), wobei jedoch daraufhinzuweisen ist, daß sicherlich nicht nur die sogenannten όμοιομερή zu den ά π λ α δντα zählen, da es sich ja als problematisch erweist, inwiefern ein Gebildetes, das hier auch zu den ά π λ α δντα gezählt wird, aus materiellen Teilen bestehen soll, die selbst Gebildetes sind. In Phys. III.5, 204b 10 ff. führt Aristoteles aus, daß ein Körper (σώμα) entweder einfach (άπλοΰν) oder zusammengesetzt (σύνθετον) sein kann. „Zusammengesetzt" meint dabei „aus στοιχεία zusammengesetzt" (vgl. 204bll-13), wobei die στοιχεία als 'einfache Körper' verstanden werden (vgl. b22-24), die in einem Verhältnis der Gegensätzlichkeit zueinander stehen (b26-27). So ist die Luft als kalt, das Wasser als feucht und das Feuer als warm bestimmt. Legt man diese Überlegungen hier zugrunde, so wären die ά π λ α δντα in Kapitel 1.5 als die στοιχεία und die σύνθετα δντα als die aus den στοιχεία zusammengesetzten Dinge zu verstehen, wobei wir es in beiden Fällen mit Dingen im Sinne von Körpern zu tun hätten, die sich primär durch ihre Materialität auszeichnen. Derartige Dinge wie z.B. Häuser und Statuen erscheinen uns zunächst als aus diesem und jenem zusammengesetzte Körper. Die Eigenheit des Zusammengesetztseins ist bei den technischen Dingen deshalb deutlicher als bei den natürlichen Dingen, da wir bei den technischen Dingen die Zusammensetzung selbst vornehmen. Dies mag ein Grund dafür sein, warum Aristoteles mit Haus und Statue gerade technische Beispiele wählt. Doch auch etwas Natürliches, wie z.B. ein Mensch, wäre in bezug auf die in Kapitel 1.5 vorgenommene Einteilung wohl zu den σύνθετα δντα zu zählen. Demgegenüber stellt z.B. ein Weißes einen eher einheitlichen Körper dar. Daß die Einteilung der δντα in einfache (άπλά) und zusammengesetzte (σύνθετα) in Kapitel 1.5 auf der Grundlage des Kriteriums der materiellen Beschaffenheit von Körpern durchgeführt wird, zeigt sich auch aus einem Vergleich mit einer analogen Einteilung, der wir in Kapitel 1.7, 189b30-190al3 begegnen werden, wo das Kriterium der Einteilung in 'Einfache' und 'Zusammengesetzte' - wie die dort angeführten Beispiele deutlich machen - ein logisch-kategoriales ist. Abb. 5.2: Die Einteilung der δντα bzw.
άπλά Weißes Schwarzes Gebildetes Ungebildetes
γιγνόμενα
1.7
I. 5 (materiell) οντα
(logisch-kategorial) γιγνόμενα
σύνθετα Haus Statue
άπλά Mensch Gebildetes Nichtgebildetes
συγκείμενα gebildeter Mensch nichtgebildeter Mensch
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έ π ϊ τ ο υ λ ό γ ο υ
199
Obgleich beide Einteilungen auf dasselbe bezogen sind - denn die δντα in Kapitel 1.5 sind ja, wie die Konklusion in 188b21-26 deutlich macht, ebenfalls als γιγνόμενα zu verstehen -, und obgleich in beiden Einteilungen analoge Kriterien der Einteilung verwendet werden (άπλα - σύνθετα; άπλα - συγκείμενα), unterscheiden sie sich doch in wesentlichen Punkten voneinander. Da der Mensch in Kapitel 1.7 zu den Einfachen zählt, ist davon auszugehen, daß dort wohl auch solche Dinge wie Haus und Statue zu den Einfachen zählen würden, während sie in Kapitel 1.5 zu den Zusammengesetzten zählen. Ist mit den „συγκείμενα" in Kapitel 1.7 eine logisch-kategoriale Zusammensetzung von verschiedenen Gattungen der δντα gemeint - so stellt der „gebildete Mensch" z.B. eine Zusammensetzung eines 'ποιόν' und einer 'ουσία' dar -, so ist mit den „άπλα" dort die jeweilige Gattung als begrifflich alleinstehend bzw. als ein kategorial Einfaches gemeint, sei dies ein Mensch (ουσία) oder ein Gebildetes (ποιόν). Das Kriterium, das dieser Einteilung zugrunde liegt, ist ein logischkategoriales. Demgegenüber ist das zusammengesetzte Seiende in Kapitel 1.5 nicht ein aus verschiedenen Gattungen der δντα zusammengesetztes Seiendes (weißes Haus), sondern vielmehr ein materiell zusammengesetztes Seiendes (Haus) aus den materiell einfachen Teilen (Steine und Ziegel), das gegenüber seinen Teilen der Art nach verschieden ist. In Analogie zu den zusammengesetzten Seienden, die hier als materiell zusammengesetzte Seiende zu verstehen sind, sind hier auch die einfachen Seienden als materiell einfache Seiende zu verstehen.60 Wird in Kapitel 1.5 gesagt, daß Jedes Werdende gegensätzlich oder aus Gegensätzen ist" (188b25-26), so heißt es in Kapitel 1.7, „daß jedes Werdende [τό γιγνόμενον απαν] immer ein Zusammengesetztes [σύνθετον] ist" (190b 11). Wenn aber jedes Werdende ein σύνθετον ist, kann es genaugenommen keine einfachen (άπλα) Werdenden geben. Der Unterschied zwischen den in den Kapiteln 1.5 und 1.7 vorgenommenen Einteilungen ist primär darin zu sehen, daß der Einteilung in Kapitel 1.5 noch ein materielles Einteilungskriterium zugrunde liegt, während der Einteilung in Kapitel 1.7 ein logisch-kategoriales Einteilungskriterium zugrunde liegt. Daß Aristoteles die in Kapitel 1.5 vorgelegte Einteilung der δντα mit Hilfe eines materiellen Einteilungskriteriums vornimmt, dem er dann in Kapitel 1.7 ein logisch-kategoriales Einteilungskriterium gegenüberstellt, findet seinen Grund vermutlich darin, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch vom Standpunkt der Vorgänger aus argumentiert, deren Ontologie zufolge es primär materiell einfache und materiell komplexe Dinge gibt, und denen die Differenz von Ding und Eigenschaft noch unbekannt war. An welche Vorgänger hier jedoch im einzelnen zu denken ist, läßt sich nicht mit Bestimmtheit Es sei allerdings daraufhingewiesen, daß man bei einer genaueren Untersuchung der in Kapitel 1.5 dargelegten Ontologie der ά π λ ά und σύνθετα οντα alsbald auf Schwierigkeiten stößt. So stellt sich z.B. die Frage, ob Steine der in Kapitel 1.5 zugrunde gelegten Ontologie zufolge eher zu den Einfachen oder zu den Zusammengesetzten zu zählen sind. Als dasjenige, aus dem ein Haus zusammengesetzt ist, würde man einen Stein zunächst zwar wohl eher zu den einfachen Seienden zählen, doch stellt sich dann in Analogie zum Weißen und Gebildeten die Frage nach seinem konträren Gegensatz. Wenn er aber ein Zusammengesetztes darstellt, so würde sich die Frage stellen, was ftlr eine Art von Zusammensetzung (σόνθεσις), Ordnung (τάξις) oder WohlgefÜgtheit (αρμονία) ein einzelner Stein darstellen soll.
200
Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
sagen, da Aristoteles weder Namen noch spezifische Lehren nennt. Er scheint eher an die Vorgänger im allgemeinen zu denken, als daß er sich auf bestimmte Vorgänger bezieht. 61
5.4.3.3 Die 'zusammengesetzten Seienden' (τά σύνθετα των όντων: 188b8-21) In gleicher Weise aber gilt dies auch bezüglich der anderen, da auch die NichtEinfachen, sondern Zusammengesetzten unter den Seienden im selben Verhältnis stehen. Jedoch bleibt verborgen, daß dies geschieht, weil die entgegengesetzten Zustände [τάς άντικειμένας διαθέσεις] keinen Namen haben. Denn notwendig wird alles Wohlgefügte [πάν τό ήρμοσμένον] aus Ungefügtem [έξ άναρμόστου] und das Ungefiigte aus Wohlgefiigtem; und das Wohlgefugte vergeht zur Ungefilgtheit, und diese ist nicht eine beliebige, sondern die entgegengesetzte [άντικειμένην], Und es macht hier keinen Unterschied, ob man von »Wohlgefügtheit« [άρμονίας], »Ordnung« [τάξεως] oder »Zusammensetzung« [συνθέσεως] redet. Denn offenkundig ist, daß es dasselbe Verhältnis [ό αυτός λόγος] ist. Aber auch ein Haus und eine Statue und beliebig anderes derart entsteht auf die gleiche Weise. Denn ein Haus entsteht aus dem Nichtzusammengesetztsein [έκ του μή συγκεΐσθαι], sondern vielmehr Getrenntsein [δνηρήσθαι] von diesem und jenem, und die Statue, und [überhaupt] etwas von den geformten Dingen [των έσχηματισμένων τι] aus der Ungestaltetheit [έξ άσχημοσΰνης]. Und ein jedes von diesen ist entweder eine bestimmte Ordnung [τάξις] oder eine bestimmte Zusammensetzung [σΰνθεσίς τις έστιν], (1.5, 188b821)
Ausgehend vom Verhältnis des Werdens bei den einfachen Dingen, das sich durch eine konträre Gegensätzlichkeit auszeichnet, soll dieses Verhältnis analog (vgl. „κατά τον αύτόν εχει λόγον": 188b 10) auch auf die zusammengesetzten Dinge übertragen werden, um so eine Vollständigkeit der dargelegten Struktur des Werdens bei jedem Seienden zu erhalten. War die konträre Gegensätzlichkeit bei den einfachen Dingen offenkundig, so scheint sie jedoch bei den zusammengesetzten Dingen eher verborgen zu sein, „weil die entgegengesetzten Zustände [τάς άντικειμένας διαθέσεις] [bei den zusammengesetzten Seienden] keinen Namen haben" (188b 10-11). Gibt es bei den einfachen Dingen Namen für das konträr Entgegengesetzte, aus dem etwas wird oder zu dem etwas vergeht, so fehlen diese Namen bei den zusammengesetzten Dingen für die entgegengesetzten Zustände. So gibt es z.B. keinen Namen fiir den Zustand der
Einiges des in Kapitel 1.5 Gesagten erinnert allerdings an Ausführungen über das Werden, wie wir sie in den Fragmenten des Empedokles finden. So gibt es der Theorie von Empedokles zufolge, wie Aristoteles sie versteht, eigentlich nur Vergehen und Entstehen, nicht jedoch Eigenschaftsveränderungen (vgl. De gen. et corr. 1.1; Met. 1.8, 989a20-30). Zugleich deutet er das Entstehen des einen als das Vergehen eines anderen. Dies entspricht der Tatsache, daß in Kapitel I. 5 nur vom „γίγνεσθαι έκ" und ,,φθείρεσθαι εις" die Rede ist, wobei das Werden eines Weißen aus einem Schwarzen auch als Vergehen eines Schwarzen zu einem Weißen verstanden werden kann. Empedokles wird von Aristoteles an anderen Stellen auch mehrfach zugeschrieben, daß er „keinen λόγος gegeben habe" (vgl. Phys. VIII. 1, 252a20; a7; Met. 1.4, 985a2-10; 1000a25), was an das „άνευ λόγου τιθέντες" in 1.5, 188b29 erinnert.
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπΐ του λόγου
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Nichtzusammensetzung der Steine, der dem Haus als Zustand des Zusammengesetztseins der Steine entgegengesetzt ist.62 In bezug auf die Beschreibung des Werdens der σύνθετα δντα fällt jedoch zweierlei auf: Obgleich das bei den ά π λ α δντα vorgefundene Verhältnis des Werdens aus einem konträren Gegensatz analog auch auf die σύνθετα δντα übertragen werden soll, spricht Aristoteles hier nicht mehr im engeren Sinne von „konträren Gegensätzen" (έναντία), sondern vielmehr in einem weiteren Sinne von den „Gegenüberliegenden" (αντικείμενα: 188bll, 15),63 bezüglich derer auch von einem 'Mittleren' keine Rede mehr ist. Zudem werden die zusammengesetzten Dinge sowohl als „Zusammengesetztes" (σύνθετα: 188b 10) als auch als „Zusammensetzung" (σύνθεσις: b21), „Zustand" (διαθέσις: bl 1) und „Ordnung" (τάξις: b20) bezeichnet. 64 Der Grund für die Ersetzung des Ausdrucks ,,έναντίον" durch den Ausdruck ,,άντικείμενον" ist wohl darin zu sehen, daß für solche Dinge wie z.B. Häuser und Statuen als ούσίαι kein konträrer Gegensatz existiert. 65 Andererseits soll jedoch ein Haus nicht bloß aus dem kontradiktorischen Gegensatz „Nicht-Haus" werden, da mit dem kontradiktorischen Gegensatz nur eine beliebige (vgl. ,,τυχοΰσαν": 188b 14) Ungefiigtheit gegeben wäre, so daß dann doch wieder Beliebiges aus Beliebigem würde, was es gerade zu vermeiden gilt. Die „gegenüberliegende Ungefiigtheit" (vgl. „την άντικειμένην [άναρμοστίαν]": 188b 14-15) stellt nun einen Gegensatz dar, der enger als ein kontradiktorischer (άντίφασις) und weiter als ein konträrer (έναντία) Gegensatz ist. Erst wenn das Haus als ein bestimmter Zustand (διαθέσις) bzw. als eine bestimmte Zusammensetzung (σύνθεσις) oder Ordnung (τάξις) betrachtet wird, kann es insofern in einem Gegensatzverhältnis zu anderem stehen, als der Zustand (διαθέσις), der als „Zustand von etwas" zu den Relativa zu zählen ist, einen entgegengesetzten Zustand haben kann. Nun deutet aber gerade die Betrachtung der zusammengesetzten Dinge als Zustände und Zusammensetzungen daraufhin, daß Aristoteles hier die Lehren seiner Vorgänger, allen voran die Lehren der Naturphilosophen, im Sinn hat, sagt er von diesen doch in Phys. II.l, 193 a21-28, daß sie alles andere neben dem zugrundeliegenden Stoff, was durch die Verdichtung oder Verdünnung ihres ύποκείμενον entsteht, als Affektionen (πάθη), Zustände (έξεις) und Anordnungen (διαθέσεις) desselben betrachten.
6 63
In bezug auf das Fehlen eines Namens beim Werden aus Gegensätzlichem vgl. auch Piaton, Phaidon 71 b (,,εί μή χρώμεθα τοις όνόμασιν έ νιαχοΰ"). Mit dem Ausdruck ,,άντικείμενον" ist bei Aristoteles für gewöhnlich eine Gegenüberstellung gemeint, die umfassender und weiter als ein konträrer Gegensatz (εναντίον) ist. So werden die vier Gegensatzarten (i) πρός τι, (ii) έναντία, (iii) στέρησις και εξις und (iv) κατάφασις και άπόφασις in Κat. 10 unter den Gattungsbegriff des 'Gegenüberstehens' (άντικεΐσθαι) zusammengefaßt (vgl. auch Met. V.10 und XI.I2, 1069a2-S). In Kapitel 1.7 (vgl. 190al8, a26 und b 13-17) werden wir ebenfalls einer Ersetzung des Ausdrucks ,,έναντίον" durch den Ausdruck ,,άντικείμενον" begegnen. Dieser Zustandscharakter des Zusammengesetzten wird auch durch verbale Formulierungen zum Ausdruck gebracht: „Ein Haus nämlich wird aus dem Nichtzusammengesetztsein, sondern Getrenntsein [έκ του μή συγκεϊσθαι ά λ λ α διηρήσθαι] von diesem und jenem." (188b 17-19). Vgl. Kai. 5, 3b24-32. Wir werden diesem Theorem auch in Phys. I. 6, 189 a32-34 begegnen.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
Wird nun vom Haus als „Zusammensetzung von diesem und jenem" gesagt, daß es aus dem Nichtzusammengesetztsein und Getrenntsein von diesem und jenem wird, so ist der Gegensatz, der hier das Werden als ein bestimmtes Werden konstituiert, als Gegensatz zwischen einer 'Zusammensetzung (Ordnung) von etwas' und einer 'Nichtzusammensetzung (Unordnung) von etwas' zu verstehen. 66 In bezug auf die Betrachtung des Hauses als eine Zusammensetzung ( σ ύ ν θ ε σ ι ς ) gilt nun, daß das Haus in einem Gegensatz zu demjenigen steht, woraus es wird, nämlich in einem Gegensatz zum Zustand des Nichtzusammengesetztseins der Steine. In einem anderen Sinne wird ein Haus jedoch nicht nur aus dem Zustand des Nichtzusammengesetztseins der Steine, sondern es besteht und wird auch aus Steinen als aus seinen Bestandteilen, die keinen Gegensatz zum Haus darstellen. 67 Wird nun das Haus in Kapitel 1.5 als eine bestimmte Zusammensetzung ( σ ύ ν θ ε σ ί ς τις: 188b21) betrachtet, so findet demgegenüber in Kapitel 1.7 eine Veränderung statt. Dort wird das Haus nämlich primär nicht als eine Zusammensetzung (σύνθεσις), sondern vielmehr als ein Zusammengesetztes (σύνθετον) betrachtet, das durch eine σύνθεσις (190b8) entsteht. 68 Zwar gelingt es Aristoteles in Kapitel 1.5 durch die Betrachtung des Hauses als σ ύ ν θ ε σ ι ς auch beim Werden der ο ύ σ ί α ι eine Gegensätzlichkeit des Werdens herauszustellen, wodurch der Unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten Seienden in gewisser Hinsicht nivelliert wird, doch löst die Aussage, daß ein Haus als ein Wohlgefügtes 6 9 in ein bestimmtes Ungefugtes bzw. in eine bestimmte, gegenüberliegende Ungefiigtheit zerfallen soll, zunächst Verwunderung aus. Notwendigerweise wird nämlich alles Wohlgefügte aus Ungefügtem und Ungefügtes aus Wohlgefügtem. Und das Wohlgefügte vergeht in eine Ungefügtheit, und diese ist nicht eine beliebige, sondern die entgegengesetzte [ου την τοχοΰσαν άλλα τήν άντικειμένην], (1.5, 188b 12-15) Angenommen, ein Haus sei eine bestimmte Anordnung von Steinen, so wird man doch für gewöhnlich davon ausgehen, daß die Unordnung von Steinen, in die ein Haus zerfallen kann, um kein Haus mehr zu sein, beliebig ist. In diesem
67
Vgl. auch Met. V.19, 1022bl-3: „Anordnung oder Disposition nennt man die Ordnung eines Dinges, welches Teile hat, sei es dem Orte oder dem Vermögen oder der Art nach. Denn eine Ordnung muß sich darin finden, wie schon der Name Anordnung zeigt." (Übers, nach Bonitz). Diese Möglichkeit des Werdens eines Hauses aus Steinen wird hier jedoch nicht erwähnt, da man in bezug auf Haus und Steine nicht von einem Gegensatzverhältnis sprechen kann. In diesem Zusammenhang verwundert es auch nicht, daß in 188b 18-19 dasjenige, woraus ein Haus im materiellen Sinne besteht, in den Hintergrund tritt und nicht im konkreten Sinne als „Steine und Ziegel" genannt wird, sondern nur unbestimmt als „dieses und jenes" (vgl. ,,ταδΐ ώδί") Erwähnung findet. Die Möglichkeit, ein Haus entweder im aktiven Sinne als eine Zusammensetzung oder im passiven Sinne als ein Zusammengesetztes, das durch eine Zusammensetzung geworden ist, zu beschreiben, findet sich in ähnlicher Weise bei Piaton (vgl. Charlton, 1985: 132: „We can say that a house has a structure, and that it is one. Similarly Plato can call a harmonia indifferently a composition (synthesis, Phaidon 93 al) and a composite thing (syntheton pragma, 92 a8)." Nicht umsonst ist hier von einem „Wohlgefügten" (το ήρμοσμένον) die Rede, denn das Wohlgefllgte meint ja immer schon eine bestimmte Zusammensetzung.
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Sinne sagt Bostock (1982: 190), der hier einen Fehler von Aristoteles sieht, folgendes: But the error is clearer still a few lines later, when Aristotle considers the generation of a house or a statue: For with these examples in mind he says (188b 12-15) that everything that is organised (hermosmenon) must be destroyed by degenerating into disorganisation (eis anarmostian), and indeed into the opposite disorganisation. But there is no organisation of bricks which is opposite to their being organised into a house, and no shape of bronze which is opposite to the shape of a statue, because there is no linear ordering of organisations and shapes with that of a house or statue at one end and all others appropriately placed as nearer or further removed from it. Indeed if Aristotle had been thinking clearly he must have seen that this doctrine about opposites is in error, for it is actually incompatible with his own account in chapter 7. Bostock scheint in seiner Kritik jedoch zu übersehen, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch nicht in propria persona argumentiert. Geht man - wie ich es tue - davon aus, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 noch nicht seine eigene Theorie des Werdens darlegt, sondern vielmehr die Überlegungen der Vorgänger auf seine eigene Theorie hin entwickeln will, so liegt hier kein Widerspruch innerhalb der aristotelischen Theorie vor. Zudem ist der offenkundig widersinnige Gedanke einer bestimmten Unordnung im Kontext des Gesagten und vor dem Hintergrund des in Kapitel 1.5 dargelegten Modells des Werdens nicht nur konsequent, sondern nach Ansicht von Aristoteles auch notwendig (άνάγκη: 188b 12). Würde nämlich eine Ordnung in eine beliebige Unordnung zerfallen, so hätten wir es immer noch mit dem Vergehen eines Beliebigen zu einem Beliebigen zu tun, da die beliebige Unordnung nur den kontradiktorischen Gegensatz zu einer bestimmten Ordnung darstellt.70 Da jedoch auch bei den zusammengesetzten Seienden das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigem ausgeschlossen werden soll, muß der Gegensatz ein bestimmter sein.71 Da in Kapitel 1.5 nur von den Gegensätzen und noch nicht von einem Zugrundeliegenden (ΰποκενμενον) die Rede
70
So ist in 188bl2-15 auch nicht vom kontradiktorischen Gegensatz ,,μή ήρμοσμένον", sondern in einem engeren Sinne von ,,άνάρμοστον" bzw. von ,,άναρμοστία" die Rede. Anders als bei den einfachen Seienden scheinen bei den zusammengesetzten Seienden keine mittleren Zustände zwischen einer bestimmten Ordnung und einer bestimmten Unordnung zu existieren. Entweder ist etwas ein Haus, oder aber es ist kein Haus. Gleichwohl gibt es auf beiden Seiten des Gegensatzes viele verschiedene Möglichkeiten einerseits für die Realisierung dessen, was man ein Haus (Ordnung) nennt, und andererseits filr die Realisierung dessen, was man nicht ein Haus (Nichtordnung) nennt. Gerade bei den technischen Dingen, deren Wesen in einem entscheidenden Maße durch ihre Funktion bestimmt ist, kann nämlich insofern von einem „Mehr oder Weniger" gesprochen werden, als eine Funktion ja besser oder schlechter erfüllt werden kann. Aus diesem Grunde verwundert es auch nicht, daß Aristoteles hier mit 'Haus' und 'Statue' zunächst nur technische Beispiele wählt, da die Problematik dieses Werdemodells, die erst in den nachfolgenden Kapiteln explizit herausgestellt werden soll, bei den natürlichen Dingen bereits insofern offenkundiger wäre, als es bei einer natürlichen ούσία ja kein Mehr oder Weniger gibt. Sagt man in bezug auf technische Dinge, wie z.B. Häuser und Statuen, eher, daß man das eine mehr, das andere jedoch weniger als ein 'Haus' oder eine 'Statue' bezeichnen würde, so fällt es uns bei den natürlichen Dingen jedoch schwerer, den einen mehr und den anderen weniger als einen 'Menschen' zu bezeichnen. Dies tun wir nur dann, wenn wir auch das Menschsein als durch eine bestimmte Funktion charakterisiert betrachten.
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ist,72 das - wie wir sehen werden - ebenfalls für die Bestimmtheit eines Werdeprozesses mitverantwortlich sein kann, 73 können hier einzig die Gegensätze als bestimmte Gegensätze für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich sein. Aristoteles' eigener Lösungsvorschlag in Kapitel 1.7, dem zufolge ebenfalls das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen ausgeschlossen werden soll, wird meiner Interpretation zufolge nicht darin bestehen, daß der Gegensatz zu 'Haus' ein bestimmter Gegensatz ist, sondern vielmehr darin, daß die Steine und Ziegel als das Zugrundeliegende, aus dem das Haus wird, eine Bestimmtheit an sich haben. Da ein Haus nicht aus jedem Material gebaut werden kann, konstituiert auch die Bestimmtheit des Materials die Bestimmtheit des Werdens. Wenn man diesen Übergang von der Bestimmtheit der Gegensätze als Ursache der Bestimmtheit des Werdens in Kapitel 1.5 zur Bestimmtheit des Zugrundeliegenden als Mitursache der Bestimmtheit des Werdens in Kapitel 1.7 übersieht, wobei dieser Übergang erst durch die in Kapitel 1.6 dargelegte Einführung eines Zugrundeliegenden für die Gegensätzen möglich wird, gelangt man leicht zur falschen Ansicht, daß das in Kapitel 1.5 Dargelegte bereits die eigene aristotelische Theorie darstellt, mit der sich Aristoteles dann in einen offenkundigen Widerspruch zu dem in Kapitel 1.7 Gesagten begeben würde. Aristoteles setzt seine Überlegungen in Kapitel 1.5 nun wie folgt fort: Und es macht hier keinen Unterschied, ob man von »Wohlgefügtheit« [αρμονίας], »Ordnung« [τάξεως] oder »Zusammensetzung« [συνθέσεως] redet. Denn offenkundig ist, daß es dasselbe Verhältnis [ό αύτός λόγος] ist. (1.5, 188bl 5-16)
Mit dieser Bemerkung scheint Aristoteles nun einem möglichen Einwand zu begegnen, dem zufolge jemand darauf hinweisen könnte, daß die Art der Gefügtheit bei verschiedenen Dingen doch eine verschiedene sei, und daß folglich vielleicht nicht bei einer jeglichen Gefügtheit von einem 'Werden aus Gegensätzen' gesprochen werden kann. So entsteht ein Haus doch durch eine Zusammensetzung, während eine Statue eher durch eine Umformung entsteht. Die von Aristoteles angeführten Beispiele „Haus" und „Statue" stehen jeweils für verschiedene Arten der 'Gefügtheit'. Stellt das Haus eine bestimmte Zusammensetzung (σύνθεσις) dar, so steht die Statue für eine bestimmte Ordnung (τάξις). Bei beiden kann das Werden jedoch als „Werden aus einem Gegensätzlichen" beschrieben werden, so daß gilt: Auch wenn eine σύνθεσις von einer τάξις und αρμονία zu unterscheiden ist, so liegt doch in bezug auf eine jede dieser Arten das grundlegende gegensätzliche Verhältnis hinsichtlich des Werdens zugrunde, so daß sich die άρμονία, die τάξις und die σύνθεσις in bezug auf dieses Verhältnis nicht voneinander unterscheiden.
So werden hier auch die materiellen Bestandteile eines Hauses nicht einmal mit Namen benannt, sondern nur unspezifisch und allgemein als „dieses und jenes" bezeichnet. So kann eine Statue zwar aus verschiedenen, nicht jedoch aus beliebigen Materialien gefertigt werden.
Die Untersuchung der Gegensätzlichkeit έπί του λόγου
205
5.4.4 Die Konklusion: Die Gegensätzlichkeit der φύσει γιγνόμενα (188b21-26) Wenn dies also alles wahr ist, dann würde jedes Werdende und verginge jedes Vergehende entweder aus Gegensätzen oder zu Gegensätzen und aus oder zu dem Mittleren von diesen. Die Mittleren aber sind aus den Gegensätzen, wie z.B. die Farben aus weiß und schwarz, so daß jedes von Natur aus Werdende entweder selbst Gegensatz oder aus Gegensätzen wäre. (1.5,188b21 -26)
Die Konklusion (1) .jedes Werdende würde aus einem Gegensatz oder Mittleren, und jedes Vergehende verginge zu einem Gegensatz oder Mittleren" ergibt sich aus der vorausgesetzten Wahrheit der dargelegten Untersuchung έπί τοΰ λόγου bezüglich der einfachen und zusammengesetzten Seienden, bei der sich mit dem „Werden aus einem (konträren) Gegensatz oder Mittleren" eine positive Bestimmung des „Werdens aus einem Nicht-Beliebigen" ergeben hat. Mit Hilfe der weiteren Prämisse (iii), der zufolge die Mittleren selbst aus den Gegensätzen sind (vgl. ,,τά δέ μεταξύ έκ των έναντίων έστίν": 188b23-24) - so sind z.B. die Farben als Mittleres zwischen weiß und schwarz aus weiß und schwarz (vgl. auch Met. X.7, 1057b8-34) -,74 ergibt sich die Konklusion (2), der zufolge jedes von Natur aus Werdende entweder selbst Gegensatz oder aus Gegensätzen ist: (1 a) (lb) (iii)
Jedes Werdende wird aus Gegensatz oder Mittlerem. Jedes Vergehende vergeht zu Gegensatz oder Mittlerem, Das Mittlere ist aus Gegensätzen.
(2)
Jedes von Natur aus Werdende ist Gegensatz oder aus Gegensatz.
Der Konklusion (la) zufolge, die ebenso wie die Konklusion (lb) in diesem Argument als Prämisse fur die Konklusion (2) dient, wird jedes Werdende, wie die Untersuchung gezeigt hat, entweder aus seinem Gegensatz oder aus einem Mittleren. Dies bedeutet zugleich, daß jedes Werdende entweder selbst Gegensatz (Weißes oder Schwarzes) oder Mittleres zwischen Gegensätzen (zwischen Weißem und Schwarzem) ist. In der Prämisse (iii) wird nun das „Mittlere" als etwas, was „aus Gegensätzen ist", bestimmt, so daß die Konklusion (2), der zufolge jedes von Natur aus Werdende entweder Gegensatz oder aus Gegensatz ist, aus diesem durch die Ersetzung des Ausdrucks „Mittleres" durch den Ausdruck „aus-Gegensätzen-sein" in der Prämisse (la) folgt:75 Wenn jedes Werdende entweder Gegensatz oder Mitteleres ist, und wenn das Mittlere selbst aus Gegensätzen ist, so ist jedes Werdende entweder Gegensatz oder aus Gegensätzen. Analoges gilt für jedes von Natur aus Vergehende in bezug auf die Prämisse (lb). Die Argumentation macht deutlich, daß das in der Konklusion (2) enthaltene Glied „oder aus Gegensätzen" (ή έξ έναντίων: 188b25-26) auf die zuvor erwähnten 'Mittleren' zu beziehen ist, die „aus Gegensätzen sind" (έκ των έναντίων έστίν: 188b24). Die Konklusion meint nicht, daß jedes von Natur aus Werdende Diese weitere Prämisse scheint nur fllr das Werden bei den einfachen Seienden, wo es ein Mittleres geben kann, nicht jedoch für das Werden bei den zusammengesetzten Seienden, wo von einem Mittleren keine Rede war, von Bedeutung zu sein. Hierbei kann das Mittlere selbst auch als in einem Gegensatz zu den äußeren Rändern stehend betrachtet werden (vgl. Phys. V . l , 224b30-35).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
entweder Gegensatz ist oder 'aus Gegensätzlichem geworden ist', sondern daß es selbst bereits Gegensatz oder (als Mittleres) aus Gegensätzlichem ist.
5.5 Der Übergang von den gegensätzlichen φύσει γιγνόμενα sätzlichen άρχαί (188b26-189al0)
zu den gegen-
Nun ist mit der Gegensätzlichkeit eines jeden Werdenden jedoch noch nicht ausdrücklich gezeigt, daß auch die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, da die Prinzipien, die „immer bleiben sollen" (vgl. ,,τάς δέ αρχάς άεν δει μένειν": 1.6, 189al9-20), selbst ja nicht zu den φύσει γιγνόμενα zählen. Als deren Gründe müssen sie von diesen vielmehr ontologisch verschieden sein. Da die Untersuchung jedoch ergeben hat, daß sich das Werden immer zwischen Gegensätzen ereignet, und da die Gegensätze selbst nicht auseinander sein können, während alles aus den Prinzipien sein soll, scheint es nun nahe zu liegen, auch die Prinzipien der φύσει γιγνόμενα selbst als Gegensätze zu setzen, so daß die Gegensätzlichkeit der Werdeprozesse ihren Grund in einer Gegensätzlichkeit der Prinzipien hat. Würde man nämlich nur ein einziges Prinzip setzen, aus dem dann folglich alles sein müßte, so würde man in die Schwierigkeit gelangen, daß dann auch die Gegensätze aus diesem einen Prinzip sein müßten, so daß bei Annahme eines einzigen Prinzips, aus dem alles ist, die Gefahr entstünde, daß einerseits letztlich alles eines wäre, während andererseits wiederum Beliebiges aus Beliebigem würde. Der das Kapitel 1.5 beschließende Abschnitt 188b26-189al0 ist durch eine Darlegung der von den Vorgängern als Prinzipien angeführten Gegensatzpaare bestimmt, die im Hinblick auf ihre Bekanntheit der Wahrnehmung nach oder dem Begriff nach voneinander unterschieden werden. Wurde bereits in der mit dem Ausdruck „ευλόγως" eingeleiteten Argumentation 188a27-30 in dem Sinne eine Hierarchisierung der Gegensätze angedeutet, daß nur der erste Gegensatz als Prinzip fungieren kann, so werden hier nun weitere inhaltliche Kriterien für die Art der Gegensätzlichkeit der Prinzipien genannt, durch die einige der von den Vorgängern auf extensionale Weise konkret genannten Beispiele ausgeschlossen werden können. Zwar wird noch nicht dasjenige Gegensatzpaar genannt, das fur Aristoteles letztlich die Funktion eines Prinzips erfüllt, gleichwohl aber macht die Differenzierung der Gegensätze deutlich, daß nicht jeder Gegensatz ein Prinzip darstellen kann. Durch die Angabe weiterer intensionaler Kriterien können nun die von den Vorgängern extensional genannten Gegensätze hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als Prinzipien überprüft werden. So können z.B. durch das Kriterium des 'Umfassens' und 'Umfaßtwerdens' die 'umfaßten Gegensätze' als Prinzipien ausgeschlossen werden, da es etwas gibt, von dem sie umfaßt werden und das folglich früher als die 'umfaßten Gegensätze' ist.
Der Obergang von den φύσει γιγνόμενα zu den άρχαί
207
5.5.1 Die Gegensätze κατά την αϊσθησιν und κατά τον λόγο ν (18 8b26-189a 10) Bis hierhin sind etwa auch von den anderen die meisten mitgefolgt [συνηκολουθήκασι], wie wir früher gesagt haben. Alle nämlich sprechen die Elemente [τά στοιχεία] und die von ihnen so genannten 'Prinzipien' [τάς ύπ' αυτών καλουμένας άρχάς], gleichwohl ohne einen Grund zu geben [άνευ λόγου τιθέντες], dennoch als Gegensätze an, als ob sie von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wären [ώσπερ ύπ' αύτής της αληθείας άναγκασθέντες]. Sie unterscheiden sich voneinander aber dadurch, daß die einen frühere [πρότερα] und die anderen spätere [ύστερα] Gegensätze nehmen; und die einen dem Begriff nach bekanntere [γνωριμώτερα κατά τον λόγον], die anderen der Wahrnehmung nach bekanntere [κατά την αϊσθησιν] (die einen nämlich setzen Warmes und Kaltes, andere aber Feuchtes und Trockenes, wieder andere aber Ungerades und Gerades oder Streit und Liebe als Ursachen des Werdens [αιτίας της γενέσεως] an. Diese aber unterscheiden sich voneinander in der besprochenen Weise); so daß sie irgendwie dasselbe sagen und doch auch verschiedenes voneinander: Verschiedenes, wie es auch den meisten [von ihnen] scheint; dasselbe aber, insofern dies analog [άνάλογον] ist. Sie nehmen es nämlich aus derselben Anordnung [έκ της αύτής συστοιχίας]. Die einen unter diesen Gegensätzen umfassen [περιέχει], die anderen werden umfaßt [περιέχεται]. Insofern reden sie sowohl auf gleiche wie auch auf verschiedene Weise, und schlechter und besser auch, und die einen nehmen Bekannteres dem Begriffe nach, wie früher gesagt, die anderen aber der Wahrnehmung nach (das Allgemeine [τό καθόλου] nämlich ist das dem Begriff nach Bekannte, das Einzelne [τό καθ' εκαστον] aber das der Wahrnehmung nach Bekannte; denn der Begriff ist auf das Allgemeine bezogen, die Wahrnehmung aber auf den einzelnen Teil), wie z.B. das Große-und-Kleine dem Begriff nach bekannter ist, das Dünne und Dichte aber der Wahrnehmung nach. (1.5, 188b26-189a9) Zunächst weist Aristoteles darauf hin, daß „bis hierhin" - d.h. bis zu der dargelegten Konklusion bezüglich der Gegensätzlichkeit der φύσει γιγνόμενα - die meisten der Vorgänger weitgehend mitgefolgt sind, „wie früher gesagt wurde".76 Aristoteles begründet (vgl. ,,γάρ": 188b28) dies damit, daß die Vorgänger die Bestandteile und die von ihnen so genannten 'Prinzipien', wenn auch ohne ein Argument (vgl. „άνευ λόγου") zu geben, dennoch als Gegensätze ansprechen, als ob sie von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wären. Besteht die Funktion dieser einführenden Sätze zunächst darin, daß der Gedankengang des Kapitels 1.5 in dem Sinne zusammengefaßt werden soll, daß das Ergebnis der dargelegten Untersuchung in eine Relation zu den Ansichten der Vorgänger gesetzt wird, so wird die Argumentation zugleich jedoch insofern einen Schritt weiter geführt, als hier bereits ein Übergang von den Ansichten der Vorgänger, die Gegensätze als Prinzipien gesetzt haben, zur abschließenden Konklusion, der zufolge Prinzipien als Gegensätze zu setzen sind (189a9-10), stattfindet. So deutet Aristoteles mit dem Hinweis auf die „von ihnen so genannten 'Prinzipien'[im' αυτών καλουμένας αρχάς]" bereits an, daß nicht jeder der von den Vorgängern zugrunde gelegten Gegensätze auch wirklich die Funktion 76
Das ,,εϊπομεν πρότερον" bezieht sich auf den Anfang von Kapitel 1.5, wo es heißt, daß alle Vorgänger Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
eines Prinzips hat.77 Zugleich weist er darauf hin, daß die Vorgänger selbst keinen λόγος für ihre Setzung der Gegensätze als Prinzipien gaben, sondern gleichsam von der Wahrheit zu ihrer Ansicht gezwungen wurden.78 Im folgenden wird nun die Tatsache, daß nicht jeder der von den Vorgängern zugrunde gelegten Gegensätze auch wirklich die Funktion eines Prinzips hat, durch eine Differenzierung der verschiedenen Arten von Gegensätzen weiter ausgeführt. Sie unterscheiden sich voneinander aber dadurch, daß die einen frühere [πρότερα] und die anderen spätere [υστέρα] Gegensätze nehmen; und die einen dem Begriff nach bekanntere [γνωριμώτερα κατά τον λόγον], die anderen der Wahrnehmung nach bekanntere [κατά την αΐσθησιν]. (1.5,188b30-33) Diese Gegenüberstellung der bei den Vorgängern vorzufindenden Gegensätze, die sich im Hinblick auf die Kriterien (i) „früher - später", (ii) „dem Begriff nach bekannter - der Wahrnehmung nach bekannter" und schließlich (iii) „umfassend - umfaßt" (vgl. 189a2) voneinander unterscheiden, läßt folgende Hierarchie der Gegensätze deutlich werden: Abb. 5.3: Die früheren und späteren Gegensätze: Gegensätze (έναντία)
ι Frühere (πρότερα) dem Begriff nach bekannter (γνωριμώτερα κατά τόν λόγον) umfassende (περιέχει) Allgemeines (τό καθόλου) Ungerades-Gerades (περιττόν και άρτιον) Streit-Liebe (νεΐκος και φιλία) das Große-und-Kleine (τό μέγα και τό μικρόν)
1
1
Spätere (ύστερα) der Wahrnehmung nach bekannter (γνωριμώτερα κατά την αΐσθησιν) umfaßte (περιέχεται) Einzelnes (τό καθ' έκαστον) Beispiele Warmes-Kaltes (θερμόν και ψυχρόν) Feuchtes-Trockenes (ύγρόν και ξηρόν) das Dünne-das Dichte (τό μανόν και τό πυκνόν)
Von den Vorgängern wird hier jedoch nicht mehr - wie zu Beginn von Kapitel 1.5 - gesagt, daß sie die Gegensätze zu Prinzipien machen (ποιεΐν), sondern es heißt nun, daß sie die Bestandteile und die von ihnen so genannten 'Prinzipien' als Gegensätze ansprechen (λέγειν). Auch wenn dieses Ansprechen der von ihnen so genannten 'Prinzipien' als Gegensätze eher im Sinne der Konklusion des Kapitels I. 5, der zufolge die Prinzipien als gegensätzlich zu setzen sind, zu verstehen ist, scheint Aristoteles hier dennoch der Ansicht zu sein, daß die Vorgänger eher bestimmte Gegensätze zu Prinzipien gemacht haben, als daß sie Prinzipien als gegensätzlich bestimmt hätten. Dies wird sowohl durch den Rückbezug auf den Beginn von Kapitel 1.5 deutlich als auch dadurch, daß wenig später gesagt wird, daß die Vorgänger bestimmte Gegensätze - wie z.B. Warmes-Kaltes, Feuchtes-Trockenes, Ungerades-Gerades oder Streit-Liebe - als Ursachen des Werdens (vgl. „αιτίας της γενέσεως": 188b33-35) gesetzt haben. Dieses Bild des „Von-der-Wahrheit-Gezwungen-Werdens", wodurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Sache selbst den richtigen Weg zeigt, findet sich auch in Met. 1.3, 984b911. In Met. 1.3, 984al8 heißt es in bezug auf die Vorgänger, daß die Sache selbst ihnen den Weg wies.
Der Übergang von den φ ύ σ ε ι γ ι γ ν ό μ ε ν α zu den
άρχαί
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Auf diese Weise wird nun die extensionale Bestimmung der Gegensätze als Prinzipien einer expliziten Kritik unterzogen, wobei Aristoteles mit den für die jeweiligen Arten von Gegensätzen angeführten Beispielen auf die als Prinzipien angeführten Gegensätze seiner Vorgänger zurückgreift, ohne daß er diese ausdrücklich beim Namen nennt.79 Aus der Unterscheidung zwischen früheren und späteren Gegensätzen wird deutlich, daß die späteren Gegensätze aus dem Grunde keine Prinzipien sein können, da ihnen andere Gegensätze vorausliegen, die früher sind und von denen sie umfaßt werden. Als spätere Gegensätze können sie nicht die ersten Gegensätze und mithin keine Prinzipien sein, da in 188a27-30 hervorgehoben wurde, daß allein die ersten Gegensätze als Prinzipien fungieren können. In dieser Differenz, der zufolge einige Vorgänger frühere und andere Vorgänger spätere Gegensätze angenommen haben, ist auch der Grund zu sehen, warum die einen „besser" (βέλτιον), die anderen aber „schlechter" (χείρον) reden. Diejenigen Vorgänger, die frühere, umfassende und dem Begriff nach bekannte Gegensätze annehmen, reden besser, während diejenigen, die spätere, umfaßte und der Wahrnehmung nach bekannte Gegensätze annehmen, schlechter reden, da die zuletzt genannten Gegensätze die in 188a2730 aufgestellten Kriterien einer άρχή nicht erfüllen. Die Charakterisierung der früheren Gegensätze als Gegensätze, die dem Begriff nach bekannter sind, und der späteren Gegensätze als Gegensätze, die der Wahrnehmung nach bekannter sind, erinnert an die in Kapitel 1.1 eingeführte Methodologie, der zufolge sich ebenfalls ein Gegensatz zwischen Wahrnehmung (α'ίσθησις) und Begriff (λόγος) ergab. Dieser Gegensatz bestand dort darin, daß sich die einzelnen konkreten Dinge im Gegensatz zu den Prinzipien, die dem Begriff nach bekannter sind, als der Wahrnehmung nach bekannter erwiesen. In Analogie zu Kapitel 1.1 findet sich auch in Kapitel 1.5 ebenfalls eine Gegenüberstellung der Begriffe des Allgemeinen (τό καθόλου) und des Einzelnen (τό καθ' έκαστον). Doch während mit dem „καθόλου" in Kapitel 1.1 die einzelnen Dinge als undifferenzierte Wahrnehmungsobjekte gemeint waren, denen die Prinzipien als ,,καθ' έκαστα" im Sinne von Bestandteilen dieses undifferenzierten Ganzen gegenüberstanden, meint das „καθόλου" in Kapitel 1.5 als das dem λόγος nach Bekannte das begrifflich Allgemeine, dem das ,,καθ' έκαστον" als individuell Einzelnes, das der Wahrnehmung nach bekannt ist, gegenübersteht. Obgleich die Begriffe des „καθόλου" und des ,,καθ' έκαστον" somit in beiden Kapiteln eine unterschiedliche - ja sogar entgegengesetzte - Bedeutung haben, werden sie doch in beiden Kapiteln jeweils in einem wörtlichen Sinne verstanden. Denn wurde in Kapitel 1.1 das „καθόλου" wörtlich als „auf das Ganze bezogen" (κατά όλον) und ,,καθ' έκαστα" wörtlich als „auf die einzelnen Teile bezogen" verstanden (184a25-26), so lautet die Begründung in Kapitel 1.5 dafür, Eine Zuordnung der angeführten Beispiele zu einzelnen Vertretern ergibt folgendes Bild: „Ungerades-Gerades" bezieht sich auf die Pythagoreer, „Streit-Liebe" auf Empedokles, „Warmes-Kaltes" auf Parmenides, und „Feuchtes-Trockenes" vermutlich auf Xenophanes (vgl. Ross, 1946: 489). Von den weiter unten angeführten Beispielen bezieht sich das „Große-undKleine" auf Piaton und „das Dünne und das Dichte" auf die erste Gruppe der Naturphilosophen (vor allem auf Anaximenes).
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der ά ρ χ α ί '
daß das Allgemeine (τό καθόλου) dem Begriff nach und das Einzelne (τό καθ' έκαστον) der Wahrnehmung nach bekannt ist, wie folgt: „Denn der Begriff ist auf das Allgemeine [του καθόλου] bezogen, die Wahrnehmung aber auf den einzelnen Teil [του κατά μέρος]" (189a7-8). Die unterschiedliche Bedeutung der Ausdrücke „καθόλου" und ,,καθ' έκαστον" in den Kapiteln 1.1 und 1.5 erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß jeweils ein verschiedenes Ganzes (δλον) und damit verbunden auch jeweils verschiedene Teile (μέρη) dieses Ganzen gemeint sind: War in Kapitel 1.1 mit dem „Ganzen" das undifferenzierte ganze Wahrnehmungsobjekt gemeint, dessen Teile die Prinzipien sind, so ist in Kapitel 1.5 mit dem „Ganzen" das begrifflich Allgemeine gemeint, dessen Teile durch die einzelnen konkreten Exemplare dieses Allgemeinen repräsentiert sind. Zwar unterscheiden sich die Vorgänger dadurch voneinander, daß die einen frühere und die anderen spätere Gegensätze angenommen haben - und es scheint ihnen selbst so, daß sie sich voneinander unterscheiden, da sie ja auch in eine Kritik miteinander traten, welches unnötig wäre, wenn sie sich nicht voneinander unterschieden hätten -, doch sagen sie andererseits auch irgendwie dasselbe, insofern dies Aristoteles zufolge alles 'analog' (άνάλογον) ist (188b36-189al). Diese zwischen ihren Ansichten bestehende „Analogie" begründet Aristoteles mit dem Hinweis darauf, daß sie ihre Gegensätze aus derselben 'Anordnung' (συστοιχία) nehmen, wobei mit dieser Anordnung vermutlich die pythagoreische Tafel der Gegensätze gemeint ist, die Aristoteles in Met. 1.5, 986a22-26 unter Verwendung des Begriffs „κατά συστοιχίαν" anführt.80 Bei dieser Anordnung galten die in der linken Spalte stehenden Begriffe im Vergleich zu den ihnen in der rechten Spalte zugeordneten Begriffen jeweils als das Vollkommenere: Abb. 5.4: Die Gegensatztafel
der Pythagoreer nach Met. 1.5:
Grenze (πέρας) Ungerades (περιττόν) Eines (εν) Rechtes (δεξιόν) Männliches (άρρεν) Ruhendes(ήρεμοΰν) Gerades (ευθύ) Licht (φως) Gutes (άγαθόν) Quadrat (τετράγωνον)
-
Unbegrenztes (άπειρον) Gerades (αρτιον) Menge (πλήθος) Linkes (άριστερόν) Weibliches (θήλυ) Bewegtes (κινοΰμενον) Gekrümmtes (καμπύλον) Dunkel (σκότος) Schlechtes (κακόν) Rechteck (έτερόμηκες)
Die Analogie zwischen den Vorgängern, die frühere Gegensätze angenommen haben, und den Vorgängern, die spätere Gegensätze angenommen haben, besteht darin, daß beide jeweils konträre Gegensätze als Prinzipien gesetzt haben, von denen ein Glied des Gegensatzes in die Spalte positiver Terme fällt, während das
80
Vgl. auch Zekl (1987: 244, Fn.57), Ross (1936: 489) und Wagner (1967: 423).
Der Übergang v o n den φ ύ σ ε ι γ ι γ ν ό μ ε ν α zu den ά ρ χ α ί
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andere Glied des Gegensatzes in die Spalte negativer Terme fällt.81 Sie sagen deshalb dasselbe, da z.B. das Verhältnis von 'Streit : Liebe' insofern mit dem Verhältnis von 'Warmem : Kaltem' identisch ist, als beide Verhältnisse einen konträren Gegensatz beschreiben. Ross (1936: 489) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die beiden Spalten nicht nur dadurch eine Ordnung bilden, daß sie einander gegenüberliegend jeweils Paare von konträren Gegensätzen darstellen, sondern auch dadurch, daß jede Spalte für sich zudem eine Anordnung in dem Sinne bedeutet, daß sie von oben nach unten gelesen eine Strukturierung von weiteren zu engeren Begriffen beinhaltet. Letzteres ist Ross zufolge der Hauptgesichtspunkt, der hier im Hinblick auf das „καθόλου" und ,,καθ' έκαστον" - bzw. im Hinblick auf das „περιέχει" und „περιέχεται" - ins Auge zu fassen ist.82 Aristoteles kann das Kapitel 1.5 nun mit folgender Konklusion beschließen: Daß a l s o die Prinzipien G e g e n s ä t z e / g e g e n s ä t z l i c h sein müssen, ist o f f e n k u n d i g . (1.5, 188a9-10)
Diese Konklusion unterscheidet sich aber insofern von der zu Beginn des Kapitels erwähnten Setzung der Gegensätze als Prinzipien bei den Vorgängern, als diese Konklusion, der zufolge die Prinzipien gegensätzlich bzw. Gegensätze sein müssen, nun eher eine intensionale - und nicht mehr eine bloß extensionale Bestimmung des Prinzipienbegriffs darstellt. Mit der Bestimmung, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, ist aber noch nicht gesagt, welche Gegensätze Prinzipien sind, auch wenn wir bereits weitere Kriterien erhalten haben, aus denen sich zumindest im Sinne einer ersten Annäherung ablesen läßt, was für Gegensätze die Prinzipien sein müssen, sofern sie gegensätzlich sind.
5.5.2 Eine Anmerkung: „Die Ursachen des Werdens" (αίτίαι της γενέσεως) Eine wichtige Bemerkung macht Aristoteles in 188b35, wo er sagt, daß die Vorgänger bestimmte Gegensätze als Ursachen des Werdens ansetzen (vgl. „αιτίας τίθενται της γενέσεως"). Wir begegnen hier zum ersten Mal wieder dem Begriff der „Ursache" (αιτία), nachdem die άρχαί, αϊτια und στοιχεία zu Beginn von Kapitel 1.1 parallel genannt wurden und im weiteren Verlauf der Untersuchung zwar die άρχαί und die στοιχεία, nicht aber die αίτια Erwähnung fanden. Wird in 188b35 nun gesagt, daß die Vorgänger die Gegensätze als Ursachen des Werdens gesetzt haben, so wird den Gegensätzen hier eine bestimmte Funktion zugeschrieben, die ich dahingehend verstehe, daß die Vorgänger ihre
82
Vgl. auch Ross (1936: 489) und Wagner (1967: 423). Zu der Bestimmung, daß die eine Spalte positive Terme enthalt, während die andere Spalte negative Terme enthält, vgl. auch De An. III.7, 431a22 ff., Met. IV.2, 1004b27-31 und Phys. III.2, 201b25-26. In Met. IV.2, 1004b27-31 nennt Aristoteles verschiedene Gegensatzpaare (Ruhe-Bewegung; Ungerades-Gerades, Warmes-Kaltes, Grenze-Unbegrenztes, Liebe-Streit), bei denen sich das eine Glied jeweils als Privation des anderen Gliedes erweist (vgl. auch Phys. III.2, 201 b25-26). Ross (1936:489) verweist hier auf An. pr. 66b27 und An. post. 79b7-10, 80b27; 87b6.
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Physik I. 5: 'Die Gegensätzlichkeit der άρχαί'
fundamentalen Gegensätze primär nicht als Ursachen (bzw. Gründe) des Seins, sondern vielmehr als Ursachen des Werdens angesehen haben.83 Dies deutet darauf hin, daß die Vorgänger, wenn es keine Bewegung gäbe, wohl auch keine Gegensätze als Ursachen der Bewegung gesetzt hätten. Mit anderen Worten: Vor allem aufgrund ihres Werdens, und weniger aufgrund ihres Seins, stellen sich die Naturdinge als einander gegensätzlich dar. Daß die Naturdinge in Kapitel 1.5 vor allem als φύσει γιγνόμενα betrachtet werden, wird auch aus der Konklusion in 188b25-26 deutlich, wo von allen φύσει γιγνόμενα - und nicht von allen φύσει όντα - die Rede ist. Werden somit vor allem für ihr Werden gegensätzliche Prinzipien benötigt, so deutet dies daraufhin, daß ihr Sein vielleicht nicht durch eine Gegensätzlichkeit, sondern durch etwas anderes konstituiert ist, das Aristoteles im nachfolgenden Kapitel 1.6 mit dem „Zugrundeliegenden" (ύποκείμενον) thematisieren wird. Von diesem Zugrundeliegenden ist in Kapitel 1.5, wo es nur um die Gegensätze als Prinzipien geht, noch keine Rede. Zwar wurde das Zugrundeliegende zu Beginn von Kapitel 1.4 in 187a 13 bereits erwähnt, doch wurde es im weiteren Verlauf der Untersuchung nicht weiter thematisiert. In bezug auf die Form der Darstellung, wie die einzelnen Prinzipien gedanklich 'entdeckt' werden, steht die Doxographie in Physik I in einem Gegensatz zur Doxographie in Metaphysik I. Stellt sich die Doxographie in Metaphysik I dem Leser so dar, daß die Vorgänger von einem ύποκείμενον ausgingen, um dann durch die Wahrheit gezwungen Gegensätze als Ursachen der Bewegung anzunehmen, so stellt sich die Doxographie in Physik I dem Leser als diametral entgegengesetzt dazu dar, insofern hier zunächst davon die Rede ist, daß die Vorgänger von den Gegensätzen als Ursachen der Bewegung ausgingen (1.5), um dann durch Aporien gezwungen dazu zu gelangen, den Gegensätzen ein ύποκείμενον zugrunde zu legen (1.6). Die Umkehrung des „Entdeckungszusammenhangs" der Prinzipien findet seinen Grund vermutlich darin, daß die Physik ihren Blick eher auf das Werdende (γιγνόμενον) richtet - aus diesem Grunde treten zunächst die Gegensätze in den Vordergrund -, während die Metaphysik ihren Blick eher auf das Seiende (öv) richtet - aus diesem Grunde tritt dort zunächst das ύποκείμενον in den Vordergrund. Dies deutet daraufhin, daß Aristoteles die Darstellung der Doxographien an den für eine jede Wissenschaft jeweils primären Gesichtspunkt anzupassen scheint.
Vgl. Met. 1.3, wo Aristoteles die Entdeckung der Prinzipien bei den Vorgängern damit beginnen laßt, daß sie alle von einem zugrundeliegendem Stoff ausgegangen sind und von dort aus aufgrund der Notwendigkeit der Erklärung des Werdens ein weiteres Prinzip als Ursache der Bewegung angenommen haben.
6. Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον' Hat die Untersuchung in Kapitel 1.5 ergeben, daß die Prinzipien der Naturdinge gegensätzlich sein müssen, so wird in Kapitel 1.6 nun die Frage gestellt, ob die Naturdinge allein durch gegensätzliche Prinzipien konstituiert werden können.
6.1 Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί (I89al 1-20) Anschließend aber wäre wohl darüber zu sprechen, ob es zwei, drei oder mehr [Prinzipien] gibt. Eines nämlich kann es ja nicht sein, weil die Gegensätze nicht Eines sind; aber auch nicht unbegrenzt viele, weil dann das Seiende nicht erkennbar wäre [ούκ έπιστητόν τό δν έσται], und weil es in einer jeden einheitlichen Gattung eine einzige Entgegensetzung gibt [μία τε έναντίωσις έν παντΐ γένει ένί] 'Ding'/'Wesen' [ή ούσία] aber ist so eine einheitliche Gattung -, und weil [eine Herleitung] aus einer begrenzten Anzahl möglich ist, und zwar besser aus einer begrenzten Anzahl, so Empedokles, als aus einer unbegrenzten. Denn er glaubt ja, alles das auch leisten zu können, was Anaxagoras aus seinen unbegrenzt vielen [herleitet]. Außerdem sind einige der Gegensätze früher als andere [ετι δέ εστίν α λ λ α άλλων πρότερα έναντία], und andere werden auseinander [και γίγνεται ετερα έξ αλλήλων], wie z.B. süß und bitter, weiß und schwarz; die Prinzipien aber müssen immer bleiben [τάς δέ άρχάς άεί δει μένειν], (1.6, 189al 1-20)
Der einleitende Abschnitt stellt eine Begründung (vgl. ,,γάρ": 189al2) dafür dar, daß es weder ein einziges noch unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, so daß deren Anzahl auf zwei, drei oder (begrenzt) viele zu begrenzen ist.1 Wird in bezug auf die Unmöglichkeit der Annahme (1) eines einzigen Prinzips nur ein einziger Grund genannt - nämlich die Tatsache, daß die Gegensätze nicht Eines sind (189al2) -, so werden in bezug auf die Unmöglichkeit der Annahme (2) unbegrenzt vieler Prinzipien vier Gründe angeführt: (a) Das Seiende wäre nicht erkennbar (189al3); (b) in jeder einheitlichen Gattung gibt es nur eine Entgegensetzung und ούσία ist so eine einheitliche Gattung (189al3-14); (c) die Herleitung aus begrenzt vielen Prinzipien ist möglich und besser als die Herleitung aus unendlich vielen Prinzipien (189a 14-17); (d) einige Gegensätze sind früher als andere, und andere Gegensätze werden auseinander (189al7-20). Obgleich Aristoteles bereits in den vorangegangenen Kapiteln sowohl die Unmöglichkeit der Annahme eines einzigen Prinzips als auch die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien gezeigt hat, werden nun noch weitere Vgl. auch 1.2, 184bl5-22.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
Gründe gegen diese Annahmen angeführt. Der Umstand, daß Aristoteles hier nicht auf bereits Gezeigtes verweist, sondern weitere Gründe gegen diese Annahmen anführt, ist dadurch zu erklären, daß mit dem Resultat von Kapitel 1.5, dem zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, eine weitere Prämisse zugrunde liegt, die ein neues Licht auf die verschiedenen zahlenmäßigen Möglichkeiten von Prinzipien wirft. Gerade weil die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so scheint Aristoteles nun zu argumentieren, kann es weder ein einziges Prinzip geben (denn Gegensätze sind nicht Eines), noch dürfen unbegrenzt viele Prinzipien angenommen werden (denn in jeder einheitlichen Gattung gibt es nur eine (erste) Entgegensetzung; zudem können spätere Gegensätze auf frühere Gegensätze reduziert werden).
(1) Die Unmöglichkeit der Annahme eines einzigen Prinzips Eines nämlich kann es ja nicht sein, weil die Gegensätze nicht Eines sind. ( 1 8 9 a l 2 )
Das Argument gegen die Annahme eines einzigen Prinzips setzt das Ergebnis des Kapitels 1.5 voraus. Wenn nämlich klar ist, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so ist auch klar, daß es nicht nur ein einziges Prinzip - sei dies bewegt oder unbewegt - geben kann, da ein Gegensatz der Zahl nach immer schon eine Zweiheit darstellt.
(2) Die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien (2a) 'Das Seiende wäre nicht erkennbar' Aber auch unbegrenzt viele [können es nicht sein], weil dann das Seiende nicht erkennbar wäre [ούκ έπιστητόν τό δ ν εσται]. (1.6, 189al2-13)
Dieses Argument greift auf die methodologische Vorbemerkung in Kapitel 1.1, 184al2ff. zurück, der zufolge jedes wissenschaftliche Erkennen ein Erkennen aus Prinzipien ist. Sind diese aber der Zahl nach unbegrenzt, so ist es - wie Aristoteles bereits in Kapitel 1.4, 187b7-13 gezeigt hat - unmöglich, ein Wissen von demjenigen Seienden zu erhalten, das aus den Prinzipien sein soll. Denn bei Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien, die als unbegrenzt viele nicht erkennbar sein würden, wären auch diejenigen Seienden, die aus den Prinzipien sind, ebenfalls unerkennbar, obgleich sie doch gerade durch die Prinzipien erkennbar sein sollen. 2
Vgl. auch Happ (1971: 280): „Das Unbegrenzte als solches ist nicht erkennbar; wenn es unbegrenzt viele Prinzipien gibt, sind sie unerkennbar; da nun bei Nichtkenntnis der Prinzipien auch das, was aus ihnen folgt, nicht erkannt werden kann, kann also nichts in der Welt erkannt werden."
Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί
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(2b) 'In einer jeden einheitlichen Gattung gibt es nur eine Entgegensetzung' [Es kann nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben], weil es in jeder einheitlichen Gattung eine einzige Entgegensetzung gibt [μία τε έναντίωσις έν παντί γένει ένί] - 'Ding'/'Wesen' [ή ούσία] aber ist so eine einheitliche Gattung. (1.6, 189al3-14) Dieses Argument hat folgende Struktur: Aus den Prämissen (i) „in einer jeden einheitlichen Gattung gibt es (nur) eine Entgegensetzung" und (ii) „die ούσία ist eine einheitliche Gattung" ergibt sich zunächst die im Text nicht ausgesprochene Konklusion, daß es bei der ούσία nur eine Entgegensetzung gibt. Diese Konklusion soll fernerhin einen Grund dafür darstellen, daß es nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben kann. Da das Argument eine Begründung für die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien darstellen soll, und da die Konklusion „bei der ούσία gibt es nur eine Entgegensetzung" zunächst jedoch nur ein Argument gegen die Annahme von unbegrenzt vielen gegensätzlichen Prinzipien - nicht aber ein Argument gegen die Annahme von unbegrenzt vielen anderen, nicht gegensätzlichen Prinzipien - darstellt, ist davon auszugehen, daß auch hier das Ergebnis von Kapitel 1.5 („die Prinzipien müssen gegensätzlich sein") vorausgesetzt ist. Denn wenn man voraussetzt, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so stellt die Konklusion, daß es bei der ούσία nur eine einzige Entgegensetzung gibt, einen Grund dafür dar, daß es nicht unbegrenzt viele (gegensätzliche) Prinzipien geben kann.3 In bezug auf die in dem in 189al3-14 angeführten Argument enthaltenen Prämissen (i) und (ii) drängen sich jedoch folgende Fragen auf: Was haben wir unter einer „einheitlichen Gattung" zu verstehen, und warum findet sich in einer einheitlichen Gattung nur eine Entgegensetzung? Warum stellt die ούσία selbst eine einheitliche Gattung dar? Zur Beantwortung dieser Fragen wollen wir zunächst einen Blick auf den Abschnitt 189b22-27 werfen, wo Aristoteles dasselbe Argument in einer ausführlicheren Form wiederholt: Zugleich aber ist es auch unmöglich, daß die ersten Entgegensetzungen [εναντιωθείς τάς πρώτας] mehrere sind. Denn die ουσία ist eine einheitliche Gattung des Seienden, so daß sich die Prinzipien nur in bezug auf das Früher und Später voneinander unterscheiden, nicht aber in bezug auf die Gattung. Denn in einer einzigen Gattung [έν ένΐ γένει] ist [nur] eine einzige Entgegensetzung [μία έναντίωσις], und alle Entgegensetzungen scheinen auf eine hinzuführen. (1.6, 189b22-27)
Angesichts der Tatsache, daß das Kapitel 1.6 jedoch zeigen soll, daß nicht nur die Gegensätze Prinzipien sein können, erklärt sich auch der Umstand, warum das Argument aus 189al3-14 am Ende des Kapitels in 189b22-24 wiederholt wird. Da das Argument zu Beginn des Kapitels 1.6 zunächst noch vor dem Hintergrund des Ergebnisses von Kapitel I.S, dem zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, angeführt wird, bedarf dieses Argument im Anschluß an die in Kapitel 1.6 durchgeführte Untersuchung, der zufolge sich ergeben wird, daß den Gegensätzen ein anderes zugrunde zu legen ist, so daß nicht nur Gegensätze Prinzipien sein können, einer erneuten Betrachtung. Diese erneute Betrachtung findet sich in 189b 16-27, wo das Argument aus 189al3-14 zwar ebenfalls als Begründung dafür fungieren soll, daß die Gegensatzpaare nicht unbegrenzt viele sein können, doch im Unterschied zum Anfang des Kapitels 1.6 steht das Argument nun im Kontext mit einer Begründung dafür, daß auch das ΰποκείμενον der Zahl nach nicht unbegrenzt sein kann.
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Die Charakterisierung der ούσία als eine „Gattung des Seienden" (γένος του δντος: 189b23-24) deutet daraufhin, daß Aristoteles hier an die in Kapitel 1.2, 185a20-32 dargelegte Unterscheidung der mehrfachen Bedeutungen des 'Seienden' (öv) anknüpft. Dort hieß es, daß das 'Seiende' (öv) auf mehrfache Weise gesagt wird: So kann mit dem Ausdruck ,,τό öv" entweder eine ουσία, ein ποιόν oder ein ποσόν gemeint sein. Vor diesem Hintergrund wäre die ούσία - ebenso wie das ποιόν und ποσόν - als eine Gattung des Seienden zu verstehen.4 Die in Kapitel 1.2 für eine ούσία genannten Beispiele „Pferd", „Mensch" und „Seele" sollten verdeutlichen, daß mit dem Ausdruck „ούσία" etwas gemeint ist, das sich als Zugrundeliegendes (ύποκείμενον) im Gegensatz zu einem Quantitativen (ποσόν: 'ein drei Ellen Langes') oder Qualitativen (ποιόν: 'ein Weißes') durch seine Selbständigkeit (χωριστόν) auszeichnet. Diese Selbständigkeit ist unter anderem darin begründet, daß die ούσία selbst nicht von einem anderen, sondern daß umgekehrt alles andere von ihr ausgesagt wird. Wie bereits in Kapitel 2.6.1 dargelegt wurde, haben wir es dort in bezug auf die ούσία weder mit einem konkreten Ding als ein Ganzes mit all seinen Eigenschaften noch im engeren Sinne mit dem speziellen Wesen eines Dings zu tun; „ούσία" meinte dort vielmehr ein Mittleres zwischen diesen Bedeutungen, dem ich die Bezeichnung „Ding im einfachen Sinne" gab. Daß in Kapitel 1.6 mit dem Ausdruck „ούσία" nun ebenfalls nicht das konkrete Ding als ein Ganzes mit all seinen Eigenschaften gemeint ist, wird daraus ersichtlich, daß die ούσία hier als eine eigenständige, einheitliche Gattung des Seienden angeführt wird (189al3; b23-24), wobei für die ούσία zudem gelten soll, daß sie nicht einer ούσία entgegengesetzt ist (189a32-33). Fernerhin heißt es, daß wir bei keinem Seienden die Gegensätze als ούσία vorkommen sehen (189a29). Vor diesem Hintergrund ist die Bestimmung der ούσία als eine 'einheitliche Gattung' wohl in dem Sinne zu verstehen, daß die ούσία getrennt vom Qualitativen (ποιόν) und Quantitativen (ποσόν) zu betrachten ist, die für sich gesehen ebenfalls Gattungen des Seienden darstellen. Während also z.B. der Ausdruck „gebildeter Mensch" bereits für eine Zusammensetzung von verschiedenen Gattungen des Seienden steht (nämlich für eine Zusammensetzung von ούσία und ποιόν), steht der Ausdruck „Mensch" für die einfache (einheitliche) Gattung der ούσία und der Ausdruck „Gebildeter" für die einfache (einheitliche) Gattung des ποιόν. Während Wicksteed und Comford der Ansicht sind, daß man in bezug auf die Bedeutung der Begriffe von ούσία und γένος in Kapitel 1.6 nicht der Versuchung erliegen solle, sie im Sinne von 'Substanz' und 'Kategorie' zu verstehen vielmehr seien im Anschluß an Simplicius (198.28) unter den ούσίαι all die konkreten Dinge zu verstehen, die die Natur konstituieren und der Veränderung unterliegen können -,5 hat man im Gegensatz dazu die ούσία in Kapitel 1.6 späRoss (1936: 489 f.) weist in seinem Kommentar darauf hin, daß mit den Gattungen hier die 'Kategorien' (categories) gemeint seien (vgl. auch Wagner, 1967: 423 f. und Charlton, 1970: 67). Zur ουσία als eine Gattung des Seienden vgl. auch Phys. VII. 1, 242a69-b42, V.4, 227b4 f f , Met. V.28, und VII. 1. Vgl. Wicksteed/Cornford (1980: 60): „The student must resist the temptation to take ούσία and γένος in this passage [gemeint ist 189al3-14] in the sense that first suggests itself, of
Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler ά ρ χ α ί
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terhin gerade im Sinne der Substanz und das γένος im Sinne der Kategorie verstanden. 6 Wicksteed und Cornford sind offenkundig der Ansicht, daß Aristoteles in 189al3-14 mit den ούσίαι über eine ganz bestimmte Klasse (γένος) von Dingen, nämlich über die Naturdinge, reden will. Dieses Verständnis wird auch in ihrer Übersetzung der Sätze 189al3-14 deutlich: Now, as far as antithesis goes, two principles would be enough, for every defined class comes under one general antithesis, and the whole sum of 'things that exist in Nature,' as such, forms a defined class. (Wicksteed/Cornford, 1980: 59-61)
Nun trifft es zwar zu, daß Aristoteles im Buch Α der Physik die Prinzipien der Naturdinge als Gegenstand der Untersuchung wählt, doch ist es fraglich, ob er in 189a 13-14 mit den ούσίαι die „konkreten Dinge der Natur" meint, die zusammengenommen die Klasse (γένος) aller Naturdinge bilden. Sofern man nämlich davon ausgeht, daß die Bedeutung des Wortes ,,ούσία" in Kapitel 1.6 als eine durchaus einheitlich Bedeutung zu betrachten ist, stößt man mit der Bestimmung der ούσίαι als τά φ υ σ ι κ ά π ά ν τ α πράγματα spätestens in 189a32-33, wo es heißt, daß der ο υ σ ί α keine ουσία entgegengesetzt sei, insofern auf Schwierigkeiten, als die konkreten Naturdinge doch in dem Sinne einander entgegengesetzt sein können, daß z.B. ein warmes Ding einem kalten Ding entgegengesetzt ist; die konkreten Naturdinge mit all ihren Eigenschaften zeichnen sich doch gerade - wie das Kapitel 1.5 gezeigt hat - durch ihre Gegensätzlichkeit zueinander aus. Aus diesem Grunde scheint mir der Ausdruck „ουσία" hier eher auf die Substanz und auf das 'Ding im einfachen Sinne' zu beziehen zu sein, wobei es jedoch ratsam ist, zunächst in einem möglichst weiten Sinne zwei Bedeutungen von ουσία im Auge zu behalten: ούσία als 'Wesen eines Dings' und ουσία als 'Ding im einfachen Sinne'. Wagner bemerkt hierzu folgendes: Ο ύ σ ί α muß also gleichzeitig in beiden Bedeutungen gedacht werden, wie das j a der Kernpunkt des arist. οΰσία-Theorems ist: ο ύ σ ί α ist der bestimmte Einzelgegenstand selbständiger Natur; aber er ist eben bestimmter nur, sofern er in seiner Wesensbestimmtheit seine fundamentale Bestimmtheit besitzt. (Wagner, 1967: 425)
Haben wir uns nun der Bedeutung des Ausdrucks „ουσία" in Kapitel 1.6 angenähert, so stellt sich jedoch die Frage, warum die ούσία in der dargelegten Bedeutung eine Gattung darstellt, in der es nur eine (erste) Entgegensetzung gibt. Ross (1936: 490) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß mit der obersten Entgegensetzung innerhalb der Kategorie der ούσία die Entgegensetzung von Form und Privation gemeint sei.7 Zwar ist dieser These aus Sicht des Ergebnisses des Buches Α der Physik durchaus zuzustimmen, doch ist hierbei
6
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'substance' and 'category' respectively. I follow Simplicius (198.28) in taking ούσία to stand here and elsewhere in this chapter for 'all the concrete things that constitute Nature and are capable of change,' τά φυσικά πάντα πράγματα, as distinct from the immaterial existences touched upon, or dealt with, in the De caelo and the Metaphysica, and led up to in the Physics." Vgl. Ross (1936: 344 und 490), Guzzoni (1975: 43-36; 54-59) und Happ (1971: 280 f.), die die Ansicht vertreten, daß mit dem Ausdruck „ουσία" in Kapitel 1.6 vor allem das Wesen einer Sache gemeint sei. Vgl. auch Apostle (1969: 197, Fn.3).
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ΰποκείμενον'
zugleich zu bedenken, daß das Argument in 189al3-14 auch ohne das Wissen um είδος und στέρησις als erste Entgegensetzung innerhalb der Kategorie der ουσία für den Hörer verständlich sein muß. Denn von dem Gegensatz είδος στέρησις, der erst in Kapitel 1.7 eingeführt wird, ist in der bisherigen Untersuchung ja noch keine Rede gewesen. Mit dem Gedanken, daß sich in einer jeden einheitlichen Gattung nur eine einzige Entgegensetzung findet, scheint Aristoteles an das Ende von Kapitel 1.5 anzuknüpfen, wo dargelegt wurde, daß es frühere und spätere, umfassende und umfaßte Gegensätze gibt. Dieses Vorhandensein von früheren (umfassenderen) und späteren (umfaßten) Gegensätzen deutete nämlich zugleich auf die Existenz eines frühesten und umfassendsten Gegensatzes hin. So hieß es in Kapitel 1.5, 188a28-30 ja auch, daß nur die ersten Gegensätze als Prinzipien fungieren können. Die Möglichkeit der Reduktion der Gegensätze auf frühere und grundlegendere Gegensätze wurde bereits in Kapitel 1.4, 187al 5-17 angedeutet, wo Aristoteles die Gegensätze 'Dichte-Dünne' und 'Großes-Kleines' unter den allgemeinen (καθόλου) Gegensatz von 'Übermaß und Mangel' (υπεροχή και ελλειψις) zusammenfaßte (vgl. 1.6, 189 b8-l 1). Der Gedanke, daß es in einer jeden einheitlichen Gattung nur eine einzige Entgegensetzung gibt, ist nicht in dem Sinne zu verstehen, daß es faktisch gesehen nur eine einzige Entgegensetzung gibt. Es ist vielmehr gemeint, daß es durchaus mehrere Entgegensetzungen in einer Gattung geben kann, wobei diese mehreren Entgegensetzungen aber auf eine einzige Entgegensetzung hinzuführen scheinen (vgl. 1.6, 189b25-27), so daß es in einer jeden einheitlichen Gattung letztlich nur eine einzige erste Entgegensetzung gibt, auf die alle anderen Entgegensetzungen reduziert werden können. Welche konkrete Entgegensetzung in einer jeden einzelnen Gattung jeweils als erste anzusehen ist, wird von Aristoteles nicht gesagt. Dies ist für das Argument selbst auch insofern nur von sekundärer Bedeutung, als doch zunächst nur gezeigt werden soll, daß es nicht unbegrenzt viele Entgegensetzungen gibt. Allein die Möglichkeit der Reduktion von Gegensätzen auf andere, frühere Gegensätze impliziert für Aristoteles die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler (gegensätzlicher) Prinzipien. Nun ist in bezug auf das Argument in 189al3-14 jedoch folgende, zum Teil berechtigte Kritik geäußert worden: Die Tatsache, daß sich innerhalb einer jeden einzelnen Gattung faktisch gesehen doch jeweils verschiedene Entgegensetzungen finden, die einerseits fiindamental zu sein scheinen und die andererseits nicht aufeinander reduziert werden können, deutet darauf hin, daß doch mehrere Entgegensetzungen als Prinzipien fungieren können. So weist Apostle (1969: 197, Fn.3) daraufhin, daß in der Kategorie der Quantität die fundamentalen Entgegesetzungen „gerade-ungerade" (in bezug auf die Zahlen) und „geradegekrümmt" (in bezug auf die Linien) nicht aufeinander reduziert werden können.8 Zudem wurde auf folgendes Problem hingewiesen: Selbst wenn man zugeAuch Happ (1971: 280) sieht hier Probleme, wobei er sich jedoch die Reduktion der Gegensatze in der Kategorie der Quantität noch am ehesten vorzustellen vermag: „2. »Es gibt in jeder Kategorie ein Gegensatzpaar, die Substanz aber ist eine Kategorie« (189a 13f) und zwar, dürfen wir hinzufügen, die oberste, um die es uns hier zunächst und am meisten geht. Aristoteles nimmt also in jeder der zehn Kategorien ein Gegensatzpaar an: Auf die Substanz gehen wir
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steht, daß sich in einer jeden Gattung nur eine einzige Entgegensetzung findet, gibt es gleichwohl immer noch mehrere Entgegensetzungen, da es ja auch mehrere Gattungen (ουσία, ποιόν, ποσόν usw.) gibt, für die jeweils verschiedene Entgegensetzungen grundlegend sind. Diese verschiedenen Entgegensetzungen können deshalb nicht aufeinander reduziert werden, da sie verschiedenen Gattungen angehören. 9 Solmsen bemerkt in diesem Zusammenhang: It is curious that in I, 6. 1 8 9 a l 3 Aristotle justifies his assumption of two, and no more contraries by saying that substance is one category and that in each category there is only one contrariety. This may give the impression that he would allow another pair o f contraries for, say, quality and quantity. Yet nothing comes o f this possibility. (Solmsen, 1960: 79, Fn.17)
Mag man bezüglich der zuletzt genannten Schwierigkeit zur Verteidigung von Aristoteles zunächst zwar darauf hinweisen, daß dieser Einwand das Argument in 189a 13-14, das eine Begründung dafür darstellen soll, daß es nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, insofern nicht beeinträchtigt, als die Zahl der Entgegensetzungen bei Annahme einer fundamentalen Entgegensetzung für eine jede einzelne Gattung insofern immer noch begrenzt - und nicht unbegrenzt wäre, als die Zahl der Gattungen bei Aristoteles ebenfalls begrenzt ist, so ist zugleich aber darauf hinzuweisen, daß dies in 189b22-27 nicht mehr zur Verteidigung angeführt werden kann. Dort soll dasselbe Argument ja eine Begründung dafür darstellen, daß die Prinzipien nicht mehr als eine Entgegensetzung beinhalten (vgl. 189b22-23: ,,αμα δέ και αδύνατον πλείους είναι έναντιώσεις τάς πρώτας"). Charltons Versuch, den ersten Einwand bezüglich der Tatsache, daß es innerhalb einer jeden einzelnen Gattungen doch jeweils verschiedene fundamentale und nicht aufeinander reduzierbare Entgegensetzungen zu geben scheint, mit dem Hinweis zu entkräften, daß hier nicht von fundamentalen Entgegensetzungen innerhalb einer Kategorie (z.B. in der Kategorie der Qualität), sondern innerhalb verschiedener Bereiche einer Kategorie (z.B. bei den Farben, Formen usw.) die Rede sei - so gibt es z.B. bei den Farben den fundamentalen Gegensatz von hell (λευκόν) und dunkel (μέλαν) -,10 ist insofern wenig überzeugend, als im Text eindeutig von den fundamentalen Entgegensetzungen innerhalb einer Gattung - und nicht innerhalb von Bereichen der Gattungen - die Rede ist.
9 10
gleich unten ein. Da bei den Akzidentien in jeder Kategorie viele Gegensatz-Paare auftreten können (z.B. Qualität: süß-bitter, arm-reich, schön-häßlich, ungebildet-gebildet usw.), muß Aristoteles jeweils an ein oberstes Paar der betreffenden Kategorie gedacht haben, unter das die anderen Paare subsumiert werden können (Ross). Vorstellbar ist es nicht leicht, am ehesten noch bei der Quantität, wo alles auf ein 'mehr oder weniger' hinausläuft. Jedenfalls wäre so nur eine begrenzte Zahl von Gegensatzpaaren vorhanden, schematisch gesprochen etwa eines der Substanz, neun der Akzidentien." Vgl. Apostle (1969: 197, Fn.3), Happ (1971: 280) und Bostock (1982: 194). Charlton (1970: 67) weist in diesem Zusammenhang auf De An. II. 11, 422b23-27 hin, wo es heißt: „Jeder Wahmehmungssinn scheint sich nämlich auf nur einen Gegensatz (eines Gegenstandsbereiches) zu beziehen, z.B. das Gesicht auf Weißes und Schwarzes, das Gehör auf Hohes und Tiefes, der Geschmack auf Bitteres und Süßes. Im Tastbaren aber liegen viele Gegensätze: Warmes und Kaltes, Trockenes und Feuchtes, Hartes und Weiches, und anderes dergleichen mehr." (Übers, nach Theiler).
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Physik I. 6: 'Die Einfuhrung des ϋ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
(2c) 'Die Herleitung aus einer begrenzten Anzahl ist möglich und besser' [Es kann nicht unbegrenzt viele Prinzipien geben], weil [eine Herleitung] aus einer begrenzten Anzahl möglich ist, und zwar besser aus einer begrenzten Anzahl, so Empedokles, als aus einer unbegrenzten. Denn er glaubt ja, alles das auch leisten zu können, was Anaxagoras aus seinen unbegrenzt vielen [herleitet]. (1.6, 1 8 9 a l 4 - 1 7 )
Ein weiterer Einwand gegen die Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien besteht darin, daß eine Herleitung auch aus begrenzt vielen Prinzipien möglich ist. Da nun aber aus der bloßen Möglichkeit der Annahme einer begrenzten Anzahl von Prinzipien allein nicht die Unmöglichkeit der Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien folgt," wird hier noch eine weitere Begründung hinzugefügt, der zufolge eine Herleitung aus einer begrenzten Anzahl nicht nur (a) möglich, sondern auch (b) besser als die Herleitung aus einer unbegrenzten Anzahl sein soll.12 Erst beide Begründungen zusammen ergeben die 'Unmöglichkeit' der Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien im Sinne einer 'schlechteren Alternative',13 die sich in dem Sinne als 'unmöglich' erweist, als es eine bessere Alternative gibt. Daß eine Herleitung aus einer begrenzten Anzahl möglich ist, kann dem Ansatz von Empedokles entnommen werden. Daß diese Herleitung auch besser ist, wurde in Kapitel 1.4 insofern deutlich gemacht, als durch den Ansatz von Empedokles gerade die Aporien vermieden wurden, in die der Ansatz von Anaxagoras geführt hat. Wird hier der Ansatz von Empedokles zwar als dem Ansatz von Anaxagoras gegenüber 'besser' qualifiziert, so bedeutet dies jedoch nicht, daß er für Aristoteles auch der beste Ansatz ist. Dieser Interpretation des 'Schlechteren' im Sinne eines 'Unmöglichen im Vergleich zum Besseren' sind wir bereits in Kapitel 1.5, 189a2 ff. begegnet. Dort hieß es nämlich, daß einige Vorgänger dem Begriff nach bekanntere und frühere Gegensätze als Prinzipien angenommen haben und deshalb besser (βέλτιον) reden, während andere Vorgänger der Wahrnehmung nach bekanntere und spätere Gegensätze als Prinzipien angenommen haben und deshalb schlechter (χείρον) reden. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, daß auch dort das „schlechter Reden" einiger Vorgänger eigentlich bedeutet, daß sie Unmögliches sagen. Denn sie reden Aristoteles zufolge ja insofern schlechter, als sie spätere Gegensätze als Prinzipien angenommen haben, wobei diese von ihnen als Prinzipien angenommenen späteren Gegensätze Aristoteles zufolge als 'spätere Gegensätze' genaugenommen überhaupt keine Prinzipien sein können. Gleichwohl vermeidet er es, zu sagen, daß sie falsch reden, da auch sie zumindest Gegensätze als Prinzipien angenommen haben.
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Der Satz ,,καϊ οτι ένδέχεται έκ πεπερασμένων" (189al4-15) wird zwar als Begründung für den Satz „άπειρους δ' [ούχ οίόν τε]" angeführt, so daß der Anschein entsteht, als folge die Unmöglichkeit der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien aus der Möglichkeit der Annahme begrenzt vieler Prinzipien. Doch ist davon auszugehen, daß Aristoteles dies nicht gemeint haben kann: Denn aus Mp folgt ja nicht -· Μ p. Vgl. auch Phys. 1.4, 188al7-18. Daß wir es hier nicht mit einem Ökonomieprinzip im Sinne von Ockhams „entia non sunt multiplicand/] praeter necessitatem" als Grund für die Unmöglichkeit der Annahme einer unbegrenzten Anzahl zu tun haben, wurde bereits in Kapitel 4.2.2.2.4 dargelegt.
Die Unmöglichkeit der Annahme einer oder unendlich vieler άρχαί
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Mit der Möglichkeit der Herleitung aus einer begrenzten Anzahl von Prinzipien bezieht sich Aristoteles auf Empedokles, der meinte, mit seiner begrenzten Anzahl dasselbe leisten zu können, was Anaxagoras mit seiner unbegrenzten Anzahl geleistet hat. Bezeichnenderweise stehen die von Empedokles zugrunde gelegten Prinzipien - sowohl die vier Elemente Wasser, Luft, Erde und Feuer (vgl. 1.4, 187a26) als auch die bewegenden Ursachen Streit und Liebe (vgl. 1.6, 189a24-27) - in einem Gegensatzverhältnis zueinander, welches darauf hindeutet, daß auch hier das Ergebnis von Kapitel 1.5 („die Prinzipien müssen gegensätzlich sein") vorausgesetzt ist. In 1.6, 189b4-8 sagt Aristoteles von den Elementen, daß sie mit Gegensätzlichkeiten verflochten sind. Für ihn stellt sich das in 189b4-8 nicht näher ausgeführte gegensätzliche Verhältnis der Elemente zueinander wie folgt dar: 14 Abb. 6.1: Das gegensätzliche
Verhältnis der Elemente
zueinander
Feuer warm
trocken
(2d) 'Einige Gegensätze sind früher als andere, und andere werden auseinander' Außerdem sind einige der Gegensätze früher als andere [έτι δέ έστιν α λ λ α άλλων πρότερα έναντία], und andere werden auseinander [και γνγνεται έτερα έξ αλλήλων], wie z.B. süß und bitter, weiß und schwarz; die Prinzipien aber müssen immer bleiben [τάς δέ άρχάς άει δει μένει ν], (1.6, 189al7-20)
Insofern dieses letzte Argument gegen die Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien auf die Möglichkeit einer Reduktion von späteren Gegensätzen auf frühere Gegensätze verweist und so in einer Nähe zum zweiten Argument (al3-14) steht, scheint auch hier vorausgesetzt zu sein, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen. Die Gegensätze, die hier als Beispiele dafür angeführt werden, daß einige Gegensätze auf andere Gegensätze reduziert werden können - nämlich 'weiß-schwarz' und 'süß-bitter' -, stellen bezeichnenderweise gerade 14
Zur Konstitution der Elementarkörper bei Aristoteles vgl. auch Mau (1969: 145 f.), Böhme (1982: 154 ff.), Seidl (1995: 15) und Wagner (1967: 412 f.). Zur Gegensätzlichkeit der Elemente bei Empedokles vgl. Frg. DK 31B21: „[...]: die Sonne [Feuer], hell filrs Auge und warm überall; all jene Unsterblichen [Luft], die in Wärme und strahlendem Glänze getränkt werden; den Regen [Wasser], in allen Dingen dunkel und kalt. Der Erde entrinnt, was freundlichaufnehmend wie auch was widerständig ist." (Übers, nach Mansfeld).
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
solche Gegensätze dar, die gemäß den Darlegungen in Kapitel 1.5 zu den der Wahrnehmung nach bekannteren und späteren Gegensätzen zu zählen sind. Die Behauptung, daß einige Gegensätze (έναντία) auseinander werden (,,γίγνεται έξ αλλήλων"), ist hier offenkundig in dem Sinne zu verstehen, daß einige Gegensatzpaare aus anderen GzgensaXipaaren herleitbar sind;15 es ist nicht gemeint, daß bei einigen Gegensatzpaaren die einzelnen Glieder auseinander werden (z.B. Weißes aus Schwarzem).16 Denn als Subjekt des Ausdrucks „και γίγνεται ετερα έξ αλλήλων" (a 18) sind die „έναντία" aus dem vorhergehenden Satzteil zu ergänzen. Da dort aber mit dem Ausdruck „έναντία" die Gegensatzpaare gemeint sind, die früher als andere Gegensatzpaar«? sind,17 muß auch hier von Gzgznsstzpaaren die Rede sein, die auseinander werden. Die Beispiele 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' sind vielleicht als Hinweis darauf zu verstehen, daß sich Aristoteles hier weiterhin auf Empedokles bezieht. So heißt es in Fragment DK 31A92 (Aetios I 15,3 und 7): Empedokles erklärte, Farbe sei das in die Poren des Sehorgans Hineinpassende. Die Verschiedenheiten der Farben rührten von den bestimmten Mischungen der Elemente her. Es gebe vier Farben, genauso viele wie Elemente: Weiß, Schwarz, Rot, GelbGrün. (Übers, nach Mansfeld)
Dieses Fragment macht deutlich, daß Empedokles die Farben auf die Elemente und deren Mischungen zurückführt. Auch die Aussage ,,τάς δέ αρχάς άεί δει μένειν" (189al9-20) läßt sich insofern als ein Hinweis auf Empedokles verstehen, als Aristoteles in Met. III.4, 1000b 18-20 sagt, daß sich bei Empedokles gerade die vier Elemente und die bewegenden Prinzipien 'Streit und Liebe' als allein unvergänglich und immerbleibend erweisen, während alles andere kommt und geht. Demgegenüber sieht Ross (1936: 490) in den Beispielen 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' eher einen Bezug auf Demokrit und verweist auf dessen Fragment DK 68B125: 18 Der Bestimmung zufolge [gibt es] Farbe, der Bestimmung zufolge Süßes, der Bestimmung zufolge Bitteres, in Wirklichkeit aber nur Atome und Leeres. (Übers, nach Mansfeld)
15
16
1
Vgl. Ross (1936: 490), Bostock (1982: 181) und Wagner (1967: 20). Wicksteed/Comford (1980: 60 f.) verweisen in diesem Zusammenhang auf De gen. et corr. 11.2, wo davon die Rede ist, daß sekundäre Gegensatzpaare (z.B. 'süß-bitter') aus primären Gegensatzpaaren (z.B. 'heißkalt', 'trocken-naß') stammen. Diese Interpretationsmöglichkeit findet sich z.B. bei Apostle (1969: 197, Fn.6): „As in the examples that follow, the white (body) is generated from the black (body), but a principle must persist." Vgl. auch 1.5, 188b29 ff., wo ebenfalls von „früheren und späteren Gegensätzen [έναντία]" im Sinne von Gegensatzpaaren die Rede ist. Vgl. auch Bostock (1982: 181), der in den Beispielen 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' ebenfalls eine Referenz auf Demokrit vermutet. Zugleich verweist Bostock hier auch auf Piatons 77maios.
Die drei Aporien
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Diesem Fragment zufolge sind die Entgegensetzungen der Farbe und des Geschmacks in dem Sinne als abgeleitet zu betrachten, als sie unter bestimmten Umständen durch die Wirkung allgemeinerer Entgegensetzungen entstehen. Das abschließende Argument gegen die Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Prinzipien soll zeigen, daß nicht alle Gegensatzpaare als Prinzipien fungieren können. Wenn einige Gegensatzpaare auf andere Gegensatzpaare zurückgeführt werden können, und wenn die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, so ist klar, daß die Anzahl der Prinzipien nicht unbegrenzt sein kann. Zu denjenigen Gegensatzpaaren, die nicht als Prinzipien fungieren können, zählen vor allem die der Wahrnehmung nach bekannteren Gegensätze, für die Aristoteles hier die Beispiele 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' nennt. Da diese nämlich aufeinander bzw. auf andere Gegensatzpaare zurückgeführt werden können, 19 entsprechen sie nicht dem Kriterium des „Immer-Bleibens", das für Prinzipien zugrunde zu legen ist.
6.2 Die drei Aporien
(189a20-34)
Daß es also weder eine noch unendlich viele [Prinzipien] gibt, ist aus diesem klar. Insofern es aber begrenzt viele sind, hat es einen gewissen Grund [ έ χ ε ι τ ι ν ά λ ό γ ο ν ] , nicht nur zwei anzusetzen [τό μ ή π ο ι ε ΐ ν δ υ ο μόνον], (1.6, 189a20-22)
Nachdem ausgehend vom Ergebnis des Kapitels 1.5, dem zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen, gezeigt wurde, daß es weder ein einziges noch unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, ist nun klar, daß ihre Anzahl als 'begrenzt viele' anzusetzen ist. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 1.5 gewonnenen Konklusion, daß die Prinzipien gegensätzlich sein müssen - wobei dies in Kapitel 1.5 zunächst so verstanden wurde, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind -,20 läge es nun nahe, zwei fundamentale Gegensatzglieder eines Gegensatzpaares als Prinzipien zu setzen. In den folgenden drei Aporien (189a20-34) wird jedoch gezeigt werden, daß es gute Gründe gibt, nicht nur die Gegensätze - und somit nicht nur eine Zweiheit - als Prinzipien zu setzen. Auch wenn das Kapitel 1.6 in diesem Sinne bereits eine Korrektur der in Kapitel 1.5 gewonnen Konklusion darstellt, ist jedoch ebenfalls das Ergebnis von Kapitel 1.6 noch nicht als letztes Wort in bezug auf die Frage nach der Zahl und Art der Prinzipien zu betrachten. So sagt Aristoteles am Ende von Kapitel 1.6, daß nun zwar klar sei, daß es weder ein einziges noch mehr als zwei oder drei στοιχεία gebe, daß jedoch die Frage,
Charlton (1970: 46) hat in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeit hingewiesen, daß in bezug auf die Gegensatzpaare 'süß-bitter' und 'weiß-schwarz' gesagt wird, daß sie „auseinander (έξ αλλήλων: al8) werden": ,,καϊ γίγνεται έτερα έξ αλλήλων". Da hier jedoch kaum gemeint sein kann, daß 'weiß-schwarz' aus 'süß-bitter' oder umgekehrt 'süß-bitter' aus 'weißschwarz' herleitbar ist, schlägt Charlton mit gutem Grund vor, in 189a 18 statt „auseinander" (έξ άλλήλων (FI)) die Variante „aus anderen" (έξ άλλων (EVS)) zu lesen. Zwar ist in Kapitel 1.5 selbst nicht ausdrücklich davon die Rede, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, doch sowohl die resümierende Zusammenfassung in Kapitel 1.7, 191al5-19 wie auch das „δύο μόνον" in 1.6, 189a21 machen deutlich, daß dies in Kapitel 1.5 gemeint ist.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ϋποκείμενον'
welches von diesen beiden gilt - nämlich die Frage, ob es zwei oder drei Prinzipien gibt -, (immer noch) viele Schwierigkeiten enthält (189b27-29). In Analogie zum Kapitel I. 5 ist auc das Kapitel 1.6 noch nicht als die letztgültige Darlegung der eigenen Theorie, sondern vielmehr ebenfalls als ein weiterer Schritt von Aristoteles auf dem Weg hin zur eigenen Theorie zu betrachten. 21 Das Kapitel 1.6 entspricht insofern dem bisher herausgearbeiteten methodischen Weg, der von einer (widerlegten) These zu der dieser entgegengesetzten These führt, um so schrittweise zu einer mittleren Position zu gelangen, als die grundlegende These des Kapitels 1.6, der zufolge den Gegensätzen notwendigerweise ein Drittes zugrunde zu legen ist, so daß folglich nicht nur Gegensätze Prinzipien sein können, in einem Gegensatz zur grundlegenden These von Kapitel 1.5 steht, der zufolge nur die Gegensätze Prinzipien sind. Die eigentliche Pointe des Kapitels 1.6 liegt nun aber in folgender Überlegung: Jede der drei Aporien hat die Form einer Reductio ad absurdum·, ausgehend von der Prämisse, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, wird diese durch die Annahme weiterer Prämissen zu einem Widerspruch gefuhrt. Dieser Widerspruch zeichnet sich in einer jeden der drei Aporien dadurch aus, daß die Gegensätze, wenn man davon ausgeht, daß nur sie die Prinzipien sind, letztlich gar keine Prinzipien sein können, weil sie jeweils bestimmte Kriterien eines Prinzips nicht erfüllen. Diese Kriterien, die von den gegensätzlichen Prinzipien nicht erfüllt werden, sofern man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, sind nun ebenso wie die Aporien - der Zahl nach drei; und zwar sind es bezeichnenderweise - wie gezeigt werden soll - genau diejenigen drei Kriterien, die Aristoteles in Kapitel 1.5, 188a27-28 als die Kriterien einer ά ρ χ ή angeführt hat, die es dort nahelegten - bzw. die dort einen guten Grund (vgl. „ευλόγως") dafür darstellten -, die Gegensätze als Prinzipien zu setzen, weil diese Kriterien vor allem von den Gegensätzen erfüllt werden. 22 Mit anderen Worten: Dieselben Kriterien, die in Kapitel 1.5 noch einen 'guten Grund' dafür abgaben, Gegensätze als Prinzipien zu setzen, bekommen in Kapitel 1.6 nun eine umgekehrte Funktion, da durch sie jetzt deutlich werden soll, daß die Gegensätze keine Prinzipien sein können, sofern man nur Gegensätze als Prinzipien setzt. Die drei Kriterien einer „ ά ρ χ ή " lauteten in 1.5, 188a27-28 wie folgt: ( 1 ) D i e Prinzipien dürfen nicht auseinander sein ( μ ή τ ε έ ξ α λ λ ή λ ω ν ) . ( 2 ) D i e Prinzipien dürfen nicht a u s anderem sein ( μ ή τ ε έ ξ ά λ λ ω ν ) . ( 3 ) A u s den Prinzipien muß alles sein ( κ α ι έ κ τ ο ύ τ ω ν π ά ν τ α ) .
Dies ist aus dem Grunde hervorzuheben, da einige Interpreten (vgl. Bostock, 1982 und Happ, 1971) der Auffassung sind, daß Aristoteles in Kapitel 1.6 - ebenso wie in Kapitel 1.5 - bereits seine eigene Theorie darlegt. Obgleich Bostock und Happ offenkundige Widersprüche zwischen einigen der in den Kapiteln 1.6 und 1.7 dargelegten Thesen entdecken, erklären sie diese Widersprüche nicht dadurch, daß Aristoteles in den Kapiteln I.S und 1.6 noch nicht seine eigene Theorie darlegt, sondern sie nehmen diese Widersprüche als Indizien dafür, daß sich die aristotelische Theorie durch Inkonsistenzen auszeichnet. Gerade dieser für das Verständnis der Gesamtargumentation wichtige Zusammenhang zwischen den drei Kriterien einer άρχή in 1.5, 188a27-28 und den drei Aporien in 1.6, 189a22-34 ist in der Sekundärliteratur, soweit ich sehen kann, bisher unberücksichtigt geblieben.
Die drei Aporien
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Bezieht man diese drei Kriterien auf die drei Aporien in 1.6, 189a22-34, so wird deutlich, daß sie jeweils - in der genannten Reihenfolge - einer Aporie zugrunde gelegt sind. So wird die erste Aporie (189a22-27) zeigen, daß die Gegensätze, wenn man nur sie als Prinzipien setzt, letztlich auseinander sein müssen. Die zweite Aporie (189a27-32) wird zeigen, daß die Gegensätze, wenn man nur sie als Prinzipien setzt, aus bzw. an einem anderen - nämlich aus bzw. an einem ύποκείμενον - sein müssen. Und die dritte Aporie (189a32-34) wird schließlich zeigen, daß aus den Gegensätzen, wenn man nur sie als Prinzipien setzt, nicht alles - nämlich nicht die ούσία - sein kann.
6.2.1 Die erste Aporie (189a22-27) Man könnte nämlich in Aporien gelangen, wie denn entweder die Dichte in der Lage sein soll, die Dünne zu etwas zu machen, oder diese [die Dünne] die Dichte [πώς η ή πυκνότης την μανότητα ποιεί ν τι πέφυκεν ή α ϋ τ η την πυκνότητα]. Das gilt aber ebenso flir jede andere beliebige Entgegensetzung. Denn die Liebe filhrt nicht den Streit zusammen und macht etwas,aus ihm, und auch nicht der Streit aus ihr, sondern beide [wirken] auf ein Drittes von ihnen Verschiedenes [ού γ ά ρ ή φ ι λ ί α τό νεΐκος σ υ ν ά γ ε ι κ α ί ποιεί τι έξ αύτοΰ, ούδέ τό νεΐκος έξ έκείνης, ά λ λ ' άμφω έτερον τι τρίτον]. Einige aber nehmen noch mehr [Prinzipien] an, aus denen sie die Natur des Seienden [τήν των δντων φΰσιν] errichten. (1.6, 189a22-27)
Dieser Aporie zufolge können die Gegensätze, wenn man nur sie als Prinzipien setzt - wobei die Gegensätze durch abstrakte Termini ('die Dichte', 'die Dünne', 'Streit' und 'Liebe') bezeichnet werden nichts aneinander bewirken und folglich auch nichts voneinander erleiden.24 Daß die Gegensätze hier durch abstrakte Termini bezeichnet werden, ist insofern von Bedeutung, als z.B. im Gegensatz zu 'Wärme und Kälte', die nicht aufeinander wirken können - denn weder macht die Wärme die Kälte warm, noch macht die Kälte die Wärme kalt -, 'Warmes und Kaltes' gleichwohl auf einander wirken können. So wird z.B. ein Kaltes durch ein Warmes warm. Der Aporie liegt der Gedanke zugrunde, daß die (bloßen) Formen und Eigenschaften keinem Wandel unterliegen;25 ein Gedanke, den Aristoteles an späterer Stelle deutlich hervorheben wird.26 Mit ande23 24
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Dies deutet darauf hin, daß die Gegensätze hier als Eigenschaften verstanden werden (vgl. Charlton, 1970: 68). Das Argument erinnert an Piaton, Timaios 31b-c: „Nur zwei Bestandteile aber [δύο δέ μόνω] ohne einen dritten [τρίτου χωρίς] wohl zu verbinden ist nicht möglich; denn inmitten beider muß ein beide verknüpfendes [συναγωγόν] Band entstehen." (Nach der Übers, von Schleiermacher und Maller). Dieser Gedanke findet sich auch bei Piaton; vgl. Phaidon (102-103): Zwar wird ein Großes aus einem Kleinen, insofern hier von gegensätzlichen Dingen (πράγματα) die Rede ist; nicht jedoch wird die Größe aus der Kleinheit, insofern hier von den Gegensätzen selbst (αύτό τό έναντίον) die Rede ist. Vgl. auch Phys. V.l, 224bl0-13: „Was also Veränderung [ή κίνησις] ist, darüber ist früher gesprochen worden. Die Formen [τά εϊδη] aber und die Zustände [τά πάθη] und der Ort, wozu sich das Veränderte verändert, unterliegen keiner Veränderung [άκινητά έστιν], wie z.B. das Wissen [ή επιστήμη] und die Wärme [ή θερμότης]." Vgl. 1.7, 190b33 („denn es ist unmöglich, daß die Gegensätze voneinander Einwirkung erfahren") und 1.9, 192al9-25: „Es kann aber doch die Form [τό είδος] nicht selbst nach sich selbst
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Physik
I. 6: 'Die Einführung d e s ΰ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
ren Worten: Wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt, so müßten diese Gegensätze, damit Bewegung als eine Funktion von 'Wirken' und 'Leiden' möglich ist, aufeinander wirken.27 Dies aber ist unmöglich, da die Gegensätze, die Aristoteles als Eigenschaften versteht, selbst keinem Wandel unterliegen; weder bewirken sie etwas aneinander noch erleiden sie etwas voneinander.28 Würden sie nämlich in dem Sinne aufeinander wirken, daß das eine Gegensatzglied das andere Gegensatzglied verändert - dies wäre diesem Modell zufolge notwendig, damit etwas Neues entstehen kann so wären sie keine Prinzipien mehr, da sie dann einerseits nicht immer bleiben würden (vgl. 189al9-20: ,,τάς δέ άρχάς άεί δει μένειν"), und da sie dann andererseits in einem gewissen Sinne 'auseinander' wären. Würden z.B. Wärme und Kälte aufeinander wirken, so würde die Kälte durch die Wärme warm werden. Zugleich jedoch müßte die Kälte, indem sie die Wärme aufnimmt, als Prinzip Kälte 'bleiben' (vgl. 189al920). Folglich würde die Kälte als Bleibendes die Wärme aufnehmen, und umgekehrt würde die Wärme als Bleibendes die Kälte aufnehmen. Dies ist jedoch insofern widersinnig, als Kälte und Wärme dann auseinander bestehen würden.29 Da also die Gegensätze nicht aufeinander wirken können, scheint es notwendig zu sein, den Gegensätzen ein Drittes, von ihnen Verschiedenes, zugrunde zu legen, auf das beide wirken, und das das von den Gegensätzen bewegte Prinzip darstellt.30 Zekl (1987: 31) übersetzt den Ausdruck ,,άλλ' αμφω έτερον τι τρίτον" (189a25-26) wie folgt: „sondern beide zusammen bewirken ein Drittes". Daß diese Übersetzung nicht richtig sein kann, wird aus folgender Überlegung deutlich: Wenn die Gegensätze nämlich ein Drittes bewirken würden, so könnte dieses Dritte als ein Bewirktes bzw. Verursachtes selbst kein Prinzip sein, und folglich würden die Gegensätze letztlich doch ausreichen, um alles hervorbrin-
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streben, aufgrund der Tatsache, daß sie keinen Mangel hat, und auch nicht das Gegensätzliche [nach dem Gegensätzlichen], (denn Gegensätze sind in bezug aufeinander vernichtend), sondern dies [das Strebende] ist der Stoff [ή ήλη], so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem strebt; nur nicht »häßlich« an sich, sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Häßlichkeit akzidentell zukommt], und auch nicht »weiblich« [an sich], sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Weiblichkeit akzidentell zukommt]." Vgl. 1.5, 188a31-34, wo bereits vom 'Wirken' (ποιείv) und 'Leiden' (πάσχειν) die Rede war. Auch wenn die angeführten Aporien von Aristoteles stammen, so wird hier in gewisser Weise doch immer noch vom Standpunkt der Vorgänger aus argumentiert. Denn der Gedanke eines Wirkens der Gegensätze ist ja gerade für die Gegensätze der Vorgänger charakteristisch, die diese als Kräfte aufgefaßt haben. Bezüglich des von Aristoteles später herausgestellten Gegensatzpaars 'είδος und στέρησις' kann wohl weniger von einem 'Wirken' derselben gesprochen werden. Vgl. auch Met. XII. 10, 1075a25-34. In einer auffallenden Parallele dazu führt Piaton im Phaidon (102d-e) folgendes aus: „Ich sage dies aber, weil ich möchte, du wärest derselben Meinung wie ich. Denn mir leuchtet ein, daß nicht nur die Größe selbst niemals will zugleich groß und klein sein, sondern daß auch die Größe in uns niemals das Kleine aufnimmt oder übertroffen werden will, sondern eines von beiden, daß sie entweder flieht und aus dem Wege geht, wenn ihr Gegenteil, das Kleine, sich nähert oder, wenn es da ist, untergeht, niemals aber bleibend und die Kleinheit aufnehmend etwas anders sein will, als sie war; [...]."(Obers, nach Schleiermacher) Nach Ansicht von Guzzoni (1975:43, Fn.21) handelt es sich bei diesem dritten Prinzip „um die eine, aber bewegte arche von A2."
D i e drei Aporien
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gen zu können. Die Übersetzung muß korrekterweise wie folgt lauten: „Sondern beide wirken auf ein Drittes". Wenn die Gegensätze nämlich auf ein Drittes wirken, so ist dieses Dritte nicht als Resultat der Wirkung zu betrachten, sondern es ist der Wirkung vielmehr als bereits existierend vorausgesetzt. Zugleich kann dieses Dritte, auf das die Gegensätze wirken, dennoch ein Bleibendes sein, wodurch es das in 189al9-20 ausgesprochene Kriterium des 'Immer-Bleibens' der Prinzipien erfüllt. Denn wir werden in Kapitel 1.7, 190a9-13 sehen, daß sich die Begriffe des 'Werdens' und 'Bleibens' Aristoteles zufolge nicht gegenseitig ausschließen, sondern daß etwas als Bleibendes (ύπομένον) durchaus werden (γίγνεται) kann: So wird z.B. ein Mensch als Bleibendes gebildet. 31 Setzt man hingegen nur Gegensätze als Prinzipien, die aufeinander wirken, so können diese einerseits nicht bleiben, denn die Wärme kann nicht die Kälte aufnehmen ohne das Principium contradictionis zu verletzen, und andererseits müssen sie doch bleiben, denn als Prinzipien sollen sie j a gerade das Bleibende darstellen. Zur abschließenden Anmerkung 189al6-17, daß einige noch mehr (άρχαί) annehmen, aus denen sie die Natur des Seienden (vgl. „την των δντων φύσιν") errichten, bemerkt Zekl: D i e s e r Satz klingt w i e eine nicht in den Text g e h ö r i g e Leseanmerkung. Er unterbricht den Ablauf. (Zekl, 1987: 2 4 4 , F n . 6 0 )
Nun beziehen sich die in der Aporie genannten beiden Beispiele eines Gegensatzpaares einerseits auf die Naturphilosophen der ersten Gruppe („Dichte und Dünne") und andererseits auf Empedokles („Streit und Liebe"). Der in der ersten Aporie enthaltene Bezug auf Empedokles wird nicht nur aus dem erwähnten Beispiel von „Streit und Liebe", sondern auch aus der sprachlichen Formulierung der Aporie deutlich. So ist davon die Rede, daß die Liebe den Streit nicht zusammenführt (συνάγει: 189a24) und etwas aus ihm macht. Dieses 'Zusammenfuhren' ist aber genau die Funktion, die Aristoteles auch an anderer Stelle (vgl. Phys. VIII. 1, 252a25-30) der Liebe als bewegendes Prinzip bei Empedokles zuschreibt. Vor diesem Hintergrund ist der Hinweis darauf, daß einige noch mehr Prinzipien annehmen, keineswegs - wie Zekl meint - als eine nicht in den Text gehörige Leseanmerkung zu verstehen, sondern vielmehr als ein Hinweis auf Empedokles, der ja neben den Gegensätzen 'Streit und Liebe' mit seinen vier Elementen nicht nur ein einziges, sondern gleichsam ein vierfaches ΰποκείμενον zugrunde gelegt hat. Da sich Aristoteles in diesem Kontext auf Empedokles bezieht, bedarf die Konklusion, der zufolge ein weiteres Drittes zugrunde zu legen ist, somit der erklärenden Ergänzung, daß manche (wie z.B. Empedokles) auch noch mehr als eines angenommen haben.
Hieraus ergibt sich nebenbei bemerkt für Aristoteles vermutlich auch die Überzeugung, daß es für die Vertreter der ersten Gruppe der Naturphilosophen eigentlich nur Eigenschaftsveränderungen, nicht aber Entstehens- und Vergehensprozesse im strengen Sinne geben kann. Denn wenn das den Gegensätzen zugrundeliegende Dritte als ein Bleibendes durch die Gegensätze 'Dichte und Dünne' eine Veränderung erfährt, so haben wir es genaugenommen immer nur mit einer Eigenschaftsveränderung zu tun (vgl. De gen. et corr. 1.1).
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
Zugleich deutet die abschließende Bemerkung über die „Natur der seienden Dinge [την των δντων φύσιν]" folgendes an: Im Gegensatz zu Kapitel 1.5, wo primär vom „Werdenden" (τά φύσει γιγνόμενα: 188b25) die Rede war und die Gegensätze als „Ursachen des Werdens" (αιτία της γενέσεως: 188b34-35) eingeführt wurden, ist nun in Kapitel 1.6 primär vom „Seienden" die Rede. Sind die Gegensätze in Kapitel 1.5 vor allem als Ursachen des Werdens für ein φύσει γιγνόμενον gesetzt worden, so muß das Dritte eher als Grund des Seins für ein φύσει öv gesetzt werden. So wird in der zweiten Aporie auch davon die Rede sein, daß wir die Gegensätze bei keinem Seienden (ούθενός των δντων: 189 a29) als Wesen vorkommen sehen. Guzzoni (1975: 43) weist hier daraufhin, daß zur Einführung der dritten άρχή nicht mehr vom Phänomen des Werdens eines Werdenden selbst ausgegangen wird. Demgegenüber ist Bostock (1982: 180) der Ansicht, daß es in Kapitel 1.6 die Erfordernisse von Veränderung und Entstehen sind, die die Idee einfuhren, daß ein drittes zugrundeliegendes Prinzip benötigt wird. Zwar trifft diese Interpretation in bezug auf die erste Aporie, wo von einem 'Wirken und Leiden' in bezug auf das Zugrundeliegende als das eine Wirkung erleidende Prinzip die Rede ist, sicherlich zu, doch ist nicht zu übersehen, daß das Kapitel 1.6 gegenüber dem Kapitel 1.5 nun eher den Aspekt des „Seienden" (öv) und des „Wesens" (ουσία) betont. Zwar ist die Physik gegenüber der Metaphysik primär am Werdenden interessiert - deshalb wird in Kapitel 1.5 auch mit den Gegensätzen im Hinblick auf die Erklärung des Werdens begonnen -, doch ebenso wie die Metaphysik auch am Werdenden interessiert sein muß, hat die Physik ihr Augenmerk ebenfalls auf das Seiende zu richten, da ein Werden ohne Bestand und ohne ein Bleibendes nach Ansicht von Aristoteles für uns nicht erkennbar wäre.
6.2.2 Die zweite Aporie (189a27-32) Außerdem könnte man wohl auch bei diesem in Aporie gelangen, wenn man den Gegensätzen nicht eine andere Natur zugrunde legte [ei μή τις έτέραν ύποθήσει τοις έναντίοις φύσιν]: Denn wir sehen die Gegensätze bei keinem Seienden als Ding/Wesen vorkommen [ούθενός γαρ όρώμεν των δντων ούσίαν τάναντία]. Das Prinzip aber darf nicht von etwas Zugrundeliegendem ausgesagt werden [την δ' άρχήν ού καθ' υποκειμένου δει λέγεσθαί τίνος]. Denn dann gäbe es ein Prinzip des Prinzips [έσται γαρ άρχή της αρχής]. Das Zugrundeliegende nämlich ist Prinzip [τό γάρ ύποκείμενον άρχή], und es scheint früher als das [von ihm] Ausgesagte [του κατηγορουμένου] zu sein. (1.6, 189a27-32)
Ein weiterer Einwand gegen die Annahme, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, besteht dieser Aporie zufolge vereinfacht gesagt in folgendem: Wenn nur die Gegensätze als Prinzipien gesetzt werden, gelangt man notwendigerweise dazu, diesen Gegensätzen etwas zugrunde zu legen, was diesen vorausliegt, so daß es ein Prinzip des Prinzips gäbe und die Gegensätze letztlich keine Prinzipien sein könnten.
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Mit dieser Aporie ist jedoch folgende Schwierigkeit verbunden: Bringt sie einerseits zum Ausdruck, daß die Annahme gegensätzlicher Prinzipien in die Aporie führt, daß dann notwendigerweise ein Drittes als ύποκείμενον für die Gegensätze zugrunde zu legen wäre, und daß es somit eine ,,άρχή der άρχή" (nämlich ein ύποκείμενον der Gegensätze) gäbe, woraus folgt, daß die als Prinzipien angenommenen Gegensätze selbst keine Prinzipien sein könnten, da sie „aus bzw. an einem anderen" wären,32 so scheint die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips, durch das diese Aporie doch gerade vermieden werden soll - denn sie beginnt ja mit dem Satz „außerdem könnte man wohl auch bei diesem in Aporien gelangen, wenn man den Gegensätzen nicht eine andere Natur zugrunde legte" (189a27-29) -, andererseits ebenfalls in diese Aporie zu führen. Denn bei Annahme eines den Gegensätzen zugrundeliegenden Dritten könnte ja - wie das Argument zeigt - letztlich nur noch das Zugrunde liegende ein Prinzip sein, wodurch die Rede von einem „dritten Prinzip" widersinnig erschiene.33 Aufgrund dieser Schwierigkeit wollen wir die Aporie im folgenden genauer betrachten. (1) Aristoteles beginnt die Aporie mit einer Behauptung: „Außerdem könnte man wohl auch bei diesem in Aporie gelangen, wenn man den Gegensätzen nicht eine andere Natur zugrunde legte [έτέραν ΰποθήσει τοις έναντίοις φύσιν]" 34 (189a27-29). Diese Behauptung erfährt folgende Begründung: (2) „Denn wir sehen die Gegensätze bei keinem Seienden als Ding/Wesen vorkommen [ούθενός γαρ όρώμεν των όντων ούσίαν τάναντία]" (189a29). Die Aussage, daß wir die Gegensätze bei keinem Seienden als Ding/Wesen (ουσία) vorkommen sehen, verstehe ich in dem Sinne, daß die Gegensätze für Aristoteles nicht die ουσία im Sinne der Dinglichkeit, Selbständigkeit und Wesenhaftigkeit eines Seienden ausmachen.35 So nimmt man auch bei den Werdeprozessen die Gegen32 33
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Eine ahnliche Argumentation findet sich auch in Met. XIV. 1, 1087a31-36. Auch Wieland (1962: 108) scheint hier eine Schwierigkeit zu sehen: „Daher ist es nötig, noch ein Drittes anzunehmen, an dem sich diese Gegensätze zeigen, die aber trotzdem aus ihm nicht abgeleitet werden können, da wir sonst eine arche der arche hätte." Wieland begegnet der skizzierten Schwierigkeit dadurch, daß er sagt, daß sich die Gegensätze an dem Zugrundeliegenden zeigen und trotzdem nicht aus ihm abgeleitet werden können. Dadurch vermeidet er es zwar, von einem „vorkommen" oder „ausgesagt werden" in bezug auf die Gegensätze zu sprechen, doch löst diese sprachliche Umformulierung das Problem nicht. Der Ausdruck „έτέραν ΰποθήσει τοις έναντίοις φύσιν" kann entweder bedeuten, daß (1) den Gegensätzen, die selbst jeweils eine φύσις darstellen, eine andere φύσις zugrunde zu legen ist, oder daß (2) den Gegensätzen, die selbst keine φύσις sind, etwas anderes als φύσις zugrunde zu legen ist. Welche Bedeutung hier gemeint ist, hängt unter anderem davon ab, was man in 189a27 unter der „Beschaffenheit des Seienden" (φύσις των όντων) versteht. Wird diese „φύσις των όντων" nur durch das ύποκείμενον, nicht aber durch die Gegensätze konstituiert, so würde wohl eher die Bedeutung (2) zutreffen. Zählt man aber zur „φύσις των όντων" sowohl das ύποκείμενον wie auch die Gegensätze, so würde wohl eher die Bedeutung (1) zutreffen. Auch wenn die Verwendung des Wortes „φύσις" in Kapitel 1.6 darauf hindeutet, daß mit „φύσις" eher die materielle Beschaffenheit eines Seienden und primär dessen ύποκείμενον gemeint ist, schließt dies nicht aus, daß der Begriff der φύσις auch in seiner weiten Bedeutung verstanden werden kann, in der er sowohl die materielle aus auch die formale Beschaffenheit eines Seienden meint. Vgl. auch Charlton (1970: 68 f.), der die Begründung in a29 in dem Sinne versteht, daß Aristoteles hier meint, 'dicht' und 'heiß' seien anders als 'ein Hund' und 'ein Baum' keine Ausdrükke für Einzeldinge: „[...]; but I think that what he [Aristoteles] has in mind is rather that
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sätze nicht als das Bleibende, sondern vielmehr als das Wechselnde wahr: Beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen erweisen sich die Gegensätze „gebildet-ungebildet" als Nichtbleibendes, während der Mensch das bleibende Moment darstellt. Aristoteles wird die ουσία in Kapitel 1.7, 190a 10 ff. im Unterschied zu den Gegensätzen auch zunächst als das Bleibende (ύπομένον) bei einem Werdeprozeß bestimmen.36 Im Gegensatz zu dieser Interpretation ist Guzzoni der Ansicht, daß die Gegensätze aus folgendem Grunde nicht die ούσία eines Seienden ausmachen: Seiendes aber, das einen Gegensatz zu seinem Wesen hätte, müßte zugleich sein und nicht sein, was es ist; es wäre in sich widersprüchlich. (Guzzoni, 1975: 44)
Der Grund, den Guzzoni dafür anfuhrt, daß die Gegensätze nicht die ούσία eines Seienden ausmachen, deutet auf eine logische Unmöglichkeit hin, die sich ergäbe, wenn die Gegensätze die ουσία eines Seienden ausmachen würden. Im Text selbst ist jedoch weniger von einer logischen Unmöglichkeit, als vielmehr in einem schwächeren Sinne davon die Rede, daß wir sehen, daß die Gegensätze faktisch nicht als ούσία vorkommen. Zudem geht Guzzoni in ihrer Interpretation offenkundig davon aus, daß hier davon die Rede sei, daß ein Seiendes kein Gegensatzpaar zu seinem Wesen haben kann. Denn nur wenn man die „Gegensätze" (τάναντία: a29) im Sinne eines „Gegensatzpaares" versteht, würde sich ergeben, daß ein Seiendes, das ein Gegensatzpaar zu seinem Wesen hätte, zugleich sein und nicht sein müßte, was es ist. Wenn man aber die „Gegensätze" im Sinne der einzelnen „Gegensatzglieder" versteht - und dies scheint hier, wie der Kontext nahelegt, eher gemeint zu sein ergibt sich nicht, daß ein Seiendes, das ein Gegensatzglied zu seinem Wesen hat, zugleich sein und nicht sein müßte, was es ist. Aus diesem Grunde scheint mir die Interpretation von Guzzoni hier nicht zutreffen zu können. Es geht hier nicht darum, daß die Gegensätze nicht die ούσία eines Seienden ausmachen, weil sich sonst ein Seiendes ergäbe, das einen Widerspruch darstellt, sondern es geht darum, daß die Gegensätze nicht die ούσία eines Seienden ausmachen, weil sie als einzelne Gegensatzglieder von einer ούσία ausgesagt werden und deshalb nicht selbst die ούσία sein können. Wäre mit dem Ausdruck „τάναντία" ein Gegensatzpaar gemeint, so würde auch
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'dense' and 'hot' are not expressions for particular things in the way in which 'a dog' or 'a tree' is an expression for a particular thing, and that we do not call dense or warm a cat's fur, bur rather call a cat's fur warm and dense." Auch beim Wechsel der Elemente, von denen es in 1.6, 189b3-8 heißt, daß sie immer schon mit Gegensätzlichkeiten verflochten sind, stellen die Gegensätze ('trocken-feucht', 'warm-kalt') das Nicht-Bleibende dar. Das Theorem, daß wir die Gegensätze bei keinem Seienden (vgl. ,,ούθενός των όντων") als ούσία vorkommen sehen, erweist sich jedoch vor dem Hintergrund des gegensätzlichen Verhältnisses der Elemente zueinander zunächst insofern als problematisch, als man doch wohl vom Feuer sagen würde, daß der Gegensatz 'heiß' seine ούσία ausmacht. Hierbei ist jedoch zu bedenken, daß der Gegensatz 'heiß' zwar die ούσία des Feuers im Sinne des Wesens ausmacht (denn es kommt dem Feuer ja wesentlich zu, heiß zu sein), doch macht es nicht die ούσία des Feuers im Sinne seiner Dinglichkeit und Selbständigkeit aus. Wie bereits dargelegt wurde, scheint Aristoteles den Begriff der ούσία in Kapitel 1.6 nicht nur im engeren Sinne auf das spezifische Wesen eines Dings zu beziehen, sondern auch in einem weiten Sinne als 'Ding im einfachen Sinne' zu verstehen. Und die Gegensätze stellen für Aristoteles keine Dinge dar; vielmehr sind sie etwas, das an Dingen vorkommt.
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das in den nachfolgenden Sätzen Gesagte keinen Sinn mehr ergeben, wo Aristoteles sinngemäß daraufhinweist, daß die einzelnen Gegensätze im Sinne der Gegensatzglieder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. Würde man auch hier unter den ,,τάναντία" ein Gegensatzpaar verstehen, so ergäbe sich ebenfalls eine widersprüchliche Konklusion, da nun ein Gegensatzpaar von einem Zugrundeliegenden ausgesagt würde, wodurch sich ebenfalls ein Seiendes ergäbe, das einen Widerspruch darstellt. Aristoteles will dort aber offensichtlich nicht leugnen, daß Gegensätze von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. (3) „Das Prinzip aber darf nicht von etwas Zugrundeliegendem ausgesagt werden [την δ' άρχήν οϋ καθ' υποκειμένου δει λέγεσθαί τίνος]" (189a30). Wenn man also (1) nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn wir (2) die Gegensätze selbst bei keinem Seienden als ουσία vorkommen sehen, so ergibt sich Aristoteles zufolge schließlich, daß die Gegensätze von einer ούσία ausgesagt würden. Wurde den Gegensätzen in Kapitel 1.5 in bezug auf das Werdende insofern eine 'wesentliche' Funktion zugeschrieben, als sie die Ursachen des Werdens sind, so verlieren sie diese 'wesentliche' Funktion in Kapitel 1.6 nun jedoch insofern in bezug auf das Seiende, als sie bei einem Seienden nicht die ο υ σ ί α ausmachen. Der Alternative, daß etwas entweder von einem anderen oder umgekehrt anderes von ihm ausgesagt wird, worin zweifelsohne ein aristotelisches Theorem zu sehen ist, sind wir bereits in Kapitel 1.3, 186a32-b5 und b l 7 f. (vgl. auch 1.2, 185a31-32) begegnet. All dies führt schließlich in die Aporie: (4) „Denn dann gäbe es ein Prinzip des Prinzips [έσται γαρ ά ρ χ ή της άρχής]. Das Zugrundeliegende nämlich ist Prinzip [τό γαρ ύποκείμενον άρχή], und es scheint früher als das [von ihm] Ausgesagte [του κατηγορουμένου] zu sein" (189a30-32). Mit anderen Worten: Wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn diese selbst nicht die ο ύ σ ί α eines Seienden darstellen, so ergibt sich in einem ersten Schritt, daß die Gegensätze an der ούσία vorkommen bzw. von dieser ausgesagt werden (vgl. auch 1.2, 185a31 und 1.7, 190a34-bl). In einem zweiten Schritt ergibt sich, daß die als Prinzipien angenommenen Gegensätze keine Prinzipien mehr sein können, da ihnen etwas zugrunde liegt, von dem sie ausgesagt werden, welches folglich früher als sie ist. Die Gegensätze wären somit aus bzw. an einem anderen; sie wären nicht „erstes" (πρώτον), und es gäbe somit eine ά ρ χ ή der άρχή, was jedoch unmöglich ist. Ist die dargelegte Aporie nun zwar einsichtig geworden, so bleibt jedoch weiterhin unverständlich, wieso diese Aporie durch die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips vermieden werden kann. Denn die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips scheint doch gerade in die Aporie zu führen. 37 Nun hat die zweite Aporie zunächst die Funktion, darzulegen, daß man ohne die Annahme eines dritten, zugrundeliegenden Prinzips - d.h. wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt - unvermeidlich in die Aporie gelangt, Es ist allerdings zu bedenken, daß Aristoteles am Ende des Kapitels 1.6 selbst darauf hinweist, daß in bezug auf die Frage, ob wir zwei oder drei Prinzipien anzunehmen haben, noch viele Schwierigkeiten bleiben, so daß die skizzierte Problematik vielleicht zu diesen verbliebenen Schwierigkeiten zu zählen ist, die in Kapitel 1.6 noch nicht gelöst werden konnten.
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der zufolge den Gegensätzen als Eigenschaften ein ύποκείμενον zugrunde zu legen ist, woraus sich letztlich ergibt, daß die Gegensätze aufgrund ihrer Unselbständigkeit - d.h. aufgrund der Tatsache, daß es etwas gibt, das ftlr sie vorausgesetzt werden muß - keine Prinzipien sein können. Nimmt man jedoch von vornherein ein drittes, zugrundeliegendes Prinzip an, das von den Gegensätzen unterschieden ist, so bedeutet dies zwar nicht, daß die Aporie damit verschwunden wäre - in diesem Zusammenhang weist Guzzoni (1975: 45) zu Recht darauf hin, daß Aristoteles in bezug auf keine der drei von ihm aufgezeigten Aporien ausdrücklich sagt, „inwiefern ein dritter Grund die jeweils sich ergebenden Schwierigkeiten beheben könnte" doch befindet sie sich nun auf einer höheren Ebene. Nun stellt sich nämlich die Frage, in welchem Verhältnis die Prinzipien zueinander stehen müssen, bzw. in welchem Sinne die beiden 'gegensätzlichen' Prinzipien in Relation zum ύποκείμενον zu fassen sind, so daß nicht das eine Prinzip 'früher' als das andere ist. In Kapitel 1.7 wird Aristoteles diese Frage dadurch beantworten, daß er einerseits zwar ebenfalls ein ύποκείμενον annimmt, daß er andererseits jedoch die konträren Gegensätze der Vorgänger als Prinzipien aufgibt und durch den umfassenderen Gegensatz von 'είδος und στέρησις' ersetzt, die einen Gegensatz ganz anderer Art als die konträren Gegensätze der Vorgänger darstellen. 38 Die Relation zwischen είδος und ύποκείμενον wird dann als eine eher wechselseitige Abhängigkeit voneinander bestimmt werden. Bostock ist allerdings der Ansicht, daß Aristoteles diesen Unterschied zwischen den konträren Gegensätzen der Vorgänger und seinem eigenen Gegensatz von 'είδος und στέρησις' übersehen habe: Thus form and privation are much more general concepts than that of an opposite, but Aristotle seems not to have noticed this point. I say this because in chapter 5 he offers himself to argue for the thesis that change is always between opposites (188a31 ff.), though this is not the doctrine of chapter 7. (Bostock, 1982: 190)
Daß Aristoteles den Unterschied zwischen den Gegensätzen seiner Vorgänger und seinem eigenen Gegensatz von 'είδος und στέρησις' jedoch nicht übersehen hat, macht er in 1.7, 191al7-18 explizit deutlich. Wie bereits dargelegt wurde, geht Bostock von der Prämisse aus, daß Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Theorie bereits in Kapitel 1.5 beginnt, so daß Bostock zur Ansicht gelangt, daß die in Kapitel 1.5 ausgesprochene These, daß sich ein jeder Wandel zwischen konträren Gegensätzen vollzieht, bereits die aristotelische Auffassung über das Werden sei, die allerdings mit der in Kapitel 1.7 dargelegten Auffassung nicht übereinstimmt. Bostock (1982: 191 f.) ist ferner der Ansicht, daß der aristotelische Ansatz insofern mit Widersprüchlichkeiten behaftet ist, als er aus folgendem Grunde ebenfalls in die zweite Aporie fuhrt: Insofern Aristoteles nach Ansicht von Bostock in der zweiten Aporie davon ausgeht, daß die Gegensätze der Vorgänger 38
Vgl. dazu 1.7, 191 al7-19, w o die Leistung des Kapitels 1.7 gegenüber der Leistung des Kapitels 1.6 in der Weise bestimmt wird, daß das Kapitel 1.7 herausgestellt hat, (a) was der Unterschied unter den Gegensätzen ist, (b) wie sich die άρχαί zueinander verhalten, und (c) was das ύποκείμενον ist.
Die drei Aporien
Prädikate sind und deshalb keine Prinzipien sein können kat setzt ein Subjekt voraus, von dem es ausgesagt wird genen Theorie gleichfalls in diese Aporie geraten, da er 'είδος und στέρησις' j a auch als Prädikate setzt, die von den.
233 denn ein jedes Prädiwird er mit seiner eiseine Prinzipien von etwas ausgesagt wer-
[...] for just as Aristotle (wrongly?) thinks of the traditional opposites as predicates, so form and privation too are predicates, and therefore apt to characterise other (underlying) things, and not one another. [...] One thing that is surprising about this argument is that, as Aristotle presents it, it claims that nothing that is predicated of a subject can be a principle at all, for the subject would be the principle of its predicate, and there cannot be a principle of a principle. If we were right in saying just now that Aristotle's form and privation are both predicative in character, it therefore follows from this argument that they are not principles after all. (Bostock, 1982: 191 f.)
Eine Lösung dieses Widerspruchs sieht Bostock darin, daß Aristoteles in der zweiten Aporie anstelle der stärkeren Behauptung, daß nichts, was ein Prädikat ist, ein Prinzip sein kann, nur die schwächere Behauptung aufstellt, der zufolge das Subjekt einer Prädikation ein Prinzip sein muß, wenn seine Prädikate Prinzipiep sind. Bostock sieht jedoch keinen eindeutigen Grund, warum man dieser schwächeren Behauptung zustimmen soll: It seems better, then, not to press the argument to this disagreeably strong conclusion, but to rest content with the claim that a subject of predication must be a principle if its predicate is. (There is, however, no very strong reason to agree with this claim.) (Bostock, 1982: 192)
Der Kritik von Bostock ist allerdings folgendes entgegenzuhalten: Zum einen geht Bostock zu Unrecht davon aus, daß Aristoteles bereits in den Kapiteln 1.5 und 1.6 seine eigene Theorie darlegt, wobei dies j a die Voraussetzung dafilr darstellt, daß überhaupt von einer Inkonsistenz innerhalb der aristotelischen Theorie zwischen dem in den Kapiteln I.5/I.6 und dem in Kapitel 1.7 Gesagten gesprochen werden kann. 39 Zum anderen scheint mir die Behauptung, daß Aristoteles seine Prinzipien 'εϊδος' und 'στέρησις' in Kapitel 1.7 ebenfalls als Prädikate setzt, in dieser allgemeinen Form nicht zuzutreffen. Dies wird in der Analyse des Kapitels 1.7 ausfuhrlicher dargelegt werden, doch sei an dieser Stelle bereits auf folgendes hingewiesen: Zwar sind solche (sekundären) Formen (εϊδη) wie z.B. 'gebildet', 'ungebildet', 'weiß' und 'schwarz' in Kapitel 1.7 durchaus als Prädikate zu verstehen, die von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden, doch gilt dies nicht generell für alle Formen (ε'ίδη). Denn in bezug auf solche (primären) Formen (εϊδη) wie z.B. 'Statue' und 'Mensch' soll Aristoteles zufolge j a gerade nicht gelten, daß 'Statue' von dem ύποκείμενον 'Erz' oder 'Mensch' von dem
Wieland (1962: 108) weist zu Recht daraufhin, daß Aristoteles die Untersuchung in den Kapiteln 1.5 und 1.6 noch nicht mit Hilfe seiner Grundbegriffe fllhrt, da es ihm zunächst um eine zusammenfassende Darstellung des von seinen Vorgängern Intendierten geht (vgl. auch Charlton, 1970: 67 f., der darauf hinweist, daß Aristoteles in Kapitel 1.6 sehr vorsichtig formuliert).
234
Physik I. 6: 'Die Einführung des ΰποκείμενον'
ύποκείμενον 'Same' ausgesagt wird; vielmehr sind sie solche Formen, von denen andere (sekundäre) Formen ausgesagt werden: [...] (denn sowohl ein Quantitatives [ποσόν] wie ein Qualitatives [ποιόν] und ein Relatives [προς ετερον] und ein Irgendwann [ποτέ] und ein Irgendwo [πού] werden an einem Zugrundeliegenden [γίγνεται υποκειμένου τινός], wegen der Tatsache, daß allein das Ding/Wesen [ούσία] von keinem anderen [als seinem] Zugrundeliegendem ausgesagt wird, während alles andere aber von dem Ding/Wesen ausgesagt wird). (1.7,190a34-bl)
Zwar wird es in Kapitel 1.7 von solchen ούσίαι wie z.B. Mensch und Statue heißen, daß sie aus einem ΰποκείμενον werden (190b 1-2) - was ebenfalls den Gedanken nahelegt, daß das ύποκείμενον als dasjenige, aus dem Mensch und Statue werden, früher als Mensch und Statue ist -, doch wird hierbei zu beachten sein, daß in solchen Sätzen wie „ein Mensch wird aus einem ΰποκείμενον", mit „Mensch" als ούσία nicht mehr nur das (bloße) είδος „Mensch", sondern vielmehr bereits der 'ganze' Mensch als ein aus Form und Stoff Zusammengesetztes gemeint ist. Das είδος selbst wird nämlich nicht (vgl. Met. VII.8). In diesem Sinne ist das ύποκείμενον zwar zeitlich früher als der ganze Mensch, nicht aber ist es seinem Wesen nach früher als das είδος 'Mensch'. Unter Vorwegnahme späterer Details sei in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, daß Aristoteles am Ende des Kapitels 1.7 sagen wird, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία ist (191 al920). Diese Bemerkung, in der mit dem Ausdruck „ούσία" nicht mehr das Ding, sondern vielmehr das Wesen von etwas gemeint ist,40 findet ihre Erklärung vermutlich in folgendem Umstand: Je nach Art des Werdeprozesses kann entweder das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία sein. Nehmen wir (1) das Beispiel, daß ein Mensch gebildet wird, so erhält das ύποκείμενον 'Mensch' das είδος 'Bildung' und es entsteht schließlich ein 'gebildeter Menschen', bei dem 'Mensch' die ούσία und 'gebildet' ein Akzidens an der ούσία ist. Nehmen wir aber (2) das Beispiel, daß eine Statue aus Erz wird, so erhält das ύποκείμενον 'Erz' das είδος 'Statue' und es entsteht schließlich eine 'eherne Statue', bei der 'Statue' die ούσία und 'ehern' ein Akzidens an der ούσία ist. Der Grund, warum Aristoteles nicht sagt, daß das είδος klarerweise die ούσία darstellt, ist folglich darin zu sehen, daß den Ausführungen von Kapitel 1.7 zufolge nicht nur 'Mensch', 'Statue', 'Pferd' usw., sondern auch 'gebildet', 'weiß' bzw. 'Bildung', 'Weiße' usw. zu den εϊδη zählen, wobei letztere jedoch nicht die ούσία von etwas darstellen. Wäre das είδος in Kapitel 1.7 jedoch generell als Prädikat zu verstehen, so wäre klar, daß nur das ύποκείμενον die ούσία sein könnte. Zwar sieht auch Bostock, daß Aristoteles das είδος in Kapitel 1.7 als ούσία im Sinne des „Wesens von etwas" bestimmen wird, doch deutet er dies als eine weitere 'Überraschung' innerhalb der aristotelischen Theorie: A second surprising feature of this argument is that it is introduced by the remark that the opposites are not the substance of any existing thing, which presumably must be 40
Vgl. Wieland (1962: 136, Fn.27): „ ο ύ σ ί α bedeutet hier erstmals im Text »Wesen« und nicht »Ding«."
Die drei Aporien
235
taken to mean that they are not the substance of anything that Aristotle classes as a substance, i.e. that no opposite gives the essential nature (ti estin) of any substance. N o doubt this may be accepted so far as the traditional opposites are concerned, but we have seen that it does not hold for form and privation, for 'form' must here be taken to include the essential nature (ti esti) of any generable substance. (Bostock, 1982: 192)
Diese weitere 'Überraschung' stützt jedoch vielmehr die These, daß das in den drei Aporien zum Ausdruck kommende Modell, das von der konträren Gegensätzlichkeit der Prinzipien in bezug auf ein ihnen zugrundeliegendes ύποκείμενον ausgeht, noch nicht das aristotelische Modell sein kann, gerade weil Aristoteles das είδος in Kapitel 1.7 auch als Substanz auffassen wird. Während nämlich die konträren Gegensätze der Vorgänger eher im Sinne von akzidentellen Formen zu verstehen sind, die an einem Zugrundeliegenden vorkommen, kann das von Aristoteles vertretene είδος auch für eine Substanz wie z.B. 'Mensch' stehen, für die es keinen konträren Gegensatz gibt.
6.2.3 Die dritte Aporie (189a32-34) Zudem: Wir behaupten, daß die ούσία nicht einer ο υ σ ί α entgegengesetzt ist. Wie sollte dann aus Nicht-ούσίαι ούσία sein? Oder wie sollte Nicht-ούσία früher als ο ύ σ ί α sein? (1.6, 189a32-34)
Der in dieser Aporie zum Ausdruck gebrachte Einwand gegen die Annahme, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, lautet wie folgt: Wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, so wäre nicht alles - nämlich nicht die ούσία - aus den Prinzipien. Folglich wären die als alleinige Prinzipien gesetzten Gegensätze letztlich doch keine Prinzipien, da sie das dritte Kriterium einer ,,άρχή" nicht erfüllen, dem zufolge alles aus den Prinzipien sein muß. Die hier als Begründungangefiihrte These, daß die ούσία nicht einer ούσία entgegengesetzt ist, ist ein aristotelisches Theorem (vgl. ,,φαμεν": 189a32),41 dem man auch an anderen Stellen seines Werkes begegnet.42 Zwar wird dieses Theorem - wie Wagner
42
Vgl. Charlton (1970: 69): „Third, we say - and 'we' here means the Lyceum, not the man in the street - that a reality has no opposite." Vgl. Kat. 5, 3Ö24-25, Met. XIV.l, 1087b2-3 und Phys. V.2, 225bl0-l I. im Unterschied zu diesen Textstellen, wo es heißt, daß nichts der ούσία entgegengesetzt ist, wird in Phys. 1.6 jedoch nur gesagt, daß nicht eine ούσία der ούσία entgegengesetzt ist. Der Grund für diese schwächere Behauptung in Phys. 1.6 ist vermutlich darin zu sehen, daß in Kapitel 1.5 ja noch von 'Haus' und 'Statue' gesagt wurde, daß sie ein Gegenüberliegendes (άντικείμενον) haben, aus dem sie werden. Obgleich die Tatsache, daß in Kapitel 1.5 von 'Haus' und 'Statue' gesagt wurde, daß sie ein 'Gegenüberliegendes' haben, während es in Kapitel 1.6 heißt, daß eine ούσία nicht einer ούσία entgegengesetzt ist, zunächst wie ein Widerspruch erscheint, darf hierbei doch folgendes nicht übersehen werden: Zum einen ist in Kapitel 1.5 nicht von einem ,,έναντίον", sondern von einem „άντικείμενον" die Rede. Zum anderen wird in Kapitel 1.5 sowohl von dem Haus wie auch von demjenigen, was dem Haus gegenüberliegt, nicht gesagt, daß sie 'Dinge/Wesen' (ούσίαι) seien, sondern vielmehr werden sie dort noch als Zustände und Zusammensetzungen (διαθέσεις und συνθέσεις) bezeichnet. In diesem Zusammenhang sei auch an Met. VIII.3, 1043b20 ff. erinnert, wo Aristoteles in bezug auf technische Dinge wie z.B. Haus und Gerät Bedenken äußert, ob diese überhaupt als ούσίαι aufzufassen sind.
236
Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
(1967: 424) zu Recht bemerkt - in 189a32-33 nicht begründet, doch findet sich bereits in der zweiten Aporie eine Andeutung auf dieses Theorem. Bedenkt man nämlich, daß dort gesagt wurde, daß wir bei keinem Seienden die Gegensätze als ο υ σ ί α vorkommen sehen, so deutet dies darauf hin, daß umgekehrt die ο ύ σ ί α ι einander nicht entgegengesetzt sind. Das mit der dritten Aporie vorgelegte Argument besagt inhaltlich betrachtet folgendes: Wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn eine ο υ σ ί α einer ο υ σ ί α nicht entgegengesetzt ist, so ergibt sich die Schwierigkeit, wie dann aus den Nicht-ούσίαι (gemeint sind die Gegensätze) die ο ύ σ ί α ι sein sollen und wie diese Nicht-ούσίαι früher als die ο ύ σ ί α ι sein sollen. Mit dieser rhetorische Frage bringt Aristoteles zum Ausdruck, daß, wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt, und wenn aus ihnen als Prinzipien alles sein muß, auch die ο ύ σ ί α letztlich aus den Gegensätzen sein müßte. Da die Gegensätze jedoch - wie die zweite Aporie gezeigt hat - keine ο ύ σ ί α ι sind, wären die ο ύ σ ί α ι folglich aus Nicht-ούσίαι. Dies ist jedoch unmöglich, weil - wie ebenfalls die zweite Aporie gezeigt hat - die ο ύ σ ί α früher als die Gegensätze ist, da letztere von der ο ύ σ ί α ausgesagt werden. 43
6.3 Die zugrundeliegende
Natur der Vorgänger
(189a34-bl6)
Nachdem die drei Aporien im Rückgriff auf die drei Kriterien einer ,,άρχή", die in Kapitel 1.5 einen guten Grund dafür abgaben, Gegensätze als Prinzipien zu setzen, nun gezeigt haben, daß diese Gegensätze gerade nicht die drei Kriterien einer „ α ρ χ ή " erfüllen und somit keine Prinzipien sein können, wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt, soll die Einsicht, daß sich die Prinzipien aus (wenigstens) einem Gegensatzpaar und (wenigstens) einem ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν zusammenzusetzen haben, zunächst als gesichert betrachtet werden. Folglich, wenn einer die frühere Argumentation44 für wahr halten will, und diese auch, so ist es notwendig, wenn man beide bewahren will, etwas Drittes zugrunde zu legen [ύποτιθέναι τι τρίτον], wie z.B. jene sprechen, die behaupten, das Ganze sei eine bestimmte Natur [μίαν τινά φΰσιν], z.B. Wasser oder Feuer oder das Mittlere von diesen. (1.6, 189a34-b3) Die Konklusion aus den drei Aporien, der zufolge neben den beiden Gegensätzen notwendigerweise ein Drittes als Prinzip zugrunde zu legen ist, bringt die Naturphilosophen der ersten Gruppe wieder ins Gespräch. 45 Zwar wurden diese
45
Aufgrund dieses Zusammenhangs zwischen der zweiten und der dritten Aporie ist die von Guzzoni (1975: 4 4 ) behauptete Selbständigkeit einer jeden der drei Aporien - „Aristoteles' Argumentation vollzieht sich in drei gegeneinander selbständigen Schritten, die die verschiedenen Schwierigkeiten aufzeigen, die sich aus der Annahme von nur zwei Gründen ergeben." - einzuschränken. Gemeint ist die Argumentation in Kapitel 1.5, der zufolge die Prinzipien gegensätzlich sein müssen. Zugleich ist nicht zu übersehen, wie vorsichtig sich Aristoteles hier in sprachlicher Hinsicht in bezug auf die für die Konklusion vorausgesetzte Wahrheit der in den Kapiteln I. 5 und 1. 6 dar-
Die zugrundeliegende Natur der Vorgänger
237
zu Beginn des Kapitels 1.4 bereits erwähnt, doch rückten sie dann zunächst wieder in den Hintergrund. Wird von ihnen nun implizit gesagt, daß sie mit dem von ihnen zugrunde gelegten Stoff und den zwei (bewegenden) Gegensätzen letztlich drei Prinzipien angenommen haben, so steht dies allerdings in einem Gegensatz zur diairetischen Einteilung der möglichen Anzahl von Prinzipien in Kapitel 1.2, 184b 16-18, wo es hieß, daß sie nur ein einziges - und zwar bewegtes - Prinzip angenommen haben. Ein Grund für diese den Naturphilosophen zugeschriebene unterschiedliche Anzahl von Prinzipien ist vielleicht darin zu sehen, daß bei der diairetischen Einteilung der Anzahl von Prinzipien in Kapitel 1.2 zunächst primär von den Prinzipien der von Natur aus seienden Dinge (φύσει δντα) die Rede war, bei denen die Ursachen des Werdens noch nicht eigens thematisiert wurden. Hierfür spricht sowohl der Umstand, daß für den Ursprung der Bewegung selbst kein Prinzip genannt wurde - vielmehr war davon die Rede, daß die Eleaten ein unbewegtes und die Naturphilosophen ein bewegtes Prinzip angenommen haben, ohne daß die Frage gestellt wurde, wodurch das eine Prinzip der Naturphilosophen bewegt wird -, als auch die Tatsache, daß Aristoteles dieser Diairesis eine analoge Einteilung bezüglich der Frage, wieviele Seiende (δντα) es gibt, folgen läßt. Im weiteren Verlauf der Untersuchung gelangten dann aber zunehmend die Ursachen der Bewegung in den Blickpunkt. Wenn Aristoteles nun von den Naturphilosophen der ersten Gruppe sagt, daß bei ihnen das Ganze (τό παν) eine bestimmte Natur (vgl. „μίαν τινά φύσιν": 189b2) sei - z.B. „Wasser" (Thaies) oder „Feuer" (Heraklit) -, so ist das Wort „Natur" (φύσις), das bei Aristoteles zu den Ausdrücken zählt, die 'auf mehrfache Weise gesagt werden' (vgl. Met. V.4), hier wohl in einem stofflichen Sinne zu verstehen. Denn einerseits steht „Natur" hier ja für das zugrundeliegende Prinzip, das Aristoteles später auch als „ύλη" bezeichnen wird (vgl. 1.9), und andererseits zeichnen sich die hier für die 'Natur' angeführten Beispiele Wasser, Feuer oder Mittleres gerade durch ihre Stofflichkeit aus. Es scheint aber mehr das Mittlere zu sein. Denn Feuer, Erde, Luft und Wasser sind bereits mit Entgegensetzungen verbunden [μετ έναντιοτήτων συμπελεγμένα εστίν]. Deshalb handeln auch die nicht unbegründet/unvernünftig [ούκ άλόγως], die das Zugrundeliegende [τό ϋποκείμενον] als ein von diesen Verschiedenes [έτερον] ansetzen, von den anderen aber diejenigen, die Luft annehmen, denn die Luft hat von den anderen [Elementen] noch am wenigsten wahrnehmbare Unterschiede [διαφοράς αίσθητάς]. Danach aber kommt das Wasser. (1.6, 189b3-8)
Vor dem Hintergrund, daß die Naturphilosophen jeweils verschiedene 'Naturen' - der eine Wasser, der andere Feuer usw. - als Zugrundeliegendes angenommen haben, erfahren ihre Ansichten nun eine weitergehende Differenzierung, der zufolge aus Sicht von Aristoteles auch bei den Naturphilosophen einige vernünftiger (und somit besser), andere aber unvernünftiger (und somit schlechter) zu reden scheinen. Die Hierarchisierung der zugrunde gelegten Stoffe - am sinnvollsten scheint das Mittlere zu sein, danach käme die Luft und dann das Wasser gelegten Argumentationen ausdrückt, wenn er sagt: „Wenn einer die frühere Argumentation für wahr halten will [άληθή νομίσειεν], und diese auch, so ist es notwendig [...]."
238
Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
deutet eine graduelle Abstufung des 'Treffens der Wahrheit' an. Derjenige Ansatz, der Aristoteles am vernünftigsten zu sein scheint, weil er ein Zugrundeliegendes setzt, das nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist, ist derjenige, der ein Mittleres zwischen den Elementen annimmt (vgl. auch 187al4-15), da die vier Elemente Aristoteles zufolge bereits mit Gegensätzlichkeiten verwoben sind (vgl. Abb. 6.1). Dies deutet daraufhin, daß das Mittlere nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist.46 Zwar wird hier kein Grund dafür angeführt, warum das Zugrundeliegende nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten sein darf, doch ist dieser wohl darin zu sehen, daß das Zugrundeliegende, wäre es selbst mit Gegensätzlichkeiten verflochten, eher zu den gegensätzlichen Prinzipien zählte und somit ebenfalls die Existenz eines anderen Zugrundeliegenden für sich voraussetzen würde. Die zweite Aporie hat ja gezeigt, daß den Gegensätzen eine andere (vgl. ,,εί μή τις έτέραν ύποθήσει τοις έναντίοις φύσιν": 189a28-29), von den Gegensätzen verschiedene Natur zugrunde zu legen ist. Vor diesem Hintergrund kann in der Bemerkung 189b3-8 insofern eine implizite Kritik an dem Ansatz von Empedokles gesehen werden, als dieser mit seinen vier Elementen als Zugrundeliegendes für die gegensätzlichen Prinzipien der Bewegung 'Streit und Liebe' ebenfalls Gegensätze als Zugrundeliegendes angenommen hat. Mit der Hierarchie der zugrundeliegenden Stoffe, die sich je nach dem Ausmaß, in dem sie mit Gegensätzlichkeiten verflochten sind, voneinander unterscheiden, und die sich für Aristoteles mehr oder weniger gut als zugrundeliegende Natur eignen, knüpft er an die Hierarchie der früheren und späteren Gegensätze aus Kapitel 1.5 an. Wurde dort von den Gegensätzen, die dem Begriff (λόγος) nach bekannter sind, gesagt, daß sie im Unterschied zu denjenigen Gegensätzen, die der Wahrnehmung (α'ίσθησις) nach bekannter sind, eher als Prinzipien fungieren können, so soll analog dazu auch die als ein Prinzip zugrundeliegende Natur ebenfalls am wenigsten mit „wahrnehmbaren Unterschieden" (vgl. „διαφοράς αίσθητάς": b7) verflochten sein. Die Abstufung „Mittleres —> Luft —> Wasser", bei der die Elemente in dieser Reihenfolge zunehmend mehr wahrnehmbare Unterschiede aufweisen, ist in dem Sinne zu verstehen, daß Luft und Wasser im Gegensatz zum Mittleren zwar bereits wahrnehmbare Objekte sind, daß sie aber dennoch weitaus weniger wahrnehmbare In Kapitel 1.7 werden wir sehen, daß Aristoteles auch sein eigenes ύποκείμενον als 'nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten' bestimmen wird (vgl. 190b34-35). Aristoteles begründet in Kapitel 1.6 allerdings nicht, warum das Mittlere (τό μεταξύ) nicht mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist. Angesichts der Tatsache, daß das 'Mittlere' in 1.5, 188b23-24 als „aus den Gegensätzen bestehend" bestimmt wurde (vgl. auch Phys. V.l, 224b31-35, wo es von dem Mittleren zudem heißt, daß es zu seinen äußeren Seiten jeweils einen Gegensatz darstellt), könnte jedoch der Einwand formuliert werden, daß das Mittlere sehr wohl mit Gegensätzlichkeiten verflochten ist. Allein die Bezeichnung „Mittleres" impliziert j a bereits, daß hier ein „Mittleres zwischen Gegensätzlichem" gemeint ist. Auch die relationale Beschreibung dieses 'mittleren Elements' in Phys. 1.4, 187al4-15 als „dichter als Feuer, aber weniger dicht als Luft" hebt dessen Gegensätzlichkeit nicht auf, sondern bestätigt sie vielmehr. Diese Überlegungen deuten darauf hin, daß Aristoteles mit dem mittleren Element nicht ein aus den gegensätzlichen Elementen Zusammengesetztes meinen kann, sondern vielmehr ein Mittleres ganz anderer Art meinen muß, das irgendwie eher 'neben' als 'zwischen' den sogenannten vier Elementen steht. So sagt Aristoteles ja: „Deshalb handeln auch die nicht unvernünftig, die das Zugrundeliegende als ein von diesen Verschiedenes [έτερον] ansetzen, [...]." (189b5-6; Hervorhebung von mir).
Die zugrundeliegende Natur der Vorgänger
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Unterschiede als die anderen Elemente (Feuer, Erde) aufweisen, sofern Luft und Wasser z.B. durchsichtig sind. Dieser Abstufung liegt wohl der Gedanke zugrunde, daß etwas um so mehr Unterschiede und Gegensätzlichkeiten aufweist, je mehr sinnliche Qualitäten es besitzt.47 Alle aber gestalten [σχηματίζουσιν] dieses Eine jedenfalls durch die Gegensätze, durch Dichte und Dünne und durch Mehr und Weniger. Diese aber sind allgemein [gefaßt] klarerweise Übermaß und Mangel [υπεροχή και ελλειψις], wie früher gesagt wurde. 48 Und auch diese Meinung scheint alt zu sein, daß das Eine zusammen mit Übermaß und Mangel die Prinzipien des Seienden sind, aber nicht auf gleiche Weise [wurde sie vertreten], sondern die Alten ließen die Zwei wirken und das Eine leiden, von den Späteren aber sagen einige umgekehrt, daß das Eine eher wirke und die Zwei leiden. (1.6, 189b8-16)
Nachdem Aristoteles die Unterschiede bei den Naturphilosophen der ersten Gruppe in bezug auf die von ihnen jeweils zugrunde gelegte Natur herausgestellt hat, geht er nun dazu über, zusammenzufassen, worin sie miteinander übereinstimmen. Alle Naturphilosophen der ersten Gruppe, egal welchen Stoff sie jeweils als zugrundeliegende Natur angenommen haben, setzen diesen doch als einen an und schreiben ihm die Funktion zu, daß aus ihm als Erleidendes durch die Gegensätze als Wirkendes die verschiedenen Gestalten entspringen. Auch in bezug auf die Gegensätze stimmen sie insofern überein, als sie die Dichtheit und Dünnheit bzw. das Mehr und Weniger, wobei Aristoteles diese Gegensätze hier erneut unter den allgemeinen Gegensatz von „Übermaß und Mangel" zusammenfaßt, als Ursachen des Werdens annehmen. Mit Hilfe der Explikation des Gegensatzes „Dichtheit-Dünnheit" durch die Gegensätze „Mehr und Weniger" (μάλλον κοά ήττον) bzw. „Übermaß und Mangel" (υπεροχή και έλλειψις) will Aristoteles auch hier einen Bezug auf Piatons Theorie vom „Großen-undKleinen" (τό μέγα και τό μικρόν) herstellen.50 In Übereinstimmung mit den Naturphilosophen nehmen zwar auch die Platoniker Aristoteles zufolge drei Prinzipien an, die in einem Verhältnis des Wirkens und Leidens zueinander stehen, doch im Gegensatz zu den Naturphilosophen hat ihrer Ansicht nach der zweiheitliche Gegensatz ,,τό μέγα και τό μικρόν" die erleidende Funktion des Zugrundeliegenden, während das Eine die aktive Funktion der Form(ung) hat.
48
49 50
Aristoteles führt in De An. II.2, 413b4-10 und II.3, 414b2-4 aus, daß unter allen Sinnen der Tastsinn an erster Stelle steht und allen Lebewesen zukommt. Davon getrennt sind Klang, Farbe und Geruch. Luft und Wasser aber haben nun weder Klang, noch Farbe, noch Geruch. Darum haben sie weniger wahrnehmbare Unterschiede als z.B. Feuer und Erde. Die Luft aber noch weniger als das Wasser, weil sie zudem weniger dicht als das Wasser ist (vgl. auch De An. II.7, 418b4-7: „Es gibt etwas Durchsichtiges. Ich nenne durchsichtig das, was zwar sichtbar ist, jedoch nicht an sich sichtbar schlechthin, sondern durch die ihm fremde Farbe. Von solcher Art sind Luft, Wasser und viele Festkörper." (Übers, nach Theiler)). Vgl. 1.4, 187al5 f. Ebenso wie die in Kapitel I. 5 behandelte Meinung, daß Gegensätze Prinzipien sind. Mit dem Ausdruck ,,τών δ' υστέρων τινές" (bl4-15) sind offenkundig die Platoniker gemeint. Wagner (1967: 424) weist in bezug auf das „Mehr und Weniger" auf Piaton, Philebos, 24A ff. hin.
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6.4 Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien
(189bl6-29)
Die Behauptung also, die Elemente [τά στοιχεία] seien drei, scheint [δόξειεν] einen gewissen Grund [τινά λόγον] zu haben, wenn man sie aus diesem und anderem derartigen überprüft, wie bereits gesagt wurde;51 [die Behauptung] aber, es seien mehr als drei, nicht mehr. (1.6, 189b 16-18)
Rückblickend hält Aristoteles zunächst fest, daß das bisher Dargelegte - wozu sowohl die drei Aporien (vgl. „έχει τινά λόγον": 189a21 -22) als auch die sich daran anschließenden Ausführungen über die zugrundeliegende φύσις der Naturphilosophen (vgl. ,,ούκ άλόγως": 189b5) zu zählen sind - einen gewissen Grund (vgl. „τινά λόγον": 189b 18) fur die Annahme von drei Elementen abzugeben scheint. Es fällt hierbei auf, daß Aristoteles immer noch sehr vorsichtig formuliert (vgl. die Ausdrücke „δόξειεν" und „τινά λόγον"). Sprechen einige Gründe für die Behauptung, es seien drei Prinzipien, so gilt dies für die Behauptung, es seien mehr als drei Prinzipien, jedoch nicht. Dies soll im folgenden gezeigt werden. Die Begründung der Behauptung, daß sich für die These, es seien mehr als drei Prinzipien, kein Grund mehr anfuhren läßt, ist insofern erforderlich, als die einfuhrende Argumentation in Kapitel 1.6 (189al020) zwar auf negative Weise gezeigt hat, daß es der Zahl nach weder ein einziges Prinzip noch unbegrenzt viele Prinzipien geben kann, doch hat sie nicht auf positive Weise gezeigt, wieviele Prinzipien es sein müssen. Zudem sahen wir, daß die einführende Argumentation in Kapitel 1.6 noch das Ergebnis des Kapitels 1.5 voraussetzte, dem zufolge nur die Gegensätze als Prinzipien angenommen wurden. Mit dem durch die drei Aporien erbrachten Nachweis der Notwendigkeit der Annahme eines Zugrundeliegenden für die Gegensätze stellt sich jedoch die Frage nach der Anzahl der Prinzipien von einem korrigierten Betrachtungspunkt aus erneut, da es nun j a möglich wäre, daß zwar nicht die Gegensatzpaare, wohl aber das ύποκείμενον der Zahl nach mehreres (vgl. Empedokles) oder gar unbegrenzt vieles sein kann. So beginnt Aristoteles zunächst mit der Frage nach der Anzahl des Zugrundeliegenden: Denn in bezug auf das Erleidende ist das Eine ausreichend [προς μεν γαρ τό πάσχειν ίκανόν τό εν]. (1.6, 189b 18-19)
Mit der Begründung, daß nämlich ein einziges als Erleidendes ausreiche, greift Aristoteles auf die in Kapitel 1.5, 188a31-34 eingeführte und in Kapitel 1.6, 189 bl3-16 (vgl. auch 189a24-26) bezüglich der Prinzipien der Naturphilosophen angewendete Unterscheidung zwischen dem „Wirken (ποιεΐν) und Leiden (πάσχειν)" zurück. Zugleich ist mit der Behauptung, daß das Eine als Erleidendes ausreiche, insofern eine implizite Kritik an Piaton angedeutet, als über dessen Ansatz doch zuvor gesagt wurde, daß er die zwei Prinzipien des 'Großenund-Kleinen' als Erleidende gesetzt habe (189b 15-16). Nachdem Aristoteles in bezug auf das Erleidende herausgestellt hat, daß Eines ausreiche, fährt er wie folgt fort: Vgl. 1.6, 189a21: „ [...], τό μή ποιεΐν δύο μόνον εχει τινά λόγον."
Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien
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Wenn aber, angenommen es seien vier, dann zwei Entgegensetzungen existieren, so wird einer jeden für sich eine von ihnen verschiedene mittlere Natur [έτέραν τινά μεταξύ φύσιν] zukommen müssen. Wenn sie aber auseinander erzeugen/hervorbringen können [εί δ' έξ αλλήλων δύνανται γεννάν], da sie zwei sind, so wäre eine der Entgegensetzungen überflüssig [περίεργος αν ή ετέρα των έναντιώσεων]. (1.6, 189b 19-22)
Was mit dieser Fortsetzung des Arguments gegen die Annahme von mehr als drei Prinzipien im einzelnen gemeint ist, erscheint auf den ersten Blick als schwierig und rätselhaft. 52 So bemerkt Bostock (1982: 194) in diesem Zusammenhang: The first of these arguments (189b 18-22) is obscure to me, so I here pass over it, [...].
Das in 189b 19-22 von Aristoteles vorgelegte Argument stellt seiner Form nach eine Reductio ad absurdum dar: Ausgehend von der Annahme, es seien vier Prinzipien, soll gezeigt werden, daß diese vier Prinzipien letztlich auf drei reduziert werden können, wobei die Zahl Vier hier stellvertretend für jede andere Anzahl von Prinzipien steht, die größer als Drei ist und auf die dasselbe Argument analog zu übertragen wäre. Angenommen also es seien vier Prinzipien, so werden diese vier Prinzipien Aristoteles zufolge in zwei Entgegensetzungen (vgl. „δύο έσονται έναντιώσεις") auftreten. Zwar führt Aristoteles selbst kein Argument dafür an, warum die vier Prinzipien zunächst in zwei Entgegensetzungen auftreten, doch läßt sich dieses Argument vermutlich wie folgt rekonstruieren: Da sich die vier Prinzipien zunächst auf die beiden Funktionen des Wirkens und Leidens verteilen müssen, und da bereits gesagt wurde, daß für das Erleidende Eines ausreicht (189b 1819), wären die übrigen drei Prinzipien folglich zu den wirkenden Prinzipien zu zählen. Da jedoch außerdem gezeigt wurde, daß wir als Prinzipien (wenigstens) ein Zugrundeliegendes und (wenigstens) ein Gegensatzpaar (d.h. zwei Gegensatzglieder) benötigen, und da von diesen beiden Arten von Prinzipien nur das Zugrundeliegende - nicht aber das Gegensatzglied - als Eines vorkommen kann, ergibt sich ferner, daß eines der vier Prinzipien das eine erleidende Prinzip in Gestalt des Zugrundeliegenden sein müßte, während die anderen drei Prinzipien als Gegensätze zu den wirkenden Prinzipien zu zählen wären.53 Nun bilden diese drei wirkenden Prinzipien jedoch keinen Gegensatz, da ein Gegensatz nicht eine 52
53
Vgl. auch Apostle (1969: 198, Fn.24): „There is some difficulty in getting the meaning of this paragraph." Die Funktion des Wirkens kommt bei den Naturphilosophen den Gegensätzen zu, denen das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν als Erleidendes gegenübersteht (vgl. 1.6, 189a22-27; b8-14). Zwar sahen wir, daß es sich bei Piaton umgekehrt verhielt, daß nämlich bei ihm der Gegensatz „Großes-undKleines" die Funktion des Erleidens übernimmt, doch wurde dies durch die Behauptung, daß das Eine als Erleidendes ausreiche, zunächst ausgeschlossen. Zwar werden wir in Kapitel 1.9 sehen, daß Aristoteles sein eigenes ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν in Form von ΰ λ η und σ τ έ ρ η σ ι ς ebenfalls als ein Zweiheitliches betrachtet, doch ist dieses Zweiheitliche als ein Zweiheitliches dem Begriff und nicht der Zahl nach zu verstehen, wie er ausdrücklich betont. Das Zugrundeliegende bei Piaton in Gestalt des „Großen-und-Kleinen" scheint Aristoteles demgegenüber eher als ein der Zahl nach Zweiheitliches zu verstehen.
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Physik I. 6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
Dreiheit, sondern eine Zweiheit impliziert.54 Folglich können die vier angenommenen Prinzipien nur in folgenden Relationen zueinander stehen: Entweder stellen die vier Prinzipien (a) zwei Entgegensetzungen dar, oder sie bilden (b) eine Entgegensetzung, die zwei Zugrundeliegende als Erleidendes hat. Da die Alternative (b) jedoch unmittelbar zuvor durch die Begründung, daß in bezug auf das Erleidende Eines ausreiche (189b 18-19), ausgeschlossen wurde, bleibt einzig die Alternative (a) übrig, so daß die vier Prinzipien folglich zwei Entgegensetzungen bilden.55 Den drei Aporien zufolge muß diesen beiden Entgegensetzungen nun jedoch jeweils ein von ihnen verschiedenes 'Mittleres' als zugrundeliegende φύσις zukommen, so daß die Zahl der Prinzipien von Vier auf Sechs steigen würde. Im zweiten Teil des Arguments (189b21-22) werden dann diese sechs Prinzipien wieder auf drei reduziert.56 Bezüglich des Verständnisses dieses zweiten Teils sind jedoch verschiedene Interpretationen vorgeschlagen worden. Einige Interpreten gehen davon aus, daß hier davon die Rede sei, daß „zwei Entgegensetzungen auseinander entstehen können" (vgl. auch 189al7-19), so daß sich die eine Entgegensetzung gegenüber der anderen Entgegensetzung als fundamental erweist. Die andere Entgegensetzung wäre dann aus dem Grunde überflüssig, weil sie auf die erste Entgegensetzung reduziert werden kann. In diesem Sinne sagen Wicksteed und Cornford (1980: 64 f.):57 The argument is: 'If there were four active contrasted principles, then (1) if each couple is independent of the other, each will need a separate passive principle (whereas one is enough); (2) if one couple is derivable from the other, there will really be only one primacy couple; the second will be superfluous. This interpretation of the second alternative is Porphyry's, in Simplicius (206,3), who objects that γεννασθαι (for γενναν) would be required, and himself understands εϊ δέ έξ αλλήλων πάντα γεννωσι.
Diese Interpretation erweist sich jedoch - wie Simplicius zu Recht bemerkt - aus dem Grunde als problematisch, da der Text selbst nicht von ,,γεννάσθαι", son4
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Auch wenn der kontrare Gegensatz in dem Sinne eine Dreiheit darstellen kann, daß er sich aus zwei äußeren Gliedern und einem mittleren Glied zusammensetzt, so besteht das mittlere Glied selbst doch aus den gegensätzlichen Gliedern (vgl. 188b23-24) und kann folglich selbst kein Prinzip sein. Es wird zugleich deutlich, daß die hypothetische Annahme von vier Prinzipien eine indirekte Kritik an dem Ansatz von Empedokles darstellt, hatte dieser doch mit seinen vier Elementen ('Feuer-Wasser' und 'Erde-Luft') in gewisser Weise zwei Entgegensetzungen als Zugrundeliegendes angenommen. Vgl. auch Charlton (1970: 69) und Wicksteed/Cornford (1980: 64 f.). Zekl (1987: 244, Fn.68) bemerkt hier: „Somit wären es dann schon sechs. Der nächste Satz reduziert sie wieder auf zwei." Zwar sagt Zekl zu Recht, daß es dann schon sechs Prinzipien wären, falsch jedoch ist die Behauptung, daß der nächste Satz sie (die sechs Prinzipien) wieder auf zwei reduziert. Zwar werden die vier Gegensatzglieder der zwei Entgegensetzung im nachfolgenden Satz auf zwei Gegensatzglieder und somit auf eine Entgegensetzung reduziert, doch muß j a auch dieser Entgegensetzung etwas zugrunde liegen, so daß die sechs Prinzipien letztlich auf drei Prinzipien reduziert werden. Nach Ansicht von Ross (1936: 491) folgt aus den beiden Entgegensetzungen entweder, daß es zwei (verschiedene) υ π ο κ ε ί μ ε ν α gibt, von denen dann eines überflüssig wäre, oder aber, daß beide Entgegensetzungen dasselbe ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν haben, woraus sich ergibt, daß eine der beiden Entgegensetzungen überflüssig wäre. Vgl. auch Hardie/Gaye (1930).
Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien
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dem von ,,γενναν" spricht. Im Gegensatz zu der von Wicksteed und Cornford im Rückgriff auf Porphyrios vorgelegten Interpretation ist Simplicius der Ansicht, daß hier davon die Rede sei, daß „ein Gegensatzpaar (allein) durch Wechselwirkung (seiner Glieder) die [d.h. alle (πάντα)] Dinge erzeugen/hervorbringen kann", so daß das andere Gegensatzpaar aus dem Grunde überflüssig wäre, weil eine Entgegensetzung, die aus zwei Gliedern besteht, allein all das zu leisten imstande ist, was durch zwei Entgegensetzungen geleistet werden kann. In diesem Sinne übersetzt auch Prantl (1854: 37) den Satz 189b21-22: [...], oder aber falls ein Paar von Gegensätzen durch Wechselwirkung Erzeugungen hervorbringen könnte, es aber doch zwei solche Paare wären, so wäre ja das eine derselben überflüssig. Nun ist mit dieser Interpretation aber folgende Schwierigkeit verbunden: Ihr zufolge würden die beiden Glieder einer Entgegensetzung durch eine Wechselwirkung aufeinander die Dinge erzeugen, während Aristoteles in 189a22-27 doch umgekehrt darauf hingewiesen hat, daß die Glieder eines Gegensatzes nicht aufeinander wirken oder etwas voneinander erleiden können. Angesichts dieser Schwierigkeit schlägt Ross folgende Interpretation vor: 18-22. προς μέν γαρ τό πάσχειν ... εΐη. One subject-matter is sufficient to play the passive part. If there are two pairs of contraries, they will either have two different subject-matters, one of which will be superfluous (b 19-21), or they will have the same subject-matter, in which case one of the pairs of contraries is superfluous (b212). [...] 21-2. εί ... εΐη. There is a slight looseness in describing contraries as generating from each other. Contrary cannot act on contrary (a22-6). What Aristotle means is rather that one contrary generates a new product by acting on a matter characterized by the other contrary. He is now considering the hypothesis that there are two pairs of contraries, which we may call A and A', Β and B'. Now if the pairs of contraries, being two, generate from each other, i.e. if (1) B' can serve as a contrary for A to act on, and (2) Β can serve as a contrary for A' to act on, then from (1) it follows that B' is the same as A', and from (2) that Β is the same as A (since one thing has only one contrary); so that one of our two pairs of contraries will have turned out to be superfluous. (Ross, 1936:491) Ross versteht das Argument wie folgt: Hat der erste Teil der Argumentation zur widersinnigen Konsequenz geführt, daß die Prinzipien sechs wären, wenn die zwei Entgegensetzungen zwei verschiedene υποκείμενα hätten, so wird im zweiten Teil nun davon ausgegangen, daß die beiden Entgegensetzungen dasselbe ϋποκείμενον haben, woraus sich dann die Überflüssigkeit von einer Entgegensetzung ergibt. Zwar versteht auch Ross das „Erzeugen" (γεννάν) im Sinne einer Wirkung eines Gegensatzgliedes auf ein anderes Gegensatzglied, doch umgeht er die damit verbundene Schwierigkeit, daß Aristoteles in 189a22-27 umgekehrt sagt, daß die Glieder eines Gegensatzes nicht aufeinander wirken, dadurch, daß seiner Interpretation zufolge ein Gegensatzglied nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar auf das andere Gegensatzglied wirkt, insofern es unmittelbar auf die Materie wirkt, die von dem anderen Gegensatzglied charakterisiert wird.
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Physik 1.6: 'Die Einführung des ύποκείμενον'
Charlton (1970: 69) hat jedoch gegenüber der von Ross vorgeschlagenen Interpretation eingewendet, daß sie zu kompliziert sei, als daß sie durch den Text gestützt werden könne: Others, e.g. Ross, take b22-3 to mean 'if the opposites in each pairs will serve as underlying things for the other', but this is perhaps too complicated a thought for the words to carry. Nach Ansicht von Charlton besagt das Argument in b22-23 vielmehr folgendes: Wenn die Prinzipien in einem jeden Gegensatzpaar ohne ein drittes Prinzip die Dinge auseinander erzeugen können, so wäre eines der Gegensatzpaare aus Sicht von Aristoteles vermutlich aus dem Grunde Uberflüssig, weil die Paare als analoge Paare identisch sind. Wenn z.B. Pferde erzeugt werden durch heiß und kalt, Bäume aber durch trocken und naß, so sind die Prinzipien von beiden, obgleich verschieden, doch analog: [...]; or (as I understand the next clause, b22-3), if the principles in each pair can produce things out of one another without a third principle, one of the pairs will be redundant, presumably because the pairs are 'by analogy the same' (cf. 188b37189al): if, e.g., horses are produced by hot and cold, and trees by wet and dry, the principles of each, though different, will be analogous. On this interpretation, the next point, b22-7, follows naturally: if horses are produced by hot and cold, and trees by wet and dry, and the one pair cannot be reduced to the other (as perhaps pale and dark, or colours, can be reduced to rough and smooth, or textures - cf. Met. Ζ 1029b21-2), horses and trees will not be in the same range or 'kind'. (Charlton, 1970:69) Diese Interpretation ist jedoch aus dem Grunde problematisch, da ihr zufolge nun ein Wirken und Leiden der Gegensätze ohne ein zugrundeliegendes Drittes (without a third principle) möglich wäre; ein Pferd z.B. würde Charltons Interpretation zufolge ohne ein ύποκείμενον aus heiß und kalt werden. Diese Interpretation würde somit sämtliche in den drei Aporien angeführten Argumente für die Notwendigkeit der Annahme eines zugrundeliegenden Dritten ignorieren und scheint aus diesem Grunde eher unwahrscheinlich zu sein. Vor diesem Hintergrund ist das Argument nun eher wie folgt zu verstehen, wobei ich mich im wesentlichen den Überlegungen von Ross anschließe: Zunächst wird davon ausgegangen, daß es vier Prinzipien gibt, die zwei Entgegensetzungen bilden müssen. Aufgrund des in den drei Aporien Gesagten muß zudem ein ύποκείμενον für die beiden Entgegensetzungen angenommen werden. Nehmen wir jedoch für jede der beiden Entgegensetzungen ein von ihnen verschiedenes ύποκείμενον an, so würden wir sechs Prinzipien erhalten. Da aber ein ύποκείμενον als Erleidendes ausreicht, ergibt sich, daß entweder eines der beiden ύποκείμενα zusammen mit seiner Entgegensetzung wegfällt - folglich würden drei Prinzipien (ein ύποκείμενον und zwei Gegensatzglieder) übrigbleiben -, oder daß nur eines der beiden ύποκείμενα wegfällt - folglich hätten beide Entgegensetzungen dasselbe ύποκείμενον, und wir würden somit fünf Prinzipien erhalten. Letzterem wird nun in b21 -22 entgegengehalten, daß in diesem Falle eine der beiden Entgegensetzungen überflüssig wäre - und somit doch wieder
Der λόγος für die Annahme von drei Prinzipien
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drei Prinzipien ilbrigblieben da eine Entgegensetzung, sofern sie als eine möglichst umfassende Entgegensetzung ausgewählt wird, (zusammen mit seinem ύποκείμενον) ausreicht, um Dinge erzeugen/hervorbringen zu können. Denn eine einzige Entgegensetzung bildet ja bereits für sich betrachtet eine Zweiheit, die, wie die Überlegungen in Kapitel 1.5 gezeigt haben, für das Werden und Vergehen ausreichend ist. Als Subjekt des Satzes ,,εί δ' έξ αλλήλων δύνανται γεννάν δύο οΰσαι, [...]" sind die „beiden Entgegensetzungen" anzusehen, die je für sich (zusammen mit einem ύποκείμενον) Dinge auseinander erzeugen können, weil sie je für sich eine Zweiheit darstellen. Mit anderen Worten: Weil die beiden Entgegensetzungen jeweils eine Zweiheit darstellen, können sie jeweils zusammen mit einem ύποκείμενον das Werden hervorbringen. Aufgrund der für das Werden erforderlichen Zweiheit der Gegensätze ist somit eine der beiden Entgegensetzungen überflüssig. Zudem wären diese beiden Entgegensetzungen, sofern ihnen dasselbe ύποκείμενον zugrunde liegt, ja auch innerhalb derselben Gattung. Von dieser Gattung heißt es aber, daß sich in ihr nur eine (erste) Entgegensetzung findet, so daß alle anderen Entgegensetzungen auf diese erste reduzierbar sind (vgl. 189b22-27). Versteht man also den zweiten Teil (b21-22) des Arguments in dem Sinne, daß hier davon ausgegangen wird, daß zwei Entgegensetzungen dasselbe ύποκείμενον haben und sich somit in einer Gattung befinden, so schließt sich nun auch sehr gut das nachfolgende Argument (189b22-27) an, dem zufolge es unmöglich ist, daß zwei (fundamentale) Entgegensetzungen in einer Gattung vorkommen: Zugleich aber ist es auch unmöglich, daß die ersten Entgegensetzungen mehrere sind [αμα δέ και αδύνατον πλείους είναι έναντιώσεις τάς πρώτας]. Denn das Ding/Wesen [ουσία] ist eine einheitliche Gattung des Seienden [εν τι γένος τοϋ δντος], so daß sich die Prinzipien nur dem Früher und Später nach [τω πρότερον και ύστερον] voneinander unterschieden werden, nicht aber der Gattung nach [άλλ' ού τφ γένει]. Denn in einer einheitlichen Gattung ist immer [nur] eine einzige Entgegensetzung, und alle Entgegensetzungen scheinen auf eine einzige hinzuführen [άνάγεσθαι δοκοΰσιν εις μίαν], (1.6, 189b22-27)
Hier dient nun das Argument, das in 189al3-14 zur Widerlegung der Annahme unbegrenzt vieler Prinzipien angeführt wurde, zur Widerlegung der Annahme von mehr als einer einzigen Entgegensetzung.58 Es schließt unmittelbar an die zuvor geführte Argumentation an und soll über den Nachweis der Überflüssigkeit (vgl. „περίεργος": b21-22) einer zweiten Entgegensetzung hinaus nun auch noch deren Unmöglichkeit (vgl. ,,άδύνατον": b23) aufweisen. Vor dem Hintergrund der zuvor geführten Argumentation, der zufolge sich ergab, daß ein ύποκείμενον als Erleidendes ausreicht, so daß, wenn es mehrere Entgegensetzungen gibt, diese doch zumindest innerhalb einer Gattung (nämlich an dem einen ύποκείμενον) vorkommen, wird nun auch verständlich, warum Aristoteles hier nur in bezug auf die Gattung der ούσία, nicht jedoch in bezug auf die anderen Gattungen des Seienden von einer Entgegensetzung spricht. Denn wäre hier auch in bezug auf die Gattungen des ποιόν und ποσόν jeweils 58
Zur Interpretation dieses Arguments vgl. die Ausführungen zu 1.6, 189al3-14 auf S. 215-19.
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Physik I. 6: 'Die E i n f ü h r u n g des ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν '
von einer Entgegensetzung die Rede, so wären entweder auch mehrere υποκείμενα fiir die verschiedenen Entgegensetzungen der verschiedenen Gattungen anzunehmen - dies würde jedoch einen Widerspruch zur Behauptung, daß ein ύποκείμενον als Erleidendes ausreiche, darstellen oder diese verschiedenen Entgegensetzungen wären letztlich auf eine einzige fundamentale Entgegensetzung reduzierbar, wenn die verschiedenen Entgegensetzungen der einzelnen Gattungen an ein und demselben ύποκείμενον vorkommen.59
6.5 Die abschließende Konklusion
(189b27-29)
Daß also das Element [τό σ τ ο ι χ ε ι ο ν ] weder ein einziges ist, noch mehr als zwei oder drei, ist klar. W a s aber von diesen beiden der Fall ist, das zu erklären, enthält viele Schwierigkeiten. (1.6, 189b27-29)
Nachdem in den Kapiteln 1.5 und 1.6 Argumente dafür geben wurden, daß die Prinzipien einerseits zwar gegensätzlich sein müssen (1.5), andererseits jedoch nicht nur gegensätzlich sein können (1.6), und nachdem es nun keinen Grund gibt, mehr als drei Prinzipien anzunehmen (vgl. 189b 16-27), beschließt Aristoteles das Kapitel 1.6 - und damit zunächst auch seine Auseinandersetzung mit den Vorgängern -60 mit der Konklusion, daß nun klar sei, daß das Grundelement weder eines ist, noch daß mehr als zwei oder drei Grundelemente anzunehmen sind. Diese Konklusion erweist sich jedoch insofern als überraschend, da durch sie die Möglichkeit von zwei Prinzipien doch wieder in Betracht gezogen wird, obgleich im Kapitel 1.6 allein für die Anzahl von drei Prinzipien argumentiert wurde.61 Eine Erklärung dieses überraschenden Umstands ist vielleicht darin zu sehen, daß in Kapitel 1.6 ja nicht nur von den Naturphilosophen der ersten Gruppe die Rede war, die mit der zugrundeliegenden φύσις und den diese φύσις bewe-
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Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß eine Reduktion derart verschiedener Entgegensetzungen auf eine einzige fundamentale Entgegensetzung in der Gefahr steht, die Vielfältigkeit der Erscheinungen zu sehr zu vereinfachen und auf eine gemeinsame Gestalt zu reduzieren, die den unterschiedlichen Phänomenen in der Natur vielleicht nicht in jeder Hinsicht gerecht wird. Auf die Vorgänger wird Aristoteles erst in den Kapiteln 1.8 und 1.9 im Anschluß an die Darlegung seines eigenen Ansatzes in Kapitel 1.7 zurückkommen. Hierbei ist zu bedenken, daß eine eingehende Auseinandersetzung mit der platonischen Theorie noch aussteht. Daß letztere erst im Anschluß an die Darlegung der eigenen Theorie - und nicht (analog zu den anderen Vorgängern) im Vorfeld derselben - erfolgt, findet seinen Grund vermutlich darin, daß Piaton mit seinen naturphilosophischen Spekulationen der aristotelischen Lösung bereits sehr nahe gekommen ist, so daß ftlr das Verständnis der Kritik an Piaton das Verständnis der eigenen Lehre vorausgesetzt werden muß. Aristoteles sieht den Fehler Piatons vereinfacht gesagt darin, daß dieser die στέρησις als ein zweites Moment am ύποκείμενον übersehen habe (vgl. 1.9, 191 al2-16). Für das Verständnis dieser Kritik ist es jedoch erforderlich, daß Aristoteles den Begriff der στέρησις innerhalb seiner eigenen Theorie zunächst einführt und erläutert. Es sei daraufhingewiesen, daß Aristoteles auch in Kapitel 1.7 in bezug auf seinen eigenen Ansatz ausführen wird, daß je nach dem Standpunkt der Betrachtung zwei oder drei Prinzipien angenommen werden müssen. So werden wir sehen, daß z.B. für die Beschreibung eines φύσει öv zwei Prinzipien (ΰλη und είδος) ausreichen, während für die Beschreibung eines φύσει γιγνόμενον eigentlich drei Prinzipien (ΰλη, είδος und στέρησις) benötigt werden, die jedoch unter bestimmten Umständen ebenfalls wieder auf zwei Prinzipien reduziert werden können, sofern man die στέρησις als „Abwesenheit (απουσία) des είδος" betrachtet.
Die abschließende Konklusion
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genden Gegensätzen 'Dichte und Dünne' drei Prinzipien angenommen haben, sondern daß er auch die Platoniker (189b 14-16) erwähnt hat. Zwar wurde den Piatonikern hier ebenfalls die Setzung von drei Prinzipien (nämlich ein Wirkendes und die beiden Erleidenden „Großes-und-Kleines") zugeschrieben, doch sagt Aristoteles von ihnen an anderer Stelle, daß sie das Zugrundeliegende selbst als ein Glied des Gegensatzes aufgefaßt haben und eigentlich nur zwei Prinzipien zugrunde legten.62 Zudem deutet der Hinweis auf die Möglichkeit der Annahme von zwei Prinzipien auf ein Argument hin, das sich, obgleich es im Text selbst nicht ausgeführt wird, in Analogie zur Argumentation bezüglich des ύποκείμενον als Erleidendes wie folgt anführen ließe: Wenn nämlich gesagt wird, daß das eine ύποκείμενον als Erleidendes ausreiche (vgl. 189bl8-19), so ließe sich umgekehrt im Hinblick auf das Wirkende j a ebenso argumentieren und die These aufstellen, daß auch ein Wirkendes ausreiche. Dann aber gäbe es wiederum nur zwei Prinzipien, nämlich ein Erleidendes und ein Wirkendes. Setzt man für die Konklusion von Kapitel 1.6 die Wahrheit der in den Kapiteln 1.5 und 1.6 dargelegten Argumentationen voraus, so ist der Hinweis auf die Möglichkeit der Annahme von zwei Prinzipien, von der in Kapitel 1.6 nur im negativen Sinne die Rede war, daß es einen Grund gibt, nicht nur zwei Prinzipien anzunehmen (vgl. 189a21-22), sicherlich nicht in dem Sinne zu verstehen, daß die Gegensätze ohne ein zugrundeliegendes Drittes vielleicht doch ausreichen. Vielmehr scheint hier die Möglichkeit angedeutet zu werden, daß das selbst vielleicht doch in einem Gegensatz zum zweiten Prinzip stehen kann, wobei mit dieser Möglichkeit weder die These von der Gegensätzlichkeit der Prinzipien (1.5) noch die These von der notwendigen Annahme eines ύποκείμενον (1.6) aufgehoben wäre. So werden wir in Kapitel 1.7 sehen, daß das ύποκείμενον dem είδος in einem akzidentellen Sinne entgegengesetzt sein kann, insofern sich an ihm die στέρησις, die mit dem είδος einen Gegensatz bildet und als bloße Abwesenheit (απουσία) des είδος verstanden werden kann, als ein Akzidens findet.
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Vgl. Met. XIV. 1, 1087b4 ff. Vgl. auch Phys. 1.9, 192a2-12, wo Aristoteles indirekt zeigt, daß die Dreiheit der Platoniker (das 'Große-und-Kleine' einerseits und das είδος andererseits) eigentlich eine Zweiheit ist, da das 'Große-und-Kleine' (kategorial gesehen) letztlich nur Eines ist. In Met. 1.6, 988a8-14 heißt es: „[. . .]; offenbar hat er [Piaton] nach dem Gesagten nur zwei Ursachen angewendet, nämlich das Prinzip des Was und das stoffartige Prinzip; denn die Ideen sind fllr das übrige, für die Ideen selbst aber das Eins Ursache des Was. Und in betreff der zugrundeliegenden Materie, von welcher bei den übrigen Dingen die Ideen, bei den Ideen selbst das Eins ausgesagt wird, erklärt er, daß sie eine Zweiheit ist, nämlich das Große und das Kleine." (Übers, nach Bonitz).
7. Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' 7.1 Eine methodologische Vorbemerkung (189Ö29-34) Folgendes also wollen wir selbst darüber sagen, indem wir zuerst das gesamte Werden [πρώτον περί πάσης γενέσεως] durchgehen. Denn es ist doch naturgemäß [κατά φύσιν], das Gemeinsame zuerst zu sagen [τά κοινά πρώτον είπόντας], und danach das bezüglich eines jeden Eigentümliche zu betrachten [τά περί έκαστον ίδια θεωρεί ν]. Wir sagen nämlich, daß eines aus einem anderen wird [γίγνεσθαι έξ άλλου άλλο] und ein Verschiedenes aus einem Verschiedenen [έξ έτερου έτερον], und wir meinen damit entweder Einfaches [τά άπλα] oder Zusammengesetztes [τά συγκείμενα], (1.7, 189b30-34)
Daß wir es hier nun mit der Darlegung des eigenen Ansatzes von Aristoteles zu tun haben, wird allein sprachlich aufgrund des gehäuften Vorkommens solcher Ausdrücke wie ,,φαμέν γάρ" (189b32), ,,ήμεΐς λέγωμεν" (b30) und „λέγω δέ" (b34) deutlich. Zugleich deuten diese Ausdrücke an, daß Aristoteles bestrebt ist, eine Analyse der Werdeprozesse mit Hilfe einer Analyse der Sprache, wie wir über diese Werdeprozesse sprechen, beginnen zu lassen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir es in Kapitel 1.7 allein mit einer sprachlichen Analyse der Werdeprozesse zu tun hätten, die - wie z.B. Wieland (1962: 112) und Jones (1974: 476-8) meinen - einer empirischen Untersuchung gegenübergestellt wäre. Vielmehr basiert die sprachliche Analyse der Werdeprozesse auf einer vorangegangenen Beobachtung derselben. Die sprachliche Analyse stellt für Aristoteles eine Möglichkeit dar, die für sich betrachtet noch ungegliederten Beobachtungen in Begriffe zu fassen, um ihnen so eine gemeinsame Struktur zu geben, die die Grundlage der Erkenntnis von Werdeprozessen darstellt. Wir werden im weiteren Verlauf der Untersuchung jedoch sehen, daß sich Aristoteles durchaus bewußt ist, daß zwischen der Oberflächen- und Tiefenstruktur eines Satzes mitunter zu unterscheiden ist. Aristoteles schickt seiner Darlegung in Kapitel 1.7 eine methodologische Vorbemerkung voraus, in der er sowohl eine allgemeine Gliederung der Untersuchung als auch eine Begründung fur die Vorgehensweise derselben gibt. Der Gliederung zufolge soll zunächst mit dem 'gesamten Werden' (vgl. „περί πάσης γενέσεως": 189b30) begonnen werden, welches ein Zweifaches meint: Zum einen sollen die verschiedenen Arten von Werdeprozessen umfaßt werden, und zum anderen sollen diese Arten so umfaßt werden, daß bei ihnen als noch nicht deutlich voneinander differenzierte zunächst das allen Werdeprozessen Gemeinsame (vgl. τά κοινά: 189b31) herausgestellt wird. Andere Interpreten
Eine methodologische Vorbemerkung
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sprechen hier auch von einem „Werden im allgemeinsten Sinne".1 Vor diesem Hintergrund mag es zunächst zwar verwundern, daß Aristoteles im Anschluß an seine Vorbemerkung mit dem Werden eines ungebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen dann doch ein Beispiel für eine bestimmte Art des Werdens (nämlich für die Eigenschaftsveränderung: άλλοίωσις) wählt, doch löst sich die Verwunderung auf, sofern man bedenkt, daß dieses Beispiel hier zunächst stellvertretend für jegliche Art des Werdens stehen soll. Wenn also zuerst (πρώτον: 189b30) mit der Untersuchung des 'Werdens im allgemeinsten Sinne' begonnen werden soll - wobei der Ausdruck „πρώτον" nach einem es ergänzenden „δεύτερον" bzw. „ύστερον" verlangt -, so kann diese Untersuchung 'περί πάσης γενέσεως' in 190a31 als vorläufig abgeschlossen betrachtet werden, da Aristoteles dort dann explizit zwischen verschiedenen Arten des Werdens (vgl. τά περί έκαστον ϊδια: 189b32) unterscheidet, die er unter die Begriffe des 'schlechthin Werdens' (άπλώς γίγνεσθαι: 190a32) - gemeint ist das Entstehen einer ούσία - und des 'etwas Werdens' (τόδε τι γίγνεσθαι: 190 a32) - gemeint ist die Eigenschaftsveränderung - zusammenfaßt. in bezug auf beide Arten des Werdens soll jedoch weiterhin das ihnen Gemeinsame herausgestellt werden, das darin gesehen wird, daß für beide Arten des Werdens ein ΰποκείμενον vorauszusetzen ist, an dem bzw. aus dem das Werdende wird. Im Sinne einer groben Gliederung geht Aristoteles somit vom Werden im Sinne eines unspezifizierten Ganzen aus, das er in 190a31-b9 weiter in verschiedene Arten des Werdens auseinandernehmen wird, wobei er das diesen Arten Gemeinsame herauszustellen sucht, um dann aus diesem Gemeinsamen in 190bΙΟΙ 7 die allgemeinen Konstitutionsmomente eines jeden Werdenden darzulegen. Von diesen allgemeinen Konstitutionsmomenten wird er schließlich in 190b 17 ff. zur Bestimmung der allgemeinen Prinzipien übergehen. Wenn Aristoteles zu Beginn darauf hinweist, daß diese Untersuchung 'περί πάσης γενέσεως' handeln soll, so ist damit bereits folgende Differenz zu den Untersuchungen seiner Vorgänger angezeigt: Während die Vorgänger - wie Aristoteles an anderer Stelle hervorhebt (vgl. Phys. 1.4, 187a30-31 und De gen. et corr. 1.1) - zumeist einen auf eine bestimmte Art des Werdens eingeschränkten Begriff desselben hatten,2 will Aristoteles selbst das gesamte Werden untersuchen. Er begründet seinen Ausgangspunkt in Kapitel 1.7 damit, daß es doch naturgemäß sei, zuerst das Gemeinsame zu sagen, um erst im Anschluß daran das bezüglich eines jeden Eigentümliche zu betrachten: Denn es ist doch naturgemäß [κατά φύσιν], das Gemeinsame zuerst zu sagen [τά κ ο ι ν ά πρώτον ε ϊ π ό ν τ α ς ] , und danach das bezüglich eines jeden Eigentümliche zu betrachten [τά περί ε κ α σ τ ο ν ϊδια θεωρεί ν], (1.7, 189b31 -32) Vgl. Wieland (1962: 111 f.), Hardie/Gaye (1930), Wagner (1967: 22), Charlton (1970: 15) und Owens (1969: 197). So reduzieren die Naturphilosophen der ersten Gruppe aus Sicht von Aristoteles alles Werden auf die Form der Eigenschaftsveränderung. Demgegenüber ließe sich das platonische Modell des Werdens dahingehend deuten, daß es dort aus Sicht von Aristoteles genaugenommen nur Entstehen und Vergehen, nicht jedoch Eigenschaftsveränderungen geben kann (vgl. dazu Kapitel 9.1.3.2).
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
In Übereinstimmung mit der Methodologie aus Kapitel 1.1, der zufolge der Weg von der Wahrnehmung eines zunächst undifferenzierten Ganzen (τό κ α θ ό λ ο υ ) durch eine Diairesis zur Erkenntnis der einzelnen 'Teile' als Prinzipien dieses Ganzen fuhren soll, geht Aristoteles auch in Kapitel 1.7 zunächst vom „Werden" im Sinne eines undifferenzierten Ganzen und Allgemeinen aus. Sowohl die Begriffe 'τό κ α θ ό λ ο υ ' (1.1) und 'τά κ ο ι ν ά ' (1.7) einerseits als auch die Begriffe ' τ ά καθ' έ κ α σ τ α ' (1.1) und ' τ ά περί έ κ α σ τ ο ν ϊ δ ι α ' (1.7) andererseits entsprechen hierbei einander. Auch wird der Ausdruck ,,πέφυκε" aus 184a 16, der den Weg vom κ α θ ό λ ο υ zu den καθ' έ κ α σ τ α als einen 'natürlichen' charakterisierte, durch den Ausdruck „ κ α τ ά φύσιν" in 189 b31 aufgegriffen. Der Hinweis, daß es naturgemäß ( κ α τ ά φ ύ σ ι ν ) sei, vom Gemeinsamen (τά κ ο ι ν ά ) zu dem einem jeden Eigentümlichen ( τ ά περί έκαστον ϊδια) überzugehen, bezieht sich auch hier auf die Natur des menschlichen Erkennens. Wagner bemerkt zum Beginn von Kapitel 1.7 folgendes: Darum besagt der gegenwärtige Satz [gemeint ist 1.1, 184a23-24] nichts anderes als das, was Ar. später (189b31) so formuliert: »Es liegt in der Natur der theoretischen Arbeit, erst das Allgemeine zu behandeln, und dann die Sonderverhältnisse des Einzelnen zu studieren.« (Wagner, 1967: 395) Zur Vermeidung von Mißverständnissen scheint es mir jedoch angemessener zu sein, den Ausdruck „ κ α τ ά φύσιν" (b31) eher auf das „menschliche Erkennen" als auf die „theoretische Arbeit" zu beziehen. Denn wenn man die 'theoretische Arbeit' im Rückgriff auf die Unterscheidung von Bames nicht als eine Untersuchung, sondern als die Darlegung von Ergebnissen versteht, so hätte diese theoretische Arbeit j a umgekehrt gerade mit den Prinzipien zu beginnen, aus denen sie alles andere auf deduktive Weise herleitet. Dieses Mißverständnis scheint der Interpretation von Zekl zugrunde zu liegen, der in bezug auf den Anfang von Kapitel 1.7 folgendes feststellt: Ein Grundsatz der Darstellung. Die Erkenntnis muß, wie zu Anfang gesagt, den umgekehrten Weg gehen. (Zekl, 1987: 244, Fn.71) Daß wir es in Kapitel 1.7 jedoch nicht mit der Darlegung von Ergebnissen, sondern weiterhin mit einer Untersuchung zu tun haben, die der in Kapitel 1.1 aufgestellten Methodologie entspricht, ist bereits der Tatsache zu entnehmen, daß Aristoteles zunächst mit solchen der Wahrnehmung nach bekannteren Beispielen wie „gebildeter Mensch" beginnt, um erst am Ende des Kapitels zu den Prinzipien gelangt. 3 Zudem weist nicht nur die Konklusion in 190bl 1, der zufolge jedes 3
Vgl. auch Owens (1969: 197 f.) und (1963: 174, Fn.58): „[...] Aristotle commences his investigation empirically [...]." Demgegenüber vertritt Jones (1974: 476-78) die Ansicht, daß wir es zu Beginn von Kapitel I. 7 mit einer linguistischen Untersuchung zu tun haben, die sich nicht auf empirische Beobachtungen von Werdeprozessen, sondern auf die Sprache konzentriert, in der die Werdeprozesse formuliert werden. Vgl. auch Wieland (1962: 112): „Es ist bezeichnend, daß Aristoteles weder mit einer Hypothese beginnt, noch es unternimmt, Tatsachen der empirischen Wahrnehmung einfach zu beschreiben. In beiden Fallen würde nämlich schon etwas übersprungen, was nicht übersprungen werden darf, wenn man wirklich beim vorwissenschaftlichen Vorverständnis ansetzen will, nämlich die Sprache. [...] Phänomenologisch ursprünglich sind weder theoretische Entwürfe noch empirische Wahrnehmungen (diese mögen genetisch
Eine methodologische Vorbemerkung
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Werdende ein Zusammengesetztes (σύνθετον) ist, sondern auch die Tatsache, daß Aristoteles im Anschluß an die methodologische Vorbemerkung mit einer Unterscheidung zwischen einfachen (άπλα) und zusammengesetzten (συγκείμενα) Seienden fortsetzt, auf die Methode einer Diairesis aus Kapitel 1.1 zurück. Gegenüber der Interpretation, daß Aristoteles zunächst mit dem Werden im allgemeinsten Sinne beginnt, ist jedoch eingewendet worden, daß die nachfolgend genannten Beispielsätze bezüglich des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem nicht-gebildeten Menschen (189b34-190al) nicht für einen jeglichen Werdeprozeß, sondern nur für eine Eigenschaftsveränderung stehen. Aus diesem Grunde gliedert Jones die in Kapitel 1.7 vorliegende Untersuchung in folgende Abschnitte: Während sich Aristoteles im ersten Teil (189b32-190a31) vor allem auf das Werden im Sinne der Eigenschaftsveränderung bezieht, geht er in einem zweiten Teil (190a31 -b 17) dann dazu über, auch das Werden in Form des Substanzwechsels zu betrachten. T h e inquiry into c o m i n g - t o - b e falls into t w o parts. T h e first, 189 b 3 2 - 1 9 0 a31, c o n cerns alteration, nonsubstantial change; the second, 190a31 -b 17, substantial change, the c o m i n g into e x i s t e n c e o f substances. (Jones, 1974: 4 7 8 f.)
Dieser Interpretation zufolge wären also beide Teile zum Anfang der Untersuchung zu zählen, da Aristoteles ja vorgibt, zunächst mit dem gesamten Werden zu beginnen. Düring (1966: 230 f.) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß Aristoteles das 'Werden im allgemeinsten Sinne' zunächst mit Hilfe der beiden Sätze „eines wird aus einem anderen" (γίγνεσθαι έξ ά λ λ ο υ αλλο) und „ein Verschiedenes wird aus einem Verschiedenen" (έξ έτερου έτερον) beschreibt, wobei nach Ansicht von Düring das „έξ ά λ λ ο υ α λ λ ο " für das Entstehen von etwas und das ,,έξ έτέρου έτερον" für die Eigenschaftsveränderung von etwas steht.4 Da die nachfolgenden Beispielsätze vom gebildeten Menschen jedoch eine Eigenschaftsveränderung beschreiben, und da erst in 190bl ff. vom Werden und Vergehen der Substanzen (und mithin vom ,,έξ ά λ λ ο υ αλλο") die Rede ist, scheint folglich der erste Teil über das gesamte Werden nicht bereits in 190a31 enden zu können. ursprünglich sein), sondern viel eher das in der Struktur unseres Sprechens von den Dingen gründende Vorverständnis." Demgegenüber bin ich jedoch der Ansicht, daß sich eine empirische und linguistische Untersuchung für Aristoteles nicht gegenseitig ausschließen; dies konnten wir bereits in 1.5, 188 a30-b21 beobachten, wo ebenfalls eine empirische Untersuchung von einer sprachlichen Analyse begleitet wurde. Die sprachliche Beschreibung eines Werdens gründet ja gerade auf einer zeitlich vorangegangenen Wahrnehmung desselben. So wird die empirische Untersuchung in Kapitel 1.7 vielmehr mit Hilfe einer Analyse der Sprache geführt, in der wir über die Dinge sprechen, die wir wahrnehmen. Zur Überbetonung des sprachlichen Charakters von Physik 1, wie sie für Wielands Interpretation charakteristisch ist, vgl. Tugendhat (1963), Guzzoni (1975), Happ (1971) und Oehler (1963). Düring (1966: 230 f.): „Aristoteles unterscheidet zwei Hauptformen der Entstehung: 1) Entstehung schlechthin bezeichnet er als ex allou alio, 'aus etwas etwas anderes', 2) Entstehung einer Eigenschaft benennt er mit ex heterou heteron, 'aus etwas andersartigem etwas andersartiges'." Vgl. auch Ross (1936: 491), der in diesem Zusammenhang auf Met. 1087b29 hinweist, wo der Ausdruck „αλλο" für eine numerische und der Ausdruck „έτερον" für eine qualitative Differenz steht (vgl. auch Met. V.9).
252
Physik
I. 7: 'Das aristotelische M o d e l l d e s Werdens'
Zwar will Aristoteles mit den Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτέρου έτερον" zweifelsohne Verschiedenes zum Ausdruck bringen - wobei die von Düring vorgeschlagene Interpretation, der zufolge ersteres fllr das Entstehen (γένεσις) und letzteres für die Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) steht, am naheliegendsten zu sein scheint -, doch ergibt sich aus diesem nicht zwangsläufig die Konklusion, daß bis 190bl nur von der άλλονωσ.νς und erst ab 190bl von der γένεσις gesprochen würde. So ist in 190a25-26 mit dem Beispiel des Entstehens einer Statue aus Erz bereits ein Beispiel für das Entstehen einer ουσία gegeben. Zudem ist folgendes zu beachten: Zwar beschreibt das Beispiel des gebildeten Menschen, der aus einem ungebildeten Menschen wird, eine Eigenschaftsveränderung, doch steht dieses Beispiel zu Beginn der Untersuchung in Kapitel 1.7 zunächst stellvertretend für einen jeglichen Werdeprozeß.5 Betrachtet man die in 189b34-190al angeführten drei Beispielsätze, so findet sich in ihnen der sprachlichen Form nach sowohl die Formel des ,,έξ άλλου άλλο" wie auch die Formel des ,,έξ έτέρου έτερον" zum Ausdruck gebracht: Stehen für das ,,έξ άλλου άλλο" die Sätze „ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter" und „das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes", da hier sprachlich gesehen zunächst aus einem Anderen ein Anderes wird, so steht für das ,,έξ έτέρου έτερον" der Satz „ein nichtgebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch", da hier sprachlich gesehen aus einem Verschiedenen ein Verschiedenes wird.6 In bezug auf die zu Beginn des Kapitels 1.7 angeführten Beispielsätze ist hervorzuheben, daß Aristoteles dort noch nicht von der für ihn charakteristischen Lösung des Wechsels von Eigenschaften an einem Zugrundeliegenden ausgeht, sondern zunächst in einem sehr allgemeinen und weiten Sinne vom Werden spricht. Die Eigenschaften werden dort noch in einem dinglichen Sinne behandelt, welches Wieland wie folgt beschreibt: Aristoteles g e h t nämlich davon aus, daß wir zunächst immer von Dingen sprechen, die zu anderen Dingen werden. K e i n e s w e g s ist das Werden v o n der V o r s t e l l u n g eines beharrenden Substrates aus verstanden, an d e m verschiedene B e s t i m m u n g e n w e c h s e l n . Wir sprechen nicht v o n Substraten, an denen die eine Eigenschaft durch eine andere E i g e n s c h a f t abgelöst wird - das ist erst ein nachträgliches Abstraktionss c h e m a -, sondern e b e n v o n Dingen, die, w e n n sie sich ändern, andere D i n g e werden. (Wieland, 1 9 6 2 : 114)
Bedenkt man dies, so stellt sich der im zweiten Beispielsatz beschriebene Werdeprozeß eines Nicht-Gebildeten zu einem Gebildeten (vgl. ,,τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν": 189b35) zunächst wie das Entstehen eines Gebildeten 5 6
Vgl. auch Happ (1971: 283). In diesem Zusammenhang sei auch auf die Kritik von Dancy (1978, 385, Fn.35) an der Interpretation von Jones hingewiesen: „I do not understand what Jones makes of the structure of this chapter. On 478 he says that Aristotle »begins by considering coming-to-be in general« and in the next two sentences says »The inquiry into coming-to-be falls into two parts. The first, 189b32-190a31, concerns alteration, nonsubstantial change; the second, 190a31-bl7, substantial change, the coming into existence of substances.« Aristotle's own view is the former: »So let us first speak covering all coming-to-be; for it is according to nature, once we have first mentioned the common [features], to consider then the things peculiar to each« (189 b30-32). So the first part of the chapter, which immediately follows, is not restricted to alteration."
Eine methodologische Vorbemerkung
253
durch das Vergehen eines Nicht-Gebildeten dar. In einem analogen Sinne war ja auch in Kapitel 1.5 zunächst vom Entstehen eines Gebildeten aus einem Ungebildeten bzw. vom Vergehen eines Ungebildeten zu einem Gebildeten die Rede. Aristoteles differenziert zu Beginn des Kapitels 1.7 noch nicht explizit zwischen einer άλλοίωσις und einer γένεσις; er will zunächst nur das für ein jegliches Werden Gemeinsame herausstellen. 7 Auch wenn in den Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτερου έτερον" bereits die verschiedenen Arten der Werdeprozesse angedeutet sind, so stehen diese Formeln hier zunächst für die verschiedenen sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten eines Werdens im allgemeinsten Sinne, wie sie in den drei Beispielsätzen zum Ausdruck kommen: Wir sagen nämlich, daß eines aus einem anderen wird [γίγνεσθαι έξ ά λ λ ο υ άλλο] und ein Verschiedenes aus einem Verschiedenen [έξ ετέρου έτερον], und wir meinen damit entweder Einfaches [τά άπλά] oder Zusammengesetztes [τά συγκείμενα], Dies meine ich wie folgt: Es gibt doch [Sätze] wie »ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter« [γίγνεσθαι ανθρωπον μουσικόν]; es gibt aber auch Sätze wie »das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes« [τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν] oder »der nicht-gebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch« [τον μή μουσικόν ανθρωπον ανθρωπον μουσικόν]. (1.7, 189b32-190al)
In bezug auf die angeführten Beispielsätze fällt allerdings auf, daß sie sich in einem wesentlichen Punkte von den allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτέρου έτερον" unterscheiden. Im Gegensatz zur allgemeinen Formel „y wird aus [έξ] χ " sprechen die Beispielsätze (1) „ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter", (2) „das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes" und (3) „der nichtgebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch", die formal gesehen die allgemeine Form „x wird haben, nicht von einem „Werden aus", obgleich sie sprachlich doch auch in Gestalt dieser allgemeinen Formel ausdrückbar zu sein scheinen. Würde man nämlich die Beispielsätze mit Hilfe der allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ έτέρου ετερον" formulieren, so würden sich folgende Sätze ergeben: ( Γ ) „ein Gebildeter wird aus einem Menschen", (2') „ein Gebildetes wird aus einem Nicht-Gebildeten" und (3') „ein gebildeter Mensch wird aus einem nicht-gebildeten Menschen". Der Grund, warum Aristoteles die Beispielsätze nicht in dieser Form anführt, ist in folgendem zu sehen: Erweisen sich die Umformulierungen mit Hilfe des „Werdens aus" in bezug auf die Sätze (2) und (3) als unproblematisch, so gilt dies jedoch nicht für den Satz (1), der sich, wie Aristoteles wenig später sagen wird (vgl. 190a7-8, a23), nicht in die Form bringen läßt, daß ein Gebildeter aus einem Menschen wird. Der Grund für die Unmöglichkeit dieser Umformulierung ist darin zu sehen, daß der Satz ( Γ ) „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" den (widersinnigen) Anschein erweckt, als würde 'Mensch' bei diesem Werdeprozeß nicht bleiben, da die Präposition „aus" (έκ) nach Ansicht von Aristoteles vor allem auf etwas Nichtbleibendes (und Gegensätzliches) hindeutet. Würde man die drei Beispielsätze also mit Hilfe eines „Werdens aus" formulieren, so blieben nur die Sätze 7
Vgl. Wagner (1967: 425): „Ar. fragt vorläufig ausschließlich nach dem, was in jedem beliebigen Fall, in dem etwas zu etwas wird, an Prinzipiellem vorliegt."
254
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
(2') und (3') übrig. Da Aristoteles zu Beginn der Untersuchung jedoch so allgemein wie möglich sprechen und ein jegliches Werden behandeln will, wozu auch die Möglichkeit zählt, daß ein Mensch gebildet wird, wählt er zunächst die allgemeinere Formel „x wird / ' anstelle der Formel „y wird aus x", da erstere umfassender zu sein scheint (vgl. auch 190a5-8). Zudem stellt der Satz (1) „ein Mensch wird gebildet" eine Möglichkeit der sprachlichen Beschreibung eines Werdeprozesses dar, in der - einerseits im Gegensatz zu den Sätzen (2) und (3) und andererseits im Unterschied zu den Beschreibungen des Werdens in Kapitel 1.5 - nicht zwei Gegensätze als Relationsglieder des Werdens gegenüberstehen. Ist nun zwar einsichtig geworden, warum Aristoteles seine Beispielsätze nicht mit Hilfe des „Werdens aus" formuliert, so läßt sich jedoch umgekehrt fragen, warum er dann in bezug auf die allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου αλλο" und ,,έξ έτέρου έτερον" an dem „Werden aus" festhält. Hätte er dort zum Zwecke einer formalen Kongruenz von Beispielsätzen und allgemeiner Formel nicht besser sagen sollen „ein Anderes wird ein Anderes" und „ein Verschiedenes wird ein Verschiedenes" statt „ein Anderes wird aus einem Anderen" und „ein Verschiedenes wird aus einem Verschiedenen"? Schaut man aber genauer hin, so würde auch dies eine Einschränkung der sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten des Werdens bedeuten, da nun solch ein Beispiel wie „aus dem Erz wird eine Statue", für das gerade nicht gesagt werden kann „das Erz wird (zur) Statue" (vgl. 190a25-26), nicht mehr umfaßt wäre. Aristoteles scheint seine Formulierungen somit vor dem Hintergrund zu wählen, daß sie so umfassend wie möglich sein sollen. Er tut dies jedoch auf Kosten einer Inkongruenz zwischen der allgemeinen Formel und den konkreten Beispielsätzen.
7.2 Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
(189b34-190a21)
7.2.1 Eine sprachliche Untersuchung (189b34-190al3) Wir sagen nämlich, daß eines aus einem anderen wird [γίγνεσθαι έξ άλλου άλλο] und ein Verschiedenes aus einem Verschiedenen [έξ έτέρου έτερον], und wir meinen damit entweder Einfaches [τά άπλα] oder Zusammengesetztes [τα συγκείμενα]. Dies meine ich wie folgt: Es gibt doch [Sätze] wie »ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter« [γίγνεσθαι ανθρωπον μουσικόν]; es gibt aber auch Sätze wie »das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes« [τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν] oder »der nicht-gebildete Mensch [wird] ein gebildeter Mensch« [τόν μή μουσικόν ανθρωπον ανθρωπον μουσικόν]. Hierbei nenne ich 'einfach' auf Seiten des Werdenden [τό γιγνόμενον] 'Mensch' und 'Nicht-Gebildetes', 'einfach' auf Seiten dessen, was [es] wird [δ γίγνεται], steht „Gebildetes/r". Zusammengesetzt aber ist sowohl das, was [es] wird, wie das Werdende, wenn wir sagen »der nichtgebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch«. (1.7, 189 b32-190 a5)
Die allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου αλλο" und ,,έξ έτέρου ετερον γίγνεσθαι", bei denen entweder von 'Einfachem' (άπλα) oder aber von 'Zusammenge-
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
255
setztem' (συγκείμενα) die Rede ist, erfahren eine Konkretion durch folgende Beispielsätze: (1) (2) (3)
Ein Mensch wird ein Gebildeter/gebildet (γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν). 8 Das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes/gebildet (τό μή μουσικόν γ ί γ ν ε σ θ α ι μουσικόν). Der nichtgebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch (τον μή μουσικόν άνθρωπον [γίγνεσθαι] άνθρωπον μουσικόν). 9
Ich habe den Satz (1) „γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν" in einem möglichst offenen Sinne mit „ein Mensch wird ein Gebildeter/gebildet" übersetzt. Dies findet seinen Grund darin, daß in Analogie zu dem Satz „άνθρωπος μουσικός έστιν", der sowohl mit „ein Mensch ist ein Gebildeter" als auch mit „ein Mensch ist gebildet" übersetzt werden kann, auch der Satz „γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν" sowohl bedeuten kann (i) „ein Mensch wird ein Gebildeter" als auch (ii) „ein Mensch wird gebildet". Der Unterschied zwischen (ii) „ein Mensch wird gebildet" und (i) „ein Mensch wird ein Gebildeter" ist folgender. So wie das „Sein" entweder eine 'einfach-prädikative' („Sokrates ist gebildet") oder aber eine 'identifikativ-prädikative' („Sokrates ist ein Gebildeter") Funktion haben kann,10 so läßt sich auch in bezug auf das „Werden" von diesen beiden Funktionen sprechen und „gebildet werden" als ein einfach-prädikatives Werden, „ein Gebildeter werden" aber als ein identifikativ-prädikatives Werden bezeichnen." Aristoteles beschreibt das Werden in seinen Beispielsätzen zunächst als eine zweistellige Relation (iTx wird yu),'2 deren Glieder er als „das Werdende" (τό
9
10
"
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Die Wendung „γίγνεσθαι άνθρωπον μουσικόν" kann nicht nur durch (1) „ein Mensch wird ein Gebildeter/gebildet" sondern auch durch (Γ) „es entsteht ein gebildeter Mensch" übersetzt werden. Daß letzteres hier nicht gemeint ist, wird daraus ersichtlich, daß Aristoteles in 190al-2 den Ausdruck „Mensch" in Beispielsatz (1) zu den 'Einfachen' zählt. In der Übers. (Γ) hätten wir es demgegenüber mit einem Zusammengesetzten („gebildeter Mensch") zu tun, das entsteht. Nach Ansicht von Gill (1989: 99) haben die Beispielsätze folgende Form: „(1) [the] χ comes to be Φ; (2) [the] not Φ comes to be Φ; (3) [the] not Φχ comes to be Φχ." Hierbei steht „x" für ein Bleibendes und sowohl „not Φ" wie auch „Φ" filr entgegengesetzte Terme. Obgleich diese Formalisierung von einem späteren Standpunkt aus betrachtet zutrifft, ist mit der Differenzierung zwischen „Mensch" und „Gebildetes" durch kategorial verschiedene Symbole an dieser Stelle vielleicht bereits zuviel gesagt. Denn zunächst ist nur gemeint, daß 'Dinge' - wozu sowohl Gebildetes wie Mensch zählen - 'Dinge' werden (vgl. auch Wieland, 1962: 113). Die Prädikation bei dem identifikativ-prädikativen Gebrauch des Wortes „sein" ist dann in dem Wort „Gebildeter" enthalten, denn „ein Mensch ist ein Gebildeter" bedeutet ja „ein Mensch ist etwas, was gebildet ist". Die von mir verwendete Terminologie unterscheidet sich insofern von der von Wieland (1962: 119) verwendeten Terminologie, als dieser nicht zwischen „ein Mensch wird gebildet" und „ein Mensch wird ein Gebildeter" unterscheidet, sondern beides undifferenziert als ein „prädikatives Werden" bezeichnet, dem er ein „Werden-aus" (z.B. „aus einem Nichtgebildeten wird ein Gebildeter") gegenüberstellt. Im Unterschied dazu beschreibt Aristoteles das Werden in Met. VII.7, 1032al3-14 wie folgt: „Jedes Werdende wird aber durch etwas und aus etwas und etwas" (πάντα δέ τά γιγνόμενα ύπό τέ τίνος γίγνεται και εκ τίνος και τί). Es fällt auf, daß von demjenigen, „durch" (ύπό) das etwas wird, in Kapitel 1.7 keine Rede ist. Zwar wird in 190b5-9 gesagt, daß etwas durch Umformung (μετασχηματίσις), Hinzutun (πρόσθεσις), Fortnehmen (άφαίρεσις), Zusammensetzung (σύνθεσις) und Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) wird, doch sind dort mit dem Ausdruck „durch", das nicht durch ein „υπό", sondern mit Hilfe das Dativs ausgedrückt wird,
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
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γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν ) einerseits und als „dasjenige, was [es] wird" ( δ γ ί γ ν ε τ α ι ) 1 3 andererseits bezeichnet; hierbei steht „das Werdende" für das „x" und „dasjenige, was [es] wird" flir das „y". Zu den 'Einfachen' ( ά π λ α ) auf Seiten des γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν zählt Aristoteles „Mensch" und „das Nicht-Gebildete", zu den 'Einfachen' auf Seiten des δ γ ί γ ν ε τ α ι zählt er „das Gebildete". Ein 'Zusammengesetztes' ( σ υ γ κ ε ί μ ε ν α ) ist aber sowohl „der nichtgebildete Mensch" auf Seiten des γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν w i e auch „der gebildete Mensch" auf Seiten des δ γ ί γ ν ε τ α ι . Abb. 7.1: Die Einfachen jenige, was [es] wird. Einfaches (άπλα) Zusammengesetztes (συγκείμενα)
und Zusammengesetzten
in bezug auf das Werdende und das-
Werdendes (γιγνόμενον) der Mensch (ό άνθρωπος) das Nicht-Gebildete (τό μή μουσικόν) der nicht-gebildete Mensch (ό μή μουσικός άνθρωπος)
W a s [es] wird (δ γ ί γ ν ε τ α ι ) das Gebildete (τό μουσικόν)
der gebildete Mensch (ό μουσικός άνθρωπος)
Die drei Beispielsätze, die offenkundig denselben Sachverhalt des Werdens eines nichtgebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen beschreiben, machen deutlich, daß ein und derselbe Werdeprozeß auf verschiedene W e i s e beschrieben werden kann. Erweist sich der Satz ( 3 ) hierbei als die vollständigste Beschreibung, so scheinen die Sätze (1) und ( 2 ) den Werdeprozeß in einer verkürzten Form zu beschreiben, wobei sie j e w e i l s unterschiedliche Aspekte dieses Werdeprozesses betonen. Wir haben bereits gesehen, daß Aristoteles zu Beginn seiner Untersuchung bemüht ist, möglichst allgemeine Formulierungen zu verwenden, um nicht durch eine zu enge Begrenzung mögliche Beschreibungen von Werdeprozessen ausschließen. 1 4 D i e s e s Bemühen um Allgemeinheit kommt vermutlich auch darin anders als in Met. VII.7 nicht die Bewegungsursachen (causa efficiens), sondern vielmehr die Prozesse gemeint, durch die etwas wird. Der Ausdruck ,,δ γίγνεται" ist mehrdeutig und kann sowohl (a) „was es [das γιγνόμενον] wird" als auch (b) „was wird" bedeuten. Nehmen wir den Beispielsatz (3), so ist im Sinne von (a) 'der nichtgebildete Mensch' das Werdende und 'der gebildete Mensch' dasjenige, was der nichtgebildete Mensch wird. Im Sinne von (b) ist jedoch sowohl 'der nichtgebildete Mensch' als auch 'der gebildete Mensch' als Subjekt, von dem ein Werden ausgesagt wird, ein Werdendes: Denn der nichtgebildete Mensch wird etwas (ein gebildeter Mensch), und der gebildete Mensch wird aus etwas (aus einem nichtgebildeten Menschen). In 190b 12 bezeichnet Aristoteles die beiden Relationsglieder eindeutiger als „τι γιγνόμενον" (etwas Werdendes) und als „τι δ τοΰτο γίγνεται" (etwas, was dieses wird). Die überwiegende Zahl der Interpreten versteht das ,,δ γίγνεται" in 190a2-5 im Sinne von (a) „was es wird" (vgl. Apostle (1969: 19), Prantl (1854: 39), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 491) und Wagner (1967: 23)). Charlton (1970: 15), der den Ausdruck ,,τό γιγνόμενον" mit „coming-to-be things" und den Ausdruck ,,δ γίγνεται" mit „thing, which comes to be" übersetzt, bewahrt in seiner Übersetzung die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ,,δ γίγνεται". Vgl. in diesem Zusammenhang auch Guzzoni (1975: 48, Fn.28), die daraufhinweist, daß Aristoteles sowohl dasjenige, was zu etwas wird, wie auch dasjenige, wozu jenes wird, als ,,τό γιγνόμενον" bezeichnet (1.7, 190a2; aI5; a34; b4; b9; b l l ; >4
bl2) · Gleichwohl fehlen bei den Beispielsätzen, wie auch Wagner (1967: 425 f.) hervorgehoben hat, die Beschreibungsmöglichkeiten „ein nicht-gebildeter Mensch wird gebildet", „ein Mensch wird ein gebildeter Mensch" und „ein Nicht-Gebildetes wird ein gebildeter Mensch".
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
257
zum Ausdruck, daß Aristoteles in den Beispielsätzen noch nicht vom konträren Gegensatz „ungebildet" (αμουσον) spricht, der uns erst in 190a 12 begegnen wird, sondern zunächst noch den umfassenderen kontradiktorischen Gegensatz „nicht-gebildet" (μή μουσικόν) wählt. Gleichwohl ist davon auszugehen, daß Aristoteles der Unterschied zwischen dem konträren und kontradiktorischen Gegensatz bewußt ist, hatte er doch in Kapitel 1.5 gesagt, daß 'μουσικόν' zwar aus 'μή μουσικόν' wird, jedoch nicht aus jedem 'μή μουσικόν', sondern nur aus ,,άμουσον" oder aus einem Mittleren, wenn es das gibt. Daß sich Aristoteles in Kapitel 1.7 dennoch zunächst fiir den kontradiktorischen Gegensatz 'μή μουσικόν' entscheidet, deutet bereits auf eine gewisse Distanzierung zu dem in Kapitel 1.5 Dargelegten hin. Aristoteles will zu Beginn der Darlegung seiner eigenen Theorie in Kapitel 1.7 selbst nicht davon ausgehen, daß jegliches Werden zwischen konträren Gegensätzen stattfindet, da dies vielleicht eine Einschränkung der Beschreibung von Werdeprozessen bedeuten könnte. So beschreibt ja z.B. der Beispielsatz (1) einen Werdeprozeß, dessen Relationsglieder ('Mensch' und 'Gebildeter') eben keinen konträren Gegensatz darstellen. Es steht hier aber wohl vor allem der Gedanke im Hintergrund, daß wir es bei dem Entstehen einer ουσία („eine Statue wird aus Erz") im Unterschied zu einer άλλοίωσις gerade nicht mit konträren Gegensätzen zu tun haben, da die ούσίαι ja einander nicht konträr entgegengesetzt sind (vgl. 1.6, 189a32-33). Damit ein Gebildetes wird, reicht es zunächst aus, ein nicht weiter spezifiziertes Nicht-Gebildetes anzunehmen, aus dem es wird. Das Bemühen um Allgemeinheit kommt auch darin zum Ausdruck, daß es im Beispielsatz (2) nicht heißt „der Nichtgebildete wird ein Gebildeter", sondern vielmehr „das Nichtgebildete wird ein Gebildetes" (vgl. ,,έστι δέ τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν": 189b35). Wieland, der den Satz (2) mit „ein Nichtgebildeter wird ein Gebildeter" (1962: 119) übersetzt, hält diesen Unterschied für bedeutungslos: Im Beispiel: es gibt kein Gebildetes »an sich«, sondern immer nur Menschen, die gebildet sind. Daher ist es auch nicht von Bedeutung, daß Aristoteles vom »Nichtgebildeten« bald in der maskulinen (z.B. 190 a 28), bald in der neutralen (z.B. 189 b35) Form spricht. (Wieland, 1962: 126, Fn.16)
Zwar gibt es sicherlich kein Gebildetes an sich, sondern nur Menschen, die gebildet sind, doch scheint die Tatsache, daß Aristoteles hier von ,,τό μή μουσικόν" in der neutralen Form spricht, darauf hinzudeuten, daß Aristoteles die Sätze (1) und (2) zunächst als voneinander unabhängige Beschreibungen verstanden wissen will, bei denen der Ausdruck ,,τό μή μουσικόν" sprachlich noch nicht auf „άνθρωπος" referiert. Mit anderen Worten: So wenig in bezug auf den Menschen in Satz (1) vorausgesetzt ist, daß er ein Ungebildeter ist (allenfalls ist vorausgesetzt, daß er ein Nicht-Gebildeter ist), so wenig ist in bezug auf das NichtGebildete in Satz (2) vorausgesetzt, daß es ein Mensch ist. Erst in Satz (3) werden beide Bestimmungen in Gestalt des 'nichtgebildeten Menschen' miteinander verknüpft.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Angesichts der Tatsache, daß es in Physik Α um Natur gehen soll, erweist sich das Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen als Beispiel für einen natürlichen Werdeprozeß insofern zunächst als ungewöhnlich, als ein Mensch doch eher durch Erziehung als durch Natur oder von Natur aus gebildet wird. Andererseits ist jedoch zu bedenken, daß auch der Mensch zu den Naturdingen (φύσει δντα) zählt, so daß die an ihm stattfindenden Prozesse gewiß als natürliche Prozesse anzusehen sind. Ob aber das 'Gebildetwerden' generell zu den natürlichen Prozessen zählt, auch wenn es wohl zur Natur des Menschen gehört, gebildet werden zu können, scheint zumindest fraglich zu sein. Auf jeden Fall würden wir wohl eher an das Werden eines Warmen aus einem Kalten oder an das Werden eines Dichten aus einem Dünnen als an das Werden eines Gebildeten aus einem Nicht-Gebildeten denken, wenn wir nach Beispielen für ein Werden in der Natur gefragt würden. Die Gründe, warum sich Aristoteles ausgerechnet für dieses Beispiel zur Veranschaulichung eines natürlichen Werdeprozesses entscheidet, liegen vermutlich in folgendem: Abgesehen davon, daß durch das Beispiel eines 'gebildeten Menschen' die Hörer der Vorlesung als gebildete Menschen angesprochen und miteinbezogen werden, und abgesehen davon, daß in dem Beispiel vom nichtgebildeten Menschen, der ein gebildeter Mensch wird, bereits eine Finalität und Zielgerichtetheit zum Ausdruck kommt, die für die Werdeprozesse in der Natur, wie Aristoteles sie versteht, charakteristisch ist,15 stellt ,,τό μουσικόν" - analog zu ,,τό σιμόν" in Kapitel 1.3 - ein Akzidens dar, in dem der λόγος dessen, dem es zutrifft (nämlich der λόγος des 'Menschen'), bereits enthalten ist.16 Derartige Ausdrücke wie z.B. ,,τό σιμόν", die auch als 'materiegebundene Begriffe' (λόγοι ένυλοι) bezeichnet werden (vgl. Happ, 1971: 572 f.), stellen für Aristoteles das Paradigma einer 'naturwissenschaftlichen Sprache' dar (vgl. Phys. II.2, 193b35-194a7), da in ihnen immer schon der Bezug auf einen zugrundeliegenden Stoff enthalten ist. Das Gegensatzpaar 'μουσικόν - αμουσον' stellt nun ein ,,συμβεβηκός καθ' αυτό" des Menschen dar, da es dem Menschen eigentümlich (ϊδιον) ist, gebildet oder ungebildet sein zu können.17 Dieser Aspekt ist hier aus folgendem Grunde zu betonen: Waren in Kapitel 1.5 noch allein die (konträren) Gegensätze für die Nichtbeliebigkeit des Werdens verantwortlich, so werden wir im weiteren Verlauf der Untersuchung sehen, daß auch die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden eine entscheidende Rolle für die Nichtbeliebigkeit des Werdens spielen wird. Eine Statue kann zwar aus unterschiedlichen, nicht jedoch aus beliebigen Materialien gefertigt werden. Der Zusammenhang zwischen der Bestimmtheit des Zugrundeliegenden und der Form, die dem Zugrundeliegenden zukommt, wird 15
16 1
So sprach Aristoteles in Kapitel 1.5 zwar nicht nur vom „Werden eines Gebildeten aus einem Ungebildeten", sondern er erwähnte auch die Möglichkeit des umgekehrten Prozesses, doch sprach er dabei bezeichnenderweise nicht mehr vom „Werden" eines Ungebildeten aus einem Gebildeten, sondern vielmehr vom „ Vergehen" des Gebildeten zum Ungebildeten. Vgl. dazu auch Simplicius ( 2 1 7 , 2 8 ff.) und Wieland (1962: 126, Fn. 16). Vgl. auch Wagner (1967: 422): „'Gebildet' ist eine nicht-notwendige zusätzliche Bestimmtheit besonderer Art (anders als 'weiß'): sie kann nur dem Mensch zukommen; so ist zwar nicht es selbst, wohl aber das Gegensatzpaar μουσικός - α μ ο υ σ ο ς ein συμβεβηκός καθ' αύτό des Menschen."
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
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beim gebildeten Menschen daran deutlich, daß nur dem Menschen die Form der Bildung zukommen kann.18 Nun ist der Beispielsatz (2) ,,εστι δέ τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" innerhalb der Sekundärliteratur aufgrund der Zweideutigkeit solcher Ausdrücke wie ,,τό μουσικόν", der einerseits dasjenige, was gebildet ist ('das Gebildete'), und andererseits die Eigenschaft der Bildung bezeichnen kann, keineswegs einheitlich verstanden worden. So lautet die Übersetzung der drei Beispielsätze bei Wicksteed und Cornford (1980: 71-73) wie folgt: Note, then, that in speaking of one thing becoming another, or one thing coming out of, or in the place of, another, we may use either (1) simple or (2) complex terms. I mean that we can say either (1) that a 'man' becomes cultured, or that the 'uncultured' in him is replaced by culture, or (2) that the 'uncultured mein' becomes a 'cultivated man.' In this case (1) the 'man' (who acquires culture), and his state of 'unculture' (which is replaced by culture) and the 'culture' itself (which was not; but has 'come to be') are all what I call 'simple' terms; [...].
Wicksteed und Cornford verstehen den Beispielsatz (2) ,,εστι δέ τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" in dem Sinne, daß die Unbildung („the 'uncultured' in him" bzw. „his state of 'unculture'") durch die Bildung („culture") ersetzt wird. Geht man jedoch davon aus, daß der Ausdruck „μουσικόν" in den beiden Beispielsätzen (1) und (2) dasselbe besagen soll, so führt die Interpretation von Wicksteed/Cornford in die Schwierigkeit, daß dann der Satz (1), sofem auch dort „μουσικόν" fur den „Zustand der Bildung" stünde, besagen würde, daß 'ein Mensch zur bzw. die Bildung wird', was jedoch widersinnig ist. Eine weitere Schwierigkeit, die mit der von Wicksteed/Cornford vorgeschlagenen Interpretation verbunden ist, besteht darin, daß sie eine unterschiedliche Bedeutung des Wortes „werden" (γίγνεσθαι) in den Beispielsätzen impliziert. Denn das „Werden" der Unbildung zur Bildung kann Aristoteles zufolge ja nur in dem Sinne verstanden werden, daß die beiden Eigenschaften an einem Zugrundeliegenden wechseln bzw. einander ersetzen (in diesem Sinne sagen Wicksteed/Cornford ja auch zu Recht: „the 'uncultured' in him is replaced by culture"), nicht aber kann dieses „Werden" in dem Sinne verstanden werden, daß die Bildung - analog zum Menschen, der ein Gebildeter wird - selbst das Subjekt dieses Werdeprozesses ist. Denn die Eigenschaften unterliegen Aristoteles zufolge ja keiner Veränderung: Nicht die Wärme wird zur Kälte, sondern ein Warmes wird zu einem Kalten. Da Aristoteles jedoch in 190al-3 'τό μή μουσικόν' als ein „Werdendes" (γιγνόμενον) bezeichnet, ist wohl kaum davon auszugehen, daß er hier an den Zustand der Nichtbildung denkt. Charlton (1970: 70 f.) weist in diesem Zusammenhang auf folgendes hin: Obgleich die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden vor allem für die Nichtbeliebigkeit beim substantiellen Werden der ούσίαι verantwortlich sein wird, da diese keine konträren Gegensätze haben, die für die Nichtbeliebigkeit verantwortlich sein könnten, scheint Aristoteles die konstitutive Funktion der Bestimmtheit des Zugrundeliegenden in bezug auf die Nichtbeliebigkeit des Werdens mit dem Beispiel vom 'gebildeten Menschen' in einem gewissen Sinne auch auf die Nichtbeliebigkeit bei der Eigenschaftsveränderung zu übertragen, obgleich bei ihr ja konträre Gegensätze vorhanden sein können.
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Nevertheless, translators and commentators seem agreed that the factors distinguished when a man leams music are not the man, ignorance of music, and knowledge of music, but the man, the thing which is ignorant of music, and a thing which knows music. If Bekker's reading in 189b35 to me mousikon ti is right [...], Aristotle says this unambiguously. Even if it is wrong, this is still the most natural way of understanding his words, and is confirmed by mousikos instead of mousikon in 190 a7. Mit dem zuletzt genannten Argument - „and is confirmed by mousikos instead of mousikon in 190a7" - meint Charlton offenkundig, daß sich Aristoteles in 190a58 auf die Beispielsätze zurückbezieht, so daß der Satz a6-7 ,,έκ μή μουσικού μουσικός", der aufgrund der maskulinen Form „μουσικός" in dem Sinne zu verstehen ist, daß ein Gebildeter aus einem Nichtgebildeten wird, dafür spricht, daß auch in den Beispielsätzen eher von einem „Gebildeten" als von einer „Bildung" die Rede ist. Auch wenn der Interpretation von Charlton im wesentlichen zuzustimmen ist, drängt sich dennoch die Frage auf, warum Aristoteles - anders als in 190a6-7 - in 189b35 von ,,μουσικόν" in der neutralen Form - und nicht ebenfalls von „μουσικός" in der maskulinen Form - spricht. Der Grund für diese Abweichung ist bereits angedeutet worden: Gegenüber dem Beispielsatz (3), der eine vollständige Beschreibung des Werdeprozesses darstellt, blenden die Beispielsätze (1) und (2) jeweils ein bestimmtes Moment bei diesem Werdeprozeß aus: Der Beispielsatz (1) blendet letztlich aus, woraus ein Gebildeter wird (denn er wird ja nicht aus einem Menschen), und der Beispielsatz (2) blendet aus, was (als Bleibendes) ein Gebildetes wird (denn nicht das Nicht-Gebildete wird (als Bleibendes) ein Gebildetes). Wird in dem Beispielsatz (1) das 'μή μουσικόν' ausgeblendet, so wird in dem Beispielsatz (2) 'άνθρωπος' ausgeblendet. Diese Ausblendung von 'άνθρωπος' in Satz (2) liegt jedoch erst dann auf vollständige Weise vor, wenn ,,τό μή μουσικόν" in der neutralen Form angeführt wird, da die maskuline Form noch einen Bezug auf'άνθρωπος' implizieren würde.
7.2.2 Die 'Einfachen' (τά άπλά) und 'Zusammengesetzten' (τά συγκείμενα) Die beiden in den Kapiteln 1.5 und 1.7 vorgenommenen Klassifizierungen der Relationsglieder eines Werdeprozesses in 'Einfache' (άπλά) und 'Zusammengesetzte' (σύνθετα bzw. συγκείμενα) unterscheiden sich, wie in Kapitel 5.4.3.2 herausgestellt wurde, in dem Sinne voneinander, daß wir es in Kapitel 1.5 mit einer materiellen Diairesis zu tun haben, bei der die Werdenden anhand des Kriteriums der materiellen Einfachheit oder Zusammengesetztheit in 'Einfache' (άπλα) und 'Zusammengesetzte' (σύνθετα) eingeteilt wurden, während wir es in Kapitel 1.7 mit einer logisch-kategorialen Diairesis zu tun haben, bei der die Relationsglieder eines Werdeprozesses zunächst anhand des Kriteriums der sprachlichen Einfachheit oder Zusammengesetztheit in 'Einfache' (άπλα) und 'Zusammengesetzte (συγκείμενα) eingeteilt werden.19 So werden die 'Zusam19
Vgl. auch Wieland (1962: 113): „Allein die sprachliche Form bestimmt, was als einfach zu gelten hat."
D a s Beispiel v o m 'gebildeten M e n s c h e n '
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mengesetzten' in Kapitel 1.7 auch nicht als „σύνθετα", sondern als „συγκείμενα" bezeichnet. Sprachlich komplexe Ausdrücke wie „μουσικός άνθρωπος" und ,,μή μουσικός άνθρωπος" zählen zu den συγκείμενα; sprachlich einfache Ausdrücke - aus denen sich die συγκείμενα zusammensetzen - wie „άνθρωπος", ,,μουσικόν" und ,,μή μουσικόν" zählen zu den άπλα. 20 Obgleich der Ausdruck ,,μή μουσικόν" aus zwei Worteinheiten besteht, wird er von Aristoteles ebenfalls als sprachlich einfach betrachtet. Auch wenn es zunächst so scheint, als ob die Einteilung allein auf einem sprachlichen Kriterium basiert, so liegt ihr bei genauerem Hinsehen doch zugleich ein logisch-kategoriales Einteilungskriterium zugrunde, da wir auf Seiten der συγκείμενα 'Dingen' begegnen, die Zusammensetzungen aus verschiedenen Kategorien darstellen (z.B. 'μουσικός άνθρωπος' als aus ουσία und ποιόν zusammengesetzt), während wir auf Seiten der άπλα 'Dingen' begegnen, die jeweils für sich nur eine einzige Kategorie vertreten (z.B. 'άνθρωπος' als ουσία; 'μουσικόν' als ποιόν).21
7.2.3 „Etwas wird etwas" und „aus etwas wird etwas" (190a5-13) V o n diesen [ τ ο ύ τ ω ν ] aber wird in d e m einen Falle nicht nur gesagt »dies wird es« [τόδε γ ί γ ν ε σ θ α ι ] , sondern auch »aus d i e s e m [wird es]« [έκ τ ο ϋ δ ε ] , w i e z.B. »aus einem N i c h t g e b i l d e t e n ein Gebildeter« [ έ κ μ ή μ ο υ σ ι κ ο ϋ μ ο υ σ ι κ ό ς ] ; das aber wird nicht bei allen s o gesagt: D e n n ein Gebildeter ist nicht aus e i n e m M e n s c h e n g e w o r den, sondern der M e n s c h ist ein Gebildeter/gebildet g e w o r d e n [οΰ γ α ρ ε ξ α ν θ ρ ώ π ο υ έ γ έ ν ε τ ο μ ο υ σ ι κ ό ς , ά λ λ ' ά ν θ ρ ω π ο ς έ γ έ ν ε τ ο μ ο υ σ ι κ ό ς ] , (1.7, 1 9 0 a 5 - 8 )
Aristoteles kommt nun explizit auf den Unterschied der Ausdrucksformen (i) „etwas wird etwas" (τόδε γίγνεσθαι) - diese findet sich bei den Beispielsätzen (189b34-190al) - und (ii) „aus etwas wird etwas" (έκ τοΰδε) - diese findet sich bei den allgemeinen Formeln ,,έξ άλλου άλλο" und ,,έξ ετέρου έτερον" (189 b32-33) - zu sprechen, wobei sich die Ausdrucksform (i) gegenüber der Ausdrucksform (ii) zunächst überraschenderweise insofern als umfassender erweist, als die Ausdrucksform (ii) nicht bei allen gesagt wird (vgl. ,,ού λέγεται έπί πάντων": a7):22 „Denn ein Gebildeter ist nicht aus einem Menschen geworden, sondern der Mensch ist ein Gebildeter/gebildet geworden [ού γαρ έξ άνθρωπου
21
Vgl. McMullin (1963: 188): „He [Aristoteles] begins with a distinction between »simple things« ('musical', 'man') and »complex things« ('musical man'). The distinction is quite clearly between predicates not between things, and between expressed predicates, not just possessed ones (e.g. 'rational animal' will be complex, though 'man' is simple). [. . .] All of these actually describe the same change." Vgl. auch Gill (1989: 99). Dies ist insofern überraschend, als man eigentlich umgekehrt erwarten würde, daß die 'allgemeine Formel' auch die 'umfassendere' sei. In 190a25-26 werden wir jedoch sehen, daß auch die Formel „etwas wird etwas" nicht bei allen gesagt werden kann; so läßt sich Aristoteles zufolge z.B. nicht sagen „das Erz wird Statue". Vgl. in diesem Zusammenhang auch Fritsche (1986: 285, Fn. 143): „Innerhalb der Analyse des prädikativen Werdens (»Etwas wird etwas«) war die Form Werden-aus (»Aus etwas wird etwas«) als eine Untergruppe eingeführt worden. Einige, aber nicht alle Aussagen des Typs prädikatives Werden lassen sich in Aussagen des Typs Werden-aus umformulieren: [...]."
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έγένετο μουσικός, άλλ' άνθρωπος έγένετο μουσικός: 190a7-8]." Im Gegensatz zu den Beispielsätzen (2) und (3) läßt sich der Beispielsatz (1) nicht in „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" umformulieren; man kann nur sagen „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten". Der Grund für die Unmöglichkeit dieser Umformulierung ist darin zu sehen, daß nach Ansicht von Aristoteles die Umformulierung „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" auf die widersinnige Konsequenz hindeuten würde, daß der Gebildete, der aus einem Menschen wird, selbst kein Mensch mehr wäre. Diese hier mit dem „Werden aus" implizierte Bedeutung, der zufolge sich die Präposition 'aus' vor allem auf ein Nichtbleibendes bezieht, wird von Aristoteles an späterer Stelle in 190a21-23 expliziert:23 Der Ausdruck »etwas wird aus etwas« [εκ τίνος γίγνεσθαι τι], und nicht »etwas wird ein solches« [τόδε γίγνεσθαι τι], wird mehr bei den Nichtbleibenden [έπϊ των μή υπομενόντων] gesagt, wie z.B. »aus einem Ungebildeten wird ein Gebildeter« [έξ άμούσου μουσικόν γίγνεσθαι], nicht aber »aus einem Menschen« [έξ άνθρωπου δέ οϋ], (1.7, 190a21-23) Aristoteles ist offenkundig der Ansicht, daß die Präposition „aus" in der Formel „y wird aus x" vor allem auf ein Nichtbleibendes innerhalb des Werdeprozesses hindeutet. In Met. II.2, 994a22-bl spricht Aristoteles von einer doppelten Bedeutung des „Werdens aus": In zweifachem Sinne nämlich sagt man, daß 'das' aus 'dem' wird [γίγνεται τόδε έκ τοϋδε] (außer dort, wo 'aus dem' soviel bedeutet wie 'nach dem' [μετά], z.B. 'aus den Isthmischen Spielen die Olympischen Spiele): Entweder, wie aus dem Knaben, indem er sich verändert [μεταβάλλοντος], ein Mann wird oder, wie aus Wasser Luft wird. Sagen wir, daß aus einem Knaben ein Mann wird, so ist gemeint, daß aus dem Werdenden das Gewordene [έκ τοΰ γιγνομένου τό γεγονός] oder aus dem SichVollendenden das Vollendete [έκ τοΰ έπιτελουμένου τό τετελεσμένον] wird. So wie das Werden [γένεσις] ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein ist, so ist auch das Werdende [τό γιγνόμενον] ein Mittleres zwischen Seiendem und Nichtseiendem. Der Lernende ist nämlich ein werdender Gelehrter, und das ist gemeint, wenn wir sagen, daß aus dem Lernenden ein Gelehrter werde. Wie aber aus der Luft Wasser [wird], damit meinen wir das Werden durch den Untergang des anderen. Deshalb kehren jene Dinge nicht zueinander zurück, und es wird nicht aus einem Mann ein Knabe, denn nicht aus dem Werden wird dort das Werdende, sondern nach dem Werden. Weder in dem einen noch in dem anderen Sinne kann jedoch ein Gebildeter aus einem Menschen werden. Denn würde er wie „Luft aus Wasser", so wäre der Gebildete in keiner Weise ein Mensch - vielmehr würde dort, wo vorher Mensch war, nun Gebildeter sein -; würde er aber wie „Mann aus Knabe", so wäre zwar noch etwas vom Menschen, aus dem der Gebildete wird, im Gebildeten vorhanden, doch wäre es nicht mehr als Wesen 'Mensch' enthalten, da ja auch der 23
Zur Bedeutung des „Werdens aus" als „Werden aus einem Nicht-Bleibenden" vgl. auch Kapitel 1.5, wo vom Werden eines Weißen aus einem Schwarzen die Rede war, bei dem das Schwarze nicht bleibt, sondern untergeht. Dieses Nichtbleiben wurde insbesondere daran deutlich, daß der Prozeß des Werdens eines Weißen aus einem Schwarzen auch als Vergehen eines Schwarzen zu einem Weißen beschrieben werden kann.
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Knabe im Mann nicht mehr als ο υ σ ί α enthalten ist. Der Mensch hätte sich vielmehr im Sinne einer Fortentwicklung von einem Menschen zu einem Gebildeten gewandelt, was jedoch widersinnig ist.
7.2.4 Die Mehrdeutigkeit des Satzes ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190 a6-7) Ebenso wie der Beispielsatz (2) (189b35) ist auch der Satz ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190a6-7), den ich in Entsprechung zu 189b35 mit „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" übersetze, mitunter in dem Sinne verstanden worden, daß hier ebenfalls von den Eigenschaften 'Bildung' und 'Nicht-Bildung' gesprochen wird. Irwin verweist in diesem Zusammenhang auf zwei Übersetzungsmöglichkeiten: In 190a6-7 we might translate ek me mousikou mousikos by 'musical comes to be from not musical', with mousikos as subject and (the understood) gignetai taken absolutely. (So Charlton [1970], Ross [1936], 492, implies this view, but does not imply it in his summary, 345. The OT [Oxford Translation] is ambiguous.) The absolute use, however, is explicitly introduced only at 190a31-3, and 190a6, tode gignesthai (after the example in a4-5), suggests that qualified becoming is at issue. We therefore have good reason to take gignetai predicatively, as 'from being unmusical becomes musical'. (So ROT [Revised Oxford Translation]. This explains the masculine mousikos.) The same translation works in the rest of the discussion up to a31-3. (Irwin, 1988: 515, Fn.24)
Wenn Irwin die Übersetzungsmöglichkeiten des Satzes ,,έκ μή μουσικού μουσικός" in den Alternativen „musical comes to be from not musical" und „from being unmusical becomes musical" sieht, wobei der Satz „musical comes to be from not musical" im Deutschen wohl am angemessensten mit „gebildet wird aus nicht-gebildet" wiederzugeben ist,24 so scheint Irwin offenkundig die von mir vertretene und auch bei anderen Interpreten zu findende Übersetzungsmöglichkeit „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" 25 zu übersehen, bei der j a ebenfalls die maskuline Form „μουσικός" Berücksichtigung findet. In genau diesem Sinne - „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" - war bereits in Kapitel 1.5 vom Werden eines Gebildeten aus einem Ungebildeten und vom Werden eines Weißen aus einem Schwarzen die Rede. Irwin begründet seinen Übersetzungsvorschlag, dem zufolge in 190a6-7 von einem 'qualifizierten Werden' (qualified becoming) die Rede sein muß, damit, daß die Rede vom ,,τόδε γίγνεσθαι" (a6), die sich nach dem Beispiel des Werdens eines nicht-gebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen findet, eher auf ein 'qualifiziertes Werden' hindeutet, und daß das Werden in einem absoluten Sinne erst in 190a31-3 explizit eingeführt wird. Demgegenüber ist aber darauf
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Irwin verweist in bezug auf diese Übersetzungsmöglichkeit auf Charltons (1970: 15) Übersetzung des Satzes ,,έκ μή μουσικοΰ μουσικός" durch „knowing music comes to be out of not knowing music". Vgl. Prantl (1854: 39), Wagner (1967: 23), Gohlke (1956: 49), Apostle (1969: 19), Matthews (1982: 225) und Code (1976 a: 189).
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hinzuweisen, daß sich das ,,τόδε γίγνεσθαι" (a6) nicht nur auf das unmittelbar vorhergehende Beispiel des Werdens eines nicht-gebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen bezieht. Der Kontext macht vielmehr deutlich, daß das ,,τόδε γ ί γ ν ε σ θ α ι " (a6) auf alle drei Beispielsätze in 189b34-190 al zu beziehen ist. Wenn Aristoteles nämlich sagt „Von diesen [τούτων] aber wird in dem einen Falle nicht nur gesagt »dies wird es« [τόδε γίγνεσθαι], sondern auch »aus diesem [wird es]« [έκ τούδε], wie z.B. »aus einem Nichtgebildeten ein Gebildeter« [έκ μή μουσικού μουσικός]; das aber wird nicht bei allen so gesagt" (a5-7), so ist offensichtlich gemeint, daß zwar in allen drei Beispielsätzen ein „dies wird es" (τόδε γίγνεσθαι) von einem Relationsglied gesagt wurde - (1) „ein Mensch wird gebildet/ein Gebildeter"; (2) das „Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes"; (3) „der nicht-gebildete Mensch wird ein gebildeter Mensch" -, daß aber in einigen Fällen von einem Relationsglied nicht nur gesagt werden kann „dies wird es" (τόδε γ ί γ ν ε σ θ α ι ) - „das Nicht-Gebildete wird ein Gebildetes" -, sondern daß auch gesagt werden kann „aus diesem wird es" (έκ τοΰδε) - „aus einem NichtGebildeten wird ein Gebildeter". Dies aber wird nicht bei allen so gesagt, da vom 'Menschen' in diesem Zusammenhang nur gesagt werden kann „der Mensch wird ein Gebildeter", nicht aber „aus dem Menschen wird ein Gebildeter". Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Aristoteles zu Beginn des Kapitels 1.7 noch nicht explizit zwischen einem absoluten und relativen Werden unterscheidet; diese Unterscheidung findet sich erst in 190a31 ff. Aristoteles will zu Beginn vielmehr das 'gesamte Werden' behandeln. Wenn Irwin also meint, vom absoluten Werden sei erst in 190a31 -3 die Rede, so ließe sich umgekehrt auch darauf hinweisen, daß ebenfalls vom qualifizierten Werden im eigentlichen Sinne erst in 190a31-3 die Rede ist. Für die Übersetzung „ein Gebildeter wird aus einem Nicht-Gebildeten" spricht auch der Umstand, daß sich der Satz ,,έκ μή μουσικού μουσικός" offenkundig auf den Beispielsatz (2) bezieht, dessen Umformulierung er darstellen soll. Ist der Beispielsatz (2) jedoch in dem Sinne zu verstehen, daß „das NichtGebildete ein Gebildetes wird", so kann die Umformulierung nur lauten, daß „ein Gebildetes aus einem Nicht-Gebildeten wird". 26 Der Beispielsatz (2) ,,τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" (189b35) und dessen Umformulierung ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190a6-7) weichen allerdings in dem Punkte voneinander ab, daß in 189b35 von „μουσικόν" in der neutralen Form, in 190a6-7 hingegen von „μουσικός" in der maskulinen Form die Rede ist. Die maskuline Form in 190a6-7 findet ihren Grund vermutlich in dem Umstand, daß der Satz ,,έκ μή μουσικού μουσικός" (190a6-7) der unmöglichen Behauptung ,,έξ άνθρωπου μουσικός" (190a7-8) gegenübergestellt wird, so daß in 190a6-7 aufgrund einer grammatischen Kongruenz das Maskulinum „μουσικός" steht. In der maskulinen Form „μουσικός" deutet sich zudem bereits folgendes an: Ebenso wie das 26
So versteht auch Charlton (1970: 71) die maskuline Form „μουσικός" in 190a7 als Bestätigung dafür, daß hier nicht 'die Bildung', sondern vielmehr 'das Ding, das gebildet ist', gemeint ist. Vor diesem Hintergrund verwundert es, daß Charlton in seiner Ubersetzung (S. 15) das ,,έκ μή μουσικοΰ μουσικός" dann doch mit „knowing music comes to be out of not knowing music" übersetzt.
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Zugrundeliegende „άνθρωπος" durch „μουσικός" eine (formale) Bestimmung erhält, bestimmt auch das Zugrundeliegende „άνθρωπος" umgekehrt in einem gewissen - allerdings nur grammatischen - Sinne das „μουσικός". Denn in bezug auf „άνθρωπος" kann ja nicht von „μουσικόv", sondern nur von „μουσικός" gesprochen werden. Wenn also bereits in der Sprache deutlich wird, daß auch das ύποκείμενον (d.h. in diesem Falle 'άνθρωπος') in einem grammatischen Sinne dasjenige (d.h. in diesem Falle 'τό μουσικόν') bestimmt, wodurch es selbst in einem formalen Sinne bestimmt wird, so kann man dies bereits als ein Zeichen dafür betrachten, daß die Gegensätze nicht unabhängig von dem ύποκείμενον, an dem sie vorkommen, betrachtet werden können.
7.2.5 Die Einführung des 'Bleibenden' (ύπομένον: 190a9-13) Von den Werdenden aber [των δέ γιγνομένων], die, wie wir sagen, als Einfache [τα ά π λ α ] werden, werden die einen als Bleibende [ύπομένον], die anderen aber als Nicht-Bleibende [ούχ ύπομένον]. Der Mensch nämlich bleibt, wenn er ein Gebildeter wird, ein Mensch und ist es [ό μ ε ν γαρ άνθρωπος υπομένει μουσικός γιγνόμενος άνθρωπος καΐ έστι]; das Nichtgebildete [τό μή μουσικόν] aber und das Ungebildete [τό ά μ ο υ σ ο ν ] bleibt weder als Einfaches [άπλώς] noch als Zusammengesetztes [συντεθειμένον], (1.7, 190a9-13) 27
Wenn Aristoteles in diesem Abschnitt, wo immer noch vom Beispiel des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem nichtgebildeten Menschen die Rede ist, sagt, daß von den einfachen Werdenden - zu denen er in 190a 1-2 „Mensch" und „Nicht-Gebildetes" gezählt hat - die einen ('Mensch') als Bleibende und die anderen ('Nicht-Gebildetes') als Nichtbleibende werden, so bedeutet dies, daß es dem Begriff nach verschiedene Subjekte ein und desselben Werdeprozesses geben kann. Die Behauptung, daß etwas als ein Bleibendes wird (vgl. ,,τό μεν ύπομένον γίγνεται": 190a9-10), ergibt sich zunächst aus der Beobachtung der sprachlichen Beschreibungsmöglichkeiten eines Werdens: „ein nichtgebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch". Gleichwohl kann diese Beobachtung nicht aus einer jeden sprachlichen Beschreibung eines Werdeprozesses abgelesen werden, da in dem Beispielsatz (1) „ein Mensch wird ein Gebildeter" das Wort „Mensch" ja nicht erhalten bleibt.
Irwin (1988: 515, Fn.25) hat auch in bezug auf den Ausdruck ,,τό αμουσον" die Frage gestellt, ob sich dieser Ausdruck auf die Eigenschaft der Ungebildetheit oder auf das Ungebildete (Ding) bezieht: „What is the exact referent of to amouson and such phrases? [...] (1) The referent does not persist, 190al0-13. (2) hence the phrase should not mean 'the man (etc.) who is coincidentally unmusical', since he does persist. The unmusical might therefore be (3) the subject that is essentially unmusical, or (4) the instance of the property. Both (3) and (4) satisfy (1), and they seem equally plausible. Code [1976 a], 180f, and Matthews [1982], 225, endorse (3) without considering (4). See also Williams [1985], In 190al7 Aristotle says ou gar tauton to anthrdpö(i) kai to amousd(i) einai, and if amousd(i) is neuter, he claims that to amouson is numerically one with the man. If, however, amousö(i) is masculine, he may mean that the man and ho amousos (i.e. the man who is coincidentally unmusical) are one in number, but not the same in form. This does not imply the parallel claim about to amouson."
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Mit der Behauptung, daß etwas als ein Bleibendes wird (vgl. ,,τό μέν ΰπομένον γίγνεται": 190a9-10), grenzt sich Aristoteles explizit von seinen Vorgängern ab, von denen es den meisten so schien, als würden sich die Begriffe des „Werdens" und „Bleibens" gegenseitig ausschließen. Der Grund, warum es für Aristoteles möglich ist, diese Begriffe widerspruchsfrei miteinander zu verknüpfen, ist darin zu sehen, daß gerade Aristoteles auf die Differenz von Ding und Eigenschaft aufmerksam gemacht hat, durch die es erst möglich wird, daß ein Ding wie z.B. ein Mensch zwar etwas (z.B. gebildet) werden kann und dabei doch zugleich Mensch bleibt. Sagt Aristoteles von den Einfachen, daß die einen bleiben, während die anderen nicht bleiben, so ist mit dem Bleibenden der Ausdruck 'άνθρωπος' gemeint, während mit dem Nichtbleibenden die Ausdrücke 'μή μουσικόν' und 'άμουσον' gemeint sind. Von letzteren sagt Aristoteles, daß sie weder als Einfache noch als Zusammengesetzte bleiben. Dies bedeutet, daß weder in dem Satz ,,τό μή μουσικόν γίγνεσθαι μουσικόν" (189a35) noch in dem Satz „τον μή μουσικόν άνθρωπον [γίγνεσθαι] άνθρωπον μουσικόν" (189a35-190al) das 'μή μουσικόν' bleibt. Die Betonung, daß ein Mensch, der gebildet wird, ein Mensch bleibt (υπομένει άνθρωπος) und ist (και έστι), besagt, daß sich sein Menschsein durch dieses Werden nicht verändert hat. Der zu einem Gebildeten werdende Mensch war vor dem Gebildetwerden im selben Sinne Mensch wie er es nach dem Gebildetwerden sein wird. Zwar verändert er sich insofern, als er vor dem Werdeprozeß ein Ungebildeter ist, während er nach dem Werdeprozeß ein Gebildeter ist, doch betrifft diese Veränderung nicht sein Menschsein, sondern vielmehr sein Ungebildet- bzw. Gebildetsein. Neben dem „Nicht-Gebildeten" (τό μή μουσικόν) ist in 190al2 nun auch vom „Ungebildeten" (τό άμουσον) die Rede. Mit Ausnahme von 190al9-20 wird der Ausdruck „άμουσον" im weiteren Verlauf von Kapitel 1.7 den Ausdruck ,,μή μουσικόν" gänzlich ersetzen (vgl. 190al7, 21, 23, 28-30, 190bl4, 31, 191a2). Ein Grund für diese Ersetzung, die Aristoteles selbst nicht thematisiert, ist vermutlich in folgendem zu sehen: Aristoteles beginnt die Untersuchung in Kapitel 1.7 zunächst mit dem kontradiktorischen Gegensatz „μουσικόν - μή μουσικόν", um seine Theorie so offen wie möglich zu halten und sich nicht bereits am Anfang seiner Untersuchung auf ein Werdemodell festzulegen, das das Werden - wie in Kapitel 1.5 geschehen - als Wechsel zwischen konträren Gegensätzen versteht. Dieses Modell, das einen jeden Werdeprozeß als Wechsel zwischen konträren Gegensätzen versteht, wird sich nämlich gerade für das substantielle Werden insofern als problematisch erweisen, als die ούσίαι keinen konträren Gegensatz haben. Da jedoch in Kapitel 1.5 herausgearbeitet wurde, daß sich der Wechsel als ein bestimmter genaugenommen nicht zwischen kontradiktorischen und beliebigen, sondern eher zwischen konträren und bestimmten Gegensätzen vollziehen muß, und da dies auch für die aristotelische Theorie bezüglich der Eigenschaftsveränderung zutrifft, scheint es einen guten Grund zu geben, auch hier genauer von „ungebildet" anstelle von „nicht-gebildet" zu sprechen. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß sich ein jeglicher Werdeprozeß zwi-
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sehen konträren Gegensätzen vollzieht. Aristoteles spricht ja erst dort von „ungebildet" anstelle von „nicht-gebildet", wo im Unterschied zu Kapitel 1.5 herausgestellt ist, daß nicht nur die Gegensätze am Werden beteiligt sind, sondern daß zugleich auch ein Bleibendes vorhanden ist, das nun als das ύποκενμενον bei einem Werdeprozeß bestimmt wird.
7.2.6 Eine erste Konklusion (190a 13-21) Nachdem dies aber so bestimmt ist, kann man, wenn man es so ansieht, wie wir sagen [έάν τις ε π ί β λ ε ψ η ώσπερ λέγομεν], aus jedem Werdenden [έξ α π ά ν τ ω ν των γ ι γ νομένων] die Annahme herleiten, daß immer etwas als Werdendes zugrunde liegen muß [ότι δει τι άεί ϋ π ο κ ε ΐ σ θ α ι τό γιγνόμενον]; und dieses ist, wenn auch der Zahl nach [άριθμω] Eines, so doch der Form nach [εϊδει] nicht Eines. Denn mit 'der Form nach' [εϊδει] und 'dem Begriff nach' [λόγω] meine ich dasselbe. 'Menschsein' Γτό άνθρώπω ε ί ν α ι ] und 'Ungebildeter (ungebildet)-sein' [τό ά μ ο ύ σ φ ε ί ν α ι ] ist nämlich nicht dasselbe. Und das eine bleibt, das andere aber bleibt nicht. Das Nicht-Gegenüberliegende [τό μή άντικείμενον] bleibt (denn der Mensch bleibt), 'nichtgebildet' aber und 'ungebildet' [bzw. Nichtgebildetes und Ungebildetes] bleiben nicht, und auch nicht bleibt das aus beiden Zusammengesetzte, wie z.B. der ungebildete Mensch. (1.7, 190al3-21)
Die Tatsache, daß Aristoteles in seiner Konklusion von Jedem Werdenden" (vgl. ,,έξ άπάντων των γιγνομένων") spricht, macht deutlich, daß er auch zuvor - wie in 189b30-31 angekündigt wurde - mit seinem Beispiel vom Werden eines gebildeten aus einem ungebildeten Menschen stellvertretend über ,jedes Werdende" gesprochen hat. Ein Grund, warum Aristoteles das Beispiel einer άλλοίωσις als Ausgangspunkt fiir die Betrachtung eines jeden Werdeprozesses wählt, ist wohl darin zu sehen, daß es bei einer άλλοίωσις offenkundiger als bei einer γένεσις ist, daß etwas als ein Bleibendes zugrunde liegt. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich nun eine erste Konklusion, der Aristoteles jedoch die Bedingung voranstellt, daß sich diese Konklusion ergibt, „wenn man es so ansieht, wie wir sagen" (190al4). 29 Die Konklusion lautet: „Es muß immer etwas als Werdendes zugrunde liegen, und dieses ist zwar der Zahl nach Eines, der Form nach aber nicht Eines" (al4-16). Die Konklusion weist darauf hin, daß es bei jedem Werdeprozeß ein Zugrundeliegendes gibt, wobei dieses zugrundeliegende Werdende immer schon ein komplexes Zugrundeliegendes ist,30 das zwar der Zahl nach Eines, der Form nach aber nicht Eines ist. Wörtlich übersetzt bedeutet ,,τό άνθρώπω και ιό άμούσω είναι" folgendes: „das Sein für 'Mensch' und das Sein für 'Ungebildetes bzw. ftlr ungebildet'". Wieland (1962: 116) interpretiert dies in dem Sinne, daß sich die Konklusion ergibt, wenn man vom allgemeinen Sprachgebrauch als Fundament ausgeht, d.h. „wenn man nur darauf achtet, wie wir sprechen." Demgegenüber haben andere Interpreten zu Recht darauf hingewiesen, daß mit dem ,,ώσπερ λέγομεν" (al4) nicht unser 'Sprachgebrauch', sondern vielmehr 'das bereits Gesagte im Sinne des inhaltlich Dargelegten' gemeint ist. Zur Kritik an Wielands Interpretation vgl. Guzzoni (1975: 47, Fn.27), Tugendhat (1963: 548) und Happ (1971: 290 f). Vgl. auch Code (1976 b: 358): „Furthermore, both the man and the unmusical are the substratum of the change (I90al3-17; cf. 190 bl2-19)."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Der Hinweis auf die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ είναι" und ,,τό άμούσ φ ε ί ν α ι " als Begründung dafiir, daß das zugrundeliegende Werdende der Form nach nicht Eines ist, macht deutlich, daß hier der 'ungebildete Mensch' als Ganzes dem Werden als Werdendes zugrunde liegt. Demgegenüber scheint Bostock der Ansicht zu sein, daß mit dem Zugrundeliegenden hier nur der Mensch, nicht aber der ungebildete Mensch gemeint sei, wenn er in bezug auf 190al3-21 sagt: The terminology is admittedly curious, but the main point seems to be quite clear. Before the change we have an object which can be described as a man (as an underlying thing) or as a thing that is not musical (as having a privation); it is the same thing that is described in these two ways. Qua underlying thing it persists throughout the change, in the sense that we have the same man at the end as we had at the beginning, but it can now be described rather as a musical thing (i.e. as having a certain form). (Bostock, 1982: 184)3'
Der Kontext macht jedoch deutlich, daß in 190al 3-21 das gesamte zugrundeliegende Werdende - und somit der „ungebildete Mensch" - zwar der Zahl nach eines, der Form nach aber nicht eines sein soll, so daß hier nicht nur der Mensch, sondern vielmehr der ungebildete Mensch als Zugrundeliegendes betrachtet wird. 32 Eine Schwierigkeit der Interpretation im Hinblick auf die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ είναι" liegt nun erneut in der zweifachen Bedeutung von ,,τό αμουσον", das entweder 'das Ungebildete' im Sinne eines 'Dings' oder 'ungebildet' (bzw. 'Unbildung') im Sinne einer Eigenschaft bezeichnen kann. 33 Diejenigen Interpreten, die hier unter „άμούσφ" die Eigenschaft 'ungebildet' verstehen, deuten die von Aristoteles in 190al7-18 angeführte Begründung fur die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ ε ί ν α ι " dahingehend, daß 'Menschsein' und 'ungebildetsein' (αμουσον als Neutrum) nicht dasselbe sind, weil 'Mensch' für eine Substanz, 'ungebildet' aber für eine Eigenschaft steht. Die 'Nichteinheit der Form nach' wäre somit in einer kategorialen Verschiedenheit von Substanz und Eigenschaft begründet. 34 Diejenigen Interpreten, die hier unter „άμούσφ" jedoch den 'Ungebildeten' verstehen, deuten die von Aristoteles in 190a 17-18 angeführte Begründung für die Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ ε ΐ ν α ι " dahin-
32
34
Vgl. auch Bröcker ( 4 1974: 54 f.), der ebenfalls das „der Zahl nach Eine, der Form nach nicht Eine" in dem Sinne versteht, daß nur der Mensch, der vorher so und nachher anders angesprochen wird, das Zugrundeliegende bei diesem Werdeprozess darstellt. Seiner Ansicht nach sind sowohl 'der ungebildete Mensch' wie 'der gebildete Mensch' jeweils der Zahl nach ein und dasselbe Ding, wobei jedoch der Mensch der Form nach nicht eines ist, weil er einmal ein ungebildeter Mensch und ein andermal ein gebildeter Mensch ist. In diesem Sinne übersetzt Bostock (1982: 184) zwar den Abschnitt 190al4-16 - „[...] namely that there must always be something which underlies and is what becomes, and this thing though numerically one is not the same in form" -, doch wenn er in seinem Kommentar davon spricht, daß der Mensch (als zugrundeliegendes Ding) bleibt, so scheint er dort davon auszugehen, daß nur der Mensch das Zugrundeliegende sei. Der Ausdruck „ ά μ ο ύ σ φ " kann sowohl als Dativ des Neutrums „αμουσον" wie auch als Dativ des Maskulinums ,,αμουσος" verstanden werden. Vgl. Irwin (1988: 515), Zekl (1987: 35), PrantI (1854: 39), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 345), Wagner (1967: 23 und 426 f.) und Wieland (1962: 116).
Das Beispiel vom 'gebildeten M e n s c h e n '
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gehend, daß Menschsein und Ungebildetersein (αμουσος als Maskulinum) nicht dasselbe sind, weil 'Mensch' und 'Ungebildeter' auf verschiedene 'Dinge' referieren. Zwar ist jeder Ungebildete ein Mensch, nicht aber ist jeder Mensch ein Ungebildeter. Die 'Nichteinheit der Form nach' wäre somit primär nicht in einer kategorialen Verschiedenheit von Ding und Eigenschaft, sondern vielmehr in einer semantischen Verschiedenheit der Begriffe 'Mensch' und 'Ungebildeter' begründet.35 Meines Erachtens ist mit der Verschiedenheit von ,,τό άνθρώπφ είναι" und ,,τό άμούσφ είναι" in 190a 15-21 eine zweifache Verschiedenheit dem είδος bzw. λόγος nach gemeint, die eine Zusammenführung der beiden zuvor genannten Interpretationsmöglichkeiten bedeutet: Einerseits bezeichnen „άνθρωπος" und ,,αμουσον/αμουσος" kategorial Verschiedenes, insofern „άνθρωπος" für eine ουσία, ,,αμουσον/αμουσος" hingegen für ein ποιόν steht.36 Andererseits bezeichnen sie jedoch auch semantisch-begrifflich Verschiedenes, insofern zwar jeder Ungebildete ein Mensch, nicht jedoch jeder Mensch ein Ungebildeter ist. Der in der Behauptung, daß das zugrundeliegende Werdende (der ungebildete Mensch) zwar der Zahl nach Eines ist - denn der ungebildete Mensch stellt ja numerisch betrachtet nur ein einziges Ding dar -, jedoch der Form bzw. dem Begriff nach nicht Eines ist, enthaltene Gedanke, daß ein konkretes Ding der Form nach nicht Eines, sondern Vieles sein kann, ist bereits in den vorangegangenen Kapiteln - vor allem in Auseinandersetzung mit den Eleaten - von Aristoteles herausgearbeitet worden. Zusammenfassend betrachtet wurde dabei folgendes deutlich: Die Tatsache, daß ein und dasselbe zwar nicht der Art nach Entgegengesetztes (d.h. nicht 'gut und nicht-gut': 185b21-23), wohl aber der Art nach Verschiedenes (z.B. 'weiß und gebildet': 186al-2) zugleich sein kann, ist insofern als ein wichtiger Schritt innerhalb der Auseinandersetzung mit den Vorgängern anzusehen, als hier bereits gezeigt wurde, daß nicht nur zwei Dinge (Mensch und Pferd) dem ειδος/λόγος nach verschieden sein können, sondern daß auch ein und dasselbe Ding (z.B. Mensch) dem εΐδος/λόγος nach Verschiedenes (z.B. weiß und gebildet) sein kann. In Kapitel 1.7, 190al5-18 begründet Aristoteles die Konklusion, daß das der Zahl nach (άριθμω) eine Zugrundeliegende der Form nach (εϊδει) nicht Eines ist, zunächst mit dem Hinweis darauf, daß hier unter „dem Begriff nach" (λόγψ) und „der Art nach" (εϊδει) dasselbe gemeint sei (vgl. ,,τό γαρ ε'ίδει λέγω και λόγω ταύτόν": a 16-17). Diese Begründung erweckt den Eindruck, als wäre das 35
Vgl. Code (1976 a: 180 f.) und Matthew (1982: 225). Zwar wird die Differenz von Ding und Eigenschaft in Kapitel 1.7 erst in 190a31 -b 10 explizit eingeführt, in dessen nachfolgender Konklusion (190b 10-17) dann auch von den abstrakten Termini ,,άσχημοσύνη", „αμορφία" und „αταξία" die Rede ist, gleichwohl aber ist diese Differenz bereits in 190al7 durch die Verschiedenheit des „Seins fllr etwas" im Sinne einer kategorialen Verschiedenheit angedeutet (vgl. Wieland, 1962: 116, 133, Fn.22 und S. 154, der den Unterschied des Seins als einen Unterschied der Prädikation in bezug auf die verschiedenen Kategorien versteht). Dieselbe Verschiedenheit des „Seins für etwas" findet sich auch in 191al3 in bezug auf unser Beispiel ausgesprochen. Daß mit der Verschiedenheit des „Seins fllr etwas" eine kategoriale Verschiedenheit gemeint ist, wird auch aus dem in den vorangegangenen Kapiteln Gesagten deutlich. So hatte Aristoteles bereits in 1.3, 186a28-31 von einer Verschiedenheit des Seins ftlr 'weiß' und fllr dasjenige, dem 'weiß' zukommt, gesprochen.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Zugrundeliegende dem είδος nach nicht Eines, weil es dem λόγος nach nicht Eines ist. Der Grund, warum Aristoteles hier den Umweg über den λόγος wählt, um eine Verschiedenheit des είδος nachzuweisen, ist vermutlich darin zu sehen, daß sich die bisherige Untersuchung vor allem an den sprachlich-begrifflichen Verhältnissen der Beschreibung eines Werdeprozesses orientiert hat, um von dort aus zu den ontischen Verhältnissen überzugehen. 37 Der Gleichsetzung von εί'δει und λ ό γ ω sind wir indirekt bereits in den vorangegangenen Kapiteln begegnet. So hieß es in 1.2, 185b23, daß 'Mensch und Pferd' dem λόγος nach nicht Eines sind, während von beiden in 1.3, 186a21-22 gesagt wurde, daß sie dem είδος nach verschieden sind. Das ,,τό γ α ρ εϊδει λ έ γ ω κ α ι λ ό γ ω τ α ύ τ ό ν " (190al 6-17) scheint vor diesem Hintergrund auf eine bereits eingeführte Konvention hinzudeuten, auf die nun zurückgegriffen wird. Aristoteles setzt seine Begründung dafür, daß das Zugrundeliegende dem λόγος/εΐδος nach nicht Eines ist, mit dem Hinweis darauf fort, daß ,,τό ά ν θ ρ ώ π φ ε ί ν α ι " und ,,τό ά μ ο ύ σ φ ε ί ν α ι " nicht dasselbe (ού ταύτόν) sind (190al7). Nun wurde bereits d a r a u f h i n gewiesen, daß mit dem „Werdenden" (τό γιγνόμενον: a 15), das zugrunde liegt ( ύ π ο κ ε ΐ σ θ α ι ) , hier der 'ungebildete Mensch' als Ganzes gemeint ist. Dieser 'ungebildete Mensch' ist nun analog zum 'gebildeten Menschen', der sich aus den beiden λόγοι von 'gebildet' und 'Mensch' zusammensetzt (vgl. 190b20-23), ebenfalls aus zwei λόγοι (nämlich aus den λόγοι von 'ungebildet' und 'Mensch') zusammengesetzt. In 190a3-5 wurde sowohl der 'gebildete Mensch' als auch der 'nicht-gebildete Mensch' als ein Beispiel für ein Zusammengesetztes ( σ υ γ κ ε ί μ ε ν ο ν ) genannt. Diese beiden λόγοι sind beim 'ungebildeten Menschen' nicht identisch (ού ταύτόν: al7). Anders als beim „zweifüßigen Sinnenwesen", das Aristoteles zufolge als Definition eine begriffliche Einheit darstellt, stellt „ungebildeter Mensch" keine begriffliche Einheit dar, da bei einem Werdeprozess der eine λόγος (oder dasjenige, was dieser λόγος bezeichnet) bleibt, während der andere λόγος (oder dasjenige, was dieser λόγος bezeichnet) nicht bleibt (vgl. ,,καί τό μέν ύπομένει, τό δ' ούχ υπομένει": a 17-18). Würden sie eine begriffliche Einheit darstellen, so würden entweder beide zusammen bei einem Werdeprozeß bleiben oder aber beide zusammen nicht bleiben. Beim Werdeprozeß eines ungebildeten zu einem gebildeten Menschen stellt 'Mensch' als 'Nicht-Gegenüberliegendes' (τό μή ά ν τ ι κ ε ί μ ε ν ο ν ) das Bleibende dar, während sowohl 'nicht-gebildet' (bzw. 'Nicht-Gebildetes') und 'ungebildet' (bzw. Ungebildetes) als auch das aus beiden Zusammengesetzte ('ungebildeter Mensch' bzw. 'nicht-gebildeter Mensch') nicht bleibt. Aristoteles, der hier sowohl vom konträren Gegensatz „ungebildet" als auch vom kontradiktorischen Gegensatz „nicht-gebildet" spricht, die im Unterschied zu 'Mensch' jeweils ein 'Gegenüberliegendes' (άντικείμενον) darstellen, ersetzt an dieser Stelle den Begriff des 'konträren Gegensatzes' (έναντίον) durch den umfassenderen Begriff des 'Gegenüberliegenden' (άντικείμενον). Dies findet seinen Grund darin, daß das Modell der konträren Gegensätze zwar für die Eigenschaftsveränderung, 37
Zekl (1987: 245, Fn.74) interpretiert die Gleichsetzung von λ ό γ ο ς und ε ί δ ο ς an dieser Stelle als Flexibilität und Elastizität des aristotelischen Wortgebrauchs.
D a s Beispiel v o m 'gebildeten M e n s c h e n '
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nicht aber für das Entstehen der ούσίαι zutrifft, für die es eben kein konträres Gegenteil gibt. Da Aristoteles jedoch über das gesamte Werden sprechen will, für das stellvertretend das Beispiel des Werdens eines ungebildeten zu einem gebildeten Menschen angeführt wurde, darf der Gegensatz hier nicht auf einen konträren Gegensatz beschränkt sein. Diese Nichtbeschränkung auf einen konträren Gegensatz geschieht hier sowohl dadurch, daß der Begriff des 'έναντίον' durch den Begriff des 'άντικείμενον' ersetzt wird,38 als auch dadurch, daß Aristoteles in 190al9-20 neben dem konträren Gegensatz ,,τό αμουσον" immer noch den kontradiktorischen Gegensatz ,,τό μή μουσικόν" anführt.
7.2.7 Exkurs: Das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) Der für den aristotelischen Ansatz bezüglich der Prinzipien der φύσει δντα zentrale Begriff des 'Zugrundeliegenden' (ύποκείμενον) kann sowohl im sprachlichen Sinne (i) als Subjekt einer Prädikation wie auch im ontischen Sinne (ii) als Aufnehmendes von Formen verstanden werden. 39 Gadamer beschreibt diese Doppeldeutigkeit wie folgt: D i e Antwort, die Aristoteles findet, hat in der Aristotelischen P h i l o s o p h i e eine g e w i s s e Mehrdeutigkeit. D i e s e r Ausdruck ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν ist etwas » N a m e n l o s e s « , d a s das Substrat aller qualitativen Veränderung bildet, aber auch Subjekt d e s Satzes m e i nen kann. D i e B e d e u t u n g v o n ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν ist rein funktional: das Darunterliegende, d a s Substrat. D a s Wort »substantia« ist nichts anderes als die kategoriale und grammatische Übersetzung d i e s e s Wortes ins Lateinische. (Gadamer, 1996: 113)
Da wir jedoch sehen werden, daß Aristoteles in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz auch das Erz, aus dem die Statue wird, als ύποκείμενον bezeichnen wird, und da Aristoteles dieses Werden nicht als eine Eigenschaftsveränderung versteht, ist das ύποκείμενον nicht nur - wie Gadamer sagt - als Substrat aller qualitativen Veränderung, sondern in einem weiteren Sinne als Substrat einer jeden Veränderung zu betrachten. Beiden Bedeutungen von „ύποκείμενον" - (i) „das Subjekt einer Prädikation" und (ii) „das Aufnehmende von Formen" -, die häufig in einer Korrelation zueinander stehen, sind wir bereits in den vorangegangenen Kapiteln 1.1 bis 1.6 begegnet. 40 Wenn Aristoteles in Kapitel 1.6 in bezug auf das stoffliche Prinzip der Naturphilosophen ausführt, daß dieses den Gegensätzen 'Dichte' und 'Dünne' zugrunde liegt (189bl-10), so ist hier von einem ύποκείμενον die Rede, das aus aristotelischer Sicht im Sinne von (ii) als 38
40
Zur Ersetzung dieser Begriffe vgl. auch Fritsche (1986: 93 und 115 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kai. 2, Ia20-b9. Dort heißt es, daß Mensch „von einem ύποκείμενον gesagt wird, ohne in einem ύποκείμενον zu sein", während die Weiße „in einem ύποκείμενον ist, ohne von einem ύποκείμενον gesagt zu werden". Vgl. auch Kat. 8, 9a31-35, wo Aristoteles vom ύποκείμενον als aufnehmendes Subjekt für Qualitäten spricht: „So heißt der Honig süß, weil er Süßigkeit aufgenommen hat, und der Körper weiß, weil er Weiße aufgenommen hat usf." (Übers, nach Rolfes). Während „ύποκείμενον" in 1.2, 18Sa31-32 und 1.3, 186a32-bl eher das sprachliche Subjekt einer Prädikation bedeutet, ist es in 1.3, 186bl8; 1.4, 187al3-20; 1.4, 188a8-9 und 1.6, 189b 1 -6 eher als Zugrundeliegendes für bzw. als Aufnehmendes von Formen zu verstehen.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
ein Aufnehmendes von Formen fungiert. Zugleich aber wird dieses ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν auch im Sinne von (i) als dasjenige bestimmt, von dem die Gegensätze ausgesagt werden (vgl. 189a27-32). Die Mehrdeutigkeit des Wortes „ύποκείμενον" wird in Physik Α auch daraus ersichtlich, daß das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν einerseits die Funktion einer ο ύ σ ί α übernimmt und mit dieser insofern identifiziert wird, als es sowohl von der ο ύ σ ί α wie vom ύποκείμενον heißt, daß sie selbst nicht von anderem ausgesagt werden, sondern daß anderes von ihnen ausgesagt wird (vgl. 1.2, 185 a21-32 und 1.7, 190a34-bl), während das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν andererseits auch die Funktion des zugrundeliegenden Stoffes (ύλη) übernimmt und mit diesem im Sinne eines Prinzips gleichgesetzt wird (vgl. 1.4, 187al2-20 und 1.6, 189b 1 -6). Eine weitere Unterscheidung, auf die hier hinzuweisen ist, besteht in folgendem: Das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν kann in der Bedeutung (i) als „Subjekt einer Prädikation" sowohl das (i.i) Subjekt einer - wie ich es nennen will - 'Seinsprädikation' (z.B. „ein Mensch ist gebildet") wie auch (i.ii) das Subjekt einer - wie ich es nennen will - 'Werdeprädikation' (z.B. „ein Mensch wird gebildet") sein. Auch wenn beide Male mit „Mensch" sprachlich gesehen dasselbe ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν vorliegt, so unterscheiden sich diese beiden ύ π ο κ ε ί μ ε ν α doch in folgendem Sinne voneinander: Während das Subjekt der Seinsprädikation „ist gebildet" nur der „Mensch" als ein sowohl der Zahl wie auch der Art nach Einheitliches ist, ist das Subjekt der Werdeprädikation „wird gebildet" eigentlich der „ungebildete (bzw. nicht-gebildete) Mensch" als ein zwar der Zahl, nicht aber der Art nach Einheitliches. Wenn wir nun einen Blick auf das Kapitel I. 7 werfen, so begegnen wir dort zunächst folgenden Bedeutungen des 'Zugrundeliegenden' (ύποκείμενον): (1) In 190al3-18 meint das Zugrundeliegende (ύποκείμενον), von dem dort in der verbalen Form ,,δτι δει τι ά ε ί ύ π ο κ ε ΐ σ θ α ι τό γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν " (190a 14-15) die Rede ist, den „ungebildeten Menschen". Dieses komplexe zugrundeliegende Werdende, das zwar ein der Zahl, nicht aber der Art nach Einheitliches ist, läßt sich in seine beiden Momente eines Bleibenden und Nichtbleibenden (Gegensätzlichen) auseinandernehmen. 41 (2) In 190a33-bl meint das Zugrundeliegende (ύποκείμενον), von dem dort ebenfalls zunächst in der verbalen Form ,,δτι α ν ά γ κ η ύ π ο κ ε ΐ σ θ α ι τι τό γ ι γ ν ό μενον" (190a34) die Rede ist, dasjenige Werdende, an dem andere Bestimmungen (ποσόν, ποιόν, προς έτερον, ποτέ und πού) werden, und das selbst - ebenso wie die ο ύ σ ί α - von keinem anderen ausgesagt wird, sondern von dem umgekehrt alles andere ausgesagt wird. Mit diesem 'Zugrundeliegenden', von dem die anderen Kategorien ausgesagt werden, scheint hier nun jedoch nicht mehr der „ungebildeter Mensch", sondern nur noch der „Mensch" gemeint zu sein, da j a „ungebildet" ebenfalls von 'Mensch' ausgesagt wird. Die beiden angeführten Textstellen machen bereits deutlich, daß Aristoteles den Begriff des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) in Kapitel 1.7 in einem mehrdeutigen Sinne verwendet, da ja sowohl das Zusammengesetzte „ungebildeter Andere Interpreten bezeichnen dieses ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν auch als „Ausgangspunkt des Werdens" (vgl. Bostock, 1982: 187, 189).
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
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Mensch" wie auch das Einfache „Mensch" als ύποκείμενον fungieren kann. Da das ύποκείμενον in Analogie zur άρχή, die immer άρχή von etwas ist, selbst immer ein ύποκείμενον für etwas ist, gilt es bei den jeweiligen Verwendungsweisen des Wortes „ύποκείμενον" genau darauf zu achten, fiir was es jeweils ein ύποκείμενον sein soll. Die beiden erwähnten Textstellen deuten bereits an, daß der Begriff des ύποκείμενον in Kapitel 1.7, das sich durch einen Untersuchungscharakter auszeichnet, als in einer Entwicklung begriffen zu verstehen ist. Aristoteles geht von dem Ganzen ('ungebildeter Mensch') als Ausgangspunkt und Zugrundeliegendes eines Werdeprozesses aus, um durch weitere Analysen schließlich dahin zu gelangen, daß bei diesem Ganzen ('ungebildeter Mensch') der 'Mensch' das eigentlich Zugrundeliegende darstellt, da es ebenfalls ein Zugrundeliegendes für die Unbildung ist. Bostock (1982) hat daraufhingewiesen, daß der Begriff des „ύποκείμενον" in Kapitel 1.7 auf zweifache Weise verwendet wird: Einerseits bezeichnet „ύποκείμενον" als Subjekt der Prädikation „dies wird so-und-so" den 'Ausgangspunkt eines Werdeprozesses'; andererseits bezeichnet „ύποκείμενον" auch das in einem Werdeprozeß 'bleibende Moment':42 And therefore, as I say, the expression 'what underlies' is being made to do double duty, both for the starting point of the change (i.e. the subject said to become so-andso) and for what persists throughout the change. (Bostock, 1982: 189)
Zugleich weist Bostock daraufhin, daß sich diese Doppeldeutigkeit des Begriffs des ύποκείμενον der Interpretation von Charlton zufolge vermeiden läßt, wenn man davon ausgeht, daß „ύποκείμενον" in Kapitel 1.7 ausschließlich 'das Subjekt der Prädikation' meint und nicht mit dem Bleibenden (ύπομένον) gleichgesetzt wird. Bostock bemerkt hierzu: I must begin by admitting that in my view of chapter 7 there is a serious ambiguity in the phrase 'what underlies' (to hupokeimenori), and Charlton's interpretation would avoid this ambiguity. For not until the last chapter of the book - which one may well suspect, for this reason, to be a later addition - do we find Aristotle using his technical term 'matter' (hule) precisely as a technical term for whatever it is that persists, and until then the word seems to bear its ordinary sense of stuff or material. In my view the expression which Aristotle does here use for what persists is 'what underlies'. But of course that expression is also his standard expression for a subject of predication, and Charlton's proposal is to take the expression consistently in the latter sense throughout. In that case what underlies is simply the subject said to become so-and-so, and though this subject may often persist throughout the change (as when a man is said to become musical) there is no reason to suppose that it always does. Perhaps, then, Aristotle is only intending to argue that every change has an underlying thing in the sense of a subject which becomes so-and-so, and is not also intending to claim that there is something which persists throughout the change. One can Vgl. auch Doebele (1961/62: 158): „In a noteworthy article 'Aristotle's Doctrine of »The Underlying Matter«' (Philosophical Studies, June 1953), Fr. Dermot O'Donoghue raised the question of an ambiguity in Aristotle's portrayal (Physics, Book 1, c. 7) of his substrate of change. The ambiguity, briefly is this. The substrate seems to be regarded sometimes as the initial whole that precedes a change and sometimes as the part of this whole that persists through the change. The initial whole possesses a certain privation; the persisting part is presumed to lack this privation."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' certainly sympathise with the view that Aristotle's own arguments do not justify a conclusion any stronger than this. One might also sympathise with Charlton's claim (pp. 133-5) that there are several passages elsewhere, especially in the first book of the De Generatione et corruptione, which are (as he puts it) 'not propitious' for interpreting Aristotle as claiming there that there is something which persists when (say) air changes into water or water into earth. But the question at issue is whether Aristotle does, in Physics I, claim that there is always something that persists through any change, and it seems to me that the text is quite unambiguous on this point. I have already quoted 190al3-21 (above, p. 184) which says quite unambiguously that in all cases of becoming the thing that is not an opposite (e.g. the man) remains. (Bostock, 1982: 187 f.)
Bostock stützt seine These, daß Aristoteles in Kapitel 1.7 das ύποκείμενον in einer Bedeutung mit dem Bleibenden gleichsetzt, auf den Abschnitt 190al3-21, wo Aristoteles zweifelsohne von einem Bleibenden spricht. Er hebt ferner hervor, daß Aristoteles dort sage, daß in allen Fällen des Werdens dasjenige Ding, das keinen Gegensatz darstellt, bleibt. In bezug auf die von Bostock ausgesprochene These, daß man die Konklusion in 190al3-21 als Beleg dafür nehmen kann, daß Aristoteles in Kapitel 1.7 behauptet, daß es bei jedem Werdeprozeß ein Bleibendes gibt, das mit dem ύποκείμενον gleichzusetzen ist, scheint allerdings aus folgenden Gründen Vorsicht geboten zu sein: Zum einen fuhrt Aristoteles in 190al3-21 als das ύποκείμενον eines Werdeprozesses das Beispiel des 'ungebildeten Menschen' als ein der Zahl, nicht aber der Form nach Einheitliches an. Bostock scheint demgegenüber - wie bereits dargelegt wurde - der Auffassung zu sein, daß dort nur der 'Mensch' als ύποκείμενον gemeint sei. Von dem komplexen ύποκείμενον „ungebildeter Mensch" gilt nun jedoch nicht, daß er ein Bleibendes darstellt (vgl. 190a 19-20). Zum anderen spricht Aristoteles genaugenommen nicht von „allen Fällen des Werdens" („all cases of becoming"), was bereits explizit auf die verschiedenen Arten von Werdeprozessen hindeuten würde, sondern er spricht zunächst von „einem jeden Werdenden" (vgl. ,,έξ απάντων των γιγνόμενον": 190al3). Zwar ist mit einem jeden Werdenden sicherlich auch jeder Fall eines Werdens gemeint, doch darf hierbei nicht übersehen werden, daß Aristoteles seine Konklusion bezüglich eines jeden Werdenden durchaus mit einer gewissen Vorsicht formuliert, wenn er ihr die Aussage voranstellt, daß diese Konklusion zu ziehen sei, „wenn man es so ansieht, wie wir sagen [έάν τις έπιβλέψη ώσπερ λέγομεν]" (190 al4). Damit meint Aristoteles offenkundig, daß sich diese Konklusion aus dem bereits bezüglich des Werdens eines ungebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen Gesagten ergibt. Nun steht dieses Beispiel des Werdens eines 'gebildeten Menschen' zunächst jedoch nur stellvertretend für einen jeden Werdeprozeß, so daß sich diese Konklusion ergäbe, wenn jeder Werdeprozeß in Analogie zum Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen verliefe. Dies ist allerdings, wie die weitere Untersuchung zeigen wird, nach Ansicht von Aristoteles nicht der Fall. Denkt man z.B. an das Werden eines Lebewesens aus einem Samen (vgl. 190b4-5), so gilt hier ja gerade im Unterschied zu Bostocks Ansicht („I have already quoted 190al3-21 (above, p. 184) which says quite unambiguously that in all cases of becoming
Das Beispiel vom 'gebildeten Menschen'
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the thing that is not an opposite (e.g. the man) remains") nicht, daß das Ding, das keinen Gegensatz darstellt (der Same), bleibt. Es fällt ferner auf, daß Aristoteles in bezug auf das Werden der ούσίαι nicht mehr von einem Bleibenden, sondern nur noch von einem Zugrundeliegenden spricht. Ab 190a31 bis zum Ende des Kapitels 1.7 begegnen die Begriffs des 'Bleibenden' und des 'Bleibens' an keiner Stelle mehr. All dies deutet daraufhin, daß sich auch das Kapitel 1.7 durch einen Untersuchungscharakter auszeichnet, so daß die Konklusion in 190a 13-21 zunächst nur als ein Schritt auf dem Weg zu den Prinzipien hin anzusehen ist. Diese Konklusion leitete sich jedoch gerade aus der Betrachtung des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen her, das zunächst stellvertretend für einen jeden Werdeprozeß stehen sollte. Sobald dann aber auch die Beispiele fur das Werden einer ούσία in den Blick kommen, tritt der Begriff eines 'Bleibenden' zunehmend in den Hintergrund. An späterer Stelle stützt Bostock seine These, daß Aristoteles das ύποκείμενον in Kapitel 1.7 in einer Bedeutung mit dem Bleibenden gleichsetzt, dann auch auf den Abschnitt 190b 10-14, den er wie folgt versteht: The only ground Aristotle could have for saying that what ever comes into being is composite (sunthetos) is that we can distinguish in it two 'elements', one the persisting element (what underlies) and the other the acquired element (the form). If the element said to underlie did not persist in the end product there would be no ground whatever for saying that the end product was composite, and Aristotle explicitly claims that all products of becoming are composite. (Bosteck, 1982: 188) In bezug auf diese Interpretation ist jedoch darauf hinzuweisen, daß Aristoteles in 190b 10-14 selbst nicht mehr von einem 'bleibenden Moment' („persisting element") spricht.43 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Ansicht von Charlton, der zufolge Aristoteles das ΰποκείμενον in Kapitel 1.7 nicht mit dem Bleibenden gleichsetzt, als wahrscheinlicher. Zumindest sagt Aristoteles an keiner Stelle in Physik I ausdrücklich, daß es bei jedem Werdeprozeß ein Bleibendes gibt, welches mit dem ΰποκείμενον gleichzusetzen ist. Umgekehrt bedeutet dies jedoch nicht, daß Aristoteles, auch wenn er das Zugrundeliegende (ΰποκείμενον) nicht mit dem Bleibenden (ύπομένον) identifiziert, nicht dennoch der Überzeugung sein kann, daß es bei jedem Werdeprozeß ein Bleibendes gibt. Doch in bezug auf das den Werdeprozessen des 'etwas Werdens' (τόδε τι γίγνεσθαι) und des 'einfach Werdens' (άπλώς γίγνεσθαι) in 190a31-bIO herauszuarbeitende gemeinsame Moment tritt das Bleibende (ύπομένον) zugunsten des Zugrundeliegenden (ΰποκείμενον) offenkundig in den Hintergrund. Wenn also die Interpretation
Bostock ist im übrigen der Auffassung, daß dort mit dem Werdenden als Zusammengesetztes das Endprodukt eines Werdeprozesses gemeint sei (vgl. „that the end product was composite"), das sich aus dem ΰποκείμενον und der μορφή zusammensetzt. Demgegenüber werde ich in meiner Interpretation des Abschnitts 190bl0-14 (vgl. Kapitel 7.5) zeigen, daß dort mit dem Werdenden als Zusammengesetztes nicht das Endprodukt gemeint sein kann, da der Abschnitt 190bl 0-14 deutlich macht, daß das Werdende nicht nur aus einem ΰποκείμενον und aus einer μορφή, sondern auch aus einem άντικείμενον zusammengesetzt sein soll. Das άντικείμενον ist aber in dem Endprodukt gerade nicht mehr enthalten.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
von Charlton aufgrund ihrer Vorsicht in bezug auf eine Gleichsetzung der Begriffe des ύποκείμενον und ύπομένον plausibler zu sein scheint, und wenn dieser der Auffassung ist, daß das „ύποκείμενον" in Kapitel 1.7 - den Worten von Bostock zufolge - in einem einheitlichen Sinne durchgängig als 'Subjekt einer Prädikation' verstanden werden kann,44 so ist die Bedeutung „Subjekt der Prädikation"45 - wie bereits dargelegt wurde - jedoch selbst in einem differenzierten Sinne zu betrachten: Einerseits wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Subjekt einer Prädikation insofern Verschiedenes meinen kann, als das Subjekt der Prädikation „ist gebildet" der 'Mensch' ist, während das Subjekt der Prädikation „wird gebildet" eigentlich der 'ungebildete Mensch' ist.46 Schließlich wird in bezug auf die Werdeprädikationen noch einmal zwischen folgenden Prädikationen zu unterscheiden sein: Zum einen kann von einem Subjekt ein 'einfaches Werden' prädiziert werden - z.B. „die Statue wird", womit gemeint ist, daß die Statue (aus etwas, z.B. Erz) entsteht; zum anderen kann von einem Subjekt ein 'etwas Werden' prädiziert werden - z.B. „ein ungebildeter Mensch wird gebildet". Andererseits darf neben der Bedeutung „Subjekt der Prädikation" die andere Bedeutung „Aufnehmendes von Formen" nicht übersehen werden. Auch wenn beide Bedeutungen oft in einer Relation zueinander stehen, so müssen sie jedoch wie wir sehen werden - nicht in jedem Falle miteinander korrespondieren. Zwar kann man in bezug auf das Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen sowohl sagen, daß 'Mensch' das Aufnehmende der Form 'Bildung' ist, als auch, daß 'Mensch' das Subjekt ist, von dem ein „Gebildetwerden" ausgesagt wird, doch kann man in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz nur sagen, daß 'Erz' das Aufnehmende der Form 'Statue' ist, nicht aber, daß 'Erz' das Subjekt ist, von dem ein „Statuewerden" ausgesagt wird: Denn wir sagen, daß aus Erz eine Statue wird, und nicht, daß das Erz eine Statue wird [έκ γαρ χ α λ κ ο ύ ανδριάντα γίγνεσθαι φαμεν, οΰ τον χαλκόν ανδριάντα]. (1.7, 190a25-26)
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Vgl. Bostock (1982: 187): „In my view the expression which Aristotle does here use for what persists is 'what underlies'. But of course that expression is also his standard expression for a subject of predication, and Charlton's proposal is to take the expression consistently in the latter sense throughout." Charltons (1970: 77) eigene Worte lauten wie folgt: „[...], but for the moment we may notice that Aristotle does not say that anything remains, but only that something underlies, in cases of coming into existence, and that according to De gen. et cor. I 319b21-31, cited above, p. 75, if anything did remain in all cases, there would be no such thing as coming into existence, but only alteration." Vgl. in diesem Zusammenhang auch Cherniss (1935: 88): „That the notion of physical substrate is simply the concept of the propositional subject transferred to the material world is clear from such passages as Physics 190 A 9-12, 190 Β 17-23, where logical analysis is taken as equivalent to physical explanation. [... ] The 'substance' of the categories (i.e. the subject of the proposition) becomes the material substrate which is then amenable to the same laws of development and implication." Vgl. auch McMullin (1963: 188): „The 'underlying something' here [190al4-17] is clearly matter-subject, not matter substratum. That is, the analysis shows that the word 'man' can be applied both before and after, 'not-musical' only before, 'musical' only after. The 'matter' of the change is thus the subject of the statement: 'The not-musical man became musical', and the analysis is one of predication." Bei dem 'ungebildeten Menschen' als Subjekt der Prädikation „wird gebildet" stellt 'Mensch' zudem das ύποκείμενον für das Akzidens 'ungebildet' dar.
Die unterschiedlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses
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Diese Differenz zwischen dem 'Subjekt einer Prädikation' und dem 'Aufnehmenden einer Form' ist darin begründet, daß es in bezug auf das ύποκείμενον als Aufnehmendes einer Form einen Unterschied ausmacht, ob es - wie im Falle von Erz und Statue - das Aufnehmende einer substantiellen Form ('Statue'), oder ob es - wie im Falle von Mensch und Bildung - das Aufnehmende einer akzidentellen Form ('gebildet') ist. Diese unterschiedlichen Bedeutungen des Ausdrucks „ύποκείμενον" spiegeln sich auch darin wieder, daß Aristoteles an späterer Stelle in bezug auf das zugrundeliegende Prinzip einerseits vom ύποκείμενον im Sinne eines Zweiheitlichen sprechen wird, das aus den Momenten der ΰλη und der στέρησις zusammengesetzt ist (vgl. 190b20-27, 192a2-6), während er an anderer Stelle deutlicher differenziert und nur das nicht-gegensätzliche Moment (die ύλη) als eigentliches ύποκείμενον nennt (vgl. 190bl0-17; b33-35).
7.3 Die unterschiedlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses (190a21-31)
7.3.1 „Etwas wird aus etwas" und „etwas wird etwas" Der Ausdruck »aus etwas wird etwas« [έκ τίνος γίγνεσθαι τι] - und nicht »etwas wird ein solches« [τόδε γίγνεσθαι τι] - wird mehr bei den Nichtbleibenden gesagt [μάλλον μέν λέγεται έπί των μή υπομενόντων], wie z.B. »aus einem Ungebildeten wird ein Gebildeter« [έξ άμούσου μουσικόν γίγνεσθαι], nicht aber »aus einem Menschen« [έξ άνθρώπου δέ ού]. Aber auch bei den Bleibenden spricht man bisweilen genauso: Denn wir sagen, daß aus Erz eine Statue wird, und nicht, daß das Erz eine Statue wird [έκ γάρ χαλκού ανδριάντα γίγνεσθαι φαμεν, ού τον χαλκόν άνδριάντα]. Bei dem Werden aus einem Gegenüberliegenden und Nichtbleibenden [έκ του άντικειμένου και μή υπομένοντος] gibt es beide Aussageweisen, sowohl »aus einem solchen wird ein solches« [έκ τοΰδε τόδε] als auch »ein solches wird ein solches« [τόδε τόδε]. Denn sowohl »aus einem Ungebildeten« wie auch »der Ungebildete wird ein Gebildeter«. Deshalb [διό] verhält es sich auch bei dem Zusammengesetzten auf dieselbe Weise: Denn sowohl »aus einem ungebildeten Menschen« wie auch »der ungebildete Mensch wird«, wie man sagt, »ein gebildeter [Mensch]«. (1.7, 190a21-31)
Nachdem Aristoteles darauf hingewiesen hat, daß sich das zugrundeliegende Werdende in ein bleibendes und ein nichtbleibendes Moment auseinandernehmen läßt, kommt er nun erneut auf die beiden Beschreibungsweisen eines Werdeprozesses - nämlich auf die Formeln (a) „aus etwas wird etwas" und (b) „etwas wird etwas11 - zurück. Wurde bisher von der Eigenschaftsveränderung eines ungebildeten zu einem gebildeten Menschen gesprochen, wobei diese gleichwohl als Paradigma für einen jeglichen Werdeprozeß fungierte, so stellt das in 190a24-26 erwähnte Beispiel einer aus Erz werdenden Statue ein Beispiel für einen Werdeprozeß im Sinne eines substantiellen Werdens dar. Seiner inhaltlichen und formalen Struktur nach läßt sich der Abschnitt 190a21-31 wie folgt gliedern: Aristoteles beginnt mit der Behauptung, daß die
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Formel „aus etwas wird etwas" - und nicht die Formel „etwas wird etwas" - mehr bei den Nichtbleibenden (als bei den Bleibenden) gesagt wird (190a21-23). So sagt man von einem Gebildeten, daß er aus einem Ungebildeten, der in al9-20 als Nichtbleibendes bestimmt wurde, wird, nicht aber sagt man, daß er aus einem Menschen, der in a l 9 als Bleibendes bestimmt wurde, wird. Mit der Behauptung, daß die Formel „aus etwas wird etwas" mehr bei den Nichtbleibenden (als bei den Bleibenden) gesagt wird, weist Aristoteles darauf hin, daß sich die Präposition „aus" bei der Beschreibung eines Werdeprozesses vor allem auf das nichtbleibende Moment eines zugrundeliegenden Werdenden, aus dem etwas wird, bezieht. Dieser Bemerkung läßt Aristoteles jedoch sogleich eine Einschränkung folgen, die erklärt, warum hier nur in einem relativen Sinne von „mehr" (μάλλον: a22) und nicht in einem absoluten Sinne von „immer" gesprochen wird. Denn bisweilen spricht man, so Aristoteles, auch bei den Bleibenden von einem „Werden aus": „Wir sagen nämlich, daß aus Erz eine Statue wird, und nicht, daß das Erz eine Statue wird [έκ γαρ χαλκού άνδριάντα γίγνεσθαι φαμεν, οϋ τον χαλκόν ανδριάντα]" (190a25-26).47 Dieses Beispiel fiir das substantielle Werden (Entstehen) einer ουσία stellt in diesem Zusammenhang zunächst insofern eine Ausnahme dar, als die in der Formel (a) »aus etwas wird etwas« enthaltene Präposition „aus", die sich dem zuvor Gesagten zufolge vor allem auf das nichtbleibende Moment eines Werdenden bezieht, hier auf ein bleibendes Moment bezogen ist. Denn die aus dem Erz werdende Statue besteht ja aus Erz, so daß das Erz ein Bleibendes bei diesem Werdeprozeß darstellt. Hier stellt sich jedoch die Frage, warum in bezug auf das Erz als ein Bleibendes ebenfalls gesagt wird „aus ihm wird eine Statue". Haben wir es hier nur mit einer Ausnahme zu tun, bei der sich die Präposition „aus" ausnahmsweise auch einmal auf ein nichtbleibendes Moment bezieht und die aus Gründen der Vollständigkeit zumindest Erwähnung finden soll, oder gibt es vielleicht einen Grund, warum hier in bezug auf ein Bleibendes im Gegensatz zum Menschen, aus dem nicht ein Gebildetes wird, von einem „Werden aus" gesprochen wird? Aristoteles geht selbst nicht näher auf diese Ausnahme ein. Vielmehr stellt er dem Werden der Statue aus Erz nun erneut das erste Beispiel vom Werden eines Gebildeten aus einem Ungebildeten gegenüber und weist daraufhin, daß anders als beim Werden einer Statue aus Erz beim Werden aus einem Gegensätzlichen und Nichtbleibenden (vgl. ,,έκ τοΰ άντικειμένου και μή υπομένοντος": 190a2627) beides - sowohl „aus etwas wird etwas „ als auch „etwas wird etwas" - gesagt werden kann: Man sagt ja nicht nur „aus einem Ungebildeten wird ein Gebildeter", sondern auch „ein Ungebildeter wird ein Gebildeter". Hieraus folgt nun aber, so Aristoteles, daß deshalb (διό: 190a29)48 auch bei dem Zusammengesetzten auf dieselbe Weise gesprochen wird, so daß es hier ebenfalls beide Formen der Beschreibung eines Werdeprozesses gibt: Denn wir sagen sowohl 47 48
Eine eingehende Analyse dieser Aussage findet sich unten in Kapitel 7. 3. 2. Vgl. auch Jones (1974: 482): „Since we can use »from« of what is opposed but not of what remains, Aristotle suggests that we can use »from« of the compounds only because we can use it of what is opposed (190 a29-31)"
Die unterschiedlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses
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„aus einem ungebildeten Menschen wird ein gebildeter Mensch" wie auch „ein ungebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch". Das in dem Abschnitt 190 a21-31 dargelegte Verhältnis der beiden Formeln „aus etwas wird etwas" und „etwas wird etwas" stellt sich nun in bezug auf die Momente des Bleibenden und Nichtbleibende beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen wie folgt dar: Abb. 7.2: Die Beschreibungen des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen (1)
Bleibendes
(2a) Nichtbleibendes (Einfaches) (2b) Nichtbleibendes (Zusammengesetztes)
(a) „aus etwas wird ettvas" 0 „aus einem Ungebildeten wird ein Gebildeter" „aus einem ungebildeten Menschen wird ein gebildeter Mensch"
(b) „etwas wird etwas" „ein Mensch wird ein Gebildeter" „ein Ungebildeter wird ein Gebildeter" „ein ungebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch"
Wir sahen, daß die Präposition „aus" (έκ) zumeist auf das nichtbleibende Moment eines Werdeprozesses bezogen ist, wobei jedoch durch das Beispiel des Werdens einer Statue aus Erz deutlich wurde, daß die Präposition „aus" auch auf ein Bleibendes bezogen werden kann, da ja die aus Erz entstandene Statue aus Erz besteht. Angesichts dieses Umstands stellte sich die Frage, ob wir es hier nur mit einer Ausnahme zu tun haben, die aus Gründen der Vollständigkeit zumindest Erwähnung finden soll, oder ob es vielleicht einen Grund gibt, warum hier in bezug auf ein Bleibendes von einem „Werden aus" gesprochen wird. Aristoteles geht auf diese Frage selbst zwar nicht näher ein, doch wird aus dem Beispiel folgendes deutlich: Im Unterschied zum Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen, das in der bisherigen Untersuchung zwar stellvertretend für einen jeden Werdeprozeß stand, doch in einem engeren Sinne eine Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) darstellt, steht das Werden einer Statue aus Erz für das Entstehen einer ουσία (γένεσις). Aristoteles scheint mit diesem Beispiel den Übergang zum Abschnitt 190a31-bl0 vorzubereitet, wo er dann explizit zwischen dem 'etwas Werden' (τόδε τι γίγνεσθαι) und dem 'einfachen Werden' (απλώς γίγνεσθαι) unterscheiden wird. In bezug auf dieses Entstehen einer ουσία bzw. des Entstehens der anderen einfachen Dinge (άπλώς δντα: 190b2) wird Aristoteles darlegen, daß auch sie allesamt aus einem ΰποκείμενον werden. So wird z.B. ein Lebewesen aus Samen, ein Haus aus Steinen, eine Statue aus Erz und Luft aus Wasser. In bezug auf diese Entstehensprozesse fällt nun auf, daß sich bei einigen dieser Entstehensprozesse die Präposition „aus" auf ein Bleibendes bezieht - z.B. 'Haus aus Steinen' oder 'Statue aus Erz' -, während dies bei anderen Entstehensprozessen nicht der Fall ist - z.B. 'Lebewesen aus Samen' oder 'Luft aus Wasser'. Meiner Ansicht nach ist Aristoteles der Auffassung, daß sich auch bei den Sätzen „Statue wird aus Erz" und „Haus wird aus Steinen" die Präposition „aus",
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
die sich der Oberflächenstruktur' des Satzes zufolge zwar auf ein Bleibendes bezieht, seiner 'Tiefenstruktur' zufolge jedoch eigentlich auf ein Nichtbleibendes bezieht. 49 Schaut man nämlich genauer hin, so stellt das auf den ersten Blick zwar bleibende Erz zugleich auch insofern ein Nichtbleibendes dar, als die aus dem Erz entstandene Statue ja nicht mehr als „Erz", sondern davon abgeleitet nur noch als „ehern" bezeichnet wird (vgl. Phys. VII.3, 245b9-12; Met. VII.7, 1033a5-8). Auch wenn in dem Satz „eine Statue wird aus Erz" von einem nichtbleibenden Moment keine Rede ist, so scheint Aristoteles doch der Ansicht zu sein, daß in bezug auf das Erz in Gestalt seiner Ungeformtheit von einem nichtbleibenden Moment gesprochen werden kann, die bei diesem Werdeprozeß durch die Form der 'Statue' ersetzt wird. Den Grund, warum die Präposition „aus" hier auf das Erz als Bleibendes bezogen ist, sieht Aristoteles darin, daß es für das nichtbleibende Moment der Ungeformtheit keinen eigenen Namen gibt, so daß der Ausdruck „Erz" in dem Satz „eine Statue wird aus Erz" gleichsam stellvertretend für dieses 'namenlose', nichtbleibende Moment steht. In Met. VII weist Aristoteles auf folgendes hin: Einiges nun, was aus etwas als seinem Stoff wird, nennt man, wenn es geworden ist, nicht mit dem Namen des Stoffes selbst, sondern nur nach dem Namen desselben, z.B. die Bildsäule nicht Stein [λίθος], sondern steinern [λίθινος]. Hingegen der Mensch, der gesund wird, wird nicht als das bezeichnet, woraus er wird. Der Grund davon aber liegt darin, daß das Werdende sowohl aus der Privation (steresis) wie aus dem Substrat (hypokeimenon) wird, welches wir Stoff nennen; z.B. sowohl der Mensch wie der Kranke wird gesund. Indessen sagt man doch mehr, daß etwas aus der Privation wird [μάλλον μέντοι λέγεται γίγνεσθαι έκ της στερήσεως], z.B. aus krank gesund, als aus Mensch. Darum nennt man nicht den Gesunden einen Kranken, wohl aber einen Menschen, und man nennt auch den Menschen gesund. Wo aber die Privation undeutlich [άδηλος] und unbenannt [άνώνυμος] ist, wie z.B. beim Erz der Mangel irgendeiner Gestalt oder bei Backsteinen und Holz der Mangel der Form des Hauses, da scheint das Werdende aus diesen hervorzugehn, wie dort der Gesunde aus dem Kranken. Wie also dort das Gewordene nicht den Namen dessen führt, woraus es geworden ist, so heißt auch hier die Bildsäule nicht Holz, sondern mit einer Umbildung des Wortes hölzern, und ehern, aber nicht Erz, steinern, aber nicht Stein, und das Haus backsteinern, nicht Backsteine. Denn wenn man die Sache genau ins Auge faßt, so würde man nicht einmal schlechthin sagen können, daß die Bildsäule aus Holz oder das Haus aus Backsteinen wird; denn das Werdende muß werden, indem sich dabei dasjenige, woraus es wird, verändert, aber nicht bleibt. Um deswillen drückt man sich so aus. (Met. VII.7, 1033a5-23; Übers, nach Bonitz). Doch nicht nur in Met. VII.7, sondern auch in Phys. 1.5, 188M0-11 hatte Aristoteles in bezug auf die Beispiele 'Haus' und 'Statue' bereits daraufhingewiesen, daß es für die entgegengesetzten Zustände zumeist keinen Namen gibt, weshalb
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Zur Unterscheidung zwischen einer grammatischen Oberflächenstruktur und einer dahinterstehenden ontischen Tiefenstruktur bei Aristoteles vgl. auch Jacobi (1982: 75 f.): „Zwar gebraucht Aristoteles in einem Maße wie kein Denker vor ihm die Sprache als Leitfaden ftlr ontologische Aussagen, aber er sieht auch klar, daß es oft nötig ist, zwischen der grammatischen Oberflächenstruktur einer Aussage und der gemeinten Tiefenstruktur zu unterscheiden."
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es oft verborgen bleibt, daß auch hier von einem Werden aus Gegensätzlichem gesprochen werden kann. Mit anderen Worten: Auch wenn das Erz beim Werden einer Statue aus Erz bleibt, so steht es doch zugleich als ein der Art nach nicht Einheitliches stellvertretend für das nichtbleibende Moment bei diesem Werdeprozeß, das keinen eigenen Namen hat. Aristoteles kann dies hier jedoch noch nicht in dieser Form sagen, da ja erst in der weiteren Untersuchung deutlich werden soll, daß auch das ύποκείμενον Erz, aus dem die Statue wird, ein der Art nach Zweiheitliches ist, das sich aus einem stofflichen und privativen Moment zusammensetzt. Aristoteles scheint in 190a24-26 mit dem Beispiel des Werdens einer Statue aus Erz als Beispiel für ein Werden aus einem Bleibenden zumindest darauf hindeuten zu wollen, daß auch hier bei einem „scheinbar" Bleibenden ein nichtbleibendes Moment vorhanden sein muß, gerade weil man von einem „Werden aus" spricht, bei dem das „aus" ein Zeichen für das nichtbleibende Moment darstellt. Eine Schwierigkeit, die mit diesem Modell des Werdens allerdings verbunden ist, besteht darin, daß es zunächst so scheint, als würde das nichtbleibende Moment der 'Ungestaltetheit' irgendwie an dem Erz vorhanden sein. Denn ebenso wie beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen die Form der Unbildung durch die Form der Bildung ersetzt wird, würde nun ja auch beim Werden einer Statue aus Erz die „Form" der Ungestaltetheit durch die Form der Statue ersetzt werden. Aristoteles wird in 190b27 von der στέρησις sagen, daß sie ein Akzidens (συμβεβηκός) an dem Zugrundeliegenden sei. Nun läßt sich zwar von der Krankheit sagen, daß sie eine Form an einem Zugrundeliegenden ist, denn auch wenn die Krankheit eine Privation der Gesundheit darstellt, so ist sie zugleich doch in dem Sinne 'mehr' als eine bloße Privation der Gesundheit, da sie für sich betrachtet eine (positive) Bestimmung darstellt, die an etwas sein kann. Analoges gilt für die Unbildung als Privation der Bildung. Demgegenüber erweist es sich jedoch als problematisch, von der bloßen Abwesenheit einer Form - wie dies bei der Ungestaltetheit des Erzes der Fall zu sein scheint - zu sagen, daß sie an etwas vorhanden sei: Statt „die Privation der Statueform ist an dem Erz vorhanden" würde man doch eher sagen „dem Erz fehlt die Statueform" bzw. „dem Erz mangelt es an der Statueform". Da Aristoteles aber der Auffassung ist, daß ein jeder Werdeprozeß mit Hilfe der allgemeinen Begriffe 'Form', 'Privation' und 'Stoff beschrieben werden kann, wobei er die στέρησις, welche ein An-sich-Nichtseiendes (καθ' αύτό μή öv) darstellt (191bl5-16), als ein Akzidens an dem Zugrundeliegenden bezeichnet, scheint er davon auszugehen, daß der Mangel der Statuenform an dem Erz irgendwie vorhanden ist. In welcher Weise ein An-sich-Nichtseiendes jedoch ein Akzidens an etwas sein kann, scheint zumindest fraglich zu sein. Würde man nicht eher sagen, daß die Krankheit zwar das 'Fehlen (στέρησις) bzw. die Abwesenheit (απουσία) der Gesundheit' ist, doch daß sie nicht als dieses „Fehlen bzw. als diese Abwesenheit der Gesundheit", sondern vielmehr als die für sich positiv bestimmte Krankheit an etwas ist? In bezug auf die Ungestaltetheit des Erzes stellt sich somit die Frage, ob sie in Analogie zur Unbildung, die eine für sich 'po-
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
sitiv' bestimmte Privation der Bildung darstellt, ebenfalls als eine für sich 'positiv' bestimmte Privation der 'Statuenform' anzusehen ist, oder ob sie nur den bloßen Mangel der 'Statuenform' meint. Wenn sie nur den bloßen Mangel der 'Statuenform' meint, so erweist es sich als problematisch, von diesem Mangel zu sagen, er sei ein Akzidens an einem Zugrundeliegenden. Wenn sie aber eine fiir sich 'positiv' bestimmte Privation der 'Statuenform' meint, so kann sie zwar ein Akzidens an einem Zugrundeliegenden darstellen, doch ergibt sich dann die Schwierigkeit, daß diese 'positiv' bestimmte Privation der 'Statuenform' anders als die Unbildung im Verhältnis zur Bildung nicht in einem konträren Gegensatzverhältnis zur Statuenform stehen kann, denn wir sahen ja bereits, daß die ούσία keinen konträren Gegensatz hat,50 so daß sich nun die Frage stellt, was bei diesem Werdeprozeß für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich ist.51 Aristoteles spricht in 190b 15 von der 'Ungestaltetheit' (άσχημοσύνη) des Erzes. Neben dem abstrakten Terminus „άσχημοσύνη" finden sich dort auch die Termini „αμορφία" und „αταξία". In Met. VII.7, 1033al3-16 bestimmt Aristoteles diese 'Ungestaltetheit' des Erzes als „undeutlich" (άδηλος) und „namenlos" (άνώνυμος). In bezug auf diese undeutliche und namenlose Ungestaltetheit stellt sich die Frage, ob es ontologisch gesehen diese 'positive' Bestimmung der στέρησις der 'Statuenform' zwar gibt und wir nur keinen Namen für diese Bestimmung haben, oder ob wir keinen Namen fiir diese 'positive' Bestimmung der στέρησις der 'Statuenform' haben, weil es ontologisch gesehen diese 'positive' Bestimmung der στέρησις der 'Statuenform' gar nicht gibt. In 191a6-7 sagt Aristoteles, daß es mitunter ausreiche, wenn eines der Gegensatzglieder durch seine Ab- und Anwesenheit (τη άπουσία και παρουσία) den Umschlag bewirke. Dies deutet daraufhin, daß die Ungestaltetheit des Erzes als bloße Abwesenheit der Statuenform verstanden werden kann. Nun werden wir in 190b5-17 jedoch sehen, daß sich fiir Aristoteles sprachlich eine Schwierigkeit mit dieser 'Ungestaltetheit' des Erzes ergibt, die durch folgende Überlegung verdeutlicht werden kann: Bei der in 190b 10-17 vorgelegten Differenzierung eines jeden Werdenden in seine konstitutiven Momente wird Aristoteles als Beispiel fiir das Moment eines άντικείμενον die Ungestaltetheit (άσχημοσύνη: bl5) anführen, mit der - wie aus dem nachfolgenden Beispiel des Erzes fiir ein ύποκείμενον deutlich wird - die Ungestaltetheit des Erzes gemeint ist, das noch nicht zur Statue geworden ist. Bereits in 1.5, 188b 19-20 hatte Aristoteles den gegenüberliegenden Zustand der Statue als 'Ungestaltetheit' (άσχημοσύνη) beIn 1.6, 189a32-33 sagte Aristoteles, daß eine ουσία nicht einer ουσία entgegengesetzt sei (vgl. ,,ετι ούκ εΐναί φαμεν ούσίαν έναντίαν ούσία"). Es wurde dort darauf hingewiesen, daß Aristoteles im Unterschied zu Κ at. 5, 3b24-25, Met. XIV. I, 1087b2-3 und Phys. V.2, 225b ΙΟΙ, wo es heißt, daß nichts der ούσία entgegengesetzt sei, in Phys. 1.6 in schwächerer Form nur sagt, daß nicht eine ούσία einer ούσία entgegengesetzt sei. Diese schwächere Behauptung findet ihren Grund nun darin, daß dem aristotelischen Modell des Werdens zufolge letztlich auch einer ούσία, wie z.B. der Statue etwas in Gestalt einer στέρησις entgegengesetzt sein muß, nur haben wir es hier nicht mit einem konträren Gegensatzverhältnis zu tun, und auch ist das der ούσία Entgegengesetzte, die στέρησις, in keiner Weise selbst eine ούσία (vgl. 1.9, 192a3-6). Wir werden sehen, daß nach Ansicht von Aristoteles die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden in diesem Falle des Erzes - für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich ist.
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zeichnet. Der in 190b 10-17 vorgelegten Differenzierung eines jeden Werdenden in seine konstitutiven Momente geht aber eine Analyse des Werdens der οΰσίαι aus einem ΰποκείμενον voraus (vgl. 190b 1-10), wo es heißen wird, daß eine Statue durch eine Umgestaltung wird (,,γίγνεται δέ τά γιγνόμενα άπλώς τά μέν μετασχηματίσει, οίον άνδριάς, ...": 190b5-6). Nun besagt das Wort „Umgestaltung" (μετασχημάτισις) jedoch, daß etwas, das bereits eine bestimmte Gestalt hat, eine andere Gestalt erhält, so daß diese 'Umgestaltung' zunächst insofern in einem Widerspruch zu der 'Ungestaltetheit' (άσχημοσΰνη) steht, von der dann in 190b 15 die Rede sein wird, als das Wort „Ungestaltetheit" ja daraufhindeutet, daß das Erz, bevor es die Gestalt der 'Statue' erhält, noch keine Gestalt hat. Wie aber soll etwas, daß keine Gestalt hat, umgestaltet werden können? Die Antwort kann hier nur lauten, daß auch der Klumpen Erz, aus dem die Statue werden soll, bereits eine bestimmte - gleichwohl undeutliche und namenlose - Gestalt hat und nicht vollkommen ungestaltet ist. Für sich selbst betrachtet hat auch der Klumpen Erz bereits eine Gestalt, die erst aus Sicht der gewordenen Statue als eine Ungestaltetheit (in bezug auf die Statue) bezeichnet werden kann. Da etwas nur in bezug auf etwas anderes und aus Sicht dieses anderen als Mangel und Privation dieses anderen bezeichnet werden kann, haben wir es somit nicht mit einer absoluten Ungestaltetheit in bezug auf das Erz zu tun, sondern eher mit einer relativen Ungestaltetheit in bezug auf die Statuenform. Ebenso wie ein Steinhaufen im Verhältnis zu einem Haus als Unordnung (αταξία) bezeichnet werden kann, läßt sich auch ein Klumpen Erz im Verhältnis zu einer Statue als ungestaltet bezeichnen. Wenn wir dieser Gestalt, die das Erz vor der Umformung zu einer Statue hat, den Namen der 'Klumpenhaftigkeit' geben, so wird diese Klumpenhaftigkeit beim Werden einer Statue aus Erz durch die Form der Statue ersetzt. Die Klumpenhaftigkeit, die zwar als Mangel der Statuenform beschrieben werden kann, ist jedoch genaugenommen nicht als dieser bloße Mangel oder als Abwesenheit der Statuenform, sondern vielmehr als Klumpenhaftigkeit an dem Erz.
7.3.2 Warum man den Satz „das Erz wird eine Statue" nicht sagen kann Aber auch bei den Bleibenden spricht man bisweilen genauso: Denn wir sagen, daß aus Erz eine Statue wird, und nicht, daß das Erz eine Statue wird [έκ γάρ χαλκού ανδριάντα γίγνεσθαι φαμεν, ού τόν χ α λ κ ό ν ανδριάντα], (1.7, 190a25-26)
Das Beispiel von der ehernen Statue, in bezug auf die Aristoteles zufolge nur gesagt werden kann „die Statue wird aus Erz" (vgl. ,,έκ χαλκού ανδριάντα γίγνεσθαι"), nicht aber „das Erz wird eine Statue" (vgl. „τόν χαλκόν άνδριάντα [γίγνεσθαι]"), hat in der Sekundärliteratur zu verschiedenen Interpretationen geführt. Bevor wir auf diese Interpretationen näher eingehen, sei zunächst auf folgendes hingewiesen: Es ist nicht eine Eigentümlichkeit des Erzes, daß hier nicht von einem „etwas Werden, sondern nur von einem „Werden aus" gesprochen werden kann. Denn Aristoteles hätte einerseits ja auch andere Materialien
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wie z.B. Gold oder Stein wählen können, für die analoge Werdeprozesse ausgewählt werden können, und andererseits läßt sich gleichwohl auch vom Erz ein „etwas Werden" aussagen, insofern das Erz z.B. rund, eckig oder rostig wird.52 Wenn ein Klumpen Erz rund wird, sagt man nämlich nicht, daß ein Rundes aus Erz wird, sondern man sagt, daß das Erz rund wird. Mit anderen Worten: Ebenso wie sich in bezug auf das Gebildetwerden eines Menschen nur sagen läßt „der Mensch wird ein Gebildeter", nicht aber „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" - wobei dies jedoch nicht bedeutet, daß es Aristoteles zufolge generell unmöglich ist, vom Menschen zu sagen, daß etwas aus ihm wird -,53 so läßt sich umgekehrt in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz nur sagen „die Statue wird aus Erz", nicht aber „das Erz wird eine Statue" - wobei dies umgekehrt ebenfalls nicht bedeutet, daß es generell unmöglich ist, vom Erz zu sagen, daß es etwas wird. Behauptet Aristoteles also, daß „man aber auch bei Bleibendem bisweilen genauso spricht", so meint er weniger, daß es einige Bleibende - wie z.B. Erz im Gegensatz zu Mensch - gibt, bei denen von einem 'Werden aus' gesprochen werden kann, sondern er scheint eher zu meinen, daß wir von demselben Bleibenden in dem einen Kontext sagen „es wird" (z.B. „das Erz wird rostig"), während wir in einem anderen Kontext sagen müssen „aus ihm wird" (z.B. „aus dem Erz wird eine Statue"). Es sind nicht die unterschiedlichen Dinge (Erz einerseits und Mensch andererseits), sondern vielmehr die unterschiedlichen Werdeprozesse (γένεσις einerseits und άλλοίωσις andererseits), die nach verschiedenen Beschreibungen eines Werdeprozesses verlangen und einen Grund dafür darstellen, daß wir mitunter auch in bezug auf ein Bleibendes von einem „Werden aus" sprechen. Zugleich sei auf folgendes hingewiesen: Wenn wir sagen „das Erz wird rostig", so wird von dem Erz ein „etwas Werden" prädiziert: Das Erz erscheint hier als das eigentlich Werdende, das etwas wird. Wenn wir aber sagen „aus dem Erz wird eine Statue", so wird von der Statue ein „Werden aus" prädiziert: Die Statue erscheint hier als das eigentlich Werdende, das aus etwas wird. Da der Ausdruck „Statue" Aristoteles zufolge insofern eine zweifache Bedeutung haben kann, als er sowohl (i) die 'bloße Form der Statue' als auch (ii) die 'konkrete Statue' (als ein aus Form und Stoff Zusammengesetztes) bezeichnen kann,54
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Vgl. Met. XII.3, 1070a3-4: ,,είς άπειρον οΰν εΐσιν, εί μή μόνον ό χαλκός γίγνεται στρογγυλός άλλα και τό στρογγΰλον ή ό χαλκός". So läßt sich in bezug auf den Menschen z.B. sagen „aus einem Menschen wird eine Leiche". In Entsprechung dazu läßt sich auch vom Wasser sagen „das Wasser wird rot", nicht aber „ein Rotes wird aus Wasser", wobei dies ebenfalls nicht bedeutet, daß es generell unmöglich ist, vom Wasser zu sagen, daß etwas aus ihm wird. Denn aus dem Wasser kann z.B. Luft werden. Zwar ist das von mir gewählte Beispiel des Werdens einer Leiche aus einem Menschen recht ungewöhnlich, doch habe ich nicht das naheliegende Beispiel des Werdens eines Menschen aus einem Menschen gewählt, da in diesem Falle das 'Werden aus' nicht die in unserem Abschnitt zugrunde gelegte Bedeutung eines 'Werdens aus einem Nichtbleibenden' hat. Beim Werden eines Menschen aus einem Menschen im Sinne der Zeugung ist vielmehr gemeint, daß durch einen Menschen ein Mensch entsteht. Vgl. Met. VI1I.3, 1043a29-37. Vgl. auch Furth (1987 b: 82): „In addition, I am taking it (2) that the form is a being or öv that is to be distinguished from the composite that it is form of, i.e., I think it is a serious mistake in Aristotelian metaphysics to identify the form with the formed thing (and likewise to identify the lack, στέρησις with the unformed thing), as is done in some
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stellt sich in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz zudem die Frage, worauf die Ausdrücke „Erz" und „Statue" hier jeweils referieren. Wir werden sehen, daß bei der Beschreibung eines Werdeprozesses durch den Satz „eine Statue wird aus Erz" mit „Statue" die konkrete Statue und mit „Erz" der konkrete Klumpen Erz gemeint ist. Aristoteles' Bemerkung, daß man in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz nur sagen kann „die Statue wird aus Erz", nicht aber „das Erz wird eine Statue", erweist sich insofern als ungewöhnlich, als z.B. im Deutschen keine Schwierigkeit darin zu sehen ist, diesen Werdeprozeß auch mit Hilfe solcher Sätze wie z.B. „das Erz wird eine Statue" und „das Erz wird zu einer Statue" zu beschreiben. Wir würden vermutlich sagen, daß wir je nachdem, welchen Aspekt wir bei der Beschreibung eines Werdens betonen wollen, entweder sagen „das Erz wird zur Statue" oder „eine Statue wird aus Erz".55 Vor diesem Hintergrund stellt sich somit zunächst die Frage, ob es eine Besonderheit der griechischen Sprache ist, daß man nicht sagen kann ,,ό χαλκός άνδριάς γίγνεται", oder ob Aristoteles hier vielmehr meint, daß es im Lichte der bis zu diesem Punkte der Untersuchung dargelegten Theorie unmöglich ist, zu sagen ,,ό χαλκός άνδριάς γίγνεται". Zwar bezieht sich Aristoteles in dem Kontext, in dem er auf die Unmöglichkeit des Sagens dieses Satzes hinweist, vor allem auf den griechischen Sprachgebrauch - vgl. das mehrfache Vorkommen des Ausdrucks „man sagt" bzw. „es wird gesagt" (λέγεται) in a22, 24, 27, 30 doch darf hierbei nicht übersehen werden, daß er gerade in bezug auf das Werden einer Statue aus Erz, das nicht durch den Satz „das Erz wird eine Statue", sondern nur durch den Satz „die Statue wird aus Erz" soll beschrieben werden können, nicht mehr in der unpersönlichen Form von einem „man sagt" oder „es wird gesagt" (λέγεται), sondern in der persönlichen Form von einem „wir sagen" bzw. „wir behaupten" („φαμεν": a25) spricht. Nun hat die Verwendung des Wortes „wir" bei Aristoteles durchaus eine mehrfache Bedeutung.56 So kann es in unserem Kontext entweder bedeuten „wir Griechen sagen ..." oder aber „ich, Aristoteles, sage". Nach Ansicht einiger Interpreten scheint hier mit dem Wort „wir" zunächst nur gemeint sein zu können, daß „wir Griechen in unserer Sprache sagen, daß ...", 57 da ja das Beispiel in a25-26 eine Begründung dafür darstellen soll, daß man bisweilen auch in bezug auf ein Bleibendes sagt (λέγεται: a24) „aus ihm wird
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recent discussions. I take seriously Aristotle's claim that form is a cause of the being that is the formed thing, and it must always pre-exist that which it forms, and that form itself does not come to be. If this be heresy, or alternatively schism, at least I am being explicit about it." Stellen wir uns einen Künstler in seinem Atelier vor, der von seinem Freund einen Klumpen Erz geschenkt bekam, aus dem er dann eine Statue bildete. Dieser Freund besucht ihn nun, schaut sich im Atelier um, kann den Klumpen Erz nicht finden und fragt den Künstler: „Wo ist der Klumpen Erz, den ich dir geschenkt habe?" Der Künstler wird antworten: „Der ist zu dieser Statue geworden". Andererseits kann der Freund, dem auffällt, daß eine neue Statue im Atelier steht, den Künstler auch fragen: „Wo kommt die Statue denn her?" Und der Künstler wird nun antworten: „Die ist aus deinem Klumpen Erz geworden." Zur Bedeutung des Wortes „wir" bei Aristoteles vgl. Waterlow (1982: 53): „As so often, it is not clear whether Aristotle means himself, or the consensus of philosophical opinion, or common sense, or all three." Vgl. Gill (1989: 101 f.) und Bröcker ( 4 1974: 55 f.).
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etwas". Angesichts dieser Interpretation drängt sich jedoch die Frage auf, warum man in der griechischen Sprache einen Satz wie ,,ό χ α λ κ ό ς άνδριάς γ ί γ ν ε τ α ι " nicht sagen kann: Why, however, do we not say »the bronze comes to be a statue«? Our sculptor when he asked what had happened to the bronze he had left could have been told that it had been made into a toasting fork. [...] »The bronze« then is a piece of bronze, and there seems no reason why we should not speak of this being made into a statue. (Jones, 1974: 484) Auch Code ( 1 9 7 6 b: 3 6 0 ) und Bostock (1982: 183, Fn.7) können keinen Grund sehen, warum man im Griechischen nicht ,,ό χ α λ κ ό ς άνδριάς γ ί γ ν ε τ α ι " sagen kann. Würde Aristoteles in a25-26 sagen, daß wir häufiger sagen „aus dem Erz wird eine Statue" als „das Erz wird eine Statue", so würden die Schwierigkeiten, die mit der Interpretation der von Aristoteles aufgestellten Behauptung verbunden sind, verschwinden. Doch davon, daß wir häufiger sagen „aus dem Erz wird eine Statue" als „das Erz wird eine Statue", ist in 190a25-26 keine Rede. Vielmehr heißt es dort eindeutig: „Wir sagen »aus dem Erz wird eine Statue«, und nicht »das Erz wird eine Statue«." Wenn aber kein Grund zu sehen ist, warum sich die Aussage ,,ό χ α λ κ ό ς άνδριάς γ ί γ ν ε τ α ι " in der griechischen Sprache als unmöglich erweist, so liegt die Vermutung nahe, daß Aristoteles mit dem Ausdruck ,,φαμεν" (a25) weniger auf den griechischen Sprachgebrauch („wir Griechen sagen . . . " ) referiert und vielmehr andeuten will, daß er hier in eigener Sache spricht. Wendet man nun zwar zu Recht ein, daß Aristoteles einen Sprachgebrauch im Griechischen, der darin besteht, daß man mitunter auch in bezug auf ein Bleibendes von einem „Werden aus" spricht (vgl. a24-25: ,,ού μην ά λ λ ά κ α ί έπί των υπομενόντων ένίοτε λ έ γ ε τ α ι ω σ α ύ τ ω ς " ) , nicht dadurch begründen kann, daß er darauf hinweist, wie man im Lichte seiner eigenen Theorie sprechen soll, so ist hierbei jedoch zu bedenken, daß zunächst nur begründet werden soll, daß man im Griechischen bisweilen auch in bezug auf ein Bleibendes von einem „Werden aus" spricht. Dies geschieht mit Hilfe des Beispiels, daß man doch in der griechischen Sprache sagen kann „aus dem Erz wird eine Statue". Wenn Aristoteles nun hinzufügt „wir sagen nicht »das Erz wird eine Statue«", so ist dies für die Begründung der Behauptung, daß man im Griechischen bisweilen auch in bezug auf ein Bleibendes von einem „Werden aus" spricht, nur von sekundärer Bedeutung, und Aristoteles bezieht sich hier nicht mehr auf den griechischen Sprachgebrauch, sondern vielmehr darauf, wie man im Lichte der bisher dargelegten Theorie nicht sprechen kann. Um hervorzuheben, daß er nun in eigener Sache spricht, verwendet Aristoteles auch nicht mehr den unpersönlichen Ausdruck „ λ έ γ ε τ α ι " („man sagt"), sondern den persönlichen Ausdruck ,,φαμεν", der primär die Bedeutung „wir behaupten/sagen" hat, in der eine persönliche Stellungnahme zum Ausdruck gebracht wird.58 Bevor ich nun darlege, Wirft man einen Blick auf die anderen Textstellen in Physik I, an denen Aristoteles den Ausdruck ,,φαμεν" in seinen unterschiedlichen grammatischen Formen verwendet, so wird deutlich, daß dort mit diesem Ausdruck in der dritten Person Singular oder Plural zumeist die persönliche Stellungnahme eines Sprechenden oder die Behauptung eines Vorgängers eingeleitet
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warum nach Ansicht von Aristoteles vor dem Hintergrund der bisher dargelegten Theorie nicht gesagt werden kann „das Erz wird eine Statue", soll zunächst jedoch auf die einzelnen Interpretationen eingegangen werden, die in bezug auf die Behauptung in 190a24-26 vorgelegt wurden. (1) Die Interpretation von Bröcker Gerade beim Werden im engeren Sinne, beim Entstehen der Wesen reden wir - wie die Griechen - anders. Wir sagen nicht: das Erz wird eine Bildsäule, sondern: aus Erz wird eine Bildsäule. A. vermerkt diese Ausnahme ohne sie zu interpretieren. Warum redet man hier anders? Wir sagen nicht: aus dem Menschen ist ein Gebildeter geworden, weil der Mensch als gebildeter noch wesentlich ist, was er war: ein Mensch. Aber aus dem Erz ist eine Bildsäule geworden: Hier war das, was jetzt die Wesensbestimmung des Seienden ausmacht, eine Bildsäule zu sein, vorher noch garnicht da. Was vorher das Wesentliche des Seienden war, Erz zu sein, das ist zwar noch da, aber es macht nicht mehr das Wesentliche aus: dieselbe Bildsäule könnte j a vielleicht auch aus einem andern Stoff gemacht sein. (Bröcker, 4 1974: 55 f.)
Auch wenn der von Bröcker angeführte Grund fur das Andersreden beim Werden im engeren Sinne aus Sicht der aristotelischen Theorie zutrifft, so bleibt an seiner Interpretation doch unverständlich, warum wir in unserem Sprachgebrauch wie die Griechen anders reden und nicht sagen „das Erz wird eine Bildsäule". (2) Die Interpretationen von Gill und Code Ebenso wie Bröcker ist auch Gill der Ansicht, daß der Ausdruck „wir sagen" (φάμεν: 190a25) nicht in dem Sinne zu verstehen ist, daß Aristoteles hier darauf hindeuten will, wie man im Lichte seiner Theorie sprechen soll. Vielmehr ist der Ausdruck „wir sagen" (φάμεν: 190a25) nach Ansicht von Gill in dem Sinne zu verstehen, daß Aristoteles hier darauf hindeuten will, daß man im Griechischen faktisch so spricht: Why should the conventional ways of describing the coming-to-be of a statue differ from those describing the coming-to-be of something musical? This question has exercised scholars, but the text does not demand an answer to this question. Aristotle does not say how one ought to speak in light of his own theory, but simply says this is how Greek speakers do sometimes (ένίοτε) speak (190a24-25); and he does not
wird (vgl. 1.2, 185a7; 185a32-33; 185bl7; 1.3, 187a6-7; 1.4, 187al7; 187a21; 1.5, 188a23; 1.6, 189b2; 189bl6; 1.7, 190a4-5; 1.8, 19la27). An folgenden Stellen verwendet Aristoteles den Ausdruck ,,φαμεν" in der 1. Pers. PI.: (1) 1.6, 189a32 („έτι οΰκ εΐναί φαμεν ούσίαν έγαντίαν ούσία·"): Aristoteles führt dort ein eigenes Theorem ein; (2) 1.7: 189b32-34 (,,φαμέν γάρ γίγνεσθαι" έξ άλλου άλλο και έξ ετέρου έτερον ή τά άπλα λέγοντες ή τα συγκείμενα. λέγω δέ τοϋτο ώδί."): Aristoteles führt seine beiden allgemeinen Formeln ein, wobei durch das nachfolgende „λέγω δέ τοΰτο ώδί" deutlich wird, daß er in eigener Sache spricht; (3) 1.8, 191bl3-14 („ημείς δέ και αύτοί φαμεν γίγνεσθαι μέν μηθέν απλώς έκ μή δντος, [...]"): Aristoteles spricht in eigener Sache und grenzt sich von den Eleaten ab; (4) 1.9, 192a3-4 (,,ήμεΐς μέν γάρ ϋλην και στέρησιν έτερον φαμεν είναι, [...]"): Aristoteles grenzt sich von Piaton ab; (5) 1.9, 192al6-19 (,,οντος γάρ τίνος θείου [.. .] κατά τήν αϋτοϋ φύσιν."): Aristoteles spricht in eigener Sache und grenzt sich von Piaton ab.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' here applaud or fault such ordinary practice. He is concerned, as he is throughout the chapter, with the number of principles, [...]. Even though the description of the production of a statue differs from the description of the coming-to-be of a musical man, the ύποκείμενον is still specified in the description, since people say »a statue comes to be from bronze,« even though they do not say »bronze comes to be a statue.« Aristotle can in fact explain why ordinary usage differs in cases of this sort, and an observation on Physics I. 5, that in some instances the opposed term is nameless (188bl0-l 1), suggests that he knows the reason in I. 7. People say that a statue comes to be »form bronze« rather than »from the unstatued« because Greek (like English) lacks names for the relevant privations. He explains the linguistic practice elsewhere but ignores the explanation here because the reason for the practice is not his present concern. (Gill, 1989: 101 f.)
Wenn Gill sagt „Aristotle does not say how one ought to speak in light of his own theory, but simply says this is how Greek speakers do sometimes (ένίοτε) speak (190a24-25)", so könnte man dies zunächst in dem Sinne verstehen, daß die Griechen manchmal sagen „aus dem Erz wird eine Statue", und nicht „das Erz wird eine Statue", wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß Gill dies nicht in diesem Sinne meint. Dies würde bedeuten, daß die Griechen manchmal statt „das Erz wird eine Statue" auch sagen „aus dem Erz wird eine Statue", so daß folglich beide Aussagen in der griechischen Sprache möglich wären und wir kein Problem mehr mit der Aussage hätten. Bedauerlicherweise sagt Aristoteles in 190a24-26 jedoch nicht, daß wir manchmal sagen „aus dem Erz wird eine Statue", und nicht „das Erz wird eine Statue", sondern er sagt, daß man manchmal auch bei einem Bleibenden von einem Werden aus spricht, welches er dadurch begründet, daß wir sagen „aus dem Erz wird eine Statue" und nicht „das Erz wird eine Statue". Code (1976 b: 360), der ebenso wie Jones keinen Grund dafür sehen kann, warum es unmöglich ist, zu sagen „das Erz wird eine Statue", löst die mit der Behauptung in a24-26 verbundene Schwierigkeit dadurch, daß Aristoteles seiner Ansicht zufolge an dieser Stelle meint, daß wir nicht nur sagen „das Erz wird eine Statue", sondern auch „die Statue wird aus Erz": (6) But this is not to say that we do sometimes talk this way about the things which persist, (7) for we [also] say that the statue comes to be from bronze, (8) not [the] bronze [comes to be a statue]. The problem with (8) is that it is apparently asserting that a certain locution is incorrect, and yet there seems to be nothing wrong with saying 'The bronze comes to be a statue'. [...] Nonetheless, (8) should not be read as saying that a certain locution is improper, but rather as telling us that (8') we do not only say that the bronze comes to be a statue, (7) for we [also] say that the statue comes to be from bronze. That the force of the 'not' in (8) is 'not only' can be seen by the following argument. The point about the word 'from' was actually first mentioned in an earlier passage (190a5-6) in this way: With some things, not only (οΰ μόνον) is it said that this comes to be, but also (άλλα καί) this [comes to be] from that.
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Diese Interpretation erweist sich jedoch aus zweierlei Gründen als problematisch: Einerseits hätte Aristoteles angesichts der von Code vorgeschlagenen Interpretation wohl ausdrücklich von einem „nicht nur" (ού μόνον) gesprochen, von dem in 190a25-26 jedoch keine Rede ist. Und andererseits ergibt sich mit der von Code vorgeschlagenen Interpretation insofern ein Widerspruch zum nachfolgenden Satz 190a26-29, als Aristoteles dort im Sinne einer Gegenüberstellung darauf hinweist, daß jedoch (μέντοι: a26) in bezug auf das Gegenüberliegende und Nichtbleibende beides (άμφοτέρως: a27) - d.h. sowohl „aus etwas wird etwas" wie auch „etwas wird etwas" - gesagt wird, woraus zu entnehmen ist, daß in bezug auf das Erz als Bleibendes gerade nicht beides gesagt wird. Im Unterschied zu Code ist Gill nicht der Ansicht, daß Aristoteles in 190a2526 sagt, daß in bezug auf das Erz beides gesagt werden kann. Gill ist der Überzeugung, daß sich Aristoteles hier auf den griechischen Sprachgebrauch bezieht, dem zufolge die Griechen nicht sagen „das Erz wird eine Statue" (vgl. „even though they do not say »bronze comes to be a statue.«"), wobei sie zudem darauf hinweist, daß Aristoteles fur diesen Sprachgebrauch eine Erklärung geben kann: Aristotle can in fact explain why ordinary usage differs in cases of this sort, and an observation on Physics I. 5, that in some instances the opposed term is nameless (188b 10-11), suggests that he knows the reason in I. 7. People say that a statue comes to be »form bronze« rather than »from the unstatued« because Greek (like English) lacks names for the relevant privations.
Schaut man jedoch genauer hin, so ist die von Gill angeführte Begründung keine Begründung dafür, daß man (a) im Griechischen statt des Satzes „das Erz wird eine Statue" den Satz „aus Erz wird eine Statue" sagt, sondern sie ist vielmehr eine Begründung dafür, daß man (b) statt des Satzes „aus dem Ungestalteten wird eine Statue" den Satz „aus dem Erz wird eine Statue" sagt. Diese Begründung, die darin besteht, daß es für die jeweilige Privation keinen Namen gibt, findet sich in Met. VII.7, 1033al3-18.59 In bezug auf Phys. 1.7, 190a25-26 suchen wir jedoch nicht eine Begründung für (b), sondern wir suchen vielmehr eine Begründung für (a). (3) Die Interpretation von Bostock Bostock (1982: 183, Fn.7) bemerkt zu dem von Aristoteles in 190a25-26 angeführten Beispiel folgendes: 190a25-6. This is a surprising statement, and I suspect a slip on Aristotle's part. Context demands that we take the Greek 'ό χ α λ κ ό ς άνδριάς έγένετο' in the sense 'the bronze became a statue', but I suspect that Aristotle has been distracted by its other reading 'the bronze statue came to be', and is objecting to this on the ground 59
Auch Charlton (1970: 74 f.) verweist in bezug auf Phys. 1.7, 190a25-26 auf Met. VII.7, 1033al 3-18: „In a24-6 Aristotle says that a thing is usually said to come to be out of the factor which does not remain, but sometimes out of the factor which does; for instance we say that a statue arises out of bronze, not that bronze becomes a statue. This is explained in Met. Ζ 1033al3-18 (cf. also Θ 1049al9-20) and most interestingly, perhaps, though the authority of the book is questionable, in Phys. VII: '[...]'."
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that the noun-form 'bronze' is inappropriate for use as an adjective, and should be changed to 'bronzen'. (Cf. e.g. Phys. 245b9-246a4; Met. 1049al8-b3.)
Nach Ansicht von Bostock wurde Aristoteles bei dem Satz „wir sagen nicht «das Erz wird eine Statue» [ού τον χαλκόν άνδριάντα]" von der anderslautenden Lesart „wir sagen nicht »die Erz-Statue entsteht«", gegen die er sich eigentlich zur Wehr setzen will, abgelenkt. Zwar ist auch Bostock der Ansicht, daß der Satz ,,ό χαλκός άνδριάς έγένετο" aufgrund des Kontextes im Sinne von „das Erz wurde eine Statue" zu verstehen ist, doch sieht Bostock in diesem Satz keine Schwierigkeit, so daß er davon ausgeht, daß Aristoteles hier von der anderslautenden Lesart „die Erz-Statue entsteht", in der sich die nominale Form „Erz" als ungeeignet erweist und durch die adjektivische Form „ehern" ersetzt werden sollte (vgl. Phys. VII.3, 245b9-246 a6; Met. VII.7, 1033a5-23; IX.7, 1049 al8b3), abgelenkt wurde. Mit anderen Worten: Bostock ist der Ansicht, daß Aristoteles hier eigentlich nicht den Satz „das Erz wird eine Statue", sondern vielmehr den Satz „die Erz-Statue entsteht" für unmöglich hält, an dessen Stelle korrekterweise gesagt werden müßte „die eherne Statue entsteht". Die Interpretation von Bostock erweist sich jedoch insofern als problematisch, als sie annimmt, daß Aristoteles hier etwas anderes sagt als er meint. Zwar kann sie in einem spekulativen Sinne auch eine Erklärung dieses 'scheinbaren' Versehens geben, doch sollte auf diese Interpretationsmöglichkeit nur dann zurückgegriffen werden, wenn keine andere Interpretationsmöglichkeit vorliegt. (4) Die Interpretation von Jones Bostock hat darauf hingewiesen, daß das Satzglied ,,οϋ τον χαλκόν άνδριάντα" (a25-26) aufgrund der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „γίγνεσθαι", der hier aus dem vorhergehenden Satzteil zu ergänzen ist, auf zweifache Weise verstanden werden kann: Entweder bedeutet es (i) „[wir sagen] nicht «das Erz wird eine Statue»", oder aber es bedeutet (ii) „[wir sagen] nicht «die Erz-Statue entsteht»". Obgleich Bostock der überwiegenden Zahl der Interpreten zustimmt, daß dem Kontext zufolge hier nur die Bedeutung (i) gemeint sein kann, weist er doch daraufhin, daß Aristoteles hier von der Bedeutung (ii) zumindest abgelenkt wurde. Jones ist nun der Ansicht, daß hier nur die Bedeutung (ii) gemeint sein kann, welches aus seiner Übersetzung von 190a25-26 - „ [ . . . ] for we say that »a statue« comes to be from bronze, not the »bronze statue« (ton chalkon andricmta)." (1974: 477) - deutlich wird. Die beiden Bedeutungen (i) und (ii) formuliert Jones (1974: 484) wie folgt: ((') (ii)
»We do not say that the bronze comes to be a statue.« »We do not say that the bronze statue comes to be.«
Jones begründet seine Entscheidung, daß in 190a25-26 nur die Bedeutung (ii) gemeint sein kann, im nachfolgenden Abschnitt wie folgt: (/) seems to have been adopted by all commentators. Why, however, do we not say »the bronze comes to be a statue«? Our sculptor when he asked what had happened to the bronze he had left could have been told that it had been made into a toasting
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fork. »The bronze« in (i) could either be the stuff bronze or else a particular piece o f it. If we took it the first way, Aristotle would be making the very sensible point that the stuff bronze does not turn into a statue; there is no such bizarre transmutation. Bronze stays bronze when the statue is made from bronze. Aristotle must be using »the bronze« in the second way, however. For it is an example o f what underlies (190016-17); it is a »this« and countable and one thing (190625-26, 191al2-13). »The bronze« then is a piece o f bronze, and there seems no reason why w e should not speak of this being made into a statue. (Jones, 1974: 484)
Jones weist daraufhin, daß „das Erz" in (i) entweder (a) den (bloßen) Stoff'Erz' (the stuff bronze) oder aber (b) einen konkreten Klumpen 'Erz' (a particular piece of it) meinen kann.60 Nimmt man nun - so Jones - an, daß hier im Sinne von (a) vom (bloßen) Stoff 'Erz' die Rede ist, so würde Aristoteles, in (i) die vernünftige Behauptung aufstellen, daß der Stoff 'Erz' sich nicht in eine Statue verwandelt, da dies die seltsame Transmutation von 'Stoff in Form' bedeuten würde. Jones zufolge muß Aristoteles hier jedoch 'Erz' im Sinne von (b) als einen konkreten Klumpen 'Erz' verstehen, da es ein Beispiel für etwas sein soll, was zugrunde liegt (190b 16-17), wobei dieses Zugrundeliegende nach 190b2526 und 191al2-13 immer ein konkretes Ding und ein zählbares 'Dieses' ist. Nehmen wir aber 'das Erz' als ein konkretes Stück 'Erz', so gibt es Jones zufolge keinen Grund, warum wir von diesem nicht sagen sollten, daß es eine Statue wird. Folglich kann hier nach Ansicht von Jones nur die Bedeutung (ii) zutreffen, der zufolge nicht gesagt werden kann „die Erz-Statue entsteht", weil man sagen muß „die eherne Statue entsteht". (5) Meine Interpretation Gegenüber der Interpretation von Jones soll nun jedoch deutlich gemacht werden, daß es fiir Aristoteles vor dem Hintergrund des bereits in Kapitel 1.7 Gesagten einen guten Grund gibt, warum er nicht sagen will „das Erz wird eine Statue". Im Gegensatz zu Jones sind sich - wie Jones selbst feststellt - alle anderen Interpreten darin einig, daß aus dem sprachlichen Kontext heraus nur die Bedeutung (i) gemeint sein kann. Sein Argument gegen die Bedeutung (i) besteht darin, daß aufgrund von 190b25-26 und 191al2-13 hier nur vom „Erz" im Sinne eines konkreten Stückes Erz die Rede sein kann, und er keinen Grund dafür sieht, warum man von diesem nicht soll sagen können, daß es eine Statue wird. Ebenso wie Jones bin auch ich der Ansicht, daß Aristoteles in 190a25-26 vom „Erz" im Sinne eines konkreten Klumpens (und nicht im Sinne eines bloß stofflichen Moments) spricht, wobei allerdings ergänzend hinzuzufügen ist, daß hier auch von der „Statue" nicht im Sinne der bloßen Form 'Statue', sondern im Sinne eines konkreten Dings, das eine Zusammensetzung von Form und Stoff Vgl. hierzu auch Apostle (1969), der zu seiner Übersetzung von 190a25-26 „[...], for we say »a statue comes to be from bronze« but not »bronze becomes a statue«" (S. 20) in einer Fußnote (S. 199, Fn.l 1) bemerkt: „Perhaps because »bronze« has two senses: (a) the matter without the form, and (b) the matter with the form which, unless nameable, is irregular; and when bronze is used in the latter sense, it is like saying that the musical man comes to be from the unmusical man, as stated later."
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darstellt, die Rede ist. Aristoteles hat nämlich bis zu diesem Punkt der Untersuchung zunächst konkrete Werdeprozesse beschrieben, bei denen noch nicht explizit zwischen den Momenten der Form und des Stoffs differenziert wurde. So wurde als Beispiel für das Zugrundeliegende in 190al3-19 auch noch der 'ungebildete Mensch' als ein konkretes Ganzes genannt, das Aristoteles zwar bereits in die Momente eines Bleibenden und eines Nichtbleibenden differenzierte, doch sind mit diesen Momenten noch nicht explizit die Momente von Stoff und Form gemeint. Wenn in 190a25-26 mit der Statue, die aus Erz wird, nur das konkrete Ding, nicht aber die bloße Form gemeint sein kann - denn die bloße Form unterliegt Aristoteles zufolge ja keinem Werden -, so kann meiner Ansicht zufolge für Aristoteles von dem Erz nicht gesagt werden, daß es eine Statue (als konkretes Ding) wird, da wir es hier im Gegensatz zum ungebildeten Menschen, der ein gebildeter Mensch wird, nicht mehr mit einer άλλοίωσις, sondern mit dem Entstehen (γένεσις) einer ουσία zu tun haben. Würden wir nämlich sagen „das Erz wird eine Statue" (ό χαλκός άνδριάς γίγνεταν), so erweckte dies den Anschein, als hätten wir es hier in Analogie zu dem Satz „der Mensch wird ein Gebildeter" (ό άνθρωπος μουσικός γίγνεται) aufgrund der sprachlichen Parallelität ebenfalls mit einer άλλοίωσις zu tun.61 Auch wenn das Werden einer Statue aus Erz ein Beispiel für ein substantielles Werden darstellt, so schließt dies zwar nicht aus, daß dieses substantielle Werden von einer άλλοίωσις begleitet wird (vgl. dazu auch 190b8-9), doch bedeutet dies für Aristoteles keineswegs, daß Entstehensprozesse Eigenschaftsveränderungen sind.62 Da wir es also in 190a25-26 mit dem Entstehen einer konkreten Statue zu tun haben, ist die Statue Aristoteles zufolge auch das eigentliche Subjekt, von dem hier ein „Werden" - nämlich ein „Werden aus" - zu prädizieren ist. Zwar ist auch das Erz bei diesem Prozeß ein Werdendes, doch können wir Aristoteles zufolge vom Erz nicht sagen „es wird eine Statue", da anders als bei solchen Sätzen wie „das Erz wird rund" und „das Erz wird rostig", wo von dem Erz eine akzidentelle Bestimmung ausgesagt wird, nun in dem Satz „das Erz wird eine Statue" eine substantielle Bestimmung ausgesagt würde. Dies ist für Aristoteles jedoch unmöglich, da die Statue als ουσία nicht von einem anderen ausgesagt wird, sondern sich vielmehr als dasjenige erweist, von dem alles andere ausgesagt wird (vgl. 190a35-bl: „[...] δια τό μόνην την οϋσίαν μηθενός κατ' άλλου λέγεσθαι υποκειμένου, τά δ' άλλα πάντα κατά της ουσίας"). 63 In Analogie zum „etwas-Sein" (z.B. „ein Mensch ist gebildet") scheint Aristoteles auch das „etwas-Werden" (z.B. „ein Mensch wird gebildet") als eine einfache Prädikation anzusehen. Beide Prädikationen - „ein Mensch ist gebildet" und „ein Mensch wird gebildet" - unterscheiden sich primär durch die inhaltliche Verschiedenheit Daß Aristoteles das Werden einer Statue aus Erz als Beispiel für das Entstehen einer ούσία versteht, wird spätestens in 190b 1-9 deutlich, wo das Werden einer Statue durch eine Umformung als Beispiel für das Werden einer ούσία aus einem Zugrundeliegenden angeführt wird. Vgl. Phys. VII.3, 246al-9 und 246bl0-17. Vgl. auch 1.3, 185a31-32.
Die unterschiedlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses
293
des Prädizierten voneinander. Wird einerseits von einem Menschen gesagt, daß er ein Gebildeter ist, so wird andererseits von einem Menschen gesagt wird, daß er ein Gebildetwerdender ist. Ebenso wie vom Erz der aristotelischen Prädikationstheorie zufolge nicht gesagt werden kann „das Erz ist eine Statue",64 kann von ihm auch nicht gesagt werden „das Erz wird eine Statue". Diese Interpretation entspricht dem Gedanken, daß es nicht unmittelbar am Erz (im Gegensatz zum Menschen), sondern vielmehr an der Art des Werdeprozesses - (a) „ein Mensch wird gebildet" und (b) „eine Statue wird aus Erz" - liegt, daß in bezug auf das Erz von einem „Werden aus" statt von einem „etwas Werden" gesprochen wird.65 Der Unterschied zwischen den Sätzen (a) und (b) besteht darin, daß die Statue in einem anderen Sinne aus Erz wird, als der Mensch gebildet wird, während die Statue entsteht, wird der Mensch gebildet. Während der Mensch bleibt und auch noch beim gebildeten Menschen die ούσία darstellt, bleibt das Erz zwar auch, stellt aber bei der Statue nicht die ούσία dar. Aus diesem Grunde wird die aus dem Erz gewordene Statue ja auch nicht als 'Erz', sondern nur noch als 'ehern' bezeichnet. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob es ein Kriterium gibt, an dem sich ablesen läßt, ob wir es bei einem bestimmten Werdeprozeß mit einem substantiellen Werden einer ούσία oder nur mit einer Eigenschaftsveränderung zu tun haben. Mit anderen Worten: Worin liegt das Unterscheidungskriterium dafür, daß 'Bildung' eine akzidentelle Form am Menschen darstellt, während 'Statue' eine substantielle Form am Erz darstellt? Zwar könnte man in einem ersten Versuch sagen, daß bei einer Eigenschaftsveränderung dasjenige, das eine Form erhält, ein Bleibendes darstellt, während dies beim substantiellen Werden nicht der Fall ist, doch wäre hier sogleich einzuwenden, daß ja auch das Erz - nach Aristoteles' eigenen Worten - ein Bleibendes beim Werden einer Statue aus Erz ist. In einem weiteren Schritt wäre dann allerdings darauf hinzuweisen, daß das Erz beim Werden einer Statue aus Erz ein anderes Bleibendes zu sein scheint als der Mensch beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen. Denn während wir den Menschen nach dem Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen weiterhin als Menschen ansprechen, scheint dies beim Erz nicht der Fall zu sein. Nach dem Werden einer Statue aus Erz sprechen wir von einer Statue, die nicht mehr „Erz", sondern nur noch in einer abgeleiteten Form „ehern" genannt wird. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieses sprachliche Kriterium, dem zufolge wir das Resultat des Werdens einer Statue aus Erz als „eherne Statue" bezeichnen, während wir das Resultat des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen nicht als „menschliche Bildung" bezeichnen, zur Unterscheidung von Eigenschaftsveränderungen und substantiellen Werdeprozessen ausreicht. Könnten 64
Nach Ansicht von Aristoteles kann nicht vom Erz gesagt werden, daß es eine Statue ist, sondern es muß vielmehr umgekehrt von der Statue gesagt werden, daß sie ehern ist. Gleichwohl wird in bezug auf Erz gewiß häufiger von einem „Werden aus" als z.B. in bezug auf den Menschen gesprochen. Denn „Erz" steht ja fllr einen Stoff, aus dem als aus einem 'Ungestalteten' und 'Unvollendeten' Aristoteles zufolge im Vergleich zum Menschen, der bereits ein 'Gestaltetes' und 'Vollendetes' ist, in gewisser Weise 'mehr' werden kann.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
wir dem Resultat des Werdens einer Statue aus Erz statt „eherne Statue" nicht ebensogut - in Analogie zum gebildeten Menschen - die Bezeichnung „statuegeformtes Erz" geben? Es ist doch nicht selbstverständlich, das Werden einer Statue aus Erz als ein substantielles Entstehen zu betrachten; aus Sicht des Erzes könnte man dieses Werden doch ebenfalls als eine Eigenschaftsveränderung verstehen. Aristoteles geht auf diese Fragen nicht näher ein. Vielmehr scheint er vorauszusetzen, daß jeweils klar ist, ob man es bei einem bestimmten Werdeprozeß mit einer Eigenschaftsveränderung oder mit dem substantiellen Entstehen einer ούσία zu tun hat. Im Sinne eines Unterscheidungskriteriums weist er einzig daraufhin, daß es ein Entstehen nur bei den ούσίαι gibt (vgl. 190a32-33). Dies leuchtet zunächst zwar insofern ein, als etwas, das entsteht, ja etwas Selbständiges sein muß, doch ist zugleich darauf hinzuweisen, daß Aristoteles diese Bemerkung insofern einschränkt, als er in bezug auf das Entstehen aus einem ύποκείμενον wenig später nicht nur von den ούσίαι, sondern auch von den anderen einfachen Seienden (vgl. „καν δσα ά λ λ α άπλώς δντα") spricht. Angesichts dieses Kriteriums, dem zufolge es ein Entstehen nur bei den ούσίαι (und den anderen einfachen Seienden) gibt, wissen wir dann zwar, daß wir es nicht mit einem Entstehen zu tun haben, wenn wir nicht vom Werden einer ούσία (oder eines anderen einfachen Seienden) sprechen, doch beim Werden einer ούσία (oder eines anderen einfachen Seienden) wissen wir immer noch nicht, ob wir es mit einem Entstehen oder mit einer Eigenschaftsveränderung zu tun haben, denn ein Klumpen Erz kann j a sowohl rund werden, als auch kann er zu einer Statue werden, wobei Aristoteles dieses als ein Entstehen und jenes als eine Eigenschaftsveränderung bezeichnen würde. Um jeweils entscheiden zu können, ob wir es bei einem bestimmten Werdeprozeß mit einer Eigenschaftsveränderung oder mit einem Entstehensprozeß zu tun haben, müssen wir wissen, ob wir es mit einer ούσία oder mit einem anderen einfachen Seienden zu tun haben, und wir müssen zudem wissen, ob das Zugrundeliegende bei diesem Werdeprozeß ein akzidentelles oder ein substantielles είδος aufnimmt. Als dies setzt allerdings ein Wissen dessen voraus, was die ούσία ist. Dieses Wissen scheinen wir in Physik Α jedoch noch nicht vollständig zu besitzen, denn sonst würde Aristoteles am Ende von Kapitel 1.7 wohl kaum in einer abschließenden Bemerkung sagen, daß noch nicht klar ist, ob das είδος oder das ύποκείμενον die ούσία ist. Aristoteles scheint vor diesem Hintergrund für seine Überlegungen bezüglich des Werdens zumindest mehr vorauszusetzen, als er ausdrücklich erwähnt. Zugleich ist mit der Frage nach dem Unterscheidungskriterium zwischen einer Eigenschaftsveränderung und einem Entstehensprozeß auch folgende Gefahr eines Zirkels verbunden: Einerseits wissen wir bei einem Werdeprozeß, ob wir es mit einem Entstehensprozeß oder mit einer Eigenschaftsveränderung zu tun haben, wenn wir wissen, ob bei diesem Werdeprozeß das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία des Gewordenen ist. So stellt bei der Eigenschaftsveränderung des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen das ύποκείμενον 'Mensch' die ούσία des Gewordenen ('gebildeter Mensch') dar, während beim Entstehen einer Statue aus Erz das είδος 'Statue' die ούσία beim
Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι"
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G e w o r d e n e n ('eherne Statue') darstellt. Andererseits s c h e i n e n wir aber u m g e kehrt nur z u w i s s e n , o b bei e i n e m W e r d e p r o z e ß das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν oder d a s ε ί δ ο ς d i e ο υ σ ί α darstellt, w e n n wir w i s s e n , o b wir es bei d i e s e m W e r d e p r o z e ß mit einer Eigenschaftsveränderung oder mit e i n e m Entstehen zu tun haben. D e n n w e n n wir v o n vornherein das W e r d e n einer Statue aus Erz als eine Eigenschaftsveränderung verstünden, deren Resultat nicht d i e „eherne Statue", sondern das „statuegeformte Erz" ist, s o wäre j a auch hier das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν 'Erz' d i e ο ύ σ ί α d e s G e w o r d e n e n . U m dieser Gefahr e i n e s Zirkels z u entgehen, m u ß Aristoteles in einer z u v o r zugrunde g e l e g t e n O n t o l o g i e bereits f e s t g e l e g t haben, w a s die ο ύ σ ί α ist. Hier m u ß er z u g l e i c h e i n e Erklärung dafür g e b e n , warum die Statue mehr als das Erz e i n e ο ύ σ ί α ist, w e l c h e s er in Physik Α j e d o c h nicht ausführt.
7.4 Die zweifache
Bedeutung
von „ γίγνεσθαι"
(190a31-b9)
Weil aber »werden« auf mehrfache Weise gesagt wird, und weil man von den einen nicht sagen kann »es wird« [γίγνεσθαι], sondern »es wird ein solches« [τόδε τι γ ί γ νεσθαι], 6 6 und weil nur die οΰσίαι einfach werden [απλώς γίγνεσθαι], so ist bezüglich der anderen Bestimmungen offenkundig, daß notwendig etwas Werdendes zugrunde liegt [δτι α ν ά γ κ η ύποκεΐσθαί τι τό γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν ] (denn ein Quantitatives [ποσόν], ein Qualitatives [ποιόν], ein Relatives [προς έτερον], ein Irgendwann [ποτέ] 6 7 und ein Irgendwo [πού] werden an einem Zugrundeliegenden [γίγνεται υποκειμένου τινός] wegen der Tatsache, daß allein die ο ύ σ ί α von keinem anderen Zugrundeliegenden ausgesagt wird, während alles andere aber von der ο ύ σ ί α ausgesagt wird). Daß aber auch die ούσίαι und die [anderen] einfachen Seienden [και ό σ α [ α λ λ α ] άπλώς δντα] aus einem Zugrundeliegenden werden, dürfte für einen, der genau hinsieht, offenkundig werden. Denn immer ist da schon etwas, was zugrunde liegt, aus dem das Werdende [wird], wie z.B. die Pflanzen und Sinnenwesen aus einem Samen. Die einfach Werdenden werden teils durch Umformung [μετασχηματίσει], z.B. eine Statue, teils durch Hinzufügung [προσθέσει], z.B. die Dinge, die wachsen, teils durch Fortnehmen [αφαιρέσει], z.B. die Hennesfigur aus dem Stein, teils durch Zusammenfügung [συνθέσει], z.B. ein Haus, teils durch Ei-
Zur Übersetzung des Ausdrucks „τόδε τι γίγνεσθαι" vgl. auch Bostock (1982: 185, Fn.8) und Jones (1974: 479, Fn.12), die das „τι" als Subjekt und das „τόδε" als sein Komplement verstehen: „etwas [τι] wird ein So-beschaffenes [τόδε]". Das „καϊ ποτέ" ist von Philoponus und Themistius eingeklammert worden. Diese Athetierung findet sich auch bei Ross (1936: 492), Gill (1989: 102) und Bostock (1982: 191). Als Begründung für die Athetierung wird darauf verwiesen, daß Eigenschaften in der Zeit - z.B. 'gebildet' zum Zeitpunkt ti an Sokrates und 'gebildet' zu einem späteren Zeitpunkt t2 an Sokrates - keine Veränderungsform darstellen. Zekl (1988: 264, Fn.I7) bemerkt in bezug auf Phys. V.l, 225b6, wo sich das „και ποτέ" ebenfalls findet: „ A b g e s e h e n davon, daß einige Handschriften das nicht bieten und Simplikios es auch nicht vorgefunden hat, ist es auch aus sachlichen Gründen auszuschließen: Bei 224 a35 und in der Zeitabhandlung Δ lOff. ist Zeit eine Grundbedingung der Möglichkeit von Veränderung, kann also nicht als deren mögliche Art auftreten (es geht bei solcher Liste nicht um bloßen kategorialen Schematismus); [...]." Wagner (1967: 427), der demgegenüber das „και ποτέ" in 1.7, 190a35 stehen läßt, weist allerdings darauf hin, daß, wenn man den Ausdruck „καϊ ποτέ" deshalb einklammert, weil ihm kein eigener Veränderungsprozeß zuzuordnen ist, aus demselben Grunde auch das „προς ετερον" einzuklammern wäre (vgl. Phys. V.2, 225bl 1 ff.; 226a23 f.). Vielleicht wird hier durch die explizite Nennung des „καϊ ποτέ" auch bereits eine gewisse logische Unabhängigkeit des Werdens von der Zeit angedeutet (vgl. dazu meine Ausführungen in Kapitel 7.4.4).
296
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
genschaftsveränderung [αλλοιώσει], z.B. die Dinge, die sich bezüglich ihres Stoffes wandeln. Es ist aber offenkundig, daß alles so Werdende aus Zugrundeliegenden wird. (1.7, 190a31-bl0) Da Aristoteles seine eigene Theorie, die für ein jedes Werdende gültig sein soll, mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Vollständigkeit formulieren will,68 und da er zunächst mit dem Beispiel einer άλλοίωσις („gebildeter Mensch"), das stellvertretend fiir jedes Werdende eingeführt wurde, begonnen hat, während sich andererseits bereits anhand des Beispiels der aus Erz werdenden Statue zeigte, daß es verschiedene Werdeprozesse gibt, beginnt Aristoteles nun in 190a31 f. systematisch zwischen diesen Werdeprozessen zu differenzieren. Als Kriterium der Unterscheidung dient ihm seine Kategorienlehre, auf die bereits in den vorangegangenen Kapiteln mehrfach Bezug genommen wurde. „Werden", so Aristoteles, zählt zu den Ausdrücken, die auf mehrfache Weise gesagt werden (vgl. ,,πολλαχώς δέ λεγομένου τοΰ γίγνεσθαι": 190a31). Die verschiedenen Arten des Werdens, auf deren Vorhandensein bereits in 190a2122 mit Hilfe der Formeln »aus etwas wird etwas« (εκ τίνος γίγνεσθαι τι) und »etwas wird ein solches« (τόδε γίγνεσθαι τι) hingedeutet wurde, 69 werden in 190a31-32 in zwei Klassen unterteilt: (i) „ein solches werden" („τόδε τι γ ί γ νεσθαι") und (ii) „(einfach) werden" („γίγνεσθαι" bzw. ,,άπλώς γίγνεσθαι"). Während von einem (i) „(einfachen) Werden" nur in bezug auf die Kategorie der ο υ σ ί α gesprochen werden kann, gilt für die anderen Kategorien, daß ihnen immer schon etwas als ein Werdendes zugrunde liegt. In bezug auf letztere kann nicht von einem „(einfachen) Werden", sondern nur von einem „ein solches Werden" gesprochen werden. Die Behauptung, daß von einem „(einfachen) Werden" nur in bezug auf die Kategorie der ο υ σ ί α gesprochen werden kann, bedeutet umgekehrt jedoch nicht, daß von den ούσίαι nur ein „(einfaches) Werden" - und nicht auch ein „ein solches Werden" - ausgesagt werden kann. Denn wir sahen ja, daß vom 'Menschen' durchaus gesagt werden kann, daß er ein Gebildeter wird. In Abbildung 7.3 werden die einzelnen Differenzierungen, die Aristoteles bezüglich des Werdens in 190a31-b9 vornimmt, systematisch zusammengestellt:
68
Vgl. die wiederholte Rede vom „gesamten Werden" bzw. von Jedem Werdenden" in 189b30, 190al3, 190b9, 190bll, 190b20. Das Vorhandensein verschiedener Werdeprozesse deutete sich dadurch an, daß mit beiden Formeln zwar oft ein und derselbe Werdeprozeß beschrieben werden kann - so kann z.B. für den Ausdruck „ein ungebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch" auch „ein gebildeter Mensch wird aus einem ungebildeten Menschen" gesagt werden -, daß mitunter jedoch nur eine der beiden Formeln für einen bestimmten Werdeprozeß zutrifft, während die andere nicht zutrifft. Dies zeigte sich sowohl bei dem Satz „ein Mensch wird ein Gebildeter", der sich nicht in „ein Gebildeter wird aus einem Mensch" umformulieren läßt, als auch bei dem Satz „eine Statue wird aus Erz", der sich nicht in „Erz wird eine Statue" umformulieren läßt.
Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι" Abb. 7.3: Die mehrfachen
Bedeutungen
des „
297
Werdens"
Werden
(einfach^ Werden
ein solches Werden
([άπλώς] γίγνεσθαι)
(τόδε τι γίγνεσθαι)
[nur ousiai]
[alle Kategorien]
lis is)
{prosthesis) (aphairesis)
[Statue]
[Wachsen- [Hermesfigur des] aus Stein]
(synthesis) [Haus]
(alloiosis) [Was sich in seinem Stoff wandelt]
Die von Aristoteles an anderer Stelle (vgl. Phys. III. 1) herausgestellten vier Arten der Bewegung (κίνησις) - nämlich (1) „Eigenschaftsveränderung" (άλλοίωσις), (2) „Entstehen und Vergehen" (γένεσις και φθορά), (3) „Wachsen und Schwinden" (αύξησις και φθίσις) und (4) „Ortsveränderung" (φορά) - finden sich auch in diesem Schema wieder, obgleich sie nicht explizit als solche hervorgehoben werden. Sie werden hier unter die beiden Grundklassen (i) „(άπλώς) γίγνεσθαι" und (ii) „τόδε τι γίγνεσθαι" subsumiert, wobei für das (2) „Entstehen und Vergehen" gilt, daß es nur bei den ούσίαι vorkommen kann. Die (1) „Eigenschaftsveränderung", das (3) „Wachsen und Schwinden" und die (4) „Ortsveränderung" fallen hingegen einerseits zwar - wie die Aufzählung der Kategorien von ποσόν, ποιόν, προς ετερον, ποτέ und πού in 190a34-35 deutlich macht - unter die Bestimmung „τόδε τι γίγνεσθαι", andererseits sagt Aristoteles jedoch in bezug auf das 'einfache Werden' der ούσίαι, daß die sich in ihrem Stoff wandelnden Dinge z.B. durch eine Eigenschaftsveränderung (vgl. ,,άλλοιώσει": 190b8-9), bzw. daß die wachsenden Dinge durch ein Hinzutun (vgl. „προσθέσει": 190 b6-7) entstehen. Der Gedanke, daß beim Entstehen einer ούσία auch eine Eigenschaftsveränderung beteiligt sein kann und sich die verschiedenen Arten des Werdens nicht gegenseitig ausschließen, sondern mitunter gar bedingen, wird von Aristoteles hier jedoch nur angedeutet und nicht weiter thematisiert.70 Morrow (1969: 160 f.) deutet den Umstand des Entstehens einer ουσία durch eine άλλοίωσις in 190b5-9 dahingehend, daß Aristoteles hier den Unterschied zwischen άλλοίωσις und γένεσις, der ihm sonst so wichtig ist, zu ignorieren scheint: „It should not surprise us therefore to find that Aristotle himself sometimes ignores this distinction [zwischen άλλοίωσις und γένεσις] that elsewhere he regards as fundamental. We find him actually asserting in Physics I (!90b5-9) that γίγνεσθαι άπλώς can occur by άλλοίωσις. [...] It is tempting to think that here we have Aristotle's earlier view, before he had confined himself within the strait-jacket of the classification later expounded in Physics V, and when he could still look upon all change alike in accordance with the principles he develops in Physics I, as a change of properties in a
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
In Analogie zum Begriff des 'Seins' (είναι), bei dem zwischen einem „etwas Sein" und einem „(einfachen) Sein" (im Sinne von 'Existieren') unterschieden werden kann, kann auch in bezug auf den Begriff des 'Werdens' (γίγνεσθαι) zwischen einem „etwas Werden" (τόδε τι γίγνεσθαι) und einem „(einfachen) Werden" (im Sinne von 'entstehen': απλώς γίγνεσθαι) differenziert werden.71 Abb. 7.4: Die Kategorien der δντα und die zweifache Bedeutung von „ ουσία nicht-ούσία
ά π λ ώ ς γίγνεσθαι „Eine Statue entsteht." „Ein Lebewesen entsteht." 0
γίγνεσθαι"
τόδε τι γίγνεσθαι „Ein Mensch wird ein Gebildeter/ gebildet." „Ein Ungebildeter wird ein Gebildeter."
Die Funktion des Abschnitts 190a31 -b 10 besteht nun allgemein gesprochen darin, daß gezeigt werden soll, daß - wie es in der sich anschließenden Konklusion heißt - einem jeden Werdenden etwas als ΰποκείμενον zugrunde liegt. Gibt es für die ούσίαι, die entstehen, immer ein Zugrundeliegendes, aus dem sie werden, so gilt für die anderen Bestimmungen, daß ihrem Werden immer etwas zugrunde liegt, an dem sie werden.
7.4.1 Das 'etwas Werden' (τόδε τι γίγνεσθαι) Aristoteles weist in 190a31 f. daraufhin, daß in bezug auf einiges nur gesagt werden kann „es wird ein solches", nicht aber „es wird", da letzteres nur von den ούσίαι gesagt werden kann. So läßt sich z.B. von einem 'Gebildeten' als Beispiel für ein Qualitatives (ποιόν) nicht sagen „er wird" (im Sinne von „er entsteht"). Ebenso läßt sich auch von einem 'Ungebildeten' nicht sagen „er wird", sondern nur „er (der Ungebildete) wird ein Gebildeter". Vom 'Menschen' hingegen läßt sich sowohl sagen „er wird" (z.B. „ein Mensch entsteht") als auch „er wird ein solcher" (z.B. „ein Mensch wird ein Gebildeter"). In bezug auf die anderen Kategorien (vgl. „κατά μεν τάλλα": 190a33), die keine ουσία sind, gilt, daß ihnen notwendigerweise ein bestimmtes Werdendes (τι τό γιγνόμενον: 190 a34) zugrunde liegt. Aristoteles begründet dies wie folgt, wobei ich die verknüpfenden Partikel zur Verdeutlichung der Struktur dieser komplexen Argumentation hervorhebe: discernible underlying substratum." Hierbei ist jedoch zu beachten, daß Aristoteles auch in Physik I deutlich zwischen einer άλλοίωσις und einer γένεσις unterscheidet. Wenn er in 190b5-9 sagt, daß sich die Dinge, die sich in ihrem Stoff wandeln, durch eine άλλοίωσις entstehen, so wird auch hier nicht die γένεσις mit einer άλλοίωσις gleichgesetzt. Vielmehr wird die Ursache oder das auslösende Moment einer γένεσις in einer άλλοίωσις gesehen (vgl. dazu auch Phys. VII.3, 246al-9). Zur Unterscheidung zwischen einer 'kopulativen' und 'existentiellen' Bedeutung des Wortes „werden" bei Aristoteles vgl. auch Solmsen (1960. 80), Williams (1985: 74 f.) und FitzGerald (1963:61).
Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι"
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W e i l [i] aber »werden« auf mehrfache Weise gesagt wird, und w e i l [ii] man von den einen nicht sagt »es wird«, sondern »es wird ein solches«, w e i l [iii] nur die ousiai einfach werden, s o i s t bezüglich der anderen [Kategorien] k l a r , daß notwendigerweise etwas Werdendes zugrunde liegt ( d e n n [iv] ein poson, poion, pros heteron, pote und pou wird an einem Zugrundeliegenden, w e g e n [v] der Tatsache, daß nur die ousia von keinem anderen Zugrundeliegenden ausgesagt wird, während alles andere von der ousia ausgesagt wird). (1.7, 190a31-bl) Da also (i) „Werden" sowohl Entstehen als auch etwas Werden bedeuten kann, und da (ii) bei den anderen Kategorien nur von einem 'etwas Werden' die Rede ist (denn (iii) 'entstehen' können nur die ούσίαι), und da zudem (iv) den anderen Kategorien die Kategorie der ουσία zugrunde liegt (denn (v) nur die ουσία wird von keinem anderen Zugrundeliegenden ausgesagt; vielmehr wird alles andere von der ούσία gesagt), so ist klar, daß den anderen Kategorien etwas Werdendes (nämlich die ουσία) zugrunde liegt, an der sie werden. Mit anderen Worten: Weil die anderen Kategorien nicht selbständig sind und nur an einem anderen vorkommen, können sie auch nicht selbständig werden, sondern nur als an einem anderen vorkommend. 72 Was bei der Eigenschaftsveränderung eines ungebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen nun jedoch das eigentlich Werdende ist, wird nicht eindeutig gesagt: Denn es heißt ja einerseits in bezug auf das ποιόν, daß es an einem Zugrundeliegenden wird (vgl. ,,γίγνεται υποκειμένου τινός": 190a35), während Aristoteles andererseits auch das Zugrundeliegende als ein Werdendes (τι τό γιγνόμενον: 190a34) bezeichnet.73 Diese Mehrdeutigkeit des 'Werdenden' (γιγνόμενον) erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß das 'Werden' (γίγνεσθαι) auf mehrfache Weise gesagt wird. Diese Mehrdeutigkeit des Begriffs des „Werdenden" (γιγνόμενον) deutete sich bereits in 190a 1-5 an, wo Aristoteles die beiden Relationsglieder eines Werdeprozesses zunächst als das „Werdende" (τό γιγνόμενον) und als das, „was [es] wird" (δ γίγνεται), bezeichnete. In 190bl 1-12 wird Aristoteles jedes Werdende (τό γιγνόμενον απαν: bl 1) als ein Zusammengesetztes (σύνθετον) bestimmen, das sich einerseits aus 'etwas Werdendem' (τι γιγνόμενον: b l 2 ) und andererseits aus 'etwas, was dieses (Werdende) wird' (τι δ τοΰτο γίγνεται: bl2), zusammensetzt. Hierbei muß jedoch das in bl 1 als ein Zusammengesetztes vorgestellte Werdende insofern von dem Werdenden in b l 2 unterschieden sein, als letzteres nur ein Glied des zusammengesetzten Werdenden (bl 1) sein soll.
72
Das υποκείμενον, von dem in 190a34 in Gestalt des Ausdrucks ,,ύποκεΐσθαι τι τό γιγνόμενον" die Rede ist, ist zwar ebenso wie in 190al5 (vgl. ,,ύποκεΐσθαι τό γιγνόμενον") immer noch das Subjekt einer Werdeprädikation, doch ist es nicht mehr (wie noch in 190al5 f.) der 'ungebildete Mensch' als ein der Art nach Zweiheitliches, sondern nur noch die ούσία 'Mensch' als ein der Art nach Einheitliches. Dies erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß ja auch 'ungebildet' - ebenso wie 'gebildet' - eine Bestimmung an 'Mensch' ist. Vgl. dazu auch Met. V.30, 1025a28-29: „Denn das Akzidens ist geworden und ist, aber nicht insofern es selbst, sondern insofern etwas anderes ist; [...]." (Übers, nach Bonitz).
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' 7.4.2 Das 'einfache Werden' ( ά π λ ώ ς γ ί γ ν ε σ θ α ι )
Hat Aristoteles bezüglich der anderen Kategorien gezeigt, daß bei diesen notwendigerweise ein Werdendes zugrunde liegen muß, an dem sie werden, so geht es ihm in bezug auf die ο ύ σ ί α ι um den Nachweis, daß auch bei diesen, die selbst nicht von einem anderen ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν ausgesagt werden, weil sie selbst das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν für anderes darstellen (z.B. „Mensch" für „gebildet"), dennoch von einem ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν gesprochen werden kann, nämlich von einem ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν , aus dem sie werden. Hierzu bedarf es jedoch eines Beobachters, der „genau hinsieht" (vgl. ,,έπισκοποΰντι": b3). Dieser genau Hinsehende ist, w i e Guzzoni (1975: 50) zu Recht bemerkt,, jetzt nicht mehr der auf den Sprachgebrauch Achtende (vgl. 1 9 0 a l 4 ) . " Denn würde er nur auf den Sprachgebrauch achten, so würde ihm aus dem Satz „eine Statue entsteht" nicht klar, daß auch hier ein ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν vorhanden ist. 74 Zwar kann, dasjenige woraus eine Statue entsteht, bei der sprachlichen Formulierung dieses Werdens unberücksichtigt bleiben, wenn man sagt „eine Statue entsteht", doch bedeutet dies nicht, daß damit auch ontologisch gesehen eine Statue gleichsam aus dem Nichts entstünde. Denn wenn man genau hinschaut, wird auch die Statue immer schon aus etwas, z.B. aus Erz. Aristoteles gibt den Vorgängern somit in dem Punkte Recht, daß auch seiner Ansicht nach ein Werden aus einem absoluten Nichts unmöglich ist. 75 Aristoteles sagt j e d o c h nicht nur in bezug auf die „ούσίαι", sondern auch in bezug auf die „[anderen] einfachen Seienden [ δ σ α [ ά λ λ α ] ά π λ ώ ς όντα]" (b2),
Owens (1967: 205 f.) ist der Ansicht, daß mit Ausnahme der Kategorie der ουσία bei allen anderen Kategorien das Subjekt des Wechsels beobachtbar ist: „This essential notion of change is reached from the changes that are observed in the accidental categories, like change from place to place, from size to size, from color to color. But the analysis of the notion establishes it as a general concept that will hold wherever change is found, regardless of the particular category. It is accordingly applied by Aristotle in the category of substance. In all other categories the subject of the change is observable. You can see the man who changes from uneducated to educated. You can touch the bronze that is cast from a nondescript form into a statue. You can handle the wood that is made into a bed. But with change in the category of substance you cannot observe the subject that changes, even in principle. This means that you cannot observe the subject changing. Change in the category of substance is accordingly not observable, even in principle." Owens versteht das Werden einer Statue aus Erz jedoch nicht als ein substantielles Werden, sondern als eine άλλοίωσις. Dies findet seinen Grund darin, daß Owens der Ansicht ist, Aristoteles spreche in Physik I von einer πρώτη ΰλη. Vgl. dazu Cook (1989: 109 f.): „It is typical of prime matter interpretations of Aristotle to deny non-natural things (and, in particular, artifacts) the status of substances. Also typically, in order to support this denial such interpretations do not rely simply on Aristotle's somewhat explicit denials of substantial status to artifacts in Metaphysics (see, e. g., 1041b28-30 and 1043bl8-23). Instead, they emphasize the alleged failure of the coming-to-be of artifacts to meet Aristotle's criteria for unqualified coming-to-be. On this view, the coming-to-be of an artifact is seen as a qualified coming-to-be, a mere alteration, or a coming-to-be of a new quality, and artifacts are seen as accidental unities." Demgegenüber betrachtet Aristoteles das Werden einer Statue aus Erz in Physik I meines Erachtens als einen substantiellen Entstehensprozeß (vgl. auch Cook, 1989: 114 f., Fn.19). Versteht Owens das Werden einer Statue aus Erz als Eigenschaftswechsel, so ist seiner Ansicht nach das Subjekt des Werdens beim Entstehen einer ούσία deshalb nicht beobachtbar, weil dieses Subjekt die πρώτη ΰλη ist. 75
Vgl. auch 1.8, 191bl3-15.
Die zweifache Bedeutung von „ γ ί γ ν ε σ θ α ι "
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daß sie a u s e i n e m ΰ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν werden. 7 6 Einige Interpreten sprechen sich dafür aus, den in d e n Handschriften z u findenden Ausdruck , , α λ λ α " in b 2 z u athetieren. D e n n würde m a n d i e s e n Ausdruck nicht athetieren, s o würde die R e d e v o n d e n „ ο ύ σ ί α ι und d e n anderen einfachen S e i e n d e n " implizieren, daß auch d i e ο ύ σ ί α ι z u d e n ' e i n f a c h e n S e i e n d e n ' z u zählen wären. D e m g e g e n ü b e r w e i s e n d i e s e Interpreten j e d o c h darauf hin, daß Aristoteles für g e w ö h n l i c h eher die E l e m e n t e als d i e ο ύ σ ί α ι als B e i s p i e l e für ein 'einfaches S e i e n d e s ' anführt. 7 7 G u z z o n i ist h i n g e g e n der Ansicht, daß der Ausdruck , , α λ λ α " in b2 nicht z u athetieren ist: Die folgenden Zeilen (190 b 1-9) scheinen, worauf vor allem Wagner (ad. loc. S.428) hinweist, allen sonstigen Aussagen des Aristoteles über das Werden der einfachen Substanz zu widersprechen. Dieser Anschein schwindet jedoch, wenn wir das δ σ α α λ λ α ά π λ ώ ς δ ν τ α in b2 ernst nehmen. Es zeigt sich dann, daß Aristoteles einen gewissen Unterschied macht zwischen ousiai im strengen Sinne und anderem, das zwar keine eigentliche ousia, gleichwohl aber einfach, d.h. nicht a η anderem, sondern selbständig ist. Noch an einer anderen Stelle macht Aristoteles einen derartigen Unterschied, nämlich in Met. Η 2, 1043 a4 ff.; dort spricht er von solchem, was der ousia analog sei, ohne selbst eine ousia zu sein. Vergleichen wir die beiden Stellen, so zeigt sich eine auffallende Ähnlichkeit der hier wie dort gewählten Beispiele. Vor allem aber: genauso wie hier in Phys. A 7 geht es in Met. Η 2 darum, an diesem, was selbst gar nicht im eigentlichen Sinne ousia ist, etwas zu verdeutlichen, was der ousia selbst eigen sein soll. Das Überraschende liegt in beiden Kapiteln darin, daß das eidos, die ε ν έ ρ γ ε ι α als σ ύ ν θ ε σ ι ς , μίξις, τ ά ξ ι ς , σ χ ή μ α usw. bezeichnet wird, also nicht als ousia, sondern als eine gewisse Qualität. Der Grund, warum Aristoteles an beiden Stellen von solchem ausgeht, was nicht im strengen Sinne ousia ist, nämlich δ σ α μ ή φ ύ σ ε ι σ υ ν έ σ τ η κ ε ν (Met. Η 3, 1043 b22), scheint uns darin zu liegen, daß es in beiden Fällen gerade darauf ankommt, die Zusammengesetztheit des Seienden aus einer zugrundeliegenden hyle und einem deren Teile zu einheitlicher Gestalt synthetisierenden eidos aufzuweisen. Am Werden eines physei on eine zugrundeliegende hyle gegenüber dem formenden eidos abzugrenzen, bedeutet dagegen bereits spekulative Interpretation, entspringt nicht mehr einem schlichten Hinsehen auf das Phänomen. (Guzzoni, 1975: 50 f.) G u z z o n i w e i s t darauf hin, daß es Aristoteles hier darum geht, durch etwas, das nicht im e i g e n t l i c h e n Sinne eine ο υ σ ί α darstellt, g l e i c h w o h l aber in A n a l o g i e
77
An diesem Satz fällt auf, daß Aristoteles sagt, daß auch (καί: 190b 1) die ούσίαι und die anderen einfachen Seienden aus einem ΰποκείμενον (έξ υποκειμένου τινός) werden, womit impliziert ist, daß die anderen Kategorien, die keine ούσίαι sind, ebenfalls aus einem ΰποκείμενον werden. Von diesen anderen Kategorien hieß es zuvor aber, daß sie an einem ΰποκείμενον (γίγνεται ύποκειμένου τινός: 190a35), und nicht, daß sie aus einem ΰποκείμενον werden. Eine Erklärung für diese Unstimmigkeit ist vermutlich darin zu sehen, daß Aristoteles hier in seiner sprachlichen Formulierung nicht ganz präzise ist und nur darauf hinweisen will, daß ebenso wie bei den anderen Bestimmungen auch für das Werden der ούσίαι ein ΰποκείμενον vorausgesetzt werden muß. In diesem Sinne umschreibt Ross (1936: 345) den Satz I90bl-2 wie folgt: „But the generation even of substance presupposes a substratum; [...]." Ross (1936: 492) ist unter Bezugnahme auf Themistius der Ansicht, daß mit den 'einfachen Seienden' die substanzähnlichen Elemente und Teile der Substanzen gemeint sind. Demgegenüber ist Pacius der Ansicht, daß Aristoteles sich hier mit den 'einfachen Seienden' vor allem auf die technischen Dingen bezieht, die im folgenden ja auch als Beispiele angeführt werden, und in bezug auf die Aristoteles an anderer Stelle (vgl. Met. VIII.3, 1043b21-23) die Frage stellt, ob sie überhaupt zu den ούσίαι zu zählen sind.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
zur ούσία ein Einfaches im Sinne eines Selbständigen darstellt, das nicht an anderem vorkommt, etwas zu verdeutlichen, was der ούσία selbst eigen sein soll: nämlich „die Zusammengesetztheit des Seienden aus einer zugrundeliegenden hyle und einem deren Teile zu einheitlicher Gestalt synthetisierenden eidos". Daß die ούσία in diesem Sinne durchaus als ein 'einfaches Seiendes' verstanden werden kann, wird zudem daraus ersichtlich, daß im Unterschied zum 'gebildeten Menschen' solche ούσίαι wie 'Statue' und 'Mensch' ja auch sprachlich gesehen zunächst als 'einfache Seiende' erscheinen, deren Zusammengesetztheit es analog zu der Zusammengesetztheit des gebildeten Menschen erst aufzuzeigen gilt. In einem engeren Sinne sind mit den άπλώς δντα neben den ούσίαι die einfachen Stoffe gemeint; seien dies Stoffe wie z.B. Erz und Gold, oder noch grundlegendere Stoffe wie z.B. die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Daß diese Stoffe neben den ούσίαι als einfache Seiende - und nicht ebenfalls als ούσίαι - eingeführt werden, findet seinen Grund wohl darin, daß die Stoffe und Elemente Aristoteles zufolge ja nur „nahe bei der ούσία und irgendwie ούσία" sind (vgl. 1.9, 192a6).78 Wenn Aristoteles in 190a32-33 zunächst sagt, daß nur in bezug auf die ούσίαι von einem 'einfachen Werden' gesprochen werden kann (vgl. „άπλώς δέ γίγνεσθαι των ούσιών μόνον"), so scheint er sich in 190b 1-2 nun dahingehend zu korrigieren, daß auch von anderen einfachen Seienden ein 'einfaches Werden' gesagt werden kann. Daß in diesem Zusammenhang eigentlich auch die Stoffe und Elemente erwähnt und behandelt werden müssen, auf welche Aristoteles hier mit dem Ausdruck „άπλώς δντα" zu verweisen scheint, wird aus folgender Überlegung deutlich: Die Stoffe und Elemente zählen weder zu den eigentlichen ούσίαι noch zu den anderen in 190a34-35 angeführten Kategorien. Denn von den eigentlichen ούσίαι unterscheiden sie sich insofern, als sie nur „irgendwie und beinahe ούσίαι" sind; von den anderen Kategorien unterscheiden sie sich jedoch insofern, als sie selbständig sind. Zugleich aber erfahren auch diese Stoffe ebenfalls Veränderungen und können entstehen oder vergehen. Soll also die Konklusion in 190b9-l 1 über ein jedes Werdende (τό γιγνόμενον απαν: bl 1) handeln, so ist auch in bezug auf die einfachen Stoffe und Elemente zu zeigen, daß sie aus einem Zugrundeliegenden werden. In bezug auf das Beispiel der aus Erz werdenden Statue bedeutet dies somit folgendes: Es ist nicht nur in bezug auf die Statue zu zeigen, daß sie aus einem ύποκείμενον (nämlich aus Erz) wird, sondern auch in bezug auf das Erz wäre zu zeigen, daß es, wenn es entsteht, ebenfalls aus einem ύποκείμενον wird. Denn nur auf diese Weise ist es möglich, das ύποκείμενον als letztes gemeinsames Glied eines jeden Werdenden, aus dem es wird, zu bestimmen, wodurch ein Regressus ad infinitum in bezug auf das 'Werden aus etwas' vermieden werden kann. Obgleich Aristoteles hier in bezug auf das Erz selbst nicht explizit zeigt, daß es, wenn es entsteht, ebenfalls aus einem ύποκείμενον wird, ist der aufgezeigte Gedankengang durch die Erwähnung Die Bezeichnung der Stoffe und Elemente als 'einfache Seiende' bzw. als 'einfache Körper' findet sich bei Aristoteles auch an anderen Stellen seines Werkes (vgl. Phys. II. 1, 192bl0-l I).
Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι"
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der άπλώς οντα neben den ούσίαι doch zumindest impliziert. Mit dem Hinweis, daß sich 'einige Dinge durch eine Eigenschaftsveränderung in ihrem Stoff wandeln' (190b8-9), soll vermutlich vor allem das Werden der Stoffe und Elemente auseinander - wie z.B. das Werden von Luft aus Wasser, von dem bereits in 1.4, 188al6-17 die Rede war - umfaßt werden. Innerhalb der Sekundärliteratur sind jedoch verschiedene Vorschläge gemacht worden, welche konkreten Beispiele Aristoteles mit den „sich in ihrem Stoff wandelnden Dingen", die durch eine άλλοίωσις entstehen (190b8-9), im Sinn haben könnte: (i) So bezeichnen Hardie/Gaye (1930) das Werden von Luft aus Wasser in 1.4, 188a 16-17 zwar als „change of quality" (dies tut auch Ross (1936: 486 f.)), doch führen sie dieses Beispiel in bezug auf 1.7, 190b8-9 nicht an. Sie interpretieren die ersten vier Weisen des Werdens (190b5-8) - (a) durch Umformung, (b) durch Hinzutun, (c) durch Wegnehmen und (d) durch Zusammenfügung - als Fälle einer künstlichen Produktion, während sie die fünfte Weise - (e) durch άλλοίωσις - in dem Sinne verstehen, daß mit ihr sowohl Qualitätswechsel (wie z.B. das Sauerwerden der Milch) als auch Substanzwechsel (wie z.B. das Werden von Wasser zu Wein oder das Werden der καταμήνια zu einem Menschen) gemeint sind, die vermutlich von einer άλλοίωσις begleitet werden. 79 (ii) Nach Ansicht von Ross (1936: 493) beschreiben die ersten vier Weisen des Werdens demgegenüber einen Wechsel durch lokale Bewegungen der materiellen Teile, während die fünfte Weise nicht nur einen Wechsel durch lokale Bewegungen der materiellen Teile, sondern auch einen Wechsel bezüglich der Materie selbst beschreibt. Ross weist darauf hin, daß das Wort ,,τρέπεσθαι" (vgl. ,,τρεπόμενα": b9) für gewöhnlich für den Prozeß des Sauerwerdens von Wein und für den Prozeß der Verwandlung von Sekreten in Körpergewebe verwendet wird, (iii) Charlton (1970: 75) weist in bezug auf 190b8-9 - unter Bezugnahme auf De gen. et corr. 1.4, 319b21 -31 - hingegen auch auf den Wechsel von Wasser zu Luft hin, bei dem es einerseits Qualitäten gibt, die nicht bleiben (z.B. feucht-trocken), während es andererseits Qualitäten gibt, die bleiben (z.B. transparent und kalt), (iv) Wieland greift zwar in bezug auf 190b8-9 das von Ross angeführte Beispiel des Sauerwerdens von Wein („Wein wird zu Essig") auf, doch erinnert er zugleich daran, daß man hier nicht nur an das Beispiel des Werdens von Wein zu Essig zu denken habe, sondern vor allem auch daran, daß Aristoteles zufolge ja die Elemente ebenfalls auseinander werden: Man muß hier nicht nur an das Beispiel des aus Wein entstehenden Essigs denken, sondern vor allem auch daran, daß nach Aristoteles ja auch die Elemente auseinander entstehen. In diesem Sinne kann dann das eine Element gleichsam das Material für das andere sein, z.B. Wasser für Luft: τό μέν ϋδωρ ϋ λ η άέρος (Phys. Δ 5, 213 a2, vgl. auch 319 b 14 ff.). (Wieland, 1962: 125, Fn.15)
Wenn man bedenkt, daß das Werden durch ein Hinzutun, wie es bei den Dingen vorkommt, die wachsen (vgl. ,,τά δέ προσθέσει, οίον χά αυξανόμενα"), auch fllr die Naturdinge von Bedeutung ist, erweist sich die These, daß die ersten vier Weisen des Werdens als Weisen einer künstlichen Produktion zu verstehen sind (vgl. Hardie/Gaye, 1930: Fn 2: „The first four modes are cases of artificial production."), als problematisch.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Ich schließe mich der Auffassung von Wieland, der zufolge hier in einem weiteren Sinne auch das Werden der Elemente auseinander (wie z.B. das Werden von Luft aus Wasser) gemeint ist, aus dem Grunde an, da das Werden von Luft aus Wasser, von dem bereits in 1.4, 1 8 8 a l 6 - 1 7 gesprochen wurde, hier j a insofern nicht unerwähnt bleiben darf, als Aristoteles in der nachfolgenden Konklusion 190b 10-13 doch über ein jedes Werdende sprechen will und muß, sofern die allen Werdenden gemeinsamen Prinzipien gefunden werden sollen. Diese für die Konklusion geforderte Vollständigkeit der Werdenden ergibt sich einerseits aus der in 190a31-bl dargelegten Diairesis der Kategorien (ούσία, ποσόν, ποιόν, προς έτερον, ποτέ und πού) in bezug auf das Werden und andererseits aus der in 190 b5-9 angeführten weiteren Diairesis der Werdeprozesse einer ο ύ σ ί α und der anderen einfachen Seienden, bei der vom Werden ( 1 ) durch Umformung, (2) durch Hinzutun, (3) durch Wegnehmen, (4) durch Zusammensetzung und (5) durch Eigenschaftsveränderung die Rede ist. Durch diese beiden Gliederungen sind auch die vier grundlegenden, aristotelischen Arten der Bewegung - die 'Eigenschaftsveränderung', das 'Entstehen und Vergehen', das 'Wachsen und Schwinden' und die Ortsveränderung' - mitumfaßt. 80 Das für die υ π ο κ ε ί μ ε ν α einer Eigenschaftsveränderung wie auch eines substantiellen Werdens gemeinsame Moment scheint nun zunächst darin zu bestehen, daß die υποκείμενα jeweils ein Aufnehmendes für eine Form (είδος) darstellen, wobei sich die Formen jedoch voneinander unterscheiden: Während bei der Eigenschaftsveränderung von einem ungebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen der 'Mensch' das ύποκείμενον für die akzidentelle Form der Bildung darstellt, stellt beim substantiellen Werden einer Statue aus Erz das 'Erz' das ύποκείμενον für die substantielle Form der Statue dar.
7.4.3 Ist das ύποκείμενον ein Bleibendes? - Das Problem des Samens In bezug auf das Entstehen einer ο ύ σ ί α aus einem ύποκείμενον führt Aristoteles das Beispiel des Werdens der Pflanzen und Sinnenwesen aus Samen (έκ σπέρματος: 190b4-5) an. Freeland (1987: 3 9 2 ff.) hat dieses Beispiel jedoch kritisiert und vorgeschlagen, daß Aristoteles hier besser anstelle des Werdens der ζ ώ α aus dem Samen davon gesprochen hätte, daß die ζ ώ α aus dem Blut (καταμήνια) werden. Unter „Blut" (καταμήνια) haben wir hier das Menstruationsblut zu verstehen, das Aristoteles zufolge beim Entstehen eines ζώον das
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Angesichts der in !90b5-9 angeführten fünf verschiedenen Arten eines substantiellen Werdens stellt sich die Frage, unter welche Art des Werdens das Werden eines Lebewesens aus σπέρμα einzuordnen wäre. Vermutlich haben wir es Aristoteles zufolge bei diesem Entstehensprozeß mit verschiedenen Arten des Werdens (z.B. sowohl mit einer Eigenschaftsveränderung wie auch mit dem Wachsen und einer Umformung) zugleich zu tun; vgl. auch Phys. VII.3, 246a3 ff.; 246bl4 und De gen. et corr. 1.4, 319b25, wo Aristoteles davon spricht, daß verschiedene Werdeprozesse gleichzeitig in einem ablaufen können.
Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι"
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den Samen aufnehmende Moment darstellt.81 Freeland begründet ihre Kritik wie folgt: Im Gegensatz zum Werden einer Statue aus Erz, bei der das Erz ein Bleibendes darstellt, bleibt der Same, aus dem ein ζωον wird, nicht. Wenn man aber davon ausgeht, daß bei jedem Werdeprozeß ein Bleibendes vorhanden ist - und dies nimmt Freeland als gesicherte Erkenntnis aus den in Kapitel 1.7 angeführten Überlegungen an -, 82 so stellt sich beim Werden der ζώα die Frage, was hier die Funktion des Bleibenden übernimmt. But what exists before a person, duck, or oak tree comes to be is an embryo, egg, or acorn (cf. Ph. 1.7 190b3-5) - and these surely do not remain in the finished creatures as their matter. (Freeland, 1987: 392) Da in bezug auf die Statue das Erz sowohl Materie für als auch Materie von Statue ist, während dies in bezug auf den Samen nicht gilt - denn der Same ist ja nur Materie für, nicht aber Materie von einem ζωον -, hätte Aristoteles Freeland zufolge besser von „Blut" gesprochen, da das Blut (καταμήνια) bei diesem Werdeprozeß ja sowohl das Bleibende als auch dasjenige, was vor dem Werdeprozeß existierte, darstellt. Denn im Unterschied zum Samen kann Blut sowohl als Materie für wie auch als Materie von ζωον fungieren:83 We can see, then, how this matter - blood, in the human case - provides a parallel to the bronze which is both matter for and of the statue, and provides a better answer to question (1) [What is the matter for and of - the persisting substratum of - a human being or another organic creature?] than candidates heretofore considered, embryos or flesh-and-bones. The latter do not come before the substance, as blood does; and the former, I have shown, are stages of processes, and not materials. (Freeland, 1987: 407) Freeland führt ferner aus: In fact, according to Aristotle blood does play a unique and pre-eminent role in the construction of human bodies. It is the material underlying all other human matter. Blood is called 'the final form of food' (PA II.3 650a34-5) and also 'the material out of which the whole body is constructed' (III.5 668al ff.; cf. 651al5). [...] Blood is potentially bone, flesh, and so on. [...] In sum, we can identify a sort of halfway candidate for human matter; blood, unlike flesh and bones, exists before there is an actual human infant, but also, unlike the embryo itself, persists in the infant and adult as part of, and the basis for, their material parts. (Freeland, 1987: 401 f.) Im Gegensatz zu Freeland sieht Gill (1989: 103), die wie Freeland zwar ebenfalls davon ausgeht, daß es Aristoteles zufolge bei jedem Werden ein Bleibendes
82
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Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß das Nomen „καταμήνια" ('Menstruationsblut') sprachlich mit dem Verb ,,καταμένειν" ('dableiben', 'ausharren', 'verweilen') zusammenhangt, so daß hier bereits in der Sprache angedeutet ware, daß wir es in bezug auf den Ausdruck „καταμήνια" - im Unterschied zu „σπέρμα" - mit einem Bleibenden zu tun hatten. Vgl. S. 392: „In Physics I. 7 Aristotle tells us that in any change some underlying thing or substratum persists, and it is easy to see that the bronze persists when a statue is molded, the gold continues in the bangle, etc." Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob das Modell von Materie und Form, das in bezug auf solche technische Dinge wie z.B. Statuen sehr gut zu funktionieren scheint, bei organischen Geschöpfen und lebendigen Dingen vielleicht weniger angemessen ist.
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gibt, jedoch kein Problem darin, daß ein ζώον aus Samen wird. Gill weist darauf hin, daß ja bereits beim 'ungebildeten Menschen' deutlich wurde, daß es von der Art der Beschreibung abhängt, ob das Bleibende oder Nichtbleibende thematisiert wird. Zwar sagt Aristoteles nicht, daß der Same überlebt, doch bedeutet dies Gill zufolge umgekehrt nicht, daß nichts an dem Samen überlebt. Denn der Same kann doch auch als ein aus einem ύποκείμενον und einem Gegensatz 'Zusammengesetztes' verstanden werden, in dem es etwas gibt, das bleibt.84 Nun kann der Ausdruck „σπέρμα" - wie bereits von anderen Interpreten hervorgehoben wurde - ein Zweifaches bezeichnen: „σπέρμα" meint entweder (a) den bloßen Samen (im Sinne einer Bewegungsursache) oder (b) das Embryo als eine Entwicklungsstufe des Menschen.85 Im Gegensatz zu einigen der bereits erwähnten Interpreten, die der Ansicht sind, daß hier von σπέρμα im Sinne eines 'Embryos' die Rede sei,86 schließe ich mich der Ansicht von Happ an, der unter „σπέρμα" hier den männlichen Samen versteht, der als Träger des είδος und als causa efficiens einen Gegensatz zur καταμήνια darstellt:87 [ . . . ] Man kann noch hinzufügen, daß σπέρμα als Beispiel für das ύποκείμενον (έξ οΰ) von Tieren und Pflanzen (b3-5) der Erklärung Schwierigkeiten bietet: Denn bei den Tieren ist nach Aristoteles der männliche Same (σπέρμα) Träger des είδος und causa efficiens, als Substrat dient das Menstruationsblut ( κ α τ α μ ή ν ι α ) des weiblichen Tieres; bei den Pflanzen hat der Same dieselbe Funktion, während die Rolle des Substrats von der Erde übernommen wird, welche den Samen aufnimmt und umgibt (vgl. u. S. 792 A. 567, auch u. 8.246). Nun kann bei den Tieren auch das weibliche Menstruationsblut als das Pendant zum männlichen Samen gelegentlich und meist wohl nur in Referaten von anderen Lehren, die Aristoteles ablehnt, selbst σπέρμα heißen (Bonitz 691 b40-58; vgl. aber auch ib. 58 ff), aber es ist mißlich, hier an zentraler Stelle Aristoteles eine so unspezifische Verwendungsweise des Wortes zuschreiben zu müssen (vgl. indes καθόλου usw. an der berüchtigten Stelle in α 1), und auf Pflanzen ist nicht einmal diese Erklärungsmöglichkeit anwendbar (vgl. Bonitz 690 a 58-691 a 17). Die Versuche der antiken Erklärer (z.B. Simplic. 213, 14 f zu σπέρμα) helfen auch nicht weiter. Non liquet. (Happ, 1971: 283 f., Fn.20)
Meines Erachtens spricht Aristoteles in 190b4-5 nun aus folgendem Grunde vom „Werden eines ζφον aus σπέρμα", und nicht vom „Werden eines ζωον aus
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Vgl. auch Irwin (1988: 515, Fn.26), der zu dem mit diesem Beispiel entstandenen Konflikt, ob etwas bleibt oder nicht bleibt, folgendes bemerkt: „Aristotle seems to believe (i) that the organism comes to be from the seed, (ii) that the seed is the matter, (iii) that the organism comes to be from the matter, (iv) that the seed does not persist, and (v) that the matter persists, 192a31-2, 193al0 (enhuparchein). But these need not conflict. For (ii) may apply to the seed as a stage of the continuous thing that is the matter of the organism, and in that case (iv) is no objection to (iii) and (v)." Vgl. auch Code (1976 b: 364). Das Wort „σπέρμα" meint nach Ansicht von Jones (1974: 488) bei Lebewesen das Embryo und bei Pflanzen den Samen, aus denen ('from which') als substantielle Individuen und als Materie die Pflanzen und Lebewesen werden. Nach Ansicht von Code (1976 b: 364) habe man das Embryo als Mangel zu verstehen, weshalb hier dann von einem Werden aus dem Mangel als substratum des Werdens die Rede sei. Aristoteles sagt hier ja sowohl von den Sinnenwesen als auch von den Pflanzen, daß sie aus einem σπέρμα werden. Da aber in bezug auf die Pflanzen wohl kaum von einem „Embryo" gesprochen werden kann, ist die gemeinsame Bedeutung des Ausdrucks „σπέρμα " hier darin zu sehen, daß ein Same gemeint ist.
D i e zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι"
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κ α τ α μ ή ν ι α " bzw. vom „Werden eines ζφον aus Fleisch und Knochen". Es wurde bereits - vor allem in bezug auf die aristotelische Auseinandersetzung mit Anaxagoras - darauf hingewiesen, daß Aristoteles der Ansicht ist, daß ein theoretisches Erklärungsmodell der Werdeprozesse nicht dazu fuhren darf, daß letztlich Beliebiges zu Beliebigem wird, da dies eine Erkenntnis der Werdeprozesse unmöglich machen würde. Dieser Gedanke scheint mir auch bei der Wahl des Beispiels in 190b4-5 im Hintergrund zu stehen. Denn die ' κ α τ α μ ή ν ι α ' ist doch - ebenso wie 'Fleisch und Knochen' - aus aristotelischer Sicht mit dem Nachteil verbunden, daß aus ihr letztlich Beliebiges werden kann. Allein durch die Bestimmtheit des Samens (σπέρμα) wird Aristoteles zufolge gewährleistet, daß aus einer befruchteten Eizelle auch nur bestimmte Lebewesen werden können. Beim Werden eines Lebewesen fungiert Aristoteles zufolge das σπέρμα - und nicht die κ α τ α μ ή ν ι α - als Ursache der Bestimmung: 88 [ . . . ] (Denn nicht etwas, was sich gerade zufällig so ergibt, entsteht aus dem Samen eines jeden, sondern aus diesem so-beschaffenen [Samen] ein Ölbaum, aber aus diesem so-beschaffenen [Samen] ein Mensch) [ού γ α ρ δ τι έ τ υ χ ε ν έκ του σ π έ ρ μ α τ ο ς έ κ α σ τ ο υ γ ί γ ν ε τ α ι , ά λ λ ' έκ μ έ ν τοΰ τοιουδί έ λ α ι α έκ δέ του τοιουδϊ άνθρωπος] [...]. (Phys. II. 5, 196 a31-33)
Angesichts der Tatsache, daß Aristoteles den in Kapitel 1.5 entwickelten Gedanken, daß die konträren Gegensätze als Ursachen der Bestimmtheit fungieren, in Kapitel 1.7 aus dem Grunde modifizieren muß, weil die ούσίαι keine konträren Gegensätze haben, und da somit die Bestimmtheit des Entstehens einer ο υ σ ί α nicht mit Hilfe von konträren Gegensätzen erklärt werden kann, wird deutlich, daß auch das ύποκείμενον, aus dem die ο ύ σ ί α wird, für die Bestimmtheit des Werdens einer ούσία mitverantwortlich sein muß. Wenn nämlich das ύποκείμενον, das bei einem Werdeprozeß eine Form aufnehmen soll, von sich aus gänzlich unbestimmt wäre, und wenn somit nur die Form die Bestimmtheit mit sich bringen würde, so könnte letztlich doch wieder Beliebiges aus Beliebigem werden, da diesem Modell zufolge dann j a eine jede Form insofern einem jeden ύποκείμενον zukommen könnte, als die ύποκείμενα, die in diesem Modell als Aufnehmendes der Formen gleichsam 'leere Gefäße' darstellen würden, nicht voneinander unterschieden wären. Demgegenüber ist Aristoteles jedoch der Ansicht, daß in Analogie zur Statue, die nicht aus jedem, sondern nur aus bestimmten Materialien werden kann, auch ein Mensch nicht aus jedem, sondern nur aus einem bestimmten σπέρμα werden kann. 89 Zudem ist auch folgendes zu bedenken: Freeland geht in ihrer Kritik des aristotelischen Beispiels davon aus, daß als eine gesicherte Erkenntnis aus den bisher in Kapitel 1.7 angeführten Überlegungen Aristoteles zufolge anzunehmen ist, daß bei jedem Werdeprozeß ein Bleibendes vorhanden sein muß. Dies fuhrt sie
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In Met. VIII.4, 1044a32-b3 wird die καταμήνια als Stoffiirsache und das σπέρμα als Bewegungsursache des Menschen angeführt. Dieser Differenzierung zwischen dem σπέρμα als aktive und der καταμήνια als passive Ursache begegnen wir auch in Phys. II.3, 195a21, De gen. an. 1.22, 730b5-32 und Met. XII.6, 1071b29-31. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Phys. II.8, 199613-26.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des W e r d e n s '
letztlich zu ihrer These, daß Aristoteles den Ausdruck „σπέρμα" besser durch den Ausdruck „καταμήνια" ersetzt hätte. Auch wenn man Freeland gegenüber zugesteht, daß Aristoteles für einen jeden Werdeprozeß vermutlich ein Bleibendes voraussetzt, so ist doch zu beachten, daß dies filr Aristoteles in 190b3-5 offenkundig nicht im Vordergrund steht. Die Rede von einem „Bleibenden" (ύπομένον) begegnete uns zunächst in 190a9-19, wo in bezug auf das Beispiel einer άλλοίωσις von einem „Bleibenden" gesprochen wurde. Sobald Aristoteles jedoch zwischen einer άλλοίωσις und einer γένεσις unterschieden hat - dies geschah in 190a31-b9 - und das diesen beiden Arten des Werdens gemeinsame Moment herauszustellen sucht, ist nur noch von einem Zugrundeliegenden (ϋποκείμενον), und nicht mehr von einem Bleibenden (ύπομένον) die Rede. Der Grund filr das In-den-Hintergrund-Treten des Begriffs des ύπομένον ist vermutlich darin zu sehen, daß sich Aristoteles, auch wenn er annimmt, daß es bei jedem Werden ein Bleibendes gibt, gleichwohl bewußt ist, daß dies im konkreten Einzelfall mitunter nicht leicht zu bestimmen ist. Aristoteles will jedoch das Gemeinsame einer άλλοίωσις und einer γένεσις herausarbeiten, und dieses Gemeinsame wird hier nicht in dem Begriff eines 'Bleibenden', sondern vielmehr in dem Begriff eines 'Zugrundeliegenden' gesehen, für das es in diesem Zusammenhang von größerer Bedeutung ist, daß es ein bestimmtes Zugrundeliegendes ist, als daß es ein bleibendes Zugrundeliegendes ist. Während sich Freeland in bezug auf die Frage nach einem Bleibenden bei jedem Werdeprozeß nur auf das Beispiel des Werdens eines ζωον aus σπέρμα konzentriert, ist darauf hinzuweisen, daß dieselbe Frage auch in bezug auf das Beispiel des Entstehens einer ουσία durch eine άλλοίωσις (vgl. 'die Dinge, die sich in ihrem Stoff wandeln': 190b8-9) gestellt werden kann. Aristoteles führt für diese sich in ihrem Stoff wandelnden Dinge zwar kein konkretes Beispiel an, doch ist davon auszugehen, daß er hier auch an die Umwandlung der Elemente untereinander denkt, wie z.B. an das Werden von Luft aus Wasser, von dem bereits in 1.4, 188al6-17 die Rede war. Da in bezug auf diese Elemente jedoch gilt, daß das Entstehen des einen das Vergehen des anderen bedeutet (vgl. Metaph. II.2, 994a30-31), drängt sich hier noch weit stärker die Frage nach einem Bleibenden bei einem derartigen Prozeß auf. An diesem Punkte wird von vielen Interpreten innerhalb des aristotelischen Modells des Werdens die 'Lücke' gesehen, an der der Begriff einer 'prima materia' einzuführen ist.90 Die Frage danach, ob Aristoteles in Physik Α den Begriff einer 'prima materia' einführt, soll jedoch vorerst zurückgestellt und erst an späterer Stelle in bezug auf den Abschnitt 191 a7-14 erörtert werden.
Vgl. auch Sorabji (1988: 11): „According to his [Aristoteles'] main account of change, something persists (hupomenei) through any change, and is the subject (this is the connecting link) first of one set of properties and then of another. This is the role of matter, and there are strong indications that some matter is supposed to persist even when one of the four elements changes into another."
Die zweifache Bedeutung von „ γ ί γ ν ε σ θ α ι "
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7.4.4 Exkurs: Überlegungen zu einer atemporalen Analyse des Werdenden Der Satz „ein Mensch wird gebildet" beschreibt ein Ereignis. Obgleich ein Werdeprozeß als Ereignis für gewöhnlich unmittelbar mit dem Aspekt der Zeitlichkeit verbunden ist,91 scheint Aristoteles in bezug auf die in Kapitel 1.7 vorgelegte Analyse des Werdens doch weniger an einer temporalen als vielmehr an einer logisch-prädikativen Analyse des Werdens interessiert zu sein. In Analogie zum Begriff des 'Seins' (είναι), bei dem zwischen einem „etwas Sein" und einem „(einfachen) Sein" (Existieren) unterschieden werden kann, hat Aristoteles in 190a31-33 auch in bezug auf den Begriff des 'Werdens' (γίγνεσθαι) zunächst zwischen einem „etwas Werden" (τόδε τι γίγνεσθαι) und einem „(einfachen) Werden" (Entstehen: άπλώς γίγνεσθαι) differenziert. Von einem Menschen können wir sowohl sagen „ein Mensch ist" (im Sinne von „ein Mensch existiert") als auch „ein Mensch ist gebildet". Analog dazu können wir von einem Menschen sowohl sagen „ein Mensch wird" (im Sinne von „ein Mensch entsteht") als auch „ein Mensch wird gebildet". Nun hat Aristoteles in Kapitel 1.2 daraufhingewiesen, daß einige Vorgänger, die die Verwendung des Wortes „sein" aus ihrem Sprachgebrauch ausschließen wollten, damit es ihnen nicht geschehe, daß sie aus Einem Vieles machen, in ihrem Sprachgebrauch statt des Satzes „ein Mensch ist ein Laufender" (άνθρωπος βαδίζων έστίν) nur noch den Satz „ein Mensch läuft" (άνθρωπος βαδίζει) zuließen. Aristoteles, der diese beiden Sätze ihrem Sinn nach als äquivalent betrachtet, zieht bekanntlich gerade in logischen Zusammenhängen - man denke z.B. an die Formulierung eines Syllogismus - die Ausdrucksform mit Hilfe der Kopula „ist" vor. Da nun ein Satz wie „Sokrates wird gebildet" ebenfalls mit Hilfe der Kopula „ist" formuliert werden kann - so können wir statt „Sokrates wird gebildet" bzw. statt „Sokrates wird ein Gebildeter" auch sagen „Sokrates ist etwas, was gebildet wird" oder „Sokrates ist ein Gebildetwerdender" -, liegt die Vermutung nahe, daß Aristoteles vielleicht auch in bezug auf solche Sätze, die ein Werden beschreiben, in logischen Zusammenhängen die Ausdrucksform mit der Kopula „ist" vorzieht. Zwar verwendet Aristoteles solche Ausdrücke wie „ein Gebildetwerdendes" nicht in Physik I, doch wird aus anderen Stellen seines Werkes deutlich, daß sie ihm gleichwohl bekannt sind. So spricht er z.B. in Phys. V.l, 224b 18 von einem „Weißwerdenden" (τό λευκαινόμενον). In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, daß die im Deutschen getrennten - oder häufig mit Hilfe eines Bindestriches formulierten komplexen Ausdrücke wie z.B. 'schwarz-werden' im Griechischen durch ein einziges Verb im Passiv bzw. Medium (z.B. μελαίνεσθαι) ausgedrückt werden können, so daß im Griechischen der Satz „ein Mensch wird schwarz" (άνθρωπος μελαίνεται) sprachlich gesehen dieselbe prädikative Form wie der Satz „ein Mensch läuft" (άνθρωπος βαδίζει) hat. Die Sätze „άνθρωπος μελαίνεται" und Es sei in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, daß im Deutschen das Wort „werden" ja nicht nur einen Prozeß bezeichnet, sondern ebenfalls als Hilfszeitwort zur Bildung der Tempora verwendet wird.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
„άνθρωπος βαδίζει" unterscheiden sich nur durch den Inhalt des vom Menschen jeweils Prädizierten: Wird in dem einen Satz vom Menschen gesagt, daß er läuft, so wird im anderen Satz vom Menschen gesagt, daß er schwarz-wird. Im Gegensatz zu dem Satz „Sokrates wird gebildet", der ein zeitliches Ereignis beschreibt, stellt sich in bezug auf den Satz „Sokrates ist ein Gebildetwerdender" jedoch die Frage, ob hier immer noch ein zeitliches Ereignis beschrieben wird. Wenn wir ein Ereignis beschreiben wollen, so würden wir in unserer Alltagssprache zumindest eher solche Sätze der Form „Sokrates wird gebildet" anstelle solcher Sätze der Form „Sokrates ist ein Gebildetwerdender" wählen. In einem Satz der Form „Sokrates ist ein Gebildetwerdender" scheint der zeitliche Ereignischarakter des zu Beschreibenden zumindest in den Hintergrund zu treten. Die Umformulierung des Satzes „Sokrates wird gebildet" in „Sokrates ist ein Gebildetwerdender" kann allerdings in logischen Argumentationszusammenhängen durchaus hilfreich sein: Wenn wir z.B. auf formale Weise zeigen wollen, daß die Sätze „Sokrates ist ein Gebildeter" und „Sokrates wird ein Gebildeter" nicht zugleich wahr sein können, so brauchen wir durch eine Umformulierung des Satzes „Sokrates wird ein Gebildeter" in „Sokrates ist ein Gebildetwerdender" nur zu zeigen, daß sich die beiden Ausdrücke „Gebildeter" und „Gebildetwerdender" aufgrund ihres semantischen Inhalts gegenseitig ausschließen, um zu zeigen, daß die beiden Sätze „Sokrates ist ein Gebildeter" und „Sokrates ist ein Gebildetwerdender" nicht zugleich wahr sein können.92 Zwar fuhrt Aristoteles diese Umformulierungen in Kapitel 1.7 selbst nicht durch - vielmehr beschreibt er das Werden als eine zweistellige Relation der Form „x wird / ' oder wird aus x", und nicht als eine einfache Prädikation der Form 5Tx ist ein Werdendes" -, doch liegt die Vermutung nahe, daß er die Formel „x wird / ' , gerade weil er von den temporalen Aspekten des Werdens absieht und das Werden in Analogie zum Sein seiner 'kopulativen' und 'existentiellen' Bedeutung nach unterscheidet, im Sinne von ist ein Werdendes" versteht. Ebenso wie die Eleaten Aristoteles zufolge der Ansicht waren, daß sich die Begriffe der Einheit und Vielheit gegenseitig ausschließen - dies veranlaßte die Nachfahren der Eleaten dazu, statt des Satzes „ein Mensch ist ein Laufender" nur noch den Satz „ein Mensch läuft" in ihrer Redeweise zuzulassen (vgl. 1.2, 185b25-186a3) -, waren sie auch der Ansicht, daß sich die Begriffe des Seins und des Werdens gegenseitig ausschließen. Dies führte sie letztlich zur Ansicht, daß es überhaupt kein Werden geben kann. Demgegenüber ist Aristoteles darum bemüht, zu zeigen, daß, wenn man zwischen verschiedenen Hinsichten differenziert, nicht nur die Begriffe der Einheit und der Vielheit, sondern auch die Begriffe des Seins und des Werdens durchaus miteinander verknüpfbar sind, ohne daß sie einen Widerspruch bilden. Ein Seiendes kann Aristoteles zufolge durchaus ein Werdendes sein. Gelingt diese Verknüpfbarkeit in bezug auf die Begriffe 92
Zwar können die Sätze „Sokrates ist gebildet" und „Sokrates wird gebildet" insofern zugleich wahr sein, als sich ein bereits gebildeter Sokrates durchaus weiterbilden kann, doch würden wir von einem bereits gebildeten Sokrates, der sich weiterbildet, wohl eher unter Verwendung des Komparativs sagen, daß er noch gebildeter wird als daß er gebildet wird.
Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι"
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der Einheit und Vielheit mit Hilfe der Differenzierung zwischen den Hinsichten von 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit' (vgl. 1.2, 186a3), so gelingt die Verknüpfbarkeit der Begriffe des Seins und des Werdens - wie Aristoteles in Kapitel 1.8 darlegen wird - mit Hilfe der Differenzierung zwischen den Hinsichten ' κ α τ ά συμβεβηκός' und 'καθ' αυτό', wobei er allerdings zugleich darauf hinweist, daß dies auch mit Hilfe der Differenzierung zwischen den Hinsichten von 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit' möglich ist (vgl. 1.8, 191b27-29). Daß sich die Begriffe des Seins und des Werdens nicht gegenseitig ausschließen, hat Aristoteles bereits in 1.7, 190a9-13 angedeutet, wo durch die Analyse der Beschreibungsformen eines Werdeprozesses deutlich wurde, daß auch ein Bleibendes werden kann. Der Satz „ein ungebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch" beschreibt einen Menschen, der sich in einem Prozeß befindet. Dieser Mensch ist einerseits noch nicht gebildet geworden, aber andererseits ist er auch im eigentlichen Sinne nicht mehr ungebildet. Er ist irgendwie zwischen 'gebildet' und 'ungebildet'. Diesen Übergangscharakter des Werdenden beschreibt Aristoteles an anderen Stellen in der Metaphysik wie folgt: Wie nämlich das Werden [γένεσις] zwischen Sein und Nichtsein [τοΰ είναι και μή είναι], so ist auch das Werdende [τό γιγνόμενον] ein Mittleres zwischen Seiendem und Nicht-seiendem [τοΰ οντος και μή οντος]. Der Lernende ist ein werdender Gelehrter, und das meinen wir, wenn wir sagen, daß aus dem Lernenden ein Gelehrter werde. (Met. II.2, 994 a27-30; Übers, nach Bonitz) Wir werden nun auch auf diese Erörterung erwidern, daß bei dem sich Verändernden, während es eben sich verändert, allerdings ein richtiger Grund vorhanden ist, es für nicht seiend zu halten. Und doch ist auch dies noch zweifelhaft; denn das Werdende, indem es eine Eigenschaft eben verliert, hat noch etwas von dem, was es verliert, und muß schon etwas von dem sein, was es wird. (Met. IV.5, 1010 al5-18; Übers, nach Bonitz).
Gerade diese 'Zwischenstellung' des Werdenden als etwas, das sich zwischen dem Seienden und Nichtseienden befindet, steht nach Ansicht vieler Vorgänger von Aristoteles einer vollständigen Erkennbarkeit dieses Werdenden im Wege. Ein sich ständig Veränderndes steht niemals still; sobald wir einen Begriff von ihm gebildet haben, ist es bereits ein Anderes geworden. Erst als ein Gewordenes steht es gleichsam für einen Moment still und kann so unserem erkennenden Zugriff zugänglich werden. Aristoteles geht es nun aber in der Physik nicht nur um eine Erkenntnis dieser gewordenen Gegenstände - denn diese stehen ja bereits auf der Seite des Seienden und sind nicht mehr die werdenden Gegenstände im eigentlichen Sinne -, sondern vielmehr auch um die Möglichkeit einer Erkenntnis der werdenden Gegenstände als solcher. In 190b 17 ff. wird Aristoteles darum bemüht sein, die gemeinsamen Prinzipien sowohl des Gewordenen als auch des Werdenden aufzufinden. Damit auch die werdenden Gegenstände erkennbar werden, müssen sie in ihrem Werden in der Zeit gleichsam angehalten werden, um so durch eine gedankliche Abstraktion die ihnen gemeinsam zugrundeliegenden Konstitutionsmomente herauszuarbeiten. Diese Konstitutionsmomente sind die Prinzipien des Werdenden, die, da sie selbst nicht dem Werden
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
unterliegen, sondern gleichsam 'immer bleiben' (vgl. 1.6, 189al9-20), eine Erkenntnis desselben ermöglichen. Dieses 'Anhalten des Werdenden in der Zeit' impliziert jedoch zugleich ein 'In-den-Hintergrund-Treten' des zeitlichen Aspekts des Werdenden zugunsten einer rein logisch-prädikativen Analyse desselben. Der Satz „ein Mensch wird gebildet" kann zeitlich betrachtet sowohl in einem engeren Sinne den Zeitpunkt des Umschlags von 'ungebildet' zu 'gebildet' wie auch in einem weiteren Sinne eine länger andauernde Zeitspanne (wie z.B. die Zeitspanne, in der sich ein Mensch im Studium befindet) beschreiben. Mit dem Wort „Werden" im engeren Sinne ist genau der Übergang von einem Zustand („ein Mensch ist ungebildet") in einen anderen Zustand („ein Mensch ist gebildet") gemeint, wobei dieser Übergang bzw. Umschlag in einem unteilbaren, unendlich kleinen und nicht ausgedehnten Zeitpunkt stattfindet. An diesem Zeitpunkt scheint paradoxerweise die Zeit einerseits stillzustehen, und andererseits scheint in genau diesem Zeitpunkt auch das Werden stattzufinden. Während wir heutzutage die Beschreibung eines Werdeprozesses formal vor allem mit Hilfe von Zeitmarkierungen (/, /' usw.) analysieren, welches allerdings darauf hinausläuft, daß das Wort „werden" in der formalen Analyse solcher Beschreibungen von Werdeprozessen nicht mehr vorkommt,93 wählt Aristoteles im Buch Α der Physik einen anderen Weg. Anstelle einer temporalen Analyse des Werdenden, die zwischen verschiedenen Zeitpunkten des Werdens differenziert und dabei das Werdende in ein (a) 'Gewordenes' als Endpunkt eines Prozesses, in ein (b) 'Erst-Werdendes' als Ausgangspunkt eines Prozesses und in ein (c) 'Werdendes' als im Prozeß Befindliches unterscheidet, haben wir es in Physik 1.7 eher mit einer logisch-prädikativen Analyse des Werdens zu tun.94 Ebenso wie Aristoteles in bezug auf einen Satz wie „ein Mensch ist gebildet" vom logischen Verhältnis eines Subjekts zu einem Prädikat ausgeht, um von diesem Verhältnis ausgehend zu den ontologischen Konstitutionsmomenten des gebildeten Menschen, der aus einem Zugrundeliegenden ('Mensch') und einer Form ('Bildung') besteht, überzugehen (vgl. 1.7, 190M7-23), so scheint es ihm auch in bezug auf einen Satz wie „ein Mensch wird gebildet" primär um das logische Vgl. hierzu vor allem Code (1976 a: 166 f.): „However, in actually analysing statements containing the verb »becomes« we get something rather complicated. For instance, (11) [gemeint ist der Satz: »The Vice-President has just become the President.« (vgl. S. 162)] would get analyzed something like this: ( 5 * ) ( 3 0 (t < now & ( V }>) (y is Vice-President iff χ = >>) a t ; & ( V / ' ) ( ( ' < t'&f < now) —» ((x is not President) at ( ' ) ) & ( V y) (y is President iff χ =y)). In this analysis of (11) we find that not only have the phrases the »Vice-President« and »the President« been paraphrased away, but so has the verb »become«." Dies erklärt vielleicht auch den Umstand, warum Aristoteles in Kapitel I. 7 die zahlreichen Zwischenstufen, die bei einem Werdeprozeß zwischen Ausgangspunkt und Endpunkt vorhanden sein können, nicht erwähnt (vgl. Bochner (1964: 238): „As we have already stated above, the kineseis of Book V of the Physica are presumed to be such as traverse various states which are intermediate between terminal ones. In contrast to this, Book I envisages various changes (geneseis) in which states intermediate between the terminal ones do not occur at all."). Denn die Zwischenstufen treten j a gerade bei einer temporalen Analyse eines Werdeprozesses in den Blickpunkt der Betrachtung.
Die zweifache Bedeutung von „γίγνεσθαι"
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Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem Prädikat zu gehen. Haben wir es in dem einen Falle mit einem „gebildeten Menschen" zu tun, so haben wir es in dem anderen Falle mit einem „gebildetwerdenden-ungebildeten-Menschen" zu tun. Zwar tritt der temporale Aspekt dieses Werdenden bei dieser Analyse in den Hintergrund, doch hat dieses In-den-Hintergrund-Treten des temporalen Aspekts bei Aristoteles auch einen Grund. Zum einen wird es für Aristoteles auf diese Weise möglich, den für ihn zentralen Begriff eines Zugrundeliegenden herauszuarbeiten, und zum anderen ist zu bedenken, daß Aristoteles, wie in den späteren Büchern der Physik deutlich wird, den Begriff der Bewegung nicht mit Hilfe des Begriffs der Zeit, sondern umgekehrt den Begriff der Zeit mit Hilfe des Begriffs der Bewegung definiert. Bereits Owens bemerkte, daß die Analyse des Werdens in Kapitel 1.7 von Aristoteles ohne Bezugnahme auf den Begriff der Zeit durchgeführt wird, wobei er auf folgenden Zusammenhang verwies: See Ph. I. 7, 189b30-191 a7. The analysis of change or motion is made by Aristotle without dependence on the notion of time. Rather, motion is first defined, and then the notion of time is worked out in terms of motion, that is, as the numbering motion in respect of prior and subsequent (Ph. IV 11, 219 bl-2). Since Kant the tendency has been first to establish the notion of time, and then to describe motion in terms of relation to time; e.g.: »Change thus always involves (1) a fixed entity, (2) a threecornered relation between this entity, another entity, and some but not all, of the moments of time«. Bertrand Russell, Principles of Mathematics (Cambridge, Eng., 1903), 1, 469. (Owens, 1967: 204, Fn.13) Zwar ist Aristoteles der Ansicht, daß es ohne Zeit keine Bewegung gibt (vgl. Phys. III. 1, 200b20-21), und daß jede Bewegung in der Zeit stattfindet (vgl. Phys. IV. 14, 223a30-32), doch aus den aristotelischen Definitionen der Zeit vgl. Phys. IV. 11, 219b 1-2: „Zeit als Zahl der Bewegung gemäß dem Früher und Später" (,,τοΰτο γ ά ρ έ σ τ ι ν ό χρόνος, άριθμός κ ι ν ή σ ε ω ς κ α τ ά τό πρότερον κ α ι ύ σ τ ε ρ ο ν " ) - und der Bewegung - vgl. Phys. III. 1, 2 0 1 a l 0 - l 1, b4-5: „Bewegung als Zur-Wirklichkeit-Kommen eines Möglichen, insofern es ein Mögliches ist" (,,ή τ ο ΰ δ υ ν α τ ο ΰ , ή δ υ ν α τ ό ν , ε ν τ ε λ έ χ ε ι α φανερόν δ τ ι κ ί ν η σ ί ς έ σ τ ι ν " ) wird deutlich, daß die Zeit zwar mit Hilfe des Begriffs der Bewegung, nicht aber die Bewegung mit Hilfe des Begriffs der Zeit definiert wird. Dies erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß letztlich eine zirkuläre Definition von Zeit und Bewegung vorliegen würde, wenn auch die Bewegung mit Hilfe des Begriffs der Zeit definiert würde. 95 Auch wenn die Bewegung in der Zeit stattfindet, so gilt es für Aristoteles doch, die Bewegung zunächst ohne den Begriff der Zeit herzuleiten. Versucht er dies an späterer Stelle in Phys. III mit Hilfe der Begriffe von Vgl. Craemer-Ruegenberg (1989: 53): „Falls Aristoteles nicht zirkelhaft gedacht haben sollte, müssen in Prozessen ein »Früher« und ein »Später« im unzeitlichen Sinne antreffbar sein. Daß es sich so verhält, ist der oben angeführten Definition von »Prozeß« zu entnehmen." Vgl. auch von Weizsäcker ( 1979: 433): „Fragt man, welcher der beiden Begriffe [χρόνος und κίνησις] beim Versuch einer systematischen Darstellung als der grundlegendere oder ursprünglichere erscheinen müßte, so wäre es zweifellos der der Bewegung. Die Definition des χρόνος benutzt den Begriff der κίνησις, die alsbald zu zitierende Definition von κίνησις bedarf hingegen keinerlei Rekurses auf χρόνος."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit', so wird diese Erklärungsmöglichkeit in Phys. I zwar erwähnt (vgl. Phys. 1.8, 191b27-29), aber nicht weiter ausgeführt. Anstelle der Begriffe von Möglichkeit und Wirklichkeit operiert er in Phys. I vielmehr mit den Begriffen „καθ' αύτό" und „κατά συμβεβηκός", mit Hilfe derer er in Kapitel 1.8 den Eleaten gegenüber deutlich zu machen sucht, daß ein Werden sowohl aus einem Nichtseienden als auch aus einem Seienden möglich ist. Auch wenn sich Aristoteles - wie die späteren Kapitel IV und V der Physik deutlich machen - durchaus der Tatsache bewußt ist, daß ein jedes Werden in der Zeit stattfindet,96 wird dieses 'Werden in der Zeit' im Buch Α der Physik jedoch kaum thematisiert.97 Wir sahen bereits, daß die Zeit in Gestalt des ποτέ (vgl. 190a35) gleichsam 'getrennt' von dem Werdenden als eine Kategorie neben den anderen Kategorien ποιόν, ποσόν, προς έτερον und πού angeführt wurde. Dieses Einklammern bzw. In-den-Hintergrund-Treten des zeitlichen Aspekts eines jeden Werdeprozesses wird in Kapitel 1.7 vor allem daran deutlich, daß Aristoteles fast ausschließlich im präsentischen Sinne vom „Werdenden (γιγνόμενον), das wird (γίγνεται)" spricht.98 Selbst dort, wo die angeführten Beispiele - wie z.B. der „gebildete Mensch" in 190b21 ff. - eindeutig dafür sprechen, daß wir es mit dem Resultat eines Werdeprozesses zu tun haben, spricht Aristoteles nicht vom „Gewordensein eines Gewordenen", sondern immer noch vom „Werden eines Werdenden" (vgl. ,,γίγνοιτ' άν τά γιγνόμενα"). 99 Aristoteles bezeichnet sowohl den Ausgangspunkt als auch den Endpunkt eines Werdeprozesses - und mitunter auch das sich im Werden befindliche Mittlere zwischen Ausgangspunkt und Endpunkt - in ei-
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Vgl. Phys. IV. 14, 223a30-32: „και γαρ γίγνεται έν χρόνω και φθείρεται καί αυξάνεται και άλλοιοΰται και φέρεται" (vgl. auch IV.13,222bl6-17;'v.4, 227b26; VI.6, 236bl9-23). Ein Ansatz zu einer temporalen Analyse des Werdens findet sich in Kapitel I. 7 erst am Ende der Untersuchung in 191a8-12. Auch wenn die dort verwendete Konjunktion „πριν" sowohl auf eine temporale wie auch auf eine logische Priorität hindeuten kann, ist diese Konjunktion in 191al0 vermutlich in einem temporalen Sinne gemeint. Als Ausnahmen sind 190a7-8 und 190bl8-19 zu nennen. In I90a7-8 heißt es: „ [...], denn ein Gebildeter ist nicht aus einem Menschen geworden, sondern ein Mensch ist ein Gebildeter/gebildet geworden [έγένετο]". In 190bl8-19 sagt Aristoteles: „[...], aus denen [nämlich aus den άρχαί und α ΐ τ ί α ι ] als ersten sie [die φύσει οντα] sind und geworden sind [γεγόνασι] nicht im akzidentellen Sinne". Der Grund dafür, daß in 190bl8-19 von einem „Gewordensein" (vgl. „γεγόνασι") die Rede ist, ist darin zu sehen, daß hier von den φύσει οντα gesprochen wird, die aus den Prinzipien sein und geworden sein sollen. (Dasjenige aber, das geworden ist, wird zu dem Zeitpunkt, wo das Werden abgeschlossen ist, sein. vgl. Phys. VI.5, 235b27-29; VI.6, 237b9-l 1). Der Grund dafür, daß Aristoteles in 190a7-8 anstelle von „ein Gebildeter wird nicht aus einem Menschen, sondern ein Mensch wird ein Gebildeter" sagt „ein Gebildeter ist nicht aus einem Menschen geworden, sondern ein Mensch ist ein Gebildeter geworden", ist vermutlich darin zu sehen, daß hier hervorgehoben werden soll, daß ein Gebildeter, der aus einem Menschen geworden wäre, den Werdeprozeß bereits hinter sich hätte, und es nun so schiene als sei er nur noch ein Gebildeter und nicht mehr ein Mensch. Würde Aristoteles hier von einem Gebildeten sprechen, der aus einem Menschen wird, so hätte dieser Gebildetwerdende den Werdeprozeß noch nicht hinter sich, und die Widersinnigkeit, die sich ergeben soll, wäre noch nicht offenkundig. Auch in 190b5-9 ist davon die Rede, daß die im einfachen Sinne Werdenden aus einem ύποκείμενον werden (vgl. „γίγνεται δέ τά γιγνόμενα άπλώς"), obgleich hier mit 'Pflanzen', 'Sinnenwesen', 'Statue', 'Hermesfigur' und 'Haus' ebenfalls die Endprodukte eines Werdeprozesses gemeint sind.
Die in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente
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nem sprachlich undifferenzierten Sinne als „Werdendes" (γιγνόμενον). Wieland und Guzzoni bemerken hierzu folgendes: Dies trifft vor allem für den Begriff des Werdenden (γιγνόμενον) zu, mit dem manchmal das Ding gemeint ist, das zu Beginn des Werdeprozesses da ist, manchmal aber auch das Resultat des Werdens. Der erste Fall liegt vor 190 alff., a9, al5, a34; hier ist dann entsprechend mit ό γίγνεται das Resultat des Werdens gemeint. Der zweite Fall liegt vor 190 b4f., b9, bl2, b23, b27; ό γίγνεται meint dann die Voraussetzung des Werdens oder das Zugrundeliegende. (Wieland, 1962: 123) Aristoteles nämlich nennt, wie ein Vergleich mehrerer Stellen aus A 7 (z.B. 190 a 2, 15, 34, b 4, 9, 11, 12) zeigt, sowohl dasjenige, was zu etwas anderem wird, wie das, wozu jenes wird, 'τό γιγνόμενον'. Obgleich dem deutschen 'Werdendes' grundsätzlich dieselbe Doppelheit des Bedeutens zukommt wie dem griechischen 'τό γιγνόμενον', können wir das Wozu des Werdens auch unterscheidend das Gewordene nennen: vom Werden her gesehen aber ist auch das Gewordene Werdendes. Es ist das, was eigentlich aus dem Werdeprozeß resultiert gegenüber jenem 'Werdenden', das 'erst wird', erst in den Werdeprozeß eintritt. Schließlich aber kann über diese beiden Bedeutungen hinaus auch noch ganz allgemein dasjenige als 'Werdendes' angesprochen werden, was z.B. der ganzen Analyse der Gründe des Werdenden als eines Werdenden zugrunde liegt, das Werdende also in der ganzen Weite seiner Bezüge, das vom Werdenden im ersten Sinne zu dem im zweiten Sinne übergeht und beide umgreift. (Guzzoni, 1975: 48, Fn.28) Angesichts dieser Interpretationen drängt sich jedoch die Frage auf, warum Aristoteles in Kapitel 1.7 zwischen dem Ausgangspunkt und Endpunkt eines Werdeprozesses nicht sprachlich mit Hilfe der Begriffe eines Werdenden (γιγνόμενον) und eines Gewordenen (γενόμενον) unterscheidet, zumal zu bedenken ist, daß nicht nur „wir das Wozu des Werdens auch unterscheidend das Gewordene nennen" können, sondern daß auch Aristoteles der Begriff des Gewordenen (γενόμενον) durchaus zur Verfügung stand (vgl. 1.3, 186al 1-13). Eine Antwort auf diese Frage ist wohl darin zu sehen, daß Aristoteles das Werdende in Kapitel 1.7 primär nicht in einem temporalen Sinne analysieren will. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht vielmehr das sprachliche Subjekt, von dem jeweils, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ein Werden prädiziert werden kann - sei dies ein 'etwas Werden' oder ein 'Werden aus' -, und das als dieses Subjekt, von dem ein Werden prädiziert wird, ein wie auch immer geartetes Werdendes - sei dies ein 'etwas-Werdendes' oder ein 'schlechthin-Werdendes' - ist.
7.5 Die Konklusion bezüglich der in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente (190b9-17) Jedes auf diese Weise Werdende wird aber offenkundig aus Zugrundeliegenden [πάντα δέ τα οϋτω γιγνόμενα φανερόν δτι έξ υποκειμένων γίγνεται]. So daß aus dem Gesagten klar ist, daß jedes Werdende immer ein Zusammengesetztes ist [δτι τό γιγνόμενον ίχπαν άεΐ συνθετόν έστι]: es gibt einerseits etwas Werdendes [τι γιγνόμενον] und andererseits etwas, was dieses [Werdende] wird [τι δ τοΰτο γίγνεται], und dieses auf doppelte Weise: entweder nämlich das Zugrundeliegende [τό ΰποκείμενον] oder das Gegenüberliegende [τό άντικείμενον]. 'Gegenüberlie-
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des W e r d e n s '
g e n d ' n e n n e ich 'ungebildet'; 'zugrundeliegend' aber nenne ich ' M e n s c h ' . 'Ungestaltetheit' [ ά σ χ η μ ο σ ύ ν η ] , 'Formlosigkeit' [ α μ ο ρ φ ί α ] und 'Ungeordnetheit' [ α τ α ξ ί α ] sind Gegenüberliegendes; ' E r z ' aber, 'Stein' und ' G o l d ' sind Zugrundeliegendes. (1.7, 190b9-17)
Hat die Darlegung in 190b 1-9 ergeben, daß in Analogie zu den übrigen Bestimmungen auch für das Werden der ούσίαι und der anderen einfachen Seienden ein ύποκείμενον vorausgesetzt werden muß, wobei die ούσίαι und die anderen einfachen Seienden im Unterschied zu den übrigen Bestimmungen, die an einem ύποκείμενον werden, aus einem ύποκείμενον werden, so kann Aristoteles nun zunächst folgern, daß J e d e s auf diese Weise Werdende [nämlich die ούσίαι und die anderen einfachen Seienden] offenkundig aus ύποκείμενα wird" (b910).100 Hieraus ergibt sich die weitere Konklusion (vgl. „ώστε δήλον": blO), daß angesichts der Differenzierung zwischen einem ,,τόδε τι γίγνεσθαι" und einem ,,άπλώς γίγνεσθαι" (190a31-bl0) lcl klar ist, daß jedes Werdende (τό γιγνόμενον απαν) - sei dies ein 'etwas-Werdendes' oder ein 'einfach-Werdendes' - immer ein Zusammengesetztes (συνθετόν) ist. Dieses Zusammengesetztsein eines jeden Werdenden wird in den nachfolgenden Sätzen b 11-17 als Zusammengesetztsein aus den Momenten eines 'τι γιγνόμενον' und eines 'τι δ τούτο γίγνεται' expliziert, wobei sich das 'τι γιγνόμενον' weiter in die beiden Momente eines ύποκείμενον und eines άντικείμενον differenzieren läßt. Die Interpretation des Abschnitts 190b 10-17 ist jedoch mit folgenden Schwierigkeiten verbunden. Zum einen stellt sich die Frage, was mit dem „γιγνόμενον" in b l l gemeint ist. Während Wieland (1962: 123) und Simplicius (vgl. Fritsche: 1986: 107) dieses „γιγνόμενον" im Sinne eines 'Gewordenen' interpretieren, verstehen Wagner (1967: 25 und 437), Guzzoni (1975: 51 und 48, Fn.28) und Fritsche (1986: 99-107) dies als 'Werdendes' im Sinne eines im Prozeß Befindlichen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob das 'τι γιγνόμενον' und das 'τι δ τούτο γίγνεται' (mit der weiteren Differenzierung des 'τι γιγνόμενον' in ein ύποκείμενον oder άντικείμενον) als eine Explikation des Zusammengesetztseins eines jedes Werdenden verstanden werden muß, oder ob hier nicht eher - wie Wieland (1962: 123 f.) meint - bloß weitere Differenzierungen angeführt werden, die jedoch nicht als Explikation des Werdenden im Sinne eines Zusammengesetzten (σύνθετον) anzusehen sind.102 Darüber hinaus ist unklar, ob sich die durch das „τούτο διττό ν" (bl2) angezeigte Differenz zwischen einem ύποκείμενον und einem άντικείμενον auf das 'τι γιγνόμενον' ( b l l )
1 1
Zwar nennt Aristoteles nicht in jedem Falle das ύποκείμενον mit Namen, aus dem die ούσίαι und die anderen einfachen Seienden jeweils werden, doch ist zumindest der Prozeß angegeben, wodurch die Veränderung stattfindet: z.B. durch Umformung, Hinzutun, Wegnehmen, Zusammensetzung oder Eigenschaftsveränderung. Da diese Prozesse jedoch allesamt etwas voraussetzen, an dem sie auftreten - so ist eine Umformung eine Umformung von etwas, ein Hinzutun ein Hinzutun zu etwas, ein Wegnehmen ein Wegnehmen von etwas, eine Zusammensetzung eine Zusammensetzung von etwas und eine Eigenschaftsveränderung eine Eigenschaftsveränderung an etwas -, ist klar, daß bei all diesen Prozessen ein ύποκείμενον vorauszusetzen ist. Der Ausdruck ,,έκ των εϊρημένων" (blO-11) bezieht sich auf den Abschnitt 190a31-blO. Vgl. dazu auch die von Fritsche (1986: 102-105) vorgelegte Analyse der Interpretation von Wieland.
Die in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente
317
oder auf das 'τι δ τοΰτο γίγνεται' (b 11) bezieht.103 Auf das 'τι γιγνόμενον' beziehen es Wagner (1967: 25), Fritsche (1986: 99-111), Prantl (1854: 41) und Zekl (1987: 29). Ihrer Interpretation zufolge steht das 'τι γιγνόμενον' („etwas, was wird") für das zweifache Werdende (ύποκείμενον und άντικείμενον), während das 'τι δ τοΰτο γίγνεται' („etwas, was dieses (Werdende) wird") für die im Werdeprozeß zu erlangende Form steht. In dem Ausdruck 'τι δ τοΰτο γίγνεται' sehen sie den Ausdruck „τοΰτο" als Subjekt und den Ausdruck ,,δ" als Prädikatsnomen an. Auf das 'τι δ τοΰτο γίγνεται' beziehen es Guzzoni (1975: 51), Wieland (1962: 123-7), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 493), Wicksteed/ Comford (1980: 77 f.), Charlton (1970: 17) und Simplicius (215. 814). Ihrer Interpretation zufolge steht das 'τι δ τοΰτο γίγνεται' („etwas, was dieses (die Form) wird") für das zweifache Werdende (ύποκείμενον und άντικείμενον), während das 'τι γιγνόμενον' („etwas, was entsteht") für die im Werdeprozeß zu erlangende Form (bzw. bei Wieland für das konkrete ganze Resultat) steht. In dem Ausdruck 'τι δ τοΰτο γίγνεται' sehen sie den Ausdruck ,,δ" als Subjekt und den Ausdruck „τοΰτο" als Prädikatsnomen an. In Abbildung 7.5 werden die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten des Abschnitts 190b 10-17 einander schematisch gegenübergestellt: Abb. 7.5: Die unterschiedlichen
Interpretationsansätze
zu 1.7, 190bl0-l
7
190b 10-17
(1) Wieland (2) Simplicius (3) Wapner (4) Guzzoni - 'τι γιγνόμενον' (b - 'τι γιγνόμενον'(b 12) - 'τι γιγνόμενον' (bl2) - 'τι γιγνόμενον' (bl2) 12) und 'τι δ τοΰτο und 'τι δ τοΰτο γίγ- und 'τι δ τοΰτο γίγνε- und 'τι δ τοΰτο γίγνε γίγνεται' (b 12) nicht νεται' (bl2) als Ex- ται' (b 12) als Explilca- ται'(bl2) als Explikaals Explikation des plikation des synthe- tion des syntheton tion des syntheton syntheton ton - 'τι γιγνόμενον' als - 'τι γιγνόμενον' als - 'τι γιγνόμενον' als -'τι γιγνόμενον' als die das Resultat des Wer- die Form hypokeimenon oder neue Form im Resultat dens (Terminus ad antikeimenon quem) - 'τι δ τοΰτο γίγνεται' - 'τι δ τοΰτο γίγνεται' - 'τι δ τοΰτο γίγνεται' - 'τι δ τοΰτο γίγνεται' als doppelter Terminus als das antikeimenon als die Form als das hypokeimenon a quo (hypokeimenon oder hypokeimenon oder antikeimenon oder antikeimenon) [Fritsche, Zekl, Prantl] [Wicksteed/Comford, Charlton, Ross, Hardie/Gaye]
103 104
Zu diesen und den nachfolgenden Differenzierungen vgl. ebenfalls Fritsche (1986: 99-111). Vom 'γιγνόμενον' (bll) als 'Gewordenes' bzw. als 'Endprodukt eines Werdens' sprechen auch Bröcker ("1974: 56) und Bostock (1982: 188).
318
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Meiner Interpretation zufolge wird in 190b 10-17 nun folgendes gesagt: (i) Jedes Werdende - sei dies ein 'etwas-Werdendes' (τόδε τι γιγνόμενον) oder ein 'einfach-Werdendes' (άπλώς γιγνόμενον) - ist ein Zusammengesetztes (σύνθετον), und zwar (ii) ein Zusammengesetztes (σύνθετον) aus einem Werdenden (τι γιγνόμενον) und aus etwas, was dieses Werdende wird (τι δ τοΰτο γίγνεται), wobei sich (iii) das 'τι γιγνόμενον' in ein ΰποκείμενον und άντικείμενον auseinandernehmen läßt. Das 'Werdende' in b l l ist als das konkrete, aus seinen Momenten eines 'τι γιγνόμενον' und eines 'τι δ τοΰτο γίγνεται' zusammengesetzte ganze Werdende zu verstehen. Ein solches zusammengesetztes Werdendes ist z.B. der „gebildet-werdende-ungebildete-Mensch", der ein zusammengesetztes 'etwas Werdendes' darstellt, oder die „aus-dem-ungeformten-Erzwerdende-Statue", die ein zusammengesetztes 'einfach-Werdendes' darstellt. Versucht man die Zusammengesetztheit eines jeden Werdenden in ein Schema zu bringen, so ergibt sich folgendes Bild: Abb. 7.6: Das Zusammengesetztsein
eines jeden Werdenden
(190bl0-17)
Jedes Werdende ist
τι γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν
ύποκείμενον
τι δ τ ο ΰ τ ο γ ί γ ν ε τ α ι
άντικείμενον
Auch wenn in 190b 10-17 von den Prinzipien selbst noch keine Rede ist,105 so erinnert der Gedanke, daß das Werdende ein Zusammengesetztes (σύνθετον) ist, doch bereits an das Zusammengesetztsein des φύσει öv bzw. des φύσει γιγνόμενον aus Prinzipien. Über ein Zusammengesetztes (σύνθετον) haben wir, wie Aristoteles in 1.4, 187b 11-13 dargelegt hat, nur dann eine Erkenntnis, wenn wir wissen, aus welchen und wievielen Bestandteilen es zusammengesetzt ist. Vor diesem Hintergrund entspricht die in 1.7, 190b 10-17 dargelegte Diairesis des zusammengesetzten Werdenden in seine es konstituierenden Momente durchaus der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie. Im folgenden will ich mich zunächst der Frage zuwenden, was mit dem 'γιγνόμενον' in bl 1 als ein Zusammengesetztes (σύνθετον) gemeint ist, sofern man die nachfolgenden Sätze bl 1-17 als Explikation des Zusammengesetztseins dieses γιγνόμενον versteht. Daß das Nachfolgende eine Explikation des Zusammengesetztseins des γιγνόμενον in b l l darstellt, wird aus dem Kontext heraus deutlich. Der Grund, warum Wieland (1962: 123-7) das Nachfolgende nicht als eine Explikation des Zusammengesetztseins des γιγνόμενον (bll) versteht, ist In 190b 10-17 ist zunächst nur von den konstitutiven Bestandteilen eines jeden zusammengesetzten Werdenden die Rede. Erst in 190b 17 ff. geht Aristoteles dann dazu über, darzulegen, daß diese konstitutiven Bestandteile aufgrund bestimmter Kriterien auch die Prinzipien dieses zusammengesetzten Werdenden sind.
D i e in e i n e m j e d e n Werdenden beteiligten konstitutiven M o m e n t e
319
darin zu sehen, daß er das γιγνόμενον in b l l als Gewordenes im Sinne eines Resultats eines Werdeprozesses versteht. Da das Gewordene jedoch nicht mehr aus einem άντικείμενον bestehen kann, können der Interpretation von Wieland zufolge die nachfolgenden Sätze bl 1-17, in denen von einem αντικείμενο ν neben dem ύποκείμενον gesprochen wird, folglich auch keine Explikation des Gewordenen als eines Zusammengesetzten (σύνθετον) darstellen. Vor diesem Hintergrund erweist sich jedoch auch die Interpretation von Simplicius als problematisch. Zwar geht Simplicius ebenso wie Wieland davon aus, daß mit dem „γιγνόμενον" in bl 1 das Gewordene gemeint sei, doch im Gegensatz zu Wieland ist Simplicius der Überzeugung, daß die nachfolgenden Sätze bl 1-17 eine Explikation dieses Gewordenen als eines Zusammengesetzten (σύνθετον) darstellen. Da dieser Interpretation zufolge das άντικείμενον folglich auch noch für das Gewordene ein konstitutives Moment darstellen muß, ist Simplicius der Ansicht, daß das άντικείμενον in Gestalt der στέρησις auch noch im Gewordenen irgendwie enthalten sein muß.106 Aristoteles scheint mir jedoch nicht der Auffassung zu sein, daß im gebildeten Menschen als Gewordenes das Moment 'ungebildet' noch enthalten ist.107 Wenn also das Zusammengesetztsein des γιγνόμενον in bl 1 durch die nachfolgenden Sätze in bl 1-17 eine Explikation erfährt, und wenn das γιγνόμενον in b l l somit aus einem 'τι γιγνόμενον' (bl2) und einem 'τι δ τοΰτο γίγνεται' (bl2) zusammengesetzt sein soll, so muß das 'γιγνόμενον' in b l l jedoch von dem 'τι γιγνόμενον' in b l 2 insofern unterschieden sein, als letzteres ja nur ein Moment an ersterem sein soll. Diese Verschiedenheit der beiden „Werdenden" in bl 1 und bl2 wird von Aristoteles dadurch angedeutet, daß er in bl 1 von ,,τό γιγνόμενον", in b l 2 jedoch von „τι γιγνόμενον" spricht. Dieser unscheinbaren sprachlichen Differenz sind wir bereits in 190al4-15 (vgl. ,,ύποκεΐσθαι τό γιγνόμενον") und 190a34 (vgl. ,,ύποκεΐσθαι τι τό γιγνόμενον") begegnet, wo mit dieser Differenz ebenfalls einerseits ein komplexes Werdendes ('ungebildeter Mensch') und andererseits ein einfaches Werdendes ('Mensch') bezeichnet wurde.108
107
108
Zur Interpretation von Simplicius vgl. vor allem Fritsche (1986: 99-102). Auf S. 107 sagt Fritsche: „Simplicius kann das τό γιγνόμενον (11) als Resultat und zugleich die beiden Satzsubjekte in 12 als Teile des τό γιγνόμενον (11) interpretieren, weil filr ihn - im Gegensatz zu Guzzoni - auch das Gewordene die στέρησις noch in einem gewissen Sinn enthält." Man könnte zwar zunächst - wie Wieland dies tut - davon ausgehen, daß Aristoteles mit , jedem Werdenden" sowohl die Ausgangspunkte als auch die Endpunkte eines Werdeprozesses meint - diese würden in dem Sinne immer ein σύνθετον darstellen, als sowohl die Ausgangspunkte 'ungebildeter Mensch' und 'ungeformtes Erz' wie auch die Endpunkte 'gebildeter Mensch' und 'Statue (als auf bestimmte Weise geformtes Erz)' jeweils ein σύνθετον sind doch spricht gegen diese Interpretation die Tatsache, daß das Zusammengesetzte Aristoteles zufolge offenkundig aus „etwas Werdendem" und aus „etwas, was dieses Werdende wird" zusammengesetzt sein soll. Bei den Ausgangspunkten würde nämlich dann, wenn man die Interpretation von Wieland zugrunde legt, das „etwas, was es wird" als Glied des σύνθετον fehlen, während bei den Endpunkten das άντικείμενον als Glied des σύνθετον fehlen würde. Gleichwohl stimmt dieser Vergleich insofern nicht in jedem Punkte überein, als wir es jeweils mit verschiedenen Graden von Komplexität und Einfachheit zu tun haben: Denn während in 190al4-15 mit dem τό γιγνόμενον der 'ungebildete Mensch' und in 190a34 mit dem τι τό γιγνόμενον nur der 'Mensch' gemeint war, ist mit dem τι γιγνόμενον in 190bl2 der 'ungebil-
320
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Analysiert man einen Werdeprozeß in einem temporalen Sinne, so läßt sich bei diesem zunächst zwischen folgenden drei Bedeutungen eines „Werdenden" (γιγνόμενον) differenzieren: (i) Das Werdende als Ausgangspunkt eines Prozesses (dasjenige, was werden wird), (ii) das Werdende als im Prozeß Befindliches ((dasjenige, was wird) und (iii) das Werdende als Resultat bzw. Endpunkt eines Prozesses (dasjenige, was geworden ist). Nun sagt Aristoteles in 190b 10-13 der von mir dargelegten Interpretation zufolge folgendes: Jedes Werdende (γιγνόμενον: bl 1) ist aus einem Werdenden (τι γιγνόμενον: bl2) und aus etwas, was dieses Werdende wird (τι δ τοΰτο γίγνεται: bl2), zusammengesetzt, wobei sich das Werdende (τι γιγνόμενον: bl2) weiter in ein ύποκείμενον und ein άντικείμενον auseinandernehmen läßt,109 so daß das Werdende (γιγνόμενον: bl 1) einerseits aus den Momenten eines (a) ύποκείμενον und eines (b) άντικείμενον und andererseits aus dem Moment dessen (c), was es wird, zusammengesetzt ist. Betrachtet man nun aber das Werdende (γιγνόμενον) in bl 1 vor dem Hintergrund der angeführten temporalen Bedeutungen, so wird deutlich, daß es weder den (i) Ausgangspunkt noch den (iii) Endpunkt meinen kann. Denn in diesem ist nicht mehr das άντικείμενον enthalten, aus dem es wird, und in jenem ist noch nicht dasjenige enthalten, was es wird. Folglich bleibt bezüglich einer temporalen Analyse nur die Bedeutung (ii) übrig, der zufolge das γιγνόμενον in bl 1 das „im Prozeß Befindliche" meinen muß.110 Nun kann mit einem 'Im-Prozeß-Befindlichen' jedoch sowohl (a) in einem begrenzten Sinne dasjenige gemeint sein, das sich zeitlich zwischen dem Ausgangspunkt und Endpunkt eines Prozesses befindet, als auch kann mit ihm (b) in einem umfassenderen Sinne das Werdende „in der ganzen Weite seiner Bezüge" gemeint sein, das - wie Guzzoni (1975: 48, Fn.28) sagt -, „vom Werdenden im ersten Sinne zu dem im zweiten Sinne übergeht und beide umgreift". Schaut man nun aber genauer hin, so wird deutlich, daß das Werdende, von dem in 190bΙΟΙ 3 die Rede ist, nicht in einem (a) begrenzten Sinne verstanden werden kann. Denn nehmen wir das Beispiel des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen, so ist dieser Mensch ja als ein im Prozeß Befindliches zu jedem Zeitpunkt des Werdens entweder noch ungebildet oder bereits gebildet, nicht aber sowohl gebildet wie auch ungebildet. Der Umstand, daß das
109
110
dete Mensch' und mit dem τό γιγνόμενον in 190b 10 der 'gebildetwerdende-ungebildeteMensch' gemeint. Hierbei ist es zunächst gleichgültig, ob man die Momente des ύποκείμενον und άντικείμενον - wie ich es tue - als eine Explikation des 'τι γιγνόμενον' (vgl. auch Fritsche, Zekl, Prantl, Wagner) versteht, oder ob man sie als eine Explikation des 'τι δ τοΰτο γίγνεται' (vgl. Guzzoni, Simplicius, Ross, Charlton, Wicksteed/Cornford, Hardie/Gaye) ansieht, da ja in beiden Interpretationsmöglichkeiten davon ausgegangen wird, daß es einerseits etwas Werdendes und andererseits etwas, was dieses Werdende wird, gibt, wobei sich jeweils das Moment des 'Werdenden' in die Momente eines ύποκείμενον und άντικείμενον auseinandernehmen läßt. Diese beiden Interpretationsmöglichkeiten unterscheiden sich nur in dem Punkte voneinander, daß einerseits das 'τι γιγνόμενον' als Werdendes und das 'τι δ τοΰτο γίγνεται' als etwas, was dieses Werdende wird, verstanden wird, während andererseits umgekehrt das 'τι δ τοΰτο γίγνεται' als Werdendes und das 'τι γιγνόμενον' als etwas, was dieses Werdende wird, betrachtet wird. Vgl. Wagner (1967. 437) und Guzzoni (1975: 48, Fn.28). Vgl. auch Fritsche (1986: 106): „Wie Wagner interpretiert Guzzoni das τό γιγνόμενον (11) als im Prozeß befindlichen Gegenstand."
Die in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente
321
Werdende als Zusammengesetztes jedoch sowohl aus einem υποκείμενο ν ('Mensch') und άντικείμενον ('ungebildet') wie auch aus demjenigen, was es wird ('gebildet'), zusammengesetzt sein soll, wird somit auch von diesem in einem zeitlich begrenzten Sinne im Prozeß Befindlichen nicht erfüllt, denn einen Menschen, der zu irgendeinem Zeitpunkt zugleich und in derselben Hinsicht gebildet und ungebildet ist, gibt es für Aristoteles nicht. So spricht Guzzoni auch zu Recht von einem Werdenden „in der ganzen Weite seiner Bezüge, das vom Werdenden im ersten Sinne zu dem im zweiten Sinne übergeht und beide umgreift": Schließlich aber kann über diese beiden Bedeutungen hinaus [(i) das Werdende, das erst wird, und (ii) das Werdende als Gewordenes] auch noch ganz allgemein dasjenige als 'Werdendes' angesprochen werden, was z.B. der ganzen Analyse der Gründe des Werdenden als eines Werdenden zugrunde liegt, das Werdende also in der ganzen Weite seiner Bezüge, das vom Werdenden im ersten Sinne zu dem im zweiten Sinne übergeht und beide umgreift. (Guzzoni, 1975: 48, Fn.28)
Nun ist mit dieser Bestimmung des Werdenden als Werdendes „in der ganzen Weite seiner Bezüge, das vom Werdenden im ersten Sinne zu dem im zweiten Sinne übergeht und beide umgreift", nur eine sehr allgemeine Charakterisierung gegeben, unter der man sich wenig vorzustellen vermag. Guzzoni verdeutlicht diesen Begriff später durch konkrete Beispiele, wobei sie zunächst jedoch nicht von der Zusammengesetztheit des Werdenden, sondern von der Zusammengesetztheit des Werdens spricht. Ein Vogel fliegt von einem Ort zu einem anderen. Das Übergehen (μεταβολή) oder Werden ist hier 'zusammengesetzt' aus dem, was bei dieser Ortsveränderung 'herauskommt', dem hierhergeflogenen Vogel, und demjenigen, was diese Veränderung erfährt, das ist einerseits der Vogel, andererseits sein Noch-nicht-hier-, d.h. sein Dortsein. Ein Haus erhält einen Anbau. Seine Vergrößerung ist 'zusammengesetzt' aus dem vergrößerten Bau und dem, was die Vergrößerung erfährt, dem Haus sowie seiner ursprünglichen Größe. Sokrates erkrankt. Seine Erkrankung ist 'zusammengesetzt' aus seinem Kranksein sowie aus dem, was da krank wird, nämlich einerseits Sokrates, andererseits die Gesundheit. Und schließlich: ein Standbild wird verfertigt. Im Gegensatz zu den drei anderen Beispielen haben wir es hier mit einer μεταβολή κατ' οϋσίαν zu tun. Auch hier aber ist das Werden des Entstehenden 'zusammengesetzt', d.h. auch hier haben wir ein Zugrundeliegendes, solches, was zu der ousia wird, die da wird, d.h. entsteht. Das Eine ist jetzt das verfertigte Standbild; das andere ist einerseits das Erz, andererseits dessen anfänglicher Zustand des Noch-nichtgestaltet-seins, seine άσχημοσύνη. (Guzzoni, 1975: 59 f.; meine Hervorhebungen)
In bezug auf diese Interpretation ist jedoch hervorzuheben, daß das Wort „werden" hier in bezug auf die Konstitutionsmomente eines Werdenden nur in einem übertragenen Sinne verstanden werden kann. Denn wenn Guzzoni sagt „Sokrates erkrankt. Seine Erkrankung ist 'zusammengesetzt' aus seinem Kranksein sowie aus dem, was da krank wird, nämlich einerseits Sokrates, andererseits Gesundheit", so würde dies als Beschreibung eines konkreten Werdeprozesses ja bedeuten, daß wir nicht nur sagen „Sokrates wird krank", sondern auch „die Gesundheit wird krank". Da Guzzoni dies wohl kaum gemeint haben kann, ist davon auszugehen, daß wir es hier nicht mehr mit sprachlichen Beschreibungen eines
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
konkreten Werdeprozesses, sondern vielmehr mit einer theoretischen Analyse dieser Prozesse zu tun haben, für die nur in einem übertragenen Sinne gilt, daß die Gesundheit zur Krankheit „wird", nämlich in dem Sinne, daß die Gesundheit und die Krankheit an einem Zugrundeliegenden wechseln. Analoges gilt auch für die Beschreibung der Konstitutionsmomente eines Werdenden, wie Aristoteles sie in 190b 10-17 vorlegt. Würde man diesen Abschnitt ebenfalls als sprachliche Beschreibung eines konkreten Werdeprozesses und nicht als theoretische Beschreibung der Konstitutionsmomente dieses Prozesses - verstehen, so würden sich analoge Probleme ergeben. Hatte Aristoteles nämlich in 190a25-26 noch gesagt, daß man in bezug auf eine Statue, die aus Erz wird, nur sagen kann „die Statue wird aus Erz", nicht aber „das Erz wird eine Statue", so scheint in 190bl 1-17 demgegenüber zunächst doch davon die Rede zu sein, daß das Erz eine Statue wird. Denn wenn man das in 190b 16 für ein ΰποκείμενον angeführte Beispiel „Erz" (χαλκός) in die Formel „das Werdende" (τι γιγνόμενον: bl2) einsetzt, und wenn man die Form 'Statue' in die Formel „dasjenige, was dieses (das Werdende) wird" (τι δ τοΰτο γίγνεται: bl2) einsetzt, so würde sich letztlich ergeben, daß das Erz die Statue wird. Hier ist jedoch ebenfalls zu beachten, daß Aristoteles in 190bl 1-17 im Unterschied zu 190 a25-26, wo er noch vom konkreten Erz und von der konkreten Statue gesprochen hat, über die wir in unserer Alltagssprache solch einen Satz wie „die Statue wird aus Erz" zur Beschreibung eines konkreten Werdeprozesses bilden, nun vom 'Erz' und von der 'Statue' im Sinne von Konstitutionsmomenten ('Stoff einerseits und 'Form' andererseits) eines konkreten Werdenden spricht, von denen nur in einem übertragenen Sinne ein „werden" gesagt wird. Die Variablen „τι γιγνόμενον" und „τι δ τοΰτο γίγνεται" stehen nicht mehr für die konkreten Dinge, sondern für die Konstitutionsmomente dieser konkreten Dinge." 1 Hat Guzzoni mit den Beispielen des 'Übergehens', der 'Vergrößerung' und der 'Erkrankung' zunächst noch von der Zusammengesetztheit des Werdens (γένεσις) gesprochen, was der Konklusion in 190b 11-17 insofern nicht ganz entspricht, als Aristoteles dort selbst von der Zusammengesetztheit eines Werdenden (γιγνόμενον) spricht, so geht sie wenige Zeilen später jedoch ebenfalls auf die Zusammengesetztheit des Werdenden ein: Was zusammengesetzt ist - das sollten diese Beispiele noch einmal deutlich machen ist in diesem Zusammenhang nicht nur und nicht eigentlich das Gewordene, sondern das Werdende in seinem Werden genommen. Nicht der kranke Sokrates setzt sich ja aus Krankheit, Sokrates und Gesundheit zusammen, sondern nur der k r a n k w e r d e n d e Sokrates. (Guzzoni, 1975: 60)
Nun wird deutlich, daß Aristoteles mit dem zusammengesetzten Werdenden in b l l den „gebildetwerdenden-ungebildeten-Menschen" oder die „aus-dem-ungeDaß Aristoteles hier in einem übertragenen Sinne vom „Werden" zu sprechen beginnt, wird auch wenig später deutlich, wenn er sagt, daß jedes Werdende aus einem ύποκείμενον und einer μορφή wird (190b20). Denn in einem konkreten Sinne als sprachliche Beschreibung eines Werdeprozesses sagen wir ja nicht, daß z.B. eine Statue aus dem Stoff 'Erz' und aus der Form 'Statue' wird.
Die in einem jeden Werdenden beteiligten konstitutiven Momente
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formten-Erz-werdende-Statue" meint, die jeweils als Ganzheiten betrachtet ein zusammengesetztes Werdendes (γιγνόμενον: b l l ) darstellen. Das ganze, zusammengesetzte Werdende (γιγνόμενον: bl 1) läßt sich in seine beiden Momente eines 'Werdenden' - nämlich in das ύποκείμενον und άντικείμενον - und in 'etwas, was dieses Werdende wird', - nämlich das είδος bzw. die μορφή - differenzieren, wobei jedoch dasjenige, was es wird, deshalb nicht als Werdendes (τι γιγνόμενον: bl2), sondern als etwas, was es wird (τι δ τοΰτο γίγνεται: bl2), zu verstehen ist, weil ja die bloßen Formen selbst keinem Werden unterliegen." 2 Das 'ύποκείμενον' in b l 3 meint nun allerdings weniger in einem sprachlichen Sinne das „Subjekt einer Prädikation" als vielmehr in einem ontischen Sinne das „Aufnehmende von Formen". Denn das 'ύποκείμενον' soll ja ein 'ύποκείμενον' nicht nur für akzidentelle Formen wie z.B. 'gebildet', sondern auch für substantielle Formen wie z.B. 'Statue' sein. Während nun zwar 'gebildet' vom Menschen ausgesagt werden kann, gilt dies jedoch nicht für 'Statue' in bezug auf Erz. Denn es wurde ja bereits dargelegt, daß von dem Erz nicht gesagt werden kann „das Erz ist eine Statue" oder „das Erz wird eine Statue". Während wir es also in bezug auf die beiden ύποκείμενα 'Erz' (für Statue) und 'Mensch' (für Bildung) in beiden Fällen mit einem Aufnehmenden einer Form zu tun haben, haben wir es nicht in beiden Fällen mit dem Subjekt einer Prädikation zu tun. Daß mit dem 'τι δ τοΰτο γίγνεται' (bl2) bloße Formen (z.B. 'Bildung', 'Weiße' und 'Statue') gemeint sind, die vom ύποκείμενον aufgenommen werden, wird aus folgendem deutlich. Zwar führt Aristoteles für das 'τι δ τοΰτο γίγνεται' keine Beispiele an, doch werden für die αντικείμενα die Beispiele άσχημοσύνη, άμορφία und αταξία (bl5) als abstrakte Termini genannt." 3 Später wird Aristoteles dann in bezug auf das είδος auch explizit von der „Bildung" (ή μουσική) und nicht mehr vom „Gebildeten" (ό μουσικός) sprechen (vgl. 190 b28). Vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, wieso Aristoteles das Erz in b l 6 als Beispiel für ein ύποκείμενον und τι γιγνόμενον anführen kann. Auch wenn beim Werden einer Statue aus Erz die Statue (als konkretes Ganzes) das eigentlich Werdende ist und somit das eigentliche Subjekt (ύποκείμενον) der sprachlichen Prädikation „eine Statue wird (aus Erz)" darstellt, so ist hierbei jedoch zu beachten, daß die bloße Form der Statue selbst keinem Werden unterliegt. Dies bedeutet, daß bei der konkreten, ganzen werdenden Statue, sofern man sie in ihre logischen Bestandteile auseinandernimmt, nicht die Form 'Statue', sondern vielmehr der Stoff'Erz' das Werdende sein muß.114
113 114
Daß hier mit dem 'τι δ τοΰτο γίγνεται' (bl2) die bloßen Formen (εϊδη) und Gestalten (μορφαί) gemeint sind, zeigt sich auch im nachfolgenden Abschnitt 190b 17-23, der ja eine Konklusion aus 190b 10-17 darstellen soll (vgl. ,,φανερόν οΰν [...]": bl7) und wo Aristoteles davon spricht, daß alles aus ύποκείμενον und μορφή wird. Dort wird das Werdende als ein σύνθετον aus ύποκείμενον und μορφή betrachtet. In Entsprechung dazu meint auch ,,τό αμουσον" in bl4 nun „ungebildet" (im Sinne der Eigenschaft), und nicht „das Ungebildete". Vgl. auch Met. VII.7, 1032b32-1033al: „[...]; denn der Stoff ist ein Teil, er ist in dem Werdenden vorhanden und er wird."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' 7.6 Die gemeinsamen άρχαίder φύσει γιγνόμενα (190bl7-191a7)
und φύσει
δντα
7.6.1 Der Übergang von den Konstitutionsmomenten zu den άρχαί (190b 17-20) Es ist also klar: Wenn es Ursachen und Prinzipien der Naturdinge gibt, aus denen als ersten sie sind und geworden sind, und zwar nicht im nebenbei zukommenden Sinn, sondern ein jedes, was seinem Wesen nach ausgesagt wird [εϊπερ είσίν αίτίαι καν άρχαί των φύσει όντων, έξ ών πρώτων είσί και γεγόνασι μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά την ούσίαν], dann wird alles aus dem Zugrundeliegenden und der Gestalt [γίγνεται πάν έκ τε τοΰ υποκειμένου και της μορφής]. Denn »gebildeter Mensch« ist doch auf gewisse Weise zusammengesetzt aus »Mensch« und »gebildet«; du löst ihn [oder: diese Begriffe] nämlich in die Begriffe von jenen auf [διαλύσεις γαρ [τούς λόγους] εις τους λόγους τούς έκείνων]. Es ist also klar, daß das Werdende wohl aus diesen wird [δήλον οΰν ώς γίγνοιτ' αν τά γιγνόμενα έκ τούτων], (1.7, 190bl7-23) Wurde in 190b 10-17 dargelegt, daß jedes Werdende aus einem Werdenden (τι γιγνόμενον: b l 2 ) und aus etwas, was dieses Werdende wird (τι δ τοΰτο γίγνεται: bl2), zusammengesetzt ist, wobei sich das Werdende (τι γιγνόμενον) weiter in ein ύποκείμενον und ein άντικείμενον differenzieren läßt," 5 so geht es Aristoteles in 190b 17-23 nun um die Frage, ob diese Konstitutionsmomente auch die Prinzipien des Werdenden sind. Im Gegensatz zu Wieland (1962: 126 ff.), der in dem Abschnitt 190b 17-23 gegenüber dem Abschnitt blO-17 inhaltlich nichts Neues hinzukommen sieht und den Beweis bereits mit blO-17 für abgeschlossen hält, ist Fritsche (1986: 94) der Auffassung - und hierin folgt er Simplicius -, daß Aristoteles seinen Gedanken in b 17-23 weiterfuhrt. Fritsche weist im Rückgriff auf Wagner zu Recht daraufhin, daß der Abschnitt 190b 10-17 primär vom Werden eines werdenden Gegenstandes handelt - deshalb ist dort auch noch von den drei Momente 'ύποκείμενον', 'άντικείμενον' und 'τι δ τοΰτο γ ί γ ν ε τ α ι ' (μορφή) eines Werdenden die Rede -, während der Abschnitt 190b 17-23 primär vom Werden eines gewordenen Gegenstandes („gebildeter Mensch") handelt - deshalb ist dort zunächst nur von den beiden Momenten 'ύποκείμενον' und 'μορφή' die Rede." 6 Fritsche (1986: 95 ff.) weist nun daraufhin, daß Simplicius (215.24 ff.) folgende Interpretation vertritt: Während in 190b 10-17 zunächst aufgezeigt wird, daß jedes Werdende aus einem Zugrundeliegenden und einer Form wird, erfolgt
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In einer formalen Parallele dazu spricht Aristoteles auch in 190b 17-23 zunächst nur vom ύποκείμενον und von der μορφή, um dann in b23-29 das ύποκείμενον weiter in seine beiden Momente der στέρησις und der ΰλη auseinanderzunehmen. Vgl. Fritsche (1986: 109): „Wenn das to gignomenon in 190 b 11 nicht das Resultat des Werdens bezeichnet, sondern den im Werden begriffenen Gegenstand, kann der primär vom gewordenen Gegenstand handelnde Satz 190 b 17-23 nicht einfach ein Resümee des bis 190 b 17 und sogar schon mit 190 b 10 Entwickelten sein, sondern muß in gewisser Weise von einem neuen Gesichtspunkt aus das bisher Erreichte weiterfilhren." Vgl. auch Wagner (1967: 121), der ebenfalls in bezug auf b 10-17 vom Werden des Werdenden und in bezug auf b 17-23 vom Werden des Gewordenen spricht.
Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und φύσει δντα
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erst in 190b 17-23 der Beweis, daß die natürlichen Dinge in dem Zugrundeliegenden und der Form ihre Prinzipien haben. Dieser Beweis erfolgt Simplicius zufolge in 190b 17-23 durch einen syllogistischen Schluß, den Fritsche (1986: 96) wie folgt zusammenfaßt: Der Beweis geschieht durch einen Schluß: »συλλογιζόμενος οΰτως·« [Simpl. 215.27 f.] In diesem Schluß ist das bis 190 b 17 Bewiesene Untersatz: »τό φυσικόν και γενητόν απαν σύγκειται καθ' αυτό έκ πρώτων τοΰ τε υποκειμένου και τοΰ είδους·« [Simpl. 215.28 f.] Der, wie in jedem Schluß, weder aus dem Untersatz ableitbare noch als Ableitungsbasis für den Untersatz aus ihm dienende Obersatz lautet: »τό συγκείμενον καθ' αύτό και μή κατά συμβεβηκός έκ πρώτων τοΰ τε υποκειμένου καϊ τοΰ είδους άρχάς έχει τό τε ύποκείμενον και τό είδος·« [Simpl. 215.29-31] Aus beiden folgt der Satz, daß das Werdende und das, was wird, Form und Zugrundeliegendes, Ursprünge als Elemente dessen, was aus ihnen wird, sind. Eine Schwierigkeit, die mit diesem Syllogismus jedoch verbunden ist, besteht darin, daß der von Simplicius angeführte Obersatz im aristotelischen Text selbst nicht steht und - wie Fritsche zu Recht betont - „von Simplicius ohne Erläuterung eingeführt" (1986: 96) wird. Simplicius ist, so Fritsche, vermutlich der Ansicht, daß der von ihm eingeführte Obersatz in der Metaphysik (man denke vor allem an Met. VII.7-9) bewiesen wird und der Physikvorlesung vorausgesetzt ist. Gegen die Ansicht, daß Aristoteles für das Buch Α der Physik Ergebnisse aus der Metaphysik voraussetzt, hat sich jedoch Wieland (1962: 13 ff. und 97) mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Fritsche (1986: 98), der Wieland in diesem Punkt zustimmt, ist nun der Auffassung, daß die mit dem von Simplicius angeführten Syllogismus entstandene Schwierigkeit in folgendem Sinne einer Lösung zugeführt werden kann: Während die von Simplicius als Untersatz angeführte Behauptung „das Natürliche ist aus Zugrundeliegendem und Form zusammengesetzt" in Phys. 1.7 bis 190b 17 bewiesen wird, wird die von Simplicius als Obersatz angeführte Behauptung „das Zugrundeliegende und die Form sind die Prinzipien" nicht in der Metaphysik bewiesen und hier vorausgesetzt, wohl aber wird sie in bezug auf das Zugrundeliegende noch in Physik I bewiesen, während sie in bezug auf die Form vor allem in Physik II bewiesen wird: Für Aristoteles kommt es darauf an, eine Form der Diairesis für die natürlichen Dinge zu eruieren, deren Abstrakta als Wirkliches in den Dingen aufgewiesen und als Ursprünge der natürlichen Dinge angesprochen werden können. Wenn er vermutet, daß er dies mit den Begriffen Form und Zugrundeliegendes wird leisten können, muß er, um die Konklusion des Simplicius zu beweisen, zweierlei beweisen: zunächst, daß das Natürliche aus Form und Zugrundeliegendem zusammengesetzt ist; dies ist in Phys. I. 7 bis 190 bl7 geschehen. Dann muß man den Obersatz beweisen, daß diese beiden Ursprünge sind. Dies wird nun freilich nicht - darin Wieland folgend - in der Metaphysik bewiesen und hier vorausgesetzt, sondern durchaus in der Physikvorlesung selbst, für das Zugrundeliegende noch im ersten Buch, für die Form vor allem im zweiten; und daß nur diese beiden Ursprünge sind, weil durch keine anderen mehr
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' zu komplettieren, - dieser Beweis als der des Wieviel, endet eigentlich erst mit dem vierten Buch. (Fritsche, 1986: 98)
In einer Fußnote zum Begriff 'Ursprünge' fügt Fritsche hinzu: Insofern zum Begriff des Ursprungs Unvergänglichkeit gehört, muß ein solcher Erweis dartun, daß hyle und eidos unvergänglich sind. Da die bestimmten hylai einzelner Dinge als bestimmte hyle, z.B. diese Hölzer oder diese Steine dieses Hauses, vergänglich sind, muß gezeigt werden, daß in ihnen etwas Unvergängliches ist. (Fritsche, 1986: 264, Fn.17)
Fritsches Interpretation, der zufolge in bezug auf das Zugrundeliegende noch in Physik I gezeigt wird, daß es ein Prinzip ist, während in bezug auf die Form erst im nachfolgenden Buch II bewiesen wird, daß es ein Prinzip ist, steht jedoch im Widerspruch zu der von mir zugrunde gelegten These von der Abgeschlossenheit des ersten Buches der Physik. Wenn Fritsche nun darauf hinweist, daß in bezug auf die ΰλη noch in Physik I gezeigt wird, daß es ein Prinzip ist, und wenn sich die Prinzipien Fritsche zufolge primär durch ihre Unvergänglichkeit auszeichnen, so denkt Fritsche in bezug auf den Nachweis, daß die ύλη ein Prinzip ist, offenkundig an den Abschnitt 1.9, 192a25-34, wo Aristoteles darlegen wird, daß die ΰλη in einer bestimmten Hinsicht betrachtet nicht dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Da Aristoteles dort aber umgekehrt in bezug auf das είδος nicht eigens zeigen wird, daß auch dieses nicht dem Vergehen und Entstehen unterworfen ist, sondern vielmehr auf spätere Zusammenhänge verweist,117 ist dies vermutlich der Grund, warum Fritsche der Ansicht ist, daß in bezug auf das είδος nicht mehr im ersten Buch der Physik gezeigt wird, daß es ein Prinzip sei. Wenn dies aber der Fall wäre, und wenn somit gelten würde, daß Aristoteles erst in Physik II zeigen wird, daß auch das είδος ein Prinzip ist, so stünde dies in einem offenkundigen Widerspruch zu der unmittelbar folgenden Konklusion des gesamten Buches I in 192b2-4, der zufolge nun klar sein soll, daß es Prinzipien gibt, welche es sind und wieviele es sind. Der Grund, warum Aristoteles in Kapitel 1.9 nicht eigens zeigen wird, daß auch das είδος nicht dem Vergehen und Entstehen unterworfen ist, ist vielmehr darin zu sehen, daß nach Ansicht von Aristoteles, der sich in Kapitel 1.9 in einer Auseinandersetzung mit Piaton befindet, in bezug auf das είδος auch nach Ansicht von Piaton - und anders als bei der ΰλη - klar ist, daß es nicht dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Zudem habe ich bereits in Kapitel 1.5 in Auseinandersetzung mit Fritsches These, daß Aristoteles auch das 'Daß' der Prinzipien zu beweisen habe, dargelegt, daß Aristoteles das Vorhandensein von Prinzipien aus dem Grunde nicht eigens beweist, da die Tatsache, daß es Prinzipien gibt, eine Voraussetzung für eine jede Wissenschaft darstellt. Das 'Daß' der Prinzipien wird von Aristoteles vielVgl. 1.9, 192a34-b2: „Bezüglich des Prinzips hinsichtlich der Form [περί δέ της κατά τό είδος άρχης] aber, ob es eines ist oder viele und welches oder welche, dies in Genauigkeit zu bestimmen, ist Aufgabe der Ersten Philosophie, so daß es bis zu jener Gelegenheit zurückgestellt sein soll. Bezüglich der natürlichen und vergänglichen Formen [περί δέ των φυσικών και φθαρτών ειδών] aber werden wir in den späteren Ausführungen darüber sprechen."
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mehr auf indirektem Wege gezeigt, insofern die Konstitutionsmomente der φύσει δντα bzw. γιγνόμενα herausgearbeitet werden und dann gezeigt wird, daß diese Konstitutionsmomente die Kriterien einer 'άρχή' erfüllen. Wurden nun in 190b 10-17 die Konstitutionsmomente eines jeden zusammengesetzten Werdenden herausgearbeitet - dies war aus dem Grunde notwendig, da wir, wie Aristoteles in 1.4, 187 b 11-13 bemerkt hat, über ein Zusammengesetztes nur dann ein Wissen haben, wenn wir wissen aus welchen und wievielen Bestandteilen es besteht -, so muß er zudem den Nachweis erbringen, daß diese Konstitutionsmomente die Kriterien einer 'άρχή' erfüllen. Als diese Kriterien sind jedoch neben der von Fritsche genannten 'Unvergänglichkeit' vor allem die in 1.5, 188a27-28 angeführten drei Kriterien des (1) 'Nicht-auseinander-Seins' (μήτε έξ αλλήλων), des (2) 'Nicht-aus-anderem-Seins' (μήτε έξ άλλων) und des (3) 'Alles-aus-diesen-Seins' (και έκ τούτων πάντα) zu nennen, die in Kapitel 1.6 den entscheidenden Grund dafür darstellten, daß nicht die Gegensätze allein die Prinzipien sein können. Zu (1): Daß die Konstitutionsmomente nicht auseinander sind, wird Aristoteles in 190b33-35 hervorheben, wo es heißt, daß die Gegensätze nichts voneinander erleiden (vgl. ,,ύπ' άλλήλων γαρ πάσχειν τάναντία άδύνατον": b33) und das ύποκείμενον kein Glied eines Gegensatzes ist (vgl. „[...] δια τό άλλο είναι τό ύποκείμενον- τούτο γαρ ούκ έναντίον": b34-35)." 8 Nun könnte man zwar einwenden, daß Aristoteles das Konstitutionsmoment des 'άντικείμενον', das er im folgenden als ,,στέρησις" bezeichnen wird, sowohl in Abhängigkeit vom ύποκείμενον, an dem die στέρησις ein συμβεβηκός sein soll (vgl. 190 b27), als auch in Abhängigkeit vom είδος, als dessen Abwesenheit (άπουσία) die στέρησις aufgefaßt werden kann (vgl. 191 a7), bestimmt, so daß die στέρησις vor diesem Hintergrund gerade nicht das Kriterium des 'Nicht-auseinanderseins' zu erfüllen scheint, doch ist hierbei zu bedenken, daß Aristoteles vermutlich gerade aufgrund des Nichterfüllens dieses Kriteriums der Ansicht ist, daß die στέρησις in gewisser Weise kein Prinzip sei, und daß in einer bestimmten Hinsicht zwei Prinzipien ausreichen (vgl. 191a5-7). Zu (2): Daß die Konstitutionsmomente nicht aus anderem sind, wird in bezug auf das ύποκείμενον dadurch gezeigt, daß für ein jedes Werdende ein ύποκείμενον vorausgesetzt werden muß, an dem oder aus dem etwas wird, wobei das ύποκείμενον selbst von keinem anderen, sondern alles andere von ihm ausgesagt wird. So spricht Aristoteles in 1.9, 192a31 auch von der ύλη als das für ein jedes erste Zugrundeliegende (τό πρώτον ύποκείμενον έκάστω), aus dem etwas als in ihm schon Vorhandenen wird. In diesem Sinne kann z.B. das Erz, aus dem als ύποκείμενον die Statue wird, sofern es selbst wiederum aus etwas wird, ebenfalls nur aus einem (weiteren) ύποκείμενον werden. 118
Den Aspekt, daß Aristoteles im Anschluß an die Herausarbeitung der Konstitutionsmomente eigens hervorheben muß, daß diese auch die bereits angeführten Kriterien einer 'άρχή' erfüllen, scheint Zekl (1987: 245, Fn.81) zu übersehen, wenn er in bezug auf 190b33-35 sagt: „Man hat etwas den Eindruck, mit diesen zusammenfassenden Bemerkungen greift er auf ein entfernteres Gedankenstudium zurück, als er eigentlich müßte. Das alles hat der aufmerksame Hörer/Leser längst begriffen."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Daß die Konstitutionsmomente nicht aus anderem sind, wird in bezug auf das είδος (bzw. die μορφή) dadurch gezeigt, daß Aristoteles mit dem Gegensatz 'είδος und στέρησις' einen Gegensatz wählt, den er an anderer Stelle in Form von „έξις και στέρησις" auch als einen ersten Gegensatz (πρώτη έναντίωσις: Met. X.4, 1055a33) bezeichnet, und der somit als erster nicht aus einem anderen Gegensatz herleitbar ist. Diesem Begriff des 'Ersten' begegnen wir auch in 190b 18: ,,έξ ών πρώτων είσι καν γεγόνασι [...]." Als erster Gegensatz erfüllt der Gegensatz von 'είδος und στέρησις' folglich auch die in Kapitel 1.5 aufgestellten Kriterien, denen zufolge der erste Gegensatz, auf den alle anderen Gegensätze innerhalb einer Gattung reduziert werden können, 'umfassend', 'früher' und 'dem λόγος nach bekannter' ist. Diese 'Bekanntheit dem λόγος nach' trifft insofern für das είδος zu, als gerade das είδος dasjenige ist, von dem es einen λόγος gibt (vgl. auch 1.7, 191al3, wo Aristoteles in bezug auf das Prinzip des είδος sagt: „μία δέ ής ό λόγος"). Sagt Aristoteles in Met. X.4, 1055b 13-15, daß jeder konträre Gegensatz (έναντίωσις) eine στέρησις ist, so weist er zugleich darauf hin, daß dies nicht bedeutet, daß umgekehrt auch jede στέρησις ein konträrer Gegensatz ist. Diese Bemerkung ist für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung, als durch sie deutlich wird, daß der Begriff der στέρησις umfassender als der Begriff des konträren Gegensatzes ist." 9 Will man nun in Analogie zu den drei Aporien in Kapitel 1.6 einwenden, daß das είδος im Sinne eines Prädikats jedoch von einem ΰποκείμενον ausgesagt wird, so daß es kein Prinzip sein kann, weil das ΰποκείμενον als Subjekt dieses Prädikats früher (vgl. ,,πρότερον": 189a32) als das Prädikat ist, so ist allerdings darauf hinzuweisen, daß wir es in Kapitel 1.7 genaugenommen mit zwei verschiedenen Arten von Formen - nämlich mit sekundären Formen wie z.B. 'gebildet' bzw. 'Bildung' und mit primären Form wie z.B. 'Mensch' oder 'Statue' - zu tun haben. Während zwar in bezug auf solche εϊδη wie 'gebildet' gilt, daß sie von einem anderen ausgesagt werden, scheint dies in bezug auf solche εϊδη wie 'Mensch' und 'Statue' in Physik I insofern fraglich zu sein, als sie doch dasjenige darstellen sollen, von dem alles andere ausgesagt wird (vgl. 190a34-bl). Zudem ist zu bedenken, daß, wie die Interpretation gezeigt hat, unter dem ΰποκείμενον nun weniger das 'Subjekt einer Prädikation' als vielmehr das 'Aufnehmende einer Form' zu verstehen ist. Zwar steht das είδος als dasjenige, was von einem ΰποκείμενον aufgenommen wird, immer noch in einer Abhängigkeit zu diesem ΰποκείμενον, doch haben wir es nun genaugenommen mit einer wechselseitigen und gleichzeitigen Abhängigkeit zwischen der Form und dem Aufnehmenden einer Form zu tun haben. Denn das Aufnehmende ist ja ohne etwas, was es aufnimmt, kein Aufnehmendes mehr.120 Ebenso wie das είδος zu seiner „Realisierung" ein ΰποκείμενον voraussetzt, von dem es aufgenom-
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Die στέρησις umfaßt zwar alle, jedoch nicht nur die konträren Gegensätze. Dies ist für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung, als beim Entstehen der οϋσίαι ja keine konträren Gegensätze vorliegen. Analoges gilt im übrigen auch für die Bestimmung des hypokeimenon als „Subjekt einer Prädikation": Ebenso wie das Prädikat kein Prädikat mehr ist, wenn es nicht einem Subjekt zukommt, ist auch das Subjekt kein Subjekt mehr, wenn ihm nicht ein Prädikat zukommt.
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men wird, so setzt auch das ϋποκείμενον zu seiner „Realisierung" ein είδος voraus, durch das es erst zu einem eigentlichen Seienden (öv), Dieses-da (τόδε τι) und Ding (ούσία) wird (vgl. dazu 191a7-12). Zu (3): Daß aus den Konstitutionsmomenten alles ist, hat Aristoteles dadurch gezeigt, daß jedes Werdende immer ein Zusammengesetztes aus diesen Momenten darstellt (vgl. ,,δτι τό γιγνόμενον α π α ν άει συνθετόν έστι": 190bl I).121 Mit diesem dritten Kriterium, dem zufolge aus den Prinzipien alles sein muß, ist nun folgende weitere Überlegung verbunden: Zwar konnte Aristoteles zeigen, daß ein jedes von Natur aus Werdende (φύσει γιγνόμενον) aus den drei Momenten eines 'ύποκείμενον', eines 'άντικείμενον' und einer 'μορφή' zusammengesetzt ist, doch bedeutet dies nicht, daß auch ein jedes von Natur aus Seiende (φύσει öv) - im Sinne eines von Natur aus Gewordenen - aus diesen Momenten zusammengesetzt sein muß. Denn in dem Gewordenen ist das Moment des άντικείμενον ja nicht mehr enthalten. Wenn nun aber alles Natürliche aus den Prinzipien sein soll, so sind zu diesen natürlichen Dingen nicht nur die Werdenden (φύσει γιγνόμενα), sondern auch die Gewordenen bzw. Seienden (φύσει δντα) zu zählen. Angesichts dieser Überlegung, der zufolge die den φύσει γιγνόμενα und φύσει δντα gemeinsam zugrundeliegenden Prinzipien aufzusuchen sind, wird verständlich, warum in 190b 17-23 vom Moment des 'άντικείμενον' zunächst keine Rede mehr ist. Das Moment des άντικείμενον wird in der Prämisse ,,εϊπερ είσίν αϊτίαι και άρχαί των φύσει όντων, έξ ων πρώτων είσί και γεγόνασι μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά την ούσίαν" (bl7-19) als Prinzip der φύσει δντα zunächst ausgeschlossen, da ja das άντικείμενον in dem Gewordenen nicht mehr enthalten ist. Es ist also klar: Wenn es Ursachen und Prinzipien der Naturdinge gibt, aus denen als ersten sie sind und geworden sind, und zwar nicht im nebenbei zukommenden Sinn, sondern ein jedes, was seinem Wesen nach ausgesagt wird [εϊπερ είσί ν α ϊ τ ί α ι κ α ί ά ρ χ α ί των φύσει όντων, έξ ών πρώτων είσί και γεγόνασι μή κατά συμβεβηκός ά λ λ ' έκαστον δ λέγεται κατά τήν ούσίαν], dann wird alles aus dem Zugrundeliegenden und der Gestalt [γίγνεται π ά ν έκ τε του υποκειμένου καί της μορφής]. 122 Denn »gebildeter Mensch« ist doch auf gewisse Weise zusammengesetzt aus »Mensch« und »gebildet«; du löst ihn [oder: diese Begriffe] nämlich in die Begriffe von jenen auf [διαλύσεις γαρ [τους λόγους] εις τους λόγους τους έκείνων]. 1 2 3 121
Vgl. auch 190bl9-20: ,,δτι γίγνεται πάν £κ τε τοϋ υποκειμένου καί της μορφής". Aristoteles verwendet hier zunächst den Ausdruck „μορφή", während er später von „είδος" (b28) spricht. Mit beiden Ausdrücken ist das Moment der Gestalt und Form gemeint. Daß Aristoteles zunächst den Ausdruck „μορφή" wählt, erklärt sich vermutlich aufgrund des Umstands, daß Aristoteles in 190b 15 von der „αμορφία" sprach. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Seidl (1995: 5, Fn.3): „Es besteht ein Unterschied zwischen der Form als Ursache, welche die Materie bestimmt, d.h. formt, und der von ihr ausgehenden Form(bestimmung) an der Materie. Während der Begriff είδος beides bedeuten kann, dürfte der Begriff μορφή auch die Formbestimmung, »Gestalt(ung)« an der Materie bezeichnen, gerade im Gegensatz zur Privation, die wohl weniger die Abwesenheit der Formursache bedeutet, sondern eher die ihrer Wirksamkeit oder Formbestimmung an der Materie; denn die Formursache liegt im Entstehenden schon von Beginn an vor, wo die Materie noch der Formbestimmung »beraubt« ist." Diels hat das erste „τους λόγους" in b22 athetiert. Dieser Athetierung haben sich Hardie/Gaye (1930), Wagner (1967: 25) Ross (1936: 493), Apostle (1969: 20), Zekl (1987: 39), Gohlke (1956: 51) und Wicksteed/Cornford (1980: 79) angeschlossen. Ross (1936: 493) weist darauf hin, daß sich der Ausdruck ,,τούς λόγους", da er im Plural steht, nicht auf „gebildeter Mensch"
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' Es ist also klar, daß das Werdende wohl aus diesen wird [δήλον οΰν ώς γίγνοιτ' αν τά γιγνόμενα έκ τούτων], (1.7,190bl7-23)
In bezug auf das Verständnis der dieser Argumentation vorangestellten Prämisse ,,ε'ίπερ είσιν αίτίαι και άρχαί των φύσει δντων, έξ ών πρώτων εϊσι και γεγόνασι μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά την ούσίαν" stellt sich zunächst die Frage, ob das Satzglied ,,μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά τήν ούσίαν" (b 18-19) (i) nur auf das „γεγόνασι" (bl8), 124 oder ob es (ii) sowohl auf das „γεγόνασι" (bl8) als auch auf das „εΐσι" (bl8) zu beziehen ist.125 (i) Wenn man dieses Satzglied nur auf „γεγόνασι"
124 125
beziehen kann, da „gebildeter Mensch" nur einen einzigen λόγος darstellt. Demgegenüber spricht sich Gill (1989: 105) gegen diese Athetierung aus und weist daraufhin, daß der Satz b22-23 auch so verstanden werden kann, daß die λόγοι von „Mensch" und „gebildet" in die λόγοι des ,,ύποκείμενον" und der „μορφή" aufgelöst werden können. Schaut man genauer hin, so ergibt sich in beiden Lesarten auch ein unterschiedlicher Begründungszusammenhang: (I) Athetiert man das ,,τούς λόγους" in b22, so ergibt sich folgendes Argument: (1) Denn der 'gebildete Mensch' ist auf gewisse Weise aus 'Mensch' und 'gebildet' zusammengesetzt. (2) Denn Du löst ihn [den 'gebildeten Menschen'] ja in die λόγοι von jenen ['Mensch' und 'gebildet'] auf. (3) Es ist also klar, daß die Werdenden aus diesen [ύποκείμενον und μορφή] werden. Das Argument macht deutlich, daß (2) als Begründung von (1) anzusehen ist: Die Behauptung, daß der 'gebildete Mensch' auf gewisse Weise aus 'Mensch' und 'gebildet' zusammengesetzt ist, wird dadurch begründet, daß man 'gebildeter Mensch' ja in die λόγοι von 'Mensch' und 'gebildet' auseinandernehmen kann. Der Satz (2) stellt somit vor allem eine Explikation des Ausdrucks „auf gewisse Weise" (τρόπον τινά: b22) in Satz (1) dar und weist daraufhin, daß hier nicht eine materielle, sondern vielmehr eine logische Zusammengesetztheit von Subjekt und Attribut bzw. von Zugrundeliegendem und Form gemeint ist. Die Konklusion (3) stellt dieser Lesart zufolge eine Wiederholung und Bekräftigung der Konklusion aus 190b20 dar. (II) Athetiert man das ,,τούς λόγους" in b22 nicht, so ergibt sich folgendes Argument: (1) Denn der 'gebildete Mensch' ist auf gewisse Weise aus 'Mensch' und 'gebildet' zusammengesetzt. (2*) Denn Du löst die λόγοι [von 'Mensch' und 'gebildet'] ja in die λόγοι von jenen [ύποκείμενον und μορφή] auf. (3) Es ist also klar, daß die Werdenden aus diesen [ύποκείμενον und μορφή] werden. Dieser Lesart zufolge wäre der Satz (2*) nun nicht als Begründung von (1) anzusehen, denn die Behauptung, daß die λόγοι von 'Mensch' und 'gebildet' in die λόγοι von 'ύποκείμενον' und 'μορφή' auflösbar sind, begründet ja nicht die Behauptung, daß 'gebildeter Mensch' aus 'Mensch' und 'gebildet' zusammengesetzt ist. Der Lesart (II) zufolge würde man in dem Satz (2*) eher den verknüpfenden Partikel „und" (καί) als den begründenden Partikel „denn" (γάρ) erwarten, so daß das gesamte Argument dann folgende Gestalt hätte: „Weil 'gebildeter Mensch' aus 'Mensch' und 'gebildet' zusammengesetzt ist, und weil man die λόγοι von 'Mensch' und 'gebildet' in die λόγοι von 'ύποκείμενον' und 'μορφή' auflösen kann, ist klar daß jedes Werdende aus ύποκείμενον und μορφή wird." Vgl. Prantl, (1854: 41), Hardie/Gaye (1930), Gohlke (1956: 51), Wicksteed/Comford (1980: 79) und Apostle (1969: 21). Vgl. Wagner (1967: 25). Charlton (1970: 46 f.) bezieht das ,,μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά τήν ούσίαν" (bl 8-19) auf das „έξ ών" (bl8) und ist der Auffassung, daß Aristoteles in bl7-19 eine Unterscheidung zwischen der στέρησις als einer άρχή κατά συμβεβηκός und dem ύποκείμενον als einer άρχή καθ' αύτό zum Ausdruck bringen will: „I think, therefore, that the contrast he [Aristoteles] has in mind, here as below, 190 b25-7, 191 bl4-I5, is between principles καθ' αύτό like the underlying thing, and principles κατά συμβεβηκός like the lack. On this view, μή κατά συμβεβηκός and κατά τήν ούσίαν go rather with έξ ών than with γεγόνασι, and Aristotle either means by κατά τήν ούσίαν 'strictly', 'in truth' (cf. Met. Δ 1019 a3), or else (as is suggested in my translation and by 190 b22-3) has in mind the point (194 a!6-17 etc.) that the account of the ούσία of a thing should
Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und φύσει όντα
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(bl8) bezieht, so ergibt sich die Bedeutung, daß die Prinzipien diejenigen Dinge sind, aus denen als ersten die φύσει δντα bestehen und aus denen sie nicht im nebenbei zukommenden Sinn, sondern ein jedes, was seinem Wesen nach ausgesagt wird, geworden sind, (ii) Wenn man das Satzglied sowohl auf ,,γεγόνασι" (bl 8) als auch auf ,,είσι" (bl8) bezieht, so ergibt sich die Bedeutung, daß die Prinzipien diejenigen Dinge sind, aus denen als ersten nicht in einem akzidentellen Sinne, sondern ein jedes, was seinem Wesen nach ausgesagt wird, die φύσει δντα bestehen und geworden sind. Bezieht man nun den Ausdruck ,,μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά την ούσίαν" (b 18-19) sowohl auf das ,,γεγόνασι" (bl8) als auch auf das ,,είσί" (bl8), so würde hier von den Prinzipien nicht nur gesagt werden, daß sie dasjenige sind, woraus die Naturdinge nicht in einem akzidentellen Sinne geworden sind, sondern auch, daß sie dasjenige sind, woraus die Naturdinge nicht in einem akzidentellen Sinne bestehen. Zwar trifft es zu, daß Aristoteles der Auffassung ist, daß die Prinzipien dasjenige sind, aus denen die φύσει δντα nicht in einem akzidentellen Sinne bestehen, doch angesichts des nachfolgenden Beispiels vom 'gebildeten Menschen', der aus dem ΰποκείμενον 'Mensch' und der μορφή 'gebildet' zusammengesetzt ist, und der eine Begründung (vgl. „σύγκειται γάρ": b20-23) für b 17-19 darstellen soll, drängt sich die Frage auf, ob Aristoteles dies hier zum Ausdruck bringen will. Denn bei dem Beispiel des 'gebildeten Menschen' stellt ja das Moment 'gebildet', das fur das Prinzip der μορφή stehen soll, gerade ein Akzidens (συμβεβηκός) an dem ΰποκείμενον 'Mensch' dar. Würde nämlich der 'gebildete Mensch' nicht in einem akzidentellen Sinne aus 'gebildet' bestehen, und käme 'gebildet' dem Menschen folglich an sich (καθ' αυτό) zu, so könnte ja ein Mensch nicht von einem ungebildeten zu einem gebildeten Menschen werden, da er immer schon gebildet sein müßte. Mit anderen Worten: Auch wenn Aristoteles sicherlich der Ansicht ist, daß die Prinzipien dasjenige sind, aus denen die Naturdinge nicht in einem akzidentellen Sinne bestehen, kann er dies hier vermutlich nicht im Sinn haben, da es sonst in einen Konflikt mit dem Beispiel des 'gebildeten Menschen' fuhren würde, der ja eine Begründung des Satzes bl7-19 darstellen soll. Aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, daß der Ausdruck ,,μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά τήν ούσίαν" hier nur auf ,,γεγόνασι" (bl 8) zu beziehen ist, wodurch dann vor allem die στέρησις als ein Prinzip des Gewordenen ausgeschlossen werden soll. Denn die στέρησις ist zwar einerseits nicht etwas, aus dem das Gewordene besteht, andererseits aber ist sie gleichwohl etwas, aus dem das Gewordene geworden ist. So läßt sich z.B. sagen, daß der Gebildete aus einem Ungebildeten geworden ist. Erst durch die nähere Spezifizierung, daß die Prinzipien dasjenige sein sollen, aus dem das Gewordene nicht in einem akzidentellen Sinne geworden ist, kann auch hier die στέρησις ausgeschlossen werden, weil specify both matter and form." Zwar stimme ich inhaltlich der Interpretation von Charlton zu, doch werde ich deutlich machen, daß gerade dadurch, daß man das ,,μή κατά συμβεβηκός άλλ' έκαστον δ λέγεται κατά τήν ούσίαν" (bl8-19) auf das ,,γεγόνασι" (bl 8) bezieht, die στέρησις hier als eine άρχή κατά συμβεβηκός eingeklammert wird.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
sie gerade dasjenige Moment darstellt, aus dem das Gewordene in einem akzidentellen Sinne geworden ist. Dies wird in 190b25-27 deutlich, wo Aristoteles die στέρησις als ein συμβεβηκός bestimmt und ihr das ύποκείμενον gegenüberstellt, von dem es dort heißt, daß aus ihm das Werdende nicht in einem akzidentellen Sinne wird. Aristoteles spricht in dem Abschnitt bl7-23, der eine Konklusion (vgl. ,,φανερόν ο ΰ ν ώς": b l 7 ) aus dem zuvor Gesagten darstellen soll, nun von den „φύσει δντα" und deren Ursachen bzw. Prinzipien, aus denen als ersten die φύσει δντα sind und geworden sind. Hierbei wird in b 17-23 allerdings nicht aus den Konstitutionsmomenten des Werdenden - wie sie in blO-17 dargelegt wurden - auf die Prinzipien des Gewordenen geschlossen, sondern es wird vielmehr umgekehrt „aus der Struktur des seienden Gegenstands auf die Struktur des Werdens des Werdenden geschlossen" (Wagner, 1967: 429). Im Rückgriff auf Wagner analysiert Fritsche den Abschnitt 190b 17-23 wie folgt: Zunächst ist festzuhalten, daß auch für Wagner mit dem Satz 190 b 17-23 eine Zäsur gesetzt ist gegenüber dem bisherigen Text. Der Satz 190 b 10-17 redet vom Werden des werdenden Gegenstandes, der Satz 190 b 17-23 vom gewordenen, um aus der Struktur des gewordenen Gegenstandes auf sein Werden rückzuschließen. Dabei fällt ein Unterschied auf. Der Satz 190 b 10-17 hat von drei Momenten gesprochen, aus denen der Gegenstand in seinem Werden gefügt ist: das hypokeimenon, die Bestimmtheit und ihr antikeimenon. Der Satz 190 b 17-23 entwickelt den gewordenen Gegenstand und - aufgrund des Schlusses - auch den werdenden Gegenstand als aus zwei Momenten gefügt: aus dem hypokeimenon und der Bestimmtheit. Daß das hypokeimenon selbst aus zwei Momenten gefügt ist, wird erst danach - zwar mit Bezug auf den Satz 190 b 17-23, aber gleichwohl von seinem vollständigen Argumentationsschritt durchaus abgehoben - entwickelt. Da nur der werdende, nicht aber der gewordene Gegenstand aus drei Momenten gefügt ist, kann man als den Sinn der beiden Schlüsse angeben, daß Aristoteles in ihnen versucht, von dem gewordenen Gegenstand aus sein Werden neu zu interpretieren. (Fritsche, 1986: 121 f.) Fritsche weist ferner daraufhin (vgl. 1986: 122), daß wir es in dem Abschnitt 190b 17-23 mit zwei parallelen Schlüssen (I) 190b 17-20 und (II) 190b20-23 zu tun haben, von denen der erste eine induktive Verallgemeinerung des zweiten darstellt. Der erste Satz [190 b 17-20] formuliert den Schluß allgemein, wobei er 'bestehen aus' und 'werden aus' als logische Partikel benutzt und die Konstanten zu 'physei onta' oder 'gignomenon', 'hypokeimenon' und 'morphe' formalisiert hat. Der zweite Satz [190 b20-23] besetzt die Variablen durch 'musischer Mensch', 'Mensch' und 'musisch'. Das »γαρ« zu Beginn des zweiten Satzes, in 190 b21, zeigt an, daß der erste Satz eine induktive Verallgemeinerung des zweiten ist. (Fritsche, 1986: 122) Fritsche verweist in diesem Zusammenhang auf Wieland (1962: 99), dessen Ansicht zufolge die aristotelische Induktion in der Physik ein Allgemeines nicht aus dem Vergleich vieler gesammelter Einzelfälle gewinnt, sondern „grundsätzlich sogar von einem einzigen Beispiel ausgehen" kann. Die beiden Schlüsse haben Fritsche (1986: 122 f.) zufolge folgende Gestalt:
Die gemeinsamen ά ρ χ α ί der φύσει γ ι γ ν ό μ ε ν α und φύσει δ ν τ α
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Im zweiten Schluß ist eine Prämisse ausformuliert: 'Der (gewordene) musische Mensch ist ein Gefüge aus 'musisch' und 'Mensch' (20-23). Damit aus der GefÜgtheit des gewordenen Gegenstandes auf seine Struktur als werdender geschlossen werden kann - und zwar so, daß die »nämlichen zwei Momente (des Gefilges des gewordenen, J.F.) auch die Prinzipien des Werdens des werdenden Gegenstands sind« [Wagner, 1967: 429], bedarf es eines zweiten Satzes als zweiter Prämisse. Man kann ihn allgemein formulieren: 'Alles entsteht als Werdendes aus den Momenten, aus denen es als Seiendes gefugt ist.'. Der zweite Schluß lautet also: 1) Alles aus Momenten gefugte Seiende wird auch aus diesen Momenten. 2) Der musische Mensch ist aus musisch und Mensch gefügt. 3) Der musische Mensch wird also aus musisch und Mensch. Der Satz 190 b 17-20 spricht in dem wenn-Satz, der offenbar die Prämisse enthält, von archai und aitiai, weshalb sie in die Formulierung der Protasen aufzunehmen wären. Der Satz 190 bl7-20 unterscheidet sich von dem Satz 190 b20-23 durch die Hinzufügung von archai und aitiai. Der Obersatz des ersten Schlusses lautet also: 1) Alles aus seinen archaihaften Momenten Zusammengesetzte entsteht auch aus diesen archai. Der Untersatz des Schlusses in 190 b 17-20 unterscheidet sich vom Untersatz in 190 b20-23 durch die Hinzufügung von archai und aitiai und durch die Einsetzung der Variablen. Er lautet: 2) Alles Natürliche besteht aus hypokeimenon und eidos als aus seinen archai. Weil die Protasen archai und aitiai enthalten, wären sie auch in der Konklusion hinzuzufügen. Wagner ergänzt sie, wenn er 190 b 19-20 übersetzt mit: »so gewiß gilt also der Grundsatz: Für jedes Werdende sind das Zugrundeliegende und die Gestalt die konstitutiven Prinzipien.« [Wagner, 1967: S. 25. 16-18] Die Konklusion lautet also: 3) Alles Natürliche wird aus hypokeimenon und eidos als aus seinen Ursprüngen. Obgleich ich der Interpretation von Fritsche im wesentlichen zustimme, bedarf sie doch einer Anmerkung, durch die g e w i s s e Schwierigkeiten, die mit einer Interpretation des Abschnitts 190b 17-23 verbunden sind, deutlich werden. Wenn der erste Schluß nach Ansicht von Fritsche eine induktive Verallgemeinerung des zweiten Schlusses ist, w o b e i die Konklusion des allgemeinen Schlusses darin besteht, daß j e d e s Natürliche aus ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν und ε ί δ ο ς als aus seinen Ursprüngen wird, und wenn Fritsche zugleich darauf hinweist, daß die aristotelische Induktion sogar von einem einzigen Beispiel ausgehen kann, so ist j e d o c h anzumerken, daß zwar auch bei den Beispielen eines substantiellen Werdens (z.B. beim Werden einer Statue aus Erz) analog zum 'gebildeten M e n schen' v o n einem Verhältnis eines ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν zu einem ε ί δ ο ς gesprochen werden kann, doch ist dieses Verhältnis bei den gewordenen ο ύ σ ί α ι (z.B. 'Statue') anders als bei dem 'gebildeten Menschen' zum einen nicht bereits aus einer Analyse der sprachlichen Verhältnisse herleitbar, und zum anderen unterscheiden sich die Verhältnisse des ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν zu einem ε ί δ ο ς bei einer ά λ λ ο ί ω σ ι ς und bei einer γ έ ν ε σ ι ς in einer wesentlichen Hinsicht voneinander. Happ bemerkt in diesem Zusammenhang folgendes: Aristoteles beginnt mit der Feststellung, daß alles substantielle Sein und Werden auf dem 'Substrat' und der μορφή beruhe (190 bl7-20). Substantielles Werden, 'Mor-
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' phe' als 'Wesensform' - also erwartet man nun ein klärendes Wort über Hyle als 'Substrat'. Statt dessen führt Aristoteles den 'gebildeten Menschen' an, der doch nur ein Beispiel für die akzidentelle 'Veränderung' ist, nicht jedoch für das substantielle 'Werden', um das es hier geht: Aristoteles will nämlich die Zweischichtigkeit von 'gebildeter Mensch', d.h. die Aufteilbarkeit in 'gebildet' und 'Mensch', daran zeigen, daß man logisch 'gebildeter Mensch' in die Bestimmungen 'gebildet' und 'Mensch' auflösen könne (190 b20-23). Dies läßt sich jedoch für das substantielle Werden nicht nachvollziehen, weil bei der Substanz das Hyle-Substrat als solches nicht begrifflich erfaßbar ist, sondern erst in seiner Vereinigung mit dem eidos und zwar von diesem her bestimmt werden kann: Eine von der logischen Bestimmung ausgehende 'Aufteilung' in Substrat und Eidos gibt es also dort nicht. Aristoteles hat mithin offensichtlich das geläufige Beispiel vom 'gebildeten Menschen' hier als 'Ersatz' für das nicht belegbare γένεσις-Beispiel verwendet, ohne auf die 'Substitution' hinzuweisen. (Happ, 1971: 285)
Happ weist zu Recht daraufhin, daß sich anders als bei dem Gewordenen 'gebildeter Mensch' bei dem Gewordenen 'Statue' nicht bereits aus der Sprache das logische Verhältnis eines ύποκείμενον zu einer μορφή ablesen läßt. Zwar bin ich nicht wie Happ der Auffassung, daß es in 190b 17 ff. nur um das substantielle Werden geht, für das es dann gewiß seltsam erschiene, wenn es durch ein Beispiel einer άλλοίωσις veranschaulicht würde - vielmehr geht es weiterhin um die gemeinsamen Prinzipien eines jeden Werdeprozesses (und in 190b 17-23 gar um die gemeinsamen Prinzipien eines jeden Werdenden wie auch Gewordenen) -, doch ist die Tatsache, daß sich bei der gewordenen Statue nicht bereits aus der Sprache auf dessen logisches Verhältnis eines ύποκείμενον zu einer μορφή schließen läßt, vor dem Hintergrund, daß hier das gesamte Werden behandelt werden soll, insofern ernstzunehmen, als Fritsche j a der Ansicht ist, daß der erste Schluß eine induktive Verallgemeinerung des zweiten Schlusses darstellen soll, wobei die aristotelische Induktion gar von einem einzigen Beispiel ausgehen könne. Zwar könnte man sagen, daß bei dem Beispiel des substantiellen Werdens einer Statue aus Erz das Gewordene genaugenommen nicht die 'Statue', sondern vielmehr die 'eherne Statue' ist, so daß hier ebenfalls bereits sprachlich das Verhältnis eines ύποκείμενον zu einer μορφή abgelesen werden könnte, doch werden die Schwierigkeiten nun insofern nur größer, als j a bei der gewordenen 'ehernen Statue' die 'Statue' das ύποκείμενον und 'ehern' die μορφή an der Statue ist, während für das Werdende jedoch genau umgekehrt gilt, daß das 'Erz' das ύποκείμενον und die 'Statue' die μορφή sein soll, die von dem ύποκείμενον Erz aufgenommen wird. Auch wenn das Untersuchungsziel des Abschnitts 190b 17-23 insofern klar ist, als durch einen Schluß von der Konstitution des Gewordenen auf das Werdende gezeigt werden soll, daß das ύποκείμενον und die μορφή die Ursprünge des Werdenden sind, so hat die dargelegte Überlegung hinsichtlich des substantiellen Werdens doch deutlich gemacht, daß Aristoteles in der Argumentation, die zu diesem Untersuchungsziel führen soll, nicht deutlich zwischen den Prozesses einer άλλοίωσις und einer γένεσις differenziert. Dieses Fehlen einer Differenzierung zwischen den Prozesses einer άλλοίωσις und einer γένεσις, die in 191 a31 ff. gleichwohl als verschiedene Arten des Werdens eingeführt wurden,
Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und φύσει δντα
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findet seinen Grund vermutlich in dem Umstand, daß Aristoteles nun bemüht ist, die gemeinsamen Prinzipien eines jeden Werdenden und Gewordenen aufzusuchen. Mit dieser Reduktion auf gemeinsame Prinzipien begibt er sich allerdings in die Gefahr, die bereits herausgestellten Unterschiede zwischen den einzelnen Prozessen wieder zu verwischen. Eine weitere Schwierigkeit des Abschnitts 190b 17-23 ist mit dem Begriff des 'ύποκείμενον' verbunden. Sowohl der vorhergehende Abschnitt blO-17, wo das ύποκείμενον als von dem Moment des άντικείμενον unterschieden angeführt wurde, wie auch das Beispiel des 'gebildeten Menschen' in b20-23, dessen ύποκείμενον der 'Mensch' sein soll, sprechen eindeutig dafür, daß wir es in bezug auf das ύποκείμενον in b 17-23 nur mit dem zugrundeliegenden Moment 'Mensch', nicht aber - wie z.B. noch in 190al4-18 - mit dem aus einem zugrundeliegenden und gegenüberliegenden Moment zusammengesetzten Gesamtzugrundeliegenden 'ungebildeter Mensch' zu tun haben. Denn wenn Aristoteles in 190b20-23 sagt, daß der 'gebildete Mensch' aus 'Mensch' und 'gebildet' zusammengesetzt ist, wobei 'Mensch' für das ύποκείμενον und 'gebildet' für die μορφή steht, kann hier ja nicht der 'ungebildete Mensch' als ύποκείμενον gemeint sein, da sich sonst ein 'ungebildeter-gebildeter-Mensch' ergeben würde. Andererseits weist Aristoteles jedoch unmittelbar im Anschluß an das Beispiel des 'gebildeten Menschen' in 190b23-27 daraufhin, daß das ύποκείμενον zwar der Zahl nach eine Einheit, der Art nach aber eine Zweiheit darstellt, so daß, wenn man dies auf das vorhergehende Beispiel des gebildeten Menschen bezieht, dort dann doch wieder eigentlich der 'ungebildete Mensch' das ύποκείμενον sein müßte.126 Eine Differenzierung zwischen dem ύποκείμενον eines Gewordenen einerseits, an dem sich nicht mehr das Moment der στέρησις findet, und dem ύποκείμενον eines Werdenden, aus dem das Werdende wird, andererseits, an dem sich noch das Moment der στέρησις findet, würde hier Klarheit bringen. Doch Aristoteles führt auch diese Differenzierung hier nicht explizit aus, weil es ihm um die gemeinsamen Momente des Werdenden und des Gewordenen geht. Aristoteles geht es in 190b 17-23 um eine Verknüpfung der Prinzipien der φύσει δντα und der φύσει γιγνόμενα. Aus diesem Grunde spricht er zunächst von den Naturdingen (φύσει δντα), die aus den Prinzipien sind und geworden sind (έξ ών εϊσί και γεγόνασι: bl8). Die Bestimmung der Prinzipien der Naturdinge als dasjenige, woraus die Naturdinge sind und geworden sind, bedeutet zugleich eine Einklammerung des Moments des άντικείμενον, dem er in 190b27 den Namen ,,στέρησις" geben wird. Zwar ist die στέρησις etwas, aus dem das Werdende wird, nicht aber ist sie etwas, aus dem das Gewordene besteht. Ebenso wie Aristoteles in 190a31 -b 10 darum bemüht war, die gemeinsamen Momente einer άλλοίωσις und einer γένεσις herauszuarbeiten - wobei das beiden Arten eines Werdens Gemeinsame darin gesehen wurde, daß für beide Fritsche (1986: 121) weist daraufhin, daß der Abschnitt b23-29 „zwar mit Bezug auf den Satz 190 b 17-23, aber gleichwohl von seinem vollständigen Argumentationsschritt durchaus abgehoben" entwickelt wird.
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Arten des Werdens ein ύποκείμενον vorauszusetzen ist -, will Aristoteles nun in 190b 17-23 die gemeinsamen Prinzipien des Werdenden und des Gewordenen herausarbeiten, wobei von den in 190b 10-17 dargelegten drei Konstitutionsmomente 'ύποκείμενον', 'αντικείμενον' und 'μορφή' nur das ύποκείμενον und die μορφή dem Gewordenen und dem Werdenden gemeinsam sind, da das άντικείμενον in dem Gewordenen nicht mehr enthalten ist. Aristoteles formuliert seine Konklusion in 190b23 (vgl. ,,δήλον οΰν ώς γίγνοιτ αν τά γιγνόμενα έκ τούτων") allerdings immer noch mit einer gewissen Vorsicht, wie aus der Verwendung des Optativs „γίγνοιτ'" deutlich wird, da er sich der Tatsache bewußt ist, daß das in 190b 17-23 gänzlich unerwähnt gebliebene Moment der στέρησις doch eine nicht unbedeutende Rolle für das Werden spielt. Aus diesem Grunde setzt Aristoteles seinen Gedankengang in b23-28 dann auch mit der auf 190al 5-17 zurückweisenden Bemerkung fort, daß das ύποκείμενον zwar der Zahl nach eine Einheit darstellt, der Art nach aber eine Zweiheit ist. Der Gedanke der Artzweiheit des ύποκείμενον bringt das Moment des άντικείμενον in Gestalt der στέρησις wieder ins Spiel. Nun hat der Abschnitt b 17-23 in bezug auf das Moment der στέρησις jedoch bereits deutlich gemacht, daß sie im Unterschied zu den Momenten des ύποκείμενον und der μορφή nicht in einem strengen Sinne als Prinzip betrachtet werden kann. So ist Charlton (1970: 46 f.) der Ansicht, daß Aristoteles in bl719 eine Unterscheidung zwischen der στέρησις als einer άρχή κατά συμβεβηκός und dem ύποκείμενον als einer άρχή καθ' αύτό zum Ausdruck bringen will. Daß die στέρησις kein Prinzip im strengen Sinne ist, wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zunehmend herausstellen und kann durch folgende Überlegungen deutlich gemacht werden: (i) Die στέρησις ist nur ein συμβεβηκός an dem Moment des ύποκείμενον (vgl. 190b27) und insofern kein Prinzip im strengen Sinne, weil sie vom ύποκείμενον abhängig ist. (ii) Die στέρησις kann als Abwesenheit (άπουσία) des είδος bestimmt werden (vgl. 191a5-7) und ist insofern kein Prinzip im strengen Sinne, weil sie vom είδος abhängig ist. (iii) Die στέρησις wird in 191al3-14 als „dem 'λόγος' entgegengesetzt" bestimmt, was darauf hindeutet, daß sie vor allem für unsere sprachlichbegriffliche Beschreibung eines Werdens eine konstitutive Rolle spielt, während ihr ontologischer Status problematisch ist.127
Im Gegensatz zur υποκείμενη φύσις und zum εΐδος/λόγος, von denen in 191 a 12-14 gesagt wird, daß sie Prinzipien seien (vgl. „μία μέν οΰν άρχή [...], μία δέ [...]"), wird von der στέρησις auch nur gesagt, daß es sie außerdem gibt (,,ετι δέ [...]"), nicht aber, daß sie ebenfalls ein Prinzip (μία άρχή) sei. So wird die στέρησις in Phys. II. 3 auch nicht als eine der vier αϊτίαι genannt. Aristoteles stellt in IM, 193b20-21 vielmehr die vorsichtige Frage, „ob sie etwas beim Entstehen ist" (vgl. ,,εί δ' έστιν στέρησις και εναντίον τι περί τήν άπλήν γένεσιν ή μή έστιν, ϋστερον έπισκεπτέον").
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7 . 6 . 2 Das ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν
7.6.2.1 Der Zahl nach eines, der Art nach zwei: ' ΰ λ η ' und 'στέρησις' Das Zugrundeliegende aber ist zwar der Zahl nach [αριθμώ] eines, der Art nach [εΐδει] aber zwei (denn der Mensch und das Gold und überhaupt jeder zählbare Stoff [και δλως ή ΰλη αριθμητή] sind eher ein bestimmtes Dieses [τόδε τι μάλλον], und es ist nicht im akzidentellen Sinne, daß das Werdende aus ihm wird [και ού κατά συμβεβηκός έξ αύτοΰ γίγνεται τό γιγνόμενον]. Die Privation aber und die Entgegensetzung sind ein nebenbei Zukommendes [ή δέ στέρησις καϊ ή έναντίωσις συμβεβηκός]). Die Form aber ist eines [εν δέ τό είδος], wie z.B. die Anordnung [ή τάξις] oder die Bildung [ή μουσική] oder etwas anderes, was auf diese Weise ausgesagt wird. (1.7, 190b23-29)
In Analogie zu 190a 13-18 wird nun erneut das ύποκείμενον als ein zwar der Zahl nach (άριθμω) Einheitliches, jedoch der Art (ε'ίδει) nach Zweiheitliches bestimmt, womit gemeint ist, daß das ύποκείμενον (z.B. Mensch oder Erz) zwar numerisch betrachtet jeweils ein einziges Ding darstellt, aber der Art nach insofern eine Zweiheit ist, als es sich aus zwei Momenten - einem eigentlich 'zugrundeliegenden' bzw. 'stofflichen' Moment einerseits (z.B. Mensch oder Erz) und einem 'privativen' Moment andererseits (z.B. Unbildung oder Ungeformtheit) - zusammensetzt. Im Unterschied zum ύποκείμενον ist das είδος jedoch (der Art nach) Eines (vgl. ,,έν δέ τό είδος": b28). 128 Diese beiden Momente des 'Gesamtzugrundeliegenden' wird Aristoteles später in Kapitel 1.9, 192a36 explizit als „ΰλη" und ,,στέρησις" bezeichnen. Das Kapitel 1.7 zeichnet sich demgegenüber eher durch eine gewisse Vorsicht aus, dieses neben der στέρησις bestehende Moment des 'Gesamtzugrundeliegenden' eindeutig als „ΰλη" zu bezeichnen. 129 Der Grund für diese Vorsicht ist wohl darin zu sehen, daß mit dem später als „ΰλη" bezeichneten Moment eines ύποκείμενον ja nicht nur solche einfachen Stoffe wie z.B. 'Erz' als Zugrundeliegendes für die Form 'Statue', sondern auch solche ούσίαι wie z.B. 'Mensch' als Zugrundeliegendes fur die Form 'Bildung' gemeint sind, die keine bloße ΰ λ η darstellen. Gleichwohl ist der Begriff der ΰ λ η auch schon in Kapitel 1.7 in bezug auf das zugrundeliegende Moment zu finden. So spricht Aristoteles in 190b25 von einer „ΰλη άριθμητή". Im Gegensatz zu Bonitz, der den Ausdruck „αριθμητή" einklammert, hat Wagner (1969: 285-7) überzeugend dargelegt, daß dieser Ausdruck bleiben kann, wobei er Bonitz allerdings darin Recht gibt, daß das ,,γάρ" Im Gegensatz zu meiner Interpretation ist Gill (1989: 88) der Ansicht, daß hier das „resulting hypokeimenon" - und somit z.B. der 'gebildete Mensch' - als ein der Zahl nach Eines, der Alt nach aber Zweiheitliches gemeint sei. Dies würde jedoch bedeuten, daß Aristoteles hier mit der Artzweiheit des ύποκείμενον nicht die Artzweiheit von ύποκειμένη φύσις und στέρησις, sondern die Artzweiheit von ύποκειμένη φύσις und είδος im Sinn hätte, was offenkundig nicht der Fall ist. In 191a8 verwendet Aristoteles den allgemeinen Begriff einer „zugrundeliegenden Natur" (ύποκειμένη φύσις), wobei jedoch mit der ύποκειμένη φύσις in 191a8 wieder das Gesamtzugrundeliegende von ΰλη und στέρησις gemeint zu sein scheint.
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in b26 zu athetieren ist. Wagner versteht unter der ,,ΰλη αριθμητή" das „bestimmte Materialstück", von dem es heißt, daß es ebenso wie Mensch und Gold „mehr ein bestimmtes Dieses [τάδε τι]" (190b24-26) sei:130 Bleibt nur noch δλως ή ϋλη zu erklären; es soll zweifellos die Generalisierung von ό χαλκός sein; aber in welchem Sinn? Nun, ganz gleichgültig, ob wir das strittige γαρ zu Anfang von b 26 streichen oder nicht: δλως ή ΰλη muß so verstanden werden, daß sich (auch) von ihm sagen läßt, es sei im höheren Grad ein τόδε τι. Man miißte die gesamte ΰλη-Lehre des Aristoteles vergessen haben, um meinen zu können, in jeder beliebigen Bedeutung von ΰλη lasse sich sagen, die ΰλη sei (in irgendeinem Grad) ein τόδε τι. Nur das b e s t i m m t e Materialstück (aus dem dieser Ring und nicht jene Fibel; aus welchem dieser Zeuskopf und nicht jener gemacht ist) ist ein τόδε τι. Folgerung: Ist άριθμητή als P r ä d i k a t für ό άνθρωπος und ό χρυσός trivial-überflüssig und für δλως ή ΰλη bedenklich-übertreibend, so ist es als determinierendes A t t r i b u t von δλως ή ΰλη geradezu unerläßlich: nur von δλως ή ΰλη άριθμητή läßt sich in irgendeinem Grade ein τόδε τι-Charakter behaupten. "Ολως ή ΰλη άριθμητή meint generell das jeweils bestimmte Materialstück, aus dem jeweils ein bestimmter und nur dieser bestimmte Gegenstand gemacht wird, entsteht, besteht: das Materialstück, das numerisch von jedem anderen, selbst von jedem anderen derselben Materialart, unterschieden ist. (Wagner, 1969: 287)
Die Behauptung, daß das ΰποκείμενον zwar der Zahl, nicht aber der Art nach Eines ist, besagt nun, daß das 'Gesamtzugrundeliegende' (ΰποκείμενον) einerseits aus einem (eigentlich) zugrundeliegenden Moment - z.B. aus einem bestimmten Stoff (Erz, Gold) oder einer ουσία (Mensch) - und andererseits aus einem privativen Moment - d.h. aus der στέρησις desjenigen είδος, das das zugrundeliegende Moment im Werdeprozeß erwerben wird - zusammengesetzt ist. Die „ύλη άριθμητή" meint hierbei ein konkretes und bestimmtes Stoffstück wie z.B. das Erz, aus dem eine konkrete Statue wird. Diese beiden Momente des ΰποκείμενον werden von Aristoteles in der Weise gegenübergestellt, daß er von dem eigentlich zugrundeliegenden Moment sagt, daß aus ihm das Werdende nicht in einem akzidentellen Sinne werde (ού κατά συμβεβηκός: b26), während es von dem privativen Moment heißt, daß es ein Akzidens (συμβεβηκός: b27) sei.131 Ein in seiner Bedeutung für den Gesamtzusammenhang von Physik I nicht zu unterschätzender Gedanke, der in dem Abschnitt 190b23-29 zum Ausdruck gebracht wird, ist darin zu sehen, daß hier dem eigentlich zugrundeliegenden Moment, das Aristoteles später auch als „ύλη" bezeichnet, eine Bestimmung zugesprochen wird, die es bereits von sich selbst her hat, und die es nicht erst durch die Aufnahme einer Form (είδος) bekommt. Es ist hier nicht von einer gänzlich unbestimmten ύλη die Rede, die erst durch das είδος eine erste Bestimmung er-
Vgl. auch Jones (1964: 493 f.), der hier die 'Bronze' als Beispiel für eine ' ΰ λ η α ρ ι θ μ η τ ή ' anführt, und Ross (1936: 345), der der Ansicht ist, daß die zugrundeliegende Materie hier insofern als ein 'Zählbares' bezeichnet wird, als sie eher als die στέρησις ein Individuum (τόδε τι) darstellt. Aufgrund dieser Gegenüberstellung der beiden Momente des ΰποκείμενον, ist der bestimmte Stoff ebenso wie Mensch und Gold hier mehr ein 'Dieses-da' als die στέρησις.
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hält. Ebenso wie der Mensch, der ein Gebildeter wird, ist auch das Gold, aus dem eine Statue wird, bereits ein bestimmtes Zugrundeliegendes. Versteht man ein konkretes von Natur aus Seiendes - wie z.B. Sokrates - mit Aristoteles als ein aus den Prinzipien Stoff (ΰλη) und Form (είδος) Zusammengesetztes, so stellt Aristoteles zufolge in dieser Zusammensetzung das είδος nämlich 'Mensch' - ein Allgemeines dar, während die ΰλη für die Individualität dieses Zusammengesetzten verantwortlich ist.132 Im Gegensatz zu Piaton, der die ΰ λ η im Timaios als ein gänzlich leeres Gefäß (χώρα) versteht, das erst durch die Aufnahme der Abbilder von Ideen eine Bestimmung erhält,133 scheint Aristoteles in Phys. 1.7 der Auffassung zu sein, daß das von ihm später als „ΰλη" bezeichnete zugrundeliegende Moment für die Aufnahme von Formen von sich aus bereits eine Bestimmung hat, wodurch es sich als ein im größeren Maße 'Dieses-da' auch von der στέρησις unterscheidet.134 Wenn aber die ΰλη bereits von sich aus eine Bestimmung hat, so haben wir es nicht mit einem rein stofflichen Moment zu tun, sondern genaugenommen bereits mit einem Zusammengesetzten aus Stoff (ΰλη) und Form (είδος), wie dies z.B. beim 'Erz', das bereits einen auf bestimmte Weise 'geformten' Stoff darstellt, der Fall ist. An allen drei Textstellen, wo in Kapitel 1.7 vom „ S t o f f (ΰλη) gesprochen wird, ist jeweils der konkrete Stoff gemeint (vgl. 190b9, b25 und 191 alO). Hier deutet sich allerdings eine grundlegende Schwierigkeit innerhalb des aristotelischen Ansatzes an. Wenn Aristoteles das ύποκείμενον weiter in ein eigentlich zugrundeliegendes und in ein privatives Moment auseinandernimmt, wobei das eigentlich zugrundeliegende Moment in 191 a7-12 nur durch eine Analogie von Beispielen veranschaulicht wird, so kann dieses eigentlich zugrun-
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Vgl. auch Oehler (1963: 37): „Die Form ist nach Aristoteles ein Allgemeines. [...] Die Unterschiede zwischen den Einzeldingen derselben Art aber führt Aristoteles nicht auf ein weiteres Formelement, etwa auf ein individuelles είδος, zurück, sondern auf den Stoff. Der Stoff ist der Grund der Individualität, [...]." (Vgl. auch Met. VII.8, 1034a5-8). Vgl. dazu meine Interpretation des Kapitels 1.9, wo sich Aristoteles mit Piaton auseinandersetzen wird. Zu dem Gedanken, daß die ΰ λ η bei Aristoteles in Physik 1.7 von sich aus bereits eine gewisse Bestimmung hat, vgl. auch folgende Interpreten: Tatarkiewicz (1910: 113): „Dies [die στέρησις] ist aber nur die negative Seite an dem Substrat, wahrend die Materie die positive vertritt. [.. .] Es kommt also bei ihr [der Materie] nicht darauf an, was ihr zu weiteren Bestimmungen und Gestaltungen fehlt, sondern was sie schon besitzt, was sie der weiteren Gestaltung als deren Grundlage zur Verfügung stellt." Vgl. auch Hamlyn (1985: 59): „If Aristotle was not altogether clear about what ΰ λ η was, it remains true that ΰ λ η and είδος are correlatives in his system of thought and that they constitute limiting conditions on each other. A given matter is not realizable in arty form whatever, in any shape whatever (to invoke Aristotle's own alternative to είδος-μορφή; nor is a given form constitutable out of arty kind of matter. A statue can be made out of bronze or marble, but not water or sand (and one cannot make a very good statue out of jelly!). Iron can be put in the form of a knife, but wood cannot, or not well, and earth cannot at all. This brings out a very important fact - that the range of possible stuffs out of which some things can be composed, and vice versa, is limited." Zur Bestimmtheit der ΰ λ η vgl. auch Graham „(1) matter is something determinate. [...] Accordingly, matter must be something [...]." (1987: 480); „However, the point of the argument is that matter, whether substance or stuff, is the source of determinacy in contrast to the privation." (1987: 481, Fn.13); „In general, matter is a determinate kind of stuff that is apt for determinate kinds of change." (1987: 481). In dieser Bestimmtheit der ΰ λ η liegt filr Graham auch der Grund, daß die ΰ λ η nicht mit der prima materia gleichzusetzen ist; denn die prima materia soll j a vollkommen bestimmungslos sein (vgl. 1987: 482).
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deliegende Moment - wie sowohl aus den dort angeführten Beispielen als auch aus den weiteren Überlegungen in Kapitel 1.9 deutlich wird - nur die ύλη sein. Andererseits sahen wir jedoch, daß dieses eigentlich zugrundeliegende Moment bereits von sich aus eine Bestimmung haben soll. Dies ist insofern notwendig, als nun in Kapitel 1.7 anstelle der in Kapitel 1.5 erwähnten konträren Gegensätze, die dort für die Nichtbeliebigkeit des Werdens verantwortlich waren, von dem umfassenderen Gegensatz „είδος - στέρησις" die Rede ist, der aufgrund seines gegenüber einem konträren Gegensatz umfassenderen Charakters nicht mehr allein für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich sein kann, so daß auch das zugrundeliegende Moment für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein muß. Dieses zugrundeliegende Moment kann allerdings nur dann für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein, wenn es bereits von sich aus eine gewisse Bestimmung hat und somit nicht gänzlich bestimmungslos ist. Wenn die ύλη nun allerdings von sich aus bereits eine gewisse Bestimmung hat, so läßt sie sich dem aristotelischen Prinzipienmodell zufolge jedoch weiter in ihre Momente einer 'bestimmungslosen ΰλη' und eines diese bestimmungslose ύλη bestimmenden 'είδος' differenzieren. Aristoteles nimmt diese weitere Differenzierung, die letztlich zum Begriff einer 'prima materia'' führen würde, in Kapitel 1.7 jedoch nicht vor. Der Grund, warum Aristoteles bei dem Moment der ύλη nicht weiter differenziert, ist vermutlich darin zu sehen, daß diese weitere Differenzierung zur Folge hätte, daß dann letztlich nur das Prinzip des είδος für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich sein könnte, so daß dann letztlich doch wieder Beliebiges aus Beliebigem werden könnte, da ja ein jedes εΐδος einer gänzlich bestimmungslosen ύλη zukommen kann. Dieser Konflikt zwischen einer bestimmten ύλη einerseits, die eigentlich kein Prinzip sein kann, weil sie bereits eine Zusammensetzung von ύλη und είδος darstellt, und einer gänzlich unbestimmten ύλη andererseits, die kein Prinzip sein darf, weil dann doch wieder Beliebiges aus Beliebigem würde, was Aristoteles mit seinem Modell des Werdens - wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat - gerade vermeiden will, bleibt im Buch Α der Physik ungelöst. Die innere Spannung des Begriffs der ύλη, die sich darin manifestiert, daß die ύλη einerseits als ein 'Bestimmtes' und andererseits als ein 'Unbestimmtes' zu verstehen ist, findet sich auch an anderen Stellen des aristotelischen Werkes wieder, wobei Aristoteles im Buch Α der Physik allerdings den Aspekt der Bestimmtheit der ύλη in den Vordergrund stellt, während er z.B. in Met. VII. eher ihren Aspekt der Unbestimmtheit hervorhebt.
7.6.2.2 Die στέρησις und die έναντίωσις Aristoteles stellt mit dem Gegensatz von ,,στέρησις und είδος" in Kapitel 1.7 einen Gegensatz auf, der einerseits umfassender als ein konträrer und andererseits weniger umfassend als ein kontradiktorischer Gegensatz ist. Er ist insofern weniger umfassend als ein kontradiktorischer Gegensatz, da die Gegensatzglie-
Die gemeinsamen ά ρ χ α ί der φ ύ σ ε ι γ ι γ ν ό μ ε ν α und φ ύ σ ε ι ο ν τ α
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der ,,στέρησις" und „είδος" im Unterschied zu den Gegensatzgliedern eines kontradiktorischen Gegensatzes jeweils auf ein gemeinsames, bestimmtes ύποκείμενον bezogen sind.135 Aristoteles führt den Begriff der στέρησις in 190b27 ein, wo er ein Moment des der Art nach zweiheitlichen ύποκείμενον bezeichnet. Gegenüber dem eigentlich zugrundeliegenden Moment, das mehr als die στέρησις ein bestimmtes Dieses-da ist,136 und aus dem das Werdende nicht in einem akzidentellen Sinne (ού κατά συμβεβηκός: 190b26) wird, bezeichnet Aristoteles die στέρησις und die έναντίωσις als ein „Akzidens" (συμβεβηκός: 190b27) an dem zugrundeliegenden Moment. Diese Charakterisierung der στέρησις und έναντίωσις als ein „Akzidens" (συμβεβηκός) findet ihren Grund darin, daß die στέρησις, wäre sie kein συμβεβηκός an dem zugrundeliegenden Moment, diesem an sich zukäme, so daß dann ein Werden aus der στέρησις unmöglich wäre. Denn käme z.B. 'ungebildet' oder 'nicht-gebildet' dem Menschen nicht in einem akzidentellen Sinne, sondern an sich zu, so wäre es unmöglich, daß ein Mensch gebildet wird. Mit der Bestimmung der στέρησις und έναντίωσις als ein συμβεβηκός an einem Zugrundeliegenden (190b27) tritt nun ein wesentlicher Aspekt der aristotelischen Theorie in Kapitel 1.7 hervor, der als eine Weiterentwicklung des in Kapitel I. 5 Gesagten zu verstehen ist. In Kapitel 1.5, wo vom ύποκείμενον noch keine Rede war und Aristoteles zunächst davon ausging, daß nur die (konträren) Gegensätze Prinzipien seien, hieß es, daß das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen nur in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) möglich sei (vgl. 188a30-bl).137 Als Beispiel für ein solches Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen nannte Aristoteles das Werden eines Weißen aus einem Gebildeten, für das galt, daß dies aus dem Grunde ein Werden im akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) ist, weil bei diesem Werdeprozeß das Moment 'gebildet' ein Akzidens (συμβεβηκός) an dem Nichtweißen (bzw. genauer an dem Schwar135
1
Vgl. auch Kat. 10, 13a26-34: „Beraubung und Habitus versteht man von demselben Subjekt, so Gesicht und Blindheit von dem Auge [Στέρησις δέ και εξις λέγεται μέν περί ταϋτόν τι, οίον ή οψις και ή τυφλότης περί όφθαλμόν], oder, um es allgemein gültig auszudrücken, man versteht beides von einem Subjekt, in dem der Habitus von Natur auftritt. Das Beraubtsein aber sagt man von dem jeweiligen aufnehmenden Subjekt des Habitus aus, wenn dieser Habitus in dem Subjekt, das ihn von Natur haben sollte, und zur Zeit, wo es ihn haben sollte in keiner Weise vorhanden ist. Denn wir nennen zahnlos nicht, was keine Zähne, und blind nicht, was kein Gesicht hat, sondern was das Genannte nicht hat zur Zeit, wo es dasselbe naturgemäß [πέφυκεν] haben sollte. Denn manche Tiere haben von Natur weder Gesicht noch Zähne und werden doch nicht zahnlos oder blind genannt." (Übers, nach Rolfes). In der Kategorienschrift wird der Gegensatz ,,στέρησις und hexis" als eine von vier möglichen Gegensatzarten (αντικείμενα) genannt: (1) Relation (πρός τι: z.B. 'doppelt-halb', 'Wissenschaft-Gegenstand'); (2) Konträrer Gegensatz (έναντίον: z.B. 'schlecht-gut', 'gesund-krank', 'weiß-schwarz'; (3) Beraubung-Habitus (στέρησις και εξις: z.B. 'Blindheit-Gesicht'); (4) Bejahung-Verneinung (κατάφασις και άπόφασις: z.B. 'Sitzen-Nichtsitzen'). Mit der Behauptung, daß ein bestimmter Stoff (wie z.B. 'Erz') in größerem Maße (μάλλον: 190b26) ein 'Dieses-da' ist, ist allerdings noch nicht gesagt, daß es bereits ganz und gar ein 'Dieses-da' sei, wie dies z.B. in bezug auf die konkrete Statue der Fall ist. Dies wird vor allem in 191a7-13 deutlich werden. Auch wenn jedes Werden eines Beliebigem aus einem Beliebigen nur in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) möglich ist, bedeutet dies umgekehrt jedoch nicht notwendigerweise, daß jedes Werden in einem akzidentellen Sinne (κατά σομβεβηκός) ein Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen ist.
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zen oder Mittleren) ist, aus dem das Weiße (eigentlich) wird.138 In Kapitel 1.5 waren gerade die konträren Gegensätze (έναντία) für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich, durch die das Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen ausgeschlossen werden sollte. Aus diesem Grunde wurde dort das Werden der zusammengesetzten Seienden in einem analogen Sinne zum Werden der einfachen Seienden gedacht, so daß sich dort die ungewöhnliche Konklusion ergab, daß das Gefügte (z.B. ein Haus) nicht nur in eine beliebige Ungefügtheit (der Bestandteile des Hauses) untergehen darf, sondern vielmehr in eine bestimmte - nämlich gegenüberliegende - Ungefügtheit (vgl. 188bl3-15) untergehen muß. Denn wenn auch hier eine Bestimmtheit des Werdens vorliegen soll, und wenn zunächst nur die Gegensätze als Prinzipien angenommen werden, so können auch bei den zusammengesetzten Seienden nur die Gegensätze für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich sein. Nachdem nun in Kapitel 1.6 das ύποκείμενον als drittes Prinzip neben den Gegensätzen eingeführt worden war, wurde zugleich deutlich, daß nicht nur das Werden eines Weißen aus einem Gebildeten ein Werden κατά συμβεβηκός ist, weil hierbei 'gebildet' ein συμβεβηκός an dem Nichtweißen (bzw. Schwarzen) darstellt, sondern daß auch das Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen (bzw. Schwarzen) ein Werden κατά συμβεβηκός ist, weil ebenso wie 'gebildet' auch 'nichtweiß' (bzw. schwarz) ein συμβεβηκός an einem Anderen - nämlich an einem ύποκείμενον - ist.139 Gleichwohl aber ist das Werden eines Weißen aus einem Nichtweißen (bzw. Schwarzen) im Unterschied zum Werden eines Weißen aus einem Gebildeten kein Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen. In einem Zusammenhang hiermit ist nun auch die Aussage zu sehen, daß die στέρησις und die έναντίωσις Akzidentien sind (,,ή δέ στέρησις και ή έναντίωσις συμβεβηκός": 1.7, 190b27),140 während es von dem eigentlich zugrundeliegenden Moment heißt, daß aus ihm das Werdende nicht in einem akzidentellen Sinne wird (,,τόδε γάρ τι μάλλον, και ού κατά συμβεβηκός έξ αύτοΰ γίγνεται τό γιγνόμενον": 190b25-27). Mit der Einführung des ύποκείμενον als drittes Prinzip ergeben sich allerdings weitere Konsequenzen in bezug auf die Frage, welches Moment jeweils für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich ist. So können nun nach Einführung des ύποκείμενον nicht mehr nur die konträren Gegensätze als Prinzipi-
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Obgleich der Begriff des ύποκείμενον in Kapitel I. 5 noch keine Rolle spielte, wurde er mit dem Gedanken, daß das Moment 'gebildet' ein Akzidens an dem Nichtweißen sei, doch bereits vorbereitet. So haben wir j a auch in 189b34-190al gesehen, daß ein Satz wie „ein Nichtgebildetes wird ein Gebildetes" in seiner vollständigen Form wie folgt lautet: „ein nichtgebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch". In 1.9, 192a22-25 wird Aristoteles in Entsprechung hierzu sagen: „[...], sondern dies [das Strebende] ist der Stoff [ή ήλη], so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem strebt; nur nicht »häßlich« an sich, sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Häßlichkeit akzidentell zukommt], und auch nicht »weiblich« [an sich], sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Weiblichkeit akzidentell zukommt]." Vgl. auch 1.8, 191bl3-16: ,,ήμεΐς δέ και αύτοί φαμεν γίγνεσθαι μεν μηθέν άπλώς έκ μή οντος, πώς μέντοι γίγνεσθαι έκ μή οντος, οίον κατά συμβεβηκός (έκ γάρ της στερήσεως, δ έστι καθ' αυτό μή öv, ούκ ένυπάρχοντος γίγνεταί τν [.. .])."
Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und φύσει οντα
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en fungieren, da wir ja in Kapitel 1.6 gesehen haben, daß die ούσίαι einander nicht konträr entgegengesetzt sind (vgl. 189a32-33). Vor diesem Hintergrund ist der konträre Gegensatz bei den substantiellen Werdeprozessen durch einen anderen - umfassenderen - Gegensatz zu ersetzen, den Aristoteles in Kapitel 1.7 in Gestalt des Gegensatzes von ,,στέρησις und είδος" bestimmt. Dieser Gegensatz ist insofern umfassender als ein konträrer Gegensatz, als zwar jeder konträre Gegensatz eine Privation, nicht aber jede Privation einen konträren Gegensatz darstellt: [...], so ist offenbar jeder konträre Gegensatz [έναντίωσις] eine Privation [στέρησις], aber wohl nicht jede Privation ein konträrer Gegensatz. (Met. X.5, 1055bl3-15)
Wenn wir es aber bei den substantiellen Werdeprozessen nicht mehr mit konträren Gegensätzen zu tun haben, so stellt sich hier nun die Frage, welches Moment bei diesen Prozessen für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich ist, so daß nicht Beliebiges aus Beliebigem wird. Beim Werden einer Statue aus Erz kann ja die στέρησις der 'Statuenform' in Gestalt der 'Ungeformtheit' des Erzes insofern nicht mehr für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich sein, als sie weitaus umfassender als ein konträrer Gegensatz ist.14' Es gibt ja unzählbar vieles, das nicht die Form einer Statue hat und doch nicht zur Statue werden kann. Obgleich Aristoteles in Kapitel 1.7 selbst nicht näher auf diese Thematik eingeht, hat die bisherige Untersuchung doch gezeigt, daß beim Werden einer Statue aus Erz nun anstelle des konträren Gegensatzes gerade die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden, von dem ja in 190b24-27 heißt, daß es mehr (als die στέρησις) ein τόδε τι sei, filr die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich ist. So kann ein Mensch nicht aus einem beliebigen, sondern nur aus einem bestimmten Samen werden (vgl. auch Phys. II.5, 196a31-33), und eine Statue kann nicht aus beliebigen, sondern nur aus bestimmten Materialien gefertigt werden. In diesem Sinne sagt Aristoteles in Met. VIII.4, 1044a24-29: Aus einem und demselben Stoff kann Verschiedenes entstehen durch die bewegende Ursache, z.B. aus Holz sowohl eine Kiste wie eine Bettstelle. Manches Verschiedene dagegen verlangt notwendig einen verschiedenen Stoff; eine Säge z.B. kann nicht aus Aristoteles stellt die Frage, welche Rolle die στέρησις bzw. έναντίωσις in bezug auf das substantielle Werden hat, explizit im zweiten Buch, wobei er dort allerdings zur Beantwortung dieser Frage auf spätere Untersuchungen verweist: „εν δ' Ιστιν στέρησις και έναντίον τι περί την άπλήν γένεσιν ή μή εστίν, ύστερον έπισκεπτέον." (11.1, 193b20-21). Zekl (1987: 247, Fn.l 1) bemerkt dazu: „An solchen Formulierungen zeigt sich, daß Buch II wirklich unabhängig von Buch I konzipiert gewesen sein muß. Denn das ist dort ausführlich diskutiert." Prantl (1854: 61) und Hardie/Gaye (1930) verweisen in bezug auf die 'spätere Untersuchung' auf De gen. et corr. 1.3. Ross (1936: 506) verweist auf Phys. V.l und De gen. et corr. 1.3, und Wagner (1967: 453) bemerkt zu dieser Textstelle: „Ar stellt hier die Frage, ob dies, woraus ein Gegenstand e n t s t e h t , auch unter den Begriff der Negativbestimmtheit und des Bestimmungsgegenteils fallen kann. Im Grunde wissen w i r , die wir die Abhandlung in I c. 6 gelesen haben, schon die Antwort: Denn dort hatte gerade das Problem des άπλώς γίγνεσθαι über Negativbestimmtheit und Bestimmungsgegenteil hinaus auf das Material geführt, sich also das Ungenügen der ersteren gezeigt (190 a 31 ff ). Es fällt einigermaßen auf, daß Ar. einerseits von den beiden Begriffen wie von wohlbekannten Gebrauch macht (was die Zusammengehörigkeit von I und II voraussetzt), andererseits aber so spricht, als sei das Problem in I Uberhaupt nicht behandelt. - Und worauf geht der Verweis »später«? Vielleicht auf V c. 1 und De gen. et corr. I c. 3. Eine thematische Behandlung der Frage wird man aber weder hier noch dort wirklich finden."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' Holz gemacht werden, und das hängt nicht von der bewegenden Ursache ab; denn sie kann nie eine Säge aus Wolle oder Holz machen. (Übers, nach Bonitz). 142
Da auch beim substantiellen Werden der ούσίαι keine Beliebigkeit des Werdens zugelassen werden soll, muß nun das ύποκείμενον ebenfalls eine Ursache der Bestimmtheit des Werdens sein, und zwar in dem Sinne, daß bestimmte Formen nur bestimmten Zugrundeliegenden zukommen können. Zwar ist es für die aus Erz gewordene Statue gleichgültig, aus welcher konkreten Manifestation einer 'Ungeformtheit' des Erzes sie geworden ist, nicht gleichgültig ist es für sie jedoch, daß sie aus Erz oder aus einem anderen Material geworden ist, das überhaupt zu einer Statue geformt werden kann. Bröcker ("1974: 60 f.) beschreibt den Umstand, daß die στέρησις fur die Bestimmtheit des Gewordenen keine konstitutive Rolle spielt, wie folgt: Anders die Beraubung. Auch sie ist für das gewordene Ursprung, u. z. Ursprung im nächstliegenden, offenkundigsten Sinn: dasjenige woher das Seiende kommt. Denn im nächstliegenden Sinne ist solches Woher des Kommens von etwas doch gerade das, was es in diesem Herkommen ν e r 1 ä ß t und hinter sich läßt. Dieser Ursprung des Werdenden aber geht im Werden unter. Er erreicht nicht das Sein des Gewordenen. D.h. aber: dieser Ursprung ist nicht Ursprung des Seins, er ist also nicht Grund. Das zeigt sich darin, daß es für das Gewordene zufällig ist, woher es werdend kommt. Es ist für das Gewordene zufällig wie es früher war, ehe es so wurde, wie es jetzt ist. Und damit ist auch der Gegensatz zwischen Gestalt und Beraubung ebenso zufällig. Z.B.: Eine Fläche, die weiß war, wird rot. Das Weißsein bestimmt zwar das Werden als Bewegung vom Weiß ins Rot, aber nicht das Sein des Gewordenen. Das Fertiggewordene ist bestimmt durch Fläche und Rot. Das Weißsein betrifft das Gewordene nicht mehr. Es wäre dasselbe, wenn es vorher nicht weiß, sondern schwarz gewesen wäre, wenn es also durch ein ganz anderes Werden ins Sein gekommen wäre.
Auch wenn das Weißsein zwar das Werden als Bewegung vom Weiß ins Rot bestimmt, so bestimmt es - wie Bröcker zu Recht bemerkt - doch nicht das Sein des Gewordenen. Zudem sind die konträren Gegensätze nur für die Bestimmtheit des Werdens bei der Eigenschaftsveränderung, nicht aber für die Bestimmtheit des Werdens bei den substantiellen Werdeprozessen verantwortlich. Wenn wir das Beispiel des Werdens eines weißen Menschen aus einem schwarzen Menschen nehmen, so ist hier weiterhin primär der konträre Gegensatz 'weiß schwarz' - und nicht das ύποκείμενον 'Mensch' - für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich. Denn es ist ja nicht dem Menschen eigentümlich, daß er aus schwarz zu weiß wird, da diesen Prozeß auch andere Dinge erfahren können, die keine Menschen sind. Beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen scheint es sich jedoch ein wenig anders zu verhalten. Auch hier bestimmt das Ungebildetsein nur das Werden als Bewegung von 'ungebildet' zu 'gebildet', und nicht das Sein des Gewordenen 'gebildeter Vgl. auch Met. XII.2 1069b24-32. Daß die Bestimmtheit der ύ λ η fur die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich ist, wird auch aus den negativen Beispielen für einen beliebigen bzw. zufälligen Werdeprozeß deutlich. So sagt Aristoteles in Phys. 11.2, 199b5-7, daß z.B. eine Mißbildung, welche er als Paradigma ftlr einen zufälligen und beliebigen Prozeß betrachtet, dadurch entsteht, daß der Same verdorben war.
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Mensch'. Allerdings scheint hier nun nicht nur der konträre Gegensatz 'gebildet - ungebildet' für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich zu sein, sondern auch das ύποκείμενον 'Mensch'. Denn das 'Menschsein' bestimmt hier ja insofern das Werden als Bewegung von 'ungebildet' zu 'gebildet', als diese Bewegung nur an einem Menschen - und nicht an anderen Dingen - vorkommen kann. Zwar trifft dies nicht für eine jede Eigenschaftsveränderung zu, doch scheint Aristoteles das Beispiel des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen gerade aus dem Grunde zu wählen, da an ihm deutlich wird, daß die Bestimmtheit des ύποκείμενον mitunter auch für die Bestimmtheit der Eigenschaftsveränderung nicht bedeutungslos ist. Obgleich die έναντίωσις unter den umfassenderen Begriff der στέρησις subsumiert werden kann, und obgleich Aristoteles in Kapitel 1.7 um eine möglichst weitgehende Reduktion der verschiedenen Momente von unterschiedlichen Werdeprozessen auf gemeinsame Prinzipien bemüht ist, fuhrt er sie in 190 b l 7 doch neben der στέρησις eigens an - ,,ή δέ στέρησις και ή έναντίωσις συμβεβηκός" (1.7, 190b27)143 -, was daraufhindeutet, daß er sie hier nicht unter die στέρησις subsumieren will. Der Grund, warum Aristoteles die έναντίωσις hier eigens erwähnt und nicht unter den Begriff der στέρησις subsumiert, ist wohl darin zu sehen, daß sie in bezug auf die Bestimmtheit bei den Eigenschaftsveränderungen weiterhin eine wesentliche Rolle spielt. Würde Aristoteles sie hier unter den Begriff der στέρησις subsumieren, so würde sich ja in bezug auf die Eigenschaftsveränderungen erneut die Frage stellen, welches Moment dort für die Bestimmtheit des Werdens verantwortlich ist. Aristoteles betrachtet das in Kapitel 1.5 dargelegte Modell des Werdens in Kapitel 1.7 somit nicht als widerlegt, sondern vielmehr als ergänzungsbedürftig. In Entsprechung zum Begriff der στέρησις, der bei Aristoteles zwar mitunter nicht nur das einzelne Gegensatzglied, sondern auch die gesamte Gegensatzrelation bezeichnen kann,144 doch hier in 190b27 - wie im gesamten Buch Α der Physik (vgl. 191al4, 191bl5, 192a3-5, 192al4 und 192a27) - offenkundig für ein einzelnes Glied einer Gegensatzrelation steht, ist auch der Begriff der έναντίωσις, der wohl am angemessensten mit „(konträre) Entgegensetzung" zu übersetzen ist (wobei „Entgegensetzung" im Deutschen sowohl das entgegengesetzte Glied wie auch die gesamte Gegensatzrelation meinen kann), als auf ein einzelnes konträres Gegensatzglied einer konträren Gegensatzrelation bezogen zu verstehen.145 In diesem Sinne steht die στέρησις hier im engeren Sinne für das 143 144 145
Vgl. auch II. 1, 193b20-21, wo beide Begriffe ebenfalls parallel genannt werden. Vgl. Met. X.4, 1055a38-bl 1 und bl3-15. Vgl. auch Wagner (1967: 25), der den Ausdruck ,,στέρησις" hier mit „Negativbestimmtheit" und den Ausdruck ,,έναντίωσις" mit „Bestimmtheitsgegenteil" übersetzt. Demgegenüber übersetzt Prantl (1854: 43) den Ausdruck ,,στέρησις" hier mit „Entblößt-sein" und den Ausdruck „έναντίωσις" mit „Gegensatzpaar". Die Parallelität der Ausdrücke ,,στέρησις" und ,,έναντίωσις" in der Aussage ,,ή δέ στέρησις και ή έναντνωσις συμβεβηκός" deutet jedoch darauf hin, daß mit beiden Ausdrücken entweder beidemal ein Gegensatzglied oder aber beidemal eine Gegensatzrelation gemeint ist. Da aber „στέρησις" hier nur das Gegensatzglied meinen kann denn unmittelbar im Anschluß an den Satz 190b27 stellt Aristoteles der στέρησις und έναντίωσις dann in 190b28 das είδος gegenüber scheint auch mit „έναντίωσις" hier eher das
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Gegensatzglied zur (substantiellen) Form bei den substantiellen Werdeprozessen, wobei allerdings auch bei den konträren Gegensatzgliedern das eine Glied als στέρησις des anderen bezeichnet werden kann, während die έναντίωσις hier im engeren Sinne für das (konträre) Gegensatzglied zur (akzidentellen) Form bei den Eigenschaftsveränderungen steht.'46 Gleichwohl ist daraufhinzuweisen, daß diese Verwendung des Wortes ,,έναντίωσις" als Bezeichnung für ein einzelnes Gegensatzglied durchaus ungewöhnlich ist. Denn im allgemeinen versteht Aristoteles unter ,,έναντίωσις" die Gegensatzrelation eines konträren Gegensatzes, während er zur Bezeichnung des einzelnen Gliedes dieser konträren Gegensatzrelation den Ausdruck ,,έναντίον" wählt. Auch an den anderen Stellen in Physik I (vgl. 1.6, 189al3, 189b26, 1.9, 192al4), wo Aristoteles den Ausdruck ,,έναντίωσις" verwendet, meint er eine Gegensatzrelation, und nicht ein einzelnes Gegensatzglied.147 Als Beleg dafür, daß Aristoteles mitunter jedoch auch ein einzelnes Glied einer Gegensatzrelation durch den Ausdruck ,,έναντίωσις" bezeichnet, sei auf folgende Textstelle verwiesen: Die sinnliche Wesenheit ist veränderlich. Wenn nun die Veränderung von dem Entgegengesetzten [έκ των αντικειμένων] oder dem Mittleren ausgeht, aber nicht von jedem Entgegengesetzten (denn auch die Stimme ist etwas Nichtweißes), sondern von Konträrem [έκ του έναντίου]: so muß notwendig etwas zugrunde liegen, was in den Gegensatz [εις την έναντίωσιν] übergeht, da das Konträre [τα ε ν α ν τ ί α ] selbst nicht übergeht. {Met. XII.l, 1069b3-7; Übers, nach Bonitz)
Da der Ausdruck „εις την έναντίωσιν" (b6) im Akkusativ steht, kann mit „έναντίωσιν" hier nicht die Gegensatzrelation gemeint sein, in der (έν + Dativ) das Zugrundeliegende von einem Gegensatz zum anderen übergeht, sondern es muß ein Glied des Gegensatzes gemeint sein, zu dem das ΰποκείμενον übergeht. Auch wenige Zeilen später verwendet Aristoteles den Ausdruck ,,έναντιώσεις" für die einzelnen Glieder einer Relation: Wenn nun die Veränderung (metaboli) vier Arten hat, Veränderung des Was, der Qualität, der Quantität und des Ortes, und die Veränderung des Was absolutes Entstehen und Vergehen, die der Quantität Vermehrung und Verminderung, die der Affektion Umwandlung, die Ortsveränderung Bewegung ist: so würde demnach die Veränderung bei jeder Art ein Übergang in den jedesmaligen Gegensatz sein [εις έναντιώσεις α ν είεν τάς καθ' εκαστον], Notwendig muß sich nun der Stoff verändern, indem er zu beiden Gegensätzen [αμφω] das Vermögen hat. (Met. XII.2, 1069 b9-15; Übers, nach Bonitz)
Am Ende des Kapitels XII.2 bezeichnet der Ausdruck ,,έναντίωσις" dann jedoch die Gegensatzrelation: Drei sind also der Ursachen und drei Prinzipien: zwei bildet der Gegensatz [ έ ν α ν τίωσις], dessen eines Glied der Begriff (logos) und die Form (eidos), das andere die
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Gegensatzglied gemeint zu sein. In 1.7, 191al3-14 sagt Aristoteles dann: „[...], ετι δέ το έναντίον τούτφ, ή στέρησις." (Vgl. auch Phys. II. 1, 193b20-21, wo von ,,στέρησις και έναντίον" die Rede ist). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hardie/Gaye (1930) und Wicksteed/Cornford (1980: 79). In 187a20, 189a24 und 189b4 spricht Aristoteles von ,,έναντιότης" im Sinne einer Gegensatzrelation.
D i e g e m e i n s a m e n ά ρ χ α ί der φ ύ σ ε ι γ ι γ ν ό μ ε ν α und φ ύ σ ε ι ο ν τ α Formberaubung (steresis) ist, das dritte ist der S t o f f Übers, nach Bonitz).
(hyle). (Met. XII.2,
347 1069b32-34;
Eine Antwort auf die Frage, warum Aristoteles in 190b27 zur Bezeichnung des konträren Gegensatzgliedes den Ausdruck ,,έναντίωσις" anstelle von „έναντι ov" verwendet, kann vielleicht darin gesehen werden, daß der Ausdruck ,,έναντίωσις" aufgrund der Endung ,,-σις" als sprachliche Parallele zu ,,στέρησις" gewählt wurde. Zudem will Aristoteles hier mit dem Ausdruck ,,έναντίωσις" gegenüber dem Ausdruck ,,έναντίον" vielleicht auch folgenden Aspekt hervorheben: In bezug auf die Gegensatzrelation ,,στέρησις und είδος" ist an solche Gegensätze wie z.B. „Blindheit-Gesicht", „Kälte-Wärme" und „Unbildung-Bildung", nicht aber an solche Gegensätze wie z.B. „Blindes-Sehendes", „KaltesWarmes" und „Ungebildetes-Gebildetes" zu denken. Denn 'das Sehende', 'das Warme' und 'das Gebildete' steht ja nicht für eine Form, sondern fur etwas, das eine Form hat. Und die Unbildung ist eine Privation der Bildung, nicht aber ist der Ungebildete eine Privation des Gebildeten.148 Da es in Kapitel 1.7 nun aber im Anschluß an die Differenzierung der einzelnen Momente eines Werdenden in 190b 10-17, wo bereits von den abstrakten Termini ,,άσχημοσύνη", „αμορφία" und „αταξία" die Rede war, gerade um diese Formen geht, die ein Ding hat oder nicht hat - so spricht Aristoteles auch unmittelbar im Anschluß an unsere Textstelle in 190b28 mit Hilfe abstrakter Termini von der „Anordnung" (ή τάξις) und „Bildung" (ή μουσική) als Beispiele für ein είδος -, liegt es nahe, daß Aristoteles durch den Ausdruck ,,έναντίωσις" darauf hinweisen will, daß hier im Gegensatz zum Geformten („Gebildetes" und „Warmes") die Formen selbst („Bildung" und „Wärme") gemeint sind. Denn gerade für das Geformte wie z.B. „Warmes" und „Kaltes" verwendet Aristoteles für gewöhnlich den Ausdruck ,,έναντίον" (Gegensätzliches). Auch die in 190b30-32 erwähnten Gegensätze ,,τό μουσικόν και τό αμουσον ή τό θερμόν και τό ψυχρόν ή τό ήρμοσμένον και τό άνάρμοστον", von denen es heißt, daß sie unmöglich etwas voneinander erleiden können (vgl. 190b33), sind dort als Formen ('Bildung und Unbildung'; 'Wärme und Kälte'; 'Wohlgefügtheit und Ungefiigtheit') zu verstehen und meinen nicht das Geformte ('Gebildetes und Ungebildetes'; 'Warmes und Kaltes'; 'Wohlgefügtes und UngefÜgtes'). Denn die Kälte kann ja nichts von der Wärme erleiden - so kann die Kälte nicht durch die Wärme warm oder zur Wärme werden -,149 wohl aber kann ein Kaltes von einem Warmen etwas erleiden, da das Kalte durch ein Warmes warm bzw. ein Warmes werden kann.150
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Vgl. auch Kat. 10, 12a35- bl: „Beraubt sein [τό έστερησθαι] und einen Habitus haben [τό ε χ ε ι ν την εξιν] ist nicht Beraubung [στέρησις] und Habitus [έξις]. Denn Habitus ist das Gesicht und Beraubung die Blindheit, aber das Gesicht haben ist nicht Gesicht und blind sein nicht Blindheit. Denn die Blindheit ist eine Beraubung, aber blind sein ist beraubt sein, nicht Beraubung. Auch würde, wenn Blindheit dasselbe wäre wie blind sein, beides vom selben ausgesagt werden. Nun wird aber ein Mensch zwar blind, aber in keiner Weise Blindheit genannt." (Übers, nach Rolfes). Vgl. Phys. 1.6, 189a22-27, wo von den Gegensätzen „Liebe-Haß" und „Dichte-Dünne" gesagt wurde, daß sie nicht aufeinander wirken; vgl. auch Phys. V . l , 224b 10-13. Vgl. Phys. VIII.4, 255b22-23.
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' 7.6.3 Gibt es zwei oder drei Prinzipien? Deshalb müssen die Prinzipien einerseits als zwei angesprochen werden, andererseits aber auch als drei. Und man kann sie auch als die Gegensätze [ώς τάναντία] bestimmen, wie wenn z.B. jemand »gebildet und ungebildet« oder »warm und kalt« oder »wohlgefügt und ungefügt« [τό μουσικόν και τό αμουσον ή τό θερμών και χό ψυχρόν ή τό ήρμοσμένον και τό άνάρμοστον] nennen wollte; andererseits aber kann man es auch nicht, denn es ist unmöglich, daß die Gegensätze eine Erleidung voneinander erfahren [υπ αλλήλων γαρ πάσχειν τάναντία άδύνατον]. Aber auch dies klärt sich aufgrund der Tatsache, daß das Zugrundeliegende ein Anderes ist: Dies ist nämlich kein Gegensätzliches [λύεται δέ και τοΰτο δια τό αλλο εΐναι τό υποκείμενον τοΰτο γαρ οϋκ έναντίον]. (1.7, 190b29-35)
Aus der in 190b23-29 dargelegten Differenzierung des Gesamtzugrundeliegenden in ein (eigentlich) zugrundeliegendes und ein privatives Moment folgt nun (vgl. διό: b29), daß die Prinzipien einerseits als zwei, andererseits aber auch als drei angesprochen werden müssen. Während mit den 'zwei Prinzipien' das υποκείμενον (als ein Gesamtzugrundeliegendes) und das είδος gemeint sind, sind mit den 'drei Prinzipien' das υποκείμενον (als in seine beiden Momente ΰλη und στέρησις auseinandergenommen) und das είδος gemeint. Mit dem ,,καί εστι" (b30) wird dann noch eine weitere Möglichkeit angeführt, die es erlaubt, von einer Zweiheit der Prinzipien zu sprechen. Diese besteht darin, daß die Prinzipien auch als Gegensätze bestimmt werden können.151 In bezug auf diese Gegensätze wurde bereits darauf hingewiesen, daß die für sie genannten Beispiele nicht im Sinne von geformten Dingen ('GebildetesUngebildetes'), sondern im Sinne von bloßen Formen und Eigenschaften ('gebildet-ungebildet' bzw. 'Bildung-Unbildung') zu verstehen sind.152 Zwar räumt Aristoteles hier zunächst die Möglichkeit ein, daß man die Prinzipien auch als Gegensätze bestimmen kann, doch weist er sogleich darauf hin, daß dies andererseits unmöglich ist, da die Gegensätze nichts voneinander erleiden können 151
1 S7
Diese Interpretation einer doppelten 'Zweiheit der Prinzipien' (einerseits υποκείμενον und είδος: z.B. Mensch und gebildet; andererseits die Gegensatze: z.B. ungebildet und gebildet) findet sich auch bei Happ (1971: 289) und Fritsche (1986: 130). Fritsche weist daraufhin, daß insofern von einer doppelten 'Zweiheit der Prinzipien' zu sprechen ist, als die στέρησις einerseits als απουσία des είδος in Abhängigkeit vom είδος zu denken ist (191a5-7), wahrend sie andererseits als συμβεβηκός am υποκείμενον in Abhängigkeit vom υποκείμενον zu denken ist (190b27 f.). Demgegenüber verstehen Hardie/Gaye (1930) das ,,καί Ιστι" (b30) nicht als Hinweis auf das Bestehen einer weiteren Möglichkeit einer Zweiheit von Prinzipien, sondern als Explikation der zuvor genannten Möglichkeit der Zweiheit von Prinzipien, weshalb sie auch das ,,καί" in b30 athetieren (Wicksteed und Cornford, 1980: 79 Ubersetzen das ,,καί" in einem begründenden Sinne durch „for" und betrachten somit das Nachfolgende als eine Begründung des Vorangegangenen). Auch Wagner (1967: 433) und Wieland (1962: 133) scheinen die verschiedenen Möglichkeiten von zwei oder drei Prinzipien nicht sauber voneinander zu differenzieren. Von den Gegensätzen als Formen sprechen hier Zekl (1987: 39), Wagner (1967: 25) und Wieland (1962: 133). Demgegenüber übersetzt Prantl (1854: 43) die Gegensätze ,,τό μουσικόν και t ö αμουσον ή τό θερμόν και τό ψυχρόν ή τό ήρμοσμένον καί τό άνάρμοστον" mit „das Gebildete und das Ungebildete oder das Warme und das Kalte oder das in Einklang Stehende und das nicht in Einklang Stehende", wobei er jedoch in seinem Kommentar (S. 478, Fn.28) dann ebenfalls von „Ungestaltetheit", „Gestaltetheit", „Ungebildetheit" und „Gebildetheit" spricht.
Die gemeinsamen ά ρ χ α ί der φύσει γ ι γ ν ό μ ε ν α und φύσει δντα
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(vgl. dazu auch Phys. 1.6, 189a22-26). Dies (τοΰτο: b34) - gemeint ist die Schwierigkeit, daß einerseits Gegensätze nichts voneinander erleiden können, und daß andererseits doch nur durch die Wirkung der Gegensätze Bewegung existiert -153 löst sich dadurch, daß das υποκείμενο ν ein anderes ist (,,τό αλλο είναι τό υποκείμενο ν": b34); nämlich ein von den Gegensätzen Verschiedenes („τοΰτο γαρ ούκ έναντίον": b35). Das ύποκείμενον als eigentlich Zugrundeliegendes ist für sich betrachtet nicht mehr entgegengesetzt. Es liegt den Gegensätzen, die hier im Sinne von Formen und Zuständen (πάθη) zu verstehen sind, zugrunde und kann sie - im. wörtlichen Sinne - erleiden (πάσχειν): So erleidet z.B. das Erz beim Werden einer Statue die Form der Statue, und der Mensch erleidet beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen die Form der Bildung. So daß also die Prinzipien auf gewisse Weise [τρόπον τινά] nicht mehr als die Gegensätze sind [ούτε πλείους των έναντίων], sondern der Zahl nach, wie gesagt, zwei; aber sie sind auch wiederum durchaus nicht zwei wegen der Tatsache, daß ihnen das Sein auf verschiedene Weise zukommt [διά τό έτερον ύπάρχει τό ε ΐ ν α ι αύτοΐς], sondern drei: Denn »Mensch-sein« [bzw. das Sein für »Mensch«] und »ungebildet-sein« [bzw. das Sein für »ungebildet«] sind verschieden, und ebenso »ungestaltet-sein« [bzw. das Sein für »ungestaltet«] und »Erz-sein« [bzw. das Sein für »Erz«] [ετερον γαρ τό άνθρώπω και τό άμούσω είναι, και τό ά σ χ η μ α τ ί σ τ φ και χαλκω], (1.7, 190b35-191a3)
In bezug auf die Behauptung, daß die Prinzipien auf gewisse Weise - nämlich der Zahl nach - nicht mehr als die Gegensätze und somit zwei sind, ist hier offenkundig an die Prinzipien ύποκείμενον und είδος zu denken, die ebenso wie die Gegensätze der Zahl nach eine Zweiheit darstellen.154 Sie sind jedoch andererseits nicht nur zwei, sondern drei, „weil ihnen [αύτοΐς] das Sein auf verschiedene Weise zukommt". Aristoteles verdeutlicht dieses 'Auf-verschiedene-WeiseZukommen-des-Seins' durch die Beispiele ,,τό άνθρώπφ και τό άμούσφ είναι" und ,,τό άσχηματίστφ καν χαλκω [εΐναι]". Der Ausdruck „ihnen" (αύτοΐς: 191al) kann sich hierbei sinnvollerweise nur auf diese nachfolgenden Beispiele beziehen, so daß gemeint ist, daß den Momenten 'άνθρωπος' und 'αμουσον' bzw. den Momenten 'άσχηματίστον' und 'χαλκός' das Sein jeweils auf verschiedene Weise zukommt. Es ist hier nicht gemeint, daß den beiden Prinzipien ύποκείμενον und είδος das Sein auf verschiedene Weise zukommt." 5 Mit anderen Worten: Aristoteles sagt zunächst, daß die Prinzipien auf 153
Bzw. die Schwierigkeit, daß zwar die Wärme nichts von der Kälte, wohl aber das Warme etwas vom Kalten erleiden kann. Vgl. Fritsche (1986: 129), der darauf hinweist, daß sich diese Ansicht bereits bei Philoponus findet. Die andere Möglichkeit, daß man das „αύτοΐς" auf die zuvor erwähnten Prinzipien bezieht, die der Zahl nach nicht mehr als die Gegensätze sind - seien dies nun ύποκείμενον und είδος oder aber die beiden Gegensätze είδος und στέρησις - ergibt aus dem Grunde keinen Sinn, da dann die in Gestalt einer Begründung angeführten Beispiele anders lauten müßten, nämlich ,,τό άνθρώπφ και τό μουσικώ είναι" oder ,,τό μουσικφ και τό άμούσφ είναι" statt ,,τό άνθρώπω καϊ τό άμούσφ είναι". Zudem stellt der Ausdruck „αύτοΐς" grammatisch den Dativ Plural (Maskulinum oder Neutrum) des nichtreflexiven Personalpronomens dar. Wollte Aristoteles sich hier jedoch auf vorher Genanntes beziehen, so stünde dort eher der Ausdruck
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
gewisse Weise (τρόπον τινά: b35) - nämlich nur der Zahl (nicht aber der Bedeutung) nach - nicht mehr als die Gegensätze und somit zwei sind.156 Doch sind hier mit den Prinzipien, die zahlenmäßig zwei sind, nicht auch inhaltlich die Gegensätze gemeint, denn in bezug auf die Gegensätze wurde zuvor ja gezeigt, daß diese allein nicht die Prinzipien sein können; vielmehr sind hier die beiden Prinzipien ύποκείμενον und είδος (z.B. 'Mensch' und 'Bildung') gemeint, die zwar ebenso wie die Gegensätze der Zahl nach zwei sind, doch im Unterschied zu den Gegensätzen selbst keinen Gegensatz darstellen.157 Zwar sind die beiden Prinzipien ύποκείμενον und είδος zahlenmäßig nicht mehr als zwei, doch sind sie andererseits auch nicht nur zwei, sondern in gewisser Weise auch drei, insofern das ύποκείμενον selbst ein der Art nach Zweiheitliches in Gestalt eines eigentlich zugrundeliegenden und eines privativen Moments ist. Denn den Momenten 'Mensch' und 'ungebildet', die zusammen das der Zahl nach einheitliche ύποκείμενον 'ungebildeter Mensch' bilden, kommt das Sein auf je verschiedene Weise zu. Hierbei ist nun mit der Verschiedenheit des Seins vor allem eine kategoriale Verschiedenheit von Ding und Eigenschaft gemeint.158 Die von Aristoteles vorgelegte Differenzierung macht deutlich, daß man nicht nur auf verschiedene Weise zu einer Zweiheit von Prinzipien (vgl. 190b2935), sondern daß man auch auf verschiedene Weise zu einer Dreiheit von Prinzipien gelangen kann: (i) Entweder geht man - wie dies in Kapitel 1.5 geschehen ist - davon aus, daß die Gegensätze Prinzipien sind, wobei diesen gegensätzlichen Prinzipien dann - wie das Kapitel 1.6 gezeigt hat - notwendigerweise ein drittes Moment (ύποκείμενον) zugrunde zu legen ist. Diesem Weg entspricht in gewisser Weise die Beschreibung des Werdens mit Hilfe der Formel „etwas wird aus etwas", da hier zunächst wie z.B. bei „Gebildetes wird aus Ungebildetem" die Gegensätze thematisiert werden, (ii) Oder aber man geht vom είδος und ύποκείμενον als Prinzipien aus, durch dessen weitere Analyse sich die Artzwei-
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,,τούτοις" (vgl. auch Ross (1936:494), der das ,,αύτοΐς" ebenfalls auf „matter" und „privation" bezieht). Da zuvor (vgl. 190 b32-35) mit dem Argument, daß die Gegensätze allein nichts voneinander erleiden können, die Möglichkeit ausgeschlossen wurde, daß nur die Gegensätze Prinzipien sind, sind die Prinzipien nur der Zahl nach mit den Gegensätzen identisch. In diesem Sinne sind z.B. auch 10 Hunde und 10 Pferde der Zahl nach identisch (vgl. Phys. IV.12, 220M0-12 und IV. 14, 224al2-15). In bezug auf das ύποκείμενον hieß es zuvor, daß es zwar der Zahl, nicht aber der Art nach Eines sei (vgl. 190al3 ff., 190b24i). Aristoteles scheint hier offenkundig darauf hinauszuwollen, daß das ύποκείμενον und das είδος zwar der Zahl nach eine Zweiheit darstellen, daß aber andererseits das ύποκείμενον weiter in ein eigentlich zugrundeliegendes und in ein privatives Moment differenziert werden kann, die der Art nach verschieden sind, so daß wir es genaugenommen doch wieder mit einer Dreiheit zu tun haben. Hierbei scheint Aristoteles jedoch den Ausdrucks „der Zahl nach" (τω άριθμω) nicht auf eindeutige Weise zu verwenden. Denn ebenso wie das ύποκείμενον zusammen mit der στέρησις (z.B. 'ungebildeter Mensch') ein der Zahl nach einheitliches Ding darstellt, stellt ja auch das ύποκείμενον zusammen mit dem είδος (z.B. 'gebildeter Mensch') ein der Zahl nach einheitliches Ding dar, so daß es vor dem Hintergrund dieser Bedeutung des Ausdrucks „der Zahl nach" zumindest fraglich erscheint, wieso Aristoteles nun das ύποκείμενον und είδος als „der Zahl nach zwei" bezeichnen kann. Vgl. auch Wieland (1962: 133, Fn.22 und S. 154) und Zekl (1987: 245, Fn.82): „Das Substrat ist eben substantiell, die konkrete Form resp. Ungeformtheit ist eigenschaftlich."
Die gemeinsamen ά ρ χ α ί der φύσει γ ι γ ν ό μ ε ν α und φύσει δντα
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heitlichkeit des ύποκείμενον ergibt, so daß man zur στέρησις als einem dritten Moment gelangt. Diesem Weg entspricht in gewisser Weise die Beschreibung des Werdens mit Hilfe der Formel „etwas wird etwas", da hier zunächst wie z.B. bei „ein Mensch wird gebildet" das ύποκείμενον und das είδος thematisiert werden. Zwar gelangt man in beiden Fällen zu ein und derselben Art einer Dreiheit von Prinzipien, doch ist sowohl der Weg, den man beschritten hat, als auch die Betonung der einzelnen Momente auf beiden Wegen verschieden. Nun haben jedoch auch die Naturphilosophen und Piaton eine Dreiheit von Prinzipien angenommen, wobei sich bei ihren Prinzipien ebenfalls das Moment eines ύποκείμενον und der Gedanke der Gegensätzlichkeit der Prinzipien wiederfindet (vgl. 1.6, 189b8-16). Doch während die Naturphilosophen der Ansicht waren, daß etwas nur aus Seiendem (έξ όντων) werden könne (vgl. 1.4, 187a2635), wird Piaton in Kapitel 1.9 (vgl. 191b36-192al) die Ansicht zugeschrieben, daß etwas aus Nichtseiendem (έκ μή δντος) entstehe. Aristoteles scheint im Buch Α der Physik der folgenden Ansicht zu sein: Während die Naturphilosophen letztlich die στέρησις als Moment an der von ihnen zugrunde gelegten bestimmten ύλη übersehen haben - weshalb es ihrer Theorie zufolge nach Ansicht von Aristoteles auch nur den Werdeprozeß einer άλλοίωσις, nicht aber den Werdeprozeß einer γένεσις im strengen Sinne geben kann,159 und weshalb sie nur konträre Gegensätze als Prinzipien gesetzt haben -, hat Piaton demgegenüber zwar ebenfalls die στέρησις (vgl. 1.9, 192al2), zugleich aber auch die Bestimmtheit der ύλη übersehen, indem er die ΰλη im Timaios in Gestalt der χώρα - d.h. als gänzlich leeres Gefäß - mit der στέρησις gleichsetzt. Aus diesem Grunde kann es in der platonischen Theorie für Aristoteles eigentlich nur den Werdeprozeß einer γένεσις geben, nicht aber den Werdeprozeß einer άλλοίωσις. 160 Aristoteles sucht diesen beiden Ansichten gegenüber erneut einen mittleren Weg, der sowohl die άλλοίωσις wie auch die γένεσις umfaßt, und der das Werden sowohl aus einem Seienden (öv) wie auch aus einem Nichtseienden (μή öv) möglich erscheinen läßt.
7.6.4 Die στέρησις als 'Abwesenheit des είδος' (191a3-7) Wie viele Prinzipien der Naturdinge es hinsichtlich des Werdens [των περί γ έ ν ε σ ι ν φυσικών] gibt, und in welchem Sinne diese Anzahl zu nehmen ist, darüber ist nun 159 160
Vgl. Phys. 1.4 und De gen. et corr. 1.1. In der στέρησις liegt, wie wir gesehen haben, die aristotelische Lösung für das substantielle Werden einer ουσία als Werden aus einem Gegensatz. Zur These, daß Piaton die Eigenschaftsveränderung letztlich als ein 'Entstehen und Vergehen' interpretiert, vgl. auch Prauss (1966: S. 68 f.): „Daß Dinge ihre Bestimmungen wechseln, heißt noch nicht, daß sie sie als Substanzen wechseln. Andere ausführlichere Formulierungen machen dies sogar höchst fragwürdig. [...] Indem sie ihre Bestimmungen wechseln, bieten die Dinge sich nicht nur niemals gleich dar, sind sie nicht nur ihren Bestimmungen nach immer verschieden, sondern αύτά αΰτοϊς ... ουδαμώς κατά ταϋτά [Phd. 78 Ε3-4 + Ε5]. Das Ding, das seine Bestimmungen wechselt, wird für Piaton mit jedem solchen Wechsel zu einem anderen Ding (άλλο αύτό εύθϋς γίγνεσθαι [Krat. 439 D10. Vgl. auch 439 E3-4, 440 Al]). Darin kündigt sich eine Dingauffassung an, die von einer Substanz-Attribut-Theorie noch weit entfernt ist."
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gesprochen. Und klar ist, daß etwas den Gegensätzen zugrunde liegen muß, und daß die Gegensätze zwei sein müssen. Auf eine bestimmte andere Weise ist das nicht notwendig: Dann nämlich ist es ausreichend, daß das eine der Gegensatzglieder durch seine Abwesenheit und Anwesenheit [τη άπουσίςι και παρουσίς»] den Umschlag [την μεταβολήν] bewirkt. (1.7, 191a3-7)
Aristoteles spricht in diesem Abschnitt, der zunächst insofern eine Zusammenfassung des bereits Dargelegten darstellt, als nun klar sein soll, daß den beiden Gegensätzen etwas zugrunde liegt, von den „Prinzipien der Naturdinge bezüglich des Werdens" (αί άρχαί των περί γένεσιν φυσικών: 191a3). Obgleich dieser Ausdruck sowohl in den Handschriften wie auch bei den antiken Kommentatoren Philoponus, Simplicius und Themistius zu finden ist, schlägt Ross (1936: 494) vor, das „περί γένεσιν" eventuell einzuklammern, da es kein idiomatischer Ausdruck für Aristoteles sei.161 Nach Ansicht von Ross wären mit den „περί γένεσιν φυσικά" letztlich nur diejenigen natürlichen Dinge gemeint, bei denen es Entstehen und Vergehen gibt („which are involved in generation"), welches bedeuten würde, daß die Himmelskörper (τά ουράνια) ausgeschlossen wären, da bei ihnen ja nach Ansicht von Aristoteles kein Entstehen oder Vergehen statthat. Demgegenüber kann die γένεσις hier jedoch nicht nur in der von Ross vorgeschlagenen engen Bedeutung als „Entstehen", sondern auch in einer weiten Bedeutung als „Werden" verstanden werden, da hier ja nicht ausdrücklich von einer ,,άπλή γένεσις" die Rede ist. In dieser weiteren Bedeutung wäre dann aber auch die Ortsbewegung miteingeschlossen, die sich Aristoteles zufolge auch bei den Himmelskörpern findet, so daß in dieser Interpretation des Ausdrucks „περί γένεσιν φυσικά" die Himmelskörper nicht ausgeschlossen wären.162 In bezug auf die Konklusion, daß nun klar sei (και δήλον έστιν), daß den Gegensätzen etwas zugrunde liegen müsse und sie zwei seien, weist Aristoteles jedoch zugleich darauf hin, daß dies auf bestimmte Weise nicht notwendig ist. Durch den Hinweis, daß es ausreiche, daß eines der Gegensatzglieder durch seine An- und Abwesenheit den Umschlag bewirke, womit Aristoteles die στέρησις hier als Abwesenheit (απουσία) des είδος und somit als vom είδος abhängig bestimmt,163 wird deutlich, daß στέρησις und είδος nicht als zwei gegensätzliche Prinzipien betrachtet werden müssen. Dies bedeutet ferner, daß, wenn στέρησις und είδος nicht als zwei gegensätzliche Prinzipien betrachtet werden müssen, es ebenfalls nicht notwendig ist, daß die gegensätzlichen Prinzipien zwei sind. Auf diese Weise stellt Aristoteles indirekt infrage, ob über161
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Diesem Vorschlag ist Charlton (1970: 18 und 47) gefolgt. Auf die Einzigartigkeit dieses Ausdrucks bei Aristoteles hat auch Düring (1966: 201) hingewiesen. In dieser weiten Bedeutung spricht Prantl (1854: 43) von „dem Werden unterworfenen Natürlichen", Zekl (1987: 41) von den „im Werdensverlauf befindlichen Naturgegenständen", Wagner (1967: 26) von den „prozeßhaften Naturgegenständen" und Wicksteed/Cornford (1980: 81) von „things in the changing world of Nature". Es ist sicherlich nicht gemeint, daß sowohl die στέρησις als Abwesenheit des ε ί δ ο ς wie auch das ε ί δ ο ς als Abwesenheit der στέρησις bestimmt werden kann. Wenn Aristoteles sagt, daß auch eines der Gegensatzglieder allein durch seine An- und Abwesenheit den Umschlag bewirken könne, so ist damit das ε ί δ ο ς gemeint.
Die gemeinsamen ά ρ χ α ί der φύσει γ ι γ ν ό μ ε ν α und φ ύ σ ε ι δ ν τ α
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haupt die Gegensätze Prinzipien sein müssen. Denn insofern die Gegensätze eo ipso der Zahl nach eine Zweiheit darstellen (vgl. Phys. 1.6, 189al2), und insofern Aristoteles nun sagt, daß es auch ausreiche, daß eines der Gegensatzglieder durch seine An- und Abwesenheit den Umschlag bewirkt, deutet er darauf hin, daß in gewisser Weise das ΰποκείμενον und das είδος als Prinzipien ausreichen. Mit der Behauptung, daß es in gewisser Weise ausreiche, daß eines der Gegensatzglieder durch seine An- und Abwesenheit den Umschlag bewirkt, werden die Prinzipien erneut auf zwei reduziert, wobei hier nun aber die στέρησις nicht mehr - wie noch in 190b27 - als von der ύλη, sondern als vom είδος abhängig bestimmt wird. 164 Charlton (1970: 77 f.) ist der Ansicht, daß das Begriffspaar „απουσία und παρουσία" hier nicht von Aristoteles stamme, sondern als eine nicht korrekte Glosse eines Studenten anzusehen sei: [...], Aristotle says (according to the text as I translate it) that in a way it is not necessary for there to be two opposed principles; one, by its absence and presence, will suffice to effect the change (a5-7). I suspect these lines are a gloss, taken from 195al 1-14 by a student who did not sufficiently consider that there Aristotle is speaking not of forms but of efficient causes or sources o f change; if we accept them as genuine, they present a little difficulty (unless, contrary to what was argued above, we suppose that Aristotle conceived a form as something like house-ness or sphericality).
Charltons Behauptung, daß die Rede von ,,άπουσία und παρουσία" in 191 a7 nicht von Aristoteles stamme, gründet sich darauf, daß der Gedanke der Anbzw. Abwesenheit eines der Gegensatzglieder impliziere, daß hier von bloßen Formen die Rede sei. Nun ist Charlton aber der Ansicht, daß Aristoteles unter den 'Formen' nicht die bloßen Formen (wie z.B. 'house-ness', 'sphericality' usw.), sondern die konkreten Dinge versteht, da seiner grundlegenden These zufolge (vgl. S. 71 ff.) die Materie-Form-Beziehung nicht (wie dies für gewöhnlich geschieht) als eine Ding-Eigenschafts-Beziehung, sondern vielmehr als eine Beziehung zwischen Konstituent und konstituiertem Ding zu verstehen sei. Diese Interpretation setzt voraus, daß Aristoteles von den Formen (είδη) im Sinne von konkreten Dingen spricht. Da ich jedoch in Kapitel 7.7.1 zeigen werde, daß Charltons These in bezug auf Phys. 1.7 nicht zutreffen kann, ist es auch nicht notwendig, die Rede von ,,άπουσία und παρουσία" als eine Glosse eines Studenten anzusehen. Vielmehr stellt die Rede von „απουσία und παρουσία" in 191 a5-7 bereits ein Argument gegen Charltons These dar. Bestand den Überlegungen von Kapitel 1.5 zufolge ein Grund dafür, die Gegensätze zu Prinzipien zu machen, darin, daß sie die in 188a27-30 angeführten drei Kriterien einer ' ά ρ χ ή ' zu erfüllen scheinen, zu denen unter anderem zählte, daß die Prinzipien nicht auseinander sein dürfen, so scheint die στέρησις dieses Kriterium nun jedoch insofern nicht zu erfüllen, als sie als ' α π ο υ σ ί α des είδος' 164
Vgl. auch Fritsche (1986: 72 f. und 129 f.) und Wagner (1967: 433). Während Fritsche die Bemerkung in 191a5-7 als für das Verständnis des Kapitels 1.7 wesentlich ansieht (vgl. S. 130: „Das Entscheidende der Passage wird mithin in dem Satz 191 a5-7 gesagt."), betrachtet Wagner den Gedanken in 191 a5-7 jedoch nur als eine „unwesentliche Zusatzüberlegung".
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in einem bestimmten Sinne aus dem είδος herleitbar ist.165 So schwankt Aristoteles in Kapitel 1.7 auch mehrfach zwischen zwei und drei Prinzipien, da die στέρησις einerseits nicht im strengen Sinne die Kriterien einer ' ά ρ χ ή ' erfüllt, während sie andererseits jedoch für das Werden eine konstitutive Rolle spielt und als privatives Moment an dem ύποκείμενον nicht mit diesem gleichgesetzt werden darf. Die Rede von „ α π ο υ σ ί α und παρουσία" dürfte die damaligen Hörer dieser Vorlesung wohl an die platonische Theorie erinnert haben, 166 für die j a die Rede von der An- bzw. Abwesenheit von Ideen kennzeichnend ist. Vor diesem Hintergrund kann die Rede von ,,άπουσία und π α ρ ο υ σ ί α " vielleicht als Zeichen dafür verstanden werden, daß sich Aristoteles zur Zeit der Abfassung des Buches Α der Physik, das man zu seinen frühen Schriften zählt, in einer Entwicklungsphase seines Denkens befand, in der er zwar bemüht war, sich von Piaton abzugrenzen, wobei er jedoch in bezug auf diese Abgrenzung gerade von platonischen Überlegungen und Begrifflichkeiten ausging, um diese zu modifizieren. Die dargelegte Interpretation des Abschnitts 191a5-7 zeigte, daß Aristoteles hier darauf hinweisen will, daß das είδος und die στέρησις in bezug auf ihren Prinzipienstatus nicht gleichwertig sind.167 Gegenüber dieser Interpretation, die von einer Ungleichgewichtigkeit der beiden Glieder 'στέρησις' und 'είδος' ausgeht, ist jedoch auch eine Interpretation vertreten worden, die die Gleichgewichtigkeit derselben behauptet. So hat sich bereits in der Spätantike Simplicius, der sich für die Ungleichgewichtigkeit der beiden Glieder aussprach, gegen die Interpretation von Alexander gewandt, der die Gleichgewichtigkeit der beiden Glieder vertrat. Fritsche beschreibt dies wie folgt: Simplicius entwickelt hier [211.9-11] nicht näher eine eigene Interpretation des Steresisbegriffes, sondern weist zunächst nur die Interpretation Alexanders ab. Es geht ihm darum, eine Asymmetrie zwischen eidos und steresis festzustellen, nach der die 1
166
167
Vgl. dazu auch Met. VII.7, 1032b2-5: „Auch das Entgegengesetzte nämlich fällt gewissermaßen unter dieselbe Form, denn der Privation Wesenheit ist die entgegengesetzte Wesenheit; z.B. Gesundheit ist Wesenheit der Krankheit, denn durch Abwesenheit [απουσία] derselben wird die Krankheit erklärt." Vgl. auch Solmsen (1960: 86): „One is apt to be startled by what appears like a sudden relapse into Platonic ways of speaking and thinking. Nor can it be accidental that this statement occurs in the section which also describes the nature of the substratum in terms strongly reminiscent of Plato's receptacle." Zu den Begriffen der άπουσία und παρουσία bei Piaton und Aristoteles vgl. auch Teichmüller (1873: 1-18). Vgl. auch Fritsche (1986: 129 f.): „Dieser Sau [191a5-7] will nicht der Linie von I. 6 bis 190 bl7 folgen und das antikeimenon gänzlich an das hypokeimenon binden, sondern versucht, durch den Ausgang vom eidos das antikeimenon so zu interpretieren, daß es, begrifflich vom hypokeimenon unterschieden bleibend, vom eidos abhangig wird: daß es nicht ein dem eidos entgegengesetztes Seiendes ist, wie es die enantia zueinander sind, sondern das eidos selbst in einer bestimmten Seinsweise, nämlich das noch nicht seiende eidos, nicht aber ein dem eidos entgegengesetztes Seiendes. Das Zweisein der Ursprünge in 191 a 5-7 verdankt sich jetzt nicht mehr wie in I. 7 bis 190 b 17 und noch in 190 b 35-191 a 5 der Unselbständigkeit des antikeimenon gegenüber dem hypokeimenon, gegen welche Weise der Zweiheit auf die gleichzeitige Dreiheit zu bestehen ist, sondern verdankt sich der ontischen und begrifflichen Unselbständigkeit des antikeimenon als steresis gegenüber dem eidos, weil das antikeimenon als steresis begrifflich dieselbe Form wie das eidos ist und keine dem eidos entgegengesetzte, sondern nur das Nochnichtsein des eidos ohne eigenes Sein. Diese Uminterpretation des antikeimenon ist mit den Begriffen steresis und apousia gemeint."
Die gemeinsamen άρχαί der φύσει γιγνόμενα und φύσει δντα
355
steresis nicht in gleicher Weise eine Qualität und ein Seiendes sei, wie Alexander dies behauptet. Alexander sagt sich: Wenn die hyle sowohl die steresis als auch das eidos aufnehmen kann und die hyle an sich selbst qualitätslos ist, heißt ihr dynameiSein, daß sie »ώς έν άποφάσει« [211.22] ist, weil die steresis einer Qualität selbst eine Qualität ist, die mithin nicht zum Begriff der hyle gehören kann, weil die hyle beides, sowohl die steresis als auch das eidos, aufnehmen kann [211.20-23]. Simplicius wendet dagegen ein, daß in solcher Gleichgewichtigkeit von eidos und steresis das Werden nicht in seinem Ausgangs- und Endpunkt verschieden gewichtet werden könne, worauf Aristoteles offenbar abziele. Wenn die steresis ebenso eine Qualität wäre wie das eidos könnte man ebenso wie die steresis eine steresis des eidos auch das eidos eine steresis der steresis nennen [211.23-29], (Fritsche, 1986: 114 f.)
Nun findet sich diese von Alexander vertretene Position bezüglich der Gleichgewichtigkeit von είδος und στέρησις allerdings auch in jüngerer Zeit wieder. So ist z.B. Cherniss (1962: 90) der Auffassung, daß Aristoteles in 191a5-7 darauf hinweist, daß die Abwesenheit einer substantialen Form von sich aus die entgegengesetzte Bestimmung impliziert, so daß der Gegensatz von Form und Privation hier zum Gegensatz von Form und Form wird: In specific application to physical problems, the particular privation itself becomes a form with positive significance for the shaping of the substrate (Physics 193 Β 19-20 [cf. Simplicius, Phys., p. 280, 18-22], De Generation 318 Β 14-18, 329 Β 24-32, De Part. Animal. 649 A 17-20); the absence of one substantial form implies of itself the opposite determination of the substrate (Physics 191 A6-7; Metaphysics 1032 B2-5, 1019 Β 6-10 [Ross' text; cf. Alexander, Met., pp. 391, 34-392, 18]). The contrariety of form and privation becomes thus a contrariety of form and form, with the substrate qualified by one or the other of these terms but identified with neither; [...]. (Cherniss, 1962: 90)
Demgegenüber ist jedoch daraufhinzuweisen, daß Aristoteles in 191a6-7 nicht sagt, daß 'die Abwesenheit einer substantiellen Form von sich selbst aus die Anwesenheit der gegenüberliegenden Bestimmung des Substrates impliziert', und daß 'somit die Kontrarietät von Form und Privation zu einer Kontrarietät von Form und Form wird', wie Cherniss behauptet. Die bisherige Untersuchung hat vielmehr gezeigt, daß Aristoteles den Gegensatz von Form und Privation gerade nicht im Sinne einer Kontrarietät versteht. Zudem würde sich angesichts der Interpretation von Cherniss die Frage stellen, welches die gegenüberliegende Bestimmung („the opposite determination") der Statueform an dem ungeformten Erz ist. Zwar war noch in Kapitel 1.5 davon die Rede, daß das Wohlgefügte in ein bestimmtes, gegenüberliegendes Ungefilgtes vergeht, doch wird der Begriff einer konträren Gegensätzlichkeit nach Einführung des ύποκείμενον gerade aufgrund der Tatsache, daß die ούσίαι einander nicht konträr entgegengesetzt sind, durch den umfassenderen Gegensatz von Form und Privation ersetzt. Auch wenn es innerhalb der aristotelischen Theorie für bestimmte Gegensätze wie z.B. Krankheit und Gesundheit in bezug auf den Menschen gilt, daß die Abwesenheit des einen Gliedes die Anwesenheit des anderen Gliedes impliziert, so gilt dies doch nicht für einen jeden Gegensatz: So impliziert weder die Abwesenheit der Weiße an einer Fläche die Anwesenheit der Schwärze (denn es gibt hier ja auch
356
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
mittlere Zustände), noch impliziert die Abwesenheit der Statuenform an einem Klumpen Erz die Anwesenheit einer konträr entgegengesetzten Form. In einem ähnlichen Sinne wie Cherniss scheint auch Owens (1967: 204) von einer Gleichgewichtigkeit von στέρησις und είδος auszugehen, wenn er in bezug auf die aristotelische Analyse des Werdens folgendes bemerkt: Any change whatsoever needs three principles. It has to have a subject that loses one form and acquires another. The three principles necessarily involved are therefore the form that is lost, the form that is acquired, and the subject that undergoes the loss of the old form and the acquisition of the new. [See Ph. I 7, 189b30-191a7], Diese Analyse erweist sich jedoch insofern als problematisch, als sich nun ja angesichts der Prinzipien (1) 'the form that is lost', (2) 'the form that is acquired' und (3) 'the subject that undergoes the loss of the old form and the acquisition of the new' die Frage stellt, inwiefern wir es überhaupt noch mit drei Prinzipien zu tun haben. Genaugenommen haben wir es dieser Interpretation zufolge doch nur mit zwei Prinzipien - nämlich mit 'subject' und ' f o r m ' - zu tun. Auch wenn sich die Form, die verloren geht, von der Form, die erworben wird, unterscheidet, so haben wir es doch in beiden Fällen mit Formen zu tun, die in bezug auf ihren Prinzipienstatus nicht zu unterscheiden sind.
7.7 Die Analogie
(191a7-15)
Die zugrundeliegende Natur [ή ύποκειμένη φύσις] aber wird erkennbar durch eine Analogie [έπιστητή κατ' άναλογίαν]: Wie sich nämlich zur Statue das Erz verhält, oder zur Liege das Holz, oder zu einem anderen, welches Gestalt [erfahren] hat [ή προς των άλλων τι των έχόντων μορφήν], der Stoff und [ή ΰλη και] das Ungestaltete [τό αμορφον]168, bevor es die Gestalt angenommen hat [πριν λαβείν την μορφήν], so verhält sich auch diese [zugrundeliegende Natur] zum Ding/Wesen [προς ούσίαν], zum Dieses-da [τό τόδε τι], zum Seienden [τό δν]. Ein Prinzip also ist diese [αυτή], allerdings ist sie nicht in dem Sinne eines und seiend wie das Dieses-da [ούχ ούτω μία ούσα ούδέ ούτως δν ώς τό τόδε τι]; ein [anderes Prinzip] aber [ist dasjenige], von dem es den Begriff gibt [μία δέ ης ό λόγος], und außerdem das diesem Entgegengesetzte, die Privation. In welchem Sinne dies zwei und in welchem Sinne dies mehr [als zwei] sind, darüber ist in den obigen Ausführungen gesprochen worden. (1.7, 191a7-15) Der von mir beibehaltene Ausdruck ,,ή ΰ λ η κ α ι " ( 1 9 1 b l 0 ) ist von Diels und Simplicius (226.7) athetiert worden. Ross (1936: 494) stimmt der Athetierung zu, da durch ,,ή ύ λ η κ α ι " , das er als späteren Zusatz interpretiert, die seiner Ansicht nach in diesem Abschnitt zum Ausdruck gebrachte Proportion von ,,άμορφον: τ ε χ ν η τ ό ν " = „ΰλη : ο υ σ ί α " insofern zerstört würde, als dann bereits auf Seiten des 'αμορφον' von der ' ΰ λ η ' die Rede wäre. Wagner (1967:
168
In 191al0 kann ,,τό αμορφον" nur „das Ungestaltete" - und nicht die „Ungestaltetheit" - bedeuten, da die Ungestaltetheit selbst ja keine Gestalt annehmen (λαβείν) kann.
Die Analogie
357
437) weist jedoch darauf hin, daß man das ,,ή ΰλη καν" nicht athetieren muß, sofern man ,,ή ΰλη" hier strictissime als 'bestimmtes Materialstück' versteht.169 Bostock (1982: 187, Fn.12) spricht sich ebenfalls gegen eine Athetierung dieses Ausdrucks aus und begründet dies wie folgt:170 The reason why commentators excise the word [ΰλη] in the latter passage [191 alO] is that they think the analogy is designed to explain how the word ' ΰ λ η ' is to be understood in its technical sense (for in that case it would be unfortunate to use that same word untechnically in the explanans). But what Aristotle is trying to explain is the phrase 'ή ΰποκειμένη φ ύ σ ι ς ' (i.e. τό ύποκείμενον), and he has not yet started to use ' ΰ λ η ' as a synonym for this.'
7.7.1 Die Erkennbarkeit der ΰποκειμένη φύσις Aristoteles zufolge ist die zugrundeliegende Natur (ΰποκειμένη φύσις) durch eine Analogie erkennbar. Einige Interpreten haben dies als Hinweis darauf verstanden, daß hier von einer 'ersten Materie' (πρώτη ΰλη) die Rede sei, die als das vollkommen ungestaltete Moment letztlich allen substantiellen Werdeprozessen zugrunde liege und nur durch eine Analogie erkennbar sei.171 Demgegenüber soll hier jedoch die Auffassung vertreten werden, daß Aristoteles in Physik Α nicht von einer πρώτη ΰλη spricht. Zum einen werden wir nämlich sehen, daß sich Aristoteles in Kapitel 1.9 ausdrücklich von der Theorie Piatons abgrenzen will, der nach Ansicht von Aristoteles mit seiner Bestimmung der ΰλη als χώρα im Sinne eines 'leeren Gefäßes' gerade solch ein gänzlich unbestimmtes Moment zugrunde gelegt hat und dabei nicht mehr zwischen den Momenten der ΰλη einerseits und der στέρησις andererseits zu differenzieren vermochte. Zum anderen aber stünde die Annahme einer πρώτη ΰλη in Kapitel 1.7 im Widerspruch zur bereits herausgearbeiteten These, daß das ύποκείμενον in Kapitel 1.7 nicht als etwas gänzlich Unbestimmtes verstanden werden kann, da es ja gerade für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein soll. Wäre hier gemeint, daß die ύποκειμένη φύσις letztlich aufgrund ihrer vollkommenen Unbestimmtheit nur aus einer Analogie heraus erkennbar ist, so stünde dies im Widerspruch dazu, daß das zugrundeliegende Moment bereits in 190b23-29 als ein von sich aus irgendwie Bestimmtes charakterisiert wurde, um so der Gefahr zu entgehen, daß sonst letztlich doch wieder Beliebiges aus Beliebigem würde. Der hier vertretenen Interpretation zufolge ist die ύποκειμένη φύσις einerseits aufgrund der Tatsache, daß sie ein Allgemeines darstellt, durch eine Analogie zum Konkreten erkennbar, und andererseits ist sie aufgrund der Tatsache, 169
170
Es ist allerdings daraufhinzuweisen, daß Wagner die ΰποκειμένη φύσις im Sinne einer prima materia versteht, so daß die Analogie, wenn man ,,ή ΰλη και" nicht athetiert, nach Wagner in folgendem Sinne aufrechtzuerhalten wäre: „das ungeformte, bestimmte Materialstack : konkrete Statue" = ,prote hyle : ousia". Vgl. auch Irwin (1988: 516, Fn.28): „Some editors, perhaps rightly, suggest the deletion of he hyle kai in 191al0; but 190b9, 25 weaken their case." Einige nähere Beschreibungen, die einer πρώτη ΰλη von ihren Fürsprechern zugeschrieben wurden, finden sich bei Cook (1989: 105 f., Fn.3).
358
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
daß sie als ύποκειμένη φύσις immer schon für etwas zugrunde liegt, nur im Verhältnis zu demjenigen, dem sie zugrunde liegt, erkennbar. In diesem Sinne sagt auch Wieland: Das Substrat ist als solches, also im Sinne einer sachhaltigen Prädikation grundsätzlich unerkennbar und läßt sich allein durch die Relation zu dem, für das es Substrat ist, bestimmen (vgl. 194 b 8f.). (Wieland, 1962: 135)
In Analogie zu den Prinzipien, die als Prinzipien von etwas (vgl. 1.2, 185a4-5: ,,ή γαρ άρχή τινός ή τινών") nur durch dasjenige erkannt werden können, für das sie Prinzipien sind - wobei dann im Sinne einer 'auf- und absteigenden Dialektik' umgekehrt dasjenige, aus dem die Prinzipien erkannt werden, selbst durch die Prinzipien erkannt wird -, kann auch die υποκείμενη φύσις nur durch dasjenige erkannt werden, für das sie zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Aristoteles in 191a7-8 nicht von der „ύλη", sondern von der ,,ύποκειμένη φύσις" spricht, da durch den Begriff des 'Zugrundeliegenden' als 'Zugrundeliegendes für etwas' der relationale Charakter dieses Moments deutlicher zum Ausdruck kommt.'72 Um jedoch besser verstehen zu können, wie die ύποκειμένη φύσις mittels einer Analogie erkennbar sein soll, ist zunächst eine Beantwortung der Frage erforderlich, mit was für einer Art von Analogie wir es hier zu tun haben. Die Analogie in 191a8-12 ,,ώς γαρ [...], ούτως [...]" stellt aufgrund der dort genannten Beispiele ,,ύποκειμένη φύσις : ούσία, τόδε τι, öv = Bronze : Statue; Holz : Liege; Stoff (Ungeformtes) : Geformtes" sowohl eine Relation zwischen (i) Allgemeinem und Konkretem als auch eine Relation zwischen (ii) Natur (φύσις) und Technik (τέχνη) her.173 Nun unterscheiden sich die einzelnen in bezug auf die Analogie in 191 a8-12 vorgelegten Interpretationen in einem wesentlichen Punkte dadurch voneinander, daß einige Interpreten meinen, Aristoteles habe hier mit der zugrundeliegenden Natur die gänzlich bestimmungslose πρώτη ύλη gemeint, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit nur durch eine Analogie erkannt werden könne,174 während an172 173
1 4
Zur Relationalität des Stoffbegriffs bei Aristoteles vgl. Phys. II.3, 194b8-9: ,,ετι των πρός τι ή ϋλη· ά λ λ φ γαρ ε'ίδει άλλη ΰλη." Nach Ansicht von Frede (1985: 215) ist es die Komplexität der Natur von Pflanzen und Tieren, die den Grund dafür abzugeben scheint, warum Aristoteles, wo er kann, eher auf Beispiele der άπλα σώματα oder technischer Produkte zur Veranschaulichung von natürlichen Dingen ausweicht. Waterlow (1982: 71 f.) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß wir uns fragen können, ob Aristoteles mit seiner Analogie zwischen natürlichen und technischen Dingen nicht zu weit geht. Häufiger als nicht (sogar in der Physik) wählt Aristoteles technische Dinge als Beispiel zur Illustrationen der Unterscheidung von Materie und Form. Und man mag uns - so Waterlow - den Verdacht vergeben, daß sie nicht so sehr die passenden Beispiele sind, als vielmehr die einzig kohärenten. Denn in einem Kunstwerk ist die Form - qua definitione - ursächlich äußerlich zur Materie (deshalb braucht man ja einen Künstler), wobei dies in der Natur jedoch nicht der Fall ist. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß vermutlich die Tatsache, daß es gerade bei den technischen Dingen nur bestimmte Materialien gibt, die sich fllr bestimmte Formen eignen, einen nicht unbedeutenden Grund ftlr die Illustration natürlicher Gegebenheiten durch technische Beispiele darstellt. Zu den Vertretern der 'πρώτη ΰλη-These' in bezug auf 191a7-12 zählen z.B. Zeller (51963) A. Mansion ( 2 1946: 72-74), Solmsen (1960: 86; 1958: 244), Wagner (1970: 435), Themistius (27.6-7), Simplicius (229.12-14) Philoponus (162.29-31) und Thomas von Aquin (Kommentar
Die Analogie
359
dere Interpreten der Auffassung sind, daß in Physik I von einer πρώτη ύλη keine Rede sei.175 Vor diesem Hintergrund wird die Analogie in 191 a8-12 auch auf verschiedene Weise interpretiert: Während die Vertreter der 'πρώτη ΰλη-These' der Ansicht sind, daß die ύποκειμένη φύσις hier als das vollkommen Unbestimmte (πρώτη ύλη) in dem Sinne durch eine Analogie erkennbar wird, daß sich die ύποκειμένη φύσις zu den individuellen natürlichen Substanzen so verhält, wie sich der Stoff eines Kunstwerks zum Kunstwerk verhält, wobei sie zu den „Substanzen" nur die natürlichen Dinge zählen,176 sind die Gegner der 'πρώτη ύλη-These' der Ansicht, daß die ύποκειμένη φύσις hier als allgemeines Stoffprinzip (allgemeine ύλη) in dem Sinne durch eine Analogie erkennbar wird, daß sich die ύποκειμένη φύσις als allgemeiner Stoff zur allgemeinen ούσία, τόδε τι, δν so verhält, wie sich ein Stück Bronze (konkreter Stoff) zur Statue (konkrete ούσία, τόδε τι, öv) verhält, wobei sie zu den „Substanzen" nicht nur die natürlichen, sondern auch die künstlichen Dinge zählen.177 So sieht z.B. Owens, der ein Vertreter der 'πρώτη ύλη-These' ist, die Analogie in folgendem: Ebenso wie sich im Sinne des Explanans die Bronze zur Statue verhält, so verhält sich auch im Sinne des Explanandum die ύποκειμένη φύσις (als πρώτη ύλη) zur Bronze (als ούσία, τόδε τι, öv), wobei er die Statue nicht als
175
zu Aristoteles' Physik, Lectio 13). In bezug auf die spätantiken Kommentatoren ist jedoch darauf hinzuweisen, daß ihre Interpretation in einem nicht unbedeutenden Maße von dem Bemühen geleitet war, die Ansichten Piatons und Aristoteles' zusammen zu führen, weshalb es nahelag, die χ ώ ρ α Piatons mit einer πρώτη ύ λ η bei Aristoteles zu identifizieren. Zu den Gegnern der ' π ρ ώ τ η ΰλη-These' in bezug auf 191a7-12 zählen z.B. Gill (1989: 106 und 244), Jones (1974: 494 f.), Owen (1986: 282 f.), Waterlow (1982: 46), Cook (1989), Charlton (1970: S. 77 ff. und 129-45) und Lobkowicz (1963: 116). Vgl. auch Cook (1989: 107 f.): „According to the prime matter interpretation, the passage explains the underlying nature, which is taken to be the underlying thing in cases of substantial natural change, by an analogy with the underlying things in cases involving artifacts. The underlying nature, the 'material principle' of natural things (substances) is then taken to be prime matter. It cannot be known directly; in itself it is unknowable. We can, however, come to know it by an analogy with artifacts. The underlying nature is related to the individual substances as the matter of an artifact is related to the artifacts, as bronze is related to the statue, or wood to the bed. On this interpretation, the underlying nature ( ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φύσις) is the matter of substances (wich are taken on this view to include only natural things.) It is the underlying thing in cases of unqualified coming to be - i.e., cases of coming to be of substances. So, on this account, the examples of artificats [sic] in the passage, statue and bed, are not themselves substances, nor are bronze and wood themselves examples of underlying natures. [...] On this view it is the formlessness and lack of determination of the underlying nature (prime matter) which is responsible for the necessity of knowing the underlying nature by analogy ." Vgl. auch Cook (1989: 110 f.): „On the Charlton-Jones interpretation, the analogy provides an elucidation of underlying nature in general by a generalization from a number of examples. For them, 'underlying nature' is simply another way of referring to the underlying thing or matter; [...]. On this reading the matter referred to is not prime matter and it includes the wood and bronze of the examples mentioned as well as the proper matter of dog, oak tree, and human being. The underlying nature (here taken as equivalent to underlying thing or matter) is relative to each case of coming to be and to each substance. And the substances in the analogy include artifacts as well as natural things. That is, the substance to which the underlying nature is related as bronze is to a statue and wood is to a bed will in some cases be artificial and in other cases natural. On the Charlton-Jones reading, then, in the analogy passage Aristotle is telling us that we can come to understand by analogy ä general relation between underlying nature and substance through consideration of a number of examples of this relation."
360
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
konkretes Beispiel von ουσία, τόδε τι, öv versteht. 178 Demgegenüber sieht z.B. Gill (1989: 106), die eine Gegnerin der 'πρώτη ΰλη-These' ist, die Analogie in folgendem: Ebenso wie sich im Sinne des Explanans das konkrete Materialstück (Bronze) zum konkreten Gebilde (Statue) verhält, so verhält sich auch im Sinne des Explanandum die allgemeine ύποκειμένη φύσις zur allgemeinen ουσία, τόδε τι, öv, wobei sie die Statue als konkretes Beispiel von ουσία, τόδε τι, öv versteht. Zur Verdeutlichung meiner Interpretation der Analogie in 191a7-12, der zufolge in Physik I von einer „πρώτη ύλη" noch keine Rede ist, will ich mich im folgenden eingehender mit der Interpretationen von Wagner auseinandersetzen, um durch eine Kritik an dieser die eigene Interpretation im Sinne einer Abgrenzung deutlich werden zu lassen. Wagner (1967: 434 f.) geht davon aus, daß die υποκείμενη φύσις als Prozeßsubstrat durch eine Analogie im Sinne einer Verhältnisgleichung {Proportion) erkennbar ist.179 Für das Verständnis der Analogie als Verhältnisgleichung spricht auch der Umstand, daß Aristoteles bereits in 1.5, 189al den Ausdruck ,,άνάλογον" in bezug auf die Gleichheit eines Verhältnisses verwendet hat. Die dort angeführten unterschiedlichen Gegensatzpaare der Vorgänger können Aristoteles zufolge ja insofern als 'analog' bezeichnet werden, als sie jeweils dasselbe Verhältnis zum Ausdruck bringen. In diesem Zusammenhang sei auch auf Met. XII.4 hingewiesen, wo Aristoteles die Frage stellt, ob alles Seiende dieselben oder verschiedene Prinzipien habe. Seine Anwort lautet, daß jedes individuelle Ding zwar individuelle Prinzipien habe, wobei jedoch im allgemeinen jedes Ding über dieselben Prinzipien „κατ ά ν α λ ο γ ί α ν " verfüge: Die Ursachen und die Prinzipien sind in dem einen Sinne bei Verschiedenem verschieden, in anderem Sinne dagegen, wenn man nämlich im allgemeinen [ κ α θ ό λ ο υ ] und der A n a l o g i e nach [κατ' ά ν α λ ο γ ί α ν ] v o n ihnen spricht, bei allen dieselben. (Met. XII.4, 1070a31-33; Übers, nach Bonitz) In diesem Sinne nun haben nicht alle D i n g e dieselben Elemente, wohl aber der Analogie nach [τω ά ν ά λ ο γ ο ν ] , wie wenn man sagte, es g e b e überhaupt drei Prinzipien: die Form, die Formberaubung und den Stoff. Jedes von diesen Prinzipien ist aber für j e d e s besondere Gebiet der Dinge ein anderes, z.B. bei der Farbe weiß, schwarz, Fläche, Licht, Finsternis, Luft; hieraus entstehen Tag und Nacht. (Met. XII.4, 1070b 1721; Übers, nach Bonitz)
Zwar wird hier nicht gesagt, daß die Prinzipien durch eine Analogie erkennbar sind, wohl aber heißt es, daß alle Dinge dieselben Prinzipien - nämlich Form,
1
Vgl. Owens (1969: 198): „Though not directly observable, this substrate within the category of substance is scientifically knowable as a subject that stands in relation to substance as substance itself stands in relation to accidental composites." Hierbei ist daran zu erinnern, daß Owens solche natürlichen Dinge wie z.B. einen Baum, ein Pferd, einen Menschen, ein Stück Erz und die Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft) als Substanzen betrachtet, während er solche technischen Dinge wie z.B. eine Statue oder eine Liege nicht als Substanzen, sondern als akzidentelle Zusammensetzungen betrachtet. Zur Interpretation der,Analogie" im Sinne einer Verhältnisgleichung, der ich mich anschließe, vgl. auch Leszl (1970: 78), der auf Met. V.6, 1016b34-35 und XII.4 verweist.
Die Analogie
361
Privation und Stoff - haben, wenn man im allgemeinen und der Analogie nach von ihnen spricht. Da es in 191 a7-14 nun um genau diese allgemeinen Prinzipien geht, und da wir es dort ebenfalls mit einem Verhältnis von Allgemeinem (υποκείμενη φύσις : ουσία, τόδε τι, δν) zu Konkretem (Bronze : Statue) zu tun haben, bin ich der Ansicht, daß der Analogiebegriff in 191 a7-14 vor dem Hintergrund von Metaph XII.4 vor allem im Sinne eines Verhältnisses von Allgemeinem zu Konkretem zu verstehen ist.180 Wagner beginnt seine Analyse des Abschnitts 191 a7-14 wie folgt: Zunächst stellt Ar. fest: Das Prozeßsubstrat ist erkennbar aus einer Verhältnisgleichung. Das besagt zunächst negativ, daß das Prozeßsubstrat nicht sinnlich wahrnehmbar ist (έπιστητή gegen αισθητή). Wenn es nicht sinnlich wahrnehmbar ist, ist es nur durch einen Schluß erschließbar; es ist eben ein Prinzip; Prinzipien aber, auch Prinzipien des Wahrnehmbaren, sind nicht wahrnehmbar; es ist erschließbar, positiv, aus einer Verhältnisgleichung ( α ν α λ ο γ ί α ) . Der Begriff der Verhältnisgleichung ist in der Mathematik entwickelt worden, läßt sich aber mühelos auch auf Glieder beziehen, die nicht als Zahlen oder Raumgrößen betrachtet werden. Schon Piaton verwendet die Verhältnisgleichung so (ein Beispiel: Gorgias 465 B/C). (Wagner, 1967: 4 3 4 )
Wenn nun also die ύποκειμένη φύσις aus einer Verhältnisgleichung heraus erkannt werden soll, so ist allerdings darauf hinzuweisen, daß wir aus einer Verhältnisgleichung zunächst noch nicht unmittelbar etwas Genaues über die ύποκειμένη φύσις selbst erfahren müssen, sondern wir erfahren zunächst nur etwas über das Verhältnis, in dem die ύποκειμένη φύσις steht. Wagner verdeutlicht dies durch folgendes Beispiel: Weiß ich, daß Α : Β = C : D, weiß ich weiter, daß Α : Β = 4, so kann ich durch Schluß wissen, daß C : D = 4. (Wagner, 1967: 4 3 4 )
Auch wenn ich weiß, daß C : D = 4, so weiß ich doch noch nicht, für welche konkrete Zahl „C" steht, wenn ich nicht zugleich weiß, für welche konkrete Zahl „D" steht. Um aus einer Verhältnisgleichung eine bestimmte Kenntnis eines fraglichen Verhältnisgliedes zu erhalten, müssen mir die anderen Verhältnisglieder bekannt sein: Dort, wo die restlichen Glieder nicht sämtlich an ihnen selbst vollständig bestimmt sind, läßt sich zwar auf die Bestimmtheit des zweiten Verhältnisses einwandfrei, nicht aber einwandfrei auf die Bestimmtheit des fraglichen Gliedes an ihm selbst schließen. (Wagner, 1967: 434)
Nun kann eine Verhältnisgleichung jedoch verschiedene Gestalten haben. Für die Analogie in 191 a7-12 sind folgende beiden Vorschläge gemacht worden: Entweder haben wir es mit einer Analogie der Form (i) „A : Β = Β : C" zu tun. Um aus dieser Verhältnisgleichung eine Erkenntnis von „A" zu erhalten, müssen „B" und „C" bekannt sein. Oder wir haben es mit einer Analogie der Form (ii) 180
Vgl. auch Jones (1974: 494-7), der in seiner Interpretation der Analogie (191a7-12) ebenfalls auf Met. XII.4 verweist: „If we cannot read the analogy as claiming that as A is to Β so is Β to C and that therefore A is to C as A is to B, what does the appeal to analogy mean? This we are told clearly in Metaphysics Λ, 4."
362
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
„A : Β = C : D" zu tun. Um aus dieser Verhältnisgleichung eine Erkenntnis von „A" zu erhalten, müssen „B'\ „C" und „D" bekannt sein. Die in 191a7-12 zum Ausdruck gebrachte Analogie hat zunächst folgende Gestalt: (0)
υποκείμενη φύσις
ουσία, öv, τόδε τι
=
Erz Holz Ungeformtes
: : :
Statue Liege Geformtes
Bei den Vertretern der 'πρώτη ΰλη-These' findet sich für gewöhnlich die Ansicht, daß wir es in 191a7-12 mit einer Analogie der Form (i) „A : Β = Β : C" zu tun haben, wobei sie für „A" die 'πρώτη ΰλη', fur „B" das 'konkrete Stoffstück (Erz)' und für „C" das 'konkrete zusammengesetzte Gebilde (die Statue)' einsetzen, so daß sich folgende Verhältnisgleichung ergibt: 'So wie sich das konkrete Erz zur konkreten Statue verhält, so verhält sich die πρώτη ΰλη zum konkreten Erz':181 (1)
πρώτη ΰ λ η
:
Erz
=
Erz
Statue.
Diese Analogie stellt eine Beziehung zwischen zwei ontologisch verschiedenen Ebenen her, von denen die erste Ebene (vor dem Gleichheitszeichen) ontologisch früher als die zweite Ebene (nach dem Gleichheitszeichen) ist. Zugleich haben wir es mit einer Analogie zwischen Natürlichem und Technischem zu tun. Jones (1974: 494 f.) hat an dieser Interpretation die Kritik geäußert, daß durch die Interpretation der Analogie in Gestalt der Form (i) die durch den Ausdruck „πριν" (191al0) angezeigte temporale Implikation ignoriert würde, weshalb die Form (i) in 191 a8-12 nicht gemeint sein kann. Nun könnten, so Jones, die Vertreter der 'πρώτη ΰλη-These' zwar entgegnen, daß sie das „πριν" nicht im Sinne der temporalen, sondern im Sinne der logischen Priorität verstehen, doch führt Jones dann weitere Argumente dafür an, daß hier die temporale Priorität gemeint sein muß.182 181
In dieser Form (i) ,,Α : Β = Β : C" interpretiert z.B. Owens (1969: 198) die Analogie in 191a712: „Though not directly observable, this substrate within the category of substance is scientifically knowable as a subject that stands in relation to substance as substance itself stands in relation to accidental composites." Daß Owens ein Vertreter der πρώτη ΰλη-These ist, wird wenige Seiten zuvor deutlich, wenn er fragt (S. 194): „Thirdly, in the event of a negative or unsatisfactory answer, does Aristotle provide any alternate way to reach entirely formless matter as a first principle for this science?" Zwar weist Owens in einer Fußnote zu dem Ausdruck „entirely formless matter" daraufhin, daß Lobkowicz (1963: 116) Zweifel daran geäußert hat, daß die Materie als erstes Substrat in der Physik mit der absolut unbestimmten Materie der Metaphysik gleichzusetzen ist, doch sieht Owens den Unterschied zwischen der Metaphysik und der Physik in diesem Punkte wie folgt (S. 195, Fn.3): „Rather he [Aristoteles] reaches the primary substrate in the Physics. The passage in the Metaphysics (Zeta 3, 1029 a 1-25) regards the composition of bodies from matter and form as already established, and shows that the primary substrate has none of the categorical determinations." Vgl. Jones (1974: 494 f.): „This [gemeint ist 191a7-12] is frequently taken as claiming that just as a statue is made from bronze so bronze is made from something else and hence that the statue is made from this »something else,« and this, of course, is »prime matter.« It seems to me that this is an impossible reading of the passage, since it ignores the obvious temporal implication of the word »before«; matter is what is there beforehand. Perhaps this »before« refers to some kind of »logical priority«? Now, it is true that stuffs have no shape, but this only in the
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Die Analogie
Die Gegner der 'πρώτη ύλη-These' sind fur gewöhnlich der Ansicht, daß wir es in 191 a8-12 mit einer Analogie der Form (ii) „A : Β = C : D" zu tun haben, wobei sie für „A" die (unbekannte) 'υποκείμενη φύσις', für „B" 'ούσία, τόδε τι, öv', für „C" das 'Erz' und für „D" die 'Statue' einsetzen, so daß sich folgende Verhältnisgleichung zwischen Allgemeinem und Konkretem ergibt: (II)
ΰποκειμένη φύσις
:
ο ύ σ ί α , öv, τόδε τι
=
Erz
Statue
Wäre nun mit der Analogie in 191a8-12 eine Verhältnisgleichung der Form (i) gemeint, so müßte der Terminus „B" - d.h. in unserem Falle „der konkrete Stoff Erz" - in dieser Verhältnisgleichung zweimal auftreten. Obgleich dies offensichtlich nicht der Fall ist, könnten die Vertreter der 'πρώτη ϋλη-These' nun jedoch sagen, daß das 'Erz' als ein konkretes Beispiel für die allgemeinen Begriffe 'ούσία, τόδε τι, öv' stehen soll. So betrachten die Vertreter der 'πρώτη ύληThese' das Erz (natürliches Ding) als Beispiel für 'ούσία, τόδε τι, öv', während sie in bezug auf die Statue (technisches Ding) der Auffassung sind, daß Aristoteles diese in Physik Α nicht als eine ούσία versteht. Demgenüber bin ich jedoch der Auffassung, daß unter dem Ausdruck 'ούσία, τόδε τι, öv' hier gerade die Statue (und nicht das Erz) zu verstehen ist.183 Daß Aristoteles hier das Erz nicht als ein Beispiel für 'ούσία, τόδε τι, öv' versteht, wird aus folgendem deutlich: Zwar ist das Erz sicherlich ein öv, und auch wird in 190b24-26 von konkreten Stoffen wie z.B. Gold (ό χρυσός) und der ύ λ η αριθμητή gesagt, daß sie ein τόδε τι seien,184 darüber hinaus aber ist das Beispiel des Erzes sicherlich nicht als ein Beispiel für eine ούσία zu verstehen. Denn an keiner Stelle in Physik I wird eine konkrete ύλη (wie z.B. Erz) als Beispiel für eine ούσία genannt. Vielmehr sprach Aristoteles gerade in 1.7, 190b 1-2 von den „ούσία und den (anderen) einfachen Seienden" (αί ούσίαι καί δσα [άλλα] άπλώς οντα), um auf diese Weise solche Dinge wie Erz von solchen Dingen wie Mensch und Statue zu unterscheiden. So wird Aristoteles auch später in 1.9, 192a5-6 von der ύ λ η sagen, daß sie nur 'nahe bei' (έγγύς) und 'irgendwie' (πώς) ούσία sei, nicht aber, daß sie eine ούσία ist.185 Aus diesem Grunde sind in der Analogie sense that talk of shape does not apply to them. Just as we cannot ask how big bronze is so we cannot ask what shape it is. Throughout the earlier part of the discussion in Physics A, however, »being unshaped« had not been used of something which cannot have any shape whatsoever, but referred to the privation which characterizes certain pieces of stuff before they have been shaped (see 188612-20, 190614-15, 32, 191a2). Therefore, unless »being unshaped« is here no longer the privation, we must give the »before« its usual temporal significance." Vgl. auch Cook (1989: 114 f., Fn.19): „I also tend to disagree with the prime matter interpreters about whether or not statues, beds, and other artifacts are taken by Aristotle to be substances here in the Physics. I am inclined to believe both that they are and that Aristotle doesn't 'reject' artifacts as substances (whether for developmental or dialectical reasons) until Metaphysics Ζ 17 and Metaphysics H." Hierbei ist allerdings zu beachten, daß diese nur im Vergleich zur στέρησις mehr ein τόδε τι (τόδε τι μάλλον: 190b25-26) sind. Im Vergleich zur Statue, die meiner Ansicht nach hier als konkretes Beispiel für die allgemeinen Begriffe 'ούσία, τόδε τι, öv' steht, ist das Erz jedoch weniger ein τόδε τι. Wenn^Aristoteles in 191al9-20 sagen wird, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία ist, dann ist dort zu beachten, daß er nicht von der ΰλη, sondern vom ύποκείμενον spricht, wobei er hier vor allem an solche ύποκείμενα wie z.B. 'Mensch' denkt,
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
nicht das ' E r z ' oder das 'Holz', sondern vielmehr die 'Statue' oder die 'Liege' als konkrete Beispiele für die allgemeinen Begriffe ' ο ύ σ ί α , τόδε τι, öv' zu verstehen, so d a ß wir es bei der Analogie in 191a7-12 nicht mit einer Verhältnisgleichung der Form (i) zu tun haben. 186 Obgleich Wagner ein Vertreter der π ρ ώ τ η ϋλη-These ist, denkt er doch, daß wir es in 191a8-12 nicht mit einer Analogie der Form (i) „A : Β = Β : C", sondern mit einer Analogie der Form (ii) „A : Β = C : D " zu tun haben, die bei ihm folgende Gestalt hat: An unserer Stelle wird das Verhältnis zwischen der Bronze, aus der das Standbild entsteht, und dem Standbild, allgemein: zwischen einem konkreten Materialstück und dem konkreten Gebilde, das aus diesem entsteht, als das an ihm selbst bestimmte Verhältnis und werden die beiden Korrelationsglieder ebenfalls an ihnen selbst bestimmt vorausgesetzt. Behauptet ist die Identität dieses Verhältnisses mit dem zwischen der υποκείμενη φύσις, deren Begriff durch die Analogie bestimmbar werden soll, einerseits und der ούσία, dem τόδε τι, dem öv andrerseits. Da die Begriffe dieser letzten drei Glieder ebenfalls als bestimmt vorausgesetzt sind, soll der Begriff der ύποκειμένη φύσις erschlossen werden können. Nun, wie ist das Verhältnis zwischen dem Bronzestück und dem Standbild? Das Bronzestück hat die bestimmte Gestalt noch nicht, die das Standbild nach dem Prozeß hat; es ist noch nicht Standbild; es ist nur ein Moment verglichen mit dem, was das Standbild sein wird. Wie ist weiterhin - das Verhältnis zwischen dem Standbild und der ούσία, dem τόδε τι, dem öv? Das Standbild ist ein konkreter Fall von ούσία, von τόδε τι, von öv. Daraus geht hervor: die Verhältnisgleichung besagt in unserem Falle, daß es sich um die Identität zweier Verhältnisse handelt, deren eines k o n k r e t e Glieder (Bronze, Standbild), deren anderes a l l g e m e i n e Glieder (υποκείμενη φύσις als χ; ούσία, τόδε τι, öv) besitzt. So ist das Standbild eine bestimmte Substanz, von bestimmtem Wesen, ein bestimmtes Seiendes; ούσία aber ist Substanz überhaupt, τόδε τι ist ein in seinem Wesen bestimmter Gegenstand überhaupt; öv ist Seiendes überhaupt. (Wagner, 1967: 434 f.) Schematisch betrachtet läßt sich folgende Verhältnisgleichung aufstellen: (ΙΓ) ύποκειμένη φύσις (allgemein)
:
ούσία, öv, τόδε τι (allgemein)
=
Bronze (konkret)
:
Statue (konkretes Gebilde)
Das einzig unbekannte Glied in dieser Verhältnisgleichung ist - so Wagner - die ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς , während sowohl das konkrete Erz und die konkrete Statue das das είδος 'Bildung' erhält und bei dem 'gebildeten Menschen' die ουσία darstellt, nicht aber an solche υποκείμενα wie z.B. 'Erz', das das είδος 'Statuenform' erhält und bei der 'ehernen Statue' nicht die ουσία darstellt. Vgl. auch Cooks Kritik an den Interpretationen, die davon ausgehen, daß in der Analogie von einer πρώτη ϋλη die Rede sei (1989: 114 f.): „We disagree [with the prime matter interpreters], however, about whether the underlying nature is the same for all substanes [j/c] and to be identified with prime matter, and about what differentiates the substances of the analogy and the analogous artifacts mentioned. They think the difference is just that the artifacts are nonsubstances; I think what matters here is the contrast between the natural substances and the non-natural artifacts. [...] To say that prime matter is the matter or underlying nature of all natural things is to ignore Aristotle's repeated remarks claiming that matter is relative (see, e.g., 194b8-9). [...] I have argued that the underlying nature is not generally equivalent to prime matter; whether it is prime matter in some cases, those of the coming to be of the elements, for example, is a question left open by this passage."
Die Analogie
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wie auch die ουσία, das τόδε τι und das ov allesamt bekannt und als an sich selbst bestimmt vorausgesetzt sind.187 Bis hierhin stimme ich der Interpretation von Wagner im wesentlichen zu. Nun aber setzt Wagner (1962: 434 f.) in einem weiteren Schritt, der meiner Ansicht nach weder notwendig noch gut begründet ist, die ύποκειμένη φύσις mit der πρώτη ΰλη gleich: Damit wird nun die υποκείμενη φύσις aus der Verhältnisgleichung bestimmbar. Die Bronze hat die bestimmte Gestalt nicht, die das Standbild nach dem Prozeß hat. Die υποκείμενη φύσις hat gar keine bestimmte Gestalt gar keine Bestimmtheit des Wesens: sie ist überhaupt kein τόδε τι. Die Bronze ist noch nicht Standbild. Die υποκείμενη φύσις ist überhaupt noch nicht, ist noch kein Seiendes. Die Bronze ist bloß ein Moment am Standbild. Die υποκείμενη φύσις ist bloß ein Moment an der Substanz überhaupt. Was also ist die ύποκειμένη φύσις? Sie ist ΰλη; aber nicht nur so, wie das Bronzestück ύλη ist. Sie ist ΰλη schlechthin: πρώτη ύλη, U r m a t e r i a l . Ar. ist also mittels der Verhältnisgleichung über den Begriff des bestimmten Materials hinausgekommen zu dem des Urmaterials. Ausgehend vom Begriff des G e g e n s t a n d s kam er zum Begriff des M a t e r i a l s , zunächst noch des konkreten Materials, nun aber ist er bis zum Begriff des U r m a t e r i a l s gelangt.
Wenn Wagner zu Recht sagt, daß es sich hier „um die Identität [meine Hervorhebung] zweier Verhältnisse "handelt, deren eines konkrete Glieder (Bronze, Standbild), deren anderes allgemeine Glieder (υποκείμενη φύσις als χ; ούσία, τόδε τι, öv) besitzt", und wenn Wagner ebenfalls zu Recht das Verhältnis der konkreten Glieder in dem Sinne analysiert, daß die Bronze die bestimmte Gestalt noch nicht hat, die das Standbild nach dem Prozeß hat, so darf aus diesem jedoch in bezug auf die allgemeinen Glieder nicht gefolgert werden, daß die ύποκειμένη φύσις gar keine bestimmte Gestalt hat, wie Wagner dies tut. Vielmehr ergibt sich auch auf Seiten der allgemeinen Glieder nur, daß die ύποκειμένη φύσις diejenige bestimmte Gestalt noch nicht hat, die die ούσία, das τόδε τι und das öv nach dem Prozeß haben. Dies bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, daß sie gar keine Gestalt hätte und somit das Urmaterial wäre.188 Obgleich Wagner die Verhältnisgleichung zunächst als Identität zweier Verhältnisse in bezug auf Konkretes und Allgemeines bestimmt, legt er seiner weiteren Analyse dann doch eine Verhältnisgleichung zwischen zwei ontologisch verschiedenen Ebenen saigrunde. Für eine solche Verhältnisgleichung würde sich allerdings eher eine Analogie der Form (i) „A : Β = Β : C" eignen, die jedoch in 191a7-12 - wie die Überlegungen gezeigt haben - nicht vorhanden ist. Zwar ist Aristoteles - um mit Wagners Worten zu reden - über den Begriff des konkreWährend mit dem Ausdruck „ουσία" in 191al9-20 primär das Wesen eines konkreten Dings gemeint zu sein scheint (vgl. Wieland, 1962: 136, Fn.27), ist mit dem Ausdruck „ούσία" in 1 9 l a l l noch das konkrete Ding gemeint, was durch die mit „ούσία" parallel genannten Ausdrücke „öv" und „τόδε τι" deutlich wird. In diesem Sinne ist die konkrete Statue als ein konkreter Fall von 'ούσία, τόδε τι, öv' zu verstehen. Vgl. auch Cook (1989: 113): „Aristotle's usage in this chapter, Physics I 7, goes against taking 'formless' and 'formlessness' as indications of absolute characterlessness or indeterminacy. At 190bl5, 'shapelessness,' 'formlessness' and 'disarray' (άσχημοσύνην, άμορφίαν, and άταξίαν) are used to characterize bronze, stone, and gold respectively, and at 191a2 'shapeless' characterizes bronze. In fact, 'the formless' of the analogy is used to characterize not the underlying nature, but one of the examples which are intended to help explain it."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
ten, bestimmten Materials hinausgekommen, jedoch ist er nicht zum 'Urmaterial', sondern vielmehr zum Begriff des allgemeinen, bestimmten Materials gelangt. Dies entspricht auch der in Phys. 1.1 dargelegten Methodologie, die einen Weg vom konkreten Wahrnehmbaren zum allgemeinen Erkennbaren angekündigt hatte. Wenn Wagner als Bestimmung dieser ΰ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς deren Nichtwahrnehmbarkeit („sie ist αναίσθητος": S. 435) anführt - wobei er allerdings auf De gen. et corr. II.5, 332 a35 verweist, da hier j a nicht explizit von einer 'Nichtwahrnehmbarkeit' der ΰ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς gesprochen wird -, so findet diese Bestimmung der Nichtwahrnehmbarkeit ihren Grund nicht darin, daß die ΰ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς das Urmaterial wäre, sondern vielmehr darin, daß sie ein allgemeines Prinzip ist. Von der ΰποκειμένη φ ύ σ ι ς gilt, daß sie in Analogie zum konkreten Erz, das noch nicht Statue ist, als ein Allgemeines noch nicht ο υ σ ί α , τόδε τι, öv ist. Sie ist vielmehr - wie Aristoteles in 1.9, 192a5-6 in bezug auf die υ λ η sagen wird - nur nahe bei und irgendwie ούσία. 1 8 9 Nach Ansicht von Wagner (1967: 436) ist das Buch Α der Physik, das man zu den frühesten Schriften von Aristoteles zählt, „wahrscheinlich das älteste Dokument für das arist. Theorem vom Urmaterial". Dies macht, so Wagner, auch die relative Datierung von Physik Α schwierig, weil die πρώτη ΰ λ η j a nicht zu den Urlehren von Aristoteles gehört: Phys. I ist wahrscheinlich das älteste Dokument für das arist. Theorem vom Urmaterial; [...] Leider macht dieser Umstand die relative Datierung von Phys. I nicht leichter; denn zu den Urlehren gehört das Theorem der πρώτη ύλη ja gewiß nicht; nimmt man aber spätere Überarbeitung und Einfügungen erheblichen Ausmaßes an, so muß man eine Aufgabe im Auge behalten und lösen: wie ist die bruchlose Einheit, wenn schon nicht des Textes, so doch des logischen Fortgangs und Aufbaus zu erklären? (Wagner, 1967: 436) Diese Probleme verschwinden jedoch, sofern man davon ausgeht, daß in Physik Α von einer πρώτη ϋ λ η noch keine Rede ist. Auch in Kapitel 1.9, das meiner Ansicht nach nicht als ein später hinzugefügtes Kapitel zu betrachten ist, werden wir sehen, daß Aristoteles nicht eine πρώτη υ λ η für seine Theorie voraussetzt, wie dies zuweilen angenommen wird. Charlton (1970: 78 f.) hat sich ebenfalls gegen die Ansicht ausgesprochen, daß Aristoteles im Buch Α der Physik von einer „πρώτη υ λ η " spricht. Darüber hinaus verwendet Charlton seine Interpretation der Analogie in 191a7-12, die weitgehend der von mir vorgelegten Interpretation entspricht, als Beleg für seine grundlegende These, daß das aristotelische Verhältnis von Materie zu Form nicht als - wie dies für gewöhnlich geschieht - eine Art Ding-Eigenschaftsverhältnis, sondern als Verhältnis von einem Konstituenten zu einem konstituierten Ding zu verstehen sei. 190 Diese These meint er dadurch stützen zu können, daß die Beispiele 'Erz' und 'Statue' in der Analogie in 191 a7-12 einerseits für 189
190
Auch andere Textstellen, die Wagner hier als Beleg dafür anführt, daß wir es in bezug auf die ΰποκειμένη φύσις mit einer πρώτη ΰ λ η zu haben (z.B. Met. VII. 10, 1036a8; Phys. II, 193al 1 und Phys. 1.9, 192a25-29), sind - wie Waterlow (1982: 55) und Charlton (1970: 78 f.; 129-45) gezeigt haben - nicht zwingend, sondern sprechen zum Teil sogar eher für das Gegenteil. Zur Kritik an Charltons These vgl. auch Irwin (1988: 9 0 f.) und Jones (1974: 494 f.).
Die Analogie
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konkrete Dinge stehen, während sie andererseits das Verhältnis von Materie zu Form veranschaulichen sollen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß nach Ansicht von Aristoteles mit einem Wort wie „Statue" sowohl die reine Form als auch das konkrete Ding bezeichnet werden kann (vgl. Met. VIII.3). Charlton weist in bezug auf die Analogie in 191 a7-12 zunächst d a r a u f h i n , daß diese in einem zweifachen Sinne verstanden werden kann, wobei er Gründe dafür anfiihrt, warum er sich für die von ihm zuerst genannte Bedeutung entscheidet: In 191 a7-12 (already touched on above, p. 71) Aristotle says that the underlying nature, i.e. the material factor, must be grasped by analogy: as bronze stands to a statue, and wood to a bed, so the underlying thing stands to a reality or particular thing. This may be understood in two ways. We might take bronze and wood and statues and beds respectively as examples of underlying things and realities: Aristotle will then be saying that 'underlying thing' and 'reality' are just the generic names for things which stand in this relation. Or we might think that statues and beds are not realities, and bronze and wood are not underlying things; but an underlying thing is what stands to something which is a reality as wood stands to a bed. I favour the first interpretation, which seems to me supported by the parallel passages (cited above, pp. 71-2), 195al6-21 and 1048a35-b4 (see also Hesse, op. cit., pp. 336-7). (Charlton, 1970: 78) Während sich Charlton fur die erste Bedeutung ausspricht, der zufolge Erz und Statue als konkrete Beispiele für die allgemeinen Begriffe ΰ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς und ο ύ σ ί α stehen, weist er zugleich darauf hin, daß die Vertreter der ' π ρ ώ τ η ϋ λ η - T h e s e ' demgegenüber eher die zweite Bedeutung wählen: Those who think that Aristotle believed in prime matter favour the second interpretation, and say that prime matter stands to realities as wood to bed, and that its nature must be grasped by analogy because in itself it is wholly indeterminate. (Charlton, 1970: 78) Charlton (1970: 78 f.) fuhrt dann folgende Gründe dafür an, warum Aristoteles hier seiner Auffassung nach nicht über eine π ρ ώ τ η ΰ λ η spricht: Even if Aristotle believed in prime matter, however, it seems impossible that he is introducing it here. In the first place, according to the more sober, it is only to fire, air, earth, and water that prime matter stands as a material factor, and Aristotle would not have called fire or its like 'a reality and a this thing here' (cf. Met. Ζ 1040b5-10). Second, wood is the proximate 'thing out of which' a bed arises; whatever uncertainty may surround admitted realities like a man or a dog, prime matter is not the proximate thing out of which they arise: that is either seed or flesh. Again, even if Aristotle believed in prime matter, he could hardly have renked it as a principle without being false to his view (195b21-3, Met. Η 1044b 1-3) that we should concentrate on proximate causes and principles. Finally, it is incredible that Aristotle should introduce so startling a notion as that of a wholly indeterminate universal substratum in this ambiguous manner, when nothing in the preceding discussion has prepared us for it. We would expect him to say: 'As bronze is to a statue and wood to a bed, so in the case of things constituted naturally there must always be something which remains when they come to be, and this is not different for things but the same for all. The solution is that it is neither something definite, nor of any definite quality or
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' quantity, etc., etc.' That Aristotle, then, is not here referring to prime matter seems clear; [...].
Diesen Gründen sind die beiden von mir angeführten Gründe, daß Aristoteles einerseits für die Bestimmtheit des Werdens bei den ο ύ σ ί α ein bestimmtes ΰποκείμενον benötigt, und daß er sich andererseits gerade von dem platonischen ύλη-Begriff der χώρα abgrenzen will, hinzuzufügen. Bis zu diesem Punkte stimme ich der Interpretation von Charlton zu. Nun führt Charlton diese Analogie jedoch wenige Seiten zuvor (vgl. S. 71) als Belegstelle für seine grundlegende These an, daß das aristotelische Verhältnis von 'Materie' zu 'Form' als ein Verhältnis von 'Konstituent' zu 'konstituiertem Ding' zu verstehen sei. Nach Ansicht von Charlton (1970: 70 f.) besteht die allgemeine Sicht bezüglich der aristotelischen Prinzipien von ΰλη und είδος in folgendem: The general view of commentators is that an Aristotelian form is an entity the natural expression for which is an abstract noun or equivalent phrase, like 'knowledge of music', 'sphericality', 'what it would be to be a man'. (It is because of this that they find obscure the argument of Met. Z, that forms are the entities with the best claim to be called realities [dies ist Charltons Übersetzungsvorschlag für 'ούσίαι'] in the sense (v. 1028b36-1029a9) explained above, p. 56; for Aristotle constantly says that only a particular thing, 'a this thing here', can be a reality, and it is hard to see how something like man-ness could be a this thing here, or a thing which colours, sizes, etc., are of.) If this is right, then since the three factors involved in any case of change are the matter, the form, and the lack (190b23-9, 191a12-14 etc.), the factors involved in Aristotle's case of the man who learns music ought to be the man, ignorance of music and knowledge of music. Der allgemeinen Sicht der Interpreten zufolge scheint es in jedem Wechsel drei Faktoren zu geben: die Materie, die Form und die στέρησις. Bezüglich des 'gebildeten Menschen' würde dies - wie Charlton ausführt - bedeuten, daß wir es mit den folgenden drei Faktoren zu tun hätten: (i) Mensch, (ii) Bildung und (iii) Unbildung. Zur Stützung dieser Interpretation verweist Charlton auf diejenigen Textstellen in Kapitel 1.7, wo von abstrakten Nomen die Rede ist (vgl. 190bl5, b28). Im Anschluß daran weist Charlton dann allerdings daraufhin, daß in Kapitel 1.7 (vgl. 189b35-190a7) auch folgende drei Faktoren genannt werden: (i') Mensch, (ii') Gebildetes und (iii') Ungebildetes. Nevertheless, translators and commentators seem agreed that the factors distinguished when a man learns music are not the man, ignorance of music, and knowledge of music, but the man, the thing which is ignorant of music, and a thing which knows music. (Charlton: 1970: 70) Dies läßt Charlton bereits daran zweifeln, ob die aristotelischen Formen wirklich dasjenige darstellen, was durch abstrakte Termini ausgedrückt wird: If this is so, however, it becomes questionable whether an Aristotelian form is, after all, an entity the natural expression for which is an abstract noun. And if a concrete expression is just as natural or more so, doubt is cast on the whole traditional interpretation of Aristotle's teaching on matter and form. (Charlton, 1970: 71)
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Charlton scheint hier jedoch offenkundig den Untersuchungscharakter des Kapitels 1.7 zu übersehen. Aristoteles beginnt in seiner Untersuchung nämlich - wie die von mir dargelegte Interpretation gezeigt hat - mit 'Gebildetes' und 'Ungebildetes', die wie 'Dinge' erscheinen, um erst durch eine fortschreitende Diairesis zu den reinen Formen 'Bildung' und 'Unbildung' zu gelangen, die nur an einem Zugrundeliegenden vorkommen können. Aufgrund dieses Untersuchungscharakters ist auch noch nicht am Anfang, sondern erst später im Kapitel 1.7 in bezug auf die Formen von abstrakten Termini die Rede. Am Anfang von Kapitel 1.7 (in 189b35) wird weder von Form und Materie gesprochen, noch wird dort explizit zwischen Ding und Eigenschaft differenziert. Erst in 190b 10-17 beginnt Aristoteles mit seiner Analyse des Werdenden in die abstrakten Momente Form und Stoff. Charlton weist nun daraufhin, daß das Verhältnis von Materie und Form aus traditioneller Sicht als eine Art Ding-Eigenschaftsrelation konstruiert wird: The relation o f matter to form is traditionally construed, I think, as a kind o f thingproperty relationship, like that of a man to knowledge of music, or of bronze [ . . . ] to sphericality; [...]. (Charlton, 1970: 71)
Bezeichnenderweise führt Charlton hier mit 'Mensch' und 'Bildung' einerseits und mit 'Bronze' und 'Kugelförmigkeit' andererseits nur Beispiele für das Verhältnis von Substanz und Akzidens an. Bei dem in Kapitel 1.7 auch genannten Beispiel von 'Erz' und 'Statue' stellt sich dieses Verhältnis jedoch als wesentlich komplexer dar, da die Statuenform ja nicht mehr als Eigenschaft des Erzes betrachtet werden kann. Der traditionellen Sicht des Verhältnisses von Materie zu Form bei Aristoteles stellt Charlton dann seine eigene Sicht dieses Verhältnisses gegenüber, die seiner Ansicht zufolge als Verhältnis von 'Konstituent' zu 'konstituiertem Ding' - d.h. im Beispiel von 'Mensch' zu 'Gebildetem' (bzw. zu 'gebildetem Menschen') und von 'Erz' zu 'Kugelförmigen' (bzw. zu 'Kugel') - zu betrachten ist: [...]; if the authentic model for the matter-form relationship is that o f man to thing which knows music, or o f bronze to a sphere, the relationship must be construed differently. Evidence telling for abstract expressions has been given above; evidence for concrete expressions is, I think, much stronger, and since the issue is important, I give it in some detail. It suggests that the matter-form relationship is that of constituent to thing constituted (cf. D. Wiggins, Identity and Spatio-Temporal Continuity, p. 48). (Charlton, 1970: 71) 1 9 1
Zur Stützung seiner Interpretation verweist Charlton (S. 71-73) auf verschiedene Textstellen, die in den aristotelischen Schriften zu finden sind und von denen ich nur die für unseren Zusammenhang relevanten Passagen näher besprechen will: (1) Im Sinne eines ersten Belegs verweist Charlton auf Phys. 1.5, 188bl7:
Vgl. auch (1970: 73): „This evidence, I think, establishes a strong presumption that Aristotle's matter-form distinction is primarily (for qualification see below, pp. 95-6) a distinction between constituent and thing constituted, between what a thing is made of and what that of which it is made makes or constitutes."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' In Chapter 5 Aristotle reckons among termini ad quos of change, houses and statues (188bl7). It is true that he also says that such things are all arrangements or compositions (bO-1), but that only allows us to gloss abstract expressions elsewhere with concrete ones: Aristotle may be thinking of arrangements and compositions, not as things added to, but as things constituted by, bricks, bronze, and the like; indeed, he says in Met. Η 1043 b5-6: 'The syllable does not consist of letters and composition; the house is not bricks and composition.' (Charlton, 1970: 71)
Zwar ist sich Charlton bewußt, daß in Kapitel 1.5 'Haus' und 'Statue' nicht nur als Zusammengesetztes, sondern auch als 'Zusammensetzungen' bezeichnet werden, doch zieht er daraus den meiner Ansicht nach unbegründeten Schluß, daß uns dies erlaubt, auch an anderen Stellen abstrakte Ausdrücke durch konkrete Ausdrücke zu erläutern. Hier ist zudem einzuwenden, daß wir es in Kapitel 1.5 noch nicht mit der aristotelischen Theorie des Werdens im engeren Sinne zu tun haben, da dort der Begriff des ύποκείμενον noch fehlt. Ebenso wie zu Beginn von Kapitel 1.7 stehen auch in Kapitel 1.5 auf beiden Seiten des Werdens noch 'Dinge'; von den konstitutiven Momenten 'Materie' und 'Form' ist in Kapitel 1.5 noch keine Rede. Charlton scheint somit auch hier den Untersuchungscharakter des Buches Α der Physik nicht ernst genug zu nehmen. (2) Im Sinne eines zweiten Belegs verweist Charlton auf Phys. 1.7, 191a8-12: In the formal explanation of the 'underlying nature' in 191 a8-12, Aristotle says: 'As bronze stands to a statue, or wood to a bed, or the formless to anything else which has a form, so this stands to a reality.' If this passage were taken by itself, it might be held that Aristotle thinks 'a bed', 'a statue are natural expressions, not for forms, but for things which have forms; but in conjunction with (3) and (4) below it suggests that a 'bed', 'a statue' are themselves acceptable expressions for forms. (Charlton, 1970:71) Gegenüber dieser Interpretation ist jedoch einzuwenden, daß Aristoteles in 191 a8-12 offenkundig nicht das Verhältnis von 'Materie' zu 'Form', sondern vielmehr das Verhältnis von ' ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς ' zu einem 'konkreten Ding' (ουσ ί α , τόδε τι, öv) reflektiert, wobei dieses 'konkrete Ding' bereits etwas ist, was eine Form hat, und nicht etwas, was eine Form ist (,,ώς γ α ρ προς ά ν δ ρ ι ά ν τ α χ α λ κ ό ς ή προς κ λ ί ν η ν ξ ύ λ ο ν ή προς των ά λ λ ω ν τι των έχόντων μορφήν [ή ύ λ η κ α ι ] τό αμορφον εχει πριν λ α β ε ί ν την μορφήν, ούτως [...]": 191a8-l 1). Es ist dort kein Anzeichen dafür zu finden, daß Aristoteles das Verhältnis von ' ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς ' zu einem 'konkreten Ding' (ούσία, τόδε τι, δν) als Verhältnis von 'Materie' zu 'Form' versteht. Charlton gesteht j a auch zu, daß man, wenn man die Textpassage für sich nimmt, annehmen könnte, „Bett" und „Statue" seien natürliche Ausdrücke für Dinge, die Formen haben, und nicht für die Formen selbst. Doch auf der Grundlage der Textstellen (3) Phys. II.3, 195al621 und (4) Met. IX.6, 1048a36-b6 meint Charlton, daß „Bett" und „Statue" selbst akzeptable Ausdrücke für Formen sind. Nun soll hier keineswegs bezweifelt werden, daß fur Aristoteles der Ausdruck „Statue" auch ein akzeptabler Ausdruck für eine reine Form ist, doch müssen beide Bedeutungen von „Statue" als (a) 'reine Form' und als (b) 'konkretes Ding' deutlich voneinander unterschieden werden. In 191a7-12 meint Aristoteles
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mit „Statue" jedenfalls eindeutig (b) das 'konkrete Ding', das eine Form hat. Charlton scheint hier nicht deutlich zu differenzieren, wenn er den Abschnitt 191a8-12, wo mit dem Ausdruck „Statue" als etwas, was eine Form angenommen hat (vgl. „τι των έχόντων μορφήν": alO), offenkundig die 'konkrete Statue' gemeint ist, als Beleg dafür nimmt, daß mit den Formen die konkreten Dinge (things constituted) gemeint seien. Schließlich ist auch zu bedenken, daß, wäre hier mit der „Statue" als konkretes Ding ein Beispiel für das Moment der 'Form' in der Materie-Form-Beziehung gemeint, dies letztlich bedeuten würde, daß die Form (als 'constituted thing') entstehen und vergehen könnte. Dies wird von Aristoteles jedoch an anderen Stellen (vgl. Met. XII.3, 1069b35 ff., VII.7, 8 und Phys. V.l, 224b 10-13) offensichtlich verneint. Nachdem nun deutlich geworden ist, daß Aristoteles in seiner Analogie nicht von einer 'πρώτη ϋλη' spricht, und daß die Analogie als Verhältnis zwischen Konkretem und Allgemeinem zu verstehen ist, ist jedoch abschließend darauf hinzuweisen, daß Cook (1989) nicht nur die Interpretation der Vertreter der 'πρώτη υλη-These', sondern auch die Interpretation der Gegner der 'πρώτη ΰλη-These', der zufolge in 191a7-12 eben eine Analogie zwischen Konkretem und Allgemeinem zu sehen ist, kritisiert hat. Ihre Kritik lautet wie folgt: (1) Zum einen wird in der Interpretationen der Gegner der 'πρώτη ΰλη-These' kein Bedeutungsunterschied zwischen dem Ausdruck „ΰποκειμένη φύσις" (191a8) und dem bisher verwendeten Ausdruck ,,ύποκείμενον" gemacht. Vielmehr werden beide Ausdrücke als Synonyme verstanden.192 Cook ist aber der Ansicht, daß es einen Unterschied zwischen beiden Ausdrücken gibt. (2) Zum anderen wird in der Interpretation der Gegner der 'πρώτη ϋλη-These' die ΰποκειμένη φύσις durch eine Analogie als etwas Allgemeines erkannt. Cook ist jedoch der Ansicht, daß die ΰποκειμένη φύσις in der Analogie nicht als etwas Allgemeines erkannt wird.193 Nach Ansicht von Cook soll durch die Analogie vielmehr die ΰποκειμένη φύσις einzelner, individueller Naturdinge erkannt werden: Instead, we need to know what matter and the underlying thing are in individual cases; and we need to know this for a particular group of cases, cases of the comingto-be of natural things. (Cook, 1989: 117)
Vgl. Cook (1989: 110 f.): „On the Charlton-Jones interpretation, the analogy provides an elucidation of underlying nature in general by a generalization from a number of examples. For them, 'underlying nature' is simply another way of refering to the underlying thing or matter; although this passage is the first to mention ΰποκειμένη φύσις (all previous discussion in the chapter having focussed on τό ϋποκείμενον, the underlying thing), this new language is apparently taken as insignificant on this interpretation and no new subject is seen as being introduced." Vgl. auch (1989: 118). Vgl. Cook (1989: 117 f.): „Moreover, in Physics I 7 we do not need to understand through an analogy what sort ofthing an underlying nature is in general; rather, we need to know what the underlying nature is, or how we can come to know what it is, in particular cases. Neither do we need to understand here what sort of thing the underlying thing or matter is. On the CharltonJones interpretation, the question arises as to why Aristotle would be giving an account of matter or the underlying thing in general at this point. Both the underlying thing and matter seem to have been explained through examples earlier in chapter 7 (at 190bl0-17 and 20-7). Also, it is unclear why Aristotle would say that in general matter is understood by analogy. There is an account, if not a proper definition, of matter in I 9 (192a31 -2): [...]."
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Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens'
Der Grund, warum die ύποκειμένη φ ύ σ ι ς durch eine Analogie erkannt werden soll, ist nach Ansicht von Cook nicht darin zu sehen, daß wir durch eine Analogie einen allgemeinen Begriff der υ π ο κ ε ί μ ε ν η φ ύ σ ι ς erhalten wollen, sondern darin, daß es bei den natürlichen Werdeprozessen mitunter schwierig ist, die jeweilige ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς im Falle einer jeden besonderen, natürlichen Substanz zu identifizieren, so daß es hier hilfreich zu sein scheint, auf eine Analogie mit technischen Beispielen zurückzugreifen. Ihre eigene These formuliert Cook (1989: 112) wie folgt: My own view is that Aristotle tells us that the underlying nature, which is the underlying thing in cases of the coming to be of natural substances, is knowable by analogy since it is often difficult to identify the underlying nature in the case of any particular natural substance. The case at issue here include both those of the elements, and those of biological entities - plants and animals. (I am assuming elements to be substances at this point, although Aristotle does not always take them to be; see Metaphysics Ζ 16, 1040b5-10.) While I believe that Aristotle was most interested in understanding the principles in the natural cases, particularly in the context of this account of natural change, here, as in . so many other places in the corpus, his explanation of central concepts rests on artifact examples. Cook scheint der Ansicht zu sein, daß die Analogie in 191 a7-12 - und in diesem Punkte stimmt sie den Vertretern der 'πρώτη ύλη-These' zu - nicht zwischen Konkretem und Allgemeinem, sondern vielmehr zwischen Technischem und Natürlichem bestehe. 194 Den Unterschied zwischen den Ausdrücken „ ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς " und ,,ύποκείμενον" sieht Cook dann in folgendem: Während eine ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φ ύ σ ι ς die Materialursache des bleibenden, zugrundeliegenden Dings einer natürlichen Substanz ist, sind Erz und Holz in diesem Sinne keine Beispiele für eine ύ π ο κ ε ι μ έ ν η φύσις, da sie ύ π ο κ ε ί μ ε ν α für zwei technische Dinge (Statue und Bett) sind. 195 (3) Schließlich ist Cook der Ansicht, daß sich die Interpretation von Charlton und Jones, die in 191 a7-12 eine Analogie zwischen Konkretem und Allgemeinem zum Ausdruck gebracht sehen, nicht durch die von ihnen angeführte Textstelle aus Met. IX.6, 1048a35-b4 stützen läßt (vgl. S. 115-7). Der Interpretation von Cook ist jedoch folgendes entgegenzuhalten: (a) Angesichts ihrer These, daß durch die Analogie nicht erhellt werden soll, was für eine Art Ding eine zugrundeliegende Natur im allgemeinen ist, sondern welches die zugrundeliegende Natur jeweils in besonderen Einzelfällen von Naturdingen ist, ist daraufhinzuweisen, daß uns die Analogie in 191a7-12 genaugenommen keine Antwort auf die Frage, welches die zugrundeliegende Natur jeweils in be-
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Vgl. Code (1989: 114): „I agree with the prime matter interpreters that the relationship between the underlying nature and natural substances is analogous to, but does not include, the relationship between the bronze and the statue or the wood and the bed." Vgl. Cook (1989: 118 f.): „'Underlying nature' is, for Aristotle, an alternative way to refer to the material cause of the persisting underlying thing of natural substances. Bronze and wood are not examples of underlying natures. The reason they are not is that they are the underlying things or the material causes of two artificial things, statue and bed. Statue and bed here may or may not be intended to be substances by Aristotle (though I am inclined to think they are; cf. note 18). What determines whether or not bronze, for example, is an underlying nature is not the statue's being or not being a substance, but the statue's being or not being a product of nature (see Physics II 1 193a9-33, esp. 9-11,32-3)."
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sonderen Einzelfällen ist, gibt, da sie äußerst allgemein bleibt. Wir wissen durch die Analogie doch nur, daß es bei den Naturdingen ebenfalls ein Zugrundeliegendes wie bei den technischen Dingen gibt; wir wissen aber nicht, welches dieses Zugrundeliegende jeweils ist. Cook scheint dieses Problem zu sehen, da sie ihre These, daß wir durch die Analogie zur Erkenntnis einer jeden ύποκειμένη φύσις eines Naturdings gelangen, durch die Hinzufugung abschwächt, daß uns die Analogie zeigt, wie wir zur Erkenntnis einer jeden ύποκειμένη φύσις in einzelnen Fällen gelangen können: [...] rather, we need to know what the underlying nature is, or how we can come to know what it is, in particular cases. (Cook, 1989: 117 f.) Da nach Ansicht von Cook in der Analogie nicht eine Relation zwischen Allgemeinem und Konkretem, sondern eine Relation zwischen Natürlichem und Technischem zum Ausdruck gebracht wird, würde dies zusammen mit der These, daß uns die Analogie mit den technischen Dingen zeigt, wie wir zur Erkenntnis einer jeden ύποκειμένη φύσις in einzelnen Fällen gelangen können, letztlich bedeuten, daß wir in jedem einzelnen Fall, wo sich die Frage nach einer ύποκειμένη φύσις eines bestimmten Naturdings stellt, auf eine Analogie mit technischen Dingen zurückgreifen können, um diese ύποκειμένη φύσις zu bestimmen. Dies scheint mir jedoch aus dem Grunde nicht der Intention von Aristoteles zu entsprechen, da hier dann die Technik gleichsam als Erklärungsgrundlage der Natur füngieren würde. Zwar trifft es zu, daß Aristoteles zur Veranschaulichung komplexer Verhältnisse bei natürlichen Dingen gerne auf einfache und weniger komplexe Beispiele aus dem Bereich der Technik zurückgreift, doch tut er dies, um die komplexen Verhältnisse bei den natürlichen Dingen zu verdeutlichen, nicht aber um sie zu erklären. Aristoteles betrachtet die Natur gegenüber der Technik doch insofern als grundlegend, als die Technik selbst auf natürliche Stoffe zurückgreift, um diese einer weiteren Gestaltung zu unterziehen. Mit anderen Worten: Aristoteles benutzt seine technischen Beispiele nicht, um aus einem eindeutigen Verhältnis, das sich bei diesen findet, in analoger Weise auf ein weniger eindeutiges Verhältnis, das sich bei den Naturdingen findet, zu schließen. Vielmehr scheint er mit Hilfe technischer Beispiele nur etwas deutlich machen zu wollen, was uns bei den natürlichen Dingen zumeist auf undeutliche Weise begegnet. Der in der Analogie enthaltene Schluß ist somit nicht als ein Schluß vom Technischen auf das Natürliche, sondern vielmehr als ein Schluß vom Konkreten auf das Allgemeine zu verstehen.196 196
Oehler (1963: 58 f.) hat in anderen Zusammenhängen in bezug auf die teleologischen Aspekte innerhalb der Natur und der Technik aberzeugend dargelegt hat, daß die Analogie zwischen τέχνη und φύσις nicht als eine Übertragung des Bildes vom künstlerischen Gestalten auf den organischen Werdeprozeß zu verstehen ist: ,Angesichts dieses ganzen Tatbestandes ist es höchst unwahrscheinlich, daß die Analogie zwischen Kunst und Natur bezüglich des teleologischen Aspekts in der Ontologie des Aristoteles als eine Übertragung des Bildes vom künstlerischen Gestalten auf den organischen Werdeprozeß zu verstehen ist, wie das seit altersher behauptet wird. Die Analogie von Kunst und Natur ist zwar ein alter Topos, [...], und auch bei Aristoteles findet sich an vielen Stellen der traditionelle Gebrauch dieses Topos. Das darf aber nicht über den fundamentalen Tatbestand hinwegtäuschen, daß in der teleologischen Ontologie des Aristoteles die Gewichte genau umgekehrt verteilt sind, das heißt die Träger des analogen
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(b) Ein weiteres Problem, das mit der Interpretation von Cook verbunden ist, besteht darin, daß sie die natürlichen Elemente in Kapitel 1.7 als 'Substanzen' (ούσίαι) versteht (vgl. S. 112). Dies muß sie aus dem Grunde tun, um ihre Interpretation der Analogie aufrechterhalten zu können, der zufolge sich die ύποκειμένη φύσις in einem jeden einzelnen Fall zu einer jeden natürlichen Substanz (wozu dann sowohl die Elemente wie auch die biologischen Entitäten (Pflanzen und Sinnenwesen) zu zählen sind: vgl. S. 112) so verhält, wie sich bei den technischen Dingen z.B. ein Stück Erz zu einer Statue verhält (vgl. S. 114). Cook weist allerdings selbst darauf hin, daß Aristoteles in anderen Zusammenhängen (vgl. Met. Ζ 16, 1040b5-10) die Elemente nicht als Substanzen (ούσίαι) versteht. Nun haben die bisherigen Ausführungen jedoch deutlich gemacht, daß Aristoteles auch in Physik 1.7 die Elemente nicht zu den Substanzen zählt. So sprach Aristoteles in I. 7, 190b 1-2 von den „ούσίαι und den (anderen) einfachen Seienden" (αί ούσίαι κ α ι δσα [αλλα] άπλώς δντα), um auf diese Weise die Elemente und solche Stoffe wie z.B. Erz als 'einfache Seiende' von solchen ούσίαι wie z.B. Mensch und Statue zu unterscheiden. Zudem wird Aristoteles später in 1.9, 192a5-6 von der ύλη sagen, daß sie nur 'nahe bei' (έγγύς) und 'irgendwie' (πώς) ούσία sei, nicht aber, daß sie eine ούσία ist. (c) Zwar hat Cook recht, wenn sie einen Bedeutungsunterschied zwischen den Ausdrücken ,,ύποκείμενον" und ,,ύποκειμένη φύσις" sieht, doch ist dieser eher darin zu sehen, daß Aristoteles in 191a7 f. hervorheben will, daß er nun nicht mehr über einzelne und konkrete Zugrundeliegende, sondern über das Zugrundeliegende als ein allgemeines Prinzip sprechen will (vgl. 191al2: „μία μέν οΰν άρχή αύτη"). Nun meint Cook jedoch, daß es in der Analogie nicht darum geht, die ύποκειμένη φύσις als ein allgemeines Prinzip zu erkennen (vgl. S. 117 f.). Sie stellt ausdrücklich die Frage, ob die ύποκειμένη φύσις eine oder mehrere ist (vgl. S. 112: „Is the underlying nature one or many?), und beantwortet sie im Gegensatz zu den Vertretern der 'πρώτη ύλη-These', die der Auffassung sind, daß es für eine jede natürliche Substanz nur eine einzige ύποκειμένη φύσις - nämlich die πρώτη ύλη - gebe, dahingehend, daß es für unterschiedliche natürliche Substanzen auch unterschiedliche zugrundeliegende Naturen gibt.197 Verhältnisses sind vertauscht. Das erste Analogat ist hier nicht die Kunst, sondern die Natur, und die Erscheinung, daß in der Natur die ausgebildete Form der Zweck des Werdens ist, der auch schon am Anfang des Prozesses in einem anderen Individuum derselben Art verkörpert ist, hat ihr Analogon in der Kunst, wo auch eine vom Stoff verschiedene Form am Anfang und am Ende des künstlerischen Gestaltens aufweisbar ist. Das hier bestehende Analogieverhältnis benutzt Aristoteles in seiner teleologischen Ontologie dazu, den organischen Werdeprozeß mit Hilfe der parallelen Erscheinungen im Bereich der Kunst zu exemplifizieren, wie das an zahlreichen Stellen geschieht. Aber es kann nicht ernsthaft die Rede davon sein, daß das in der Absicht geschieht, die Erklärungsprinzipien der Kunst als dieselben auf die Natur zu Ubertragen. Vielmehr ist ontologisch die Reihenfolge genau umgekehrt: die Natur dient in diesem Sinne zur Erklärung der Kunst; nur so ist auch das Dogma von der Naturnachahmung der Kunst aufzufassen, das sonst ganz unverständlich wäre. Hier wird man also noch sehr umdenken müssen. Das lehrt gerade die Analyse des άνθρωπος ά ν θ ρ ω π ο ν γεννά-Argumentes." Vgl. Cook (1989: 113): „One of my disagreements with the prime matter theorists is over how difficult it is to see what plays the underlying nature role for natural substances, and how much we must look carefully at each individual case. They say it is clear that prime matter plays this role (that it is the underlying nature) and plays it for all cases of natural substances."
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Dies führt sie schließlich zu der Ansicht, daß es in der Analogie um die Erkenntnis der jeweiligen ύποκειμένη φύσις in bezug auf eine jede natürliche Substanz geht (vgl. S. 114, 117 f.). Nun soll hier gar nicht bezweifelt werden, daß Aristoteles der Ansicht ist, daß es jeweils verschiedene zugrundeliegenden Naturen für verschiedene natürliche Substanzen gibt; bezweifelt werden soll vielmehr Cooks These, daß es in der Analogie um diese unterschiedlichen zugrundeliegenden Naturen geht. Meiner Interpretation zufolge handelt die Analogie in 191 a7-12 von der einen allgemeinen ύποκειμένη φύσις. In diesem Punkte gebe ich den Vertretern der 'πρώτη ύλη-These' insofern recht, als auch diese davon ausgehen, daß es in der Analogie um eine einzige ύποκειμένη φύσις geht. Doch während sie der Überzeugung sind, daß die ύποκειμένη φύσις die πρώτη ύλη sei, meine ich, daß es vielmehr die eine allgemeine ύποκειμένη φύσις ist. Daß es in der Analogie in 191 a7-12 um diese eine allgemeine ύποκειμένη φύσις geht, wird unter anderem aus der bereits angeführten Textstelle in Metaphysik XII.4 deutlich, wo Aristoteles davon spricht, daß alle Dinge einerseits zwar jeweils verschiedene Prinzipien haben, daß sie andererseits jedoch dieselben Prinzipien - nämlich Form, Privation und Stoff - besitzen, wenn man im allgemeinen [καθόλου] und der Analogie nach [κατ' άναλογίαν] von ihnen spricht (vgl. Met. XII.4, 1070a31-33; bl7-21). (Cook übt zwar eine Kritik an der Interpretation der von Charlton und Jones angeführten Textstelle aus Met. IX.6, 1048a35-b4, doch bleibt die von mir angeführte Textstelle aus Met. XII.4, die ich zur Stützung der Interpretation „AllgemeinesKonkretes" angeführt habe, von dieser Kritik unbetroffen.) Von diesen allgemeinen Prinzipien ist dann auch in dem der Analogie nachfolgenden Abschnitt 191al2-14 die Rede. Daß dieser Abschnitt als mit der Analogie unmittelbar verbunden zu betrachten ist, wird aus den beiden Ausdrücken „also" (οΰν: 191al2) und „diese" (αύτη: 191al2) deutlich. Cook berücksichtigt den Abschnitt 191al2-14 in ihrer Interpretation der Analogie bezeichnenderweise nicht, kommt in ihm doch deutlich zum Ausdruck, daß es in der Analogie nur um eine ύποκειμένη φύσις geht (vgl. „μία μέν ούν άρχη αύτη, ούχ ούτω μία ούσα ούδέ ούτως δν ώς τό τόδε τι, μία δέ ης ό λόγος, [...]": 191al2-13 (Hervorhebungen von mir)). Die Tatsache, daß es in der Analogie nur um eine ύποκειμένη φύσις geht, wird auch aus der Verwendung des Singulars in den Ausdrükken ,,ή δέ ύποκειμένη φύσις" (191a7) und „προς ούσίαν εχει και τό τόδε τι και τό öv" (191all-12) deutlich. Der Interpretation von Cook zufolge würde man hier eher einen Plural erwarten.198 Vor diesem Hintergrund erweist sich Cooks Interpretation, die in 191 a7-12 nur eine Analogie zwischen Technischem und Natürlichem, nicht aber zwischen Konkretem und Allgemeinem sieht, als zu eng. Daß in 191a7-12 sogar primär eine Analogie zwischen Allgemeinem und
Daß Aristoteles die υποκείμενη φύσις in der Analogie in 191a7-12 im Sinne eines allgemeinen Prinzips versteht, wird dann später auch in Kapitel 1.9, 19Ib35-192al2 deutlich, wo er sie im Sinne eines allgemeinen Prinzips in ihre beiden Momente einer ϋλη und einer στέρησις differenziert und darauf hinweist, daß die Platoniker ihr die allgemeine Bezeichnung „Großesund-Kleines" gegeben haben.
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Konkretem vorliegt, scheint mir aufgrund der von Aristoteles gewählten Begriffe ,,ύποκειμένη φύσις" und „ουσία, τό τόδε τι, τό δν" offenkundig zu sein. (d) Abschließend betrachtet ist auch folgendes zu beachten: In der Analogie ist auf Seiten des Explanans nicht nur von den Verhältnissen „Bronze: Statue" und „Holz : Liege", sondern auch von dem Verhältnis „Ungeformtes (Stoff), bevor es eine Form erhält: etwas, was eine Form hat" (vgl. 191a9-10: „ή προς των άλλων τι των έχόντων μορφήν [ή ΰλη και] τό αμορφον εχει πριν λαβείν τήν μορφήν") die Rede. Das Verhältnis „Ungeformtes (Stoff) : Geformtes" ist nun aber nicht nur auf technische Dinge zu beziehen. Mit diesem Verhältnis kann nämlich ebensogut ein Verhältnis bei natürlichen Dingen beschrieben werden.' 99 Wenn dies aber der Fall ist, so stört dieses Verhältnis die von Cook herausgearbeitete Analogie zwischen natürlichen und technischen Dingen insofern, als mit dem Verhältnis „Ungeformtes (Stoff) : Geformtes" auf Seiten des Explanans nicht nur technische Dinge gemeint sein müssen. Zwar stellt sich in bezug auf die von mir vorgelegte Interpretation ebenfalls die Frage, ob das Verhältnis „Ungeformtes (Stoff) : Geformtes" nicht auch die Analogie zwischen Konkretem und Allgemeinem insofern stört, als mit diesem Verhältais auf Seiten des Explanans ja bereits ein Allgemeines gegeben ist, doch ist hierzu zu sagen, daß dieses Verhältnis auf Seiten des Explanans die Analogie zwischen Konkretem und Allgemeinem nicht beeinträchtigt, wenn man hier zwischen folgenden verschiedenen Stufen der Allgemeinheit unterscheidet: So wie sich auf der konkreten Ebene ein Stück Erz zu einer Statue und ein Stück Holz zu einer Liege verhält, und so wie sich bereits auf einer allgemeineren Ebene ein bestimmter Stoff und ein Ungeformtes, bevor es eine Form erhält, zu etwas verhält, was eine Form hat, so verhält sich auch auf der allgemeinsten Ebene das Prinzip der υποκείμενη φύσις zu ουσία, τό τόδε τι und τό δν.
7.7.2 Die Konklusion bezüglich der Prinzipien (191al2-14) Ein Prinzip also ist diese [αύτη], allerdings ist sie nicht in dem Sinne eines und seiend wie das Dieses-da [ούχ ούτω μ ί α ο ΰ σ α ούδέ οΰτως δν ώς τό τόδε τι]; ein [anderes Prinzip] aber, von dem es den Begriff gibt [μία δέ ής ό λόγος], und außerdem [gibt es] das diesem Entgegengesetzte, die Privation. In welchem Sinne dies zwei [Prinzipien] und in welchem Sinne dies mehr [als zwei] sind, darüber ist in den obigen Ausführungen gesprochen worden. (1.7, 191al2-15)
In bezug auf die zusammenfassende Aufzählung der Prinzipien fällt zunächst auf, daß Aristoteles sowohl in bezug auf „diese" (αΰτη: al2), womit die ύποκειμένη φύσις gemeint ist, als auch in bezug auf dasjenige, „von dem es einen λόγος gibt" (ής ό λόγος: a 13), womit das είδος gemeint ist, von „einem Prinzip" (μία άρχή) spricht, während er in bezug auf die στέρησις nicht ausdrücklich sagt, daß sie ein Prinzip (μία άρχή) sei, sondern hinzufügt, daß es sie 199
Cook erwähnt dieses Verhältnis zwar in ihrer schematischen Strukturierung der Analogie (vgl. 1989: 114), doch geht sie selbst nicht näher auf dieses Verhältnis ein.
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„außerdem" (έτι: al3) gebe. Zwar kann dies auch in dem Sinne verstanden werden, daß es zudem die στέρησις als ein Prinzip gebe, doch deutet die Tatsache, daß Aristoteles sie nicht ausdrücklich als „μία άρχή" bezeichnet, darauf hin, daß der Status der στέρησις als Prinzip aufgrund ihrer Abhängigkeit sowohl vom ύποκείμενον wie auch vom είδος eben problematisch ist. So setzt Aristoteles dann ja auch mit dem Hinweis fort, daß bereits darüber gesprochen wurde, in welchem Sinne die gerade erwähnten Prinzipien zwei sind und in welchem Sinne sie mehr (als zwei) sind (vgl. „ταύτα δέ πώς δύο καν πώς πλείω, εϊρηται έν τοΐς άνω": 191al4-15). Insofern diese Aufzählung der Prinzipien aus der vorangegangenen Analogie bezüglich der Erkennbarkeit der ύποκειμένη φύσις resultiert (vgl. ούν: a 12), findet die Erwähnung der στέρησις ihren Grund darin, daß sie ein Moment an der „ύποκειμένη φύσις" darstellt, die Aristoteles in 1.9, 192a2-6 als aus den beiden Momenten 'ύλη' und 'στέρησις' zusammengesetzt bestimmen wird.200 Zwar ist die ύποκειμένη φύσις ein Prinzip (μία άρχή) - und somit ein Eines und ein Seiendes -, jedoch ist sie, so Aristoteles, nicht in dem Sinne eines (μία) und seiend (öv) wie das τόδε τι. Diese Charakterisierung der ύποκειμένη φύσις läßt sie jedoch nicht - wie einige Interpreten meinen - als πρώτη ύλη erscheinen. Aristoteles will mit der Betonung, daß die ύποκειμένη φύσις nicht in dem Sinne eines und seiend wie das Dieses-da (τόδε τι) ist, vielmehr hervorheben, daß sie als ein das Dieses-da konstituierende Moment, bzw. als die Bedingung der Möglichkeit von 'Ding', selbst kein Ding, sondern Prinzip von Ding ist. Denn wäre die ύποκειμένη φύσις ontologisch gesehen nicht von dem Ding, dessen Konstitutionsmoment sie ist, unterschieden, so wäre auch in bezug auf sie nach den sie konstituierenden Momenten zu fragen. Sie ist aber auch in dem Sinne nicht Eines wie das Dieses-da, insofern das Dieses-da eine Einheit darstellt, die aus einer Vielheit von Momenten besteht, während die ύποκειμένη φύσις selbst keine Einheit ist, die sich aus vielem Verschiedenen zusammensetzt, da sie in diesem Falle als Zusammengesetztes ja kein Prinzip mehr wäre.201 Obgleich Aristoteles in 191al2-14 offenkundig von den Prinzipien ύλη, είδος und στέρησις spricht, nennt er sie - mit Ausnahme der στέρησις - doch nicht bei ihrem Namen. Innerhalb der Sekundärliteratur wurden besondere Schwierigkeiten in bezug auf das Verständnis des Ausdrucks „μία δέ ης ό λόγος" (al3) gesehen und folgende Textvarianten vorgeschlagen: (1) „μία δέ ό λόγος" („ein Prinzip aber [ist] das είδος oder der λόγος": Bonitz); (2) „μία δέ fj ό λόγος" („ein Prinzip [ist] aber, wodurch der λόγος [entsteht]": Bekker und Prantl); (3) „μία δέ ή ό λόγος" („ein Prinzip aber, welches der λόγος ist": Torstrik); (4) „μία δέ ην ό λόγος" („ein Prinzip aber war Aristoteles spricht dort über die am Ende von 1.8, 191b33-34 erwähnte φύσις, die von allen Interpreten mit der ύποκειμένη φύσις in 1.7, 191a7-8 identifiziert wird. Nun mag man zwar einwenden, daß sich die ύποκειμένη φύσις doch in die Momente einer ΰ λ η und einer στέρησις auseinandernehmen läßt, doch ist hierbei zu beachten, daß die στέρησις im Gegensatz zur ΰ λ η selbst ja kein 'seiendes' Moment darstellt: Sie ist - wie Aristoteles in 1.9, 192a4-5 ausführen wird - im Gegensatz zur ΰλη, die im akzidentellen Sinne nichtseiend ist, an sich nichtseiend.
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der λόγος": Hardie/Gaye) 202 ; (5) „μία δέ ής ό λόγος" („ein Prinzip aber [ist], von dem es einen λόγος gibt, d.h. welches Gegenstand des λόγος (object of definition) ist: das είδος": Ross, Wagner); (6) „μία δέ ή ό λόγος" („ein Prinzip aber ist das (Prinzip): 'der λόγος'": Wicksteed/Cornford). Nach Ansicht von Ross (1936: 494) bereinigt die Korrektur von Bekker (fj) und Torstrik (ή) die Sachlage nicht. Auch Bonitz' Vorschlag ,, ό λόγος" besitzt seiner Ansicht nach keinen großen Grad an Wahrscheinlichkeit. Zwar erfahren wir von Simplicius, daß es zu Alexanders Zeit Handschriften gab, die das ή nicht lasen (im MS J findet sich ebenfalls keine Spur davon), doch stellt sich dann - so Ross - die Frage, wie das ή überhaupt in den Text gelangen konnte, wenn die ursprüngliche Lesart „μία δ' ό λόγος" lautete. Aus diesen Überlegungen gelangt Ross zu der Auffassung, daß „μία δ' ής ό λόγος" (vgl. Ross, 1936: 494: „'one, which is the object of definition'") die beste Lesart zu sein scheint. Dieser Auffassung schließe ich mich an. Die Konklusion in 191 al2-14 ist dann in folgendem Sinne zu verstehen:203 „Ein Prinzip ist also dies [die ύποκειμένη φύσις], ein Prinzip ist dasjenige, von dem es einen λόγος gibt [also das είδος]; und zudem gibt es das dem λόγος Entgegengesetzte, die στέρησις." 204 Da die στέρησις hier als „Gegenteil für dieses" (έναντίον τούτω: al4) bestimmt wird, und da sich der Ausdruck „für dieses" (τούτω) dem Kontext zufolge eher auf ,,ό λόγος" als auf das nicht explizit erwähnte „είδος" bezieht, werden an dieser Stelle genaugenommen die στέρησις und das είδος nur mittelbar, die στέρησις und der λόγος aber unmittelbar als Gegensätze bezeichnet. Ein Grund, warum Aristoteles hier von einem Gegensatz zwischen στέρησις und λόγος spricht, ist vielleicht darin zu sehen, daß hervorgehoben werden soll, daß die στέρησις primär in einem 'begrifflichen Sinne'' als Prinzip aufzufassen ist. Denn als bloßer Mangel ist sie ja für sich betrachtet ein An-sich-Nichtseiendes (καθ' αυτό μή δν: 1.8, 191bl5) und somit ontologisch gesehen eigentlich gar nicht vorhanden;205 gleichwohl kann sie begrifflich als Abwesenheit (άπουσία) des είδος gefaßt werden.
203 204
205
Hardie/Gaye (1930) übersetzen: „[...], and the definition was one as we agreed; [...]." In einer Fußnote (Fn.5) dazu merken sie an: „Altering the reading of the MSS. in I. 13 (ή ό λόγος) to ήν ό λόγος, λόγος is used by Aristotle as equivalent to είδος of 190 b28." Vgl. auch Wagner (1967: 437), der die Lesart von Bekker (η) für bedenklich hält, und meint, daß man zwischen ή (Torstrik) und ής (Ross) zu wählen habe. Zum Verhältnis von λόγος und είδος vgl. auch Met. XII.2, 1069b32-34: „Drei sind also der Ursachen und drei Prinzipien: zwei bildet der Gegensatz dessen eines Glied der Begriff (λόγος) und die Form (eidos), das andere die Formberaubung (steresis) ist, das dritte ist der Stoff (hyle)." (Übers, nach Bonitz). Aus diesem Grunde kann sie ja auch - wie Aristoteles in 1.9, 191al2-16 bemerkt - leicht übersehen werden. In den Fällen aber, wo die στέρησις nicht nur negativ das Nichtvorhandensein einer bestimmten Form, sondern positiv das Vorhandensein einer entgegengesetzten Form zum Ausdruck bringt (wie z.B. bei 'Krankheit' als στέρησις der 'Gesundheit'), ist sie jedoch 'mehr' als nur ein bloßer Mangel.
Zusammenfassender Rückblick
7.8 Zusammenfassender Rückblick
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(191al5-22)
In welchem Sinne dies zwei [Prinzipien] und in welchem Sinne dies mehr [als zwei] sind, darüber ist in den obigen Ausführungen gesprochen worden. Zuerst wurde gesagt, daß nur die Gegensätze Prinzipien seien; später dann, daß etwas anderes zugrunde liegen müsse und sie drei seien. Aus dem nun Dargelegten ist offenkundig, was der Unterschied unter den Gegensätzen ist, auf welche Weise sich die Prinzipien zueinander verhalten, und was das Zugrundeliegende ist. Noch nicht klar aber ist, ob das Zugrundeliegende [τό ύποκείμενον] oder die Form [τό είδος] das Wesen [ουσία] ist. Klar aber ist, daß die Prinzipien drei sind und in welchem Sinne drei, und was die Art von ihnen ist. 206 Wie viele Prinzipien es also gibt und welche es sind, das soll aus diesem als einsichtig gemacht gelten. (1.7, 191al4-22)
Zusammenfassend beschreibt Aristoteles hier noch einmal den Weg, der in bezug auf die Frage nach der Anzahl der Prinzipien (zwei oder drei) in den Kapiteln 1.5 bis 1.7 zurückgelegt worden ist: Zuerst (vgl. Kapitel 1.5) wurde gesagt, daß nur die Gegensätze Prinzipien seien, später dann (vgl. Kapitel 1.6), daß etwas anderes (den Gegensätzen) zugrunde liegen müsse und sie somit drei seien. Aus dem nun Dargelegten (vgl. Kapitel 1.7) ist klar geworden, welches der Unterschied unter den Gegensätzen ist, wie sich die Prinzipien zueinander verhalten und was das ύποκείμενον ist. Mit dem „Unterschied unter den Gegensätzen" meint Aristoteles den Unterschied zwischen den gegensätzlichen Prinzipien der Vorgänger, die diese als konträre Gegensätze und gleichsam in einem 'dinglichen' Sinne (Dichte-Dünne; Liebe-Haß) verstanden haben, und seinen eigenen gegensätzlichen Prinzipien von στέρησις und είδος. Die Klärung dieses Unterschieds implizierte zugleich eine Klärung dessen, was das ύποκείμενον ist, da dieses ja ein Zugrundeliegendes für die Gegensätze sein soll. Wurde das ύποκείμενον in Kapitel 1.6 von den Naturphilosophen noch in Gestalt eines der vier Elemente bestimmt, an dem sich durch die konträren Gegensätze 'Dichte und Dünne' nach Ansicht von Aristoteles eigentlich nur ein Eigenschaftswechsel vollziehen kann, so fällt die Lösung von Aristoteles in Kapitel 1.7 allgemeiner aus: Das ύποκείμενον ist primär das Aufnehmende einer Form, wobei die Formen weiter in akzidentelle und substantielle Formen zu differenzieren sind. Erst durch diese Bestimmung des ύποκείμενον wird neben der Eigenschaftsveränderung auch das substantielle Werden begrifflich faßbar. Ebenso wie der Mensch ein ύποκείμενον für die Form der 'Bildung' sein kann, kann auch das Erz ein ύποκείμενον für die Form der 'Statue' sein. Zugleich aber ist, wie Aristoteles in 191al9-20 bemerkt, noch nicht klar, ob nun das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία ist. Bostock (1982: 195) hält diese Bemerkung für überraschend, da seiner Ansicht zufolge doch nun klar sei, was die ούσία ist:
206
Der Ausdruck ,,καϊ τις ό τρόπος αύτών" (191a21) und die Sätze a 18-19 „και πώς ... τό ύποκείμενον" und a20-2l ,,άλλ' δτι αϊ άρχαί ..., δηλον" wurden in der Übersetzung von Zekl (1987: 41) übersehen.
380
Physik I. 7: 'Das aristotelische Modell des Werdens' Right at the end of chapter 7 we read, to our surprise, 'it is not yet clear whether the form or the underlying thing is substance' (191al9-20). But surely it is perfectly clear. How could Aristotle in fact avoid the conclusion which he here explicitly disavows?
Bostock selbst zieht zwei mögliche Antworten auf seine Frage in Betracht: In fact I see two possible ways of avoiding it while still preserving Aristotle's main doctrine of becoming. One possibility would be to abandon the doctrine of the Categories on predication, and to say that there are subjects of (accidental) predication which are not substances; in particular, a form may be predicated of matter, and matter is not substance. Evidently Metaphysics VII 3 could be adduced in support of this view. But a more appealing possibility would be to retain the view that forms are always predicated of substances but to deny that that makes substance into the third principle. For according to the most plausible version of the doctrine of chapter 7 the third principle is not what underlies in the sense of what is a subject of predicates (i.e. the thing said to become so-and-so), but rather what underlies in the sense of what persists through change. And this need not be a substance (but might, for example, be spatio-temporal continuity, or mass). So here we deliberately split the two senses of 'what underlies', and we abandon a different doctrine of the Categories, that only substances persist through change. And we might perhaps cull some support for an Aristotelian version of this alternative by drawing on Aristotle's rather disputed views on 'prime matter'. (Bostock, 1982: 195 f.)
Nun hat die von mir vorgelegte Interpretation jedoch gezeigt, daß das dritte Prinzip als dasjenige, was zugrunde liegt, weder im Sinne eines Subjekts einer Prädikation noch im Sinne eines Bleibenden im Wechsel, sondern vielmehr als Aufnehmendes einer (substantiellen oder akzidentellen) Form zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund wird dann auch leicht einsehbar, warum Aristoteles in 191al9-20 zu Recht sagen kann, daß noch nicht klar sei, ob das υποκείμενο ν oder das είδος die ουσία ist. Denn wir haben ja gesehen, daß z.B. beim Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen das ύποκείμενον 'Mensch' das (akzidentelle) είδος 'Bildung' aufnimmt, wobei bei dem 'gebildeten Menschen' (als Gewordenes) das ύποκείμενον 'Mensch' die ουσία darstellt. Demgegenüber verhielt es sich beim Werden einer Statue aus Erz jedoch anders. Hier stellt das 'Erz' das ύποκείμενον dar, das das (substantielle) είδος 'Statue' aufnimmt, wobei dann bei der 'ehernen Statue' (als Gewordenes) nicht das ύποκείμενον 'Erz', sondern das είδος 'Statue' die ουσία darstellt. Da also in dem einen Werdeprozeß das ύποκείμενον die ουσία des Gewordenen ist, während bei dem anderen Werdeprozeß das είδος die ούσία des Gewordenen ist, sagt Aristoteles zu Recht, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία ist.
8. Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger' Im Anschluß an die Darlegung seiner eigenen Theorie des Werdens geht Aristoteles in den Kapiteln 1.8 und 1.9 dazu über, die Unterschiede zwischen seinem Modell und den Modellen der Vorgänger herauszustellen, wobei er zunächst zeigt, daß eine grundlegende Aporie der Vorgänger mit Hilfe des eigenen Modells einer Lösung zugeführt werden kann.1 Daß sich aber allein [ μ ο ν α χ ώ ς ο ύ τ ω ] auf diese Weise auch die Aporie der Alten [ή των α ρ χ α ί ω ν α π ο ρ ί α ] löst, wollen wir nach diesem darlegen [ λ έ γ ω μ ε ν μ ε τ ά τ α ΰ τ α ] . (1.8, 191a23-24)
Mit der 'Aporie der Alten' (απορία των αρχαίων) ist hier die eleatische Aporie gemeint, der zufolge ein Seiendes weder entstehen noch vergehen könne, da Seiendes entweder aus Seiendem oder aber aus Nichtseiendem wird und den Eleaten beide Alternativen als unmöglich erschienen.2 Dieser Aporie, die einen nachhaltigen Einfluß auf die Nachfahren der Eleaten ausübte, ist das gesamte Kapitel 1.8 gewidmet. Aristoteles geht es um den Nachweis, daß sein eigenes Modell eine Lösung ftlr diese Aporie bereithält, die gleichsam zum Prüfstein der eigenen Theorie wird, an der sie sich zu bewähren hat. Nun hat Loux (1992: 292) zwar zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Aristoteles in der Auseinandersetzung mit der eleatischen Aporie nicht auf seine eigene in Kapitel 1.7 entwickelte Analyse des Werdens zurückgreift, doch stellt sich angesichts dieser Beobachtung dann die Frage, worauf sich der Ausdruck „auf diese Weise" (οΰτω) in 191a23 beziehen soll, wenn hier nicht das Kapitel 1.7 gemeint ist. Madigan (1992: 322) bemerkt dazu folgendes: It is hard to see to what ο ΰ τ ω refers if it does not refer to the immediately preceding A.7. But as Prof. Loux has recognized, A.8 does not invoke the analysis o f change given in A.7. N o w Aristotle proposes to show the relevance of this analysis »afterwards« ( μ ε τ ά τ α ΰ τ α ) , and one might try to take this as a promise to b e fulfilled only after A.8, not in A.8 itself. But the immediately following sentence - it is really the first half of the sentence in the middle of which Prof. Loux started us o f f - tells against this move. It runs: »For ( γ ά ρ ) the first to practice philosophy (οί κ α τ ά Vgl. auch Zekl (1987: 245, Fn.86): „Danach eine typisch aristotelische Denkfigur: Wahrheit muß nicht nur bestehen, sie muß auch Falschheit und Dunkelheit beseitigen. Etwas für wahr Behauptetes soll also auch etwas leisten." O'Donoghue (1953: 26) bemerkt zur Funktion der Kapitel 1.8 und 1.9: „In the remainder of Book I the theory is tested by confronting it with the ideas of the Eleatics and the Academy." Obgleich Aristoteles in Kapitel 1.8 keine Namen nennt, wird aus dem Kontext heraus deutlich, daß primär die Eleaten (allen voran Parmenides mit seiner in Frg. DK 28B8 vorgelegten Argumentation gegen das Werden) gemeint sind. Bereits in 1.2, I85b26 wurden die Nachfahren der Eleaten als „ύστεροι των άρχαίων" bezeichnet. Auch die inhaltlichen Positionen, wie sie in 191a32-33 und 191bl0-13 zu finden sind, lassen sich eindeutig den Eleaten zuordnen.
382
Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger' φιλοσοφίαν πρώτοι) were seeking the truth and the nature of beings but were turned aside, pushed as it were onto another way by inexperience (απειρία [variant reading απορία]).« So one would expect, in the rest of A.8, to learn how Aristotle's analysis of coming-to-be solves the aporia of the ancients. But that is not what happens. Why not?
Zwar ist der These von Loux, daß Aristoteles in der Auseinandersetzung mit der eleatischen Aporie nicht ausdrücklich auf die in Kapitel 1.7 durchgeführte Analyse des Werdens zurückgreift, sondern mit der Unterscheidung von „etwas als dieses etwas" und „etwas nicht als dieses etwas" vielmehr ein neues Kriterium zur Untersuchung von Werdesätzen einführt, zuzustimmen, doch darf nicht übersehen werden, daß die Betrachtung von „etwas als dieses etwas" bzw. von „etwas nicht als dieses etwas" letztlich erst durch die in Kapitel 1.7 herausgearbeitete - und von den Vorgängern übersehene - Differenz des ύποκείμενον als ein zwar der Zahl, nicht aber der Art nach nach Einheitliches ermöglicht wird. Die Tatsache, daß Aristoteles seine eigene Lösung nicht nur als eine von vielen, sondern gar als einzige (μοναχώς: a23) vorstellt, wird in 191b27-29 zwar dahingehend relativiert, daß er auch auf das Vorhandensein einer anderen Lösung mit Hilfe der Begriffe von 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit' verweist, die neben der in 191a34-b27 dargelegten Lösung mit Hilfe der Begriffe ' κ α τ ά συμβεβηκός' und 'καθ' αυτό' besteht - wobei letztere in 191 b27 nur noch als „eine" (vgl. „εις τρόπος") und nicht mehr als „einzige" Lösung bezeichnet wird -, doch stellt die eigene Lösung insofern weiterhin die einzige Lösung dar, als die Lösung mit Hilfe des Begriffspaars ' κ α τ ά συμβεβηκός - καθ' αυτό' durch die angedeutete Lösung mit Hilfe des Begriffspaars 'Möglichkeit - Wirklichkeit' eine zusätzliche Erklärung erhält. Wird sich Aristoteles in Kapitel 1.9 vor allem mit Piaton auseinandersetzen, so handelt das Kapitel 1.8 primär von den Eleaten. Ob hier jedoch allein die Eleaten gemeint sind, scheint insofern fraglich zu sein, als Aristoteles doch in einem sehr allgemeinen Sinne ohne Namen zu nennen von den „Alten" (191a23), den „ersten, die über Philosophie gehandelt haben" (191a24-25) und den „Früheren" (191b32) spricht. What, then, is the significance of the very general references to the »ancients,« to »the first to practice philosophy,« and to »the previous thinkers« [...]? I am not trying to deny the basic premiss of Prof. Loux's Paper, that A.8 is an anti-Parmenidean argument. [...] But is it possible that Aristotle started A.8 with the ideas of making some general point that would apply not only to the Eleatics but to the Pre-Socratics across the board (or perhaps to the Eleatics plus one ore more other groups - a reviewer has suggested the Megarians)? If so, was Aristotle himself then sidetracked into another way? (Madigan, 1992: 323)
In bezug auf die von Madigan gestellte Frage, welche Bedeutung die allgemeine Referenz auf die „Alten" hat, ist darauf hinzuweisen, daß Aristoteles mit der eleatischen Aporie ein Problem thematisiert, das nicht nur für die Eleaten von Bedeutung war, sondern auch Eingang in die Überlegungen vieler Vorsokratiker gefunden hat. In diesem Zusammenhang sind vor allem die sogenannten Naturphilosophen zu nennen, in bezug auf die Aristoteles bereits in Kapitel 1.4, 187
Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
383
a28-37 (vgl. auch Met. XI.6, 1062b24 ff.) herausgestellt hatte, daß diesen die eleatische Aporie gar als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen diente: Denn wenn alles Werdende notwendigerweise entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem wird [εί γάρ πάν μέν τό γιγνόμενον ανάγκη γίγνεσθαι ή έξ δντων ή έκ μή όντων], von diesen aber das Werden aus Nichtseiendem unmöglich ist (denn über diese Ansicht sind alle, die über Natur [gehandelt haben] einer Meinung), so ergibt sich folglich, meinten sie, das Übrige mit Notwendigkeit, nämlich daß es [das Werdende] aus Seiendem und darin schon Enthaltenem wird [έξ δντων μέν και ένυπαρχόντων γίγνεσθαι], [...]. (1.4, 187a32-37) Vor diesem Hintergrunde scheint es angemessener zu sein, in einem differenzierteren Sinne davon zu sprechen, daß zwar die zentrale Thematik des Kapitels 1.8 in der Aporie der Eleaten zu sehen ist, doch daß zugleich auch die Naturphilosophen insofern mitthematisiert sind, als sie die eleatische Aporie zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht haben. 3 Dies ist insofern von Bedeutung, als sich auf diese Weise erneut ein Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Positionen der Vorgänger in den Kapiteln 1.8 und 1.9 feststellen läßt: Sagt Aristoteles nämlich in Kapitel 1.9 in bezug auf Piaton (191b36-192al), daß dessen Ansicht zufolge etwas aus Nichtseiendem (έκ μή δντος) wird (wobei dies in einem Zusammenhang damit zu sehen ist, daß es in Piatons Theorie des Werdens genaugenommen nur 'Entstehen und Vergehen', nicht jedoch Eigenschaftsveränderungen im eigentlichen Sinne gibt), 4 so sagt er umgekehrt in Kapitel 1.4 in bezug auf die Naturphilosophen (187a32-37), daß deren Ansicht zufolge etwas nur aus Seiendem (έξ δντων) werden kann, da sie das Werden aus Nichtseiendem für unmöglich hielten (wobei dies in einem Zusammenhang damit zu sehen ist, daß es in ihrer Theorie des Werdens genaugenommen nur Eigenschaftsveränderungen, nicht jedoch 'Entstehen und Vergehen' gibt). 5 Im Unterschied zu diesen beiden Ansichten, die in dem dargelegten Sinne als einander entgegengesetzt zu verstehen sind, wie auch im Unterschied zur Ansicht der Eleaten, denen ein Werden sowohl aus einem Seienden wie auch aus einem Nichtseienden - und damit das Werden überhaupt - als unmöglich erschien, wird Aristoteles in Kapitel 1.8 zeigen, daß etwas in einem bestimmten Sinne sowohl aus Seiendem wie auch aus Nichtseiendem werden kann. Auf diese Weise wird Aristoteles somit
5
Auch wenn „φύσις" in 191a25 eher die Bedeutung „Natur im Sinne des Wesens" als „Natur im Sinne der Gesamtheit der Naturdinge" hat, so wird man sich dennoch in 191a24-25, wo Aristoteles von der „Suche nach der Wahrheit und der Natur der Dinge [την άλήθειαν και την φύσιν τών δντων]" spricht, daran erinnern, daß Aristoteles den Eleaten in Kapitel 1.2 gerade absprach, über Natur gehandelt zu haben (vgl. 1.2, 185al8: „περί φύσεως μέν οϋ"), während er den Naturphilosophen (φυσικοί) dieses zuschrieb (vgl. 1.4, 187a35: „oi περί φύσεως"; 1.6, 189b2: „oi μίαν τινά φύσιν είναι λέγοντες τό πάν"). Nebenbei bemerkt würden die Eleaten ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge (vgl. 191a33: „μόνον αύτο τό öv") wohl eher im Singular von einer „φύσις τοΰ δντος" als von einer „φύσις τών δντων" sprechen, wobei jedoch aus eleatischer Sicht auch der Ausdruck „φύσις τοΰ δντος" insofern problematisch ist, als er ebenso wie der Ausdruck ,,άρχή τινός ή τινών" (1.2, 185a4-5) - bereits eine Zweiheit impliziert. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kapitel 7.6.3. Vgl. dazu Phys. 1.4, 187a30 und De gen. et corr. 1.1.
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
erneut einen mittleren Weg zwischen einander konträr entgegengesetzten Positionen wählen.
8.1 Die eleatische Aporie (191a24-33) Auf der Suche nach der Wahrheit und der Natur der seienden Dinge [την άλήθειαν και την φ ύ σ ι ν των δντων] gerieten nämlich die, die als erste über Philosophie [oi κατά φιλοσοφίαν πρώτοι] gehandelt haben, gleichsam vom Weg [όδόν] ab und gelangten aufgrund von Unwissenheit/Unerfahrenheit [ύπό άπειρίας] auf einen anderen [Weg], und so behaupten sie: Kein Seiendes wird oder vergeht [οΰτε γ ί γ ν ε σ θ α ι των δντων ούδέν οΰτε φθείρεσθαι] wegen der Notwendigkeit, daß das Werdende entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem wird [δια τό ά ν α γ κ α ΐ ο ν μέν ε ί ν α ι γ ί γ ν ε σ θ α ι τό γιγνόμενον η έξ δντος ή έκ μή δντος]; aus beiden jedoch ist es unmöglich: Denn das Seiende wird nicht (es ist ja schon) [ούτε γάρ τό δν γ ί γ ν ε σ θ α ι (είναι γ ά ρ ήδη)], und aus Nichtseiendem kann nichts werden; denn da müßte etwas zugrunde liegen [εκ τε μή δντος ούδέν άν γενέσθαι· ΰποκεΐσθαι γάρ τι δείν]. Und was sich davon ausgehend ergibt, verstärken sie noch und behaupten, daß es Vielheit gar nicht gäbe, sondern nur das Seiende selbst [μόνον αύτό τό δν], (1.8, 191a24-33)
Aristoteles zufolge kamen die 'ersten, die über Philosophie gehandelt haben', in ihrer Suche nach der Wahrheit und der Natur der seienden Dinge aufgrund von Unerfahrenheit/Unwissenheit von dem Weg (όδός), der zur Wahrheit und zur Natur der seienden Dinge führt, ab und gerieten so auf einen anderen Weg, der sie behaupten ließ, daß ein Seiendes weder werden noch vergehen könne. Mit diesem „anderen Weg" ist offenkundig der Weg, der zur Unwahrheit und bloßen Meinung (δόξα) führt, gemeint.7 In bezug auf die Verwendung der Begriffe 'Wahrheit' (αλήθεια) und 'Weg' (όδός) ist eine gewisse Ironie im Ausdruck von Aristoteles nicht zu übersehen. Während nämlich dem Selbstverständnis von Parmenides zufolge, in dessen Lehrgedicht die Begriffe „Wahrheit" und „Weg" eine fundamentale Bedeutung haben, 8 der eigene Weg zur Wahrheit fuhren soll, die darin besteht, daß Seiendes ist und unmöglich nicht sein kann (vgl. Frg. DK 28B2), woraus er schließlich folgert, daß Seiendes auch nicht werden kann (vgl. Frg. DK 28B8, Z.5-49), und während sich dieser Weg vom Weg der 'sterblichen Meinungen' unterscheidet, 9 auf dem keine 'wohlgerundete Wahrheit' und keine 'Verläßlichkeit' wohnt, sieht
8 9
Aristoteles spielt hier mit dem Ausdruck „απειρίας" wohl auf die Ungeübtheit und Unerfahrenheit der Eleaten als oi κατά φιλοσοφίαν πρώτοι an, die sie auf den Irrweg gelangen ließ. Neben „απειρίας" findet sich auch die Lesart „άπορίας" (EJS), die jedoch weniger wahrscheinlich zu sein scheint. Vgl. 191a34, wo Aristoteles in bezug auf die Ansicht der Eleaten von „δόξα" spricht. Vgl. Frg. DK 28B1 (Z.2,5,27); B2 (Z.2,4); B6 (Z.3); B7; B8. Vgl. auch den Ausdruck ,,πολύπειρον" (als Gegensatz zu άπειρία) in Frg. B7, Z.2-3. Vgl. dazu vor allem Frg. DK 28B8, Z.50 ff. und DK 28B1, Z.27 und 30.
Die eleatische Aporie
385
Aristoteles in ihm gerade ein Abkommen vom Weg, der zur Wahrheit führt, und zählt ihn in 191a34 gar zum Weg der 'Meinung' (δόξα). 10 Die eleatische Aporie hat in der von Aristoteles dargelegten Form folgende Gestalt: Behauptung: Begründung für (1):
(1) (2.1)
(2.2) Begründung für (2.2): (3.1) (3.2) Begründung für (3.1): (4.1) Begründung für (3.2): (4.2)
Kein Seiendes wird oder vergeht. (191 a27) Das Werdende wird (notwendigerweise) entweder [2.1.1] aus Seiendem oder [2.1.2] aus Nichtseiendem. (191 a28-29) Beides [d.h. sowohl (2.1.1) wie (2.1.2)] ist unmöglich. (191a29-30) Das Seiende wird nicht. (191 a30) [bezogen auf 2.1.1] Aus Nichtseiendem wird nichts. (191a30-31) [bezogen auf 2.1.2] Seiendes ist ja schon. (191a30) Es muß etwas zugrunde liegen. (191 a31)
Obgleich Aristoteles in der Behauptung (1) sowohl von einem „Werden" (γίγνεσθαι) als auch von einem „Vergehen" (φθείρεσθαι) spricht, betrachtet er in der Begründung der Behauptung nur noch die Seite des Werdens. Der Grund für diese Einklammerung des Vergehens, die sich auch bei Parmenides findet (vgl. Frg. DK 28B8), 11 ist wohl darin zu sehen, daß Aristoteles der Überzeugung ist, daß in bezug auf das 'Vergehen zu' eine dem 'Werden aus' analoge Argumentation aufgestellt werden kann.12 Die Behauptung (1), daß es kein Seiendes gibt, das wird, findet ihren Grund darin, daß jedes Werdende notwendigerweise aus einem Seienden oder Nichtseienden wird, wobei sowohl das Werden aus einem Seienden wie auch das Werden aus einem Nichtseienden aufgrund weiterer Prämissen als unmöglich erscheint. Die Begründung (2.1) „das Werdende wird notwendigerweise entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem" ist hier - wie durch das Wort ,,άναγκαΐον" deutlich wird - im Sinne eines Allsatzes zu verstehen, so daß das in ihr Gesagte für ein jedes Werdende gilt. Aus dieser Begründung wird mit Hilfe des modus tollens die Konklusion, daß es kein Seiendes gibt, das wird, erzielt. Nehmen wir nun einen (fiktiven) Gegner der Eleaten an, der die These äußert, daß es (wenigstens) ein Werdendes gebe - wobei diese These ja den Ausgangspunkt der Begründung (2.1) darstellt -, und lassen wir zunächst die Be-
11
12
Ebenso hatte Aristoteles bereits in Kapitel 1.4, 187a28 auch die gemeinsame Ansicht der Naturphilosophen, daß aus Nichtseiendem nichts wird, als „δόξα" bezeichnet. Zur Differenz von 'δόξα' und 'έπιστήμη' und ihrem jeweiligen Bezug auf die Wahrheit (άλήθεια) vgl. auch Met. IV.4,1008 b29: „ [ . . . ] denn im Vergleich mit dem Wissenden steht der Meinende nicht in gesundem Verhältnis zur Wahrheit." Vgl. KRS (21983: 250): „Parmenides is content to marshal explicit arguments only against coming into being, taking it as obvious that a parallel case against perishing could be constructed by parity of reasoning." Loux (1992: 282) weist zudem auf folgende Möglichkeit hin: „He [Aristoteles] may be attributing to the Parmenidean the view that necessarily where a thing, x, passes away or perishes, some other thing, y, comes to be or is generated. Where a human being passes away, for example, a corpse comes into being, so if the relevant coming to be is impossible, the passing away that is necessarily concurrent with it is likewise impossible."
386
Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
gründungen für (2.2) außer acht, so hätte das Argument folgende Gestalt einer Reductio ad absurdum·. These des Gegners: These der Eleaten:
(p) (-• p)
Widerlegung von „p": (p —> q)
Konklusion:
(^ q) (-• p)
Es gibt ein Werdendes. Es gibt kein Werdendes (bzw. kein Seiendes, das wird) Wenn es ein Werdendes gibt, so wird das Werdende (notwendigerweise) entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem. Beides ist es unmöglich. Es gibt kein Werdendes.
Die hier mit (^p) „es gibt kein Werdendes" umschriebene These der Eleaten, für die sich ebenfalls sagen läßt „nichts wird", lautet wörtlich: „Kein Seiendes wird" (vgl. „ούτε γίγνεσθαι των δντων ουδέν": 191a27). Da Aristoteles jedoch in Kapitel 1.7 hinsichtlich der Prinzipien des Werdenden (γιγνόμενον) und des Seienden (öv) eine Unterscheidung zwischen dem Werdenden (γιγνόμενον) und Seienden (öv) getroffen hat, und da in der These 191a27 in bezug auf das Seiende gesagt wird, daß kein Seiendes wird, würde man in bezug auf die Begründung dieser These in 2.1 eigentlich erwarten, daß es nun hieße: „Denn das Seiende wird entweder aus einem Seienden oder aus einem Nichtseienden." In der Begründung 2.1 ist jedoch nicht von einem „Seienden", sondern von einem „Werdenden" (vgl. „γίγνεσθαι τό γιγνόμενον": a28) die Rede. Vor diesem Hintergrund scheint die Begründung 2.1 „das Werdende wird notwendigerweise aus Seiendem oder Nichtseiendem" bereits eine Verkürzung der folgenden Aussage darzustellen: „Wenn ein Seiendes wird, und wenn dieses »Seiende, das wird« folglich ein Werdendes ist, so wird dieses Werdende notwendigerweise entweder aus einem Seienden oder aus einem Nichtseienden." Der Grund, warum in der Begründung 2.1 von einem 'Werdenden' die Rede ist, besteht darin, daß die Begründung 2.1, durch die aus eleatischer Sicht allein auf logische Weise gezeigt werden soll, daß es kein Seiendes gibt, das wird,13 im Sinne einer logischen Wahrheit bzw. im Sinne eines analytischen Satzes aufzufassen ist, der nur die in einem Begriff enthaltene Bedeutung expliziert. Nun kann jedoch aus Sicht der Eleaten von einem 'Seienden' im Sinne einer logischen Wahrheit nicht gesagt werden, daß es notwendigerweise aus einem Seienden oder Nichtseienden wird, da der Begriff des Werdens nach Ansicht der Eleaten nicht nur nicht im Begriff des Seienden enthalten ist, sondern diesem sogar widerspricht. Allein von einem „Werdenden" kann aus Sicht der Eleaten im Sinne einer logischen Wahrheit gesagt werden, daß es notwendigerweise entweder aus einem Seienden oder aus einem Nichtseienden wird, sofern man voraussetzt, daß es ein „Werden" gibt und dieses immer schon ein „Werden aus" meint. Nun könnte man zwar einwen-
Denn die Eleaten können ja keine empirischen Argumente gegen die These, daß es ein Werdendes gibt, anführen, da sie einerseits die Zuverlässigkeit der empirischen Beobachtung prinzipiell in Zweifel ziehen, und da andererseits die empirische Beobachtung gerade für das Gegenteil spricht.
Die eleatische Aporie
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den, daß Aristoteles doch in Kapitel 1.7 gezeigt hat, daß es verschiedene Bedeutungen des Werdens gibt - nämlich 'etwas Werden', 'aus etwas Werden' und '(einfach) Werden' -, und daß es für das Werden im einfachen Sinne zunächst nicht so scheint, als würde dort etwas aus etwas - z.B. 'ein Mensch entsteht' -, doch ist zugleich daraufhinzuweisen, daß Aristoteles ebenfalls gezeigt hat, daß dies nur in bezug auf die Oberflächenstruktur der Sprache so scheint, und daß, wenn man genau hinschaut, auch ein Mensch, der entsteht, aus etwas (nämlich aus einem Samen) wird. Obgleich Aristoteles dieser logischen Wahrheit, daß ein Werdendes notwendigerweise aus Seiendem oder Nichtseiendem wird, zustimmt, wird er im weiteren Verlauf der Untersuchung doch zeigen, daß diese Aussage mehrdeutig ist, und daß man j e nach Auffassungsweise entweder etwas Wahres oder aber etwas Falsches sagt. Vor dem dargelegten Hintergrund stellt sich das Argument nun wie folgt dar: These: Begründung:
Konklusion:
Kein Seiendes wird. Wenn ein Seiendes wird, dann ist das Seiende ein Werdendes. Jedes Werdende wird aber entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem; Beides ist jedoch unmöglich: Denn (a) 'aus Seiendem' kann es nicht werden (es ist ja bereits); und (b) 'aus Nichtseiendem' wird nichts, denn es muß bereits etwas zugrunde liegen. Folglich gibt es kein Werdendes. Folglich gibt es kein Seiendes, das wird.
Das Argument hat die Form eines Dilemmas, dem zufolge nichts werden kann, weil es einerseits weder ein Seiendes noch ein Nichtseiendes gibt, woraus etwas werden könnte, und weil andererseits „Werden" immer ein „Werden aus x" ist, wobei für das „x" dem Satz vom ausgeschlossen Dritten zufolge nur „Seiendes oder Nichtseiendes" eingesetzt werden kann. Ross weist in diesem Zusammenhang allerdings daraufhin, daß der Ausdruck ,,ή έξ δντος ή έκ μή δ ν τ ο ς " (a2829) auf zweifache Weise verstanden werden kann: 191 a28. ή έξ δντος ή έκ μή δντος. It is not at first sight clear whether this means 'either from what is or from what is not' or 'either from what is it or from what is not it'. But the latter seems to be the meaning, for the first of the other pair of alternatives ('from what is') presents no obvious impossibility such as is referred to in a29. (Ross, 1936: 494) Während Ross die Ansicht vertritt, daß der Ausdruck ,,ή έξ δντος ή έκ μή ο ν τος" im Sinne von „either from what is it or from what is not it" zu verstehen ist, bin ich der Auffassung, daß er im Sinne von „either from what is or from what is not" verstanden werden muß. In Übereinstimmung mit Ross führt Code in diesem Zusammenhang folgendes aus: The argument starts out with the premise that that which comes to be either comes to be from that which is or from that which is not. In order to prevent the argument from being hopelessly bad, we should take this as elliptical for:
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
(18) That which is φ either comes to be that which is φ from that which is φ or from that which is not φ. Aristotle does not challenge (18) and it certainly has the ring of truth. That which is red came to be a red thing from either a red thing or a non-red thing. (Code, 1976 a: 163 f.)
Die beiden von Ross und Code skizzierten Möglichkeiten eines Verständnisses des Ausdrucks ,,ή έξ δντος ή έκ μή οντος" sind folgende: (Α) [existentielle Bedeutung von 'öv']: „entweder aus einem Seienden ('what is') oder aus einem Nichtseienden ('what is not')"; (Β) [prädikative Bedeutung von 'δν']: „entweder aus dem, was es ist ('what is it'), oder aus dem, was es nicht ist ('what is not it')". Ross und Code sind nun der Ansicht, daß in 191a28-29 nur die Bedeutung (B) gemeint sein kann,14 der zufolge wir es in bezug auf das „öv" und das ,,μή öv" mit unvollständigen Ausdrücken zu tun haben, so daß die Unmöglichkeit des Werdens eines Werdenden (a) aus einem öv darin zu sehen wäre, daß etwas nicht aus dem werden kann, was es bereits ist (είναι γαρ ήδη), da in diesem Falle die Rede von einem „Werden" als unsinnig erschiene. Code verdeutlicht dies wie folgt: The next step in the argument is to point out that the first alternative is ruled out because that which is φ could not come to be φ from that which is already φ - e.g., if my table comes to be red, I could not have started out with a red table. For in such a case no change takes place. However, this would mean that (given (18)) if something has come to be φ, then the following is true: (19) That which is not φ has become that which is φ. Aristotle also accepts (19). In general, whenever a change takes place, a statement of the form given in (19) must be true. For instance, if my black table comes to be a red table, then that which is not red has come to be that which is red. (Code, 1976 a: 164)
Dieser Interpretation zufolge wäre dann aber andererseits analog dazu die Unmöglichkeit des Werdens eines Werdenden (b) aus einem μή öv zunächst darin zu sehen, daß etwas nicht aus dem werden kann, was es nicht ist, da dies bereits zugrunde liegen müßte (vgl. ,,ύποκεϊσθαι γάρ τι δεΐν"). Dies scheint jedoch keinen Sinn zu ergeben. Die offenkundige Schwierigkeit, die mit der von Ross und Code vorgeschlagenen Interpretation verbunden ist, besteht nun darin, daß zunächst kein Grund zu sehen ist, warum etwas nicht aus dem soll werden können, was es nicht ist; lautet doch die von Code aufgestellte These (19) sinngemäß, daß etwas gerade aus dem wird, was es nicht ist. Code skizziert folgende Lösung, der zufolge das Problem bei (b) vielmehr darin zu sehen ist, daß sich kein Referent für dieses ,,μή öv" angeben läßt: The problem that we now encounter is that, given the truth of (19), we are now at a loss when asked for the referent of the expression »that which is not φ.« It cannot be that which is φ, for then we would have: (20) That which is not φ = that which is φ.
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Diese Auffassung findet sich auch bei Lewis (1991: 228 ff.).
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(20) is not true since nothing can both have and lack the same property. In addition to this, (19) together with (20) would entail by means o f SI [the law of the substitutivity o f identicals] that: (21) That which is φ has become that which is φ. But (21) has already been ruled out. So we cannot identify that which is not φ with that which is φ. But neither can we identify it with anything else, since if (19) is true it must be the same thing which first is not φ and is then φ. Thus we seem to been stuck with this: (22) It is impossible to specify the referent of the phrase »that which is not φ« in (19). If a statement o f the form given in (19) must be true whenever a change takes place, and if (22) is correct, it follows that change is impossible. However, Aristotle does not accept the Parmenidean conclusion, as we can tell from his statement: ... w e may assume on the basis o f induction that some or all natural things are changing ([3d], A2, 185al2-14) Thus Aristotle must reject (22) and provide us with an intelligible answer to the question, »What is the referent o f the phrase 'that which is not φ?'«.(Code, 1976 a: 164 f.)
Die Probleme, die mit dieser Interpretation des Ausdrucks ,,ή έξ δντος ή έκ μή δντος" im Sinne von unvollständigen Ausdrücken, die durch Prädikatausdrücke zu ergänzen sind, damit sie eine vollständige Bedeutung ergeben, verbunden sind, bestehen meiner Ansicht nach in folgendem: (i) Schaut man auf das von Code angeführte Beispiel des Werdens eines roten Tisches aus einem nicht-roten Tisch, so fällt zunächst auf, daß dieses Beispiel für eine Eigenschaftsveränderung steht. Mit dem eleatischen Argument soll jedoch nicht nur gezeigt werden, daß es eine bestimmte Art von Werdeprozessen - nämlich die Eigenschaftsveränderung - nicht geben kann, sondern vielmehr, daß es überhaupt kein Werden geben kann. 15 Zwar eignet sich das von Code angeführte Beispiel eines Tisches, der nicht aus etwas, 'was rot ist', zu etwas, 'was rot ist', werden kann, sehr gut in bezug auf den Nachweis der Unmöglichkeit des Werdens aus öv, da in diesem Falle die Rede von einem „Werden" als unsinnig erschiene, doch wenn wir das Beispiel des Werdens einer Statue aus Erz wählen, so scheint es zumindest fraglich zu sein, ob dieselbe Argumentation auch auf diesen Werdeprozeß übertragen werden kann. Denn für das Werden einer Statue aus Erz gilt ja, daß etwas aus etwas, 'was Erz ist', zu etwas, 'was Statue ist', wird, wobei wir es hier sowohl mit einem Werden aus öv zu tun haben, als auch erscheint die Rede von einem Werden als sinnvoll, (ii) Während die von Ross und Code vorgeschlagene Interpretation in bezug auf die Unmöglichkeit des Werdens aus öv, der zufolge das „είναι γαρ ήδη" in dem Sinne zu verstehen ist, daß ein Werdendes nicht aus dem werden kann, was es bereits ist,16 zwar hinsichtlich der EigenschaftsveränVgl. Loux (1992: 282): „If we assume that change invariably involves the coming into being or the passing away of something (where not just a dog, a geranium, or an oak tree, but also a sunburnt human being, a running horse, and an overweight rhinoceros count as »things« that come in being and pass away), [...]." Wobei sich hier allerdings die Frage stellt, ob Aristoteles, wenn er dies gemeint hätte, nicht eher „είναι γαρ τόδε (bzw. τοΰτο) ήδη" statt „είναι γαρ ήδη" gesagt hätte.
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derung einleuchtet, erweist sich deren Interpretation in bezug auf die Unmöglichkeit des Werdens aus μή όν als problematisch. Während Ross keinerlei Begründung für diese Unmöglichkeit anführt, weist Code darauf hin, daß die Unmöglichkeit des Werdens aus μή öv darin begründet ist, daß sich einerseits kein Referent für dieses μή öv angeben läßt, und daß andererseits doch ein Referent zugrunde liegen muß (in diesem Sinne versteht Code wohl das ,,ύποκεΐσθαι γάρ τι δεΐν" (a31)). Diese Begründung erweist sich jedoch als sehr komplex, so daß sich die Frage stellt, ob dies hier wirklich gemeint ist. (iii) Code und Ross scheinen zudem zu übersehen, daß wir es in 191a27-31 mit einer aristotelischen Rekonstruktion eines eleatischen Arguments zu tun haben.' 7 Denn dem Argument wird ja vorangestellt, daß „sie sagen, [...]" (φασιν: a27). Erst in 191a33 beginnt Aristoteles mit der Darlegung seiner eigenen Ansicht zu dieser Aporie: „Wir behaupten dagegen, [...]" (ήμεις δέ λέγομεν). Nun ist zwar die prädikative Bedeutung des „öv" und ,,μή öv" im Sinne von unvollständigen Ausdrücken fur Aristoteles naheliegend, doch gilt dies nicht für die Eleaten. Denn diesen war ja - wie Aristoteles in den Kapiteln 1.2 und 1.3 verdeutlichte - die prädikative Bedeutung des „είναι" („etwas ist etwas") unbekannt, weshalb sie Aristoteles zufolge gerade in Aporien gelangt sind, (iv) Darüber hinaus greift der Satz „δια τό άναγκαίον μέν είναι γίγνεσθαι τό γιγνόμενον ή έξ οντος ή έκ μή όντος" (1.8, 191a28-29) offenkundig auf 1.4, 187a32-33 zurück, wo es heißt: ,,εί γάρ πάν μέν τό γιγνόμενον ανάγκη γίγνεσθαι ή έξ δντων ή έκ μή όντων, [...]." Da jedoch in 1.4, 187a32-33 - wie der Kontext deutlich machte - mit dem öv und μή öv offenkundig das einfache Seiende und einfache Nichtseiende gemeint ist (und nicht 'was etwas ist' und 'was etwas nicht ist'),18 ist davon auszugehen, daß in bezug auf das „öv" und „μή öv" in 1.8, 191a28-29 dieselbe Bedeutung vorliegt, (v) Schließlich begründen Ross und Code ihre Interpretation mit dem Hinweis darauf, daß die anderslautende Interpretation, der zufolge das 'öv' und 'μή öv' im einfachen Sinne für 'Seiendes' und 'Nichtseiendes' steht, 'keine offenkundige Unmöglichkeit in bezug auf das erste Glied ,,έξ δντων" ergibt' (vgl. Ross, 1936: 494) bzw. dadurch, daß das Argument dann 'hoffnungslos schlecht' sei (vgl. Code, 1976 a: 163). In dem 'Werden aus einem Seienden' scheint Ross zufolge zunächst keine offenkundige Aporie zu liegen. Demgegenüber werde ich jedoch zeigen, daß für die Eleaten in dem Werden aus einem Seienden gleichwohl eine offenkundige Aporie liegt, und daß das Argument - in dem von mir vorgeschlagenen Sinne verstanden - alles andere als 'hoffnungslos 17
Vgl. auch Loux (1982: 288): „Now, the idea that the expressions 'that which is' and 'that which is not' are, taken by themselves, incomplete is one with which we can expect Aristotle to be in sympathy. [...] But the striking fact is that in his treatment in A.8 of the argument we are considering, Aristotle never explicitly refers to his own views about the logic of terms expressing being or existence. He is content to concede to his opponent the assumption that 'that which is' and 'that which is not' provide fully significant and unambiguous characterizations of the terms of a coming to be." Dort wird ja von Anaxagoras gesagt, daß er - ebenso wie alle anderen, die über Natur gehandelt haben - der Ansicht war, daß, weil er meinte, das Werden aus Nichtseiendem sei unmöglich, etwas nur aus Seiendem werden könne, sofern man den Gedanken des Werdens nicht gänzlich aufgeben will. Mit dem Seienden, aus dem etwas wird, meint Anaxagoras kleine Partikel, die sich aus etwas aussondern und die aufgrund ihrer Kleinheit nicht wahrnehmbar sind.
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schlecht' ist, was bereits daraus ersichtlich wird, wie ernst Aristoteles diese Aporie nimmt und wie ausführlich seine Widerlegung ausfällt. 19 Aufgrund der angeführten Schwierigkeiten, die mit der von Ross und Code vorgeschlagenen Interpretation verbunden sind, vertrete ich die Ansicht, daß in 191a27-31 nur die Bedeutung (A) gemeint sein kann. 20 Daß für die Eleaten in dem Werden aus einem Seienden eine offenkundige Aporie liegt, wird klar, sofern man bedenkt, daß die Eleaten nicht zwischen einer absoluten und einer relativen Bedeutung des Seienden unterschieden haben und meinten, der Ausdruck „öv" bezeichne immer das Seiende selbst. So gelangten sie zu der Ansicht, daß ein Werdendes nicht aus einem Seienden werden kann, weil das Seiende, aus dem das Werdende würde, dann selbst ein Werdendes wäre und dies in den Widerspruch führe, daß von einem Seienden ein Werden ausgesagt würde. Das Seiende ist j a bereits (ein Seiendes) (είναι γαρ ήδη: a30) und kann deshalb nicht (ein Seiendes) werden. Ein Seiendes, das zugleich ein Werdendes ist, stellt für die Eleaten einen Widerspruch dar. Ebenso wie die Eleaten 'Eines' und 'Vieles' als einander widersprechende Begriffe betrachten (vgl. dazu die Kapitel 1.2 und 1.3), betrachten sie auch 'Seiendes' und 'Werdendes' als einander widersprechende Begriffe. Und ebenso wie Aristoteles in bezug auf die Begriffe von 'Einheit' und 'Vielheit' gezeigt hat, daß sie in einer bestimmten Hinsicht einander nicht widersprechen, so daß und ein und dasselbe sowohl eines als auch vieles sein kann, besteht sein Bemühen in bezug auf die Begriffe von 'Seiendem' und 'Werdendem' ebenfalls darin, zu zeigen, daß ein und dasselbe sowohl ein Seiendes als auch ein Werdendes sein kann, so daß die Aussage „ein Seiendes wird" keinen Widerspruch darstellt.21 Die in 191a27-31 zum Ausdruck gebrachte Unmöglichkeit des Werdens eines Werdenden aus (a) einem Seienden oder aus (b) einem Nichtseienden besteht nun in folgendem: In beiden Fällen - (a) und (b) - haben wir es mit einer zweistufigen Begründung zu tun: (a) „ W e r d e n d e s wird nicht aus Seiendem": B e g r ü n d u n g für (a): ( a l ) ο ϋ τ ε γ α ρ τό δν γ ί γ ν ε σ θ α ι (a30) B e g r ü n d u n g fur ( a l ) : ( a 2 ) ε ί ν α ι γ ά ρ ήδη ( a 3 0 ) 19
20
Loux (1992: 290-3) hat darauf aufmerksam gemacht, daß Aristoteles zur Widerlegung der Aporie weder auf die Homonymität des Wortes „sein" hinweist noch auf seine eigene Analyse des Werdens in Kapitel 1.7 zurückgreift. Loux deutet dies als Hinweis darauf, daß Aristoteles nicht nur die Aporie widerlegen will - was ihm ja mit Hilfe der genannten Mittel leicht fallen würde -, sondern daß es ihm auch darum geht, herauszustellen, was an dieser Aporie plausibel ist. Denn in der Plausibilität dieser Aporie ist ja ein wesentlicher Grund dafür zu sehen, wieso sie auf die Nachfahren der Eleaten einen so großen Einfluß gewinnen konnte, wie sie es faktisch tat. Ein weiterer Grund, warum Aristoteles zur Widerlegung der Aporie weder auf die Homonymität des Wortes „sein" noch auf seine eigene Analyse des Werdens in Kapitel 1.7 zurückgreift, scheint mir auch darin zu liegen, daß er erneut vermeiden will, seine eigene Theorie einer anderen (bloß) gegenüberzustellen. Vgl. auch Loux (1992: 287-293), Lacey (1965: 453) und Wagner (1967: 438). Vgl. Phys. 1.2, 186al-3, wo Aristoteles sagt, daß etwas gleichzeitig sowohl eines als auch vieles sein kann. Dies findet dort seinen Grund darin, daß dasselbe sowohl unter dem Aspekt der Möglichkeit als auch unter dem Aspekt der Wirklichkeit betrachtet werden kann. In Kapitel 1.8 wird Aristoteles demgegenüber vor allem mit den Begriffen 'κατά συμβεβηκός' und 'καθ' αΰτό' operieren, wobei jedoch - wie Aristoteles in 191a27 f. andeutet - auch eine Lösung mit Hilfe der Begriffe 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit' besteht.
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger' (b) „Werdendes wird nicht aus Nichtseiendem": Begründung für (b): (b 1) εκ τε μή δντος ούδέν αν γενέσθαι (a30-31) Begründung für (b 1): (b2) ύποκεΐσθαι γάρ τι δεΐν (a31)
Hierbei fällt zunächst auf, daß in bezug auf die Begründungen (al) und (bl) eine gewisse Inkongruenz vorliegt: Lautet nämlich fiir (a) „Werdendes wird nicht aus einem Seienden" die Begründung (al) „Seiendes wird nicht" (οΰτε γάρ τό δν γίγνεσθαι: a30), so lautet filr (b) „Werdendes wird nicht aus einem Nichtseienden" die Begründung (bl) „aus Nichtseiendem wird nichts" (εκ τε μή δντος ουδέν άν γενέσθαι: a30-31). Da aber in beiden Fällen gezeigt werden soll, daß weder aus einem Seienden noch aus einem Nichtseienden das Werdende werden kann, ist davon auszugehen, daß mit dem 'Seienden', von dem es in (al) heißt, daß es nicht wird, dasjenige Seiende gemeint ist, aus dem das Werdende wird. Wird von diesem Seienden in Form einer Begründung dafür, daß das Werdende nicht aus Seiendem wird, gesagt, daß es nicht wird, so deutet dies darauf hin, daß folgender Zusammenhang fiir die Argumentation vorausgesetzt ist: „Wenn χ aus y wird, so muß auch y in gewisser Weise ein Werdendes sein." Hierbei ist die Behauptung, daß y ein Werdendes ist, in dem weiten Sinne zu verstehen, daß irgendeine Form des Werdens oder Vergehens von y gilt.22 Bezüglich der Argumentation (a), wo filr „Seiendes" steht, bedeutet dies dann: wird nicht aus einem Seienden, weil Seiendes nicht wird." Vor diesem Hintergrund stellt sich die Argumentation (a) in ihrer vollständigen Fassung wie folgt dar: (a) „Werdendes wird nicht aus Seiendem": Begründung für (a): * (aO) Aus Seiendem wird nichts. Begründung für (aO): (al) Seiendes wird nicht (a30). Begründung für (al): (a2) Seiendes ist schon (a30).
Die Begründung in bezug auf (a) lautet wie folgt: Aus einem Seienden kann das Werdende nicht werden, weil (aO) aus Seiendem nichts wird. Aus Seiendem aber wird nichts, weil, wenn etwas aus Seiendem würde, dieses Seiende selbst ein Werdendes wäre; doch (al) Seiendes wird nicht. Seiendes aber wird nicht, weil (a2) Seiendes bereits (ein Seiendes) ist (είναι γάρ ήδη) und folglich nicht wird. Nach eleatischer Ansicht kann letztlich deshalb von keinem Seienden ein 'Werden' ausgesagt werden, weil sich die Begriffe des Werdenden und des Seienden gegenseitig ausschließen. Dies findet seinen Grund darin, daß die Eleaten das Auch wenn für Aristoteles, wie in Kapitel 1.7 deutlich wurde, der Schluß von „x wird a u s / ' auf „y wird x" zumindest in sprachlicher Hinsicht mitunter problematisch ist - so kann man Aristoteles zufolge statt „eine Statue wird aus Erz" nicht sagen „das Erz wird eine Statue" ebenso wie in bestimmten Fällen auch der Schluß von wird x" auf wird aus / ' in sprachlicher Hinsicht problematisch ist - so kann man Aristoteles zufolge statt „ein Mensch wird ein Gebildeter" nicht sagen „ein Gebildeter wird aus einem Menschen" -, und auch wenn Aristoteles in bestimmten Fällen eher sagen würde, daß aus ,jc wird aus y" eher folgt vergeht zu x" - man denke an das Werden eines Schwarzen aus einem Weißen in Kapitel 1.5 so würde er gleichwohl zustimmen, daß aus „x wird a u s y folgt, daß y ein Werdendes bzw Vergehendes ist, wenn man dies hier in einem weiten Sinne versteht. Man muß nämlich - wie wir in Kapitel 1.7 gesehen haben - bei der aristotelischen Analyse des Werdens zwischen einer sprachlichen Oberflächenstruktur und einer ontologischen Tiefenstruktur unterscheiden. Auch wenn statt „eine Statue wird aus Erz" Aristoteles zufolge nicht gesagt werden kann „das Erz wird eine Statue", so bedeutet dies nicht, daß das Erz bei diesem Prozeß nicht wird.
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Seiende nur in einem absoluten Sinne verstehen. Ein Satz der Form „ein Seiendes wird" stellt nach Ansicht der Eleaten eine Contradictio in adjecto dar. Mit anderen Worten: V o n einem 'Seienden' zu sagen „es wird" bedeutet den Eleaten zufolge, von einem 'Seienden' zu sagen „es ist kein Seiendes". In Analogie zu (a) ergibt sich in bezug auf die Argumentation (b) in ihrer vollständigen Fassung folgendes Argument: (b) „Werdendes wird nicht aus Nichtseiendem": Begründung für (b): ( b l ) Aus Nichtseiendem wird nichts (a30-31) Begründung für (bl): * (bO) Nichtseiendes wird nicht. Begründung für (bO): (b2) Es muß etwas vorhanden sein (a31) D i e Begründung in bezug auf (b) lautet wie folgt: Aus einem Nichtseienden kann das Werdende nicht werden, weil ( b l ) aus Nichtseiendem nichts wird. 23 Aus Nichtseiendem aber wird nichts, weil, wenn etwas aus Nichtseiendem würde, dieses Nichtseiende selbst ein Werdendes wäre; doch (bO) Nichtseiendes wird nicht. Nichtseiendes aber wird nicht, weil (b2) bereits etwas (d.h. ein Seiendes) vorhanden sein muß ( ΰ π ο κ ε ΐ σ θ α ι γ ά ρ τι δ ε ΐ ν ) , von dem ein Werden ausgesagt werden kann. Mit anderen Worten: D a von einem Nichtseienden, das die Eleaten ebenso wie 'Seiendes' in einem absoluten Sinne verstehen, überhaupt nichts ausgesagt werden kann, kann von ihm auch kein 'Werden' ausgesagt werden. Sucht man nach einem Grund dafür, warum aus Nichtseiendem nichts wird, s o ist dieser offenkundig in dem nachfolgenden „ ΰ π ο κ ε ΐ σ θ α ι γ ά ρ τι δ ε ΐ ν " (a31) zu suchen, das hier aufgrund der strukturellen Parallele zu dem vorhergehenden „ ε ί ν α ι γ ά ρ ήδη" eine Begründungsfunktion in bezug auf das ,,έκ τε μ ή δ ν τ ο ς ο υ δ έ ν ά ν γ ε ν έ σ θ α ι " hat. D a ich das „ ΰ π ο κ ε ΐ σ θ α ι γ ά ρ τι δ ε ΐ ν " in einem weiten Sinne als „denn es muß etwas vorhanden sein" verstehe, 2 4 Dieses „aus Nichtseiendem wird nichts" (έκ τε μή οντος ούδέν αν γενέσθαι: 191a30-31) scheint eine Paraphrase der Zeilen 12-13 aus Parmenides Fragment DK 28B8 zu sein. Dort heißt es: „Die Kraft der Überzeugung wird es auch nicht zulassen, daß aus Nichtseiendem etwas anderes als es (selbst) wird" (ούδέ ποτ' έκ μή έόντος έφήσει πίστιος ισχύς γίγνεσθαι τι παρ' αύτό·). KRS (21983: 250) übersetzen: „Nor will the force of conviction allow anything besides it to come to be ever from not being." Wenn aber aus dem Nichtseienden nicht etwas anderes als es selbst bzw. nichts neben ihm (παρ' αύτό) wird, so bedeutet dies aus Sicht von Parmenides mit anderen Worten, daß nichts aus ihm wird. Zwar haben einige Interpreten in bezug auf Z. 12 vorgeschlagen, das ,,μή" durch ,,τοΰ" zu ersetzen, doch schließe ich mich der ursprünglichen Lesart, die auch von Diels und KRS vertreten wird, an. Ich verstehe das ,,ύποκεΐσθαι γάρ τι δεΐν" in einem weiten Sinne, bei dem „ΰποκεΐσθαι" nicht als terminus technicus für das aristotelische Zugrundeliegende im engeren Sinne steht, sondern die neutrale Bedeutung von etwas, das vorhanden ist, hat. Demgegenüber ist Waterlow (1982: 8) der Ansicht, daß das ,,ύποκεΐσθαι γάρ τι δεΐν" nicht eine eleatische Begründung, sondern eine eigene Anmerkung von Aristoteles darstellt: „The last remark, 'there must be some underlying subject', is Aristotle's comment in propria persona, rather than a description of the difficulty as it presented itself to the earlier thinkers. The expression 'underlying subject' is his, not theirs, and the clause in which it occurs does not as might first appear, pose one side of the ancieiit dilemma; on the contrary, it carries Aristotle's own solution." Cherniss (1935: 53 ff.) liest diese Textstelle ebenfalls als ein Beispiel dafür, wie Aristoteles seine eigene Theorie in frühere Systeme 'hineinliest'. Loux (1992, 284 f.) hat gegenüber der Interpretation von Waterlow zu Recht eingewendet, daß, auch wenn ,,ύποκεΐσθαι" bei Aristoteles ein idiosynkratischer Ausdruck in bezug auf die Analyse des Werdens ist, er hier nicht als ein solcher verwendet wird: „Hers [Waterlows] is an understanding response to the appearance of 'ύποκεΐσθαι'; but it is rendered questionable not
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lautet die Begründung somit, daß aus einem Nichtseienden nichts wird, weil etwas - nämlich ein Seiendes - bereits vorhanden sein muß, das wird. Loux ist nun der Ansicht, daß die Begründung ,,ύποκεΐσθαι γάρ τι δεΐν" uns eigentlich nichts Neues zu verstehen gibt und nur eine Reformulierung der Behauptung, daß aus Nichtseiendem nichts wird, darstellt, was letztlich bedeuten würde, daß das ,,ύποκεΐσθαι γάρ τι δ ε ΐ ν " nur eine scheinbare Begründung darstellt: As used here, the term [ύποκεΐσθαι] cannot express the idea of an enduring subject of predication; and the remark in question has to be understood to have the neutral force of »There must be something there beforehand.« But, then, the remark does not provide a separate reason for endorsing the claim that »nothing comes to be from that which is not;« so understood, the remark merely reformulates that claim or restates it in other words. So we are, in any case, left with the claim that »nothing comes to be from that which is not« as our grounds for rejecting the characterization of coming to be outlined in (b); and we want to know why one would endorse that claim. (Loux, 1992: 285)
Im weiteren Verlauf (S. 285-286) setzt sich Loux mit zwei Interpretationsvorschlägen auseinander, die eine Antwort auf die von Loux gestellte Frage nach der Begründung für (b) geben: Einerseits wird die von Code (1976 a: 163-6) vorgeschlagene 'Referenztheorie' und andererseits die von Lear (1988: 57-58) vorgeschlagene 'Ursachentheorie' untersucht. Loux zeigt jedoch, daß beide Interpretationsvorschläge letztlich unbefriedigend sind, so daß er schließlich zum Ergebnis gelangt, daß das Prinzip, daß aus Nichtseiendem nichts wird, in 191a30-31 als eine Art Postulat eingeführt und nicht weiter begründet wird: [...]; but it is clear that the principle was taken to be a kind of postulate. Aristotle himself seems to have viewed at least one version of the principle in these terms [191 bl 3-14]; and in any case, he felt that a mere statement of the principle was sufficient to make the case against (b) plausible. (Loux, 1992: 287)
Nun hat meine Interpretation jedoch gezeigt, daß mit der Aussage „ύποκεΐσθαι γάρ τι δ ε ΐ ν " gleichwohl ein Grund gegeben wird, warum aus Nichtseiendem nichts wird. Der Grund dafür, warum aus Nichtseiendem nichts wird, ist nämlich darin zu sehen, daß, wenn etwas aus Nichtseiendem würde, dieses Nichtseiende selbst in gewisser Weise ein Werdendes wäre bzw. etwas, von dem ein Werden ausgesagt würde, was jedoch unmöglich ist, da auf diese Weise das Nichtseiende gewissermaßen zu 'etwas' bzw. zu einem 'Seienden' gemacht würde, für das dann wiederum das Argument (a) zutrifft. Die Argumentation in bezug auf das Argument (b) zeigt somit folgendes: Geht man davon aus, daß Werdendes aus Nichtseiendem wird, so gelangt man letztlich zu dem Schluß, daß doch ein Seiendes anzunehmen ist, das wird. Und für dieses Seiende würde dann wieder das Argument (a) zutreffen, dem zufolge ein Seiendes nicht wird, weil ein Seiendes just by the structural parallel with »since it already is« but also by the fact that the remark seems to fall within the scope o f »They s a y . . . « and clearly outside the scope of »But we s a y . . . « as it occurs three lines later. If however, the remark is taken to express the v i e w s of Aristotle's predecessors, then ' ύ π ο κ ε ΐ σ θ α ι ' has to be dissociated from its characteristic Aristotelian sense; and this, despite the repeated use of the verb and its cognates just a chapter earlier to express Aristotle's own account o f coming to be."
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ja bereits ist. Die Begründung ,,ύποκεΐσθαι γάρ τι δεΐν" macht darauf aufmerksam, daß der Begriff eines Werdens auf etwas (und somit auf ein Seiendes) zu beziehen ist. Auf ein Seiendes kann er jedoch nicht bezogen werden, weil das Seiende bereits (ein Seiendes) ist und nicht wird. Hieraus wird deutlich, daß in bezug auf die beiden 'Hörner' des Dilemmas (a) „aus Seiendem" und (b) „aus Nichtseiendem" - folgender Zusammenhang zwischen den Unmöglichkeiten des Werdens eines Werdenden aus einem Seienden oder Nichtseienden besteht: Während sich das Werden aus einem Seiendem insofern als 'unmittelbar' unmöglich erweist, als die Aussage „Seiendes wird" nach Ansicht der Eleaten eine Contradictio in adjecto und somit eine Verletzung des Principium contradictionis darstellt, erweist sich das Werden aus einem Nichtseienden insofern als 'mittelbar' unmöglich, als in bezug auf die Unmöglichkeit des Werdens aus einem Nichtseienden darauf verwiesen wird, daß bereits etwas vorhanden sein müsse, so daß dann das Nichtseiende eigentlich ein Seiendes wäre, für das nun wiederum die Argumentation (a) gilt. Dieser Zusammenhang zwischen einer 'unmittelbaren' und einer 'mittelbaren' Unmöglichkeit erweckt den Eindruck, als seien die Eleaten der Ansicht gewesen, daß das Werden, wenn es überhaupt vorhanden sein soll, in dem skizzierten Sinne eher aus einem Nichtseienden als aus einem Seienden geschehen kann. Doch auch aus einem Nichtseienden ist es unmöglich, da dann das Nichtseiende doch irgendwie als seiend gesetzt würde, welches für die Eleaten einerseits einen Widerspruch darstellt und andererseits zu der Konsequenz führt, daß dann fiir das Nichtseiende als Seiendes wiederum die Argumentation (a) zutrifft. Dieser Ungleichgewichtigkeit der Glieder „aus Seiendem" und „aus Nichtseiendem" begegnen wir auch in der von Parmenides dargelegten Formulierung der Aporie in Fragment DK 28B8, 25 wo Parmenides einzig die Möglichkeit des Werdens aus einem Nichtseienden in Erwägung zieht, während die Möglichkeit des Werdens aus einem Seienden unerwähnt bleibt: 7 Ttfj πόθεν αύξηθέν· ούδ' εκ μη έόντος έάσσω φάσθαι σ' οΰδε νοεΐν· οΰ γαρ φατόν ούδέ νοητόν έστιν οπως ούκ εστί· τί δ' αν μιν και χρέος ώρσεν 10 ύστερον ή πρόσθεν, τοΰ μηδενός άρξάμενον, φΰν; ούτως ή πάμπαν πελέναι ^ρεών έστιν r| οΰχι. ούδέ ποτ' έκ μή έόντος έφησει πίστιος ισχύς γίγνεσθαι τι παρ' αΰτο· τοΰ εϊνεκεν ούτε γενέσθαι ούτ' ολλυσθαι άνηκε Δίκη χ α λ ά σ α σ α πέδησιν, 15 άλλ' ε^ει· ή δέ κρίσις περί τούτων έν τώδ' έστίν· εστίν η ούκ έστιν· κέκριται δ' οΰν, ώσπερ άνάγκη, τήα μέν έ ά ν άνόητον άνώνυμον (ού γαρ άληθής εστίν όδόι^), την δ' ώστε πέλειν και έτήτυμον είναι, πώς δ' αν έπειτα πέλοι τό έόν; πώς δ' άν κε γένοιτο; 20 εΐ γάρ έγεντ', ούκ έστ', ούδ' εϊ ποτε μέλλει εσεσθαι. Daß die Eleaten der Ansicht waren, daß das Werden das Vorhandensein eines irgendwie gearteten Nichtseienden voraussetzt und 'eher' aus einem Nichtseienden als aus einem Seienden möglich ist, wird auch daraus ersichtlich, daß deren Nachfahren - die Atomisten - dieses Dilemma gerade dadurch zu lösen versuchten, daß sie mit der Existenz des Leeren das Vorhandensein eines Nichtseienden angenommen haben, um so die Bewegung in der Welt theoretisch möglich werden zu lassen. Vgl. dazu auch Leukipp, Frg. DK 67A7.
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger' τώς γένεσις μέν άπέσβεσται και απυστος δλεθρος. (Parmenides, Frg. DK. 28Β8, Ζ.7-21) Wie, woher sein Heranwachsen? Auch nicht sein Heranwachsen aus dem Nichtseienden werde ich dir gestatten auszusprechen und zu denken. Denn unaussprechbar und undenkbar ist, daß NICHT IST ist. Welche Verpflichtung hätte es denn auch antreiben sollen, (10) später oder früher mit dem Nichts beginnend zu entstehen? So muß es also entweder ganz und gar sein oder überhaupt nicht. Auch wird ja die Kraft der Überzeugung niemals einräumen, aus Nichtseiendem könnte irgend etwas anderes als eben dieses hervorgehen. Um dessen Willen hat weder zum Werden noch zum Vergehen die Rechtsgottheit das Sein freigegeben, es in den Fesseln lockernd, (15) sondern sie hält es fest. Die Entscheidung aber hierüber liegt in folgendem: IST oder Nicht IST! Entschieden ist aber nun, wie notwendig, den einen Weg als undenkbar, unsagbar beiseite zu lassen (es ist ja nicht der wahre Weg), den anderen aber als vorhanden und wirklich-wahr zu betrachten. Wie könnte aber dann Seiendes zugrunde gehen, wie könnte es entstehen? (20) Denn entstand es, so ist es nicht und ebensowenig, wenn es erst in Zukunft einmal sein sollte. So ist Entstehen verlöscht und verschollen Vergehen. (Übers, nach Diels, 1957: 45-46)
Zwar ist von einigen Interpreten das ,,μή" in Zeile 12 in ein ,,τοΰ" emendiert worden, so daß hier dann die Möglichkeit des Werdens aus Seiendem in Betracht gezogen würde und das Argument die Gestalt eines Dilemmas hätte, doch hat sich Bames mit guten Gründen gegen diese Interpretation eines Dilemmas bei Parmenides ausgesprochen. 26 Wenn man nun das ,,μή" in Zeile 12 nicht in ein ,,τοΰ" emendiert, so betrachtet Parmenides einzig das Werden aus einem Nichtseienden. KRS beschreiben dies wie folgt: 'How and whence did it grow?' (line 7). He [Parmenides] assumes that the only reasonably answer to 'whence?' could be: 'from not existing', which he rejects as already excluded by his argument against 'is not' (lines 7-9). (KRS, 2 1983: 250) Während Parmenides dieser Lesart zufolge die einzig vernünftige Antwort auf die Frage, 'wie und woher soll es gewachsen sein?' in dem Werden aus Nichtseiendem sieht und das Werden aus Seiendem erst gar nicht in Betracht zieht, scheint auch Aristoteles diese Ungleichgewichtigkeit der beiden Glieder in der Rekonstruktion des eleatischen Argument zu berücksichtigen, da auch dort die 'vernünftigere' Antwort auf die Frage, 'woraus soll das Werdende werden?' insofern in dem Werden aus Nichtseiendem gesehen wird, als sich das Werden aus Seiendem in der von mir dargelegten Interpretation als unmittelbar unmöglich erweist, während in bezug auf das Werden aus Nichtseiendem darauf verwiesen wird, daß etwas (ein Seiendes) vorhanden sein muß, für das dann wiederum das Argument (a) zutrifft. Die Unmöglichkeit des Werdens aus Nichtseiendem besteht darin, daß man mit dem Werden aus Nichtseiendem das Nichtseiende doch Vgl. Barnes (1982: 185): „First, I do not find a dilemmatic argument in Parmenides' poem; nor do I find one in Melissos, who summarily repeats Parmenides' argument against generation; nor yet in Empedokles, who makes self-conscious use o f the same argument. Both o f Parmenides' followers assert simply that Ο cannot came into being from what is not; they do not add 'or from what is'."
Die eleatische Aporie
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bereits irgendwie als seiend gesetzt hätte. Ein Unterschied zwischen der Argumentation von Parmenides in Fragment B8 und der aristotelischen Rekonstruktion derselben in Phys. 1.8 besteht jedoch darin, daß die Temporalität der Ausdrücke 'sein' und 'werden' bei Parmenides in Fragment B8 eine Bedeutung für die Argumentation hat, während sie in der Rekonstruktion des Arguments von Aristoteles in den Hintergrund tritt. Dieses In-den-Hintergrund-Treten des temporalen Aspekts des Werdens entspricht allerdings der bereits herausgestellten atemporalen Analyse des Werdens, wie Aristoteles sie in Kapitel 1.7 durchgeführt hat. Die dargelegte Interpretation des Arguments in 191a27-31 hat folgendes deutlich gemacht: Das Argument stellt seiner Form nach - η έξ δντος ή έκ μή οντος - ein Dilemma dar. Gleichwohl ist dieser formale Charakter eines Dilemmas in bezug auf den Inhalt das Arguments insofern zu modifizieren, als in bezug auf das eine 'Horn' - nämlich in bezug auf das Werden aus einem Nichtseienden - durch die Begründung ,,ύποκεΐσθαι γάρ τι δεΐν" auf das andere 'Horn' - nämlich auf das Werden aus einem Seienden - verwiesen wird. Betrachtet man das Argument nun im Ganzen, so wird folgendes deutlich: Begründet werden soll die These „kein Seiendes wird". Die Begründung erfolgt dadurch, daß, wenn ein Seiendes wird, und wenn es somit ein Werdendes gibt, dieses Werdende entweder aus einem Seienden oder aus einem Nichtseienden wird. Das Werden aus einem Nichtseienden ist jedoch deshalb unmöglich, weil für ein 'Werden' letztlich etwas (ein Seiendes) angenommen werden muß, das wird. Das Werden aus einem Seienden ist jedoch deshalb unmöglich, weil Seiendes bereits ist und deshalb nicht wird. Das Argument läßt sich vor diesem Hintergrund in vereinfachter Gestalt wie folgt darstellen: „Kein Seiendes wird, weil es kein Werdendes geben kann; und es kann kein Werdendes geben, weil kein Seiendes wird". Dies ist jedoch offenkundig ein zirkuläres Argument, das seinen letzten Grund darin findet, daß kein Seiendes wird, weil Seiendes bereits ist.21 In dem eleatischen Argument ist letztlich die Tautologie „ein Seiendes ist ein Seiendes" (und somit kein Werdendes) die fundamentale Begründung dafür, daß kein Seiendes wird. Aristoteles scheint an dieser tautologischen Struktur des Arguments hier jedoch insofern nicht interessiert zu sein, als er dies nicht zu einem Einwand erhebt. Nun wurde bereits daraufhingewiesen, daß sich Barnes (1982: 184 ff.) gegen die Interpretation von Parmenides' Fragment B8 im Sinne eines Dilemmas ausspricht, das von vielen Interpreten in folgendem gesehen wird:
Daß diese Argumentation, der zufolge kein Seiendes wird, weil das Seiende bereits ein Seiendes ist, einen nachhaltigen Einfluß auch auf diejenigen Nachfahren der Eleaten ausgeübt hat, die im Gegensatz zu den Eleaten das Vorhandensein des 'Werdens' in der Natur nicht aufgeben wollten, wird auch daraus ersichtlich, daß diese Nachfahrer, das Werden entweder (wie z.B. Empedokles) im Sinne einer Wirkung von Gegensätzen auf ein Zugrundeliegendes bzw. als einen bloßen Qualitätswechsel aufgefaßt haben, bei dem der zugnindeliegende Stoff bleibt und somit vor und nach der Veränderung 'seiend' ist, oder aber (wie Anaxagoras) im Sinne einer Aussonderung von Teilchen, die vor und nach der Aussonderung 'seiend' sind, oder schließlich (wie die Atomisten) im Sinne einer bestimmten Zusammensetzung und Trennung von Teilchen, die vor und nach der Zusammensetzung oder Trennung 'seiend' sind.
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger' How could Ο have come into being? Whence did Ο come into being? Most commentators focus their attention on the latter question; and they find that Parmenides argues his case by way of a dilemma: 'Suppose that Ο comes into being from 0'\ i.e., that Ο' generates O. Then either Ο' is non-existent or O 28 is existent. But Ο' cannot be non-existent (lines 7b-11); nor can it be existent (lines 12-13a). Hence Ο cannot come into being at all.' (Barnes, 1982: 184)
Barnes sieht in der Argumentation von Parmenides anstelle eines Dilemmas vielmehr eine Tautologie von folgender Gestalt: The generative dilemma disappears from Parmenides' text. In its place, we find the following taut argument: 'If Ο exists, then Ο cannot have come into being. For if Ο comes into being at t, then prior to t Ο did not exist. But, by the argument in 148-150 [DK 28 B2; B3 und B6] against Road (B), it is impossible for Ο not to exist.' (Barnes, 1982: 185) Da Aristoteles nun in seiner Rekonstruktion des eleatischen Arguments in Kapitel 1.8 von einem Werden sowohl aus Seiendem wie aus Nichtseiendem spricht, liegt die Vermutung nahe, daß er das eleatische Argument fälschlicherweise als ein Dilemma rekonstruiert hat: Aristotle's commentators find the dilemma in Melissus (A 10aR); but the text of Melissus nowhere hints at a dilemma, and the MXG implies that there was none (see especially 975a22-32 = A 5). There is a dilemma in Gorgias, 157 § 71; but it is bastard: in the disjunction ek me ontos or ex ontos, the first ek introduces a generator, the second does not. Aristotle also refers to the dilemma (Phys 191a23); but in his dilemma, ek does not introduce a generator at all. (Barnes, 1982: 613 f., Fn.17) Hier machte die dargelegte Interpretation der eleatischen Aporie in Phys. 1.8 jedoch deutlich, daß ihr tautologischer Charakter in der aristotelischen Rekonstruktion, auch wenn diese die Form eines Dilemmas hat, seinem Inhalt nach gleichwohl gewahrt bleibt. Auch wenn sich die von Barnes rekonstruierte Tautologie, die sich auf die temporale Bedeutung des Wortes „entstehen" stützt, von der von Aristoteles rekonstruierten Tautologie, die von jeglichen temporalen Aspekten absieht, unterscheidet, so liegt doch beiden letztlich der Gedanke zugrunde, daß ein Seiendes kein Werdendes sein kann, weil es ein Seiendes ist. 29 In einer abschließenden Anmerkung fügt Aristoteles noch hinzu, daß die Eleaten nicht nur die Bewegung, sondern auch die Vielheit des Seienden leugnen und verstärkend behaupten, daß es nur das Seiende selbst gebe: Und was sich davon ausgehend ergibt, verstärken sie noch und behaupten, daß es Vielheit gar nicht gäbe, sondern nur das Seiende selbst [μόνον αύτό τό δν]. (1.8, 191a31-33) 28
Hier liegt offensichtlich ein Druckfehler vor. Statt »O« müßte dem Sinnzusammenhang nach korrekterweise »O'« stehen. Der Gedanke einer Tautologie in bezug auf die Überlegungen bei Parmenides legt sich auch angesichts seiner grundlegenden Wahrheit nahe, der zufolge Seiendes ist und nicht nicht ist (vgl. Frg. DK 28B2). Es ist hier jedoch nicht der Ort für eine Untersuchung, ob Parmenides' Überlegungen seinem Selbstverständnis nach als zirkulär oder tautologisch anzusehen sind. So sprechen sich z.B. KRS ( 2 1983: 244, Fn.l) gegen eine Zirkularität im Denken von Parmenides aus: „But despite his talk of'well-rounded truth' Parmenides need not be implying here that his own thought is circular."
Aristoteles' Lösung der eleatischen Aporie
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Aristoteles führt zwar keinen Grund an, warum die Eleaten ihren Gedanken dahingehend verstärkt haben, daß sie aus der Nichtbewegung des Seienden auf dessen absolute Einheit geschlossen haben,30 doch vor dem Hintergrund der dargelegten Interpretation ist dieser Nachtrag nun dahingehend zu verstehen, daß Aristoteles deutlich machen will, daß die Eleaten nicht nur der Auffassung waren, daß man von einem Seienden kein 'Werden' aussagen kann, sondern daß man auch nichts anderes - ausgenommen 'seiend' und das in dem Begriff von 'seiend' implizit Enthaltene - von diesem Seienden prädizieren kann.
8.2 Aristoteles' Lösung der eleatischen Aporie
(191a33-b27)
In der nachfolgenden Argumentation 191a33-b27 wird Aristoteles nun darlegen, daß die Sätze (a) „etwas wird aus Seiendem" und (b) „etwas wird aus Nichtseiendem" mehrdeutig sind. In dieser Mehrdeutigkeit, die die Eleaten noch nicht sehen konnten, da sie, wie Aristoteles in den Kapitel 1.2 und 1.3 dargelegt hat, 'Seiendes' nur in einem absoluten und einheitlichen Sinne verstanden, liegt für Aristoteles der Umstand begründet, daß die Sätze (a) und (b) in einer Bedeutung falsch und in einer anderen Bedeutung wahr sein können.
8.2.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191a33-bl7) Jene faßten also diese Meinung [τήν δ ό ξ α ν ] aufgrund des Gesagten. Wir dagegen behaupten: [Ausdrücke wie] »aus Seiendem oder Nichtseiendem werden« [τό έ ξ δντος ή μή δντος γ ί γ ν ε σ θ α ι ] oder »Nichtseiendes oder Seiendes bewirkt oder erleidet etwas oder wird irgendetwas Beliebiges« [τό μή öv ή τό δν π ο ι ε ΐ ν τι ή π ά σ χ ε ι ν ή ό τ ι ο ΰ ν τόδε γ ί γ ν ε σ θ α ι ] unterscheiden sich auf eine Weise [ενα μ ε ν τρόπον] gar nicht von [Ausdrücken wie] »der Arzt bewirkt oder erleidet etwas« oder »aus dem Arzt ist oder wird etwas«, so daß, weil dies ja auf zweifache Weise gesagt wird, klar ist, daß auch »aus Seiendem [ist oder wird etwas]« und »das Seiende bewirkt oder erleidet [etwas]« [auf zweifache Weise gesagt wird], (1.8, 191a33-b4)
Zunächst hebt Aristoteles noch einmal das Ergebnis der zuvor behandelten Aporie zusammenfassend hervor - ,jene faßten also diese Meinung (nämlich, daß kein Seiendes wird oder vergeht) aufgrund des Gesagten" -, um sich dann von diesem abzugrenzen: „Wir aber sagen [...] ." Da Aristoteles die in der Aporie enthaltene Prämisse „Werdendes wird notwendigerweise entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem" nicht bezweifelt, wohl aber deren Konklusion, daß kein Seiendes wird oder vergeht, besteht seine Kritik vor allem an der in der Aporie gegebenen Begründung, der zufolge ein Werdendes einerseits nicht aus Seiendem wird, weil Seiendes bereits ist, und der zufolge ein Werdendes andeVgl. dazu die Ausführungen zu Kapitel 1.3, wo die Eleaten umgekehrt von der Einsheit des Seienden auf dessen Nichtbewegung geschlossen haben. Sowohl die Ausführungen in Kapitel 1.3 wie diejenigen hier in Kapitel 1.8 machen deutlich, daß Aristoteles einen Zusammenhang zwischen Bewegung und Vielheit sieht.
Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
400
rerseits nicht aus Nichtseiendem wird, weil etwas zugrunde liegen muß. Aristoteles gründet seine Kritik darauf, daß solche Ausdrücke wie „aus Seiendem werden" und „aus Nichtseiendem werden" mehrdeutig sind und zumindest auf zweifache Weise gesagt werden können. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sollen den einzelnen in 191a34-b4 vorkommenden Ausdrücke zunächst folgende Variablen zugeordnet werden: ρ q
steht für: steht für:
r j t u
steht für: steht für: steht für: steht für:
„aus Seiendem oder Nichtseiendem werden" (191 a34-35) „Nichtseiendes oder Seiendes bewirkt oder erleidet etwas oder wird etwas Beliebiges" (191a35-36) „der Arzt bewirkt oder erleidet etwas" (191 b 1) „aus dem Arzt ist oder wird etwas" (191 b 1 -2) „aus Seiendem [ist oder wird etwas]" (191b3) „das Seiende bewirkt oder erleidet [etwas]" (191b3-4)
Zugleich ist davon auszugehen, daß die Ausdrücke t und u verkürzte Formen der Ausdrücke ρ und q darstellen, wobei der Grund, warum in t und u im Unterschied zu ρ und q nur noch vom 'Seienden' und nicht mehr vom 'Nichtseienden' gesprochen wird, wohl darin zu sehen ist, daß t und u allgemeine Formen von s und r darstellen, und in s und r mit dem „Arzt" ein Beispiel für ein Seiendes gegeben wird. Gleichwohl ist in bezug auf t und u auch an ein Nichtseiendes zu denken. 31 Der Abschnitt 191a34-b4 stellt folgendes Argument dar: »Weil sich die Ausdrücke ρ und q in einer Weise (vgl. „ένα μέν τρόπον": a36) gar nicht von den Ausdrücken r und s unterscheiden, und weil die Ausdrücke r und s auf zweifache Weise gesagt werden, so werden auch die Ausdrücke t und u auf zweifache Weise gesagt.« Bedenkt man nun, daß t und u verkürzte Formen von ρ und q darstellen, so lautet das Argument wie folgt: »Weil sich die Ausdrücke ρ und q in einer Weise gar nicht von den Ausdrücken r und s unterscheiden, und weil die Ausdrücke r und s auf zweifache Weise gesagt werden, so werden auch die Ausdrücke ρ und q auf zweifache Weise gesagt.« Damit die Konklusion dieses in Form einer Behauptung vorgestellten Arguments - nämlich, daß auch die Ausdrücke ρ und q auf zweifache Weise gesagt werden - als begründet betrachtet werden kann, gilt es sowohl zu zeigen, daß (i) solche Ausdrücke wie r und 5 auf zweifache Weise gesagt werden, als auch, daß (ii) sich die Ausdrücke ρ und q in einer für die Argumentation relevanten Hinsicht nicht von den Ausdrücken r und s unterscheiden. Mit dieser Hinsicht (ii), der zufolge sich die Ausdrücke ρ und q nicht von den Ausdrücken r und s unterscheiden, ist eine formale Hinsicht gemeint: Haben die Ausdrücke ρ und s die gemeinsame formale Struktur eines „Werdens-aus-x", so haben die Ausdrücke q und r die gemeinsame formale Struktur des „Bewirkens-oder-Erleidens-von-x". Der Unterschied zwischen den Ausdrücken ρ und q einerseits und r und s andererseits besteht darin, daß in ρ und q die allgemeinen Variablen „Seiendes" und „Nichtseiendes" vorkommen, während in r und s von einem konkreten Beispiel nämlich 'Arzt' - gesprochen wird, das für ein Seiendes steht. Da Aristoteles so31
So fügen Wagner (1967: 27), Apostle (1969: 22) und Gohlke (1956: 54) in ihren Übersetzungen von , / ' und „u" in 191 b3-4 ein 'Nichtseiendes' ergänzend hinzu.
Aristoteles' Lösung der eleatischen Aporie
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mit die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke mit Hilfe des Beispiels des Arztes zunächst nur in bezug auf ein Seiendes darlegen wird - denn 'Arzt' steht ja fllr ein Seiendes stellt sich allerdings die Frage, wie es Aristoteles gelingt, diese Mehrdeutigkeit des Seienden auf eine Mehrdeutigkeit des Nichtseienden zu übertragen. Denn dies tut er offenkundig, wenn er in 191b6-10 sagt: Da wir aber in ganz besonders eigentlicher Weise sagen »der Arzt bewirkt oder erleidet etwas« oder »aus dem Arzt wird [etwas]«, wenn er als Arzt dies alles erleidet oder bewirkt oder wird, so ist klar, daß auch »das Werden aus Nichtseiendem« dies bedeutet: »insofern es nichtseiend ist [bzw. als Nichtseiendes]«. (1.8, 191b6-10)
Obgleich das Beispiel des Arztes hier für ein Seiendes steht, wird doch aus diesem Beispiel auf ein analoges Verhältnis in bezug auf das Nichtseiende geschlossen. Daß dies möglich ist, findet seinen Grund vermutlich darin, daß das 'Nichtseiende' als Negation des 'Seienden' in einer Relation zum Seienden steht, so daß sich aus der Mehrdeutigkeit des Seienden auch eine Mehrdeutigkeit des Nichtseienden ergibt. Zwar macht Aristoteles dies in Phys. 1.8 nicht explizit deutlich, doch weist er in Met. XIV.2, darauf hin, daß die Mehrdeutigkeit des Nichtseienden ihren Grund in der Mehrdeutigkeit des Seienden hat: Denn auch das Nicht-seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt, weil ja das Seiende mannigfache Bedeutung hat [πολλαχώς γαρ τό μή δν, έπειδή και τό δν], und Nicht-Mensch bezeichnet, daß etwas nicht dies bestimmte Etwas, nicht-gerade, daß es nicht dieses Qualitative, nicht-dreiklaftrig, daß es nicht dieses Quantitative ist. (Met. XIV.2, 1089al6-19; Übers, nach Bonitz)
Das Kapitel 1.8 stellt ein ausgezeichnetes Beispiel dafür dar, daß nach Ansicht von Aristoteles der Weg vom Konkreten zum Allgemeinen zu führen hat, und nicht umgekehrt. Denn mit den Beispielsätzen bezüglich eines Arztes verdeutlicht Aristoteles zunächst, daß sich dasjenige, was auf einer allgemeinen Ebene, wie die Aporie der Eleaten gezeigt hat, in Paradoxien und Schwierigkeiten führt (nämlich das Werden aus Seiendem oder Nichtseiendem), auf einer konkreten Ebene, sofern man für den allgemeinen Ausdruck „Seiendes" den konkreten Ausdruck „Arzt" einsetzt, als sinnvoll erscheint. Führt der Satz „etwas wird aus Seiendem" in Aporien, so gilt dies nicht für den Satz „etwas wird aus einem Arzt", den wir in unserer Sprache als einen sinnvollen Satz betrachten. Im Gegensatz zu den Eleaten, die, wie wir bereits in den Kapiteln 1.2 und 1.3 gesehen haben, den Weg vom Allgemeinen zum Konkreten weilen und so aufgrund der Tatsache, daß ein Werdendes weder aus einem Seienden noch aus einem Nichtseienden werden kann, dazu übergehen, daß kein Seiendes (und somit auch kein Arzt) wird, will Aristoteles auch hier den umgekehrten Weg vom Konkreten zum Allgemeinen beschreiten, was der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie entspricht. Hierzu ist es jedoch notwendig, zu klären, warum sich auf der konkreten Ebene in bezug auf den „Arzt" ohne weiteres die Ausdrücke r und s sinnvoll bilden lassen, und wieso dies bei einer Verallgemeinerung in bezug auf „Seiendes" und „Nichtseiendes" zu Schwierigkeiten führt. Aristoteles geht es nicht darum, die Aporie der Eleaten einfach als falsch herauszustellen (dies gelänge ihm allein dadurch, daß er auf den tautologischen Charakter derselben oder auf die Mehr-
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
deutigkeit solcher Ausdrücke wie „Seiendes" oder „Nichtseiendes" hinwiese, was er nicht tut), 32 sondern darum, zu zeigen, daß und warum hier nicht vom Allgemeinen aufs Konkrete und umgekehrt vom Konkreten aufs Allgemeine ohne weitere Qualifizierungen geschlossen werden kann. Im folgenden zeigt Aristoteles zunächst (i), in welchem Sinne die auf den Arzt bezogenen Ausdrücke auf zweifache Weise gesagt werden: Also: »Der Arzt baut ein Haus« [οικοδομεί μέν οΰν ό ιατρός], nicht als Arzt [ούχ η ιατρός], sondern als Baumeister [άλλ' fj οικοδόμος], »Er wird weiß« [λευκός γίγνεται], nicht als Arzt [ούχ fj ιατρός], sondern als Schwarzer [άλλ' fj μέλας]. Aber: »Er heilt« [ίατρεύει] und »er wird 'Nicht-Arzt'« [άνίατρος γίγνεται] 3 3 als Arzt [fj ιατρός], (1.8, 191b4-6)
Die Beispiele machen deutlich, daß je nachdem, was für eine Tätigkeit einem Subjekt zugeschrieben wird, dieses Subjekt auf verschiedene Weise betrachtet wird. Je nach Tätigkeit bzw. Erleiden/Werden - wobei „bauen" und „heilen" Beispiele für eine Tätigkeit und „weißwerden" und „Nicht-Arzt-werden" Beispiele für ein Erleiden/Werden sind - ist entweder (1) vom „Arzt" nicht als Arzt oder (2) vom „Arzt" als Arzt die Rede; d.h. (1) von etwas, das neben anderen Bestimmungen die Bestimmung „Arzt" hat, nicht insofern es diese Bestimmung hat (sondern insofern es eine andere Bestimmung hat, z.B. als Schwarzer oder als Baumeister), und (2) von etwas, das neben anderen Bestimmungen die Bestimmung „Arzt" hat, insofern es diese Bestimmung hat.34 Abb. 8.1: Die zweifache Bedeutung der Arztsätze
Tun Erleiden/Werden
nicht als Arzt (ούχ fj ιατρός) „Der Arzt baut ein Haus." „Der Arzt wird weiß."
als Arzt (fi ιατρός) „Der Arzt heilt." „Der Arzt wird Nicht-Arzt."
Eine wichtige Unterscheidung, die hier zum Ausdruck kommt, ist die Unterscheidung zwischen dem 'Gesagten' und dem 'Gemeinten', bzw. zwischen 'etwas als einem bloß Erwähnten' und 'etwas als einem Thematisierten'. Angenommen das Subjekt, Uber das geredet werden soll, zeichnet sich durch verVgl. auch Loux (1992: 292 f.): „So Aristotle does not respond to the Parmenidean argument in ways we might have expected, either by pointing to the Paimenidean's failure to appreciate the complex semantics of 'to be' or by appealing directly to his own analysis of change, [...] The difficulty with those responses is just that they are too powerful, too direct, and too effective. [. . .] As Aristotle sees it, the Parmenidean argument calls for more than a vindication of our commonsense belief in the reality of change. The fact is that very talented and very distinguished philosophers had been firmly in the grips of this argument. [...] What is needed, on the contrary, is a response that not merely shows the argument to fail in its attempt to undermine our ordinary beliefs that things undergo change, but also explains how the argument could seem as intractable as it did." 33
D.h.: „Der Arzt verliert seine ärztliche Kunst". Wagner (1967: 438 f.) unterscheidet hier zwischen einer zusätzlichen Bestimmung (z.B. als Schwarzer) und einer entscheidenden Bestimmung (als Arzt), wobei er auf den Zusammenhang zwischen „zusätzlicher Bestimmung" und „Werden aus Seiendem oder Nichtseiendem im akzidentellen Sinne" hinweist.
Aristoteles' Lösung der eleatischen Aporie
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schiedene Merkmale aus, von denen eines darin besteht, daß es den Beruf des Arztes ausübt, so benutzt man den Terminus „Arzt", um sprachlich auf dieses Subjekt zu referieren. Nun kann dieses Subjekt, auf das man mit dem Terminus „Arzt" referiert, allerdings verschiedene Tätigkeiten ausüben, wobei man für das Subjekt der verschiedenen Tätigkeiten und Erleidungen immer den Terminus „Arzt" gleichsam als Kennzeichnung bzw. als Name verwendet, um klarzustellen, über wen man redet. Vor diesem Hintergrund ergeben sich z.B. folgende Sätze, die jeweils ein Ereignis beschreiben und das Nomen 'Arzt' zum Subjekt haben: (1) (2) (3) (4)
Der Der Der Der
Arzt Arzt Arzt Arzt
baut ein Haus. wird weiß. heilt (jemanden). wird Nicht-Arzt.
Bezieht sich die Tätigkeit bzw. das Werden in allen vier Sätzen auf dasselbe Subjekt, das man „Arzt" nennt, so gilt in bezug auf die Sätze (1) und (2), daß das Subjekt dieser Sätze die Tätigkeit ausübt bzw. das Werden erfährt, nicht insofern es Arzt ist - denn um ein Haus zu bauen oder um weiß zu werden, muß man kein Arzt sein, sondern vielmehr ein Baumeister oder ein Schwarzer -, während in bezug auf die Sätze (3) und (4) gilt, daß das Subjekt dieser Sätze die Tätigkeit ausübt bzw. das Werden erfährt, insofern es Arzt ist. Sagt man also „der Arzt baut ein Haus", so meint man eigentlich „etwas, das zwar den Beruf des Arztes ausübt und dem man deshalb den Namen „Arzt" gibt, baut ein Haus, jedoch nicht insofern er ein Arzt ist." Sagt man aber „der Arzt heilt jemanden", so meint man „etwas, das den Beruf des Arztes ausübt und dem man deshalb den Namen „Arzt" gibt, heilt jemanden, und zwar insofern er ein Arzt ist." Wird in den Sätzen (1) und (2) der Arzt nur erwähnt, so wird er in den Sätzen (3) und (4) thematisiert. Auf diese Weise stellt Aristoteles heraus, daß dasjenige, dem man den Namen „Arzt" gibt, durchaus noch andere Bestimmungen (wie z.B. Schwarzer, Baumeister usw.) haben oder nicht haben kann. In bezug auf die vier Beispielsätze ergeben sich folgende Bedeutungen: (Γ) (2') (3') (4')
Der Der Der Der
Arzt Arzt Arzt Arzt
baut ein Haus: als Baumeister (und nicht als Arzt). wird weiß: als Schwarzer (und nicht als Arzt). heilt (jemanden): als Arzt. wird Nicht-Arzt: als Arzt.
Ein Exkurs zur mehrfachen Bedeutung des Ausdrucks „als" Betrachtet man die Sätze ( Γ ) - (4') genauer, so fällt auf, daß nicht nur der Ausdruck „Arzt" (als Arzt oder nicht als Arzt), sondern daß auch die zur Einleitung einer näheren Bedeutung eines Bezugswortes verwendete Konjunktion „als" in den Formeln „etwas als dieses etwas" und „etwas nicht als dieses etwas" auf mehrfache Weise gesagt werden kann, obgleich Aristoteles dies hier nicht
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
thematisiert. Nehmen wir an, daß ein Arzt reich oder daß ein Mensch gebildet wird, so lassen sich folgende Beschreibungen dieses Werdens bilden: (5') (6') (7') (8')
Der Arzt wird reich: als Nicht-Reicher. Der Arzt wird reich: als Arzt. Ein Mensch wird gebildet: als Ungebildeter. Ein Mensch wird gebildet: als Mensch.
In den Sätzen (5') und (7') läßt sich nun jedoch nicht mehr sagen „als NichtReicher und nicht als Arzt" bzw. „als Ungebildeter und nicht als Mensch", da einerseits ein Arzt sowohl als Arzt wie auch als Nicht-Reicher reich werden kann, und da andererseits ein Mensch sowohl als Mensch wie auch als Ungebildeter gebildet werden kann. Beidemal hat die Konjunktion „als" allerdings eine unterschiedliche Bedeutung: Stellt das Nichtreichsein in Satz (5') gewissermaßen eine Bedingung dafür dar, daß der Arzt reich wird (denn es würde ja keinen Sinn ergeben, zu sagen, daß er reich wird, wenn er bereits reich ist), so stellt das Arztsein in Satz (6') eher eine Begründung und Erklärung dafür dar, daß der Arzt reich wird: „Der Arzt wird reich, weil er Arzt ist." Diesen begründenden und erklärenden Charakter trägt das „als" in Satz (5') jedoch nicht, da dort j a nicht gemeint ist, daß der Arzt reich wird, weil er nicht reich ist. Analoges gilt für die Sätze (7') und (8'), wobei sich diese jedoch in einem Punkt von den Sätzen (5') und (6') unterscheiden: Stellt das Ungebildetsein in Satz (7') gewissermaßen eine Bedingung dafür dar, daß der Mensch gebildet wird (denn es würde j a keinen Sinn ergeben, zu sagen, daß er gebildet wird, wenn er bereits gebildet ist), so stellt das Menschsein in Satz (8') zwar insofern auch eine Bedingung dafür dar, daß der Mensch gebildet wird, als nur Menschen gebildet werden können, doch zugleich stellt das Menschsein in Satz (8') ebenfalls eine Begründung und Erklärung dafür dar, daß der Mensch gebildet wird: „Der Mensch wird gebildet, weil er Mensch ist." Diesen begründenden und erklärenden Charakter trägt das „als" in Satz (7') nicht, da dort ja nicht gemeint ist, daß der Mensch gebildet wird, weil er ungebildet ist. Diese unterschiedliche Bedeutung der Ausdrücke „als" und „nicht als" kann auch in den von Aristoteles gewählten Beispielsätzen gesehen werden: Denn während das „als" bzw. „nicht als" in den Sätzen ( Γ ) und (3'), wo von einem Tun des Arztes die Rede ist, auch in einem begründenden Sinne als „weil" bzw. „nicht weil" verstanden werden kann, hat es in den Sätzen (2') und (4'), wo von einem Werden des Arztes die Rede ist, keine begründende Funktion. In Satz (3') „der Arzt heilt (jemanden): als Arzt" kann das „als" insofern den Charakter einer Begründung tragen, als der Arzt jemanden heilt, weil er Arzt ist. In Satz (2') „der Arzt wird weiß: als Schwarzer (und nicht als Arzt)" trägt das „als" jedoch nicht den Charakter einer Begründung. Denn der Arzt wird j a nicht weiß, weil er schwarz ist. Analoges gilt für die Sätze ( Γ ) und (4'): In Satz (1') „der Arzt baut ein Haus: als Baumeister (und nicht als Arzt)" kann das „als" insofern den Charakter einer Begründung tragen, als der Arzt ein Haus baut, weil er zudem auch Baumeister ist, und nicht weil er Arzt ist. In Satz (4') „der Arzt wird Nichtarzt: als Arzt" trägt das „als" jedoch nicht den Charakter einer Begründung. Denn der
Aristoteles' Lösung der eleatischen Aporie
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Arzt wird ja nicht Nicht-Arzt, weil er Arzt ist. Aristoteles weist auf diesen Unterschied in der Bedeutung allerdings nicht hin und behandelt die Beispielsätze in bezug auf die Ausdrücke „als" bzw. „nicht als" als nicht voneinander unterschieden. Ein Grund, warum Aristoteles den Bedeutungsunterschied hier nicht explizit macht, ist vielleicht darin zu sehen, daß Aristoteles die Naturprozesse als teleologische Prozesse betrachtet. Die teleologische Betrachtung hebt nämlich den Unterschied zwischen einer begründenden und einer nicht-begründenden Funktion des Wortes „als" in gewisser Weise auf, da von einem teleologischen Standpunkt aus betrachtet auch das Nicht-Haben einer bestimmten vollendeten Form einen Grund dafür darstellen kann, warum sich dasjenige, was diese Form nicht hat, in Richtung des Erwerbs der Form bewegt.35 Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund einer teleologischen Betrachtung der Naturprozesse wird etwas gebildet, nicht nur weil es ein Mensch ist (d.h. weil es Menschen eigentümlich ist, gebildet werden zu können), sondern in einem gewissen Sinne auch weil es ungebildet ist (d.h. weil etwas, das eine vollendete Form noch nicht hat, von Natur aus danach strebt, diese Form zu erwerben). Nun scheint diese Zielorientiertheit bei einigen Naturprozessen zwar vorzuliegen, doch ist die teleologische Erklärung in bezug auf die in Kapitel 1.8 vorliegenden Arztsätze wenig hilfreich, da Aristoteles in bezug auf das Werden eines Arztes zu einem Nicht-Arzt wohl kaum der Ansicht ist, daß 'Nicht-Arzt' gegenüber 'Arzt' die vollendetere Form darstellt. Vielmehr deuten die Beispiele, die Aristoteles in Kapitel 1.8 mit dem Werden eines Arztes (als Arzt) zu einem Nicht-Arzt und dem Werden eines Arztes (nicht als Arzt, sondern als Schwarzer) zu einem Weißen für die Beschreibung eines Werdeprozesses anfuhrt, daraufhin, daß er den Ausdruck „als" hier nicht in einem begründenden Sinne als „weil" verstanden wissen will. Es geht hier allein um die Bezeichnung und Hervorhebung einer Eigenschaft, in der jemand etwas tut, erleidet oder wird. Gleichwohl stellt die teleologische Betrachtung der Naturprozesse doch ein wesentliches Moment in bezug auf das Verständnis der aristotelischen Theorie des Werdens dar. Der Grund alles Werdens in der Natur ist bei einer teleologischen Betrachtung der Naturprozesse letztlich in der generellen Unvollkommenheit von etwas zu sehen, so daß gilt, daß etwas, je vollkommener es ist, um so weniger dem Werden unterliegt, während es, je unvollkommener es ist, um so mehr dem Werden unterliegt. Zwar kennt Aristoteles nicht nur zielorientierte Prozesse in der Natur, doch deutet er die Naturprozesse, die dem natürlichen Ziel entgegengesetzt verlaufen, zumeist entweder als 'widernatürliche' (παρά φύσιν) Prozesse oder als Ausnahmen von der Regel. Die aus der teleologischen Zur teleologischen Betrachtung der Naturprozesse in Physik I vgl. auch das Kapitel 1.9, wo Aristoteles das Beispiel vom 'Göttlichen' und 'Häßlichen' wählt, für das gilt, daß sich das Häßliche in Richtung des Göttlichen bewegt. Auch in Kapitel 1.5 deutete sich ein teleologischer Aspekt der Betrachtung von Naturprozessen insofern an, als dort einerseits vom Werden eines Gebildeten aus einem Ungebildeten, andererseits aber vom Vergehen eines Gebildeten zu einem Ungebildeten gesprochen wurde. Deutlicher wird die teleologische Betrachtung der Naturprozesse bei Aristoteles jedoch in den nachfolgenden Büchem der Physik.
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
Betrachtung der Naturprozesse herzuleitende These, daß etwas, je vollkommener es ist, um so weniger dem Werden unterliegt, findet sich bei Aristoteles insofern zum Ausdruck gebracht, als er eine Hierarchie der bewegten Seienden annimmt, der zufolge das Vollkommenste - der unbewegte Beweger - keiner Bewegung unterliegt, während von ihm ausgehend die Bewegung nach 'unten' über die Himmelskörper, bei denen sich nur die Ortsbewegung findet, bis zu den irdischen Dingen stetig zunimmt. Im Anschluß an diesen Exkurs kehren wir zum Text zurück: Da wir aber in ganz besonders eigentlicher Weise sagen [μάλιστα λ έ γ ο μ ε ν κυρίως] »der Arzt bewirkt oder erleidet etwas« oder »aus dem Arzt wird [etwas]«, wenn er als Arzt dies alles erleidet oder bewirkt oder wird, so ist klar, daß auch »das Werden aus Nichtseiendem« [τό έκ μή δντος γίγνεσθαι] 3 6 dies bedeutet: »insofern es nichtseiend ist [bzw. als Nichtseiendes]« [τό fj μή övj. (1.8, 191b6-10)
Nachdem von Aristoteles dargelegt wurde, daß solche Sätze wie „der Arzt tut oder erleidet etwas" und „aus dem Arzt wird etwas" eine zweifache Bedeutung haben und in ganz besonders eigentlicher Bedeutung dann vom Arzt ausgesagt werden, wenn das Subjekt „Arzt" nicht nur erwähnt, sondern auch thematisiert wird - d.h. wenn er dies als Arzt tut oder erleidet -, geht Aristoteles nun dazu über, darzulegen, daß analog dazu auch ein Ausdruck wie „aus Nichtseiendem wird etwas" in besonders eigentlicher Bedeutung dies bedeutet: „insofern es ein Nichtseiendes ist". Der Kontext macht deutlich, daß das „μάλιστα λέγομεν κυρίως" aus dem begründenden Satz ,,έπει δέ ... γίγνηται" (191b6-8) in der Konklusion ,,δήλον οτι ... τό ή μή öv" (191b9-10) zu ergänzen ist.37 Mit anderen Worten: Weil ein Satz wie „aus dem Arzt wird etwas" eine zweifache Bedeutung hat, wobei die eigentliche Bedeutung diejenige ist, der zufolge aus dem Arzt als Arzt etwas wird, so gilt auch in bezug auf einen Satz wie „aus Nichtseiendem wird etwas", daß er eine zweifache Bedeutung hat, wobei die eigentliche Bedeutung diejenige ist, der zufolge aus dem Nichtseienden als Nichtseiendem etwas wird. Die Rede von einer „eigentlichen Bedeutung" (vgl. „μάλιστα λέγομεν κυρίως"), die fur das Sprechen von „etwas als dieses etwas" steht, deutet daraufhin, daß es auch eine 'uneigentliche Bedeutung' gibt, die für das Sprechen von „etwas nicht als dieses etwas" steht. Nun ist die Funktion dieses Schlusses in 191b6-10 jedoch in unterschiedlicher Weise interpretiert worden: Meines Erachtens weist Aristoteles hier zunächst nur darauf hin, daß, weil die Arztsätze dann in eigentlicher Bedeutung gesagt werden, wenn vom Arzt als Arzt die Rede ist, klar ist, daß auch der in der Prantl (1854: 46) liest statt der Aussage (a) „τό έκ μή δντος γίγνεσθαι" die Aussage (b) ,,τό μή έξ δντος γίγνεσθαι" und übersetzt diese wie folgt (S. 47): „[...] so ist klar, daß auch das »nicht aus Seiendem werden« die Bedeutung des »insofern es ein Nicht-seiendes ist« hat." In den Handschriften finden sich zwar beide Varianten, doch spricht die in einer Parallele zu 190b9 zu betrachtende Textstelle 191 b25 ,,τό γάρ έκ μή ΰντος" für die Variante (a), die sich auch bei allen anderen Interpreten findet. Vgl. auch Ross (1936: 347): „Since we say most properly that something comes into being from a doctor when it comes from him qua doctor, we say most properly that a thing comes into being from not-being when it comes from not being qua not-being."
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eleatischen Aporie vorkommende Satz „etwas wird aus Nichtseiendem" (ebenso wie „etwas wird aus Seiendem") dann in seiner eigentlichen Bedeutung gesagt wird, wenn vom Nichtseienden als Nichtseiendem (bzw. in bezug auf den Satz „etwas wird aus Seiendem" wenn vom Seienden als Seiendem) die Rede ist.38 In eben dieser eigentlichen Bedeutung („etwas wird aus Nichtseiendem als Nichtseiendes") haben die Eleaten Aristoteles zufolge diesen Satz verstanden, was sie zur Ansicht führte, daß ein Werden aus Nichtseiendem unmöglich sei. Aristoteles legt hier noch nicht dar, wie der Satz „etwas wird aus Nichtseiendem" in seiner uneigentlichen Bedeutung zu verstehen ist, so daß ein Werden aus Nichtseiendem möglich wird.39 Demgegenüber sind andere Interpreten der Ansicht, daß Aristoteles hier mit dem ,,δήλον δτι και τό έκ μή οντος γίγνεσθαι τοΰτο σημαίνει, τό fj μή δν" bereits eine Lösung der eleatischen Aporie darlegt, insofern sie diesen Satz in dem Sinne verstehen, daß klar sei, daß auch das Werden aus Nichtseiendem dies bedeute: aus etwas, insofern es nichtseiend ist. Dieses Hineinlesen des unscheinbaren Wortes „etwas", durch das der Sinn des Gesagten verkehrt wird, findet sich z.B. in folgenden Übersetzungen und Kommentaren: Und da unsere Sätze, der Arzt tue das und das, ihm widerfahre das und das, aus dem Arzt werde das und das, nur dann im volleigentlichen Sinne Sätze über den Arzt sind, wenn der Arzt das, was er tut und erleidet, in seiner Bestimmtheit als Arzt tut, erleidet und wird (liegt es in all den Sätzen über das Seiende und Nichtseiende, die die Alten so verwirrt haben, nicht anders, vielmehr) meint auch die Wendung, etwas werde aus Nichtseiendem, nichts anderes als das M o m e n t des Nichtseins an demjenigen, aus dem es wird. (Wagner, 1967: 27 f.) Wenn man also den wirklichen Sinn von δήλον δτι ... ή μή öv (9/10) klären will, muß man so fragen: Was besagt die Charakterisierung dessen, woraus etwas werden soll, als μή öv? Jedenfalls besagt sie nur ein M o m e n t an seiner Gesamtbestimmtheit, und zwar das für den Prozeß entscheidende - wir wissen es aus c. 5. [...] Darum heißt der Satz: Die Wendung, etwas werde aus Nichtseiendem, bedeutet: es wird aus dem, woraus es wird, insofern dieses ein Nichtseiendes ist; oder kürzer: Die Wendung meint das Moment des Nichtseins am Gegenstand. Sie meint die στέρησις (vgl. b l 5 ) : [...]. (Wagner, 1967: 438 f.) So clearly to say that something comes to be out of what is not, is to say that it does so out of what is not, as something which is not. (Charlton, 1970: 19) [...], so muß natürlich auch jenes Werden aus dem Nichtseienden diese Bedeutung haben, also aus etwas, sofern es noch nicht ist. (Gohlke, 1956: 54)
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In einigen Handschriften (FJV) findet sich in 190b9 auch ein „καν" vor „τοΰτο σημαίνει" eingefügt, wodurch hervorgehoben wird, daß klar sei, daß auch 'das Werden aus Nichtseiendem' ebenfalls dieses bedeutet: 'als Nichtseiendes'. Zu der von mir vorgeschlagenen Interpretation vgl. auch Loux (1992: 294-302), Ross (1936: 347: „[...], we say most properly that a thing comes into being from not-being when it comes from not-being qua not-being") und Wicksteed/Cornford (1980: 86/87): „And so, just as strange conceptions might be formed as to what a physician could or could not do or suffer or become, if we are always thinking of him in his primary and direct capacity as a physician, but applied our conclusions to him in all his actual or possible capacities, so, obviously, if we always argue from the non-existent qua non-existent, but apply our conclusions to the incidentally non-existent as well, we shall fall into analogous errors."
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger' [...], so ist klar, daß auch das 'nicht aus Seiendem werden' die Bedeutung des 'insofern es ein Nicht-seiendes ist' hat. (Prantl, 1854: 47) [...]; it is clear that also 'to become something from nonbeing' means this, namely, to become something qua not-being. (Apostle, 1969: 22)
Während in 190b9-10 der hier vorgelegten Interpretation zufolge gesagt wird, daß klar sei, daß auch „aus Nichtseiendem werden" seiner eigentlichen Bedeutung zufolge „aus Nichtseiendem als Nichtseiendes" meint, wird den angeführten Übersetzungen zufolge in 190b9-10 gesagt, daß klar sei, daß auch „aus Nichtseiendem werden" in seiner eigentlichen Bedeutung „aus etwas [d.h. aus einem Seienden] als Nichtseiendes" meint. Nun ist von diesem „etwas" im Text jedoch keine Rede. Zwar ist es richtig, daß mit der Bestimmung des Nichtseienden als „etwas, insofern es nichtseiend ist" die von den Eleaten skizzierten Probleme verschwinden, doch kann in 190b9-10 vom Nichtseienden als „etwas, insofern es nichtseiend ist" aus folgendem Grunde noch keine Rede sein. Denn wäre hier vom Nichtseienden als „etwas, insofern es nichtseiend ist" die Rede, so würde der Schluß wie folgt lauten: „Weil die Arztsätze in ihrer eigentlichen Bedeutung dann gesagt werden, wenn vom Arzt als Arzt die Rede ist, so ist klar, daß auch 'aus Nichtseiendem werden' in seiner eigentlichen Bedeutung gesagt wird, wenn von etwas, insofern es nichtseiend ist, die Rede ist." Hier wird jedoch einerseits von einer eigentlichen Bedeutung des Arztes im Sinne von „der Arzt als Arzt" („x als x") und andererseits von einer eigentlichen Bedeutung des Nichtseienden im Sinne von „etwas (d.h. Seiendes) als Nichtseiendes" gesprochen. Damit aber die eigentliche Bedeutung der Arztsätze eine Begründung für die eigentliche Bedeutung des Nichtseienden darstellen kann, muß auch in bezug auf das Nichtseiende dessen eigentliche Bedeutung lauten Nichtseiendes als Nichtseiendes" („nicht-y als nicht-/') und nicht „etwas (Seiendes) als Nichtseiendes". Aus dieser unterschiedlichen Interpretation des Ausdrucks ,,τό η μή öv", den ich mit „Nichtseiendes als Nichtseiendes" interpretiere, andere jedoch im Sinne von „etwas (Seiendes) als Nichtseiendes" verstehen, ergibt sich auch eine unterschiedliche Interpretation im Hinblick auf die Bedeutung von „eigentlicher und uneigentlicher Redeweise". Während Aristoteles in 190b6-10 meiner Lesart zufolge darauf hinweist, daß die Eleaten das „Werden aus einem Nichtseienden" in seiner eigentlichen Bedeutung als „Werden aus Nichtseiendem als Nichtseiendes" verstanden und zu Recht als unmöglich betrachteten, wobei sie jedoch die uneigentliche Bedeutung des „Werdens aus Nichtseiendem" - nämlich das „Werden aus einem Nichtseienden nicht als Nichtseiendes" - übersahen, der zufolge ein „Werden aus Nichtseiendem" möglich ist, würde Aristoteles den oben angeführten Übersetzungen zufolge in 190b6-10 letztlich darauf hinweisen, daß die Eleaten die eigentliche Bedeutung des „Werdens aus einem Nichtseienden" - das „Werden aus etwas, insofern es nichtseiend" - übersehen haben. Da es naheliegt, daß Aristoteles, wenn er von einer „eigentlichen Bedeutung" spricht, damit zum Ausdruck bringen will, daß sie seine eigene und die richtige Bedeutung sei, wird nun auch verständlich, warum einige Interpreten zu der Ansicht gelangt sind, Aristoteles meine mit der eigentlichen Bedeutung von „etwas wird aus Nichtsei-
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endem", daß etwas aus etwas, insofern es nichtseiend ist, wird, und daß die Eleaten eben diese eigentliche Bedeutung übersehen hätten. In 190b6-10 verhält es sich jedoch genau umgekehrt: Aristoteles will darauf hinweisen, daß die eigentliche und naheliegende Bedeutung in bezug auf das Werden aus einem Nichtseienden zu einem falschen Satz führt, und daß gerade darin der Grund zu sehen ist, warum die eleatische Aporie einen so großen Einfluß auf die Nachfolger ausüben konnte. Gerade weil mit der eigentlichen Bedeutung des „Werdens aus einem Nichtseienden" das „Werden aus einem Nichtseienden als Nichtseiendes" gemeint ist, das auch Aristoteles als unmöglich betrachtet, konnte die eleatische Aporie eine so große Überzeugungskraft gewinnen. Denn man übersah, daß das „Werden aus einem Nichtseienden" nur in seiner uneigentlichen und nicht naheliegenden Bedeutung einen wahren Satz ergibt. Jene machten diesen Unterschied nicht, gerieten vom Wege ab, und durch diese Unkenntnis vermehrten sie [den Irrtum] so sehr, daß sie schließlich meinten, nichts werde [μηθέν ο'ίεσθαι γίγνεσθαι] und es gäbe auch kein Anderes [μηδ' είναι των άλλων] [außer dem Seienden selbst], und vielmehr das gesamte Werden aufhoben [άνελεΐν πάσαν την γένεσιν], (1.8, 191bl0-13)
Aristoteles weist darauf hin, daß die Eleaten (vgl. ,,έκεΐνοι"), die das „Werden aus Nichtseiendem" einzig in seiner eigentlichen Bedeutung als „Werden aus Nichtseiendem als Nichtseiendes" verstanden, die Unterscheidung zwischen „etwas als dieses etwas" (eigentliche Bedeutung) und „etwas nicht als dieses etwas" (uneigentliche Bedeutung) nicht gemacht haben. Dies führte sie schließlich dazu, jegliche Art von Werdeprozessen aufzuheben. Auch wenn hier von den Eleaten indirekt gesagt wird, daß sie das Nichtseiende als Nichtseiendes verstanden haben, so ist damit jedoch nicht gemeint, daß die Eleaten selbst bereits das Wort „als" zur Unterscheidung der Hinsichten in bezug auf das Nichtseiende verwendet haben. Denn wenn sie über das den Aspekt der Betrachtung differenzierende Wort „als" im Hinblick auf das Nichtseiende verfügt hätten, so wären sie leicht zu der Ansicht gelangt, daß etwas nicht nur als dieses etwas, sondern auch nicht als dieses etwas bzw. als ein anderes etwas betrachtet werden kann, so daß sie erst gar nicht in ihre Aporie gelangt wären. Wenn hier also von den Eleaten indirekt gesagt wird, daß sie das Nichtseiende als Nichtseiendes verstanden haben, so ist damit gemeint, daß sie aus aristotelischer Sicht das Nichtseiende als Nichtseiendes verstanden haben. Da die Eleaten, wie in den Kapiteln 1.2 und 1.3 dargelegt wurde, der Überzeugung waren, daß ein jedes nur in einfacher und an-sich-zukommender Bedeutung ausgesagt werden kann, betrachteten sie ihrem Selbstverständnis zufolge ein etwas genaugenommen weder als dieses etwas noch nicht als dieses etwas·, ihrem Selbstverständnis zufolge betrachteten sie nur ein etwas. Erst aus aristotelischer Sicht kann die eleatische Betrachtung des 'etwas' als eine Betrachtung des 'etwas als dieses etwas' interpretiert werden. Der Grund, warum die Eleaten diese Unterscheidung zwischen „etwas als dieses etwas" und „etwas nicht als dieses etwas" nicht gemacht haben, besteht darin, daß diese Differenzierung die grundlegende Differenz von 'Ding' und 'Eigenschaft' voraussetzt, die ihnen unbe-
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kannt war. Für die Eleaten bedeutet die Rede von „etwas nicht als dieses etwas" vielmehr eine Verletzung des Principium contradictionis, ist es ihrer Ansicht zufolge doch unmöglich, vom Seienden überhaupt etwas anderes als 'seiend' und das in diesem Begriff implizit Enthaltene zu sagen, so daß sie schließlich zur Ansicht gelangten, es gäbe nur das Seiende selbst (vgl. „μόνον αύτό τό δν": 191a33) und kein Anderes (vgl. ,,μηδ' είναι των άλλων": 191bl2). Es sei an dieser Stelle auch daraufhingewiesen, daß Aristoteles in der Unterscheidung von „etwas als dieses etwas" und „etwas nicht als dieses etwas" nicht nur die Möglichkeit sieht, sinnvoll von einem „Werden aus Nichtseiendem" bzw. von einem „Werden aus Seiendem" zu sprechen, sondern er sieht in dieser Unterscheidung auch die Möglichkeit der Existenz einer Physik als Wissenschaft begründet, insofern diese - im Gegensatz zur Metaphysik, die das Seiende als Seiendes (τό δ ν ή öv: vgl. Met. IV. 1, 1003a21; VI.l) betrachtet - das Seiende als Bewegtes (τό öv η κινουμένον) bzw. als Bewegbares (δν δ έστι δυνατόν κινεΐσθαι: Met. VI.l, 1025b27) zum Gegenstand hat. 40 Im folgenden weist Aristoteles nun darauf hin, daß die Eleaten einerseits zwar in gewisser Weise Recht haben, wenn sie sagen, daß aus Nichtseiendem nichts werden kann - dies betrifft die eigentliche Bedeutung „etwas wird aus Nichtseiendem als Nichtseiendes" -, daß sie jedoch andererseits übersehen haben, daß in einer anderen - uneigentlichen - Bedeutung sehr wohl etwas aus Nichtseiendem werden kann: Wir selbst hingegen sagen ja auch, daß nichts aus Nichtseiendem schlechthin wird [γίγνεσθαι μεν μηθέν απλώς έκ μή δντος], allerdings [betonen wir], daß auf gewisse Weise sehr wohl etwas aus Nichtseiendem wird [πώς μέντοι γ ί γ ν ε σ θ α ι έκ μή δντος], 41 z.B. in akzidenteller Bedeutung [οίον κατά συμβεβηκός] (denn aus der Privation [έκ γαρ της στερήσεως], welche an sich nichtseiend [δ έστι καθ' αυτό μή δν] und nicht ein schon vorher darin Enthaltenes [ουκ ένυπάρχοντος] ist, wird etwas [γίγνεται τι]. Dies aber ist es, was verwundert [θαυμάζεται] und das Werden von etwas aus Nichtseiendem als unmöglich erscheinen läßt.) (1.8, 191bl 3-17)
Die in diesem Abschnitt implizit enthaltene Gegenüberstellung von 'eigentlicher' und 'uneigentlicher' Bedeutung des „Werdens aus Nichtseiendem" wird hier mit Hilfe der Begriffe ,,άπλώς" (schlechthin) und „πώς" (irgendwie) zum Ausdruck gebracht. Die Intention dieses Abschnitts besteht darin, daß AristoteVgl. in diesem Zusammenhang auch Jacobi (1982: 100): „Das sprachliche Instrument, mit dessen Hilfe die Abgrenzung [der Wissenschaften] durchgeführt wird, sind durch die Partikel »als« eingeleitete Phrasen. Das Konnektiv »als« bzw. »nicht als«, das Aristoteles nicht nur - wie einige Philosophen vor ihm und fast alle nach ihm - bemerkenswert oft gebraucht, sondern dessen Verwendungsregeln er auch erforscht hat, dient dazu, den Gesichtspunkt zu bezeichnen, unter dem über etwas gesprochen wird (z.B. »der Mensch als Mensch«; »dieser Baum, aber nicht als lebender Baum, sondern als geeignetes Holz für...«; »ich schätze ihn als Freund, aber nicht als Arzt«)." Das „πώς" ist eine Konjektur von Comford. In den Handschriften finden sich hier die Ausdrücke ,,οπως" (Ε) oder ,,δμως" (Λ). Ross bemerkt in diesem Zusammenhang (1936: 495): „Bekker's δμως μέντοι is not impossible; cf. PI. Crilo 54 d 7, and όμως γε μέντοι Aristoph. Ran. 61. But is does not seem to be an Aristotelian phrase, and there can be no serious doubt that Comford is right in restoring πώς μέντοι. E's δπως and the vulgate ομιος represent successive stages of corruption."
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les den Eleaten einerseits zugesteht, daß aus einem schlechthin Nichtseienden (bzw. aus einem Nichtseienden als Nichtseiendes) nichts werden kann, während er andererseits darauf hinweist, daß aus einem Nichtseienden in gewisser Weise doch etwas werden kann. Mit anderen Worten: Zwar kann auch nach Ansicht von Aristoteles aus einem Nichtseienden im absoluten Sinne verstanden nichts werden, wohl aber kann aus einem Nichtseienden im akzidentellen Sinne verstanden (κατά συμβεβηκός) etwas werden. Die Behauptung, daß etwas aus Nichtseiendem im akzidentellen Sinne werden kann, begründet Aristoteles mit dem Hinweis auf die στέρησις. Mit dem Werden aus der στέρησις, die für sich betrachtet insofern ein Ansich-Nichtseiendes (καθ' αυτό μή öv) darstellt, als sie den bloßen Mangel bzw. die bloße Abwesenheit (απουσία) einer bestimmten Form bedeutet, liegt zunächst ein Werden aus einem Nichtseienden - und zwar aus einem An-sichNichtseienden - vor. Wir sagen ja „ein Weißes wird aus einem Nichtweißen" und „Statue wird aus Nicht-Statue" und betrachten dabei diese Sätze als sinnvolle Beschreibungen eines Werdens. Jedoch, auch wenn das Werden aus der στέρησις ein Werden aus einem An-sich-Nichtseienden darstellt, so ist dies doch kein Werden aus nichts, denn das 'An-sich-Seiende' ist vom 'Nichts' (bzw. vom 'schlechthin Nichtseienden') insofern zu unterscheiden,42 als von einer 'στέρησις' selbst nur in bezug auf etwas - nämlich in bezug auf ein Zugrundeliegendes, an dem sie ein συμβεβηκός darstellt (vgl. 1.7, 190b27) - gesprochen werden kann.43 Mit anderen Worten: Das Werden aus der στέρησις ist kein Werden aus einem 'Nichtseienden insofern es nichtseiend ist', sondern es ist ein Werden aus einem 'Nichtseienden insofern es an einem zugrundeliegenden Seienden ist'; und zwar ist es ein Akzidens (συμβεβηκός) an diesem Seienden, weshalb Aristoteles auch von einem „Werden aus Nichtseiendem im akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός)" spricht. Gerade weil die Unbildung (als στέρησις der Bildung) nur ein συμβεβηκός am Menschen darstellt, ist es dem Menschen überhaupt möglich, aus einem Ungebildeten zu einem Gebildeten zu werden und dabei dennoch Mensch zu bleiben. Denn wäre die Unbildung kein συμβεβηκός am Menschen, so käme sie ihm an sich zu, und folglich könnte ein Mensch nicht gebildet werden und dabei Mensch bleiben. Mit der Bestimmung der στέρησις als ein 'An-sich-Nichtseiendes' (καθ' αυτό μή öv) und 'Nicht-darin-Enthaltenes' (vgl. ,,ούκ ένυπάρχοντος") will sich Aristoteles zugleich von der Lösung der Naturphilosophen abgrenzen, von denen es in Kapitel 1.4 (187a32-37) hieß, daß sie einerseits der Ansicht waren, daß aus Nichtseiendem nichts werden könne, während sie andererseits das Wer42
Vgl. auch die Bedeutungsunterscheidungen des „μή öv" in Met. XII.2, 1069b28 und Met. X1V.2, 1089al6. Bröcker (41974: 81 ff.) spricht in bezug auf das Kapitel 1.8 von folgender dreifacher Unterscheidung des Nichtseienden: „Er [Aristoteles] unterscheidet 1. das Nichts schlechthin [μή öv απλώς. 191 bl4], 2. das an sich Nichtseiende [μή öv καθ' αυτό], als welches er die Beraubung [στέρησις. 191bl5] bestimmt, 3. das beiläufig Nichtseiende [μή öv κατά συμβεβηκός. 19lb 14], als welches er die Materie [ύλη] bestimmt." Vgl. O'Donoghue (1953: 27 f.): „There is at the source of coming to be a certain 'nothingness', for privation taken by itself is non-being and privation is one of the principles or sources of coming to be, but this 'nothingness' is merely at the source, it is not itself the source."
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den nicht aufheben wollten, so daß sie schließlich zur Ansicht gelangten, daß etwas nur aus Seiendem als 'Darin-Enthaltenem' werden könne (vgl. ,,έξ δντων μεν και ένυπαρχόντων": 187a36-37). Demgegenüber weist Aristoteles nun daraufhin, daß der Begriff der στέρησις ein Werden aus einem 'An-sich-Nichtseienden' und 'Nicht-darin-Enthaltenen' möglich macht. Die Tatsache, daß die στέρησις für sich selbst betrachtet ein 'An-sich-Nichtseiendes' darstellt, aus dem etwas wird, läßt jedoch zunächst erstaunen (vgl. „θαυμάζεται": 19lb 16) und das Werden von etwas aus einem Nichtseienden als unmöglich erscheinen. Bedenkt man, daß Aristoteles in Met. 1.2, 982bl2-13 und 983al2-17 im Rückgriff auf Piaton (Theaitet 155d) das 'Staunen' als den Anfang der Philosophie bestimmt, und bedenkt man zudem, daß er die Vorgänger in 191a24-25 als „erste, die über Philosophie gehandelt haben," bezeichnet hat, so deutet das „θαυμάζεται" in 191bl6 daraufhin, daß die ersten, die über Philosophie gehandelt haben, in diesem Erstaunen Aristoteles zufolge eigentlich den Anfang der Philosophie hätten ergreifen können, diesen jedoch verfehlten und auf Abwege gerieten.
8.2.2 Das Werden aus Seiendem (191bl7-27) Auf die gleiche Weise aber [sagen wir], daß auch aus Seiendem nichts wird, und daß auch nicht das Seiende wird [ούδ' έξ οντος ούδέ τό δν γίγνεσθαι], außer im akzidentellen Sinne [πλην κατά συμβεβηκός], (1.8, 19lb 17-18) In Analogie zum Werden aus Nichtseiendem, in bezug auf das Aristoteles darauf hingewiesen hat, daß in einem bestimmten - nämlich akzidentellen - Sinne etwas aus Nichtseiendem werden kann, lautet die These bezüglich des Werdens aus Seiendem (bzw. bezüglich des Werdens des Seienden), daß dies ebenfalls nur in einem akzidentellen Sinne möglich ist. Der Satz „aus Seiendem wird nichts und das Seiende wird nicht, außer im akzidentellen Sinne [πλην κατά συμβεβηκός]" besagt, daß ein Werden aus Seiendem (bzw. ein Werden des Seienden) nur in einem akzidentellen Sinne möglich ist. In bezug auf die Möglichkeit des Werdens eines Seienden (bzw. des Werdens aus einem Seienden) gilt es für Aristoteles nun zweierlei zu zeigen: Einerseits muß er entgegen der Ansicht der Eleaten zeigen, daß aus Seiendem überhaupt etwas werden kann, und andererseits muß er entgegen der Ansicht von Anaxagoras zeigen, daß aus Seiendem etwas nur in einem akzidentellen Sinne werden kann. Denn während die Eleaten der Überzeugung waren, daß aus Seiendem nichts werden kann, war Anaxagoras, wie das Kapitel 1.4 gezeigt hat, der Ansicht, daß durch Aussonderung aus Seiendem als Seiendes (bzw. als 'DarinEnthaltenes') etwas wird. Aristoteles veranschaulicht die Möglichkeit des Werdens aus Seiendem im akzidentellen Sinne wie folgt: So [d.h. in einem akzidentellen Sinne] kann aber auch dies [das Seiende] werden, [nämlich] auf dieselbe Weise wie wenn z.B. ein Lebewesen aus einem Lebewesen wird [έκ ζφου ζωον γίγνοιτο] und ein bestimmtes Lebewesen aus einem bestimm-
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ten Lebewesen [έκ τινός ζφου τι ζώον]. Wie z.B. wenn ein Hund aus einem Pferd wird [οίον εί κ ΰ ω ν έξ ίππου γίγνοιτο], Denn der Hund wird nicht nur aus einem bestimmten Lebewesen [ού μόνον έ κ τινός ζφου: d.h. Pferd], sondern auch aus [der Gattung] 'Lebewesen' [έκ ζφου], aber nicht, insofern es [die Gattung] 'Lebewesen' ist [άλλ' ούχ fj ζωον]; denn dies trifft ja bereits zu [υπάρχει γαρ ήδη τοΰτο]. Wenn aber etwas nicht im akzidentell zukommenden Sinn [μή κ α τ ά συμβεβηκός] 'Lebewesen' werden soll, dann kann das nicht aus 'Lebewesen' sein; und wenn etwas 'seiend' werden soll, dann nicht aus 'Seiendem'; aber auch nicht aus Nichtseiendem. Denn es wurde von uns j a gesagt, daß »aus Nichtseiendem« [in seiner eigentlichen Bedeutung] dies bezeichnet: »insofern es nichtseiend ist«. Im übrigen aber heben wir auch nicht [den Satz] auf, daß alles entweder ist oder nicht ist. (1.8, 191bl8-27)
Das Ziel dieser Argumentation besteht darin, daß in Analogie zum Nichtseienden (vgl. „ωσαύτως": 191bl7) gezeigt werden soll, daß auch aus Seiendem etwas werden kann, nämlich in einem akzidentellen Sinne. Dies soll mit Hilfe des Beispiels des Werdens eines bestimmten Lebewesens (Hund) aus einem bestimmten Lebewesen (Pferd) verdeutlicht werden: Ein Seiendes wird aus einem Seienden in derselben Weise wie ein Hund aus einem Pferd wird. Viele Interpreten haben in dieser Argumentation insofern Probleme gesehen,44 als mit dem Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd doch ein recht ungewöhnliches Beispiel gewählt wird. Nun ist dieses Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd (vgl. ,,εί κύων έξ ϊππου γίγνοιτο": b20-21), das sich sowohl in den Handschriften als auch bei den antiken Kommentatoren findet, aufgrund seiner Ungewöhnlichkeit von Laas dahingehend korrigiert worden, daß er statt ,,εϊ κύων έξ ϊππου γίγνοιτο" vielmehr ,,εϊ κύων έξ ϊππου γίγνοιτο" liest, so daß sich statt des ungewöhnlichen Beispiels des Werdens eines Hundes aus einem Pferd die gewöhnlichen Beispiele des Werdens eines Hundes aus einem Hund und des Werdens eines Pferdes aus einem Pferd ergeben. Dieser Konjektur von Laas haben sich unter anderem Ross (1936: 495), Zekl (1987: 246, Fn.89) und Gohlke (1956: 55) angeschlossen. Obgleich Charlton (1970: 80 f.) der Ansicht ist, daß das Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd die in 191 b 17-27 dargelegte Argumentation besser verdeutlichen kann, übernimmt auch er die Konjektur von Laas, weil ihm das Beispiel als zu ungewöhnlich erscheint 45 Gegen die Konjektur von Laas sprechen sich unter anderem folgende Interpreten aus: Apostle (1969: 23 und 201, Fn.5), Prantl (1854: 46 f.), Har44
Vgl. Solmsen (1960: 76, Fn.8): „The argument which he uses is, however, somewhat obscure (191 b 17-27)." Charlton (1970: 80 f.): „Ross's insertion '' in b20-l can be defended on the ground that the MSS. reading 'for instance dog out of horse' is too weird to be correct. This ground seems to me sufficiently strong; however, if we retain the MSS. reading, and suppose Aristotle prepared to contemplate the possibility of transubstantial change, we can get a smoother sense for the whole passage: 'just as if an animal were transformed into an animal, and an animal of a particular sort into an animal of a particular sort, e.g. a horse into a dog; then the dog would come to be, not only from an animal of a particular sort, but from an animal. It is not, however, as an animal that the dog would come to be, for it is that already (sc. in its equine days). If, then, a thing is to come to be an animal in the strict sense, it must not come to be out of an animal, and therefore if something is to come to be a thing which is, it must not come to be out of a thing which is.'"
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
die/Gaye (1930), Wicksteed/Cornford (1980: 88 f.), O'Donoghue (1953: 28), Waterlow (1982: 17, Fn.13), Loux (1992: 311 f.) und Wagner (1967: 440). Wagner bemerkt hierzu: Aber zunächst zum οίον-Ausdruck (b20/21): < > stammt von Laas, Ross hat es übernommen; es gibt dafür keinen Anhaltspunkt in den Handschriften oder bei den alten Erklärern. Was Ar. für seinen Beweis zunächst braucht, ist ein Prozeß, in welchem der Gegenstand seine Wesensbestimmtheit im Rahmen eines und desselben γ έ ν ο ς wechselt. Für diesen logischen Zweck taugt eine bloße Fiktion so gut wie ein real existierendes Beispiel: »Nehmen wir an, aus einem Pferde würde ein Hund!« Denn nur auf das logische Verhältnis, das bei einem solchen Artwechsel vorliegen muß, kommt es an: Ein Pferd ist Lebewesen, ein Hund ist Lebewesen. Wenn aus dem Pferd ein Hund würde, würde also aus einem ζωόν τι (= ίππος) ein ζωόν τι (= κύων), aus einem ζωον also ein ζωον. (Wagner, 1967: 440)
Da die Argumentation in 191 b21 -23 eher dem Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd als dem Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Hund entspricht, gehe auch ich davon aus, daß hier das Werden eines Hundes aus einem Pferd gemeint ist. Es stellt sich nun aber die Frage, in welchem Sinne dieses „Werden eines Hundes aus einem Pferd" zu verstehen ist. Meint Aristoteles hier, daß (a) das Pferd in dem Sinne zu einem Hund wird, daß dasjenige, was vor dem Werdeprozeß ein Pferd war, nach dem Werdeprozeß ein Hund ist (Substanzwechsel), oder meint er, daß (b) das Pferd einen Hund zeugt? Während sich bei (a) das Pferd selbst verändert und nach dem Werdeprozeß kein Pferd mehr ist, bleibt das Pferd bei (b) auch nach dem Werdeprozeß ein Pferd. So erstaunlich bereits die Zeugung eines Hundes aus einem Pferd ist, um so erstaunlicher ist jedoch die substantielle Veränderung eines konkreten Pferdes in einen konkreten Hund. Nimmt man nun - wie Ross und all die Interpreten, die der Konjektur von Laas zustimmen, dies tun - an, daß hier von den Beispielen des Werdens eines Hundes aus einem Hund und des Werdens eines Pferdes aus einem Pferd die Rede ist, so kann mit dem Werden eines Hundes aus einem Hund offenkundig nur die Zeugung eines Hundes aus einem anderen Hund, nicht aber das Werden eines Hundes zu einem anderen Hund gemeint sein, da in bezug auf das Werden eines Hundes zu einem Hund ja nicht von einem „Werden" gesprochen werden kann. In diesem Punkte sind sich diejenigen Interpreten, die vom Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Hund ausgehen, einig. Von einer Bedeutung des „Werdens aus" als „Gezeugtwerden aus", der zufolge sich das „aus" auf eine Wirkursache bezieht, war im bisherigen Verlauf des Textes jedoch keine Rede. Vielmehr zeichneten sich solche Ausdrücke wie „etwas wird etwas" und „aus etwas wird etwas" gerade dadurch aus, daß auf beiden Seiten des 'Werdens' jeweils Verschiedenes stand. Hierin liegt ja auch der Grund, warum die Eleaten der Ansicht sind, daß ein Seiendes nicht aus einem Seienden werden kann, da das Seiende ja schon (Seiendes) ist.46 Bezog sich der Ausdruck „aus" bei dem 46
Aristoteles erinnert an diese eleatische Überlegung des „είναι γάρ ήδη" (191 a30) mit der parallelen Bemerkung „υπάρχει γάρ ήδη τοϋτο" in 191b22-23.
Aristoteles' Lösung der eleatischen Aporie
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„Werden aus" bisher auf das ϋ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν im Sinne einer causa materialis als dasjenige, aus dem etwas wird, so b e z ö g e sich beim Werden eines Hundes aus einem Hund der Ausdruck „aus" auf die causa efficiens als dasjenige, wodurch etwas wird. V o n einer causa efficiens ist in Physik I bisher j e d o c h keine Rede gewesen. Wenn Aristoteles sie hier hätte thematisieren wollen, so darf man wohl davon ausgehen, daß er sie deutlicher und sorgfältiger eingeführt hätte. 47 Folglich ist hier mit dem „Werden aus" wohl kaum das „Gezeugtwerden aus" gemeint, sondern es ist in dem bisher verwendeten Sinne eines Wechsels von etwas zu etwas zu verstehen, der es erforderlich macht, daß auf beiden Seiten der Werderelation Verschiedenes stehen muß, da sonst von einem „Werden" keine Rede sein kann. Zudem hätten wir es bezüglich des Gezeugtwerdens eines Hundes aus einem Hund nicht mit einem Werden κ α τ ά σ υ μ β ε β η κ ό ς zu tun - fur das die in 191b 18-23 genannten Beispiele j e d o c h stehen sollen -, sondern vielmehr mit einem Werden καθ' α υ τ ό , insofern es einem Hund j a eigentümlich ist, als Hund einen Hund zu zeugen. 4 8 Loux bemerkt zu der von Ross vertretenen Textkorrektur folgendes: However, if we endorse Ross' emendation of the text and we assume that Aristotle is not concerned with any kind of intraspecific transubstantiation we seem compelled to hold that, in the discussion of (a) [unter »(a)« versteht Loux: »That which is comes to be from that which is«], the sense of 'from' shifts and Aristotle's focus is now on efficient causes. But, first, Aristotle has not prepared us for the alleged shift of senses. He has not so much as mentioned that 'from' can be used to signal reference to efficient causes. Indeed, efficient causes have not entered into any of the discussions that precede Aristotle's treatment of (a). Second, it is difficult to see how an interpretation of (a) as a claim about efficient causes could yield a claim that is theoretically problematic in the way (a) has been claimed to be. And, finally, Ross is just wrong to think that an example of transubstantiation is irrelevant to the discussion of what I have called (a). The example of a horse being transformed into a dog fits the context perfectly. Aristotle is not suggesting that he takes the sort of transubstantiation he mentions to represent a genuine possibility. He is concerned rather with the kind of characterization that would be appropriate or proper were the counterfactual situation he mentions to be realized. What he wants to deny is that (11) An animal comes to be an animal would provide us a perspicuous characterization of the change. Were the transformation mentioned to occur, (11) would surely be true, but it would not be the most perspicuous way to represent the change. The difficulty with (11) is that it fails to disVgl. in diesem Zusammenhang auch O'Donoghue (1953: 29): „We must be careful not to demand any more from the solution than that it should provide an escape from the dilemma according to the terms in which it was posed. It is sometimes forgotten that the Eleatic dilemma has to do with the problem of material causality only, the »coming from« of physical things. Do these arise out of being or out of nothingness? Aristotle points out in effect that a proper conception of the substratum shows the problem to be a false one. But this solution does not solve the problem of coming to be in all its aspects, for there is also the question of efficient and final causality, and the explanation of how the substrate receives form and actuality." Nehmen wir das Beispiel der Zeugung eines Menschen aus einem Menschen, von dem Aristoteles nicht nur in der Form „ein Mensch zeugt einen Menschen" („άνθρωπος γαρ ανθρωπον γεννφ": Phys. II.3, 194b 13 und II.7, 198a26-27), sondern auch in der Form „ein Mensch wird aus einem Menschen" (,,γίγνεται άνθρωπος έξ άνθρωπου": II. 1, 193b8 und 12) spricht, so gilt hier doch, daß ein Mensch gerade als Mensch einen Menschen zeugt.
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Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger' play Aristotle's counterfactual coming to be in terms that show it to be a coming to be. [...] While the counterfactual transformation does verify (11), that cannot be the end of the matter. If (11) is to provide a true characterization of change, then it must be possible to point to some other characterization of that coming to be, a characterization which, unlike (11), shows how the world is different because of the change it reports; and in the case Aristotle describes, (12) A horse comes to be a dog provides the required characterization. If (11) provides a true characterization of the change Aristotle mentions, it is only because (12) does. (11) is, of course, a generalization of (12); and since (12) is a perspicuous representation of Aristotle's counterfactual coming to be, we would have expected (11) to be as well. Aristotle is telling us, however, that just because particular characterizations of a change are perspicuous, it does not follow that proper generalizations of those characterizations will be perspicuous as well. (Loux, 1992: 311 f.)
Obgleich ich der Analyse von Loux zustimme, stellt sich doch die Frage, warum Aristoteles nicht ein anderes Beispiel wählt, das einerseits weniger ungewöhnlich als das Werden eines Hundes aus einem Pferd ist, und das andererseits seine Intention ebensogut verdeutlicht. Hätte Aristoteles zur Verdeutlichung der Tatsache, daß aus Seiendem etwas nur im akzidentellen Sinne wird, nicht ebensogut das Beispiel des Werdens von Luft aus Wasser wählen können? Auf diese Frage gibt Loux keine Antwort. Und doch liegt in der Beantwortung dieser Frage vermutlich auch eine Antwort auf die von Loux gestellte Frage, warum Aristoteles überhaupt den Ausdruck „κατά συμβεβηκός" in bezug auf das Werden eines Seienden aus einem Seienden bzw. in bezug auf das Werden eines Lebewesens aus einem Lebewesen verwendet: But, then, why does Aristotle use the term 'κατά συμβεβηκός' in connection with (a) and (11)? The fact is that it is not easy to say. Both thematically and textually, the use o f ' κ α τ ά συμβεβηκός' in 191 b 17-25 is idiosyncratic. Characteristic Aristotelian themes about coincidental unity and predication provide a ready explanation for the application of the term to (b) [unter „(b)" versteht Loux: „That which is comes to be from that which is not"] and the characterizations it generalizes, but those themes are simply not relevant in the case of (a) and (11). In their case, it is misplaced generality rather than any form of coincidence that underlies the use of 'κατά συμβεβηκός'. (Loux, 1992: 314) Loux selbst findet keine Antwort auf die Frage, warum Aristoteles den Ausdruck „κατά συμβεβηκός" in bezug auf das Werden eines Seienden aus einem Seienden bzw. in bezug auf das Werden eines Lebewesens aus einem Lebewesen verwendet, und schließt diese Frage mit folgender Bemerkung ab: If challenged, he [Aristoteles] would, of course, concede that the use of 'κατά συμβεβηκός' in the case of (a) is something of an anomaly, but he would insist that the anomaly is no more threatening than the claim whose shortcomings the idiosyncratic use o f ' κ α τ ά συμβεβηκός' marks. (Loux, 1992: 317) Um also eine Antwort auf die Frage zu geben, warum Aristoteles den Ausdruck „κατά συμβεβηκός" in bezug auf das Werden eines Seienden aus einem Seienden verwendet, will ich mich zunächst mit der Frage auseinandersetzen, ob Aristoteles nicht ein besseres Beispiel hätte wählen können. Es wurde bereits darauf
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hingewiesen, daß es zunächst so scheint, als hätte Aristoteles seinen Gedanken ebensogut mit Hilfe des Beispiels des Werdens von Luft aus Wasser verdeutlichen können, wobei dieses Beispiel den Vorteil mit sich bringt, daß es im Gegensatz zum Werden eines Hundes aus einem Pferd einen nicht ungewöhnlichen Naturprozeß beschreibt. Wenn man bedenkt, daß die zur Veranschaulichung einer Theorie gewählten Beispiele nachvollziehbar sein sollen, und wenn man zudem bedenkt, daß Aristoteles vielleicht ein einleuchtenderes Beispiel hätte wählen können, so erweist sich Wagners Begründung (1967: 440) für die Wahl eines derart ungewöhnlichen Beispiels wie das Werden eines Hundes aus einem Pferd, der zufolge es nur auf das logische Verhältnis ankommt, als wenig befriedigend. Aristoteles verdeutlicht seinen Gedanken mit Hilfe des Beispiels des Werdens eines Hundes aus einem Pferd wie folgt: Wenn ein Hund aus einem Pferd wird, so gilt (1) Ein bestimmtes Lebewesen wird aus einem bestimmten Lebewesen,
insofern sowohl Hund als auch Pferd bestimmte Lebewesen sind; es gilt zudem (2) Ein Lebewesen wird aus einem Lebewesen,
insofern sowohl Hund als auch Pferd Lebewesen sind. Zwar ist die Beschreibung (2) als Beschreibung des Werdens eines Hundes aus einem Pferd wahr, doch beschreibt sie das Werden nicht im eigentlichen Sinne, insofern sich die Frage aufdrängt, inwiefern angesichts der Beschreibung (2) Uberhaupt von einem „Werden" gesprochen werden kann. Aus diesem Grunde fugt Aristoteles erläuternd hinzu, daß es zwar zutrifft, daß ein Hund aus einem bestimmten Lebewesen (nämlich aus Pferd) und somit aus Lebewesen wird, doch wird er nicht aus 'Lebewesen als Lebewesen', denn dies kommt ihm ja bereits zu. Nehmen wir nun das Beispiel des Werdens von Luft aus Wasser, so ergibt sich folgendes: Wenn Luft aus Wasser wird, so gilt (Γ) Ein bestimmter Stoff wird aus einem bestimmten Stoff, insofern sowohl Luft als auch Wasser bestimmte Stoffe sind; es gilt zudem (2') Ein Stoff wird aus einem Stoff,
insofern sowohl Luft als auch Wasser Stoffe sind. Zwar ist die Beschreibung (2') als Beschreibung des Werdens von Luft aus Wasser wahr, doch beschreibt sie das Werden nicht im eigentlichen Sinne, insofern sich die Frage aufdrängt, inwiefern angesichts der Beschreibung (2') überhaupt von einem „Werden" gesprochen werden kann. Aus diesem Grunde wäre auch hier erläuternd hinzuzufügen, daß Luft zwar aus einem Stoff (nämlich aus Wasser) wird, nicht jedoch aus einem Stoff als Stoff. Die Analogie macht deutlich, daß Aristoteles für die Darlegung seines Gedankens bezüglich des Werdens aus einem Seienden im akzidentellen Sinne, für das in einem analogen Sinne gilt, daß etwas zwar aus Seiendem wird, nicht jedoch aus Seiendem als Seiendes, sondern vielmehr aus
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Seiendem nicht als Seiendes, ebensogut das Beispiel von 'Luft aus Wasser' hätte wählen können. 49 Fragt man nun aber nach dem Grund, warum Aristoteles nicht dieses einleuchtendere Beispiel des Werdens von Luft aus Wasser gewählt hat, so ist dieser vermutlich in folgendem zu sehen: Die These der Argumentation in Kapitel 1.8, 1 9 l b l 8 , daß aus einem Seienden (bzw. daß das Seiende) nichts wird, außer im akzidentellen Sinne (vgl. ,,ούδ' έξ δντος ουδέ ΐ ό δν γίγνεσθαι, πλην κ α τ ά συμβεβηκός"), steht in einer auffallenden Parallele zur These in Kapitel 1.5, 188 a33-34, daß Beliebiges nicht aus Beliebigem wird, außer im akzidentellen Sinne (vgl. ,,ούδέ γ ί γ ν ε τ α ι ότιοΰν έξ ότουοΰν, άν μή τις λαμβάνη κατά συμβεβηκός"). Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Textstellen ist in den bisherigen Interpretationen - soweit ich sehen kann - übersehen worden. Aristoteles verdeutlicht die These, daß Beliebiges nicht aus Beliebigem werden kann, außer im akzidentellen Sinne, in Kapitel 1.5 durch das Beispiel des Werdens eines Weißen aus einem Gebildeten, das insofern nur im akzidentellen Sinne möglich ist, als eigentlich ein Weißes aus einem Nichtweißen wird, wobei 'gebildet' ein Akzidens an dem Nichtweißen darstellt. Berücksichtigt man dies, so ist die Beschreibung des Werdeprozesses eines Weißen aus einem Nichtweißen, das zudem auch gebildet ist, in Gestalt des Satzes „Weißes wird aus Gebildetem" zwar wahr, doch ist sie für Aristoteles keine eigentliche Beschreibung des Werdeprozesses. Mit diesen zwar wahren, nicht aber eigentlichen Beschreibungen eines Werdeprozesses haben wir es auch in 1.8, 191M7-23 in bezug auf „Seiendes wird aus Seiendem" und „Lebewesen wird aus Lebewesen" zu tun. In einer bestimmten Hinsicht ist nun auch 'Lebewesen' beim Werden eines Hundes aus einem Pferd ein Akzidens an 'Pferd'. Auch wenn das Pferd an sich ein Lebewesen ist - dies unterscheidet dieses Beispiel vom Nichtweißen, das in einem akzidentellen Sinne 'gebildet' ist -, so ist sein 'Lebewesensein' doch in bezug auf den hier vorliegenden Werdeprozeß insofern ein Akzidens, als das 'Lebewesensein' in bezug auf das Werden des Pferdes zu einem Hund in den Hintergrund tritt. Ebenso wie das Gebildete nicht als Gebildetes (sondern als Nichtweißes) ein Weißes wird, wird auch das Lebewesen nicht als Lebewesen (sondern als Nicht-Hund) ein Hund. Aristoteles scheint den Ausdruck „κατά συμβεβηκός", der fur gewöhnlich auf die sekundären Merkmale eines Seienden bezogen ist, in Physik Α auch in bezug auf diejenigen Momente zu verwenden, die für das Werden von etwas nur eine sekundäre Bedeutung haben. 50 Auch wenn nicht jedes 49
50
Charlton (1970: 81) hat bereits in bezug auf die 'Arztsätze' folgendes bemerkt: „Aristotle might have done better if, instead of giving a general account illustrated by the case of a doctor, he had considered the kind of specific case which had baffled physicists of the second group [...], the coming into existence of one element like fire or water out of another." Vgl. auch Fritsche (1986: 127): „Wenn Aristoteles in 188 a 34ff das 'Weiß' als beiherfallende Ursache des 'musisch-Werdens' bezeichnet, dann sagt er damit gegen die, die alles aus allem entstehen lassen wollen, daß das 'Weiß' hinsichtlich des 'musisch-Werden' überhaupt nicht Ursache oder Ursprung ist, weil es sowohl mit dem 'Musisch' als auch mit dem 'Nichtmusisch' zusammenbestehen kann und nicht durch Ekstasis Ursprung dieses Werdens ist." (Es sei allerdings in einem korrigierenden Sinne daraufhingewiesen, daß Aristoteles in 188 a 34ff nicht das 'Weiß' als beiherfallende Ursache des musisch-Werdens, sondern umgekehrt das 'Musisch' als beiherfallende Ursache des 'weiß-Werdens' bezeichnet ).
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'Werden in einem akzidentellen Sinne' (κατά συμβεβηκός) für ein 'Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen' stehen muß, so scheint Aristoteles jedoch umgekehrt, wie aus den Darlegungen in Kapitel 1.5 deutlich wurde, der Auffassung zu sein, daß jedes 'Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen' ein 'Werden im akzidentellen Sinne' (κατά συμβεβηκός) ist. Vor diesem Hintergrund kann nun auch insofern eine Antwort auf die von Loux gestellte Frage, warum Aristoteles den Ausdruck „κατά συμβεβηκός" in bezug auf das Werden eines Seienden aus einem Seienden (bzw. in bezug auf das Werden eines Lebewesens aus einem Lebewesen) verwendet, gegeben werden, als die Momente des 'Seienden' und des 'Lebewesens' hinsichtlich der dargelegten Werdeprozesse in den Hintergrund treten: „Aus einem Seienden, jedoch nicht als Seiendes, wird etwas"; „aus einem Lebewesen, jedoch nicht als Lebewesen, wird ein Hund". Gerade die Unbestimmtheit, die in der Aussage „ein Seiendes wird aus einem Seienden" liegt und die darin besteht, daß diese Aussage zwar für einen jeden Werdeprozeß zutrifft, wobei sie für einen jeden jedoch keine eigentliche Beschreibung des Werdens darstellt, macht deutlich, daß wir es bei der Beschreibung eines Werdeprozesses durch den Satz „Seiendes wird aus Seiendem" zunächst insofern mit dem Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen zu tun haben, als das 'Seiende' hier fur jedes Beliebige stehen kann. Die Tatsache, daß Seiendes aus Seiendem nur im akzidentellen Sinne wird (vgl. „πλην κατά συμβεβηκός": 19lb 18), läßt dieses Werden als parallel mit dem 'Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen' bzw. mit dem 'Werden eines jeden aus einem jeden' erscheinen, das für Aristoteles ebenfalls nur im akzidentellen Sinne möglich ist (vgl. ,,άν μή τις λαμβάνη κατά συμβεβηκός": 188 a34). Aus der Parallele zwischen 1.5, 188a33-34 und 1.8, 191bl8-19 wird nun auch verständlich, warum sich Aristoteles für das Beispiel des 'Werdens eines Hundes aus einem Pferd' anstelle des Beispiels des 'Werdens von Luft aus Wasser' entscheidet. Aristoteles will nämlich darlegen, daß wir es beim Werden eines Seienden aus einem Seienden letztlich mit dem Werden eines Beliebigen aus einem Beliebigen zu tun haben, für das dem Kapitel 1.5 zufolge gilt, daß es nur in einem akzidentellen Sinne möglich ist. Ein Seiendes wird Aristoteles zufolge in der Weise aus einem Seienden, wie ein Hund aus einem Pferd wird; es wird nicht in der Weise aus einem Seienden, wie Luft aus Wasser wird. Denn während das 'Werden von Luft aus Wasser' insofern nicht für einen beliebigen Werdeprozeß steht, als es eine dem Wasser eigentümliche Möglichkeit ist, zu Luft zu werden, repräsentiert das 'Werden eines Hundes aus einem Pferd' insofern einen beliebigen Werdeprozeß, als es keine dem Pferd eigentümliche Möglichkeit ist, zu einem Hund zu werden. Zwar ist die Beschreibung „Seiendes wird aus Seiendem" für einen jeden Werdeprozeß zutreffend, doch ist sie derart allgemein und unbestimmt, daß mit ihr eigentlich nur gesagt ist „Beliebiges wird aus Beliebigem", weil sie letztlich für einen jeden Werdeprozeß zutrifft. Versteht man die Beschreibung „Seiendes wird aus Seiendem" jedoch nicht in einem akzidentellen Sinne und faßt sie statt-
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dessen vielmehr an sich auf, wie es z.B. Anaxagoras getan hat, der, wie wir in Kapitel 1.4 sahen, das Werden aus einem Seienden als Werden aus einem Seienden als 'Darin-Enthaltenem' verstand, so daß sich letztlich ergibt „Seiendes wird aus Seiendem als Seiendes", dann ist hier jedoch nicht mehr von einem 'Werden' im eigentlichen Sinne, sondern nur noch von einem 'Aussondern' eines bereits Seienden die Rede. In bezug auf dieses Aussonderungsmodell zeigte Aristoteles zudem, daß wir es dort letztlich mit dem Aussondern eines Beliebigen aus einem Beliebigen zu tun haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich das aristotelische Argument nun wie folgt dar: Auf dieselbe Weise (ωσαύτως: 191 b 17) wie beim „Werden aus Nichtseiendem" dieses nur in einem akzidentellen Sinne möglich ist, ist auch das „Werden aus Seiendem" nur in einem akzidentellen Sinne möglich. Ein Satz wie „ein Seiendes wird aus einem Seienden" stellt Aristoteles zufolge nicht mehr Probleme dar als ein Satz wie „ein Lebewesen wird aus einem Lebewesen". In beiden Fällen haben wir es mit allgemeinen Prädikaten zu tun. Seiendes wird nun auf dieselbe Weise aus Seiendem, wie ein Hund aus einem Pferd wird. Da der Hund ein bestimmtes Lebewesen (ζωόν τι) ist, und da auch das Pferd ein bestimmtes Lebewesen (ζωόν τι) ist, läßt sich das Werden eines Hundes aus einem Pferd auch als Werden eines ζωόν τι (κύων) aus einem ζωόν τι (ίππος) und mithin als Werden eines ζωον aus einem ζφον beschreiben. Allerdings wird das ζφον nicht aus einem ζφον als ζωον (ούχ η ζωον: 191b22), denn dies kommt dem Gegenstand des Werdens ja bereits zu, so daß es als unsinnig erscheint, von einem Werden eines ζωον aus einem ζωον als ζωον zu sprechen. Überträgt man dies nun auf das Seiende, so ergibt sich in den Worten von Wagner folgendes: Nun der beweisende Schluß: Wie das Pferd, das zum Hund wird, nicht nur ζωόν τι, sondern auch öv τι, und wie der Hund, das Resultat des Prozesses, nicht nur ζφόν τι, sondern auch öv τι ist, so haben wir bei unserem fingierten Prozeß sowohl ein ζωον έκ ζώου wie ein δν έξ δντος γίγνεσθαι vor uns - aber nicht fj öv, sondern κατά συμβεβηκός. (Wagner, 1967: 440)
Wenn also etwas aus etwas wird, so ist es zwar wahr, zu sagen, daß ein Seiendes aus einem Seienden wird, doch wird es nicht aus einem Seienden als Seiendes (öv fj öv), denn hier trifft das eleatische Argument zu, daß das Seiende ja bereits ein Seiendes ist. Vielmehr wird es aus einem Seienden, nicht insofern es ein Seiendes ist (öv ούχ fj öv) - dies meint das Werden aus einem öv κατά συμβεβηκός -, sondern insofern es entweder etwas anderes Bestimmtes ist, oder insofern es etwas anderes Bestimmtes (noch) nicht ist. Aristoteles löst das Problem der Eleaten, deren Ansicht zufolge es einen Widerspruch bedeutet, von einem Seienden ein „Werden" auszusagen, mit seiner Unterscheidung der Hinsichten 'κατά συμβεβηκός' und 'καθ' αυτό' in der Weise, daß bei allen Sätzen, in denen ein „Werden" von einem Seienden ausgesagt wird, dieses Seiende immer schon in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) als Seiendes - d.h. als Seiendes, insofern es nicht ein Seiendes ist - gemeint ist. Der Abschnitt 191b21-25 ist durch die Partikel ,,μέν (b21) - δέ (b23)" in zwei Teile untergliedert: Wird zunächst (191 b21 -23: ,,γίγνοιτο μέν γάρ ... ήδη
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τοΰτο") gezeigt, daß das Werden eines öv aus einem öv ebenso wie das Werden eines ζφον aus einem ζφον nur in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) möglich ist - dies hatte Aristoteles in 191bl7-18 behauptet so wird anschließend (191b23-25: „εν δέ τι μέλλει ... .") dasselbe noch einmal auf negative Weise formuliert: Wenn etwas ein ζωον (und analog dazu ein öv) nicht in einem akzidentellen Sinne (μή κατά συμβεβηκός: b23-24) werden soll, so kann dies nicht aus ζωον (und analog dazu nicht aus öv) sein: Wenn aber etwas nicht im akzidentell zukommenden Sinn [μή κατά συμβεβηκός] 'Lebewesen' werden soll, dann kann das nicht aus 'Lebewesen' sein; und wenn etwas [nicht im akzidentell zukommenden Sinn] 'seiend' werden soll, dann nicht aus Seiendem, aber auch nicht aus Nichtseiendem. Denn es wurde von uns ja gesagt, daß »aus Nichtseiendem« [in seiner eigentlichen Bedeutung] dies bezeichnet: »insofern es nichtseiend ist«. Im übrigen aber heben wir auch nicht [den Satz] auf, daß alles entweder ist oder nicht ist. (1.8, 191b23-27)
Wenn also etwas ein ζωον nicht κατά συμβεβηκός werden soll, so kann dies Aristoteles zufolge nicht aus ζφον sein. Hat sich das Werden aus ζωον κατά συμβεβηκός als ein Werden aus ζωον nicht als ζφον erwiesen, so würde das Werden aus ζφον nicht κατά συμβεβηκός - als Negation des Werdens aus ζφον κατά συμβεβηκός - bedeuten, daß hier nicht gilt, daß etwas aus ζφον nicht als ζωον wird. Folglich könnte es, wenn es weiterhin aus ζφον werden soll, nur aus ζφον als ζφον werden. Doch eben dies wird von Aristoteles als unmöglich herausgestellt (,,οΰκ έκ ζώου εσται: b24"), da ja beim Werden eines ζφον aus einem ζφον als ζωον - wie in b21-23 gezeigt wurde - nicht im eigentlichen Sinne von einem „Werden" gesprochen werden kann. Folglich kann es überhaupt nicht aus ζφον werden, wenn es aus ζφον nicht in einem akzidentellen Sinne werden soll. Mit anderen Worten: Dasjenige, aus dem das ζφον nicht κατά συμβεβηκός wird, darf in keiner Weise ζφον sein, sondern muß ein 'irgendwie bestimmtes Nicht-ζωον' sein51 - z.B. ein Same, von dem in 1.7, 190b4-5 gesagt wurde, daß aus ihm die ζωα werden; wäre es nämlich ζωον, so kann das Werden nur κατά συμβεβηκός sein. Wird es aber aus einem Samen, so kann es in einem nicht-akzidentellen Sinne werden, denn der Same ist ja das bestimmte Zugrundeliegende, von dem Aristoteles in 1.7, 190b26 gesagt hat, daß aus ihm das Werdende nicht in einem akzidentellen Sinne wird (vgl. ,,καϊ οΰ κατά συμβεβηκός έξ αύτοΰ γίγνεται τό γιγνόμενον"). Dasselbe Verhältnis gilt auch in bezug auf das öv: Wenn also etwas ein öv nicht κατά συμβεβηκός werden soll, so kann dies Aristoteles zufolge nicht aus öv sein (vgl. ,,οΰκ έξ οντος": b24-25). Denn das Werden aus öv nicht κατά συμβεβηκός würde bedeuten, daß es, soll es weiterhin aus öv werden, nur aus öv als öv werden könnte; dies ist jedoch insofern unmöglich, als beim Werden eines öv aus öv als öv - wie zuvor gezeigt wurde - nicht im eigentlichen Sinne von einem „Werden" gesprochen werden kann. Andererseits aber kann es auch nicht aus μή öv (in einem nicht-akzidentellen Sinne) werden (vgl. ,,ούδ' έκ μή öv51
Vgl. auch Zekl (1987: 246, Fn.90): „Sondern aus einem anderen, das - wie immer bestimmt »Nicht-Tier« wäre"
422
Physik I. 8: 'Die Lösung einer Aporie der Vorgänger'
τος": b25), da ja μή öv - wie bereits in 191 b9-10 dargelegt wurde - in seiner eigentlichen Bedeutung dies bezeichnet: (aus μή δν) als μή δν. Und aus μή öv als μή öv wird auch nach Ansicht von Aristoteles nichts. Folglich gilt: Wenn etwas ein öv nicht in einem akzidentellen Sinne werden soll, so kann dies weder aus öv werden, denn das Werden aus δν in einem nicht-akzidentellen Sinne würde bedeuten, das es aus öv an sich (d.h. aus öv als öv) würde, was jedoch, wie bereits gezeigt wurde, unmöglich ist, noch kann es aus μή öv werden, denn das Werden aus μή öv in einem nicht-akzidentellen Sinne würde bedeuten, daß es aus μή öv an sich (d.h. aus μή öv als μή δν) würde, was jedoch, wie bereits gezeigt wurde, ebenfalls unmöglich ist. Die Hinzufügung, daß mit diesem Ergebnis nicht der Satz „alles ist entweder oder ist nicht" (τό είναι απαν ή μή είναι) aufgehoben ist - wobei dieser Satz eine Formulierung des Principium contradictionis darstellt -, erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß es nun ja zunächst so scheinen könnte, als wäre dasjenige, aus dem etwas ein öv wird (bzw. aus dem etwas entsteht), weder ein öv noch ein μή öv und mithin etwas, das eine Verletzung des Principium contradictionis darstellt. Daß dies nicht der Fall ist, wird von Aristoteles eigens hervorgehoben52 und erklärt sich aufgrund der Tatsache, daß angesichts der dargelegten Differenzierungen deutlich geworden ist, daß dasjenige, aus dem etwas ein öv wird, weder ein 'öv als öv' noch ein 'μή δν als μή δν' ist; es ist vielmehr ein 'öv nicht als δν' (öv ούχ fj öv) bzw. ein 'μή öv nicht als μή öv' (μή δν ούχ ή μή öv).
8.3 Die angedeutete Lösung mit Hilfe der Begriffe von 'Möglichkeit' und •Wirklichkeit' (191b27-34) Dies ist also eine Weise [der Lösung], eine andere aber besteht darin, daß dasselbe hinsichtlich der Möglichkeit und Wirklichkeit [κατά την δύναμιν και την ένέργειαν] gesagt werden kann. Dies ist in anderen Zusammenhängen mit größerer Genauigkeit bestimmt. (1.8, I91b27-29) Aristoteles weist nun darauf hin, daß es neben der einen dargelegten Lösung der eleatischen Aporie, die mit Hilfe der Begriffspaare „'κατά συμβεβηκός' und 'καθ' αυτό'" bzw. „'etwas als (fj) dieses etwas' und 'etwas nicht als (ούχ ή) dieses etwas'" und ,,'άπλώς' und 'πως'" operierte, auch eine andere Lösung gibt, der zufolge ein und dasselbe unter den Aspekten der Möglichkeit (κατά τήν δύναμιν) und Wirklichkeit (κατά τήν ένέργειαν) betrachtet werden kann. Aristoteles führt diese Lösungsmöglichkeit hier jedoch nicht weiter. Vielmehr verweist er auf andere Zusammenhänge, wo sie mit Genauigkeit dargestellt sei.53 Vgl. auch Phys. 1.2, 185b25-186a3, wo die gleichzeitige Bestimmung einer Einheit als Vielheit den Nachfolgern der Eleaten als eine Verletzung des Principium contradictionis erschien. In Analogie hierzu, wo Aristoteles auf die Differenzierung der Betrachtung „der Möglichkeit nach" und „der Wirklichkeit nach" verwies, führt Aristoteles dieses Begriffspaar auch im nachfolgenden Satz 1.8, 191b27-29 an. In der Sekundärliteratur sind verschiedene Textstellen angeführt worden, auf die sich Aristoteles hier mit den „anderen Zusammenhängen" (έν άλλοις) beziehen könnte: Vgl. Phys. III. 1-2
Die Begriffe 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit'
423
Die Lösung mit Hilfe der oben genannten Begriffspaare „ ' κ α τ ά συμβεβηκός' und 'καθ' α ύ τ ό ' " bzw. „'etwas als (η) dieses etwas' und 'etwas nicht als (οΰχ ή) dieses etwas'" und ,,'άπλώς' und ' π ω ς ' " erweist sich insofern als von der Lösung mit Hilfe des Begriffspaars „Möglichkeit und Wirklichkeit" unabhängig, als in 191a33-b27 nicht auf das zuletzt genannte Begriffspaar zurückgegriffen werden mußte, und es Aristoteles dennoch gelang, eine Erklärung des Werdens aus Seiendem wie aus Nichtseiendem zu geben. Gleichwohl stehen die oben genannten Begriffspaare in einer Relation zum Begriffspaar von „Möglichkeit und Wirklichkeit" und erhalten durch dieses eine weitere inhaltliche Bestimmung. Diese hat zwar für die aristotelische Analyse des Werdens eine zentrale Bedeutung, doch wird sie im Buch Α der Physik nicht weiter ausgeführt. 54 Daher (wie wir schon sagten) 55 lösen sich auch die Aporien, durch welche gezwungen sie einiges des Gesagten aufhoben. Denn hierdurch kamen die Früheren [oi πρότερον] so sehr vom Weg ab, der zu Werden und Vergehen und Wechsel überhaupt fuhrt. Diese Natur nämlich [αΰτη ή φύσις], wäre sie gesehen worden, hätte ihre ganze Unkenntnis aufgehellt. (1.8, 191b30-34)
Abschließend hält Aristoteles fest, daß sich, wie am Anfang von Kapitel I. 8 angekündigt wurde, die Aporien der Vorgänger auf diese Weise lösen, durch welche sie sich gezwungen sahen, einiges des Gesagten (vgl. „των εϊρημένων ένια"), womit sowohl das Werden überhaupt wie auch die Existenz einer Vielheit gemeint ist, aufzuheben. Die Lösung der Aporien besteht, so Aristoteles, letztlich in der Erkenntnis „dieser Natur" (αΰτη ή φύσις: b33-34). Mit „dieser Natur" - darin sind sich die Interpreten einig - ist die „zugrundeliegende Natur" aus Kapitel 1.7, 191a7-8 gemeint, 56 die als in ihre beiden sie konstituierenden Momente von ύ λ η und στέρησις auseinandergenommen gerade die Grundlage für das Verständnis des Werdens aus der στέρησις als Werden aus einem Ansich-Nichtseienden darstellt. Dieser Begriff der 'Natur' stellt nun einen Übergang zu Kapitel 1.9 her, dessen Einleitungssatz sich auf diese 'Natur' bezieht (vgl. αύτής: 191b35).
55 56
(Wagner, 1967: 441), Met. IX.6 (Zekl, 1987: 246, Fn.91 und Ross, 1936: 496), Met. XII.5 (Düring, 1966: 194 f.), Met. V, Met. VII.7-9 (Wicksteed/Cornford, 1980: 88) und Met. VII1.2. Vgl. dazu auch O'Donoghue (1953: 28 f.): „It is sometimes stated that the escape from the Eleatic dilemma is purely logical; the real answer is indicated by Aristotle himself when he adds that 'another way of solving the difficulty consists in pointing out that the same things can be explained in terms of potentiality and actuality' (191 b27). [...] There is no denying that the explanation given here, considered as a positive explanation, should be rounded off by means of the act-potency distinction, but this should not blind us to the truly ontological nature of the solution given in the present text. [...] And the way is left open for coming to be within being. Just as one kind of animal can come from another kind of animal without any coming to be of animal, so one kind of being (act) can come from another kind of being (potency) without any coming to be of being. We must be careful not to demand any more from the solution than that it should provide an escape from the dilemma according to the terms in which it was posed." Vgl. 1.8, 191a23-24. Vgl. Charlton (1970: 81), Hardie/Gaye (1930), Ross (1936: 497) und Wagner (1967: 441).
9. Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons' 9.1 Die Auseinandersetzung mit Piaton
(191b35-192a34)
Auch wenn Piaton in Kapitel 1.9 nicht mit Namen genannt wird, so macht doch der Kontext deutlich, daß sich Aristoteles hier mit Piaton und seinen Anhängern auseinandersetzt. Bereits in den vorangegangenen Kapiteln hatte Aristoteles mehrfach auf Piaton hingewiesen,' ohne jedoch näher auf dessen Theorie des Werdens einzugehen. Eine Auseinandersetzung mit dieser Theorie ist nun aber insofern erforderlich, als Piaton nach Aristoteles' eigenem Bekunden einerseits ebenfalls eine Dreiheit von Prinzipien angenommen hat, die es ausdrücklich von der eigenen, in Kapitel 1.7 dargelegten Dreiheit zu differenzieren gilt, und da Piaton andererseits der zugrundeliegenden Natur (ύποκειμένη φύσις), deren genaue Bestimmung innerhalb der aristotelischen Theorie von zentraler Bedeutung ist, bereits sehr nahe gekommen ist und sie sogar „berührt", nicht jedoch hinreichend erfaßt hat.2
9.1.1 Das Werden aus Nichtseiendem (191b35-192al) Berührt [ήμμένοι] haben zwar auch andere sie [αΰτής: die ύποκειμένη φύσις] schon, aber nicht auf hinreichende Weise [αλλ' ούχ ίκανώς], (1.9, 191b35-36)
Mit den „anderen" (vgl. „έτεροι τινές": 191b35) meint Aristoteles hier, wie aus den nachfolgenden Bemerkungen über das „Nichtseiende" und das „Große-undKleine" (192a6-8) deutlich wird, die Schule Piatons. Da Aristoteles in Kapitel
Vgl. 1.4, 187al6-20; 1.5, 189a7-9 und 1.6, 189bl 1-16. Gadamer, der meint, daß das Buch Α der Physik „im wesentlichen eine Kritik an Piaton" (1996: 103) sei, interpretiert gar die Kritik an den Eleaten in den Kapiteln 1.2 und 1.3 als eine implizite Kritik an Piaton (1996: 103): „Das zweite und dritte Kapitel des ersten Buches enthalten anschließend eine ausführliche Kritik an Parmenides und der eleatischen Philosophie, [. . .]. Diese Kritik an den Eleaten ist eigentlich eine Kritik an Piaton." Vgl. auch (1996: 104). Auch wenn Gadamer in dem Punkte zuzustimmen ist, daß das Buch Α sicherlich eine Kritik an Piaton darstellt - aus diesem Grunde steht die Piatonkritik gleichsam als 'Höhepunkt' am Ende des Buches A -, so bin ich doch der Ansicht, daß Aristoteles die Anschauungen von Piaton nicht mit denen von Parmenides im ersten Teil seines Lehrgedichtes identifiziert. Vielmehr ist die Kritik an den Eleaten in den Kapitel 1.2 und 1.3 als eine durchaus selbständige Kritik zu verstehen. Dies wird auch aus der Kritik an der eleatischen Aporie in Kapitel 1.8 deutlich. Gerade weil die Eleaten der Auffassung waren, daß sich die Begriffe des Seins und des Werdens nicht miteinander verknüpfen lassen, und gerade weil ihre Ansichten einen großen Einfluß auf ihre Nachfahren ausübten, nimmt Aristoteles sie in ihrer Eigenständigkeit durchaus ernst.
Die Auseinandersetzung mit Piaton
425
1.9 ausschließlich im Plural von „ihnen" und „diesen" spricht,3 scheint er selbst nicht ausdrücklich zwischen den Ansichten Piatons und denen seiner Nachfolger zu differenzieren. 4 Insofern der Ausdruck „αυτής" (191b35) auf die in 1.8, 191b33-34 erwähnte ,,αΰτη ή φύσις" referiert, und insofern diese ,,αΰτη ή φύσις" (1.8, 191b33-34) auf die υποκείμενη φύσις aus 1.7, 191a7-8 zu beziehen ist, gesteht Aristoteles den Piatonikern nun zu, die zugrundeliegende Natur zwar „berührt" (vgl. ,,ήμμένοι") zu haben, nicht jedoch auf hinreichende Weise (ούχ ίκανώς). Mit diesem „zwar Berühren, nicht aber auf hinreichende Weise" ist gemeint, daß die Platoniker die zugrundeliegende Natur nicht hinreichend erfaßt haben. Das Bild eines „Berührens", das Aristoteles zufolge noch kein Erfassen darstellt und wie ein bloßes „Streifen der Wahrheit" erscheint,5 setzt die von Aristoteles in Kapitel 1.8 in bezug auf die Eleaten begonnene Ironie in der Wahl der Worte nun auch in bezug auf Piaton fort. Denn Piaton selbst verstand das „Berühren" ja ursprünglich im positiven Sinne als den Akt des „Einsehens": Derjenige, der berührt, hat Piaton zufolge bereits „getroffen". Zum Begriff des 'Berührens' bei Piaton bemerkt Marten folgendes: Das dialektische Vorgehen zielt auf ein Berühren des zu Denkenden. Meinte Erkennen das Umgreifen einer Sache oder das Eindringen in sie, dann wäre Berühren kein glücklich gewähltes Bild. Doch das Berühren deutet hier [gemeint ist Politeia VI, 51 Ib3-c2] das Vorgehen in seinem Zureichen und Treffen. Wer berührt, langt an; er ist weit genug und zielgerecht gegangen. Das Berühren als Name des Einsehens (siehe auch Timaios 90 c) ist zugleich ein Indiz dafür, daß es sich mit dem Einzusehenden um etwas Einfaches ohne Innen und Außen, Vorne und Hinten handelt. Im denkenden Einsehen als einem Berühren stößt nicht Verschiedenartiges aufeinander. (Marten, 1975: 22)
Der Kontext, in dem Aristoteles jedoch in 1.9, 191b35-36 von einem „Berühren" spricht, deutet auf dessen negative Konnotation hin, der zufolge ein Berühren noch kein hinreichendes Erfassen ist. Wenn Marten in bezug auf Piaton davon spricht, daß das Berühren als Name des Einsehens zugleich ein Indiz dafür ist, daß es sich mit dem Einzusehenden um etwas Einfaches ohne Innen und Außen, Vorne und Hinten handelt - wobei vor diesem Hintergrund erst verständlich wird, daß Piaton zufolge bereits das Berühren ein vollständiges Einsehen sein
3
Vgl. 191b35 („έτεροι"), 192al („αύτοϊς"), 192a6 („oi") und 192al9 („τοις"). Wenn ich im folgenden von den Ansichten Piatons spreche, so meine ich dies ebenfalls nicht in einem zwischen den Ansichten Piatons und denen seiner Nachfolger differenzierenden Sinne. Zum Bild des „Berührens", das noch kein Erfassen ist, vgl. auch Met. 1.4, 985al0-17: „Insoweit also berührten [ήμμένοι] diese [Anaxagoras und Empedokles], wie gesagt, zwei von den Ursachen, welche wir in den Büchern über die Natur unterschieden haben, nämlich den Stoff und das, wovon die Bewegung ausgeht, indessen nur dunkel und ohne alle Bestimmtheit, so wie es im Kampfe die Ungeübten machen; denn diese führen im Herumfahren wohl auch öfters gute Hiebe, aber sie tun es nicht kunstgerecht, und ebenso scheinen auch diese nicht mit Bewußtsein zu sagen, was sie sagen; [...]." (Ubers, nach Bonitz). Vgl. auch Met. II. 1, 993a30-b2: „Die Erforschung der Wahrheit ist in einer Rücksicht schwer, in einer anderen leicht. Dies zeigt sich darin, daß niemand sie in genügender Weise erreichen, aber auch nicht ganz verfehlen kann, sondern ein jeder etwas Richtiges über die Natur sagt, [...]." (Übers, nach Bonitz).
426
Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
kann -, 6 so werden wir sehen, daß gerade in der platonischen Betrachtung der zugrundeliegenden Natur als etwas nicht nur der Zahl, sondern auch der Bedeutung nach ganz und gar Einheitliches und Einfaches der Kern der aristotelischen Kritik an Piaton enthalten ist. Aristoteles ist nämlich der Überzeugung, daß Piaton der Wahrheit zwar sehr nahe gekommen ist, sie jedoch nicht als Ganze getroffen und umfaßt hat, da er hinsichtlich der zugrundeliegenden Natur nicht weiter zwischen den Momenten der ΰ λ η einerseits und der στέρησις andererseits unterschieden hat. Was mit diesem „zwar Berühren, nicht aber hinreichend Erfassen" in bezug auf die Platoniker gemeint ist, wird von Aristoteles im folgenden expliziert. Indem er dieses „zwar Berühren, nicht aber hinreichend Erfassen" zunächst in zwei Gesichtspunkte gliedert - (i) „πρώτον μεν ... όρθώς λέγειν" (191b34192al) und (ii) „είτα φ α ί ν ε τ α ι . . . μία μόνον είναι" (192a2-3) - schreibt er den Piatonikern zwei Fehler zu,7 von denen jedoch der zweite Fehler schwerer zu wiegen scheint, da er im Anschluß an diesen darauf hinweist, daß sich „dies am meisten unterscheide" (τοΰτο δέ διαφέρει πλείστον: 192a2-3): Zuerst nämlich stimmen sie [der Behauptung] zu, daß etwas aus Nichtseiendem schlechthin werde [πρώτον μεν όμολογοϋσιν άπλώς γίγνεσθαι τι έκ μή οντος], und daß Parmenides insofern richtig spreche. Sodann scheint es ihnen, wenn sie [die υποκείμενη φύσις] der Zahl nach eine ist, so ist sie auch der Bedeutung nach [δυνάμει] nur eine. Dies aber unterscheidet sich am meisten [von der unsrigen Auffassung], (1.9, 191b36-192a3)
Wenn sich die Platoniker in dem zweiten Punkt „am meisten von der aristotelischen Auffassung unterscheiden" - indem sie die ύποκειμένη φύσις sowohl der Zahl als auch der Bedeutung nach (δυνάμει) als etwas Einheitliches bestimmten -, so deutet dies darauf hin, daß sie sich in dem ersten Punkt zwar auch, aber nicht so sehr von der aristotelischen Auffassung unterscheiden. Nun lautet der erste Punkt, daß sie der Behauptung zugestimmt haben, daß etwas aus Nichtseiendem schlechthin werde und daß Parmenides insofern recht habe. Fragt man nach dem Grund, warum sich die Platoniker in diesem Punkt von der aristotelischen Ansicht unterscheiden, so ist dieser wohl darin zu sehen, daß die Platoniker dem eleatischen Dilemma in unkritischer Weise zugestimmt haben und sich dann für das negative 'Horn' („aus Nichtseiendem") entschieden. 8 Charlton beschreibt dies wie folgt: He [Aristoteles] begins (191b36-192a2) by attributing to Plato two errors. First, Plato accepted uncritically (cf. Met. Ν 1089al-2 on his 'old-fashioned' approach)
7
Denn wenn das Einzusehende ein ganz und gar Einheitliches ist, so hat man es durch das Berühren deshalb bereits ganz und gar eingesehen, weil es an ihm nichts Verschiedenes gibt, das berührt werden könnte. Vgl. auch Cherniss (1962: 84). Vgl. auch Cherniss (1962: 84 f.): „The first error he [Aristoteles] must have considered to be a result of the failure to make this distinction [between matter as persistent substrate and matter as privation] without which it was necessary to accept the exclusiveness o f Parmenides' alternatives, »either being or non-being« (cf. Parmenides,frag.8, 16 and Simplicius, Phys., p. 243, 23-24: Themistius, Phys., p. 32, 4-14), and s o to come to the conclusion that the substrate, since it cannot be being without abolishing plurality and becoming, must be non-being."
Die Auseinandersetzung mit Piaton
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Parmenides' dictum, that if a thing comes to be, it must do so either out of what is, or out of what is not. Plato, however, grasped the negative horn, and said that things come to be out o f what is not. (Charlton, 1970: 81) 9 Im G e g e n s a t z z u Piaton, der n a c h A n s i c h t v o n A r i s t o t e l e s d e m in Kapitel 1.8 rekonstruierten D i l e m m a der Eleaten a u f unkritische W e i s e z u g e s t i m m t hat u n d s i c h dann im U n t e r s c h i e d z u d e n Eleaten für das n e g a t i v e ' H o r n ' („aus N i c h t s e i e n d e m " ) e n t s c h i e d , 1 0 i n d e m er d i e E x i s t e n z e i n e s i r g e n d w i e gearteten N i c h t s e i e n d e n a n n a h m , " hat A r i s t o t e l e s in Kapitel 1.8 g e z e i g t , daß in einer b e s t i m m t e n H i n s i c h t ein W e r d e n s o w o h l aus S e i e n d e m w i e a u c h aus N i c h t s e i e n d e m m ö g l i c h ist. W ä h r e n d s i c h d i e Platoniker a l s o für das n e g a t i v e 'Horn' d e s
Dilemmas
(„aus N i c h t s e i e n d e m " ) e n t s c h i e d e n , w ä h l t e n die N a t u r p h i l o s o p h e n , w i e A r i s t o t e les in Kapitel 1.4 d a r g e l e g t hat, d a s p o s i t i v e ' H o r n ' ( „ a u s S e i e n d e m " ) . A r i s t o t e les h i n g e g e n hat a u c h hier erneut den M i t t e l w e g z w i s c h e n d i e s e n b e i d e n g e g e n s ä t z l i c h e n P o s i t i o n e n g e s u c h t und in Kapitel 1.8 g e z e i g t , d a ß ein W e r d e n s o w o h l aus S e i e n d e m w i e a u c h a u s N i c h t s e i e n d e m m ö g l i c h ist. D e r A u s d r u c k , , ό μ ο λ ο γ ο ΰ σ ι ν ά π λ ώ ς γ ί γ ν ε σ θ α ι τι έ κ μ ή ο ν τ ο ς " hat nun, j e n a c h d e m , o b m a n „ ά π λ ώ ς " (a) a u f „ γ ί γ ν ε σ θ α ι " , 1 2 (b) a u f ,,μή ο ν τ ο ς " ' 3 o d e r ( c )
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An der von Charlton erwähnten Metaphysikstelle XIV.2, 1088b35-1089a6 sagt Aristoteles folgendes: „Es gibt zwar viele Gründe für die Abirrung zu diesen Ursachen, doch der Hauptgrund ist die überaltete Problemstellung. Man meinte nämlich, daß alle Dinge Eines sein milßten, das Seiende selbst, wenn man nicht den Satz des Parmenides: »Niemals wirst du erzwingen, daß das Nichtseiende sei« auflöste und widerlegte; es sei vielmehr notwendig zu zeigen, daß das Nichtseiende sei. Denn auf diese Weise würden aus dem Seienden und einem anderen die Dinge hervorgehen, sofem sie viele sind." (Obers, nach Schwarz], Vgl. dazu auch Phys. 1.3, 187al2, wo Aristoteles daraufhinwies, daß einige der eleatischen Überlegungen von den Nachfolgern modifiziert wurden, indem sie dem Satz „alles ist Eines" gegenüber einräumten, daß Nichtseiendes sei (δτι εστι τό μή öv). Einige Interpreten haben in ihren Übersetzungen des Satzes 191b36-192al ein dem Sinn nach zu ergänzendes „nur" hinzugefügt: Vgl. Zekl (1987: 45): „Zunächst einmal stimmen sie nämlich der uneingeschränkten Behauptung zu, entstehen könne etwas nur aus Nichtseiendem, insoweit spreche Parmenides ganz richtig." Wicksteed/Cornford (1980: 91) übersetzen: „For they began by accepting as true the conception of Parmenides that 'coming to be' could mean nothing but emerging from the nonexistent." Vgl. auch Apostle (1969: 202, Fn.2): „For Parmenides, since »being« has only one meaning, if being is generated, it is so either from being or from nonbeing. The Platonists assumed the correctness of this statement; but while Parmenides rejected both alternatives (i.e., generation from being or nonbeing), they accepted the second alternative by positing nonbeing (see previous Commentary) as somehow existing." Vgl. Prantl (1854: 49), Hardie/Gaye (1930), Chemiss (1962: 84) und Wagner (1967: 29). Nach Ansicht von Charlton scheint Cherniss den Ausdruck „άπλώς" auf ,,μή οντος" zu beziehen. Vgl. Charlton (1970: 47): „Cherniss (pp. 92-3) says that Aristotle misrepresents Plato as holding that things come to be out of absolute non-being. If Aristotle were doing that here, he would have written έξ άπλώς μή οντος or έκ μή οντος άπλώς." Zwar hat Charlton insofern recht, als Chemiss in der Tat der (unzutreffenden) Auffassung ist, Aristoteles habe Piaton die Annahme eines Werdens aus Nichts zu unterstellen versucht - vgl. (1962: 92): „[...] his [d.h. Aristoteles'] whole criticism depends upon the contention that it was absolute non-being with which the Platonists identified matter" -, doch ist darauf hinzuweisen, daß Chemiss bei seiner Paraphrasierung des Abschnitts 191b36-192al den Ausdruck „άπλώς" nicht auf ,,μή οντος", sondern offenkundig auf „γίγνεσθαι" bezieht. Vgl. (1962: 84): „[...]; but their conception of this substrate involves two mistakes: they admit that absolute genesis is from non-being and in so far admit the argument of Parmenides, and again they think that this substrate, since it is numerically one, is essentially one."
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
auf ,,όμολογοΰσιν" 14 bezieht, eine unterschiedliche Bedeutung. Charlton (1970: 47), der den Ausdruck „απλώς" auf ,,όμολογοΰσιν" bezieht, so daß sich die Bedeutung ergibt, daß die Platoniker in einer allgemeinen und unkritischen Weise [άπλώς] zugestimmt haben, daß etwas aus Nichtseiendem werde, ist zu Recht der Ansicht, daß, selbst wenn man „άπλώς" auf „γίγνεσθαι" bezieht, hier nicht eine Differenz zwischen „entstehen" (γίγνεσθαι άπλώς) und „etwas werden" (γίγνεσθαι τι) gesehen werden sollte. Denn Aristoteles weist ja in De gen. et corr. II.l, 329al3-21 selbst daraufhin, daß Piatons Begriff des zugrundeliegenden Dings keinen Platz ftlr die Unterscheidung von „entstehen" und „etwas werden" zuläßt: Even if we take it [άπλώς] with γίγνεσθαι, we should probably still understand: 'they agree that it is on the whole true that things come to be ...', cf. 191bl4, 197al4, bl9, rather than 'they agree that things come into existence' - γίγνεσθαι άπλώς as contrasted with γίγνεσθαι τι. Aristotle does not seem concerned with the distinction between coming into existence and coming to be something, and elsewhere he says that Plato's conception of the underlying thing leaves no room for it (De gen. et cor. II 329al3-2I). (Charlton, 1970: 47)
Auch wenn Aristoteles der Auffassung ist, daß die Platoniker dem eleatischen Dilemma in einer allgemeinen und unkritischen Weise zugestimmt haben, so bin ich doch der Ansicht, daß der Ausdruck „άπλώς" in 191b36 nicht auf ,,όμολογοΰσιν", sondern auf „γίγνεσθαι" zu beziehen ist. Der Hinweis von Charlton auf De gen. et corr. I M , 329al3-21 spricht vielmehr insofern gerade dafür, den Ausdruck „άπλώς" in 191b36 auf „γίγνεσθαι" zu beziehen, als Aristoteles auf diese Weise bereits andeuten würde, daß es der platonischen Theorie zufolge ohnehin nur ein Werden im einfachen Sinne von 'Entstehen (γένεσις) und Vergehen (φθορά)' - nicht aber im Sinne einer Eigenschaftsveränderung (άλλοίωσις) - gibt. Gerade weil sich die Platoniker fur das negative 'Horn' des Dilemmas („aus Nichtseiendem") entschieden, kann es ihrer Theorie zufolge auch nur 'Entstehen und Vergehen', nicht aber 'Eigenschaftsveränderungen' geben, da ja die Eigenschaftsveränderung ein Bleibendes und Seiendes voraussetzt, aus dem etwas wird. So überrascht es auch nicht, daß Aristoteles in bezug auf die Naturphilosophen, die das positive 'Horn' des Dilemmas („aus Seiendem") wählten, der Auffassung ist, daß es ihrer Theorie zufolge eigentlich nur Eigenschaftsveränderungen und keine Entstehens- oder Vergehensprozesse gibt (vgl. Phys. 1.4 und De gen et corr. 1.1). Vor diesem Hintergrund sagt Aristoteles somit, daß Piaton das Werden immer schon als Entstehen in einem einfachen Sinne (άπλώς γίγνεσθαι) verstanden hat, wobei Piaton seinem eigenen Selbstverständnis zufolge dies nicht in dieser Weise formulieren würde, da er selbst ja nach Ansicht von Aristoteles nicht explizit zwischen einem „entstehen" und „etwas werden" unterschieden hat. Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund, warum der Ausdruck „άπλώς" in 191b36 auf „γίγνεσθαι" zu beziehen ist, den ich im folgenden verdeutlichen will.
14
Vgl. Charlton (1970: 47): „ [ . . . ] they agreed in a general, uncritical way [ . . . ] . "
Die Auseinandersetzung mit Piaton
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Aristoteles sagt in 1.9, 192al, daß die Platoniker mit der These, daß etwas aus Nichtseiendem schlechthin werde, ebenfalls behaupten, daß Parmenides richtig spreche (vgl. „fj Παρμενίδην όρθώς λέγειν": 192al). Diese Bemerkung erweist sich insofern als problematisch, da in Kapitel 1.8 deutlich wurde, daß Parmenides weder ein Werden aus Seiendem noch ein Werden aus Nichtseiendem für möglich hielt. Bereits Simplicius (244, 18 ff.) hat diese Unstimmigkeit gesehen, auf die später auch andere Interpreten immer wieder hingewiesen haben.15 Ross versucht diese Schwierigkeit dadurch zu lösen, daß Aristoteles hier meint, die Platoniker hätten zunächst der Richtigkeit des von Parmenides angeführten Dilemmas als Ganzem ('das Werdende wird entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem') zugestimmt, sich dann jedoch, anstatt daß sie deshalb wie Parmenides das Werden generell für unmöglich hielten, für das zweite Horn des Dilemmas entschieden:16 192al. fi Παρμενίδην όρθώς λέγειν, i.e. they admitted the correctness of Parmenides' dilemma, τό γιγνόμενον ή έξ δντος ή έκ μή όντος γίγνεται, but instead of regarding γένεσις as therefore impossible they embraced the second horn of his dilemma. (Ross, 1936: 497) Auch wenn Aristoteles der Auffassung ist, daß die Platoniker dem Dilemma als Ganzem zugestimmt und sich dann für das negative 'Horn' entschieden haben, so stellt dies doch keine Lösung der skizzierten Schwierigkeit dar. Denn Aristoteles sagt ja nicht „die Platoniker haben dem Dilemma als Ganzem zugestimmt, und insofern spreche Parmenides richtig", sondern er sagt „die Platoniker stimmten zu, daß etwas aus Nichtseiendem schlechthin wird, und insofern spreche Parmenides richtig". Wieland, der diese mit der Interpretation von Ross verbundene Schwierigkeit ebenfalls sieht, schlägt demgegenüber vor, daß hier an die sogenannte Doxa-Lehre des Parmenides zu denken sei, der zufolge ja im Gegensatz zur sogenannten Aletheia-Lebie ein Werden durchaus möglich ist: Vgl. 191 b36 f.: [...]. Bereits im Altertum war man daher hinsichtlich der Deutung dieser Stelle in Verlegenheit. Simplicius denkt an Piatons Parmenidesdialog, kommt aber mit dieser Deutung nicht weit und sagt (244, 18ff.): ταϋτα μέν οΰν ϋπό απορίας έγώ περιφερόμενος γέγραφα· εί δέ τις προσφυέστερον άπολογίζοιχο ... φίλος ών οΰτος άλλ' ούκ έχθρός κρατεί. Auch Ross (S, 497) vermag die Stelle nicht überzeugend aufzuklären. Die Schwierigkeit löst sich aber sofort, wenn man an den zweiten Teil des parmenideischen Lehrgedichts denkt, in dem die Weltauffassung der Doxa - im Gegensatz zur Wahrheit des ersten Teils - behandelt war. [...] Unsere Stelle gibt jedenfalls einen guten Sinn, wenn man sie auf diesen zweiten Teil bezieht. Dafür spricht ferner, daß sich Aristoteles auch sonst gerade im Umkreis der Naturphilosophie gelegentlich auf den zweiten Teil bezieht (vgl. 984 b 3ff., 986 b 3Iff., 188 a 19ff, 318 b 6ff, 330 b 9ff.). (Wieland, 1962: 138, Fn.28)
1
Vgl. Ross (1936: 497). Wieland (1962: 138, Fn.28) bemerkt in diesem Zusammenhang: „Es überrascht, gerade den Namen Pannenides in diesem Zusammenhang vorzufinden, da eine Lehrmeinung, wie sie ihm Aristoteles an dieser Stelle zuschreibt - daß nämlich etwas schlechthin aus Nichtseiendem entstehen kann - mit dem im Widerspruch steht, was er selbst Physik A2ff. über die eleatische Philosophie ausgeführt hatte." Ein ähnlicher Lösungsversuch findet sich auch bei Charlton (1970: 81 f.).
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
Wielands Lösungsvorschlag läßt sich dadurch stützen, daß Aristoteles in Met. 1.5, 986b33-987a2 die in der Doxa-Lehre genannten grundlegenden Gegensätze von 'Licht und Nacht' (vgl. Frg. B8, Z.53-61; Frg. B9) in Gestalt des 'Warmen und Kalten' bzw. in Gestalt von 'Feuer und Erde' (vgl. auch Phys. 1.5, 188a2022) auch als das 'Seiende' und 'Nichtseiende' bezeichnet, so daß vor dem Hintergrund der Daxa-Lehre des Parmenides durchaus von einem Werden aus Nichtseiendem gesprochen werden kann. Gleichwohl ist auch mit diesem Lösungsvorschlag eine Schwierigkeiten verbunden: Zwar gibt uns der Lösungsvorschlag von Wieland eine Erklärung dafür, warum hier in bezug auf Parmenides überhaupt von einem Werden gesprochen werden kann, doch gibt er keine Erklärung dafür, warum in bezug auf Parmenides davon gesprochen werden kann, daß dieser annahm, etwas werde schlechthin (nur) aus Nichtseiendem, wie Aristoteles hier zu behaupten scheint. Ist in 191b36-192al nur von dem negativen 'Horn' („aus Nichtseiendem") des Dilemmas die Rede - dort heißt es ja, daß die Platoniker zugestimmt haben, daß etwas aus Nichtseiendem schlechthin wird, und daß Parmenides insofern (d.h. in bezug auf das schlechthin Werden aus Nichtseiendem) richtig gesprochen habe -, so scheint Parmenides in seiner Doxa-Lehre doch davon auszugehen, daß sowohl ein Werden von Licht ('Seiendes') aus Nacht ('Nichtseiendes') wie auch ein Werden von Nacht ('Nichtseiendes') aus Licht ('Seiendes) möglich ist. Parmenides spricht in der DoxaLehre zumindest nicht explizit von einem schlechthin Werden nur aus Nichtseiendem. Vielmehr werden dort Licht und Nacht als die Elemente bestimmt, die durch eine Vermischung miteinander die Dinge entstehen lassen (vgl. Frg. DK 28B8,B9 und BIO). Wie aber läßt sich vor diesem Hintergrund der Umstand erklären, daß in 191b36-192al von Parmenides indirekt gesagt wird, daß dieser der Meinung gewesen sei, etwas könne nur aus Nichtseiendem schlechthin werden? Eine Antwort auf diese Frage findet sich meiner Ansicht nach an einer Textstelle in der Schrift De generatione et corruptione, wo deutlich wird, wie Aristoteles das parmenideische Modell des Werdens innerhalb dessen DoxaLehre im einzelnen versteht: Now we often divide terms into those which signify a 'this somewhat' [τόδε τι] and those which do not. And the issue we are investigating results from this; for it makes a difference into what the changing thing changes. Perhaps, e.g., the passage into Fire is coming-to-be unqualified [γένεσις μέν άπλή], but passing-away-of something [φθορά δέ τίνος] (e.g. of Earth); whilst the coming-to-be of Earth is qualified (not unqualified) coming-to-be [ή δέ γης γένεσις τις γένεσις, γένεσις δ' ούχ άπλώς], though unqualified passing-away [φθορά δ' άπλώς] (e.g. of Fire). This would be the case on the theory set forth by Parmenides; for he says that the things into which change takes place are two, and he asserts that these two, viz. what is [τό δν] and what is not [τό μή δν], are Fire and Earth. Whether we postulate these, or other things of a similar kind, makes no difference. For we are trying to discover not what undergoes these changes, but what is their characteristic manner. The passage, then, into what without qualification is not is unqualified passing-away, while the passage into what is without qualification is unqualified coming-to-be. Hence however they are characterized - whether as Fire and Earth, or as some other couple - the one of them will be a being and the other a not-being. (De gen. et corr. 1.3, 318a35bl2; Übers, nach Joachim)
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Aristoteles beschreibt hier das Werden bei Parmenides in dessen Doxa-Lehre wie folgt: (i) Das Werden von Erde ('Nichtseiendes') zu Feuer ('Seiendes') bedeutet ein Schlechthin-Werden (γένεσις άπλή) des Feuers und ein Nichtschlechthin-Vergehen (φθορά δέ τίνος) der Erde; (ii) das Werden von Feuer ('Seiendes') zu Erde ('Nichtseiendes') bedeutet ein Nicht-schlechthin-Werden der Erde und ein Schlechthin-Vergehen des Feuers. Obgleich dieser aristotelischen Interpretation zufolge das Werden bei Parmenides in beide Richtungen verlaufen kann - es kann sowohl Seiendes (Feuer) aus Nichtseiendem (Erde) wie auch Nichtseiendes (Erde) aus Seiendem (Feuer) werden haben wir es doch bei beiden Prozessen mit unterschiedlichen Werdeprozessen zu tun. Nur beim Werden von Seiendem (Feuer) aus Nichtseiendem (Erde) liegt bei Parmenides nach Ansicht von Aristoteles ein „schlechthin Werden" (γένεσις άπλή) vor: Während das Seiende aus Nichtseiendem schlechthin wird, wird das Nichtseiende aus Seiendem nicht schlechthin. Vor diesem Hintergrund wird nun auch unsere Textstelle in 1.9, 191b36-192 al insofern verständlich, als Aristoteles dort ja indirekt behauptet, daß Parmenides der Auffassung gewesen sei, etwas könne nur aus Nichtseiendem schlechthin werden. Auch wenn Aristoteles der Auffassung ist, daß bei Parmenides nicht nur Seiendes (Feuer) aus Nichtseiendem (Erde), sondern auch Nichtseiendes (Erde) aus Seiendem (Feuer) werden kann, so ist er doch der Ansicht, daß bei Parmenides, wenn ein Seiendes (vgl. τι: 191b36) entsteht - d.h. wenn ein Seiendes schlechthin wird (vgl. „απλώς γίγνεσθαι": 191b36) -, dieses nur aus Nichtseiendem (vgl. ,,έκ μή δντος": 191 b36-192al) entstehen kann. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, daß der Ausdruck ,,άπλώς" in 191b36 auf „γίγνεσθαι" zu beziehen ist. Denn stünde dort nur „γίγνεσθαι", so müßte man hier in bezug auf Parmenides' Doxa-Lehre, so wie Aristoteles sie interpretiert, auch von einem Werden - allerdings nicht von einem 'schlechthin Werden' - aus Seiendem sprechen, da j a auch Erde ('Nichtseiendes') aus Feuer ('Seiendes') werden kann. Diese Überlegungen können auch wie folgt auf das eleatische Dilemma in Kapitel 1.8 bezogen werden. Betrachtet man nämlich die Ausführungen von Parmenides im ersten Teil seines Lehrfragments (Frg. B8, Z.5-21) bezüglich der Unmöglichkeit eines Werdens, so wurde bereits darauf hingewiesen, daß Parmenides selbst nur die Möglichkeit des Werdens aus Nichtseiendem in Betracht zieht. Wird die Möglichkeit des Werdens aus Nichtseiendem dann aufgrund der Undenkbarkeit des Nichtseienden von Parmenides ausgeschlossen, so wird hingegen die Möglichkeit des Werdens aus Seiendem erst gar nicht in Betracht gezogen. 17 Vor diesem Hintergrund kann der Satz „sie [die Platoniker] stimmen nämlich zunächst zu, daß etwas schlechthin werde aus Nichtseiendem, und daß Parmenides insofern richtig spreche" (191b36-192al) auch in dem Sinne verstanden werden, daß die Platoniker Parmenides darin recht geben, daß, sofern ein „schlechthin Werden" überhaupt möglich sein soll, dies sinnvollerweise nur 17
Vgl. auch KRS ( 2 1983: 250): „'How and whence did it grow?' (line 7). He [Parmenides] assumes that the only reasonably answer to 'whence?' could be: 'from not existing', which he rejects as already excluded by his argument against 'is not' (lines 7-9)."
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
als ein „schlechthin Werden aus Nichtseiendem" verstanden werden kann, wie Parmenides dies nach Ansicht von Aristoteles in seiner Doxa-Lehre dann auch tut. 18 Wenn es nun in 191b36-192al von den Platonikem heißt, daß sie meinten, etwas werde schlechthin aus Nichtseiendem (έκ μή δντος), so stellt sich allerdings die Frage, an was für eine Art Nichtseiendes (μή öv) Aristoteles hier in bezug auf die Platoniker denkt. Nicht nur Aristoteles, sondern auch Piaton spricht in seinen Dialogen ja keineswegs in einem einheitlichen Sinne von einem „Nichtseienden". In der Analyse des Kapitels 1.7 wurde bereits darauf hingewiesen, daß in bezug auf die Verwendung des Wortes „werden" bei Aristoteles grundsätzlich zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden ist: Es kann entweder (i) eine konkrete Beschreibung eines konkreten Werdeprozesses gemeint sein - so beschreiben wir das Werden eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen als „etwas wird aus etwas"; es kann aber auch (ii) eine theoretische Beschreibung von ontologischen Sachverhalten in einer Theorie gemeint sein, so daß sich das Wort „werden" hier in einem übertragenen Sinne auf die Prinzipien bezieht, aus denen etwas 'wird' - so konnte Aristoteles in diesem übertragenen Sinne in Kapitel 1.7 j a ebenfalls sagen, daß jedes Werdende aus einem ύποκείμενον und einer μορφή 'wird' (vgl. 190b 19-20: ,,δτι γίγνεται π ά ν έκ τε τοΰ υποκειμένου κ α ι της μορφής"). 19 Wenn Aristoteles nun in 1.9, 191b36192al in bezug auf die Platoniker davon spricht, daß etwas aus Nichtseiendem wird, so ist dieses „Werden" primär als auf eine (ii) theoretische Ebene bezogen zu verstehen, so daß mit dem 'Nichtseienden' etwas gemeint ist, das einen Prinzipiencharakter hat. Daß wir es hier primär mit einer theoretischen Ebene und in bezug auf das Nichtseiende mit etwas, das einen Prinzipiencharakter hat, zu tun haben, wird aus folgendem deutlich: Aristoteles spricht zu Beginn des Kapitels 1.9 von der ύποκειμένη φύσις, die sich in Kapitel I. 7 als ein Prinzip erwiesen hat (vgl. 191a7-14). Wenn Aristoteles in 191b36-192al von den Piatonikern sagt, daß sie zustimmten, daß etwas aus Nichtseiendem werde, so ist mit diesem 'Nichtseienden' eben diese ύποκειμένη φύσις im Sinne eines Prinzips gemeint. Während die Platoniker diese ύποκειμένη φύσις jedoch als ein sowohl der Zahl wie auch der Bedeutung nach Einheitliches bestimmt haben, wird Aristoteles an dieser ύποκειμένη φύσις demgegenüber zwischen zwei unterschiedlichen Momenten des Nichtseienden unterscheiden: die ϋ λ η als ein Akzidentell-NichtSo haben sich bezeichnenderweise auch diejenigen Nachfahren, die den eleatischen Überlegungen nahestanden und möglichst wenig von ihnen aufgeben wollten, wie z.B. die Atomisten und in gewisser Weise auch Piaton, für das negative 'Horn' („aus Nichtseiendem") des Dilemmas entschieden, wahrend diejenigen Nachfahren, die sich deutlich von den eleatischen Überlegungen abgrenzen wollten, wie z.B. Anaxagoras und andere Naturphilosophen, das positive 'Horn' („aus Seiendem") wählten. 19 Auch in meiner Analyse der Position des Anaxagoras in Kapitel 1.4 hat diese Unterscheidung insofern eine wichtige Rolle gespielt, als dort gezeigt wurde, daß ein Beobachtungssatz wie „ein Weißes wird aus einem Schwarzen" vor dem Hintergrund der Theorie der Aussonderung bei Anaxagoras eigentlich als das 'Werden' eines Weißen aus einem Weißen beschrieben werden muß. So 'wird' bei Anaxagoras das Weiße, das empirisch betrachtet aus einem Schwarzen wird, theoretisch betrachtet eigentlich aus einem Weißen und somit aus einem Seienden, das als nicht wahrnehmbarer Partikel in dem Schwarzen enthalten ist.
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seiendes und die στέρησις als ein An-sich-Nichtseiendes. Aristoteles wird dem 'Nichtseienden' der Platoniker in 192a7 auch einen Namen geben, wenn er sagt, daß die Platoniker das Nichtseiende (τό μή δν) und das 'Große-und-Kleine' (τό μέγα και τό μικρόν) gleichgesetzt haben. Der Name ,,τό μέγα και τό μικρόν" ist - wie aus Kapitel 1.4, 187 al7-20 deutlich wurde - die aristotelische Bezeichnung für die platonische ΰ λ η im Sinne eines Prinzips. 20 Auch die anderen Interpreten beziehen das in 191b36-192al erwähnte 'Nichtseiende' immer schon auf ein Prinzip bei Piaton, wobei jedoch unterschiedliche Kandidaten vorgeschlagen wurden. Charlton bemerkt in bezug auf dieses 'Nichtseiende' folgendes: It is not quite clear what Aristotle means by 'what is not' here. As Ross and Cherniss (p. 92) note, in Met. Ν 1089 a 20-l he says that by 'what is not' Plato meant the false, and that it is from that and from what is that Plato produces a plurality of things. N o w Plato does in the Sophist (especially 258-9) equate what is false with what is not, and what is not with what is other than something, as contrasted with what is wholly non-existent. However, I doubt if Aristotle has the Sophist theory in mind here. What is not is equated with the great and small in 192 a 7. N o w the phrase 'the great and small' or 'the great-small' is not found in Plato's surviving writings, but in Phys. IV 209 b 13-15 Aristotle says that Plato used different expressions for 'that which participates' in 'the so-called unwritten teachings' and in the Timaeus. There can be no doubt that, in Aristotle's opinion at least, 'the great and small' is an alternative expression for what in the Timaeus is called 'space' or 'receptacle'; or that in most of this chapter Aristotle is referring to Timaean space (thus in a 14 he speaks o f a 'mother' element, and in Tim. 50 d 3, 51 a 4-5, Plato calls space the mother). I prefer to take it, then, that Timaean space is the only 'thing which is not' which he here has in view. Democritus regarded space as that which is not (Met. A 985 b 5-6, cf. 187 a 2), and Plato describes it in the Timaeus negatively, as not earth, air, fire, or water (51 a 5), so even by the Sophist criterion it is something which is not. (Charlton, 1970: 81 f·)
Wenn Charlton in bezug auf das Nichtseiende auf die χώρα aus dem Timaios verweist, und wenn Ross und Cherniss in diesem Zusammenhang auf das Falsche aus dem Sophistes hinweisen, aus dem Piaton die Vielheit der Dinge produziert (vgl. „from what is that Plato produces a plurality of things"), so verstehen auch sie das 'Werden aus Nichtseiendem' offenkundig im Sinne einer (ii) theoretischen Beschreibung, der zufolge Piaton in seiner Theorie die Vielheit aus einem Nichtseienden in Gestalt der χώρα oder in Gestalt des Falschen 'werden' läßt. Obgleich ich der Interpretation von Charlton zustimme, der zufolge Aristoteles in bezug auf das 'Nichtseiende' bei Piaton in Kapitel 1.9 vor allem an den Dialog Timaios mit seiner Einführung einer zugrundeliegenden χώρα denkt, werde ich in meiner Analyse des Kapitels 1.9 doch auch Überlegungen bezüglich des Werdens miteinbeziehen, die Piaton in anderen Dialogen (vor allem im Phaidon) darlegt.
Zudem hat Aristoteles die bereits erwähnten Gegensätze 'Licht' und 'Nacht' aus der DoxaLehre des Parmenides, an die hier zu denken ist, wenn Aristoteles von den Piatonikern sagt, daß sie mit ihrer Ansicht, etwas könne nur aus Nichtseiendem schlechthin werden, dem Parmenides zustimmen, ebenfalls als Prinzipien verstanden (vgl. 1.5, 188a20-22).
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9.1.2 Die υ π ο κ ε ί μ ε ν η φύσις: ΰ λ η und στέρησις (192al-6) Dann aber scheint es ihnen, wenn sie [die ύποκειμένη φύσις] der Zahl nach eine ist, so ist sie auch der Bedeutung nach [δυνάμει] nur eine. Dies aber unterscheidet sich am meisten [von der unsrigen Auffassung], Wir nämlich behaupten, daß Stoff und Privation verschieden sind [ήμεΐς μέν γαρ ΰλην και στέρησιν έτερον φαμεν εΐναι], und daß das eine von diesen, der Stoff, nichtseiend im akzidentellen Sinne [κατά συμβεβηκός] ist, die Privation aber an sich [καθ' αυτήν]; und der Stoff liegt nahe bei der ούσία, ja ist in gewisser Weise ουσία [και την μέν έγγύς και οΰσίαν πώς, τήν ΰλην], die Privation aber in keiner Weise. (1.9, 192al-6)
Platon hat Aristoteles zufolge die zugrundeliegende Natur insofern nicht hinreichend erfaßt, als er sie zwar zu Recht als ein der Zahl nach (άριθμω), zu Unrecht aber auch als ein der Bedeutung nach (δυνάμει) Eines bestimmt hat. Mit der Unterscheidung „άριθμω μία - δ υ ν ά μ ε ι μ ί α " weist Aristoteles offenkundig auf die Bestimmung des ύποκείμενον als „άριθμω έν, ά λ λ ' εϊδει [bzw. λόγω] ούχ έ ν " (1.7, 190al5-16) bzw. als „άριθμω μέν έν, εϊδει δε δύο" (1.7, 190b24) zurück. Es fällt jedoch auf, daß Aristoteles im Buch Α der Physik den Gegensatz zur zahlenmäßigen Einheit (άριθμω έν) in unterschiedlicher Weise bestimmt: Ein der Zahl nach Eines kann (i) (ii) (iii) (iv)
dem Begriff nach Vieles (λόγω πολλά: vgl. 1.2, 185b32-34) bzw. nicht Eines (λόγω ούχ έν: vgl. 1.7, 190al6) sein, der Form nach nicht Eines (ε'ίδει ούχ έν: vgl. 1.7, 190al6) bzw. zwei (εϊδει δύο: vgl. 1.7, 190b24) sein, dem Sein nach Verschiedenes (τώ είναι έτερον: vgl. 1.3, 186a28-31 und 1.7, 190b 1-3) sein, und schließlich Platon zufolge der Bedeutung nach Eines (δυνάμει μία: vgl. 1.9, 192a2) sein.
Mit Hilfe der Ausdrücke „dem Begriff nach", „der Form nach", „dem Sein nach" und „der Bedeutung nach" scheint Aristoteles irgendwie dasselbe auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen zu wollen. Bezüglich der Ausdrücke „dem Begriff nach" und „der Form nach" hat Aristoteles auf deren Synonymität in 1.7, 190al6-17 explizit hingewiesen. So geht auch die überwiegende Zahl der Interpreten zu Recht davon aus, daß Aristoteles mit dem Ausdruck „ δ υ ν ά μ ε ι " in 192a2 anders als in 1.8, 191b27-29, wo von ,,δύναμις (Möglichkeit) und έ ν έ ρ γ ε ι α (Wirklichkeit)" die Rede war, nicht einen Möglichkeitsbegriff im Sinne einer Modalität im Sinn hat, sondern daß mit dem Ausdruck „δυνάμει" hier vielmehr dasselbe gemeint sei, was zuvor durch die Ausdrücke „ε'ίδει" und „ λ ό γ ω " bezeichnet wurde. 21 Übersetzt man den Ausdruck „ δ υ ν ά μ ε ι " in 192a2 nun mit „der Bedeutung nach", so ist dies jedoch in einem weiten Sinne zu verstehen, da mit einer Bedeutungsverschiedenheit der Vgl. Wagner (1967: 29, 441), der den Ausdruck „δυνάμει" mit „Bedeutung" übersetzt und daraufhinweist, daß ,,δύναμις" hier nicht als Möglichkeitsmodus zu verstehen ist. Ross (1936: 347, 497) spricht von „significance" und weist darauf hin, daß „δυνάμει" hier mit „the εϊδει o f gleichzusetzen ist. Charlton (1970: 82) spricht von „'in possibility', i.e. in account"; vgl. auch Hardie/Gaye (1930), die „δυνάμει" mit „potentiality" übersetzen und in einer Fußnote hinzufügen: „δυνάμει = εϊδει above (190 b24)".
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beiden die ύποκειμένη φύσις konstituierenden Momente von ύλη und στέρησις nicht nur eine Verschiedenheit des semantischen Inhalts gemeint ist (wie z.B. zwischen „Mensch" und „Ungebildeter"), sondern auch eine Verschiedenheit des Seins (wie z.B. zwischen „Mensch" und „Unbildung"). 22 Daß hier nicht nur eine semantische Verschiedenheit, sondern auch und vor allem eine Verschiedenheit des Seins bzw. Nichtseins von ύλη und στέρησις, die für Aristoteles die beiden der Bedeutung nach verschiedenen Momente der ύποκειμένη φύσις darstellen, gemeint ist, wird daraus ersichtlich, daß zum einen die ύλη als ein akzidentell Nichtseiendes und die στέρησις als ein An-sich-Nichtseiendes bestimmt wird, und daß zum anderen gesagt wird, daß die ύλη nahe bei und irgendwie ούσία sei, während die στέρησις in keiner Weise ούσία sei. Der Grund, warum Aristoteles hier jedoch von „δυνάμει" - und nicht wie zuvor von ,,εϊδει", „λόγω" oder „τω ε ί ν α ι " - spricht, scheint mir darin zu liegen, daß Aristoteles, weil er sich in einer Auseinandersetzung mit der Theorie Piatons befindet, zur Widerlegung derselben bemüht ist, dessen eigene Terminologie zu verwenden. 23 In dem Dialog Timaios, den Aristoteles hier meiner Ansicht nach in bezug auf die Auseinandersetzung mit Piaton vor allem im Blick hat, spricht Piaton von der χώρα nicht nur als „Mutter" (μήτηρ: Tim. 50d, 51a) diesen Terminus wird Aristoteles in 192a 14 aufgreifen -, sondern er schreibt ihr auch eine bestimmte ,,δύναμις" zu, die bezeichnenderweise als eine durchaus 'einsheitliche' δύναμις zu verstehen ist: Als welche Natur und Kraft besitzend müssen wir sie also annehmen [τίν' οΰν ε χ ο ν δ ΰ ν α μ ι ν κ α τ ά φύσιν αυτό ϋποληπτέον]? Vor allem die: daß sie allen Werdens Aufnahme sei wie eine Amme [τοιάνδε μάλιστα· πάσης είναι γενέσεως ύ π ο δοχήν αύτήν οίον τιθήνην] {Tim. 49a; Übers, nach Schleiermacher und Müller). Dieselbe Rede gilt nun auch von jener Natur, die alle Körper in sich aufnimmt; diese ist als stets dieselbe zu bezeichnen, denn sie tritt aus ihrem eigenen Wesen durchaus nicht heraus [έκ γαρ της έαυτής τό π α ρ ά π α ν ούκ έξίσταται δυνάμεως]. Nimmt sie doch stets alles in sich auf und hat sich nie und in keiner Weise irgendeinem der Eintretenden ähnlich gestaltet; denn ihrer Natur nach ist sie für alles der Ausprägestoff, der durch das Eintretende in Bewegung gesetzt und umgestaltet wird und durch dieses bald so, bald anders erscheint. (Tim. 50b-c; Übers, nach Schleiermacher und Müller)
Aus diesen Textstellen wird deutlich, daß Aristoteles in Kapitel 1.9 nicht ohne Grund von den Piatonikern sagt, daß sie die zugrundeliegende Natur ihrer δ ύ ν α μις nach zu einer einzigen gemacht haben. Der Fehler, den Aristoteles den Platonikern vorwirft, besteht darin, daß sie von der zahlenmäßigen Einheit der 22
Happ (1971) spricht in diesem Zusammenhang von einer Verschiedenheit des „Sejns-Modus". Vgl.: „Hyle und Steresis, obwohl numerisch eins, sind 'dem Sein nach' verschieden, [...]." (1971: 289). „Hyle als Substrat besitzt fast soviel 'Sein' wie die Substanz (sei also nur relatives Nichtsein), während die Steresis als Gegensatz zum Eidos an sich 'nicht-seiend' (ούκ όν καθ' αύτήν) sei. Diesem verschiedenen 5emi-Modus von Hyle-Substrat und Steresis entspricht b) eine axiologische Differenz, d.h. ein Unterschied hinsichtlich des 'positiven' bzw. 'negativen' Verhaltens im Weltgeschehen: [...]." (1971: 294). Dieses methodische Mittel .des Aufgreifens der Terminologie derjenigen Vorgänger, mit denen Aristoteles sich jeweils auseinandersetzt, konnten wir auch in den vorangegangenen Kapiteln beobachten.
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ύποκειμένη φύσις auf deren Einheit der Bedeutung nach geschlossen haben. Auf diese Weise haben sie den wesentlichen Unterschied zwischen der ύλη als einem akzidentell Nichtseienden und der στέρησις als einem An-sich-Nichtseienden übersehen und ließen beide in Eines zusammenfallen.24 Cherniss hat in diesem Zusammenhang jedoch auf folgende Widersprüchlichkeit innerhalb der aristotelischen Beschreibung der platonischen Theorie hingewiesen: Während Aristoteles in den Kapiteln 1.4, 187al7-20 und 1.5, 189a8 (vgl. auch 1.6, 189bl4-16) die ΰλη Piatons als ein Gegensatzpaar und mithin als ein Zweiheitliches bestimmt, richtet sich seine Kritik in Kapitel 1.9, 191b35192a34 ganz auf den Nachweis, daß das Substrat für die Platoniker eine numerische und logische Einheit darstellt: First, however, it is important to notice that in 187 A 16-20 and again in 189 A 8 Aristotle interprets the Platonic »matter,« »the great and the small,« as a pair of contraries, whereas the whole criticism of 191 Β 35- 192 A 34 is directed to show that this same substrate is for the Platonists a logical and numerical unity. The reason for the contradiction is apparent: in the earlier section he is trying to find a pair of contraries among physical principles of all his pre-decessors and in the attempt goes so far as to attribute such a notion even to Parmenides (188 A 20, cf. Crit. Pres. Phil., p. 48, n. 192); similarly when he tries to prove that a triad of principles was common in earlier theories the passive principle of the Platonists is τά δύο (189 Β 11-18); but in the last chapter he is arguing that his own notion of matter as a logical duality of substrate and privation has not been anticipated. The interested motives for both contradictory interpretations being thus equally clear, there can be no excuse on the evidence of the first book of the Physics to prefer either one to the other. Apart from this inconsistency, [...]. (Cherniss, 1962: 86)
Dieser Kritik, die Aristoteles eine Inkonsistenz in seiner Auseinandersetzung mit Piaton unterstellt, ist jedoch entgegenzuhalten, daß Cherniss hier nicht sauber zwischen dem ύποκείμενον (bzw. der ύποκειμένη φύσις) einerseits und der ΰλη als ein Moment an der ύποκειμένη φύσις andererseits zu differenzieren scheint. Auch wenn Aristoteles die platonische ύλη zunächst in Gestalt des Gegensatzes von 'Großem-und-Kleinem' in den Kapiteln 1.4 bis 1.6 als etwas Zweiheitliches einführt, so bedeutet dies jedoch nicht, daß deshalb auch die aus aristotelischer Sicht gesehene platonische ύποκειμένη φύσις dem Sein nach eine Zweiheit von Verschiedenem darstellt. Aristoteles betrachtet ja genaugenommen nicht - wie Cherniss meint - die Materie (ύλη) als eine logische Zweiheit von Substrat (ύποκείμενον) und Privation (στέρησις) (vgl. „that his own notion of matter as a logical duality of substrate and privation"), sondern er betrachtet umgekehrt vielmehr das Substrat (die ύποκειμένη φύσις) als eine logische Zweiheit von Materie (ύλη) und Privation (στέρησις). Die platonische Bestimmung der ύλη als „Großes-und-Kleines" legt nun aber die Vermutung Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß Piatons Bestimmung der χ ώ ρ α im Timaios als ein der δ ύ ν α μ ι ς nach ' E i n h e i t l i c h e s ' als durchaus konsequent im Hinblick auf seine eigene Theorie anzusehen ist. Denn im Gegensatz zu den werdenden Dingen, die Piaton zufolge immer schon eine Vielheit in sich darstellen, darf dasjenige, was diese werdenden Dinge in ihrem Werden erst ermöglicht - nämlich die Ideen einerseits und die χ ώ ρ α andererseits - fllr Piaton selbst in keiner Weise vielheitlich sein.
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nahe, daß wir es in bezug auf das „Große" und das „Kleine" dem Seins-Modus nach gerade nicht mit Verschiedenem zu tun haben. Die nachfolgende Textstelle 192a9-12 macht zudem deutlich, daß dieser von Cherniss erhobene Einwand bereits von einigen Schülern Piatons gegen die aristotelische Kritik vorgebracht wurde. Aristoteles entkräftet diesen Einwand sinngemäß mit dem Hinweis darauf, daß, auch wenn Piaton die ύ λ η selbst zu einer Zweiheit macht, indem er sie als 'das Große-und-Kleine' bestimmt, diese beiden doch dem Sein nach nicht verschieden sind, so daß die ΰποκειμένη φύσις ihrem Sein nach eine einzige bleibt und sich nicht aus ontologisch verschiedenen Momenten zusammensetzt. Denn Piaton habe die andere Seite ja gänzlich übersehen (192al2).
9.1.3 Ein Exkurs zu Piatons naturphilosophischen Überlegungen Zum besseren Verständnis der in Kapitel 1.9 dargelegten Piatonkritik werde ich zunächst ein wenig ausführlicher einen Blick auf diejenigen platonischen Gedanken werfen, die Aristoteles hier vermutlich im Sinti hat, und die er selbst nicht eigens hervorzuheben braucht, da er sie bei seinen Hörem als bekannt voraussetzen kann. 25
9.1.3.1 Piatons naturphilosophisches Modell im „Timaios" Bezüglich der Auseinandersetzung mit Piaton scheint sich Aristoteles in Kapitel 1.9 primär an der im Timaios (vor allem 47e-53c) dargelegten Theorie über das Werden zu orientieren. Hierfür spricht sowohl die Gleichsetzung des platonischen Nichtseienden mit dem 'Großen-und-Kleinen' (τό μέγα και τό μικρόν) in 192a6-7 als auch dessen Bezeichnung als „Mutter" (μήτηρ) in 192al4. Zwar findet sich der Ausdruck ,,τό μ έ γ α και τό μικρόν" in den überlieferten Schriften Piatons selbst nicht, doch in Phys. IV.2 sagt Aristoteles, daß Piaton diesen Ausdruck mit der χώρα in den 'ungeschriebenen Lehren' und im ' Timaios'' gleichgesetzt habe. 26
25
Hierbei werde ich mich vor allem auf die Dialoge Timaios und Phaidon beziehen. Auch Daring (1966: 239) sieht in Kapitel 1.9 vor allem einen Bezug auf die Dialoge Phaidon (102a-105b) und Timaios. Vgl. Phys. IV.2, 209b 11-16: „Deshalb sagt j a auch Piaton im Timaios [εν τώ Τιμαίω], daß der Stoff [τήν υλην] und der Raum [τήν χώραν] dasselbe sei. Denn das Teilhabefähige [τό γαρ μεταληπτικόν] und der Raum [τήν χώραν] seien eines und dasselbe [εν και ταύτόν]. Freilich meint er dort zwar »das Teilhabefilhige« [τό μεταληπτικό"] in anderem Sinne als in den sogenannten »Ungeschriebenen Lehrsätzen« [έν τοις λεγομένοις άγράφοις δόγμασιν], gleichwohl aber bestimmte er »Ort« [τον τόπον] und »Raum« [τήν χώραν] als dasselbe." Vgl. dazu auch Phys. IV.2, 209b33-210a2: „(Gegen Piaton ist zu sagen, wenn denn einmal abgewichen werden darf: Warum sind die Formen [τά είδη] und Zahlen [οί αριθμοί] nicht an einem Ort, wenn doch das Teilnehmungsfähige [τό μεθεκτικόν] der Ort sein soll, sei es, daß das 'Großeund-Kleine' dies Teilnehmungsfähige ist, oder sei es, daß der Stoff dies Teilnehmungsfithige ist, wie er im Timaios geschrieben hat.)"
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Neben diesem sei zur Stützung der These, daß sich Aristoteles in Kapitel 1.9 auf den platonischen Dialog Timaios bezieht, auch auf folgende Parallelen hingewiesen: (i) In Tim. 48e-49a spricht Piaton in bezug auf die Erklärung des Werdens von der Notwendigkeit der Annahme einer „dritten Gattung" (vgl. „τρίτον αλλο γένος"). Diese Notwendigkeit der Annahme einer dritten Gattung zur Erklärung des Werdens, die in Gestalt des sogenannten 'Raumes' (χώρα) zu den beiden Gattungen des Urbilds und des Abbilds hinzutritt und deren Funktion darin besteht, daß sie das Aufnehmende für die Abbilder ist, erinnert an das in den drei Aporien (Phys. 1.6) notwendigerweise zugrunde zu legende ύποκείμεvov als drittes Prinzip neben den Gegensätzen. 27 (ii) In Kapitel 1.9, 191b35-36 sagt Aristoteles von den Piatonikern, daß diese die „Natur" (αΰτη ή φύσις) berührt haben, wobei hier die „zugrundeliegende Natur" aus Kapitel 1.7 gemeint ist. In Tim. 50b bezeichnet Piaton die χώρα als die „alle Körper aufnehmende Natur" (vgl. ,,τά πάντα δεχομένης σώματα φύσεως"), (iii) Bedenkt man, daß Piaton in Tim. 50 c/d in bezug auf das Werden von drei Gattungen spricht, deren Relation zueinander durch eine Analogie der Relation von Vater, Mutter und Kind verdeutlicht wird - (1) das Werdende (τό γιγνόμενον) als Kind; (2) das 'Worin-es-wird' (τό έν ω γίγνεται) als Mutter und (3) das 'Woher-das-Werdende-als-Nachgebildetes-wächst' (τό δθεν άφομοιούμενον φύεται τό γιγνόμενον) als Vater -, so erinnert dies einerseits an 192al3-14, wo die ύ λ η ebenfalls mit einer Mutter (ώσπερ μήτηρ) verglichen wird, 28 und andererseits an 192 a26, wo Aristoteles die an sich vergehende ύ λ η als das 'In-dem' (τό έν ω) bezeichnen wird. Im folgenden sollen zunächst die für unseren Kontext wichtigen Aspekte der im Timaios entworfenen Kosmologie zusammengefaßt werden, um vor diesem Hintergrund die aristotelische Kritik an diesem Modell deutlich werden zu lassen. Timaios, der Erzähler der platonischen Kosmologie, wird von dem Gesprächspartner Kritias als jemand beschrieben, der es sich am meisten zur Aufgabe gemacht hat, über die Natur des Alls („περί φύσεως του παντός": 27a) zur Erkenntnis zu gelangen, weshalb er auch als erster über die Entstehung der Welt reden soll. Zu Beginn seiner Erzählung unterscheidet Timaios zunächst zwischen den beiden Gattungen des (i) „Immerseienden, das niemals wird" (vgl. ,,τί τό δν άεί, γένεσιν δέ ουκ έχον": 27d) und des (ii) „Immerwerdenden, das niemals ist" (vgl. ,,τί τό γιγνόμενον μέν άεί, δν δέ ουδέποτε": 27d-28 a).29 Von diesen beiden Gattungen ist das Immerseiende dem Denken zugänglich, weil es ein solches ist, das immer bleibt, während das Immerwerdende der Wahrnehmung zugänglich ist, weil es niemals wahrhaft seiend ist (όντως δέ
28 29
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Tim. 31 b-c: „Zwei Dinge allein aber ohne ein drittes wohl zusammenzufügen, ist unmöglich, denn nur ein vermittelndes Band kann zwischen beiden die Vereinigung bilden." Man denke auch an Phys. 1.1, wo das Beispiel des Verhältnisses des Kindes zu Vater und Mutter die Funktion hatte, den Prozeß der Erkenntnis der Prinzipien zu verdeutlichen. Vgl. dazu auch Phys. VIII.3, wo Aristoteles den Piatonikern die Ansicht zuschreibt, daß das Ruhende immer ruht, während das Werdende immer wird.
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ουδέποτε δν: 28a). Nur vom Immerseienden kann mit Wahrheit und Verläßlichkeit, vom Immerwerdenden aber bloß mit Wahrscheinlichkeit gesprochen werden (vgl. 29b-c). Die Unterscheidung zwischen dem Immerseienden als etwas, das kein Werden hat und sich stets als dasselbe erweist und nur dem Denken zugänglich ist, und dem Immerwerdenden als etwas, das aufgrund seines Entstehens und Vergehens niemals wirklich seiend und nur der Wahrnehmung zugänglich ist, erinnert an die Unterscheidung der „beiden Arten von Seiendem" (δύο εϊδη των δντων) im Phaidon (vgl. 79a). Dort beschreibt Piaton die eine Art als das Unsichtbare (τό άιδές), das sich immer auf gleiche Weise verhält (άεί κ α τ ά τ α ύ τ α εχον), während er die andere Art als das Sichtbare (τό όρατόν) bestimmt, das sich nie auf gleiche Weise verhält (μηδέποτε κ α τ ά ταύτά). In dem platonischen Gedanken, daß das Werdende als Werdendes niemals ein eigentlich Seiendes sein kann, ist das Erbe Heraklits und der Eleaten zu sehen. Als dieses niemals eigentlich Seiende ist das Werdende in gewisser Weise ein Nichtseiendes. Allerdings ist es nicht ein schechthin Nichtseiendes, sondern vielmehr ein Nicht-Bleibendes, Nicht-Beständiges und Nicht-Einheitliches im Gegensatz zu den reinen Ideen, die als das Bleibende, Beständige und Einheitliche das eigentlich Seiende darstellen. Im Anschluß an die Unterscheidung zwischen dem Immerseienden und dem Immerwerdenden beginnt Timaios seine Erzählung wie folgt: Der ganze Himmel [πάς ουρανός] aber - oder die Welt [κόσμος], oder welcher Name sonst jemandem dafür belieben mag, der sei uns genehm von ihm müssen wir zuerst erwägen, was es offenbar anfangs bei jedem zu erwägen gilt [δπερ υπόκειται περί παντός έ ν άρχη δεϊν σκοπεί ν], ob er stets war und kein Anfang seines Entstehens stattfand, oder ob er, von einem Anfange ausgehend, entstand. (Tim. 28b; Übers, nach Schleiermacher und Müller)
In einem demiurgischen Modell verweist Timaios dann darauf, daß alles Werdende durch irgendeine Ursache, nämlich durch den Schöpfer und Vater des Alls, werden müsse (28c), der als Baumeister sowohl auf die Ideen als auch auf das Werdende geachtet hat. Wenn der Kosmos aber schön (καλός) und vortrefflich, und der Meister gut und vollkommen (αγαθός) ist,30 so hat er auf das Ewige geschaut (29a). Dieser Demiurg hat die Welt schließlich durch die Zusammensetzung der Elemente von Feuer und Erde geschaffen, die er durch ein Mittleres (Wasser und Luft) verband (31b). Im Anschluß an eine ausführliche Darlegung über das Verhältnis von Leib und Seele der Welt begegnen wir dann in Tim. 47e-48a f. einem Übergang zu einem Neuansatz, wo auf die Notwendigkeit der Untersuchung auch der grundlegenden Elemente verwiesen wird, die ebenfalls als im Werden begriffen zu verstehen sind (49b): So müssen wir also wieder zurückgehen und, indem wir wieder auch bei diesem, wie wir beim Vorigen es taten, von einem anderen, demselben angemessenen Anfange 30
Vgl. dazu auch Phys. 1.9, 192al 6-17, wo von „θείου και άγαθοϋ και έφετοΰ" die Rede ist.
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons' ausgehen, auch hier noch einmal vom Anfange an beginnen. Wir müssen die Natur des Feuers und Wassers, der Luft und Erde an sich selbst, vor dem Entstehen des Himmels, und ihre diesem vorausgegangenen Zustände betrachten. Denn bis jetzt hat noch niemand ihr Entstehen kundgetan, sondern als ob man wisse, was doch das Feuer und jedes derselben sei, sprechen wir von ihnen als Ursprüngen, indem wir Grundbestandteile des Weltalls ansetzen, obwohl es nicht angemessen ist, daß selbst der nur wenig Verständige auch nur mit den Gestaltungen der Silben sie treffend vergleiche. (Tim. 48a-c; Übers, nach Schleiermacher und Müller)
Indem Piaton auch nach der Entstehungsweise der Elemente fragt, fragt er letztlich nach den Prinzipien eines jeden Werdenden. In einer methodologischen Vorbemerkung weist Piaton allerdings darauf hin, daß die eigentlichen άρχαί von allem als solche nicht Gegenstand der Untersuchung sein werden, weil es zu schwer ist, nach dem zugrunde gelegten Verfahren etwas über sie zu sagen: Jetzt sei demnach unser Verfahren folgendes: Über den Ursprung von allem oder die Ursprünge, oder wie man es sonst damit hält, zu sprechen, geziemt sich jetzt nicht, aus keinem anderen Grunde, als weil es schwierig ist, unsere Meinung bei der gegenwärtigen Weise der Behandlung deutlich darzulegen. (Tim. 48c; Obers, nach Schleiermacher und Müller) Im Anschluß an diese Vorbemerkungen beginnt der Neuansatz dann in 48e mit dem Hinweis, daß „wir damals zwischen zwei Gattungen [δύο είδη] unterschieden haben, daß nun aber noch eine dritte Gattung [τρίτον α λ λ ο γένος] aufzuweisen ist". Von diesen beiden „damaligen Gattungen", die in 27d-28a als das (i) „Immerseiende" und als das (ii) „Immerwerdende" bestimmt wurden, wird nun folgendes gesagt: Reichten doch jene zwei bei der früheren Darstellung aus, die eine als Gattung des Vorbilds [παραδείγματος είδος] zugrunde gelegt, als denkbar und stets in derselben Weise seiend, die zweite aber als Nachbildung des Vorbildes [μίμημα δέ παραδείγματος], als Entstehung habend und sichtbar. Eine dritte aber stellten wir früher nicht auf, indem wir meinten, daß die beiden ausreichen würden; doch jetzt scheint die Untersuchung zu dem Versuche uns zu nötigen, eine schwierige und dunkle Gattung durch Reden zu erhellen. (Tim. 48e-49a; Übers, nach Schleiermacher und Müller) In bezug auf diese schwierige, dunkle Gattung und der ihr wesentlich zukommenden Bedeutung (vgl. ,,δύναμιν κατά φύσιν": 49a), der Piaton später auch den Namen des 'Raumes' (χώρα: 52b) geben wird, heißt es nun: Als welche Natur und Kraft besitzend müssen wir sie also annehmen? Vor allem die: daß sie allen Werdens Aufnahme sei wie eine Amme [πάσης εΐναι γενέσεως ϋποδοχήν αυτήν οίον τιθήνην]. (Tim. 49a; Übers, nach Schleiermacher und Müller) Faßt man die Bestimmungen, die nun im weiteren Verlaufe der Erzählung von dieser dritten Gattung gegeben werden, zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: - Sie ist die Aufnehmerin und Amme alles Werdens (vgl. „πάσης είναι γενέσεως ϋποδοχήν αϋτήν οίον τιθήνην": 49a) bzw. die alle Körper aufnehmende Natur (vgl. ,,τά πάντα δεχομένης σώματα φύσεως": 50b). - Wie eine Mutter (μήτηρ: 50d; 51a) ist sie das Ίη dem [das Werdende] wird' (τό έν ω γίγνεται: 50d) bzw. das In dem (έν ω: 49e-50a) alles Werdende zur Erschei-
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nung kommt. Sie ist die Mutter und Pflegerin (vgl. „μητέρα και ύποδοχήν": 51a) dessen, was sichtbar und wahrnehmbar geworden ist. Sie selbst aber ist den Sinnen unzugänglich, auch vom Geiste nur, so zu sagen, durch einen „Bastardschluß" erfaßbar und kaum zuverlässig bestimmt (vgl. ,,αύτό δέ μετ αναισθησίας άπτόν λογισμω τινι νόθφ, μόγις πιστόν": 52b). - Sie ist immer Einunddasselbe (vgl. ,,ταύτόν αύτήν": 50b). Sie nimmt alles auf und nimmt doch nie und in keiner Weise irgendeine Gestalt (μορφή) an, die irgendeiner von demjenigen ähnlich wäre, was in sie eingeht, sondern wie eine bildsame Masse (έκμαγεΐον: 50c) liegt sie fur ein jedes zum Abdrucke bereit und läßt sich durch alles, was in sie eintritt, in Bewegung setzen und in Gestalten kleiden, und dadurch erscheint sie denn bald in dieser und bald in jener Form. Was in sie eintritt und aus ihr heraustritt, sind stets Abbilder des Seienden (μιμήματα των δντων: 50c). Sie ist selber ohne alle Gestalt (50e) bzw. ein gestaltloses Seiendes (άμορφον δν: 50d).
In 52a-d werden die Bestimmungen der drei Gattungen wie folgt zusammengefaßt: (i) Die erste Gattung - die Ideen ('Vater') - ist „die stets auf dieselbe Weise sich verhaltende Art [τό κατά ταύτα είδος έχον], unerzeugt und unvergänglich [άγέννητον και άνώλεθρον], weder in sich ein Anderes von anderswo her aufnehmend, noch selber in irgend ein Anderes eingehend, unsichtbar [άόρατον] und auch sonst mittelst der Sinne nicht wahrnehmbar, die, deren Betrachtung dem vernünftigen Denken zu Teil geworden ist", (ii) Die zweite Gattung - die Werdenden ('Kind') - ist der ersten Gattung „gleichnamig und ähnlich [όμώνυμον δμοιόν τε έκείνω], sinnlich wahrnehmbar [αίσθητόν], erzeugt in steter Bewegung [γεννητόν, πεφορημένον αεί], entstehend an einem Orte [γιγνόμενόν τε έν τινι τόπω] und wieder von da verschwindend", (iii) Die dritte Gattung der Raum (χώρα) ('Mutter') - ist „dem Untergange nicht unterworfen". Sie ist dasjenige, welches „Allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt, selbst aber den Sinnen unzugänglich, auch vom Geiste nur, so zu sagen, durch einen Bastardschluß erfaßt und kaum zuverlässig bestimmt wird, die, welche wir auch im Auge haben, wenn wir träumen, es müsse doch notwendig das, was ist, an einem Orte sein und einen Raum einnehmen". Die Kennzeichnung der χώρα durch überwiegend negative Bestimmungen („unsichtbar", „gestaltlos", „nicht-untergehend") läßt sie wie ein Nichtseiendes erscheinen, als das sie auch in einem Gegensatz zu den Ideen und Urbildern steht, die eigentlich seiend (όντως öv) sind. Dennoch erweist sich die χώρα neben den Ideen als dasjenige, was anderem das Sein gewährt, insofern von den Abbildern gesagt wird, daß es ihnen zukommt, in einem Anderen zu werden, damit sie doch irgendwie mit dem Sein verknüpft sind. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenfassung der für unseren Zusammenhang wesentlichen Gedanken Piatons bezüglich des Werdens in seinem Dialog Timaios liegt die Vermutung nahe, daß Aristoteles in bezug auf die ύποκειμένη φύσις der Platoniker vor allem an die χώρα aus dem Timaios gedacht hat. Die Gleichsetzung der υποκείμενη φύσις mit der χώρα muß nun aber nach Ansicht von Aristoteles auf einen Irrweg führen: Denn die χώρα, verstanden als ein die Abbilder aufnehmendes, vollkommen leeres Gefäß, birgt die Gefahr in sich, daß sie letztlich nicht mehr von der στέρησις unterschieden wird. Sie wird von Pia-
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ton mit dieser insofern gleichgesetzt, als er die χώρα als zugrundeliegende Natur mit dem an sich Ungestalteten (αμορφον δν: 50d) identifiziert und dabei nicht, wie Aristoteles dies in Kapitel 1.7 tut, zwischen einer 'Ungestaltetheit' (αμορφία) und etwas, dem diese 'Ungestaltetheit' zukommt, differenziert. Eben dieses Nichtdifferenzieren zwischen der στέρησις als dem Moment der Ungestaltetheit und der υλη als demjenigen Moment, dem die Ungestaltetheit zukommt, ist wohl gemeint, wenn Aristoteles in 1.9, 192a2 von den Piatonikern sagt, daß sie die zugrundeliegende Natur auch der δύναμις nach zu einer einzigen gemacht haben. Die Identifizierung der zugrundeliegenden Natur mit der χώρα im Sinne eines leeren Gefäßes fuhrt letztlich zum Konzept einer an sich vollkommen bestimmungslosen prima materia und übersieht dabei, daß die Bestimmtheit der ΰλη ein wesentliches Moment für die Bestimmtheit des Werdens darstellt. Zudem ermöglicht die Identifizierung der zugrundeliegenden Natur mit der χώρα als leeres Gefäß letztlich nur ein Entstehen und Vergehen, während sie die Eigenschaftsveränderung, für die die Existenz eines zugrundeliegenden Bleibenden, an dem die Eigenschaften wechseln, vorauszusetzen ist, ausschließt. Zwar wechseln auch die Abbilder der Formen, doch werden wir sehen, daß bei Piaton mit einem jeden solchen Wechsel gleichsam ein neues Ding entsteht.
9.1.3.2 Piatons Überlegungen zum Problem des Werdens im „Phaidon" Daß sich Aristoteles in Physik I auch auf den Dialog Phaidon bezieht, läßt sich durch folgende Überlegung verdeutlichen:31 In den vorhergehenden Kapiteln wurde bereits mehrfach auf die von Aristoteles herausgestellte Differenz zwischen den gegensätzlichen Dingen (Dichtes-Dünnes, Gebildetes-Ungebildetes, Weibliches-Männliches) einerseits und den gegensätzlichen Bestimmungen (Dichte-Dünne, Bildung-Unbildung, Weiblichkeit-Männlichkeit) andererseits, wie sie auch in 1.9, 192a23-25 zu finden ist, hingewiesen. Diese Differenz kann durchaus als eine Referenz auf den Phaidon verstanden werden. Denn in Entsprechung zu der Bemerkung von Aristoteles in 1.9, 192a23-25, daß nicht die Häßlichkeit selbst oder die Weiblichkeit selbst nach ihren Gegensätzen streben, sondern etwas, dem Häßlichkeit oder Weiblichkeit als Akzidentien zukommen, hat Piaton im Phaidon darauf hingewiesen, daß nicht die gegensätzlichen Bestimmungen, sondern nur die gegensätzlichen Dinge auseinander werden (vgl. 102d-103c).
Es sei auch darauf hingewiesen, daß die im Phaidon und in Physik Α angeführten Beispiele in einer auffallenden Parallele zueinander stehen: So begegnen wir den im Phaidon am häufigsten angeführten Beispielen Mensch, Pferd, Kleid, Holz und Stein (vgl. Prauss, 1966: 70) auch im Buch Α der Physik. In bezug auf diese Beispiele fällt zudem auf, daß von den Dingen, die Piaton in Phaidon 78e als Beispiele für Wahrnehmungsdinge anführt - nämlich Mensch, Pferd und Hemd -, die Beispiele Mensch und Pferd auch von Aristoteles als Beispiele für eine ούσία in Phys. 1.2, 185a24 angeführt wurden; vom Hemd war dann in 1.2, 185b20 die Rede. Zugleich ergänzte Aristoteles die beiden Beispiele Mensch und Pferd in Kapitel 1.2 bezeichnenderweise durch das Beispiel der Seele, die ja das zentrale Thema des Phaidon darstellt.
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Im Zusammenhang mit der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele behandelt Piaton im Phaidon auch das Werden der konkreten Dinge, wobei er - ebenso wie im Timaios - keinen Zweifel daran läßt, daß er für den Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Dinge die heraklitische These vom πάντα ρεΐ insofern teilt, als sich das konkrete Einzelding, da es beständig seine Bestimmungen wechselt, niemals als dasselbe verhält (vgl. ,,μηδέποτε κατά ταύτα εχει": vgl. 78c79a).32 Piaton beschreibt das Werden im Phaidon zunächst als ein Werden aus seinem jeweiligen Gegensatz: Betrachte es nun nicht allein an Menschen, fuhr jener fort, wenn du dessen eher innewerden willst, sondern auch an den Tieren insgesamt und den Pflanzen; und überhaupt an allem, was eine Entstehung hat, laß uns zusehen, ob etwa alles so entsteht, nirgends anders her als jedes aus seinem Gegenteil, was nur ein solches hat, wie doch das Schöne von dem Häßlichen das Gegenteil ist und das Gerechte von dem Ungerechten, und ebenso tausend anderes sich verhält. Dieses also laß uns sehen, ob nicht notwendig, was nur ein Entgegengesetztes hat, nirgend anders her selbst entsteht als aus diesem ihm Entgegengesetzten. (Phaidon, 70d-e; Übers, nach Schleiermacher)
Nun finden sich im Phaidon jedoch zwei Thesen bezüglich des Werdens, die sich, wie ein aufmerksamer Anwesender (vgl. „τις των παρόντων": 103a) feststellt, zunächst zu widersprechen scheinen. Lautet die erste These (Phaid. 70a71d), daß das Entgegengesetzte jeweils aus seinem Entgegengesetzten wird (z.B. Leben aus Tod, Wachen aus Schlaf, Kleineres aus Größerem, Schönes aus Häßlichem usw.), so lautet demgegenüber die zweite These {Phaid. 102d-103a), daß die Gegensätze niemals auseinander werden: Denn mir leuchtet ein, daß nicht nur die Größe selbst niemals zugleich groß und klein sein will, sondern daß auch die Größe in uns niemals das Kleine aufnimmt oder übertreffen werden will, sondern eines von beiden, daß sie entweder flieht und aus dem Wege geht, wenn ihr Gegenteil, das Kleine, sich nähert, oder, wenn es da ist, untergeht, niemals aber bleibend und die Kleinheit aufnehmend etwas anders sein will, als sie war; so wie ich allerdings aushaltend und die Kleinheit aufnehmend derselbe bin, der ich war, und nur eben als dieser selbe klein bin. Jene aber hat nicht das Herz, indem sie groß ist, auch klein zu sein. So auch das Kleine in uns will niemals groß werden oder sein; noch auch sonst eins von zwei Entgegengesetzten will, dasselbe bleibend, was es war, zugleich auch sein Gegenteil werden oder sein, sondern entweder geht es davon, oder es geht unter, wenn ihm dies begegnet. (Phaidon 102d103a; Übers, nach Schleiermacher)
Sokrates' Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs besteht in dem Hinweis, daß in der ersten These von den entgegengesetzten Dingen (πράγματα: 103b) die Rede war, die auseinander werden, während in der zweiten These von den entgegengesetzten Bestimmungen selbst (αύτό τό έναντίον: 103b) gesprochen wird, die niemals auseinander werden können. Piaton ist sich somit durchaus der Tatsache bewußt, daß einerseits zwar ein Weißes ein Schwarzes werden kann, daß Hinsichtlich des Einflusses dieser heraklitischen These auf Piaton bemerkt Aristoteles in Met. 1.6, 987a32-bl folgendes: „Da er [Piaton] nämlich von Jugend auf mit dem Kratylos und den Ansichten des Herakleitos bekannt geworden war, daß alles Sinnliche (aisthetä) in beständigem Flusse begriffen sei und daß es keine Wissenschaft desselben gebe, so blieb er auch später bei dieser Annahme." (Übers, nach Bonitz).
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andererseits jedoch die Weiße selbst nicht schwarz bzw. zur Schwärze werden kann:33 Sokrates hatte sich hingeneigt und zugehört und sagte: Das hast du wacker erinnert, nur bemerkst du nicht den Unterschied zwischen dem jetzt Gesagten und dem damaligen. Damals nämlich wurde gesagt, aus dem entgegengesetzten Dinge [έκ τοϋ έναντίου πράγματος] werde das entgegengesetzte Ding [τό έναντίον π ρ ά γ μ α γ ί γ νεσθαι]: jetzt aber, daJß das Entgegengesetzte selbst sein Entgegengesetztes [αΰτό τό έναντίον έ α υ τ φ έναντίον] niemals werden will, weder das in uns noch das in der Natur. Damals nämlich, ο Freund, redeten wir von den Dingen, die das Entgegengesetzte an sich haben [περί των έχόντων τά έναντία], und benannten sie mit den Namen von jenen, jetzt aber von jenen selbst, durch deren Einwohnung die so genannten Dinge ihre Benennung erhalten. (Phaidon 103a-b; Übers, nach Schleiermacher)
Mag es unserer Wahrnehmung zunächst so erscheinen, als würden sich die Gegensätze ineinander verwandeln, so wird Piaton zufolge doch in der Reflexion deutlich, daß nicht die Größe klein oder zur Kleinheit wird, sondern daß das große Ding zu einem kleinen Ding wird, indem die Bestimmung der Größe durch die Bestimmung der Kleinheit „abgelöst" wird. Prauss (1966: 68-70) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Piaton diesen Wechsel der Bestimmungen allerdings nicht als eine Eigenschaftsveränderung verstehen kann, sondern konsequenterweise als ein Entstehen und Vergehen interpretieren muß.34 Im Unterschied zu Aristoteles, der das Einzelding als eine Substanz mit Attributen versteht, wodurch es ihm gelingt, die Eigenschaftsveränderung in Begriffe zu fassen, betrachtet Piaton, so Prauss, das Einzelding noch nicht als eine Substanz mit Attributen, sondern vielmehr als ein „bloßes Aggregat von Bestimmungen" (S. 69). Dieses Verständnis eines Dings als 'bloßes Aggregat von Bestimmungen' führt jedoch notwendigerweise dazu, daß jedes Ding, das eine seiner Bestimmungen wechselt, mit einem jeden solchen Wechsel zu einem anderen Ding wird: „Das Ding, das seine Bestimmungen wechselt, wird für Piaton mit jedem solchen Wechsel zu einem andern Ding (αλλο αύτό ευθύς γίγνεσθαι) [Krat. 439 D10. Vgl. auch 439 E3-4, 440 Al]." (Prauss, 1966: 69). Dem von Piaton im Phaidon zurückgelegten Weg, der vom Werden der gegensätzlichen Dinge auseinander ausgeht und schließlich zur Unmöglichkeit des
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Prauss (1966: 23) bemerkt in diesem Zusammenhang: „Sehr fraglich aber ist, ob die Herakliteer mit der These πάντα ρεί überhaupt auf die Einzeldinge als solche abzielen. Weitaus wahrscheinlicher ist, daß sie die Einzeldinge nur in ihren wahrnehmbaren Bestimmungen im Auge hatten. Als bestimmte, radikalisierende Auslegung von Gedanken Heraklits ist diese These an dessen Fragmente Β 31, 36, 126 anzuknüpfen. Sie besagt dann primär, daß die wahrnehmbaren Bestimmungen der Dinge ineinander übergehen. Damit erweist sie sich als Verallgemeinerung von Theorien, die die Veränderungen in der Sinnenwelt durch die Annahme deuten, daß Bestimmungen sich ineinander und im besonderen, wie Guthrie im Anschluß an Aristoteles bemerkt, jeweils »in ihr Gegenteil verwandeln«. Im Hinblick auf diese Bestimmungen der Dinge scheint Piaton das πάντα ρεΐ für falsch zu halten und mit der Ideenlehre zu bekämpfen." Vgl. in diesem Zusammenhang auch Met. XIII.4, 1079a24-28: „Nach der Notwendigkeit aber und den herrschenden Ansichten über die Ideen muß, wenn es ein Teilnehmen an den Ideen gibt, es nur von den Wesenheiten Ideen geben. Denn nicht in akzidenteller Weise (symbebekös) findet Teilnahme an ihnen statt, sondern diese muß insofern stattfinden, insofern ein jedes nicht von einem andern als Substrat (hypokeimenon) ausgesagt wird." (Übers, nach Bonitz).
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Werdens der gegensätzlichen Bestimmungen auseinander führt, sind wir in gewisser Weise auch im Buch Α der Physik begegnet, insofern in Kapitel 1.5, wo von einem ύποκείμενον noch keine Rede war, zunächst noch vom Werden eines Weißen aus einem Schwarzen und eines Gebildeten aus einem Ungebildeten gesprochen wurde, während dann in Kapitel 1.7 genauer differenziert wurde und Aristoteles von den Gegensätzen, die dort sprachlich durch abstrakte Termini bezeichnet wurden, sagte, daß sie nichts voneinander erleiden (190b33). Vor dem Hintergrund der bis hierhin skizzierten Überlegungen Piatons bezüglich der Problematik des Werdens im Phaidon und Timaios, läßt sich dessen Modell des Werdens in vereinfachter Form nun durch folgende Darstellung veranschaulichen: Abb. 9.1: Das platonische Modell des Werdens
Werden
('leeres Gefäß')
(das konkrete Ding als χώρα mit dem Abbild α der Idee A)
Das Modell macht deutlich, daß im einfachsten Fall eines Werdeprozesses ein konkretes Ding dadurch entsteht, daß die χώρα das Abbild „ a " der Idee „A" aufnimmt. Das in Phaidon 70-71 beschriebene Werden der gegensätzlichen Dinge auseinander läßt sich vor dem Hintergrund dieses Modells wie folgt erklären: Wenn die χώρα, die bereits das Abbild „ a " der Idee „A" enthält, nun auch das Abbild „ß" der Idee „ B " aufnimmt, und wenn „a" und „ß" zugleich Gegensätze darstellen, dann gilt für das Abbild „a", daß es „entweder flieht und aus dem Wege geht [...] oder, wenn es da ist, untergeht" (Phaidon, 102d-e), niemals jedoch bleibt und „ß" aufnehmend etwas anderes wird als es war, da sich ansonsten entweder ein widersprüchliches Ding ergäbe, das sowohl „ a " wie „ß" beinhalten würde, oder aber das Abbild „ a " zum Abbild „ß" und mithin z.B. die Größe zur Kleinheit würde. Das Werden der gegensätzlichen Dinge auseinander läßt sich in dieser Darstellungsform somit wie folgt verdeutlichen: Abb. 9.2: Das Werden der gegensätzlichen Dinge auseinander Α
Β
Werden
0
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In gewisser Hinsicht erinnert dieses Modell des Werdens an die von Aristoteles in 1.7, 191a5-7 beschriebene Reduktion von drei auf zwei Prinzipien, der zufolge es ausreichend ist, daß das eine der beiden Gegensatzglieder den Umschlag durch seine An- und Abwesenheit (απουσία καί παρουσία) bewirkt. Insofern nämlich die beiden Abbilder „a" und „ß" Gegensätze darstellen, impliziert die Anwesenheit des einen Abbildes zugleich die Abwesenheit des anderen Abbildes. Hierbei ist jedoch auf folgenden Unterschied hinzuweisen, der zwischen der platonischen und der aristotelischen Theorie besteht. Überträgt man den Gedanken der An- bzw. Abwesenheit einer Form auf die aristotelische Theorie, wie dies durch die Passage 191a5-7 nahegelegt wird, so ist der aristotelischen Theorie zufolge ein Mensch z.B. durch die Anwesenheit der Gesundheit gesund und durch deren Abwesenheit krank. Es gilt in bezug auf diese Gegensätze bei Aristoteles, daß sowohl die Anwesenheit des einen Gliedes die Abwesenheit des anderen Gliedes impliziert, als auch daß die Abwesenheit des einen Gliedes die Anwesenheit des anderen Gliedes impliziert. Der platonischen Theorie zufolge ist ein Mensch zwar auch durch die . Anwesenheit des Abbilds der Gesundheit gesund, nicht jedoch ist er zugleich durch deren Abwesenheit krank. Krank ist er vielmehr erst durch die Anwesenheit des Abbilds der Krankheit. Es gilt in bezug auf diese Gegensätze bei Piaton, daß zwar die Anwesenheit des einen Gliedes die Abwesenheit des anderen Gliedes impliziert, nicht aber gilt, daß die Abwesenheit des einen Gliedes die Anwesenheit des anderen Gliedes impliziert. Piaton verdeutlicht dies z.B. an folgender Stelle im Sophistes, wo er sagt, daß eine Seele durch die Anwesenheit der Gerechtigkeit gerecht und durch die Anwesenheit der Ungerechtigkeit ungerecht wird: FREMDER: Und wie? Nehmen sie nicht an, eine Seele sei gerecht, die andere ungerecht, und die eine vernünftig, die andere unvernünftig? THEAITETOS: Unbedenklich. FREMDER: Nicht auch daß jede durch Anwesenheit [ π α ρ ο υ σ ί α ] der Gerechtigkeit eine solche werde und durch die des Gegenteils eine entgegengesetzte? THEAITETOS: Ja auch das geben sie zu. (Sophistes 247a; Übers, nach Schleiermacher)
Platon sagt hier, daß die Seele durch die Anwesenheit der Gerechtigkeit gerecht werde; er sagt aber nicht, daß sie durch die Abwesenheit der Gerechtigkeit ungerecht werde. Vielmehr sagt er, daß sie durch die Anwesenheit des Gegenteils d.h. der Ungerechtigkeit - ungerecht werde. Prauss hat in überzeugender Weise dargelegt, daß es Platon zufolge nicht genügt, daß die Krankheit aus dem Körper austritt, damit ein Körper gesund wird, sondern es muß zugleich auch die Gesundheit in ihn einfließen, da das 'Fliehen' des einen nicht zugleich das 'Eintreten' des entgegengesetzten Abbildes bedeuten muß: Sein [Piatons] Grundsatz lautet: Der Körper ist als Körper weder gut noch schlecht [Lys. 217 B2-3, B4-5, E4], das heißt aber: weder gesund noch krank [Lys. 218 E5219 A2]; Dieser Grundsatz, der den heutigen Leser zunächst vor ein Rätsel stellt, kann nur im Rahmen der platonischen Dynamis-Auffassung verstanden werden. Der Körper ist nicht, wie wir heute sagen würden, entweder krank oder gesund; wenn ein kranker Körper von seiner Krankheit geheilt wird, so ist er damit nach Platon noch
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nicht gesund. Krank und Gesund werden vielmehr analog zu Blond und Schwarz so stofflich und selbständig gedacht, daß es nicht genügt, wenn das Krank aus dem Körper austritt. Damit er gesund wird, muß vielmehr noch stoffliches Gesund in ihn einfließen. (Prauss, 1966: 85 f.)
Wenn Piaton zufolge der menschliche Körper als menschlicher Körper weder gesund noch krank ist, so ist Aristoteles demgegenüber der Auffassung, daß der menschliche Körper als menschlicher Körper notwendigerweise entweder krank oder gesund ist." Aristoteles hat nun in Kapitel 1.9 bei seiner Kritik der platonischen Theorie der Prinzipien eines Werdenden offenkundig ein ähnliches Modell vor Augen, wie es in der oben angeführten Abbildung 9.1 dargelegt wurde. Seine Kritik an diesem Modell besteht vereinfacht gesagt in folgendem: Indem Piaton die ύποκειμένη φύσις in Gestalt der χώρα als ein leeres Gefäß bestimmt und nicht zwischen der ΰλη als eigentlich zugrundeliegendes Moment und der στέρησις als privatives Moment an der ΰλη unterscheidet, geschieht ihm Aristoteles zufolge (vgl. 192al9-20) letztlich doch dasjenige, was er mit seiner in Phaidon 102-103 dargelegten Theorie gerade zu vermeiden suchte: Daß nämlich das Gegenteil nach seiner eigenen Vernichtung strebt. Denn die χώρα verliert j a in dem Moment, da sie im Sinne eines leeren Gefäßes und als etwas vollkommen Gestaltloses (άμορφον δν: vgl. Tim. 50d) ein Abbild „ a " aufnimmt, die ihr wesentlich zukommenden Bestimmungen der Leerheit und Ungestaltetheit und ist insofern kein leeres Gefäß mehr. Im Bilde gesprochen bedeutet dies folgendes: Das leere Gefäß strebt, indem es nach der Aufnahme des Abbilds „ a " der Idee „A" strebt, danach, kein leeres Gefäß mehr zu sein; mithin strebt es nach seiner eigenen Vernichtung. Dies wäre allein dadurch zu vermeiden, wenn Piaton in der anfänglichen χώρα, die noch nicht das Abbild „ a " beinhaltet, ein anfängliches Abbild ,,^α" ansiedeln würde und auf diese Weise zwischen dem Moment des „Gefäßes" als ΰλη einerseits und dem Moment des „Nichtvorhandenseins eines Abbildes" als στέρησις andererseits differenzierte. 36 Dies ist jedoch innerhalb der platonischen Theorie aus dem Grunde unmöglich, da das Abbild „ _ , a" ja die Existenz einer Idee „~A" voraussetzen würde, so daß anzunehmen wäre, daß es irgendwelche „negativen Ideen" gäbe, was jedoch der Grundbestimmung der Idee als 'eigentlich seiend' (δντως öv) und 'ganz und gar eines' widerspricht. Piaton läßt die Momente der ΰλη und der στέρησις nach Ansicht von Aristote-
Vgl. Top. II.6, 112a24-30: „Wo dem Subjekt notwendig nur eines von beiden, dem Menschen z.B. Krankheit oder Gesundheit, zukommt, werden wir, wenn wir von dem einen leicht darlegen können, daß es ihm zukommt oder nicht zukommt, es auch von dem anderen können. Das gilt also umgekehrt ftlr beides, Widerlegung und Behauptung. Haben wir gezeigt, daß einem das eine zukommt, so haben wir gezeigt, daß ihm das andere nicht zukommt, und wenn wir gezeigt haben, daß es ihm nicht zukommt, haben wir gezeigt, daß ihm das andere zukommt." (Übers, nach Rolfes). So sagt Aristoteles in Met. 1.9, 990b13-14 in bezug auf die Konsequenzen innerhalb der platonischen Theorie, daß sich bei ihnen letztlich Ideen ftlr solche Dinge ergeben, für welche Piaton keine Ideen annimmt: „[...]; nach dem Beweis, welcher von der Einheit über der Vielheit des Einzelnen ausgeht, müßte es auch von den Negationen Ideen geben, [...]." (Übers, nach Bonitz).
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les in Gestalt der χώρα als leeres Gefäß letztlich in eines zusammenfallen. Dies im Auge behaltend kehren wir nun zum Kapitel 1.9 der Physik zurück.
9.1.4 Das platonische 'Große-und-Kleine' (192a6-12) Dies aber unterscheidet sich am meisten [von der unsrigen Auffassung]. Wir nämlich behaupten, daß Stoff und Privation verschieden sind [ήμεΐς μεν γαρ ϋλην καΐ στέρησιν έτερον φ α μ ε ν είναι], und daß das eine von diesen, der Stoff, nichtseiend im akzidentellen Sinn [κατά συμβεβηκός] ist, die Privation aber an sich [καθ' αυτήν]; und der Stoff liegt nahe bei der ούσία, ja ist in gewisser Weise ο ύ σ ί α [και την μεν έ γ γ ϋ ς και ο ϋ σ ί α ν πώς, την ύλην], die Privation aber in keiner Weise. Jene dagegen setzen 'das Nichtseiende' [τό μη δν] und 'das Große-und-Kleine' [τό μ έ γ α και τό μικρόν] auf gleiche Weise [ομοίως], entweder beides zusammen oder ein jedes getrennt fur sich. So daß diese Art von Dreiheit ganz und gar verschieden ist von jener. Bis hierhin sind sie ja vorangekommen, daß irgendeine Natur zugrunde liegen muß [δτι δει ΰ π ο κ ε ΐ σ θ α ι φύσιν], diese aber machen sie zu einer einzigen. Und auch wenn man eine Zweiheit [aus ihr] macht, indem man sie 'Großes-und-Kleines' nennt, so macht man doch nichtsdestoweniger dasselbe; das andere Moment [der zugrundeliegenden Natur] hat man dabei ja übersehen. (1.9, 192a2-12)
In bezug auf die eigene und die platonische Ansicht weist Aristoteles zunächst darauf hin, worin sich beide „am meisten unterscheiden". Trägt Aristoteles zuerst (a3-6) seine eigene Auffassung vor (vgl. „ήμεΐς μέν ..."), so expliziert er im Anschluß daran (a6-8) die Auffassung der Platoniker (vgl. „οι δέ ..."), um dann (a8-12) die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Ansichten hervorzuheben. Der aristotelischen Theorie zufolge sind ϋλη und στέρησις voneinander verschieden (έτερον: a3-4). Ihr Verschiedensein (ετερον είναι), das sich auf den Aspekt ihrer δύναμις bezieht, wird im nachfolgenden Satz a4-6 dadurch expliziert, daß der ΰλη zuschrieben wird, sie sei nichtseiend im akzidentellen Sinne (οΰκ öv κ α τ ά συμβεβηκός) und nahe bei der ουσία, ja irgendwie ούσία, während der στέρησις zugeschrieben wird, sie sei nichtseiend an sich (ούκ öv καθ' αυτήν) und in keiner Weise ούσία. Der Behauptung, daß die στέρησις ein Ansich-Nichtseiendes ist, sind wir bereits in 1.8, 191bl5-16 begegnet, wo die στέρησις als ein An-sich-Nichtseiendes (καθ' αύτό μή öv) beschrieben wurde. Da dieses An-sich-Nichtseiende ein συμβεβηκός an dem nun ausdrücklich als ΰλη bezeichneten anderen Moment der ύποκειμένη φύσις darstellt (vgl. auch 1.7, 190 b27), erweist sich die ϋλη als nichtseiend im akzidentellen Sinne (ούκ öv κατά συμβεβηκός). Da die Differenz von ΰλη und στέρησις durch eine Differenz des 'Nichtseins' (ούκ δν) expliziert wird - die ΰλη als ούκ öv κατά συμβεβηκός gegenüber der στέρησις als ούκ δν καθ' αύτό -, ist hier nicht nur eine Verschiedenheit des semantischen Inhalts, sondern auch und gerade eine Verschiedenheit des Seins- bzw. Nichtseinscharakters gemeint.37 Ebenso wie 37
Dies wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die ΰλη im Gegensatz zur στέρησις, die auf keine Weise ούσία ist, nahe bei und in gewisser Weise ούσία ist.
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Aristoteles in 1.7, 19lal-3 dargelegt hat, daß den beiden Momenten der ύποκειμένη φύσις das Sein (τό είναι) auf verschiedene Weise zukommt (vgl. ,,τό έτερον ύπάρχειν τό είναι αύτοίς"), soll hier nun durch das „έτερον φαμεν είναι" (a3-4) ein Unterschied in bezug auf das „Nichtsein" (ούκ δν) herausgestellt werden. Wenn Aristoteles von der Verschiedenheit der ύλη und der στέρησις in bezug auf das Nichtseiende (ούκ öv) spricht, so erinnert diese Bemerkung an die platonische Bestimmung des „Nichtseienden" als „έτερον του δντος" aus dem Sophistes.n Während Piaton das 'Nichtseiende' dort letztlich unter den Begriff des 'Verschiedenen' stellt und auf diese Weise gegenüber Parmenides zeigt, daß ein Nichtseiendes als Verschiedenes ist,29 geht Aristoteles zugleich insofern einen Schritt weiter als Piaton, als er nicht nur zeigt, daß Nichtseiendes ist, sondern zudem darauf aufmerksam macht, daß auch hinsichtlich dieses Nichtseienden selbst zwischen verschiedenen Arten differenziert werden muß. So unterscheiden sich ja die Momente der ύλη und der στέρησις dadurch voneinander, daß das eine (die ύλη) ein Nichtseiendes κατά συμβεβηκός, das andere (die στέρησις) jedoch ein Nichtseiendes καθ' αύτό ist.40 Demgegenüber hat Piaton, so Aristoteles, die ύποκειμένη φύσις als ein sowohl der Zahl als auch der Art nach Einheitliches verstanden. Setzt Aristoteles die Momente der ύλη und der στέρησις als voneinander verschieden an, so schreibt er demgegenüber den Piatonikern zu, daß sie das Nichtseiende (τό μή öv) und das 'Große-und-Kleine' (τό μέγα και τό μικρόν) gleichgesetzt haben (192a6-7). Auch wenn Aristoteles einerseits (a3-6) in bezug auf seine eigene Theorie von „ύλη" und ,,στέρησις", andererseits (a6-8) jedoch in bezug auf die platonische Theorie von „Großem-und-Kleinem" und „Nichtseiendem" spricht, so ist doch gemeint, daß jeweils dieselben Momente einerseits als verschieden und andererseits als identisch gesetzt werden. Aristote38
9
Vgl. Soph. 257b-c: „FREMDER: Wenn wir Nichtseiendes [τό μή öv] sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes vom Seienden [ούκ εναντίον τι λέγομεν τοΰ δντος], sondern nur ein Verschiedenes [άλλ' έτερον μόνον], THEAITETOS: Wie das? FREMDER: Wie, wenn wir etwas nichtgroß [τι μή μέγα] nennen, meinst du, daß wir dann durch dies Wort mehr das Kleine [τό σμικρόν] als das Gleiche [τό ίσον] andeuten? THEAITETOS: Keineswegs. FREMDER: Wir wollen also nicht zugeben, wenn eine Verneinung gebraucht wird, daß dann Entgegengesetztes angedeutet werde, sondern nur soviel, daß das vorgesetzte »Nicht« etwas von den darauf folgenden Wörtern, oder vielmehr von den Dingen, deren Namen das nach der Verneinung Ausgesprochene ist, Verschiedenes andeute. THEAITETOS: Auf alle Weise freilich." (Übers, nach Schleiermacher). Vgl. Soph.258 c-e: „FREMDER: Weißt du auch wohl, daß wir dem Parmenides noch über sein Verbot hinaus sind unfolgsam gewesen? THEAITETOS: Wieso? FREMDER: Noch weiter, als er uns zu untersuchen verboten hat, sind wir vorwärts gegangen in der Untersuchung und haben es dargestellt. THEAITETOS: Wie das? FREMDER. Er sagt doch: »Nicht vermöchtest du ja zu verstehn, Nichtseiendes seie, Sondern von solcherlei Weg halt fern die erforschende Seele.« THEAITETOS: So sagt er allerdings. FREMDER: Wir aber haben nicht nur gezeigt, daß das Nichtseiende ist, sondern auch, als was der Begriff des Nichtseienden sich seiend findet, haben wir aufgewiesen. Denn nachdem wir gezeigt, daß die Natur des Verschiedenen ist und daß sie verteilt ist unter alles Seiende gegeneinander, so haben wir von jedem dem Seienden entgegengesetzten Teile derselben zu sagen gewagt, daß eben er in Wahrheit das Nichtseiende sei." (Übers, nach Schleiermacher). Neben diesen Bedeutungen des 'Nichtseienden' kennt Aristoteles - ebenso wie Piaton - zudem das 'Nichts schlechthin' (μή öv άπλώς).
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les bringt den Gegensatz zwischen seiner eigenen und der platonischen Auffassung in dem Begriffspaar ,,ετερον (a3-4) - ομοίως (a7)" zum Ausdruck. Das Begriffspaar „Großes-und-Kleines" (τό μ έ γ α και τό μικρόν), dem wir bereits in 1.4, 187al7-18 und 1.5, 189a8 begegnet sind, ist die aristotelische Bezeichnung für die platonische ύ λ η im Sinne eines Prinzips. 41 Setzt Aristoteles selbst die ΰ λ η und die στέρησις als voneinander verschieden an, gerade weil sie sich in ihrem Nichtsein voneinander unterscheiden, so wirft er den Piatonikern vor, daß sie die beiden Momenten - 'τό μέγα και τό μικρόν' (das für die ΰ λ η steht) und 'τό μη öv' (das für die στέρησις steht) - nicht voneinander unterschieden haben. Der Aussage, daß die Platoniker das Nichtseiende und das Große-und-Kleine gleichgesetzt haben, fügt Aristoteles hinzu: „entweder beides zusammengenommen oder ein jedes getrennt für sich" (ή τό συναμφότερον ή τό χωρίς έκάτερον: a7-8). Mit dieser Hinzufügung ist folgendes gemeint: Die Platoniker setzten das Nichtseiende (d.h. dasjenige Moment, das Aristoteles als ,,στέρησις" bezeichnet) und das Große-und-Kleine (d.h. dasjenige Moment, das Aristoteles als „ΰλη" bezeichnet) gleich und differenzierten diese beiden Momente hinsichtlich ihrer δ ύ ν α μ ι ς nicht, wobei sie entweder das Große-und-Kleine zusammengenommen oder aber jeweils das Große und jeweils das Kleine für sich als Nichtseiendes setzten. Der Grund für diese Hinzufügung ist vermutlich darin zu sehen, daß nicht verschwiegen werden soll, daß die Platoniker in bezug auf die ΰ λ η gleichwohl zwischen zwei Momenten differenziert haben und somit - ebenso wie Aristoteles - ein zweiheitliches ύποκείμενον annahmen. Aus eben dieser Zweiheitlichkeit der ΰ λ η bei den Piatonikern ergibt sich dann auch ein Einwand gegen die aristotelische Kritik, dem zufolge die Platoniker darauf hinweisen könnten, daß auch bei ihnen die ύποκειμένη φύσις in Gestalt des 'Großen-undKleinen' etwas Zweiheitliches darstellt. Aristoteles macht jedoch deutlich, daß sich seine eigene zweiheitliche ύποκειμένη φύσις von der platonischen zweiheitlichen ύποκειμένη φύσις insofern unterscheidet, als seine eigene Zweiheit von ΰ λ η und στέρησις eine Verschiedenheit dem Sein bzw. Nichtsein nach meint, während dies bei der platonischen Zweiheit von 'Großem-und-Kleinem' nicht der Fall ist, da das 'Große' und das 'Kleine' j a in ein und dieselbe Gattung fallen. Während Aristoteles die ΰλη und die στέρησις als Verschiedenes zugrunde legt, haben die Platoniker das 'Große-und-Kleine' (die ΰλη) und das 'Nichtseiende' (die στέρησις) gleichgesetzt:
Vgl. auch Phys. IV.2, 209bl 1-16 und b33-210a2, wo Aristoteles das platonische „Große-undKleine" mit der „ χ ώ ρ α " und der „ΰλη" gleichsetzt. Zum Ausdruck „τό μ έ γ α κ α ι τό μικρόν" vgl. vor allem die Ausführungen von Stenzel (1924) und Ross (1924: 169 f.). Ross weist in einer Anmerkung zu Met. I. 6 darauf hin, daß Aristoteles mit dem Ausdruck „τό μ έ γ α κ α ι τό μικρόν" die platonische ΰ λ η beschreibt (vgl. Met. 9 8 8 a l 3 ; Phys. 187al8; 2 0 3 a l 5 , 209b35), die er an anderen Stellen auch als „Zweiheit" (δυάς) bezeichnet (vgl. Phys. 192al 1; Met. 987b26, 33, 9 8 8 a l 3 , 1083al2, 1087b7). Das 'Große-und-Kleine' (τό μ έ γ α κ α ι τό μικρόν) hat Aristoteles zufolge (vgl. Met. 9 8 8 a I I ) eine doppelte Funktion: Zum einen entspringen auf der ersten Stufe aus dem 'Großen-und-Kleinen' zusammen mit dem Einen („εν") die Ideen, und zum anderen entspringen dann auf einer zweiten Stufe aus dem 'Großen-und-Kleinen' zusammen mit den auf der ersten Stufe gewonnenen Ideen die konkreten Einzeldinge.
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Daher ist diese Art von Dreiheit [ό τρόπος οΰτος της τριάδος] ganz und gar verschieden von jener. (1.9, 192a8-9)
Ist mit „dieser Art von Dreiheit" (ό τρόπος οΰτος της τριάδος) die platonische Triade einer zweiheitlichen ύ λ η ('Großes-und-Kleines') und eines einheitlichen εΐδος gemeint, 42 so bezieht sich Aristoteles mit J e n e r Art von Dreiheit" auf seine eigene Triade eines zweiheitlichen ύποκείμενον (ΰλη und στέρησις) und eines einheitlichen είδος. Dadurch, daß er hier in bezug auf die platonische ΰ λ η vom „Großen-und-Kleinen" spricht, gesteht er den Piatonikern zunächst zwar ebenfalls eine Triade zu, doch expliziert er im nachfolgenden Abschnitt näher, worin sich diese beiden Triaden voneinander unterscheiden: Bis hierhin sind sie ja vorangekommen, daß irgendeine Natur zugrundeliegen muß [δτι δει ύ π ο κ ε ΐ σ θ α ι φΰσιν], diese aber machen sie zu einer einzigen. Und auch wenn man [τις] 43 eine Zweiheit [aus ihr] macht, indem man sie 'Großes-undKleines' nennt, so macht man doch nichtsdestoweniger dasselbe; das andere Moment [der zugrundeliegenden Natur] hat man dabei ja übersehen. (1.9, 192a9-12)
Zunächst stellt Aristoteles heraus, daß die Platoniker einerseits zur richtigen Erkenntnis gelangt sind, daß eine bestimmte Natur zugrunde liegen müsse (δτι δει ύποκεΐσθαι φύσιν: 192aΙΟ).44 In dieser Hinsicht haben die Platoniker die ύποκειμένη φύσις nach Ansicht von Aristoteles durchaus berührt (der Ausdruck „bis hierhin sind sie vorangekommen" (μέχρι δεΰρο προήλθον: 192a9-10) weist offenkundig auf das Bild des 'Berührens' (vgl. ,,ήμμένοι") aus 191b35 zurück). Auch haben die Platoniker eine gewisse Triade von Prinzipien angenommen. Andererseits jedoch unterscheidet sich ihre Triade von der von Aristoteles vorgeschlagenen Triade darin, daß sich ihre zugrundeliegende Natur, auch wenn sie diese in Gestalt des 'Großen-und-Kleinen' zu einer Zweiheit gemacht haben, letztlich dem Sein nach als ein Einheitliches erweist, insofern „das Große" und „das Kleine" dem Sein nach nicht verschieden sind. In dieser Hinsicht haben die Platoniker die ύποκειμένη φύσις nach Ansicht von Aristoteles nicht hinreichend erfaßt. Die aus den Momenten von ύλη und στέρησις bestehende zweiheitliche ύποκειμένη φύσις von Aristoteles umfaßt demgegenüber ontologisch betrachtet Verschiedenes, insofern die ύλη und die στέρησις sowohl ihrem Sein wie auch ihrem Nichtsein nach zu unterscheiden sind.
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Düring (1966: 234) ist demgegenüber der Auffassung, daß hier mit der platonischen Triade die Triade von öv, χώρα und γένεσις aus dem Timaios gemeint sei. Das „τις" ist offenkundig auf Piaton zu beziehen (vgl. Ross, 1936: 497 und Hardie/Gaye, 1930); vgl. auch Met. 987b20, 33. Chemiss (1962: 87 f.) weist daraufhin, daß diese Textpassage den Anschein erweckt, als hätten wir es hier mit einer Erwiderung von Aristoteles auf einen Einwand eines Schülers von Piaton zu tun: „[...] all this has the air of a rejoinder to someone who had argued that Plato in using the Term »dyad« had anticipated Aristotle's objection. This passage seems, then, to be a part of a debate among Plato's pupils." Dies erinnert an die Bestimmung der χώρα als die „alle Körper aufnehmende φύσις" im Timaios 50b.
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9.1.5 Was hat Piaton übersehen? (192al2-16) [...]. Denn das andere Moment [der zugrundeliegenden Natur] hat man dabei ja übersehen [τήν γαρ έτέραν παρεΐδεν], Denn das Bleibende [ή μέν γάρ υπομένουσα] ist Mitursache [συναιτία] des Werdenden [των γιγνομένων] zusammen mit der Gestalt [xfj μορφή], so wie eine Mutter [ώσπερ μήτηρ]. Das andere Glied der Entgegensetzung möchte einem jedoch oft, wenn man die Vernunft streng auf die Schlechtigkeit/ Mangelhaftigkeit [πρός τό κακοποιόν] von ihm richtet, so erscheinen, als ob es ganz und gar nicht sei [ούδ' εΐναι τό παράπαν]. Denn wenn es etwas Göttliches und Gutes und Erstrebenswertes gibt [δντος γάρ τίνος θείου και άγαθοΰ και έφετοΰ], so sagen wir, daß das eine das Gegensätzliche dazu ist, das andere aber das ist, was von Natur aus nach diesem strebt und begehrt gemäß seiner eigenen Natur [τό δέ δ πέφυκεν έφίεσθαι και όρέγεσθαι αύτοΰ κατά τήν αύτοΰ φύσιν]. Ihnen aber geschieht es, daß das Gegensätzliche nach seinem eigenen Untergang strebt. (1.9, 192al2-20)
Dieser Abschnitt, der sich in sprachlicher Hinsicht offenkundig auf den platonischen Dialog Timaios bezieht, 45 stellt eine Argumentation dar, in der wir dem Begründungspartikel „denn" (γάρ) allein dreimal - in a l 2 , a l 3 und a l 6 - begegnen. Aristoteles hat in 192a3-8 dargelegt, daß die beiden Momente der υποκείμενη φύσις - einerseits 'Stoff und andererseits 'Privation' - in der platonischen Theorie als identisch gesetzt werden, während sie seiner Theorie zufolge als verschieden zu betrachten sind. Hieraus Schloß Aristoteles in a 8-9 femer, daß folglich (ώστε: a8) die platonische Triade von Prinzipien („Großes-und-Kleines" und είδος) von der eigenen Triade von Prinzipien (ύλη, στέρησις und είδος) ganz und gar verschieden sei, wobei die Verschiedenheit eben die υποκείμενη φύσις betrifft. Diese Verschiedenheit erläuterte Aristoteles im nachfolgenden Satz a9-10 mit dem Hinweis darauf, daß die Platoniker diese ύποκειμένη φύσις, auch wenn ihnen zugute zu halten ist, daß sie überhaupt eine Natur zugrunde gelegt haben, doch im Gegensatz zu Aristoteles, der zwischen dem stofflichen und privativen Moment unterscheidet, zu einem 'Einheitlichen' gemacht haben (vgl. ,,ταύτην μέντοι μίαν ποιοΰσιν": alO-11). Dieser Kritik wurde in al 1 von Seiten der Platoniker entgegengehalten, daß sie selbst die ύποκειμένη φύσις doch insofern als etwas Zweiheitliches betrachten, als sie dieser j a den Namen „Großes-und-Kleines" geben. Diesem Gegeneinwand begegnete Aristoteles dann in al 1-12 mit dem Hinweis, daß dies an der Sachlage nichts ändert, bzw. daß sie dennoch dasselbe tun (vgl. ,,ούθέν ήττον ταύτό ποιεί": b l 2 ) nämlich, daß sie dennoch die ύποκειμένη φύσις zu einem 'Einsheitlichen' machen -, weil sie ja das andere Moment an der ύποκειμένη φύσις - nämlich die στέρησις - übersehen haben (vgl. „τήν γάρ έτέραν παρεΐδεν": a 12). Diese haben sie insofern übersehen, als sie - wie in a6-8 dargelegt wurde - das stoffliche und das privative Moment nicht voneinander differenzierten. Vgl. Charlton (1970: 82): „In these lines I hear ironical echoes of Plato's language in the 77maeus: phantastheie (al5), phantazomenon (Tim. 49 d l ) ; oud' einai to parapan (al6), meden to parapan einai (Tim. 52 c5); atenizonti ten dianoian (al5-16), chalepon kai amudron. dysalototaton (Tim. 49a3, 51 b 1, cf. 52b3 etc.)."
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Im nachfolgenden Abschnitt a 13-16 erläutert Aristoteles nun, wie es den Platonikern geschehen konnte, daß sie das andere Moment der ύποκειμένη φύσις übersahen. Zwar haben sie das bleibende Moment (ή μέν γαρ υπομένουσα) womit das stoffliche Moment in Gestalt des „Großen-und-Kleinen" bzw. in Gestalt der χώρα gemeint ist - neben der Gestalt (τη μορφή) - womit das είδος gemeint ist - zu Recht wie eine Mutter (ώσπερ μήτηρ: vgl. Tim. 50d; 51a) als Mitursache (συναιτία) des Werdenden bestimmt, doch haben sie andererseits das andere Glied der Entgegensetzung (ή δ' έτερα μοΐρα της εναντιώσεως) - womit die dem είδος entgegengesetzte στέρησις gemeint ist - nicht als Mitursache des Werdenden bestimmt und gewissermaßen übersehen. Der Grund für dieses Übersehen besteht darin, daß einem dieses andere Glied der Entgegensetzung (die στέρησις) oft als ganz und gar nichtseiend (ούδ' είναι τό παράπαν) erscheinen mag, wenn man die Vernunft streng auf dessen Mangelhaftigkeit bzw. Schlechtigkeit (προς τό κακοποιόν) richtet. 46 Das Übersehen der στέρησις ist für Aristoteles somit in der Natur der στέρησις begründet. Aristoteles hatte die στέρησις in 1.8, 191bl5-16 j a selbst als ein An-sich-Nichtseiendes charakterisiert, so daß sie leicht als etwas Ganz-und-gar-Nichtiges erscheinen kann, wenn man nicht bedenkt, daß sie ein συμβεβηκός an etwas anderem darstellt. Im nachfolgenden Abschnitt 192a 16-25 verdeutlicht Aristoteles dann mit Hilfe von Beispielen den Unterschied zwischen seiner eigenen und der platonischen Theorie, wobei gezeigt wird, daß die platonische Theorie von ihren eigenen Prämissen ausgehend letztlich zu Konklusionen gelangt, die im Widerspruch zur platonischen Theorie stehen. So wird es ihnen Aristoteles zufolge aufgrund des Übersehens der στέρησις letztlich geschehen, daß das Gegenteil nach seiner eigenen Vernichtung strebt (vgl. ,,τοΐς δέ συμβαίνει τό έναντίον όρέγεσθαι της α ύ τ ο ΰ φθοράς": a 19-20). Inwiefern dies einen Widerspruch zu Prämissen der platonischen Theorie darstellt, werde ich weiter unten darlegen. Nun ist das 'Übersehen des anderen Moments (vgl. „την γαρ έτέραν παρεΐδεν": 192a 12)' an der ύποκειμένη φύσις, das hier nicht explizit mit Namen genannt wird, in der vorliegenden Interpretation als ein 'Übersehen der στέρησις' gedeutet worden. 47 Da sich die ύποκειμένη φύσις aber aus den Momenten der ΰ λ η und der στέρησις zusammensetzt, wobei der Ausdruck „την έτέραν" 46
Der Ausdruck „τό κ α κ ο π ο ι ό ν " (192al5) ist bereits in einem Zusammenhang mit dem nachfolgenden Beispiel eines Göttlichen, Guten und Erstrebenswerten in 192al6-19 zu sehen. Auch ist hier daran zu denken, daß Aristoteles in Met. XIV.4, 1092al vom „Bösen" als „Raum des Guten" (vgl. „και τό κ α κ ό ν τ ο ϋ ά γ α θ ο ΰ χ ώ ρ α ν ε ί ν α ι " ) spricht. Der Ausdruck „τό κ α κ ο π ο ι ό ν " (192al5), der wörtlich „Übles-Tuendes" bedeutet, ist von den Interpreten auf unterschiedliche Weise übersetzt worden. Zekl (1987: 47) spricht von dem „Mangelhaften", Prantl (1854: 49) von der „bösen Wirkung", Hardie/Gaye (1930) von „evil agent", Wagner (1967: 30) von „Wertnegativität" und Ross (1936: 348) von „destructive character". In seinem Kommentar bemerkt Ross (1936: 497): „προς τό κ α κ ο π ο ι ό ν α ύ τ ή ς , i.e. to its association with φθορά (which depends on its introduction in place of form) rather than with γ έ ν ε σ ι ς . " Diese Deutung findet sich auch bei den meisten anderen Interpreten: Vgl. Ross (1936: 497), Hardie/Gaye (1930), Wicksteed/Cornford (1980: 93), Charlton (1970: 82), Apostle (1969: 202, Fn.8), Düring (1966: 235), Happ (1971: 294), Claghorn (1954: 10), Zekl (1987: 246, Fn.95) und Seidl (1995: 6). Für diese Interpretation spricht zudem der Umstand, daß es in den Handschriften neben der Lesart „την γ α ρ έτέραν π α ρ ε ΐ δ ε ν " ( a l 2 ) ebenfalls die Variante ,,παρεΐδε την στέρησιν" (I) gibt.
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
grammatisch sowohl auf die ΰλη als auch auf die στέρησις bezogen werden kann, und da zunächst nur herausgestellt wurde, daß Piaton die ontologische Verschiedenheit der beiden Momente übersehen habe, kann hier auch gemeint sein, daß die Platoniker nicht die στέρησις, sondern daß sie vielmehr die ΰλη übersehen haben. Werfen wir einen Blick auf die Übersetzung von Wagner, so ist dieser der Ansicht, daß Aristoteles hier sagt, daß Piaton nicht die στέρησις, sondern daß er vielmehr die Zweiheit (vgl. „δυάδα": al 1), auf die Wagner den Ausdruck „την έτέραν" (al2) bezieht, übersehen habe: [...]; denn die andere Zweiheit (die von Material einerseits und Bestimmtheitsgegensätzen andererseits) hat man dabei übersehen. (Wagner, 1967: 29)
In seinem Kommentar zu dieser Textstelle bemerkt Wagner dann folgendes: 29,24-30 (a 6-9): Die Piatonschüler setzen als μή öv entweder den Gegensatz GroßKlein oder aber sowohl das Große wie das Kleine; sie setzen dieses μή öv als das notwendige Substrat, das die Formung und Bestimmung durch das είδος - das έν erfährt. Aber sie sehen den Doppelcharakter dieses Substrats nicht ein. Sie denken das Substrat bloß als Gegensatzdimension, nicht als Material im eigentlichen Sinn. 29,30-30,2 (a9-16): Die entscheidende Zweiheit ist die von ΰ λ η und στέρησις; die bloße Zweiheit der Gegensatzglieder im Substrat (μέγα-μικρόν) genügt nicht. Denn auf der Seite des Substrates gibt es j a auch ein b e h a r r e n d e s Glied. Und dies hat eine sehr entscheidende Funktion - eher schon könnte man das eine Glied jenes bei den Piatonschülern als Substrat fungierenden Gegensatzes, nämlich das negative Ausgangsglied unterschlagen. (Wagner, 1967: 442)
In seinem Kommentar scheint Wagner nun der Ansicht zu sein, daß die Platoniker Aristoteles zufolge beim Übersehen der Zweiheit eigentlich die ΰλη als das beharrende Moment übersehen haben. In diesem Sinne interpretiert auch Craemer-Ruegenberg diese Textstelle, wobei sie auf ein letztes, absolut bestimmungsloses Substrat verweist: Andererseits darf aber 'Materie' nicht gänzlich mit dem relativ formfreien Zustand des Prozeßträgers identifiziert werden, denn damit ein Substrat als solches und als Faktor eigener Art im Naturgeschehen gewertet werden kann, muß dem relativ formfreien Träger noch ein weiteres, dessen Schongeformtheit zugrundeliegendes Moment zugeordnet werden. Dies ist 'Materie', verstanden als letztes, absolut bestimmungsloses Substrat. [...] In diesem Zusammenhang äußert Aristoteles auch Kritik an der (späten) Lehre Piatons, nach welcher ebenfalls drei Prinzipien, das Eine, das Große (das Überschießende) und das Kleine (das Übertroffene, Zurückbleibende), alle drei Bestimmtheitsprinzipien, 'das Seiende' determinieren, wobei die wichtige Rolle des reinen Substrats, des letzten Zugrundeliegenden ausgeklammert werde. (Craemer-Ruegenberg, 1980: 33)
Der Interpretation von Craemer-Ruegenberg zufolge scheint Piaton also nach Ansicht von Aristoteles letztlich die ΰλη als das letzte, absolut bestimmungslose Substrat übersehen zu haben. Demgegenüber bin ich jedoch der Auffassung, daß Piaton mit seiner χώρα nach Ansicht von Aristoteles gerade nicht das letzte, absolut bestimmungslose Substrat übersehen habe, sondern daß er vielmehr, gerade weil er in Gestalt der χώρα ein letztes, absolut bestimmungsloses Substrat zu-
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gründe legt, auf diese Weise die ύλη und die στέρησις in eines zusammenfallen läßt. Nun spricht zwar für die Interpretation des 'Übersehens der ΰλη', daß es innerhalb der platonischen Theorie nicht verwunderlich wäre, wenn Piaton gerade der ΰλη im Gegensatz zum είδος so gut wie keine Aufmerksamkeit schenkt. Ebenso spricht auch die Tatsache, daß es Aristoteles zufolge bei Piaton keine Eigenschaftsveränderung gibt, dafür, daß Piaton die ΰλη als das bleibende Moment, das ja gerade für die Eigenschaftsveränderung von zentraler Bedeutung ist, übersehen hat. Andererseits sind jedoch mit der Interpretation des 'Übersehens der ΰλη' folgende Probleme verbunden: (i) Weshalb sollte Aristoteles im bisherigen Verlauf von Physik I mit dem Ausdruck ,,τό μέγα καί τό μικρόν" die platonische ΰλη bezeichnen (vgl. 1.4, 187a 17-20), wenn er hier nun der Auffassung wäre, daß Piaton die ΰλη übersehen hat? (ii) Zudem legt die Gliederung des Satzes al3-16 nahe, daß dieser Satz eher in dem Sinne zu verstehen ist, daß Piaton zwar (μέν) die ΰλη als bleibendes Moment im Sinne einer Mitursache bestimmt habe, daß er aber (δέ) andererseits die στέρησις nicht als Mitursache bestimmt habe. So bestimmt Piaton die χώρα im Timaios doch gerade als dasjenige Moment, das bleibt: Die χώρα ist dasjenige, „welches Allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt" (Tim. 52a-b). Sie ist in Analogie zu den Ideen nur dem Denken zugänglich (51 a-b) und dem Untergange nicht unterworfen (52a-b). Sie steht für dasjenige, von dem man im Gegensatz zu den fliehenden und nicht bleibenden Beschaffenheiten sagen kann „dieses (τούτο)" und „das (τόδε)": [...], sondern bei weitem am sichersten ist es, folgendes ansetzend über sie [die χώρα] zu reden: Dasjenige, was wir stets bald so, bald anders werden sehen, wie zum Beispiel Feuer, nicht als ein dieses, sondern jeweils als das sobeschaffene Feuer anzureden, noch Wasser als ein dieses, sondern immer als das so beschaffene, noch irgend sonst etwas, als ob es eine Beständigkeit habe, soviel wir aufzeigen, indem wir die Ausdrücke »das« [τόδε] und »dieses« [τοΰτο] gebrauchen und so etwas daran kundzumachen glauben. Denn es entschlüpft uns, ohne die Bezeichnung »das« und »dieses« und »diesem« sowie jede, welche es als dauernd darstellt, zu erwarten. Dieses alles darf man vielmehr nicht sagen, [...]; dasjenige aber, worin jeweils entstehend jedes von ihnen erscheint und woraus es wieder entschwindet, allein jenes müssen wir dagegen bezeichnen, indem wir uns der Ausdrücke »dieses« und »das« dabei bedienen; jedoch das Irgendwiebeschaffene, warm oder weiß oder irgend etwas von dem Entgegengesetzten, und alles daraus Hervorgehende, jenes wiederum dürfen wir mit keinem von diesen Ausdrücken bezeichnen. (Tim. 49d-50a; Übers, nach Schleiermacher und Müller)
Piaton verdeutlicht dies durch folgendes Beispiel: Noch einmal aber will ich noch deutlicher mich darüber zu erklären versuchen. Wenn nämlich einer, der alle möglichen Gestaltungen aus Gold [έκ χρυσοΰ] bildete, nicht müde würde, jede zu allen anderen umzubilden, jemand aber auf eine derselben hinwies und fragte: was das doch sei [τί ποτ' έστί], dann wäre es in Hinsicht auf die Wahrheit bei weitem das sicherste zu sagen: Gold [χρυσός], das Dreieck aber und die anderen Gestaltungen, die darin sich bildeten, diese nimmer als seiend zu bezeichnen, da sie j a während solcher Angabe wechseln, sondern zufrieden zu sein, wenn sie nur das »ein Sobeschaffenes« mit Sicherheit von jemand annehmen wollen. Dieselbe Rede gilt nun auch von jener Natur, die alle Körper in sich aufnimmt; diese
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ist als stets dieselbe zu bezeichnen, denn sie tritt aus ihrem eigenen Wesen durchaus nicht heraus. {Tim. 50a-b; Übers, nach Schleiermacher und Müller)
Die aus dem Gold gebildeten Figuren sind in ihrem Was-sein (vgl. ,,τί ποτ' έστί") Piaton zufolge immer noch Gold (Tim. 50a-b). Die sicherste und richtigste Antwort auf die in bezug auf die aus Gold gebildeten Figuren gestellte Frage „was ist das?" wäre Piaton zufolge: „Dies ist Gold". Demgegenüber ist Aristoteles der Ansicht, daß, wenn z.B. eine Statue aus Gold gemacht wird, das Sicherste, was wir über diese Statue sagen können, darin zu sehen ist, daß sie eine Statue ist, nicht jedoch, daß sie Gold ist, denn die Statue könnte ja auch aus anderen Materialien sein.48 Aus all diesem wird deutlich, daß Piaton die χώρα im Timaios selbst als ein Bleibendes versteht. Würde Aristoteles also Piaton vorwerfen, er habe das bleibende Moment übersehen, während er sich dabei zugleich auf den Timaios bezieht, so würde er die platonische Theorie in einem allzu offensichtlichen Punkte verfälschen. Aufgrund dieser Schwierigkeiten bin ich der Überzeugung, daß Piaton nach Ansicht von Aristoteles primär die στέρησις übersehen habe. Gleichwohl ist in einem weiteren Schritt der Interpretation dem 'Übersehen der ύλη' insofern recht zu geben, als das Übersehen der στέρησις zu einer falschen Bestimmung der ύλη führt, da diese nun mit der στέρησις zusammenfällt und auf diese Weise letztlich doch kein Bleibendes darstellt. So wird die ϋλη der Platoniker, wenn man sie in Gestalt der χώρα mit der στέρησις gleichsetzt, Aristoteles zufolge bei jedem Werdeprozeß nach ihrem eigenen Untergange streben,49 welches einen Widerspruch zur Bestimmung der χώρα als ein dem Untergange nicht Unterworfenes (vgl. Tim. 52a-b) darstellt. Dadurch, daß die στέρησις als von der ϋλη zu unterscheidendes Moment übersehen wird und gleichsam so erscheint, als sei sie ganz und gar nicht - was ja durch ihre eigene Natur als An-sich-Nichtseiendes begünstigt wird -, fällt sie mit der ύλη in eines zusammen.50 Dieses Zusammenfallen von ύλη und στέρησις kommt in der platonischen Bestimmung der ύλη als „leeres Gefäß" (χώρα), das für sich betrachtet vollkommen gestaltlos ist, auf deutliche Weise zum Ausdruck. Genaugenommen haben die Platoniker nach Ansicht von Aristoteles die στέρησις als στέρησις (nämlich als etwas, das zwar für sich betrachtet ein An-sich-Nichtseiendes darstellt, gleichwohl aber ein Akzidens an einem anderen zugrundeliegenden Moment ist) und dadurch auch die ύλη als ύλη (nämlich als etwas, das von sich aus bereits eine Bestimmung hat und dem die στέρησις als Akzidens zukommt) übersehen. Daß die Platoniker den wahren
50
Vgl. dazu auch De gen. et corr. II.1, 329al3-21, wo sich Aristoteles explizit auf die zitierte Passage aus dem Timaios bezieht und darauf hinweist, daß die Dinge, die entstehen und vergehen, nicht mit dem Namen des Materials benannt werden können, aus dem sie entstehen; nur bei der Eigenschaftsveränderung, wird der Name bewahrt. Denn als „leeres Gefäß" ist die χώρα nach der Aufnahme eines Abbildes ja kein leeres Gefäß mehr. Vgl. auch Waterlow (1982: 122), die es nicht verwunderlich findet, daß bei den Piatonikern Subjekt und Privation zusammenfallen und es somit ein Paar von Prinzipien (nämlich 'Großesund-Kleines') gibt, das mit der στέρησις gleichgesetzt wird und einen Gegensatz zur Form darstellt, wohin es strebt.
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Charakter der ύλη übersehen haben, welches hier als Folge des Übersehens der στέρησις zu betrachten ist, macht Aristoteles auch an einer Textstelle in der Metaphysik deutlich, wo er in bezug auf das platonische 'Große-und-Kleine' daraufhinweist, daß dieses eher etwas am Stoff als der Stoff selbst ist:51 Ferner möchte man die als Stoff zugrunde gelegte Wesenheit mehr flir eine mathematische halten und vielmehr für ein Prädikat (katgoreisthai) und einen Artunterschied (diaphorä) der Wesenheit und des Stoffes als selbst flir Stoff, ich meine nämlich das Große und Kleine, wie ja auch die Naturphilosophen von dem Dünnen und Dichten sprechen und es als die ersten Unterschiede des Substrates bezeichnen; denn dies ist ja auch ein Überschuß und ein Mangel. (Met. 1.9, 992bl-7; Übers, nach Bonitz)
9.1.6 Die nach ihrer eigenen Vernichtung strebende ύλη (192a 16-25) Denn wenn es etwas Göttliches und Gutes und Erstrebenswertes gibt [δντος γάρ τίνος θείου κ α ι άγαθοΰ και έφετοΰ], so sagen wir, daß das eine das Gegensätzliche dazu ist, das andere aber das ist, was von Natur aus nach diesem strebt und begehrt gemäß seiner eigenen Natur [τό δέ δ πέφυκεν έφίεσθαι και όρέγεσθαι αύτοΰ κατά τήν αύτοΰ φύσιν]. Ihnen aber geschieht es, daß das Gegensätzliche nach seinem eigenen Untergang strebt. Es kann aber doch die Form [τό είδος] nicht selbst nach sich selbst streben, aufgrund der Tatsache, daß sie keinen Mangel hat, und auch nicht das Gegensätzliche [nach dem Gegensätzlichen], (denn Gegensätze sind in bezug aufeinander vernichtend), sondern dies [das Strebende] ist der Stoff [ή ύλη], so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem strebt; nur nicht »häßlich« an sich, sondern in einem akzidentellen Sinne, und auch nicht »weiblich« [an sich], sondern in einem akzidentellen Sinne. (1.9, 192al6-25)
Aristoteles gibt hier ein Beispiel, durch das der Unterschied zwischen der platonischen und der eigenen Theorie verdeutlicht werden soll. Zunächst fuhrt Aristoteles in Gestalt des Satzes „wenn es nämlich etwas Göttliches, Gutes und Erstrebenswertes gibt" (δντος γάρ τίνος θείου και άγαθοΰ και έφετοΰ) eine Prämisse ein, der auch die Platoniker zustimmen würden. Aus der Annahme der Existenz eines Göttlichen, Guten und Erstrebenswerten, welches hier fiir das Prinzip des είδος stehen soll, folgert Aristoteles nun weiter, daß es seiner Ansicht zufolge (vgl. ,,φαμεν": al7) einerseits das diesem Entgegengesetzte (τό έναντίον αύτω) gibt, welches für das Prinzip der στέρησις stehen soll (hier als στέρησις des Göttlichen, Guten und Erstrebenswerten), und andererseits dasjenige, was von Natur aus nach dem Göttlichen gemäß seiner eigenen Natur strebt, wobei dieses Strebende für das Prinzip der ύλη stehen soll (vgl. a22). Aristoteles legt somit zunächst seine eigene Theorie (vgl. ,,φαμεν": al7) in vereinfachter Form anhand eines Beispiels dar, um dieser dann in a 19-20 die platonische 51
Daß Aristoteles den platonischen ϋλη-Begriff für falsch halt, wird auch aus solchen Textstellen wie z.B. Phys. IV.2, 209b6-17, b28-33 und IV.3, 210b27-31 deutlich, wo Aristoteles eine Kritik daran übt, daß Piaton Stoff und Raum (bzw. Ort) dasselbe sein läßt (209b6-12). Ort erscheint nach Ansicht von Aristoteles zwar wie ein Gefäß, doch kann Ort unmöglich Stoff sein, da das Gefäß nichts von demjenigen, was „in ihm" (έν αύτω) ist, an sich hat; das Gefäß ist dasjenige, in dem etwas ist, wahrend der Stoff dasjenige ist, was in ihm ist (vgl. 210b27-31).
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Theorie (vgl. „τοις δέ συμβαίνει") gegenüberzustellen. Aristoteles wählt hier aus gutem Grunde das Beispiel vom 'Göttlichen, Guten und Erstrebenswerten', wie aus folgender Textstelle in der Metaphysik deutlich wird, wo Aristoteles im Kontext einer Auseinandersetzung mit Piaton vom „Bösen" bzw. „Schlechten" vgl. dazu auch den Ausdruck ,,τό κακοποιόν" in 192a 15 - als „Raum des Guten" spricht: Daraus ergibt sich denn, daß alles Seiende am Bösen teilhat (metechein), mit Ausnahme des Eins allein, und daß die Zahlen daran einen volleren Anteil haben als die Raumgrößen, und daß das Böse der Raum (chöra) des Guten ist [και τό κακόν τοΰ ά γ α θ ο ΰ χώραν είναι], und daß es an dem teilhat und nach dem strebt, was ihm selbst Vernichtung bringt; denn das Entgegengesetzte bringt ja einander Vernichtung. Und wenn es wahr ist, was wir aussprachen, daß der Stoff das ist, was dem Vermögen nach ein jedes Einzelne ist, z.B. der Stoff des wirklichen Feuers das, was dem Vermögen nach Feuer ist, so würde das Böse selbst das dem Vermögen nach Gute (dynämei agathön) sein. (Met. XIV.4, 1091b35-1092a5; Übers, nach Bonitz)
Hier deutet sich bereits das gegensätzliche Verhältnis der beiden Prinzipien von ύ λ η und είδος innerhalb der platonischen Theorie an. Wenn man - wie Aristoteles dies tut - die χώρα als die platonische ΰλη und das Gute als das platonische είδος versteht, und wenn die χώρα zugleich ftlr das 'Schlechte' bzw. 'Böse' steht,52 so ergibt sich innerhalb der platonischen Theorie ein Gegensatz von ΰ λ η und είδος. Dieser Gegensatz zwischen ΰ λ η und είδος ist in der aristotelischen Theorie demgegenüber nicht vorhanden, da Aristoteles die στέρησις als von der ΰ λ η unterschieden betrachtet, so daß wir es bei Aristoteles mit einem Gegensatz von στέρησις und εΐδος zu tun haben.53 Da Piaton jedoch, wie Aristoteles dargelegt hat, nicht zwischen der ΰλη und der στέρησις unterscheidet, sondern beide Momente in eines zusammenfallen läßt, ergibt sich in seiner Theorie notwendigerweise ein Gegensatz zwischen ΰ λ η und είδος, der letztlich, wie wir sehen werden, zur widersinnigen Konsequenz führt, daß das Gegenteil nach seiner eigenen Vernichtung strebt. In der aristotelischen Bestimmung der ΰλη als dasjenige, „was von Natur aus nach dem Göttlichen und Guteii gemäß seiner Natur strebt" (τό δέ δ πέφυκεν έφίεσθαι και όρέγεσθαι αϋτοΰ κατά τήν αύτοΰ φύσιν: 192al 8-19), wird der Begriff der Natur zweimal erwähnt. Wenn man nun davon ausgeht, daß mit den Ausdrücken „πέφυκεν" und „κατά τήν αύτοΰ φύσιν" nicht zweimal dasselbe gesagt wird, so kann hier nur folgendes gemeint sein: Zum einen liegt es in der Natur der ΰ λ η - d.h. es kommt der ΰλη als eine für sie wesentliche Bestimmung zu -, daß sie das Strebende ist und als ein solches Strebende nach ihrer Vollendung und Gestaltung strebt (vgl. „πέφυκεν έφίεσθαι και όρέγεσθαι"). 54 Ihre
Dazu, daß Piaton das 'Große-und-Kleine' zuweilen mit dem Schlechten, Nichtigen und Bösen gleichsetzt, vgl. auch Politikos 273b/c und Theait. 176e. So hat Aristoteles in 1.7, 190b34-35 eigens hervorgehoben, daß das eigentlich zugrundeliegende Moment, welches er in Kapitel 1.9 als „ύλη" bezeichnet, nicht Glied eines Gegensatzes ist (vgl. ,,τοΰτο γαρ οΰκ έναντίον"). Dieses „Streben" (όρέγεσθαι) ist hier in bezug auf die ΰλη als ein metaphorischer Ausdruck zu verstehen (vgl. dazu Kahn, 1985: 184 und Gill, 1989: 166, Fn.45).
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Unvollkommenheit stellt im Rahmen einer teleologischen Betrachtung der Naturprozesse den Grund allen Werdens dar. Zum anderen aber vermag die ύλη nur gemäß ihrer eigenen Natur (κατά τήν αύτοΰ φΰσιν) nach diesem zu streben. Mit der zuletzt genannten Bestimmung deutet Aristoteles darauf hin, daß das Streben der ΰ λ η kein beliebiges Streben darstellt, sondern als ein Streben gemäß der ihr eigentümlichen Natur zu verstehen ist. Die durch das „κατά τήν αύτοΰ φύσιν" angedeutete Bestimmtheit einer jeweiligen ύλη, die ihr von sich aus zukommt und der zufolge, wie wir in Kapitel 1.7 gesehen haben, eine bestimmte ύλη auch nur nach bestimmten, nicht aber nach beliebigen Formen streben kann, steht in einem Gegensatz zur platonischen Bestimmung der χώρα, die als das vollkommen Ungestaltete (Tim. 50b-c) alle denkbaren Gestalten aufnimmt und doch in keiner Weise irgendeine Gestalt annimmt (Tim. 50b-c). Die platonische Bestimmung der χώρα impliziert letztlich eine Beliebigkeit des Werdens, da sie als dasjenige, was von Natur aus aller Formen entbehrt (vgl. „πάντων έκτος α ύ τ ω προσήκει πεφυκέναι των ειδών": Tim. 51a), auch letztlich nach allen Formen streben können muß. Nun lautet die aristotelische Kritik an dem platonischen Modell, daß es den Piatonikern geschehe, daß das Gegenteil nach seiner eigenen Vernichtung strebt (vgl. „τοις δέ συμβαίνει τό έναντίον όρέγεσθαι της αύτοΰ φθοράς": 192 a 19-20). Die in dieser Kritik enthaltene Pointe besteht nun darin, daß die platonische Theorie nach Ansicht von Aristoteles letztlich dazu fuhrt, daß die χώρα, die doch das eigentlich Bleibende und dem Untergange nicht Unterworfene sein soll (Tim 52a-b), vor dem Hintergrund der aristotelischen Kritik ebenfalls ein Vergängliches ist, als welches sie nicht den letzten konstitutiven Grund alles Vergänglichen darstellen kann. Insofern nämlich die στέρησις bei Piaton mit der ύ λ η zusammenfällt, und insofern beim Entstehen des Göttlichen und Guten aus dessen Gegensatz das Schlechte (im Sinne der Schlechtigkeit) weichen muß oder untergeht - wie Piaton selbst im Phaidon 102d-e anhand des Beispiels des Großen und Kleinen ausgeführt hat -, geht folglich auch mit der Schlechtigkeit als στέρησις des Göttlichen und Guten die ύ λ η unter, sofern diese nicht von der στέρησις unterschieden wird. Wenn - wie Piaton im Phaidon dargelegt hat gilt, daß gegensätzliche Dinge dadurch auseinander werden, daß die sie bestimmenden gegensätzlichen Formen einander ablösen, so daß die eine 'geht', wenn die andere 'kommt' - nicht aber, daß die eine zur anderen wird -, und wenn das Werden als Streben von etwas nach einer Form beschrieben werden kann, so kann dieses Strebende Aristoteles zufolge weder die vollendete Form sein (denn diese ist ja bereits vollendet und strebt nicht nach sich selbst, weil sie nach nichts mehr verlangt: vgl. a20-21), noch können die Gegensätze (z.B. Schlechtigkeit und Gutheit oder Größe und Kleinheit) nach einander streben (denn Gegensätze sind j a in bezug aufeinander vernichtend: vgl. a21-22). Letzteres hatte Piaton selbst im Phaidon hervorgehoben, und Aristoteles stimmt ihm in diesem Punkte zu. Folglich kann einzig die ύ λ η das Strebende sein (vgl. a22). Wird diese ύλη jedoch in Gestalt der χώρα nicht von der στέρησις unterschieden, so ist klar, daß sie, wenn sie nach der Form strebt, nach ihrem eigenen Untergange
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strebt. Denn es würde nun gleichsam die Schlechtigkeit danach streben, gut zu werden. Während Aristoteles zwischen den Momenten der στέρησις und der ύ λ η differenziert, so daß in seinem Modell die ΰ λ η zwar das Strebende, nicht aber das Vergehende bei einem Werdeprozeß ist, denn das Vergehende ist die στέρησις, die nicht das Strebende ist, kommen diese beiden Funktionen - Streben und Vergehen - der platonischen ΰ λ η zugleich zu, da Piaton nicht zwischen der στέρησις und der ύλη unterschieden hat. Soll etwas gut werden, indem es das Abbild der Idee des Guten aufnimmt, so muß bei diesem Werden der platonischen Theorie zufolge das Abbild der Idee des Schlechten weichen, sofern es vorhanden ist. Wie wir in bezug auf die Bestimmung des Körpers als weder krank noch gesund im Dialog Lysis sehen konnten, folgt innerhalb der platonischen Theorie aus der Aufnahme des Abbilds der Idee der Gesundheit jedoch nicht, daß zuvor notwendig ein Abbild der Idee der Krankheit vorhanden war. Daß das Abbild der Idee der Krankheit weichen muß, gilt also nur für den Fall, wo es zuvor vorhanden war. Nach Ansicht von Piaton reicht es aus, daß etwas, das das Abbild der Idee der Gesundheit aufnimmt, zuvor nicht das Abbild der Idee der Gesundheit besessen hat, wobei für Piaton aus der Abwesenheit des Abbilds der Idee der Gesundheit im Unterschied zu Aristoteles nicht die Anwesenheit des Abbilds der Idee der Krankheit folgt. Wenn etwas gesund werden soll, so ist es für dasjenige, was gesund werden soll, Piaton zufolge einzig notwendig, daß es nicht gesund ist; neben dem Nichtvorhandensein des Abbilds der Gesundheit ist es für Piaton jedoch im Hinblick auf das Gesundwerden weitgehend irrelevant, welche Abbilder die χώρα sonst noch enthält. Demgegenüber ist Aristoteles der Ansicht, daß bestimmte Formen auch nur einem bestimmten Zugrundeliegenden zukommen können. Aristoteles verdeutlicht das Streben der ΰ λ η nach dem είδος durch die Beispiele des Strebens von Weiblichem nach Männlichem (vgl. „θήλυ άρρενος": a23) und von Häßlichem nach Schönem (vgl. ,,ανσχρόν καλοΰ": a23). Hierbei steht das Weibliche und das Häßliche (bzw. Schlechte) für die nach dem Männlichen und Schönen strebende ΰλη, 55 worin ebenfalls ein Hinweis auf eine teleologische Betrachtung der Naturprozesse gesehen werden kann. [...], so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem strebt; nur nicht »häßlich« an sich, sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Häßlichkeit akzidentell zukommt], und auch nicht »weiblich« [an sich], sondern in einem akzidentellen Sinne [d.h. etwas, dem Weiblichkeit akzidentell zukommt]. (1.9, 192a22-25) Aristoteles weist daraufhin, daß nicht das An-sich-Häßliche (καθ' αυτό α ί σ χρόν) - d.h. die Bestimmung der Häßlichkeit - nach der Schönheit strebt, sondern etwas, dem die Häßlichkeit akzidentell zukommt (κατά συμβεβηκός). Analoges gilt für das Beispiel von Weiblichem und Männlichem. Überträgt man dies nun auf die Momente der στέρησις und der ΰλη, so gilt, daß nicht die Die Begriffe des 'Weiblichen' und des 'Häßlichen' weisen hier offenkundig auf die Begriffe der 'Mutter' (vgl. al4: ,,ώσπερ μήτηρ") und des 'Übles-Tuenden' (vgl. al5: ,,τό κακοποιόν") aus dem Abschnitt 192 a l 3 - 1 6 zurück.
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στέρησις als καθ' αυτό μή δν, sondern daß vielmehr die ύλη als μή δν κατά συμβεβηκός nach dem είδος strebt. Auch wenn Piaton nach Ansicht von Aristoteles im Phaidon richtig gesehen hat, daß nicht die Häßlichkeit zur Schönheit, sondern daß ein Häßliches zu einem Schönen wird, so geschieht es ihm vor dem Hintergrund seiner Theorie im Timaios, wo er mit dem Begriff der χώρα das privative und das stoffliche Moment in eines zusammenfallen läßt, letztlich doch, daß nicht die gegensätzlichen Dinge, sondern daß vielmehr die gegensätzlichen Bestimmungen auseinander werden.
9.1.7 Das Entstehen und Vergehen der ύλη (192a25-34) Er [der Stoff) aber vergeht und entsteht einerseits wohl, andererseits aber auch nicht. Als das nämlich »in/an dem« [ώς μ ε ν γ α ρ τό έ ν ω] vergeht er an sich [καθ' α υ τ ό φ θ ε ί ρ ε τ α ι ] (denn das Vergehende [τό φθειρόμενον], die Privation, ist doch in/an diesem [έν τούτφ]). Als das aber »hinsichtlich des Vermögens« [ώς δέ κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν ] vergeht er nicht an sich, sondern ist dann notwendig unvergänglich und ungeworden. Wenn er [der Stoff] nämlich entstünde [εί'τε γ α ρ έ γ ί γ ν ε τ ο ] , so müßte [ihm ebenfalls] etwas als Erstes zugrunde liegen, aus dem als schon in ihm Vorhandenen [er entstünde]. Dies aber ist diese Natur [d.h. der Stoff] selbst [ α υ τ ή ή φύσις], so daß er wäre, bevor er entstünde [ώστ' έ σ τ α ι π ρ ι ν γ ε ν έ σ θ α ι ] . (»Stoff« nämlich nenne ich das erste für ein jedes Zugrundeliegende, aus dem etwas als in ihm schon Vorhandenen wird in nicht akzidentell zukommendem Sinne [τό πρώτον ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν έ κ ά σ τ ψ , έξ ο ΰ γ ί γ ν ε τ α ί τι έ ν υ π ά ρ χ ο ν τ ο ς μή κ α τ ά συμβεβηκός]). Wenn er [der Stoff] aber vergeht [εϊτε φθείρεται], so kommt man auf ihn als Letztes [ έ σ χ α τ ο ν ] zurück, so daß er untergegangen sein wird, bevor er untergegangen ist. (1.9, 192a25-34)
Hat Aristoteles zuvor dargelegt, daß bei einem Werdeprozeß weder die Form noch die Gegensätze, sondern vielmehr der Stoff das Strebende ist, so gilt es nun zu zeigen, inwiefern dieser Stoff als ein Strebendes dennoch ein Bleibendes sein kann. Denn er muß er ja aus dem Grunde ein Bleibendes sein, da er ein Prinzip darstellen soll.56 Die in 192a25 ff. dargelegte Argumentation ist eng mit dem zuvor Gesagten verbunden. Dies wird unter anderem daraus ersichtlich, daß als das Subjekt der Verben „φθείρεται" und ,,γίγνεται" (a25) die ύλη aus dem vorhergehenden Abschnitt zu ergänzen ist. Charlton weist daraufhin, daß Aristoteles in 192a25 ff. seine Kritik an Piaton indirekt fortsetzt und nun herausstellt, daß die platonische Bestimmung des Zugrundeliegenden als etwas Ewiges und Unzerstörbares {Tim. 52a9) ohne weitere Qualifikation nicht zutrifft: Finally, Plato makes the underlying thing eternal and indestructible (Tim. 52 a 9), which is not true without qualification (192a25-6 and ff). Ross prints these lines as if Aristotle had now finished with Plato and were restarting his own view of matter; they must, however, be taken closely with what goes before, since the subject of the verbs in a25 must be supplied from the preceding sentences. (Charlton, 1970: 83) 56
Zum Kriterium des Bleibens der Prinzipien vgl. Phys. 1.6, 189al9-20 (,,τάς δέ αρχάς άεΐ δει μένειν") und III.4, 203b7-8 („έτι δέ και άγένητον και αφθαρτον ώς άρχή τις οΰσα").
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
Während es bei Ross so scheint, als habe Aristoteles seine Kritik an Piaton in 192a25 abgeschlossen, ist Charlton der Ansicht, daß Aristoteles im nachfolgenden darauf hinweist, daß in bezug auf Piatons Bestimmung der ύλη als etwas Ewiges und Unzerstörbares weitere Differenzierungen zu treffen sind. Diese Differenzierung der ύλη als ,,τό έν ω" und als „ κ α τ ά δύναμιν" versteht Charlton allerdings (wie auch alle anderen Interpreten) als eine aristotelische Differenzierung des eigenen ύλη-Begriffs. Demgegenüber werde ich darlegen, daß Aristoteles in 192a25 ff. unter der ύ λ η als ,,τό έν φ" die platonische ύ λ η und unter der ΰ λ η als „κατά δύναμιν" seine eigene ύ λ η versteht, so daß er seine Kritik an Piaton hier insofern fortsetzt, als es ihm nun um den Nachweis geht, daß nur sein eigener ύλη-Begriff (die ύ λ η als κ α τ ά δύναμιν) im Gegensatz zum platonischen ύλη-Begriff (die ύ λ η als τό έν ω) das Kriterium eines Prinzips im Sinne eines Bleibenden erfüllt.
9.1.7.1 Die Argumentationsstruktur von 192a25-34 Der Abschnitt 192a25-34 läßt sich seiner argumentativen Struktur nach wie folgt gliedern: (i) Zunächst stellt Aristoteles in a25-26 die Behauptung auf, daß die ύλη (a) in einer Hinsicht (μέν ώς) dem Vergehen und Entstehen unterworfen ist, während sie (b) in einer anderen Hinsicht (δ' ώς) nicht dem Vergehen und Entstehen unterworfen ist. (ii) Diese Behauptung wird im nachfolgenden Abschnitt a26-34 begründet, wobei die in der Behauptung erwähnten Hinsichten expliziert und nacheinander behandelt werden. Die beiden Hinsichten lauten: die ύ λ η als (a) das „In/An-dem" (τό έν ω) und als (b) das „Dem-Vermögen-nach" (κατά δύναμιν). Zunächst stellt Aristoteles in a26-27 kurz dar, daß die ύ λ η als ,,τό έν ω" an sich vergeht, was er damit begründet, daß das Vergehende in Gestalt der στέρησις 'in/an ihr' ist, um dann in a27-34 ausführlicher darauf einzugehen, daß die ύ λ η als „ κ α τ ά δύναμιν" nicht an sich vergeht, sondern notwendigerweise unvergänglich und ungeworden ist. Aristoteles führt hier eine ausführliche Begründung an (a29-34), in der er formal in Gestalt einer Reductio ad absurdum zeigt, daß die ύ λ η in einer bestimmten Hinsicht weder entstehen (ε'ίτε γαρ έγίγνετο: a29-32) noch vergehen (ε'ΐτε φθείρεται: a32-34) kann. Hierbei fällt allerdings folgendes auf: Während es in der Behauptung a25-26 heißt, daß die ύ λ η in einer Hinsicht (a) vergeht und entsteht und in einer anderen Hinsicht (b) nicht vergeht und entsteht, wird in bezug auf die ύλη als (a) ,,τό έν ω" nur gezeigt, daß sie an sich vergeht, nicht aber, daß sie an sich entsteht. Demgegenüber wird in bezug auf die ύ λ η als (b) „κατά δύναμιν" sowohl gezeigt, daß sie nicht vergeht, als auch, daß sie nicht entsteht. Soll hier zunächst nur auf diese Ungleichgewichtigkeit hingewiesen werden, so werde ich später eine mögliche Erklärung für diese Ungleichgewichtigkeit geben. Zugleich ist auch auf zwei begriffliche Besonderheiten aufmerksam zu machen: (1) Da die Bestimmung der ύ λ η als ,,τό έν ω" (a26) offenkundig an die platonische Bestimmung der „χώρα" als ,,τό δ' έν φ γίγνεται" (vgl. Tim. 50d)
Die Auseinandersetzung mit Piaton
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erinnert, habe ich in meiner Übersetzung des Ausdrucks ,,τό έν φ " (a26) zunächst offengelassen, ob dies hier eher in einem platonischen Sinne als das „Indem" - nämlich in einem GefMß -, oder ob es eher in einem aristotelischen Sinne als das „An-dem" - nämlich an einem Zugrundeliegenden - zu verstehen ist. (2) Anders als bei den bisher erwähnten Hinsichten ,,καθ' α υ τ ό - κ α τ ά συμβεβηκ ό ς " und ,,άπλώς - π ω ς " ist in bezug auf die Hinsichten ,,τό έν ω - κ α τ ά δ ύ ν α μιν", unter denen hier der Stoff betrachtet werden soll, zunächst nicht klar, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Das Begriffspaar ,,τό έν ω" und „ κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν " stellt kein Begriffspaar dar, daß Aristoteles in den vorangegangenen Kapiteln zur Differenzierung der Hinsichten, unter denen etwas betrachtet werden kann, verwendet hat. Vor allem die Interpretation der ΰ λ η als das „In/An-dem" (τό έν ω: 192a2527) hat die Interpreten seit der Spätantike bis zum heutigen Tage vor zahlreiche Probleme gestellt, deren Lösung - soweit ich sehen kann - noch aussteht. Wagner (1967: 442) stellt zu Beginn seiner Interpretation dieses Abschnitts die Frage, „ob der Text dieses Satzes wirklich in Ordnung ist". Auch Wicksteed und Cornford sehen hier Schwierigkeiten und bemerken in einer Fußnote zu ihrer Übersetzung von 192a25-29 folgendes: φθείρεται δέ ... ανάγκη αυτήν είναι. The translation of this very perplexing passage must be regarded as no more than a suggestion. It puzzled Simplicius so much that he was driven to supposing that Aristotle misapplied (κατεχρήσατο) the phrase τό έν ώ, and really meant the opposite, τό έν αύτη by it. (Wicksteed/Cornford: 1980, s! 94, Fn.d) Was Wicksteed und Cornford mit ihrem Hinweis hinsichtlich der Umkehrung der Bedeutung bei Simplicius gemeint haben, werde ich im nachfolgenden verdeutlichen. Aristoteles sagt in 192a25-27, daß die ύ λ η als ,,τό έν ω " an sich vergeht (καθ' α υ τ ό φθείρεται), wobei er dies dadurch begründet, daß das Vergehende - die στέρησις - in diesem (έν τούτω) sei. In der Sekundärliteratur finden sich nun für gewöhnlich folgende beiden Interpretationen der „ ΰ λ η als τό έν ω " (ώς μέν γ ά ρ τό έν φ, ...: 192a26): (1) Die ΰλη als στέρησις (2) Die ΰλη als dasjenige, an dem die στέρησις ist (die ΰλη als Substrat) Die Interpretation (2) versteht den Ausdruck „ ΰ λ η als τό έν φ " wörtlich und ergänzt ihn wie folgt: „die ΰ λ η als 'Das-An-dem-die-στέpησις-ist"'. Diese Ergänzung findet ihren Grund darin, daß in der Begründung a26-27 von der στέρησις gesagt wird, daß sie 'an diesem' (έν τούτω) - gemeint ist: 'an dem τό έν ω' sei. Die Interpretation (1) versteht den Ausdruck „ ΰ λ η als τό έν φ " hingegen nicht wörtlich und meint, daß der Ausdruck ,,τό έν ω" hier für die στέρησις stehe, so daß der Ausdruck „ ΰ λ η als τό έν ω" nichts anderes bedeute als „ ΰ λ η als στέρησις". Hier ist dann jedoch nicht mehr wörtlich von der „ ΰ λ η als das 'Andern' (τό έν φ)", sondern vielmehr von der „ ΰ λ η als dasjenige, was an ihr ist" (τό έν α ύ τ η ) die Rede, so daß der griechische Text angesichts dieser Interpretation eigentlich eine Veränderung erfahren müßte. Der Unterschied zwischen den
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Interpretationen (2) „die ΰλη als dasjenige, an dem die στέρησις ist (ΰλη als Substrat)" und (1) „die ΰλη als dasjenige, was an ihr ist" (ύλη als στέρησις)" ist offenkundig. 57 Wir werden im nachfolgenden sehen, daß beide Interpretationen in Schwierigkeiten führen. Während die Interpretation (1) vor dem Problem steht, daß ihr zufolge der griechische Text in einer nicht unwesentlichen Hinsicht verändert werden müßte, steht die Interpretation (2) vor dem Problem, daß ihr zufolge nicht klar ist, warum die ΰλη als dasjenige, an dem die στέρησις ist, an sich vergeht.58 Angesichts dieser Schwierigkeiten hat Wagner einen dritten Lösungsweg vorgeschlagen: (3) Zwar stimmt er der Interpretation (2) insofern zu, als auch er der Ansicht ist, daß hier die „ΰλη als τό έν φ" im Sinne der „ΰλη als Substrat" zu verstehen sei, doch ist nach Ansicht von Wagner das ,,τό έν ω" ('das an dem') im Rückgriff auf Piaton (Tim. 50 C/D) nicht zu ,,τό έν ω στέρησίς έστιν ('das, an dem die στέρησις ist'), sondern zu ,,τό έν φ γίγνεται" ('das, in dem (es) wird') zu ergänzen, so daß wir es hier nicht mit der ΰλη als Substrat der στέρησις, sondern mit der ΰλη als Substrat des Werdens zu tun haben. Wir werden jedoch sehen, daß auch diese Interpretation mit Schwierigkeiten verbunden ist. Im folgenden wollen wir die einzelnen Interpretationen näher betrachten. Zu (1) „Die ΰλη als στέρησις": In seiner Interpretation des Abschnitts 192a25-27 ist Simplicius zunächst der Ansicht, daß mit der „ΰλη als τό έν φ" die „ΰλη als das, an dem die στέρησις ist" gemeint sei. Zugleich sieht er jedoch die Schwierigkeit, daß nicht einzusehen ist, warum die ΰλη als 'das-an-dem-dieστέρησις-ist' an sich vergeht, wie Aristoteles offenkundig behauptet (vgl. „καθ' αύτό φθείρεται": a26). Denn vor dem Hintergrund des bisher Gesagten würden wir doch eigentlich erwarten, daß die ΰλη als dasjenige, an dem die στέρησις ist, in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός) vergeht, insofern die στέρησις als An-sich-Vergehendes ja ein Akzidens (συμβεβηκός) an der ΰλη darstellt (vgl. 1.7, 190b27). Aus diesem Grunde gelangt Simplicius schließlich zur Überzeugung, daß hier nur die „ΰλη als στέρησις" gemeint sein kann, da die ΰ λ η als στέρησις ja an sich vergeht, obgleich ihm bewußt ist, daß Aristoteles hier selbst nicht von der „ΰλη als στέρησις" spricht. Zur Interpretation von Simplicius bemerkt Wagner folgendes: Them. (33. 28 ff.) paraphrasiert, als stünde überhaupt (statt καθ' αύτό) κ α τ ά σ υ μ βεβηκός im Texte. Nicht anders auch J. Phil. (189. 27-190. 18). Simpl. (252. 17 ff.) schließt sich ihnen zunächst an, wobei er mit dem Ausdruck τό έ ν ω eine hilflose Manipulation versucht, kehrt, die Vorgänger berichtigend, in 253. 11 ff. nochmals zur Frage zurück und meint abschließend, der Satz besage: ώς μέν στέρησιν bzw. κατά μέν την στέρησιν καθ' αύτό φθείρεται (ή ΰλη) (253.19 und 16/17). (Wagner, 1967: 442)
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Auch Simplicius (252. 23-26) hat diesen Unterschied gesehen: „καλεί δέ τό συμβεβεκός αύτη τό έν ω αντί τοϋ τό έν αύτη· συμβεβηκότος γαρ αύτη φύσις τό έν τινι είναι, και κυρίως μέν τό έν φ τό ύποκείμενον δελοΐ (άλλο γάρ τό έν φ τί έστι καϊ άλλο τό έν έκείνω ον), κατεχρήσατο δέ αύτω έπί τοΰ έν ύποκειμένω." Vgl. Wagner (1967: 443): „Aber warum soll das Substrat der Negativbestimmtheit an ihm selbst vergehen, wenn das Getragene (ein συμβεβηκός !) vergeht? Wissen wir nicht, daß es gerade an ihm selbst das im Werden Beharrende ist (al3)?"
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Mit demjenigen, was Wagner hier ohne weitere Explikation als „hilflose Manipulation" beschreibt, ist offenkundig das bereits beschriebene In-Betracht-ziehen einer möglichen Ersetzung des Ausdrucks ,,τό έν ω" durch ,,τό έν αύτη" gemeint. Daß Simplicius abschließend der Überzeugung ist, in 192a25-27 sei von der ,,ϋλη als στέρησις" die Rede, wird in folgendem Abschnitt offenkundig: οϋτως δέ οίμαι και ή λέξις καταλληλοτέρα φανήσεται ή λέγουσα ώς μέν γαρ τό έν φ, εί ώς έπί της ύλης λέγοιτο, δτι κατά μέν την στέρησιν καθ' αύτό φθείρεται, κατά δέ τό δυνάμει άφθαρτος και άγένητός έστι. και γάρ ούδέ ε ΐ π ε ν δτι κατά συμβεβηκός φθείρεται ή ΰλη, άλλ' δτι ώς μέν στέρησις καθ' αύτό φθείρεται, ώς δέ τό δυνάμει ούτε γίνεται οΰτε φθείρεται. (Simplicius: 253. 15-20)
Simplicius ersetzt hier den Ausdruck ,,ώς μέν γ ά ρ τό έν φ " ('als das an dem') interpretierend durch ,,ώς μέν στέρησις" ('als στέρησις'). Diese Interpretation der „ΰλη als τό έν ω" im Sinne der „ΰλη als στέρησις" findet sich auch bei anderen Interpreten. 59 So bemerkt Charlton in bezug auf den Satz 192a25-26 folgendes: I suggest the following solution. Plato in the Timaeus uses the expression 'that in which' for his space: 50 d 1, cf. 49 e 7. I think that Aristotle is here still using Platonic terminology, and by 'that in which' means simply the lack itself. (Charlton, 1970: 83)
Hier wird deutlich, daß auch Charlton die „ΰλη als τό έν ω" im Sinn von „die ΰ λ η als στέρησις" versteht („and by 'that in which' means simply the lack itself'). 6 0 Abgesehen von der bereits erwähnten Schwierigkeit, daß diese Interpretation nicht mit einer wörtlichen Übersetzung des Ausdrucks ,,τό έν ω" in Einklang zu bringen ist - wobei Charlton dieser Schwierigkeit mit dem Hinweis darauf begegnet, daß der Ausdruck ,,τό έν ω" hier als aristotelische Übernahme einer platonischen Terminologie zu deuten sei -, ist angesichts dieser Interpretation ebenfalls unverständlich, warum Aristoteles in der begründenden Parenthese a26-27 sagt, daß „das Vergehende, die στέρησις, in diesem (έν τούτω) ist". Wenn nämlich die ΰ λ η hier als στέρησις betrachtet wird, so kann die Begründung dafür, daß die ΰ λ η (als στέρησις) an sich vergeht, doch nicht darin bestehen, daß das Vergehende - die στέρησις - in diesem ist. Vielmehr müßte es dann eigentlich lauten, daß das Vergehende - die στέρησις - dieses (die ΰλη) ist. Charlton begegnet dieser Schwierigkeit mit dem Hinweis darauf, daß die ParenGohlke (1956: 57) übersetzt den Satz 192a26-27 wie folgt: „Denn als bloße Eigenschaft angesehen vergeht er an sich, das was dann vergeht, ist die Gestaltlosigkeit an ihm, [...]." Vgl. auch Apostle (1969: 24), dessen Übersetzung des Satzes 192a26-27 wie folgt lautet: „For, as that which is in something [in the matter], it is this which in itself is being destroyed, since it is the privation in it [in the matter] that is being destroyed; [...]." In einer Fußnote (1969: 203, Fn.15) filgt Apostle hinzu: „Perhaps by »that« he means the contrary as an attribute, for if this is not in the subject after the change, it does not exist at all. But of the composite something will exist after the change, the material part as a subject." Charlton (1970: 83) ist dann der Auffassung, daß mit der ΰ λ η als „κατά δύναμιν" (a27 ff.) die Materie oder das Zugrundeliegende im Gegensatz zur στέρησις gemeint sei: „'That which is possible' (as is confirmed by a30-2) is the matter or underlying thing as contrasted with the lack; bronze or flesh would be in possibility a statue or man."
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these a26-27 nicht von Aristoteles stamme, sondern als Anmerkung eines Studenten zu verstehen sei, der den in dem Ausdruck ,,τό έν ω" enthaltenen Bezug auf Piatons Timaios übersah: The parenthesis 'because that which passes away, the lack is in it' I take to be a gloss by a student who missed the reference to the Timaeus and found the passage puzzling. That the passage puzzled early commentators appears from Simplicius ad loc. (Charlton, 1970: 83)
Dieser Ausweg ist allerdings wenig befriedigend. Abgesehen von den bereits erwähnten Schwierigkeiten stellt sich angesichts der Interpretation der „ύλη als τό έν φ" im Sinne von „die ύλη als στέρησις" ferner die Frage, warum Aristoteles hier nun mit der „ύλη als στέρησις" die im bisherigen Verlauf der Untersuchung mühsam gewonnene Differenzierung zwischen der ΰλη und der στέρησις (als zwei Momente der ύποκειμένη φύσις) wieder verwischen sollte. Zwar läßt sich in bezug auf die ύποκειμένη φύσις sagen, daß sie einerseits als στέρησις und andererseits als ύλη betrachtet werden kann, doch ist diese Differenzierung der Hinsichten von der Betrachtung der ύλη als στέρησις grundverschieden. Zu (2) „Die ύλη als Substrat, (an dem die στέρησις ist)": Ross (1936: 348) versteht die „ύλη als τό έν ω" im Sinne des Substrats, wobei er den Ausdruck ,,τό έν ω" seinem Sinn nach zu ,,τό έν φ στέρησίς έστιν" ergänzt: Qua that in which the privation is it perishes when the privation perishes; [...]. (Ross, 1936: 348) 26-9. ώς ... είναι, i.e. considered as 'that in which the privation is', the matter perishes; for when the privation passes away, there is no longer anything 'in which the privation is'; [...]. (Ross, 1936: 498)
Nun wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich aus der Interpretation der ύλη als dasjenige, an dem die στέρησις ist, die Schwierigkeit ergibt, daß nun nicht mehr eingesehen werden kann, warum die ύλη an sich vergeht.61 Ross scheint diese Schwierigkeit zu sehen und schlägt folgende Lösung vor: Die ύλη als 'dasin-dem-die-Privation-ist' vergeht,62 weil es, wenn die Privation vergeht, nichts Auch Prantl versteht die ,,ΰλη als τό έν φ" im Sinne der ,,ΰλη als Substrat", wobei er allerings dasjenige, was an der ύλη ist, als die „möglichen Gegensätze" bestimmt. Prantls Übersetzung (1854: 51) des Satzes 192a26-27 lautet wie folgt: „[...]; nämlich als dasjenige, in welchem die möglichen Gegensätze enthalten sind, vergeht er an sich, denn was in diesem vergeht, das ist eben das Entblößtsein, [...]." In einer Fußnote (1854: 479, Fn.32) merkt Prantl folgendes an: „Den kurzen Ausdruck τό έν φ mußte ich in der Übersetzung erweitern; er hängt bei Arist. mit dem technischen Gebrauche von ένοπάρχειν zusammen, und τό έν φ ist dasjenige, in welchem enthalten ist, was durch den Proceß des Werdens oder des nachschaffenden Denkens aus ihm entfaltet werden kann; so daß hier also z.B. das Erz, bei dessen Uebergang zu einer Statue die Formlosigkeit vergeht, dasjenige ist, in welchem die doppelte Möglichkeit des Formlosbleibens und des Geformtwerdens enthalten ist; in eben dieser Eigenschaft aber des Enthaltens der doppelten Möglichkeit, also insofeme es eben die doppelte enthält, geht es bei dem Uebergange zum Statue-sein unter." Prantls Interpretationsvorschlag erweist sich insofern als unbefriedigend, als hier ja nicht von der ΰλη als dasjenige, an welchem die doppelte Möglichkeit des Formlosbleibens und des Geformtwerdens enthalten ist, gesprochen wird. Auch wenn es zutrifft, daß die ΰλη nach dem Werdeprozeß nicht mehr die doppelte Möglichkeit enthält, so würde Aristoteles doch wohl kaum sagen, daß die ΰλη bei diesem Werdeprozeß an sich vergeht. Der Ausdruck „an sich" kommt in der Interpretation von Ross bezeichnenderweise nicht vor.
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weiter gibt, 'in dem die Privation ist'. Mit anderen Worten: Vor dem Prozeß ist die ΰλη das „Substrat der στέρησις", nach dem Prozeß ist die ΰλη das „Substrat des είδος". Der Interpretation von Ross zufolge würde somit bei einem jeden Werdeprozeß gleichsam das „Substrat-der-στέρησις" vergehen und das „Substrat-des-εΐδος" entstehen. Dies steht jedoch der bisher von Aristoteles dargelegten Analyse des Werdens entgegen, der zufolge das Substrat bleibt, während die στέρησις durch das είδος ersetzt wird. Wagner hat zu Recht darauf hingewiesen, daß nicht einzusehen ist, warum das Substrat der Negativbestimmtheit an ihm selbst (d.h. an sich) vergehen soll, wenn das Getragene (ein συμβεβηκός) vergeht. Auch Ross sieht, daß bei diesem Werdeprozeß die ΰλη nicht an sich vergeht, doch weist er darauf hin, daß die ύλη als „Substrat-der-στέρησις" vergeht, weil ja die στέρησις vergeht, und es insofern auch kein Substrat der στέρησις mehr geben kann. Zwar hat Ross recht, wenn er sagt, daß die ΰλη als „Substrat der στέρησις" vergeht, doch würde Aristoteles, wenn er dies hier gemeint hätte, erneut die mühsam erarbeitete Differenz zwischen ΰλη und στέρησις wieder verwischen. Gerade aufgrund dieser Differenz ist es in seinem Modell ja möglich geworden, davon zu sprechen, daß bei einem Werdeprozeß etwas an der ύποκειμένη φύσις vergeht, während etwas anderes nicht vergeht. Gerade als dasjenige, an dem die στέρησις ist, hat die ΰλη bei einem Werdeprozeß die Möglichkeit, nicht zu vergehen, da sie nicht mit der στέρησις gleichzusetzen ist. Analoges ergab sich auch für den Status des 'Nichtseins' der ΰλη: Die στέρησις ist zwar ein An-sich-Nichtseiendes, doch dadurch, daß die στέρησις nicht mit der ΰλη gleichgesetzt wird, sondern vielmehr ein Akzidens an der ΰλη darstellt, ist die ΰλη selbst kein An-sich-Nichtseiendes, sondern vielmehr in einem akzidentellen Sinne nichtseiend (vgl. 192a3-6). Vor diesem Hintergrund würde man erwarten, daß Aristoteles ebenfalls der Auffassung ist, daß die ΰλη, gerade weil die στέρησις ein Akzidens an ihr darstellt und bei einem Werdeprozeß an sich vergeht, nicht an sich, sondern in einem akzidentellen Sinne vergeht. Inwieweit hier also von einem An-sich-Vergehen der ΰλη gesprochen werden kann, scheint weiterhin fraglich zu sein. Auch Charlton betrachtet die Interpretation von Ross als wenig überzeugend und äußert ihr gegenüber folgende Kritik: R o s s interprets 'as that in which' as the underlying thing considered as lacking the form which c o m e s to be, 'for', he says, 'when the privation passes away, there is no longer anything »in which the privation is«'. This seems to m e awkward and complicated: w h y did Aristotle not say simply 'as the lack'? 'That in which' is an odd phrase w h e n what is supposed to be 'in' the thing is a privation or lack (the situation is rather that the form is lacked by the matter, than that the lack o f the form is in it); and as 'that in which the privation is', the matter would surely pass away rather by virtue o f concurrence than o f itself (a26). (Charlton, 1970: 8 3 )
Zu (3) „Die ΰλη als Substrat des Werdens": Angesichts der dargelegten Schwierigkeiten ist Wagner nun der Auffassung, daß mit der ΰλη als ,,τό έν φ" die ΰλη als „Substrat des Werdens" gemeint sei:63 63
Dieser Interpretation schließt sich auch Zekl an. Zekl (1987: 47) übersetzt den Satz 192a26-27 wie folgt: „Wenn man ihn [den Stoff) nämlich nimmt als das »an welchem«, so geht er im ei-
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons' Unser Satz, so wie er im Text steht, behauptet ein φ θ ε ί ρ ε σ θ α ι κ α θ ' α ύ τ ό der ΰλη, insofern sie τό έν φ sei. Wir werden im Lauf unserer Physikstudien mehrere Bedeutungen von έ ν φ kennenlernen, aber hier kann es sich nur um die Grundbedeutung handeln: Substrat. Die Parenthese sagt, daß das Material Substrat der im Werden vergehenden Negativbestimmtheit ist. Kein Zweifel daran! Aber warum soll das Substrat der Negativbestimmtheit an ihm selbst vergehen, wenn das Getragene (ein συμβεβηκός) vergeht? Wissen wir nicht, daß es gerade an ihm selbst das im Werden Beharrende ist (a 13)? - Nun, zunächst wird man annehmen müssen, daß τό έ ν φ nicht zu ergänzen ist zu τό έ ν φ στέρησίς έστιν, sondern zu τό έ ν φ γίγνεται, was Piaton im Tim. 50 C/D als Terminus gebraucht. Dieses Substrat des Werdens ist am Anfang Substrat der στέρησις, am Ende Substrat des είδος. Nun soll es - gemäß dem Satz - a l s dieses Substrat des Werdens vergehen. Das kann nur eines besagen: Am Ende jedes Prozesses ist das Substrat nicht mehr Substrat des W e r d e n s . Das ist richtig: denn obwohl es gerade das Beharrende ist, bleibt es nicht Substrat des Werdens (wie es ja auch nicht Substrat der doch verschwindenden Negativbestimmtheit bleibt), sondern ist zuletzt Substrat der Form und, als solches, Materialmoment am Gegenstand. Der Sinn des Satzes wäre also der: Als unbestimmtes Substrat des Werdens kann das Material nicht beharren; diesen Charakter muß es vielmehr in jedem Prozeß notgedrungen verlieren; es ist dazu verurteilt, im Gegenstand als sein Moment unterzugehen. (Wagner, 1967: 442 f.)
Die Bestimmung der ΰλη als das „In/An-dem" verlangt ihrem Sinn nach aufgrund des relationalen Charakters des Ausdrucks ,,έν φ" nach einer Ergänzung, die Antwort auf die Frage gibt, was in/an der ΰλη ist. Während die bisher besprochenen Interpreten entweder den Ausdruck ,,τό έν φ" als synonym mit der στέρησις verstanden oder die Ergänzung dieses Ausdrucks in der στέρησις sahen, ist Wagner der Ansicht, „daß τό έν φ nicht zu ergänzen ist zu τό έν φ στέρησίς έστιν, sondern zu τό έν φ γίγνεται, was Piaton im Tim. 50 C/D als Terminus gebraucht." Obgleich die Begründung a26-27 offenkundig dafür spricht, daß die στέρησις dasjenige sei, was in/an der ΰλη ist (έν τούτω έστίν), ist Wagner doch der Ansicht, daß dies hier nicht gemeint sein kann. Durch seine Ergänzung des Ausdrucks ,,τό έν φ" zu ,,τό έν φ γίγνεται" erhält Wagner in seiner Interpretation eine ΰλη als „Substrat des Werdens", das am Anfang Substrat der στέρησις und am Ende Substrat des είδος ist. Wagners Begründung dafür, daß der Ausdruck ,,τό έν φ" hier nicht zu ,,τό έν φ στέρησίς έστιν" zu ergänzen ist, besteht darin, daß nach Ansicht von Wagner kein Grund gesehen werden kann, warum das Substrat der Negativbestimmtheit an ihm selbst (d.h. an sich) vergehen soll, wenn das Getragene (ein συμβεβηκός) vergeht. Hat man jedoch ein „Substrat des Werdens", so vergeht dies nach Ansicht von Wagner in dem Sinne an sich, als dieses „Substrat des Werdens" am Ende des Prozesses ja nicht mehr „Substrat des Werdens", sondern vielmehr, so wäre zu ergänzen, „Substrat des Gewordenen" ist. Wagners Interpretation steht in einer auffallenden Parallele zu der Interpretation von Ross. So weist Wagner selbst darauf hin, daß das Substrat des Werdens, obwohl es gerade das Beharrende ist, nicht
gentlichen Sinne unter - ist doch das Vergehende »an ihm«, nämlich die fehlende Bestimmtheit -; [...]." In einer Fußnote (1987: 246, Fn.98) zum Ausdruck »an welchem« bemerkt Zekl erläuternd: „Zu ergänzen »das Werden sich vollzieht«."
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Substrat des Werdens bleibt, „(wie es ja auch nicht Substrat der doch verschwindenden Negativbestimmtheit bleibt)". Neben den bereits in bezug auf die Interpretation von Ross aufgezeigten Problemen, die zum Teil auch für die Interpretation von Wagner zutreffen, ist Wagners Interpretation zudem mit folgenden Schwierigkeiten verbunden: Abgesehen davon, daß Wagner hier ein doch recht ungewöhnliches an-sich-vergehendes 'Substrat des Werdens' einführt, steht seine Auffassung, daß der Ausdruck ,,τό έν φ" nicht zu ,,τό έν ω στέρησίς έστιν", sondern zu ,,τό έν ω γίγνεται" zu ergänzen ist, im Widerspruch zur Begründung a26-27, die deutlich dafür spricht, daß die στέρησις dasjenige sei, was in/an der ΰλη ist. Wagner selbst scheint sich seiner Interpretation jedenfalls nicht sicher zu sein, stellt er doch die Frage, „ob der Text dieses Satzes wirklich in Ordnung ist" (1967: 442). Zwar führt Wagner zu Recht aus, daß unser Satz, so wie er im Text steht, ein φθείρεσθαι καθ' αύτό der ΰλη behauptet, insofern sie τό έν ω sei, doch ist seine weitere Behauptung, daß der Ausdruck ,,έν φ" hier nur in seiner Grundbedeutung als „Substrat" gemeint sein kann, insofern problematisch, als Aristoteles selbst in Phys. IV.3, 210al4-24 im Rahmen der Nennung der verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks „άλλο έν άλλω" darauf hinweist, daß dessen Grundbedeutung die folgende ist: „in einem Gefäß sein" bzw. „an einem Ort sein": πάντων δέ κυριώτατον τό ώς έν άγγείφ καϊ δλως έν τόπφ. (Phys. IV.3, 210a24)
Diese 'Grundbedeutung' im Auge behaltend will ich nun vor dem Hintergrund der dargelegten Schwierigkeiten, die mit einer jeden Interpretationen des Satzes a26-27 verbunden sind, meine eigene Interpretation vorlegen, durch die eine Lösung der skizzierten Schwierigkeiten gegeben werden kann und die sich in folgendem Punkte von den bisherigen Interpretationen unterscheidet: Auch wenn in bezug auf den Ausdruck ,,τό έν φ" von anderen Interpreten bereits mehrfach auf Piatons Verwendung dieses Ausdrucks im Timaios hingewiesen wurde, so gehen die besprochenen Interpreten doch einstimmig davon aus, daß Aristoteles in 192a25-29 mit der Differenzierung der Hinsichten (a) ,,ώς τό έν ω" und (b) ,,ώς κατά δύναμιν" seine eigenen Hinsichten, unter denen die ΰλη in seiner Theorie betrachtet werden kann, darlegt. Demgegenüber bin ich der Ansicht, daß Aristoteles hier mit der ΰλη ,,ώς τό έν φ" zunächst den platonischen ΰλη-Begriff beschreibt und dahingehend kritisiert, daß dieser letztlich dazu fuhrt, daß die ΰλη an sich vergeht, während er dann mit der ΰλη ,,ώς κατά δύναμιν" dem platonischen ΰλη-Begriff seinen eigenen ΰλη-Begriff gegenüberstellt, für den gerade nicht gilt, daß die ΰλη an sich vergeht. Aristoteles zeigt somit zunächst auf, daß die platonische ΰλη als ,,τό έν φ" - dies ist diejenige Bezeichnung, die Piaton der χώρα im Timaios (vgl. ,,τό δ' έν ω γίγνεται": 50d) selbst gibt - gerade diejenige ΰλη ist, die an sich vergeht und die somit in keiner Weise ein Prinzip sein kann, obgleich Piaton seine ΰλη in Gestalt der χώρα selbst als ewig und unver-
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Physik
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gänglich gesetzt hat. 64 Von dieser platonischen ΰλη hat Aristoteles bereits in 192al9 f. indirekt gesagt, daß sie nach ihrer eigenen Vernichtung strebt, als er daraufhinwies, daß es den Piatonikern geschehe, daß das Gegenteil nach seinem eigenen Untergang strebt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich nun auch der Umstand, warum Aristoteles in bezug auf die ΰλη als ,,τό έν ω" nur vom Vergehen an sich (καθ' αύτό φθείρεται), nicht aber vom Werden bzw. Entstehen an sich spricht. Da in 192 a25-27 zunächst die Argumentation gegen die Platoniker aus 192a 19-20 fortgesetzt werden soll, und da dort in bezug auf das Entgegengesetzte der Platoniker, daß nach seinem eigenen Untergange (φθορά) strebt, ebenfalls nur vom Vergehen, nicht aber vom Entstehen die Rede war, wird auch hier in 192a25-27 nur dieses Vergehen weiter expliziert. Denn im Sinne einer Kritik an dem platonischen ύλη-Begriff reicht es j a aus, zu zeigen, daß die platonische ΰ λ η an sich vergeht, um zu zeigen, daß sie kein Prinzip sein kann. Die von mir vertretene These, daß Aristoteles mit der ύ λ η als τό έν φ in 192a25-27 zunächst den platonischen (und nicht einen eigenen) ΰλη-Begriff beschreibt, läßt sich auch dadurch stützen, daß er im Rahmen der Beschreibung der ΰ λ η als κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν dann seine eigene Bestimmung der ΰλη durch ein „λέγω γ α ρ ΰ λ η ν ..." („ich nenne nämlich 'StofF ...": 192a31-32) einleitet und auf diese Weise seinen eigenen ΰλη-Begriff vom platonischen ΰλη-Begriff explizit unterscheidet. Dieser Unterschied zwischen dem platonischen und dem aristotelischen ΰλη-Begriff kommt auch in einer sprachlichen Hinsicht zum Ausdruck: Während Piaton von der ΰ λ η in Gestalt der χώρα als „dasjenige, in dem etwas wird (τό δ' έν φ γ ί γ ν ε τ α ι : Tim. 50d)" spricht - an diese Bestimmung erinnert Aristoteles in 192a26 mit der ΰλη als τό έν ω -, spricht Aristoteles von seiner eigenen ΰ λ η demgegenüber als „dasjenige, aus dem etwas wird (τό [...] έξ οΰ γ ί γ ν ε τ α ί τι: 192a31-32)". Aristoteles zeigt zunächst in bezug auf die platonische ΰ λ η als τό έν φ auf, daß sie entgegen der Ansicht von Piaton an sich vergeht. Denn wird die ΰ λ η in Gestalt der χώρα als τό έν ω betrachtet, d.h. als dasjenige, in dem das Werdende (die Abbilder) wird, und gilt Aristoteles zufolge zudem, daß das Vergehende (die στέρησις) „in" ihr sein muß - wobei Piaton dies wegen der Unmöglichkeit der Existenz „negativer Ideen" selbst nicht sagen würde -, so vergeht mit der στέρησις auch die ΰ λ η an sich, sofern man nicht zwischen ΰ λ η und στέρησις differenziert: Die ΰ λ η in Gestalt der χώρα als ,,τό έν ω" ist ein An-sich-Vergängliches, weil die στέρησις ein An-sich-Vergängliches ist und nicht von der ΰ λ η unterschieden wird. 65 Bedenkt man, daß Aristoteles den Piatonikern im vor-
Vgl. Tim. 52a-b: „[...]; ein drittes aber wiederum die Gattung des Raumes, dem Untergange nicht unterworfen, [...]." („τρίτον δέ α ύ γένος δν τό της χώρας αεί, φθορά ν ού προσδεχόμενον, [...]"). Piaton betrachtet die ΰλη Aristoteles zufolge als ein leeres Gefäß (χώρα), in dem die στέρησις als dasjenige, was in der ΰ λ η ist, die Leerheit desselben konstituiert. Vergeht die στέρησις, so vergeht nach Ansicht von Aristoteles in diesem Falle auch die ΰλη an sich. Demgegenüber betrachtet Aristoteles selbst die ΰ λ η als etwas Bestimmtes, an dem die στέρησις ist. Wenn hier die στέρησις vergeht, so bedeutet dies nicht, daß mit ihr auch die ΰ λ η an sich vergeht.
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hergehenden Abschnitt vorgeworfen hat, daß sie die Momente der ΰ λ η und der σ τ έ ρ η σ ι ς gleichsetzen, so läßt sich diese aus der Gleichsetzung resultierende zugrundeliegende einsheitliche ,,ΰλη-στέρησις" entweder unter dem Aspekt betrachten, daß dessen privativer Charakter hervorgehoben wird - dies geschah in 190al9-20, wo den Piatonikern vorgeworfen wurde, daß es ihnen geschehe, daß das Entgegengesetzte nach seiner eigenen Vernichtung strebe, was im Widerspruch zu dem im Phaidon Gesagten steht -, oder aber unter dem Aspekt, daß dessen stofflicher Charakter hervorgehoben wird - dies geschieht nun in 192a2527, wo Aristoteles zeigt, daß es den Piatonikern gar geschehe, daß letztlich ihre ΰ λ η nach ihrem eigenen Untergang strebt, was im Widerspruch zu dem im 77maios Gesagten steht. Piaton begeht nach Ansicht von Aristoteles den Fehler, daß er die ΰ λ η mit einem Gefäß (χώρα) identifiziert und nicht zwischen dem „Darinnen" und „Worinnen" des Gefäßes unterscheidet. Indem Piaton die ΰ λ η mit der στέρησις gleichsetzt, unterscheidet er nicht mehr zwischen dem Gefäß als Umfassendes und der Leere, die durch das Gefäß umfaßt wird. Daß dies jedoch zu unterscheiden ist, macht Aristoteles unter anderem in Phvs. IV.3 deutlich: Folgendes ist offenkundig: Weil das Gefäß [τό άγγεΐον] nichts von dem ist, was in ihm ist [του έν αύτω] (denn verschieden ist doch das »erste Was« [τό πρώτοις δ] und das »In-dem« [έν ω], so kann Ort weder der Stoff noch die Form sein, sondern nur ein davon Verschiedenes: Diese nämlich sind ein Stück dessen, was darinnen ist, sowohl der Stoff wie die Form [έκείνου γαρ τι ταΰτα τοΰ ένόντος, και ή ΰλη και ή μορφή]. (Phys. IV.3, 210b27-31) In bezug auf seinen eigenen Begriff der ΰ λ η als κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν führt Aristoteles dann in 192a27 ff. aus, daß sie nicht an sich vergeht, sondern notwendigerweise ( α ν ά γ κ η : a28) ungeworden und unvergänglich ist. Als dieses notwendigerweise Ungewordene und Unvergängliche erfüllt die ΰ λ η das Kriterium einer άρχή. Mit der kontradiktorischen Verneinung, daß sie nicht an sich (ού καθ' αυτό: a28) vergeht, ist jedoch nicht gesagt, daß sie als κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν in keiner Weise vergeht. Insofern nämlich die στέρησις als An-sich-Vergehendes ein Akzidens (συμβεβηκός) an der ΰ λ η darstellt, kann auch die ΰ λ η zwar nicht an sich, wohl aber in einem akzidentellen Sinne ( κ α τ ά συμβεβηκός) vergehen. Bezüglich der Betrachtung der ΰ λ η als κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν ist die δ ύ ν α μ ι ς im Sinne eines Vermögens zu verstehen, das der ΰ λ η als ein ihr wesentliches Vermögen zukommt. Die Betrachtung der ΰ λ η als κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν meint die Betrachtung der ΰ λ η gemäß der ihr wesentlich zukommenden Bestimmung, die Aristoteles in 192a31-32 in Form einer Definition darlegt: Als das erste für ein jedes Zugrunde liegende, aus dem etwas als aus einem in ihm Enthaltenen in nicht akzidentell zukommendem Sinne wird, ist die ΰ λ η - wie Aristoteles zeigen wird - notwendigerweise unvergänglich und ungeworden. 66 Charlton (1970: 83) weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß Aristoteles dies in Met. VII. 1033a28-b9 und XII. 1070a2-4 in anderer Sprache sagt: „That that which is in possibility a statue or the like does not pass away is a point Aristotle insists on elsewhere in similar language, e.g. Met. Ζ 1033a28-b9, Λ 1070a2-4, and his reasons seem fair: if you are making an
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Bestand die δ ύ ν α μ ι ς der platonischen ύ λ η darin, daß sie als das vollkommen Leere und Ungestaltete das Aufnehmende eines jeden Werdenden ist, so besteht die δ ύ ν α μ ι ς der aristotelischen ΰ λ η zwar ebenfalls darin, daß sie das Aufnehmende der Formen ist, doch nimmt sie die Formen nicht als ein vollkommen Leeres und Ungestaltetes, sondern vielmehr als etwas, was für sich bereits ein Bestimmtes und irgendwie ο ύ σ ί α ist, auf. Der Gegensatz zwischen dem ,,ώς τό έν ω" und dem ,,ώς κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν " ist meiner Ansicht nach auch als ein Gegensatz zwischen der platonischen χ ώ ρ α als vollkommen leeres Gefäß, „zw dem etwas wird", und der aristotelischen ΰ λ η als ein von sich aus bereits irgendwie Bestimmtes, „aus dem etwas wird", zu verstehen; d.h. als Gegensatz zwischen dem Stoff als vollkommen Unbestimmtes und Leeres, der als dieses Unbestimmte an sich vergeht, sobald er eine Form aufnimmt, und dem Stoff als bereits irgendwie Bestimmtes, der nicht an sich vergeht, sobald er eine Form aufnimmt, sondern vielmehr eine weitere Gestaltung erhält, wobei mit dieser weiteren Gestaltung entweder eine bloß akzidentelle oder aber eine substantielle Gestalt gemeint sein kann. Mit dem Ausdruck „ κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν " , der sich auf die Definition in a31-32 bezieht, will Aristoteles andeuten, daß die ύ λ η gemäß ihrem eigenen Vermögen als ύ λ η - d.h. als dasjenige, was sie von sich selbst her ist (nämlich das einem jeden als erstes Zugrundeliegende) - betrachtet werden soll, und nicht als σ τ έ ρ η σ ι ς bzw. nicht als etwas, insofern es etwas noch nicht ist. Wenn Aristoteles mit der Behauptung „in bezug auf die δ ύ ν α μ ι ς vergeht die ύ λ η nicht an sich ..." (192 a27 f.) dem platonischen ύλη-Begriff als ,,τό έν ω" seinen eigenen ύλη-Begriff gegenüberstellt, wobei dieser in Phys. IV.3, 210b2731 im Verhältnis zum O r t ' bzw. 'Gefäß' als „τι του ένόντος" bestimmt wird, 67 so meint Aristoteles hier - ebenso wie Piaton mit seiner χ ώ ρ α - nicht mehr das konkrete Materialstück, sondern vielmehr die ύ λ η als ein Prinzip. Dies wird sowohl durch die Bestimmung „notwendig ungeworden und unvergänglich" angezeigt, als auch wird dies daraus ersichtlich, daß Aristoteles im Anschluß an die Argumentation bezüglich der ύ λ η als Ungewordenes und Unvergängliches von dem Prinzip gemäß der Form (vgl. „περί δέ της κ α τ ά τό είδος α ρ χ ή ς " : 192 a34) spricht, so daß der vorhergehende Abschnitt parallel dazu als Betrachtung „περί της κ α τ ά την ύ λ η ν ά ρ χ ή ς " verstanden werden kann. Nun lautet die These in 192a27-29, daß die ύ λ η als dasjenige, was sie von sich selbst her ist, an sich notwendigerweise ungeworden und unvergänglich ist. Der Beweis dieser These, der in Gestalt einer Reductio ad absurdum durchgeführt wird, erstreckt sich sowohl (a) auf die Seite des Ungewordenseins (a29-32) wie auch (b) auf die Seite des Unvergänglichseins (a32-34) der ύλη. Aristoteles nimmt zu diesem Zwecke jeweils die Wahrheit der zu widerlegenden These an, um aus ihr eine widersprüchliche Konklusion herzuleiten. ivory billiard ball, you are not making either the ivory or what the ivory will constitute, a sphere: you are making the ivory constitute a sphere." Vgl. auch die Differenzierung „έτερον γάρ τό πρώτως ο τε και έν ω" (210b28-29), die sich an unserer Textstelle in l92a25-32 insofern wiederfmdet, als die platonische ΰλη als ,,τό έν φ" (a26) bezeichnet wird, wahrend Aristoteles seine eigene ΰ λ η als ,,τό πρώτον ύποκείμενον έκάστφ, έξ οΰ γίγνεταί τι ένυπάρχοντος μή κατά συμβεβηκός" (a31-32) bestimmt.
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Zu (a): „Das Ungewordensein der ΰλη" Wenn er [der Stoff] nämlich entstünde [ε'ίτε γ α ρ έ γ ί γ ν ε τ ο ] , so müßte [ihm ebenfalls] etwas als Erstes zugrunde liegen, aus dem als schon in ihm Vorhandenen [er entstünde]. Dies aber ist diese Natur [d.h. der Stoff] selbst [αύτη ή φύσις], so daß er wäre, bevor er entstünde [ώστ' έ σ τ α ι πριν γ ε ν έ σ θ α ι ] , (»Stoff« nämlich nenne ich das erste für ein jedes Zugrundeliegende, aus dem etwas als in ihm schon Vorhandenen wird in nicht akzidentell zukommendem Sinn [τό πρώτον ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν έ κ ά σ τφ, έξ οΰ γ ί γ ν ε τ α ί τι έ ν υ π ά ρ χ ο ν τ ο ς μή κ α τ ά συμβεβηκός]). (1.9, 192a29-32)
Die aus der Prämisse „wenn die ΰλη entstünde" hergeleitete und offenkundig absurde Konklusion lautet: „Die ύ λ η wäre, bevor sie entstünde". Um zu dieser Konklusion zu gelangen, bedient sich Aristoteles sowohl der hier nicht explizit ausgesprochenen Prämisse, daß etwas immer aus etwas wird (wobei letzteres 'etwas', aus dem etwas wird, das durch die beiden Momente der ΰλη und der στέρησις konstituierte ύποκείμενον des Werdens ist; vgl. dazu Kapitel 1.7), als auch der Prämisse, daß die ύ λ η das erste für ein jedes Zugrundeliegende sei, aus dem etwas als in ihm schon Vorhandenen in einem nicht akzidentell zukommenden Sinne wird. 68 Die zuletzt genannte Prämisse wird in der in a31-32 vorgelegten Definition der ύλη, die eine Zusammenfassung der im bisherigen Verlauf der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse über die ΰ λ η darstellt, zum Ausdruck gebracht. Aus diesen Prämissen ergibt sich dann folgendes Argument: Wenn die ΰλη als κ α τ ά δ ύ ν α μ ι ν - und somit als das erste in einem jeden Zugrundeliegende, aus dem etwas als in ihm schon Vorhandenen nicht in einem akzidentellen Sinne wird - an sich entstünde, so würde diese ύλη letztlich aus ύλη entstehen, und dieser Prozeß würde ins Unendliche führen. 69 Es gäbe somit „eine ύ λ η der ύλη der ΰ λ η usw." In Metaph XII.3 bricht Aristoteles an dieser Stelle die Frage nach dem Entstehen der ύλη aufgrund des Verbots eines infiniten Regresses ab, weil notwendig einmal ein Stillstand eintreten muß: Ferner, weder die Materie entsteht noch die Form, ich meine nämlich die letzte Materie und die letzte Form (ischata). Denn bei jeder Veränderung verändert sich etwas und durch etwas und in etwas. Dasjenige, wodurch es sich verändert, ist das erste Bewegende; das, was sich verändert, ist der Stoff; das, worin es sich verändert, ist die Form. Man müßte also ins Unendliche fortschreiten, wenn nicht nur das Erz rund würde, sondern auch das Runde und das Erz würde; also muß notwendig einmal ein Stillstand eintreten. (Met. XII.3, 1069b35-1070a4; Übers, nach Bonitz)
Im Unterschied zu Metaph XII.3, wo die Suche nach dem Entstehen der ΰλη aufgrund des Verbots eines infiniten Regresses abgebrochen wird, weist Aristoteles in Phys. 1.9 zudem auf eine widersprüchliche Konklusion hin, die zur Ne-
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Zur Bestimmung der ΰλη als Erstes (πρώτον) und Letztes (έσχατον) vgl. auch Met. 1.3, 983b89' „έξ οΰ γάρ έστιν άπαντα τα οντα και έξ ού γίγνεται πρώτου και εις δ φθείρεται τελευταίον, Γ...1." Vgl. auch Met. ΙΙ.2, 994al-5: „Daß es ein Prinzip gibt und die Ursachen des Seienden nicht ins Unendliche fortschreiten, weder in fortlaufender Reihe noch der Art nach, ist offenbar. Denn weder das Entstehen des einen aus dem andern als aus seinem Stoffe kann ins Unendliche fortgehen, z.B. Fleisch aus Erde, und Erde aus Wasser, und Wasser aus Feuer und so ins Unendliche; [...]." (Übers, nach Bonitz).
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gation der Ausgangsthese „wenn die ΐ>λη entstünde" führt, nämlich auf die Tatsache, daß die ΰ λ η bereits wäre, bevor sie würde. Nun könnte man jedoch einwenden, daß dieses Werden einer ΰ λ η aus einer ύ λ η nicht notwendigerweise in einen infiniten Regreß fuhren muß, wenn man z.B. an das wechselseitige Werden der Elemente auseinander denkt. We may notice that Aristotle's argument establishes only that that which is X in possibility is not produced when X is produced or destroyed when X is destroyed. When X is one of the four elements, that which is X in possibility may pass away when X comes to be, and come to be when X passes away. Thus water is air in possibility (Phys. IV 213a2-3), and Aristotle would probably say that it ceases to be when it changes into air, and comes to be when air changes back into it. If this is his view, it will not be true without qualification that the material factor is neither brought to be nor destroyed; however, in these chapters Aristotle is discussing changes generally (189b30-3) and taking as his main examples alterations; elements are not mentioned (cf. 184a 18-23 and note), and their transformations will not have been to the fore in his mind. (Charlton, 1970: 83 f.) Diesem Einwand ist zunächst entgegenzuhalten, daß Aristoteles in bezug auf die Unvergänglichkeit der ύ λ η nicht nur an Eigenschaftsveränderungen denken darf, sondern eine jegliche Art des Werdens im Blick haben muß. Die von Charlton aufgestellte Schwierigkeit löst sich jedoch dadurch, daß Aristoteles in 192a25 ff. nicht mehr von den konkreten Stoffen, sondern vielmehr von der ύ λ η als 'allgemeine ύ λ η ' im Sinne eines Prinzips spricht. Und diese „allgemeine ύ λ η " darf natürlich selbst nicht per definitionem als Erste aus einer ύ λ η entstehen. Sie entstünde dann nämlich gleichsam aus sich selbst, so daß man die widersprüchliche Konklusion erhielte, daß sie wäre, bevor sie würde. Auch wenn es wahr ist, daß Wasser aus Luft - und somit eine ύ λ η aus einer ύ λ η - wird, wobei in bezug auf diesen Werdeprozeß die eine ύ λ η vergeht, während die andere ύ λ η entsteht, so darf dies doch nicht analog auf eine allgemeine Ebene übertragen werden. Diesem Fehlschluß bezüglich einer „falschen Verallgemeinerung" sind wir j a gerade in Kapitel 1.8 bezüglich des Werdens aus Seiendem und Nichtseiendem begegnet, so daß auch hier nicht übersehen werden darf, daß, auch wenn Wasser aus Luft und somit eine ύ λ η aus einer ύ λ η wird, jedoch nicht gilt, daß eine ύ λ η aus einer ύ λ η als ύ λ η wird. Zu (b): „Die Unvergänglichkeit der ύ λ η " Wenn er [der Stoff] aber vergeht [εϊτε φθείρεται], so kommt man auf ihn als Letztes [εσχατον] zurück, so daß er untergegangen sein wird, bevor er untergegangen ist. (1.9, 192a32-34) Die Argumentation bezüglich der Unvergänglichkeit der ύ λ η ist analog zur Argumentation bezüglich des Nicht-Entstehens der ύ λ η konzipiert. Ist die ύ λ η laut Definition (vgl. a31-32) das erste Zugrundeliegende eines jeden, aus dem etwas als in ihm Vorhandenen wird, so ist sie umgekehrt auch das letzte Zugrundeliegende eines jeden, zu dem etwas als in ihm Vorhandenen vergeht. Dies aber bedeutet, daß die ύλη, würde sie vergehen, letztlich immer zur ύ λ η verginge und wir somit die widersprüchliche Konklusion erhalten würden, daß die ύ λ η unter-
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gegangen wäre, bevor sie untergegangen ist; es müßte dann ebenfalls eine ΰλη der ΰλη der ΰλη usw. geben.70
9.1.7.2 Die Definition der ΰλη (192a31-32) und die Frage nach einer 'πρώτη ΰλη' » S t o f f « nämlich n e n n e ich das erste für ein j e d e s Zugrundeliegende, aus d e m etwas als in ihm s c h o n V o r h a n d e n e n wird in e i n e m nicht akzidentell z u k o m m e n d e n Sinn [το π ρ ώ τ ο ν ύ π ο κ ε ί μ ε ν ο ν έ κ ά σ τ ω , έ ξ ο ΰ γ ί γ ν ε τ α ί τι έ ν υ π ά ρ χ ο ν τ ο ς μ ή κ α τ ά σ υ μ β ε β η κ ό ς ] . (1.9, 1 9 2 a 3 1 - 3 2 )
In dieser Definition wird die ΰλη durch den Ausdruck „ένυπάρχοντος" explizit von dem Moment der στέρησις unterschieden. Zwar ist letztere auch irgendwie 'an' einem Zugrundeliegenden, doch ist sie dies nicht als ein ,,ένυπάρχον" (vgl. dazu 1.8, 191b 15-16). Durch die Hinzufügung des Ausdrucks ,,μή κατά συμβεβηκός", den ich auf „γίγνεταί" beziehe, soll die ΰλη ebenfalls von der στέρησις abgegrenzt werden, denn wir sahen doch, daß das Werdende, während es aus der στέρησις in einem akzidentellen Sinne (κατά συμβεβηκός: vgl. 1.8, 191bl3-16) wird, aus dem stofflichen Moment nicht in einem akzidentellen Sinne (vgl. 1.7, 190b26-27) wird.71 Der Ausdruck ,,έξ οΰ γίγνεταί τν ένυπάρχοντος" ist ein feststehender Terminus, den Aristoteles auch an anderen Stellen zur Bezeichnung der ΰλη verwendet (vgl. Phys. II.3, 194b24 und Met. V.l, 1013a4; V.2, 1013a24-25). Nun ist in bezug auf diese Definition der ΰλη innerhalb der Sekundärliteratur mehrfach die Vermutung geäußert worden, daß hier von einer „πρώτη ΰλη" die Rede sei.72 Dies glaubte man unter anderem durch den in der Definition erwähnten Ausdruck „πρώτον" bestätigt zu sehen. Da man das Konzept einer πρώτη ΰλη für gewöhnlich einer späteren Entwicklungsphase bei Aristoteles zuordnet, und da vieles dafür spricht, daß das Buch Α der Physik zu den frühen Werken von Aristoteles zählt, würde aus der Annahme, daß Aristoteles in Kapitel 1.9 von der πρώτη ΰλη spricht, zugleich folgen, daß man das Kapitel 1.9 als eine spätere
71
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Es sei nebenbei bemerkt daraufhingewiesen, daß Aristoteles das Werden und Vergehen an dieser Stelle in einem temporalen Sinne analysiert. Der Ausdruck „bevor" (πριν) kann zwar auch in einem logischen Sinne verstanden werden, doch ist es hier wohl in einem zeitlichen Sinne gemeint, was durch die Zeitformen der Verben zum Ausdruck kommt: vgl. ,,εσται π ρ ι ν γ ε ν έ σ θ α ι " und ,,έφθαρμένη έ σ τ α ι π ρ ι ν φθαρήναι". Vgl. Lobkowicz, (1963: 96): „As is well known, there are two different definitions of matter in Aristotle. According to the first {Phys. I. 9, 191 b31 f.), matter as the first substratum from which each thing comes to be per se, as from an intrinsic principle (as opposed both to privation and to accidental qualities which may persist in the product): according to the second (Met. Z.3, 1029 a20 f.), matter is that which cannot be assigned to any of the categories by which being is determined." Als Vertreter der Auffassung, daß Aristoteles hier von einer πρώτη ΰ λ η spricht, sind u.a. folgende Interpreten zu nennen: Wagner (1967: 435 f.), Zeller ( 1963: Bd. I, S. 345), Robinson (1974: 173-77), Craemer-Ruegenberg (1983: 89), A. Mansion ( 2 1946: 74-75), Claghorn (1954: 6) und O'Donoghue (1953: 37). Gegen die Auffassung, daß hier von einer πρώτη ΰ λ η die Rede ist, sprechen sich u.a. folgende Interpreten aus: Gill (1989: 148 und 244), Waterlow (1982: 46), Charlton (1983: 198; 1970: 83), Jones (1974: 497-500) und King (1956: 385-87).
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Hinzufilgung anzusehen hätte.73 In Übereinstimmung mit der bezüglich des Kapitels 1.7 vorgelegten Interpretation, spreche ich mich auch hier dafür aus, daß Aristoteles in Kapitel 1.9 ebenfalls nicht von einer 'πρώτη ΰλη' redet, so daß dieses Kapitel auch nicht als eine spätere Hinzufilgung anzusehen ist. Die in 1.9, 191a31-32 vorliegende Definition der „ύλη" spricht zwar von einem „Ersten" (τό πρώτον), doch ist hier das Adjektiv „πρώτον" nicht auf „ύλη" bezogen, so daß von einer „πρώτη ύλη" die Rede wäre; vielmehr wird hier die ύλη als ein „πρώτον ϋποκείμενον έκάστφ" (192a31) bezeichnet, und dies braucht nicht die πρώτη ύλη zu sein. Während Ross (1936: 498) das „πρώτον ύποκείμενον" in 1.9, 192a31 im Sinne eines „letzten (ultimate) Zugrundeliegenden" versteht, weist Charlton (1970: 83) daraufhin, daß aus anderen Textstellen (vgl. Met. VII.8 und XII.3) deutlich wird, daß das „πρώτον" auch als „nächstes (proximate) Zugrundeliegendes" verstanden werden kann. Doch selbst wenn man das „πρώτον" als „Letztes" (ultimate) versteht, sehe ich keine Notwendigkeit, daß hier von einer πρώτη ύλη die Rede ist, sofern ja nur von einem „letzten Zugrundeliegenden" und nicht von einer „letzten ύλη" gesprochen wird. King (1956: 386) hebt zudem hervor, daß Aristoteles im Buch Α der Physik an keiner Stelle von einer πρώτη ύλη gesprochen hat, und daß die Bestimmung der ύλη als in gewisser Weise ουσία (vgl. ,,ούσίαν πώς") in 192a6 gerade gegen die Auffassung spricht, daß hier von der ύλη als πρώτη ύλη die Rede sei. Wagner hebt zu Recht hervor, daß wir es in Kapitel 1.9 mit einer Materialdefinition zu tun haben, die auf einen bestimmten „Gedankenkontext" bezogen ist: Unsere Parenthese bringt keineswegs schlechthin die aristotelische Materialdefinition; sie ist vielmehr ganz und gar auf das Problem des Werdens und Entstehens bezogen, und zwar sogar auf die sehr bestimmte Weise Art und Weise, wie dieses Problem gerade im Ersten Buch gestellt und bearbeitet ist. (Wagner, 1969: 288)
Obgleich Wagner hier nicht von einer „πρώτη ύλη" spricht, verweist er doch an anderer Stelle in bezug auf die Explikation der πρώτη ύλη gerade auf Phys. 1.9, 192a25 ff.: [...]; sie [gemeint ist die πρώτη ΰλη] kennt kein Entstehen und Vergehen und ist das zu aller Zeit existierende Substrat des Weltprozesses und aller seiner Teilprozesse (Phys. I 9, 192 a 25 ff.; Met. XII. 3, 1069 b 35 ff.); als solche ist sie die unerläßliche Bedingung, aber auch der eine der positiven Gründe für die Ewigkeit des Weltprozesses selbst, der nichts als die ununterbrochene Umwandlung des Urmaterials ist (z.B. Degen, etcorr. I. 3, 318 a9f.). (Wagner, 1967: 436)
Wenn man in bezug auf die aristotelische Theorie von einer „πρώτη ύλη" spricht, so meint man damit für gewöhnlich das - wie Wagner es nennt - „zu aller Es sind auch andere Gründe dafür angeführt worden, das Kapitel 1.9 eventuell als eine spätere Hinzufilgung zu betrachten. Vgl. Gigon (1969: 120): „Aufs Ganze gesehen wirkt das Kapitel 191a23-192a34 als ein Anhang zum Haupttext. Es ist auch stilistisch vielfach anders nuanciert, so daß die Hypothese mindestens erwägenswert bleibt, daß hier ein Text aus einem der Dialoge einwirkt." Vgl. auch Bostock (1982: 187): „For not until the last chapter of the book - which one may well suspect, for this reason, to be a later addition - do we find Aristotle using his technical term 'matter' (hule) precisely as a technical term for whatever it is that persists, and until then the word seems to bear its ordinary sense of stuff or material."
Die Auseinandersetzung mit Piaton
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Zeit e x i s t i e r e n d e Substrat d e s W e l t p r o z e s s e s und aller s e i n e r T e i l p r o z e s s e " . D i e π ρ ώ τ η ΰ λ η w i r d v o n e i n i g e n Interpreten v o r a l l e m als Substrat d e s W e c h s e l s der E l e m e n t e a u s e i n a n d e r a n g e n o m m e n , bei d e m sie d a s b l e i b e n d e M o m e n t darstellen soll. N u n w u r d e bereits in b e z u g a u f d a s Kapitel 1.7 d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß s i c h Charlton g e g e n d i e A n n a h m e e i n e r π ρ ώ τ η ΰ λ η in Physik
I ausspricht. Z u -
g l e i c h vertritt er d i e T h e s e , d a ß A r i s t o t e l e s in Kapitel 1.7 an keiner Stelle b e hauptet, daß bei j e d e m W e c h s e l i m m e r e i n B l e i b e n d e s v o r h a n d e n s e i n m u ß ( 1 9 7 0 : 7 7 ) . 7 4 R o b i n s o n ( 1 9 7 4 : 1 7 3 ) , der ein Vertreter der π ρ ώ τ η ΰ λ η - T h e s e im B u c h Α der Physik
ist, hat j e d o c h darauf h i n g e w i e s e n , d a ß d i e T h e s e
von
Charlton, der z u f o l g e A r i s t o t e l e s an k e i n e r S t e l l e in K a p i t e l 1.7 behauptet, d a ß bei j e d e m W e c h s e l i m m e r ein B l e i b e n d e s v o r h a n d e n s e i n m u ß , in Kapitel 1.9 insofern w i d e r l e g t w e r d e , als A r i s t o t e l e s dort in 1 9 2 a l 3 d i e ΰ λ η als das b l e i b e n d e M o m e n t ( v g l . „ υ π ο μ έ ν ο υ σ α " ) b e s t i m m t , d a s w i e e i n e Mutter z u s a m m e n mit der μ ο ρ φ ή M i t u r s a c h e d e s W e r d e n d e n ist. 75 Z u d e m führt R o b i n s o n in b e z u g auf d i e T e x t s t e l l e 1 9 2 a 2 8 - 3 3 g e g e n ü b e r Charlton an, d a ß d i e s e P a s s a g e u n v e r s t ä n d l i c h wäre, w e n n A r i s t o t e l e s in ihr nur die E i g e n s c h a f t s v e r ä n d e r u n g , nicht j e d o c h d e n S u b s t a n z w e c h s e l im Sinn g e h a b t hätte: I do not see h o w it can be true that he [Aristoteles] here [in 192 a28-33] has in m i n d only alteration in substances. In such cases the matter of the change is the substance itself. (Robinson, 1974: 175) Es w u r d e bereits dargelegt, daß Charlton in b e z u g auf d i e T e x t s t e l l e 1 9 2 a 2 5 - 3 4 der A n s i c h t ist, d a ß A r i s t o t e l e s dort v o r a l l e m an die E i g e n s c h a f t s v e r ä n d e r u n g denkt:
Die von mir vorgelegte Interpretation des Kapitels 1.7 zeigte folgendes: Auch wenn man annimmt, daß Aristoteles der Ansicht ist, daß es bei jedem Werden ein Bleibendes gibt, so ist doch zu berücksichtigen, daß dies in Kapitel 1.7 nicht explizit gesagt wird. Hierbei ist zu bedenken, daß es sich bei einigen Werdeprozessen als durchaus schwierig erweist, jeweils das Bleibende zu benennen. In bezug auf das den Werdeprozessen des 'etwas Werdens' (τόδε τι γίγνεσθαι) und des 'einfachen Werdens' (άπλώς γίγνεσθαι) in 190a31-bl0 herauszuarbeitende gemeinsame Moment zeigte die vorliegende Interpretation vielmehr, daß das Moment des Bleibenden (ύπομένον) zugunsten des Moments des bestimmten Zugrundeliegenden (ύποκείμενον) zunehmend in den Hintergrund trat. In ähnlicher Weise ist dann auch die Frage nach einer πρώτη ΰλη bei Aristoteles zu beantworten: Auch wenn man annimmt, daß Aristoteles dem Werden als letztes Substrat eine πρώτη ΰλη zugrunde legt, wofür durchaus einige Textstellen aus anderen Schriften von Aristoteles zu sprechen scheinen, so ist doch zu berücksichtigen, daß Aristoteles in Physik Α offenkundig nicht von einer πρώτη ΰλη spricht. Charlton (1983: 198) hat diesem Einwand folgendes entgegnet: „Robinson argues that since Aristotle says that if matter passed away it would ultimately arrive at itself, he must be talking about the lowest kind of matter. Either this is prime matter or it is the elements. If we say it is the elements, then since in a!3-14 Aristotle speaks of matter as remaining, we must admit he thinks that when the elements change into one another, there is something which remains. But this will be prime matter. So either way Aristotle accepts prime matter (p. 175). To this argument 1 reply, first, that it is temerarious to apply what Aristotle says in a 13-14, where he is trying to accommodate Plato's views to his, to the apparently separate discussion of a24-34. Secondly, the later passage need not be about the lowest sort of matter. To suppose it is does not help us to understand 'If it is destroyed, it is to this that it will arrive in the end'. The thought behind that is surely the simple one that since matter is what things arise out of and pass away into, it does not make sense to speak of matter itself as coming to be and passing away. It is not matter but 'composites' that do that."
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons' [...] however, in these chapters Aristotle is discussing changes generally (189b30-3) and taking as his main examples alterations; elements are not mentioned (cf. 184al823 and note), and their transformations will not have been to the fore in his mind. (Charlton, 1970: 84)
Diese Bemerkung betrachtet Robinson jedoch als unverständlich: This is a puzzling remark: Chapter 9 contains no examples at all and chapter 8 is mainly, if not wholly, about substantial change. (Robinson, 1974: 174)
Gegen Charlton ist zu Recht einzuwenden, daß Aristoteles in Kapitel 1.9 auch das Werden der Elemente auseinander berücksichtigen muß, da sich die ΰ λ η j a als Prinzip eines jeden Werdeprozesses erweisen soll. Gegen Robinson ist jedoch einzuwenden, daß Aristoteles in Kapitel 1.9 mit dem Häßlichen und Schönen bzw. mit dem Weiblichen und Männlichen gleichwohl Beispiele - und zwar Beispiele für eine Eigenschaftsveränderung - anführt. Aristoteles wählt diese Beispiele einer Eigenschaftsveränderung vermutlich aus folgendem Grunde: Da sich Aristoteles in Kapitel 1.9 mit der Theorie Piatons auseinandersetzt, dessen theoretischem Modell zufolge es keine Eigenschaftsveränderungen als solche geben kann, liegt es doch nahe, daß Aristoteles gerade mit Hilfe von Beispielen für eine Eigenschaftsveränderung zu zeigen versucht, daß das platonische Modell in Widersprüche führt. Zwar fuhrt Robinson in bezug auf die Textstelle 192a28-33 gegenüber Charlton zu Recht an, daß diese Passage unverständlich wäre, wenn Aristoteles in ihr nur die Eigenschaftsveränderung, nicht jedoch den Substanzwechsel im Sinn gehabt hätte, doch ergibt sich daraus nicht notwendigerweise die Konsequenz, die Robinson letztlich zieht, nämlich daß wir es mit der πρώτη ύ λ η zu tun hätten: Indeed the only matter which could not pass away into some lower form would be the lowest form. (Robinson: 1974, 175)
Robinson übersieht hier, daß nicht nur die niedrigste (letzte) Form der ύ λ η im Sinne einer πρώτη ΰλη, sondern daß auch die oberste (allgemeinste) Form der ύ λ η im Sinne eines allgemeinen Prinzips nicht zu einer 'anderen' ύ λ η vergehen kann. 76 Aus den angeführten Gründen bin ich der Überzeugung, daß Aristoteles in Physik Α nicht von einer πρώτη ύ λ η handelt. 77 Aristoteles will sich in Kapitel 1.9 doch gerade von dem platonischen ύλη-Begriff, der in Gestalt der χώρα auf76
Happ ist jedoch der Ansicht, daß Aristoteles nicht in Phys. A, sondern eher in Met. Ζ 3 von einem allgemeinsten ύλη-Prinzip spricht. Demgegenüber scheint ihm in Phys. Α eher von einer πρώτη ΰ λ η die Rede zu sein (1971: 665): „ [ . . . ] ist die Frage erlaubt, o b nicht met. Ζ 3 und phys. α doch zweierlei meinen, d.h. nicht zwei verschiedene 'Materien', sondern zwei verschiedene Stufen, Manifestationen ein und desselben Prinzips: in Ζ 3 das 'allgemeinste HylePrinzip', in phys. α die πρώτη ΰλη." Zwar bin auch ich der Ansicht, daß Aristoteles in Met. Z.3 und Phys. Α vermutlich zweierlei meint, doch ordne ich den Oedanken einer πρώτη ΰ λ η eher Met. Z.3 zu, während es im Buch Α der Physik, wie auch die vorgelegte Interpretation der Analogie in Kapitel 1.7 deutlich gemacht hat, um die ΰ λ η als ein allgemeines Prinzip geht. Vgl. auch Gill (1989: 244): „But I do not agree with Joachim that Aristotle, in alluding to Physics I [in De gen. et corr. II. 1, 3 2 9 a 2 4 - b 3 5 ] refers to an account o f prime matter. [ . . . ] Many scholars, including s o m e w h o are prepared to find the concept in On Generation and Corruption, now believe that prime matter is not to be traced to the first book o f the Physics."
Die abschließende Konklusion
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grund seiner vollkommenen Bestimmungslosigkeit eher dem Konzept einer πρώτη ύλη entspricht, abgrenzen, indem er einerseits das Moment der Bestimmtheit der ύλη und andererseits die Differenz zwischen ύλη und στέρησις hervorhebt.78 Statt von einer „πρώτη ύλη" spricht Aristoteles in Kapitel 1.9 ebenso wie in der Analogie in 1.7, 191 a7-14 - vielmehr von der ύλη als von einem allgemeinen Prinzip.79
9.2 Die abschließende Konklusion (192a34-b4) Bezüglich des Prinzips hinsichtlich der Form [περί δέ της κ α τ ά τό ε ΐ δ ο ς α ρ χ ή ς ] aber, ob e s eines ist oder viele und w e l c h e s oder welche, dies in Genauigkeit zu bestimmen, ist A u f g a b e der Ersten Philosophie, s o daß es bis zu jener Gelegenheit zurückgestellt sein soll. Bezüglich der natürlichen und vergänglichen Formen [περί δέ τ ω ν φ υ σ ι κ ώ ν κ α ι φ θ α ρ τ ώ ν ε ι δ ώ ν ] aber werden wir in den späteren Ausführungen darüber sprechen. Daß es also Prinzipien gibt und welche und wieviele der Zahl nach es sind, soll uns nun als auf diese W e i s e bestimmt gelten. Und nun wollen wir erneut an einem anderen Ausgangspunkt [ ά λ λ η ν α ρ χ ή ν ] beginnen und von vorne vortragen. (1.9, 192a34b4)
In seiner abschließenden Bemerkung macht Aristoteles noch einmal explizit deutlich, was ohnehin im Verlauf der Untersuchung in den Kapiteln 1.6 bis 1.9 offenkundig geworden ist: Daß nämlich das zentrale Thema des Buches Α der Physik in bezug auf eine Bestimmung der Prinzipien der Naturdinge in der genauen Bestimmung des Begriffs der ΰποκειμένη φύσις mit ihren beiden Momenten „ύλη" und ,,στέρησις" liegt, während eine genauere Bestimmung des Begriffs des είδος in den Hintergrund getreten ist.80 Der Hinweis, daß die Beantwortung der Frage, ob das είδος eines oder vieles ist, und welches είδος bzw. welche είδη es gibt, mit größerer Genauigkeit der Ersten Philosophie zufallen soll,8' entspricht dem bereits herausgestellten Grundgedanken, daß die Physik im Unterschied zur Metaphysik ihr Augenmerk vor allem auf den Begriff der ύλη zu lenken habe, wobei sie das είδος jedoch keineswegs ausklammern darf, während sich die Metaphysik primär mit der Frage nach dem είδος auseinanderzusetzen habe, wobei auch sie die ύλη nicht aus den Augen verlieren darf. Zu diesen offen gebliebenen Problemen, deren Beantwortung mit größerer Genauigkeit 78
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Cherniss (1962: 84-86) ist demgegenüber der Auffassung, daß Aristoteles seine eigene Konzeption einer πρώτη ΰ λ η in Kapitel 1.9 auf die Theorie Piatons übertragen will. Eine analoge Interpretation findet sich auch bei Claghorn (1954: 6): „Now it soon becomes apparent that Aristotle thought that Plato's view of matter was the same as his own." Zum Verhältnis der allgemeinen Prinzipien zu den konkreten Prinzipien vgl. vor allem Met. XII.4, 1070a31-b21. Vgl. auch Zekl (1987: XXVIII): „Es ist somit offenkundig, daß dies 1. Buch in der Hauptsache um den Stoffbegriff kreist, ihn bearbeitet, ihm Gewicht verleiht. Daß er in dialektischer Weise mit dem Formprinzip verbunden ist, wird nicht vergessen, nur ist dies nicht das Hauptanliegen." Dies geschieht nach Ansicht von Hardie/Gaye (1930), Düring (1966: 189) und Ross (1936: 498 f.) vor allem in Met. XII.7-9, wobei Ross auch auf Met. VII.7-9 hinweist. Prantl (1854: 51) verweist in diesem Zusammenhang auf Met. und XIII.9 und XIV.
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Physik I. 9: 'Die Abgrenzung von der Theorie Piatons'
der Ersten Philosophie zufallen soll, zählt auch die weitere Auseinandersetzung mit der in 1.7, 191al9-20 aufgeworfenen und unbeantwortet gebliebenen Frage, ob eher das ύποκείμενον oder das είδος die ουσία ist. Über die Vergänglichkeit bzw. Unvergänglichkeit der bloßen Formen muß in Kapitel 1.9 ja im Gegensatz zur Vergänglichkeit bzw. Unvergänglichkeit der ΰλη j a auch aus dem Grunde nicht eigens gehandelt werden, da Aristoteles der von Piaton im Phaidon gewonnenen Erkenntnis zustimmt, daß die gegensätzlichen Formen nicht auseinander werden. Die Differenz zwischen der platonischen und aristotelischen Theorie ist den Darlegungen in Kapitel 1.9 zufolge vor allem in einer unterschiedlichen Bestimmung der ΰλη zu sehen. Gleichwohl sind die Formen nicht ausschließlich Gegenstand der Metaphysik, da die ausschließliche Betrachtung der ΰλη ohne Berücksichtigung des είδος den Blickpunkt des Physikers insofern einengen und verfälschen würde, als sich ΰλη und είδος ja als korrelative Begriffe erwiesen haben und somit letztlich nur im Verhältnis zueinander zu bestimmen sind. Aristoteles bemerkt zu der Frage, mit welcher Natur sich der Physiker auseinanderzusetzen habe, in Phys. II.2, 194al5-27 folgendes: Denn auch in bezug auf dieses, weil die Naturen [αϊ φύσεις] zwei sind [nämlich hyle und eidos], könnte einer in Schwierigkeiten gelangen, mit welcher von beiden sich der Naturforscher auseinanderzusetzen habe. Oder etwa mit dem aus beiden [Zusammengesetzten]? Aber wenn mit dem aus beiden [Zusammengesetzten], dann auch mit jedem von beiden. Ist es nun also Aufgabe ein und derselben (Wissenschaft) oder verschiedener, jedes der beiden zu erkennen? [...], und wenn es Aufgabe ein und desselben Wissens ist, Form und Stoff bis zu einem gewissen Grade zu kennen, [...] so wäre es Aufgabe auch der Naturwissenschaft, beide Naturen zu erkennen.
Wenn sich der Physiker vor diesem Hintergrund also nicht nur mit dem Stoff, sondern auch mit der Form zu beschäftigen hat, so sind es vor allem die 'natürlichen und vergänglichen Formen' (vgl. „περί δέ των φυσικών και φθαρτών ειδών": 192b 1), die in den Gegenstandsbereich der Physik fallen und an späterer Stelle82 behandelt werden sollen. Indem Aristoteles in 192bl von den „natürlichen und vergänglichen Formen" spricht, will er diese von anderen - z.B. mathematischen - Formen unterscheiden. Zur Vermeidung von Mißverständnissen hätte er jedoch besser nicht von „vergänglichen" (vgl. „φθαρτών") Formen gesprochen, da ja ebenso wie die mathematischen Formen auch die natürlichen Formen genaugenommen nicht dem Vergehen unterliegen. Beim Vergehen eines bestimmten φύσει öv vergeht weder ein bestimmtes είδος noch eine bestimmte ΰλη; vielmehr vergeht die Zusammensetzung eines bestimmten είδος mit einer bestimmten ΰλη. Aristoteles kann das Buch Α der Physik nun mit der Feststellung des Beweiszieles schließen: Es ist klar geworden, (a) daß es Prinzipien gibt (dies ist insofern klar geworden, als Begriffe aufgefunden wurden, auf die einerseits ein je82
Mit der späterer Stelle meint Aristoteles entweder De Caelo, De gen et corr. II (vgl. Prantl, 1854: 51; Hardie/Gaye, 1930; Ross, 1936: 498) oder aber spätere Bücher der Physik, wobei hier vor allem an das zweite Buch zu denken ist (vgl. Ross, 1936: 498).
Die abschließende Konklusion
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des von Natur aus Seiende und Werdende reduziert werden kann, und die andererseits zugleich die aufgestellten Kriterien einer άρχή erfüllen), (b) welches die Prinzipien sind (nämlich ΰλη, είδος und στέρησις), und (c) wieviele Prinzipien es der Zahl nach gibt. In der Handschrift Ε findet sich an das abschließende Wort ,,λέγωμεν" (192b4) der Anfang des Buches II unter Hinzufügung des Begründungspartikels „denn" (γαρ) angefügt: „των γάρ όντων τά μεν έστιν φύσει, τά δέ δι* αλλας αιτίας". 83 Auf diese Weise wollte der Schreiber der Handschrift Ε offenkundig einen Zusammenhang zwischen den beiden Büchern I und II herstellen. Ross ist jedoch der Ansicht, daß ursprünglich keine derartige unmittelbare Verbindung zwischen den Büchern I und II bestand. Er betrachtet das „γάρ" vermutlich zu Recht als eine spätere - nicht von Aristoteles stammende - Hinzufügung, die den Zusammenhang der beiden Bücher explizit herstellen sollte.84
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Das „γάρ" findet sich jedoch weder bei Philoponus (194.3, 202.17) noch bei Simplicius (261.5). Vgl. Ross (1936: 499): „There is no organic connection between the two books; they are independent approaches to the whole subject. Their independence is indicated not only by the absence of close connexion in the thought, but by the absence of a connecting particle, which is evidence, so far as it goes, that book ii was originally a separate essay. [...] Diets takes the words των γ ά ρ δντων ... αιτίας, which occur at the end of book i in E, as showing an original connexion which was later suppressed. But it is now clear that the long Aristotelian works have been put together out of shorter essays, and it is much more likely that the γάρ in Ε represents a later effort to make a verbal connexion between books i and ii."
10. Konklusion Da die vorgelegte Gesamtinterpretation der Begründungsverhältnisse innerhalb des Buches Α der Physik gezeigt hat, daß dieses sowohl in bezug auf sein Beweisziel als auch in bezug auf seine methodische Durchführung als eine durchaus abgeschlossene Untersuchung betrachtet werden kann, bin ich der Ansicht, daß das Buch Α zwar unabhängig von dem Buch Β zu verstehen ist, daß aber gleichwohl ein Zusammenhang zwischen beiden Büchem besteht.1 Erinnern wir uns an die in Kapitel 1.1 herausgearbeitete Methodologie, der zufolge der Weg innerhalb einer systematischen und darstellenden Wissenschaft als μέθοδος von den άρχαί zu den φύσει οντά zu fuhren habe (184al0-16), während der Weg innerhalb einer wissenschaftlichen Untersuchung als οδός umgekehrt mittels einer Diairesis von den φύσει δντα zu den άρχαί führen soll (184a 1626), so ist das Buch Α durchaus als dieser untersuchende Weg (οδός) von den φύσει δντα zu den άρχαί deutlich geworden, dem sich nun in Entsprechung zu dieser Methodologie, nachdem klar geworden ist, daß es Prinzipien gibt, welche und wieviele sie sind, im Buch Β eine eingehende Untersuchung dieser Prinzipien und Ursachen anschließt. Rückblickend betrachtet stellt sich der in Physik A zurückgelegte Untersuchungsweg wie folgt dar. In Kapitel 1.1 legte Aristoteles seine Methode fur die nachfolgende Untersuchung zugrunde. Der aristotelischen Methodologie zufolge vollzieht sich die Erkenntnis des Einzelnen innerhalb einer systematischen Wissenschaft zwar aus der Erkenntnis seiner άρχαί, so daß die άρχαί am Anfang einer jeden systematischen Darstellung einer Wissenschaft stehen - dies rechtfertigt die Stellung des Buches A, das über die άρχαί der φύσει δντα handelt, als Anfangsbuch der Physik -, doch sind diese der Natur nach und schlechthin bekannteren άρχαί unserem menschlichen Erkennen nicht unmittelbar gegeben und können nur durch eine Vermittlung der für uns und der Wahrnehmung nach bekannteren φύσει δντα erkannt werden. Nach Ansicht von Aristoteles ist ein Wissen von den veränderlichen und bewegten Naturdingen insofern möglich, als diese aus ihren Prinzipien, die ein Bleibendes und Unveränderliches darstellen, erkannt werden können. Der von Aristoteles in seiner Methodologie beschriebene Weg von den für uns bekannteren und deutlicheren Naturdingen im Sinne eines undifferenzierten 'Ganzen' (καθόλου) zu den der Natur nach bekannteren und deutlicheren Prinzipien dieser Naturdinge im Sinne von 'Teilen' (μέρη) derselben soll sich in Vgl. auch Zekl (1987: XXIV): „Buch Α und Β sind zwei parallele, einander offensichtlich nicht voraussetzende Anlaufe zu ein und derselben Aufgabe: Auffindung der Prinzipien, der Gründe, Ursprünge und Wesensmerkmale von Naturdingen und/oder Naturabläufen - beides unterscheidet er nicht streng."
Konklusion
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analytischer Weise durch ein 'Auseinandernehmen' (διαίρεσις) der undifferenzierten Ganzheiten vollziehen. Eine Analyse der von Aristoteles zur Verdeutlichung seiner Methodologie angeführten Beispiele des 'Kreises' und des alle Frauen mit 'Mutter' und alle Männer mit 'Vater' anredenden Kindes machte deutlich, daß wir es in Kapitel 1.1 in Analogie zum Verhältnis eines Wortes zu einem Begriff mit dem Verhältnis eines undifferenzierten, komplexen Ganzen (τό καθόλου) zu seinen es konstituierenden Bestandteilen (τά καθ' έκαστα) zu tun haben. Zugleich machte die vorliegende Untersuchung deutlich, daß auch die von Aristoteles in 185al2-14 ausgesprochene 'Grundannahme', daß die natürlichen Dinge - entweder alle oder einige - bewegt sind, nicht im Sinne eines axiomatischen Prinzips, sondern vielmehr im Sinne eines solchen undifferenzierten Ausgangspunktes (καθόλου) der Physik zu verstehen ist. Die Methode des 'Auseinandernehmens' ist im weiteren Verlauf der Untersuchung in Gestalt sowohl einer materiellen als auch einer logisch-begrifflichen Diairesis dann zunehmend zur Anwendung gekommen. Aristoteles begann seine Untersuchung in Kapitel 1.2 mit einer Einteilung der logischen Möglichkeiten der Anzahl von άρχαί, wie sie bei seinen Vorgängern vertreten wurden, um dann im weiteren Verlauf zunächst die beiden extremen Positionen (eine άρχή (Kap. 1.2/3: die Eleaten) - unendlich viele άρχαί (Kap. 1.4: Anaxagoras)) innerhalb einer doxographischen Auseinandersetzung mit den Vorgängern zu widerlegen. Dieses Strukturierungsprinzip, dem zufolge von einer extremen Position ausgehend zu der dieser konträren Position übergegangen wird, um durch eine Widerlegung beider zu einer mittleren Position zu gelangen, erwies sich hierbei als methodisches Instrument innerhalb der von Aristoteles vorgelegten Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern und den von ihnen vertretenen Thesen über das Werden. In seiner in den Kapiteln 1.2 und 1.3 vorgelegten Auseinandersetzung mit den Eleaten begegnete Aristoteles zunächst einer Position, die einen Hauteinwand gegen die Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft darstellt, da die Eleaten aufgrund theoretischer Überlegungen davon ausgingen, daß es nur ein Seiendes in einem absoluten und unbeweglichen Sinne gebe, welches der von Aristoteles formulierten 'Grundannahme' (185al2-14), daß die Naturdinge - entweder alle oder einige - bewegt sind, entgegensteht. Während die Beobachtung der Bewegung für die Eleaten einen bloßen Schein darstellt, dem das absolut eine und unbewegte Sein gegenübersteht, betrachtet Aristoteles diese Beobachtung gerade als Ausgangspunkt (αρχή) seiner Untersuchung. Mit Hilfe einer Differenzierung der verschiedenen Bedeutungen des Wortes „άρχή" konnte allerdings deutlich gemacht werden, daß Aristoteles seine Grundannahme von der Bewegtheit und Vielheit der Naturdinge nicht im Sinne eines axiomatischen Prinzips, sondern vielmehr im Sinne eines empirischen Ausgangspunktes der eleatischen These vom ,,εΐναι εν τό πάν" gegenüberstellt. Aristoteles ging es in seiner Auseinandersetzung mit den Eleaten um den Nachweis, daß ihre These vom „είναι έν τό πάν" nicht nur aufgrund inhaltlicher, sondern gerade auch aufgrund wissenschaftstheoretischer Überlegungen in Widersprüche führt, so daß nach Widerlegung dieser These die eigene 'Grundan-
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nähme' in dem Sinne als gesichert betrachtet werden konnte, als es nun keine Einwände mehr gegen sie gab. Zu diesen wissenschaftstheoretischen Einwänden gegen die Eleaten sind vor allem diejenigen Überlegungen zu zählen, in denen Aristoteles deutlich machte, daß die Annahme eines einzigen, absoluten Seienden die Annahme von Prinzipien generell unmöglich macht, da ein Prinzip (αρχή) als Prinzip von etwas (αρχή τινός ή τινών) eo ipso zumindest eine Zweiheit voraussetzt, so daß die eleatische Annahme eines einzigen, absoluten Seienden angesichts der Tatsache, daß ein wissenschaftliches Erkennen Aristoteles zufolge immer schon ein Erkennen aus ά ρ χ α ί ist, der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft entgegensteht. Die vorliegende Untersuchung zeigte, daß sich Aristoteles nicht nur aufgrund einer von den Eleaten verschiedenen Theorie, sondern gerade auch aufgrund einer von den Eleaten verschiedenen Methodologie von diesen abgrenzen will. Gingen die Eleaten in ihren Überlegungen von einem theoretischen Satz („είναι έν τό πάν") als axiomatisches Prinzip aus, um von dort aus auf die wahrnehmbare Welt zu schließen, so will Aristoteles umgekehrt von der wahrnehmbaren Welt ausgehend zu diesen theoretischen Sätzen als Prinzipien erst gelangen. Ein wichtiger Gedanke, der in der Auseinandersetzung mit den Eleaten herausgearbeitet wurde, bestand darin, daß sich die Begriffe der 'Einheit' und 'Vielheit' nicht gegenseitig ausschließen müssen. Aristoteles ging es um den Nachweis, daß ein einzelnes Seiendes, das für sich betrachtet eine Einheit darstellt, dennoch zugleich auch eine Vielheit darstellen kann. Diese Betonung des Aspekts der inneren Vielheit eines Einheitlichen fand seinen Grund darin, daß für Aristoteles gerade die innere Vielheit eines Einheitlichen eine Bedingung für die Möglichkeit von Bewegung darstellt. Nachdem Aristoteles in der Auseinandersetzung mit den Eleaten die Unmöglichkeit der Annahme eines einzigen unbewegten Seienden herausgestellt hatte, so daß nun keine Einwände mehr gegen die in der 'Grundannahme' zum Ausdruck gebrachte These von der Vielheit und Bewegung der φύσει δντα bestanden, konnte er im Anschluß daran in Kapitel 1.4 dazu übergehen, sich mit denjenigen Vorgängern auseinanderzusetzen, die diese 'Grundannahme' nicht bezweifelt haben und im Hinblick auf ihre Theoriebildung von der Vielheit und Bewegung der φύσει δντα ausgegangen sind: die Naturphilosophen (oi φυσικοί). Im engeren Sinne betrachtet stellte das Kapitel 1.4 jedoch eigentlich eine Auseinandersetzung mit der Theorie von Anaxagoras dar, der in einem konträren Gegensatz zu den Eleaten eine unendliche Anzahl von Prinzipien annahm. Zwar ist dieser Ansatz den Erscheinungen in der Natur insofern angemessener, als Anaxagoras zumindest eine theoretische Erklärung des Werdens zu geben versucht, doch zeigte Aristoteles auch hier aufgrund sowohl wissenschaftstheoretischer als auch inhaltlicher Überlegungen auf, daß dieser Ansatz ebenfalls in Widersprüche führt. In Entsprechung zur eleatischen Annahme eines einzigen Seienden konnte auch die anaxagoreische Annahme unendlich vieler Prinzipien keine befriedigende Erklärung des Werdens geben. Abgesehen davon, daß eine Erkenntnis des Einzelnen aus einer unendlichen Anzahl von Prinzipien insofern
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unmöglich ist, als wir ein Unendliches als Unendliches nicht erkennen können, bestand, wie die vorliegende Untersuchung dargelegt hat, ein wesentlicher Einwand gegen die Theorie des Anaxagoras darin, daß er den Begriff des 'Werdens' nicht erklärte, sondern vielmehr durch den Begriff der 'Aussonderung' ersetzte. Eine Aussonderung stellt für Aristoteles jedoch kein Werden im eigentlichen Sinne dar. Indem die anaxagoreische Theorie den von ihr zu erklärenden Gegenstand - das Werden - genaugenommen eigentlich leugnet, hebt sie sich selbst als eine sinnvolle Theorie auf. Sowohl die eleatische als auch die anaxagoreische Theorie zeichneten sich für Aristoteles zudem durch einen 'epistemologischen Bruch' aus, da sie beide in einem Widerspruch zur lebensweltlichen Erfahrung stehen. In bezug auf die Auseinandersetzung mit Anaxagoras hat die vorliegende Untersuchung folgenden zentralen Gedanken herausgearbeitet: Nach Ansicht von Aristoteles fuhrt die Theorie des Anaxagoras letztlich dazu, daß jedes aus jedem (παν έκ παντός: 187b2) und somit Beliebiges aus Beliebigem (έξ ότουοΰν ότιοΰν: 187b24) wird. Da aber für Aristoteles eine Theorie des Werdens nicht zu dem Schluß gelangen darf, daß Beliebiges aus Beliebigem wird denn in diesem Falle würde sie sich selbst insofern als eine sinnvolle Theorie des Werdens aufheben, als es nach Ansicht von Aristoteles vom Beliebigen kein wissenschaftliches Erkennen geben kann -, wurde hier bereits angedeutet, daß die offenzulegenden Prinzipien des Werdens auch eine wichtige Rolle in bezug auf die Nichtbeliebigkeit und Bestimmtheit des Werdens spielen müssen. Aristoteles griff diesen Gedanken der Bestimmtheit des Werdens in Kapitel 1.5 zunächst insofern auf, als dort die konträren Gegensätze für die Nichtbeliebigkeit des Werdens von etwas aus etwas verantwortlich gemacht wurden: Dort hieß es, daß ein Weißes zwar aus einem Nichtweißen werde, doch nicht aus einem beliebigen Nichtweißen, sondern aus einem Schwarzen oder Mittleren. Beliebiges könne, so Aristoteles, nur in einem akzidentellen Sinne aus Beliebigem werden (vgl. 188a33-34). Nachdem Aristoteles in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt hatte, daß die extremen Positionen (eine ά ρ χ ή - unendlich viele άρχαί) in Widersprüche führen, konnte er in Kapitel 1.5 nun zu den mittleren zahlenmäßigen Möglichkeiten übergehen, in bezug auf die er zunächst herausstellte, daß die Vorgänger zumeist (konträre) Gegensätze als Prinzipien angenommen haben. Diese von den Vorgängern als Prinzipien zugrunde gelegten (konträren) Gegensätze unterschieden sich für Aristoteles vor allem darin voneinander, daß die einen allgemeinere und dem Begriff nach bekanntere Gegensätze angenommen haben, weshalb sie auch besser reden, während andere weniger allgemeine und der Wahrnehmung nach bekanntere Gegensätze angenommen haben, weshalb sie auch schlechter reden. Angesichts der Tatsache, daß die Vorgänger selbst keine Begründung dafür gaben, warum sie (konträre) Gegensätze zu Prinzipien machten, rekonstruierte Aristoteles folgende Begründungsmöglichkeiten: (i) „εύλογος" (188a27-30): Zum einen liegt es aufgrund der Tatsache, daß der (erste) Gegensatz die drei aufgestellten Kriterien einer ά ρ χ ή - (1) μήτε έξ αλλήλων; (2) μήτε έξ άλλων;
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(3) και έκ τούτων πάντα - zu erfüllen scheint, nahe, die Gegensätze zu Prinzipien zu machen. In bezug auf diesen „εύλογος" machte die vorliegende Untersuchung deutlich, daß wir es mit einer eher allgemein und abstrakt bleibenden Argumentation zu tun haben, die, auch wenn sie einen plausiblen Grund dafllr anführt, Gegensätze zu Prinzipien zu machen, die Wahrheit jedoch noch nicht als Ganze trifft, (ii) ,,έπί του λόγου" (188a30-b26): Zum anderen zeigte eine von Aristoteles dargelegte inhaltliche Argumentation, daß die φύσει γιγνόμενα Gegensätze oder aus Gegensätzen sind, so daß vor dem Hintergrund dieser Argumentation ebenfalls die Gegensätzlichkeit der Prinzipien nahelag. In bezug auf die Argumentation ,,έπι τοΰ λόγου" machte die vorliegende Untersuchung deutlich, daß wir es mit einer eher inhaltlichen und konkret werdenden Argumentation für die Gegensätzlichkeit der Prinzipien zu tun haben, die sich an der Sprache, in der wir über konkrete Werdeprozesse sprechen, orientiert, und die sich durch einen sowohl induktiven als auch deduktiven Charakter auszeichnet. Die vorliegende Untersuchung hat in bezug auf das Kapitel 1.5 vor allem folgende beiden Gesichtspunkte herausgearbeitet: Zum einen ist Aristoteles im Kapitel 1.5 bemüht, von einer extensionalen Bestimmung der Prinzipien, die sich bei den Vorgängern insofern findet, als sie jeweils konkrete und verschiedene Gegensatzpaare als Prinzipien bestimmt haben, zu einer intensionalen Bestimmung der Prinzipien zu gelangen, die darin zum Ausdruck kommt, daß es in der Konklusion des Kapitels 1.5 nicht mehr heißt, daß bestimmte Gegensätze Prinzipien sind, sondern vielmehr umgekehrt, daß die Prinzipien gegensätzlich sind. Zum anderen wurde deutlich gemacht, daß Aristoteles in Kapitel 1.5 (und auch in Kapitel 1.6) noch nicht mit der Darlegung seiner eigenen Theorie des Werdens beginnt, sondern daß er sich vielmehr in Übereinstimmung mit dem Untersuchungscharakter des Buches Α erst auf dem Weg zur eigenen Theorie hin befindet, indem er die Theorien der Vorgänger auf seine eigene Theorie hin entwikkelt. Durch die Betonung des Untersuchungscharakters dieser beiden Kapitel verschwanden auch die Widersprüche, die von einigen Interpreten zwischen den in den Kapitel 1.5, 1.6 und 1.7 von Aristoteles aufgestellten Thesen gesehen und als Inkonsistenzen innerhalb der aristotelischen Theorie gedeutet wurden. Diese Widersprüche sah man vor allem darin zum Ausdruck gebracht, daß in Kapitel 1.5 ein Haus und eine Statue als bestimmte Zusammensetzungen betrachtet wurden, von denen es hieß, daß sie jeweils einen bestimmten gegenüberliegenden Zustand des Nichtzusammengesetztseins haben, während Aristoteles dann in Kapitel 1.6 ausführte, daß eine ούσία nicht einer ουσία entgegengesetzt sei. Daß sich Aristoteles in Kapitel 1.5 auf dem Weg zur eigenen Theorie befindet, wurde vor allem daraus ersichtlich, daß den Überlegungen des Kapitels 1.5 zufolge zunächst angenommen wurde, daß nur die Gegensätze Prinzipien seien. Von einem ύποκείμενον als drittem Prinzip neben den Gegensätzen war dort, wie die vorliegende Untersuchung zeigen konnte, noch keine Rede. Auch hatten wir es dort noch mit einer materiellen Diairesis des Werdenden in entweder Einfaches oder Zusammengesetztes zu tun, der Aristoteles dann in Kapitel 1.7 eine logischkategoriale Diairesis des Werdenden gegenüberstellte.
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Eben diese Annahme, daß nur die Gegensätze Prinzipien seien, wurde von Aristoteles dann in Kapitel 1.6 problematisiert. Er wies dort darauf hin, daß man in Aporien gerät, wenn man nur die Gegensätze als Prinzipien setzt und ihnen nicht ein von ihnen verschiedenes drittes Moment zugrunde legt. Waren es in Kapitel 1.5 die bereits erwähnten drei Kriterien einer άρχή, die einen guten Grund (εύλογος) dafür abgaben, Gegensätze als Prinzipien zu setzen, so sind es dann in Kapitel 1.6, wie die vorliegende Untersuchung deutlich gemacht hat, eben diese drei Kriterien einer ά ρ χ ή gewesen, anhand derer sich umgekehrt zeigen ließ, daß man in Aporien gerät, wenn man nur Gegensätze als Prinzipien setzt. Gleichwohl hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, daß auch mit der Annahme eines dritten zugrundeliegenden Prinzips die von Aristoteles skizzierten Aporien keineswegs verschwinden, so daß auch das Kapitel 1.6 noch nicht als letztes Wort bezüglich der Prinzipien des Werdens zu betrachten ist. Es wurde in diesem Zusammenhang bereits angedeutet, daß das Verhältnis zwischen den Prinzipien von ύλη und είδος im Sinne einer wechselseitigen Abhängigkeit zu verstehen ist. Nachdem Aristoteles in Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern schließlich zum Ergebnis gekommen war, daß zumindest ein ύποκείμενον und zwei Gegensätze als Prinzipien anzunehmen sind, wobei allerdings noch nicht klar war, (i) was das ύποκείμενον eigentlich ist, (ii) was für Gegensätze als Prinzipien zu setzten sind, und (iii) wie das Verhältnis der Prinzipien zueinander zu bestimmen ist, begann Aristoteles dann in Kapitel 1.7 mit der Darlegung seines eigenen Ansatzes, die der in Kapitel 1.1 zugrunde gelegten Methodologie insofern entsprach, als Aristoteles von einem undifferenzierten und allgemeinen Begriff des Werdens ausging, um durch eine fortschreitende Analyse desselben zu den Konstitutionsmomenten eines jeden Werdenden zu gelangen. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, daß sich diese Darlegung vor allem in der Weise einer sprachlichen und logisch-prädikativen Analyse des Werdenden vollzog, in der Aristoteles in Analogie zum Begriff des 'Seins' (είναι), bei dem zwischen einem „etwas Sein" und einem „(einfachen) Sein" ('Existieren') zu unterscheiden ist, auch beim Begriff des 'Werdens' (γίγνεσθαι) zwischen einem „etwas Werden" (τόδε τι γίγνεσθαι) und einem „(einfachen) Werden" ('Entstehen': άπλώς γ ί γ νεσθαι) differenzierte. Der mit einem jeden Werdeprozeß verbundene Aspekt der Zeitlichkeit desselben trat bei dieser Analyse weitgehend in den Hintergrund. Dies fand seinen Grund zum einen darin, daß es Aristoteles gerade durch diese logisch-prädikative Analyse gelang, in Entsprechung zu der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie mit Hilfe einer Diairesis des Werdenden die in diesem Werdenden enthaltenen konstitutiven Bestandteile herauszuarbeiten, zu denen vor allem das Moment eines ύποκείμενον zu zählen ist, das einem jeglichen Werdeprozeß zugrundeliegt. Zum anderen fand dieses In-den-HintergrundTreten des temporalen Aspekts des Werdenden seinen Grund darin, daß Aristoteles den Begriff der Bewegung zunächst unabhängig und losgelöst vom Begriff der Zeit analysieren will, um so einen Zirkel innerhalb der Definitionen von Zeit und Bewegung zu vermeiden. In bezug auf den fur die aristotelische Analyse
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zentralen und mehrdeutigen Begriff des Zugrundeliegenden (ύποκείμενον), der sowohl im sprachlichen Sinne das Subjekt einer Prädikation als auch in einem ontischen Sinne das Aufnehmende einer Form bedeuten kann, hat die vorliegende Untersuchung deutlich gemacht, daß auch dieser in einer gedanklichen Entwicklung und fortschreitenden Diairesis begriffen ist. Obwohl das Zugrundeliegende (ύποκείμενον) eines Werdeprozesses mitunter auch das Bleibende (ύπομένον) bei diesem Werdeprozeß darstellt (wobei dies jedoch nicht immer der Falle zu sein scheint, wenn man z.B. an das Werden eines Menschen aus dem ύποκείμενον Samen denkt: vgl. 190b4-5), und obwohl das Zugrundeliegende eines Werdeprozesses mitunter auch das sprachliche Subjekt darstellt, von dem ein Werden prädiziert wird (wobei dies jedoch ebenfalls nicht immer der Fall zu sein scheint, wenn man z.B. an das Werden einer Statue aus Erz denkt, in bezug auf das man Aristoteles zufolge nicht sagen kann „das Erz wird eine Statue": vgl. 190b25-26), so hat die vorliegende Untersuchung doch gezeigt, daß Aristoteles das gemeinsame Merkmal eines ύποκείμενον in einem jeglichen Werdeprozeß primär darin sah, daß es ein Aufnehmendes für Formen darstellt. Diese Formen können entweder - wie im Falle des Werdens eines ungebildeten Menschen zu einem gebildeten Menschen - von akzidenteller Art sein, oder sie können - wie im Falle des Werdens einer Statue aus Erz - von substantieller Art sein. Vor diesem Hintergrund erklärte sich auch die von Aristoteles am Ende des Kapitels aufgestellte Behauptung, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das είδος die ο υ σ ί α sei (vgl. 191al9-20): So stellt bei der Eigenschaftsveränderung des Werdens eines gebildeten Menschen aus einem ungebildeten Menschen das ύποκείμενον 'Mensch' die ουσία des Gewordenen ('gebildeter Mensch') dar, während beim Entstehen einer Statue aus Erz das είδος 'Statue' die ο υ σ ί α beim Gewordenen ('eherne Statue') darstellt. Hinsichtlich der Frage nach einem Unterscheidungskriterium zwischen einer Eigenschaftsveränderung und einem Entstehensprozeß machte die vorliegende Untersuchung deutlich, daß Aristoteles für seine Überlegungen über das Werdens mehr vorauszusetzen scheint, als er ausdrücklich erwähnt. In diesem Zusammenhang wurde auch auf folgende Gefahr eines Zirkels innerhalb der aristotelischen Argumentation hingewiesen: Einerseits wissen wir bei einem Werdeprozeß, ob wir es mit einem Entstehensprozeß oder mit einer Eigenschaftsveränderung zu tun haben, wenn wir wissen, ob bei diesem Werdeprozeß das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία des Gewordenen ist. Andererseits scheinen wir aber umgekehrt nur zu wissen, ob bei einem Werdeprozeß das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία darstellt, wenn wir wissen, ob wir es bei diesem Werdeprozeß mit einer Eigenschaftsveränderung oder mit einem Entstehen zu tun haben. Um dieser Gefahr eines Zirkels zu entgehen, müßte Aristoteles in einer zuvor zugrunde gelegten Ontologie bereits festgelegt haben, was die ο ύ σ ί α ist, und warum die Statue mehr als das Erz eine ο ύ σ ί α ist, welches er in Physik A jedoch nicht ausführt. Vielmehr hieß es, daß noch nicht klar sei, ob das ύποκείμενον oder das είδος die ούσία sei.
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Die vorliegende Interpretation hat gezeigt, daß sich das Kapitel 1.7 ebenfalls durch einen Untersuchungscharakter auszeichnete, der der in Kapitel 1.1 zugrunde gelegten Methodologie entspricht. Aristoteles begann seine Analyse des Werdens zunächst mit sprachlichen Beschreibungen konkreter Werdeprozesse - „etwas wird etwas" und „etwas wird aus etwas" -, bei denen die in diesen Werdeprozessen beteiligten Relationsglieder zunächst noch als konkrete Dinge betrachtet wurden, um dann in Entsprechung zur Methodologie in Kapitel 1.1 mit Hilfe einer fortschreitenden Diairesis zu zeigen, daß diese konkreten Werdenden zusammengesetzt sind und in die gemeinsamen Momente eines ύποκείμενον, eines είδος und einer στέρησις differenziert werden können. Hierbei wurde zugleich deutlich, daß Aristoteles eine Unterscheidung zwischen den Prinzipien eines Werdenden einerseits und den Prinzipien eines Seienden im Sinne eines Gewordenen andererseits traf: Während nämlich die στέρησις für das Werdende insofern eine konstitutive Funktion hat, als sie ein Akzidens (συμβεβηκός) an dem ύποκείμενον darstellt (vgl. 190b27), aus dem das Werdende wird, verliert sie diese konstitutive Funktion in bezug auf das Seiende als ein Gewordenes insofern, als sie in dem Gewordenen nicht mehr enthalten ist, da sie durch das είδος ersetzt wurde. In diesem Zusammenhang setzten wir uns fernerhin mit der Frage auseinander, in welchem Sinne von der στέρησις als einem An-sichNichtseienden (καθ' αυτό μή δν: vgl. 1.8, 191 b 15-16) überhaupt gesagt werden kann, daß sie an etwas ist. Ein wesentlicher Aspekt, den die vorliegende Untersuchung in bezug auf die aristotelische Analyse des Werdens herausgearbeitet hat, besteht darin, daß Aristoteles zufolge in der Regel nicht Beliebiges aus Beliebigem wird. 2 Diese Nichtbeliebigkeit des Werdens stellt für Aristoteles eine Bedingung der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis von Naturprozessen dar. Denn wenn grundsätzlich Beliebiges aus Beliebigem würde, so wären für Aristoteles keine Regelhaftigkeiten in der Natur mehr gegeben. Diese Regelhaftigkeiten müssen jedoch vorhanden sein, wenn eine Physik als Wissenschaft überhaupt möglich sein soll, da es von dem Zufälligen, Beliebigen und Akzidentellen Aristoteles zufolge keine Wissenschaft geben kann. Zu diesen Bedingungen der Möglichkeit einer Physik als Wissenschaft ist, wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, auch die These von der Nichtbeliebigkeit des Werdens zu zählen. In Kapitel 1.5 wies Aristoteles daraufhin, daß die Vorgänger (konträre) Gegensätze als Prinzipien angenommen haben. Diese konträre Gegensätzlichkeit stellte für Aristoteles ein erstes Konstitutionsmoment dar, das für das Werden eines Bestimmten aus einem Bestimmten verantwortlich ist. Da in Kapitel 1.5, wo von einem ϋπο-
Vor diesem Hintergrund konnte die vorliegende Untersuchung auch eine Erklärung dafür geben, warum Aristoteles in 190b4-5 nicht davon spricht, ein ζώον aus der καταμήνια oder aus Fleisch und Knochen wird, wie von einigen Interpreten angesichts der Frage nach einem Bleibenden bei jedem Werdeprozeß vorgeschlagen wurde, sondern davon, daß ein ζώον aus σπέρμα wird. Allein durch die Bestimmtheit des Samens (σπέρμα) wird Aristoteles zufolge gewährleistet, daß aus einer befruchteten Eizelle auch nur bestimmte Lebewesen werden können. Beim Werden eines Lebewesen fungiert nach Ansicht von Aristoteles nicht die καταμήνια, sondern vielmehr das σπέρμα als Ursache der Bestimmung.
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κείμενον noch keine Rede war - dies wurde erst in Kapitel 1.6 angesichts der Aporien, die sich ergeben, wenn man nur Gegensätze als Prinzipien annimmt, thematisiert -, jedoch noch davon ausgegangen wurde, daß nur die (konträren) Gegensätze Prinzipien seien, und da die in Kapitel 1.5 herausgearbeitete konträre Gegensätzlichkeit der Prinzipien in Kapitel 1.7 durch den umfassenderen Gegensatz von είδος und στέρησις ersetzt wurde, was seinen Grund darin fand, daß die konträren Gegensätze zwar für die Eigenschaftsveränderung eine wichtige Rolle spielen, daß sie jedoch beim substantiellen Entstehen einer ο υ σ ί α keine Bedeutung haben, da die οϋσίαι einander nicht konträr entgegengesetzt sind, stellte sich die Frage, welches Moment in bezug auf den von Aristoteles in Kapitel 1.7 dargelegten eigenen Ansatz für die Nichtbeliebigkeit des Werdens verantwortlich ist. Die konträren Gegensätze konnten es nicht alleine sein, da sie für das substantielle Werden der οϋσίαι keine Rolle spielen. Der Gegensatz είδος und στέρησις konnte es nicht alleine sein, da er zu umfassend ist. Folglich mußte das ύποκείμενον für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein. Dies kann allerdings nur dann für die Bestimmtheit des Werdens mitverantwortlich sein, wenn es selbst immer schon von sich aus ein bestimmtes ύποκείμενον ist, so daß gilt, daß bestimmte Formen nur bestimmten Zugrundeliegenden zukommen können. Auch wenn Aristoteles die Bestimmtheit des Zugrundeliegenden selbst nicht in dieser Form eigens hervorhob, so konnte sie doch aus seinen Bemerkungen über das Werden in Kapitel 1.7 herausgearbeitet werden. Mit dieser Bestimmtheit des Zugrundeliegenden war aber zugleich auch der Umstand verbunden, daß Aristoteles der vorliegenden Untersuchung zufolge im Buch Α der Physik nicht von einer πρώτη ύ λ η spricht, die für sich betrachtet das vollkommen Unbestimmte darstellt. Vor allem in bezug auf die Erkennbarkeit der ύποκειμένη φ ύ σ ι ς durch eine Analogie konnte gezeigt werden, daß Aristoteles im Buch Α der Physik die ύ λ η nicht als eine πρώτη ύλη, sondern vielmehr als ein allgemeines Prinzip versteht, das als ein solches im Verhältnis zum είδος durch eine Analogie mit den konkreten Dingen erkannt werden kann. In bezug auf die in 191 a7-12 dargelegte Analogie konnte die vorliegende Untersuchung zudem deutlich machen, daß wir es primär mit einer Analogie zwischen Konkretem und Allgemeinem zu tun haben. Auch wenn die dort angeführten Beispiele dafür zu sprechen schienen, daß wir es mit einer Analogie zwischen Technischem und Natürlichem zu tun haben, so machte die vorliegende Untersuchung doch deutlich, daß Aristoteles die technischen Beispiele nicht zu dem Zwecke wählte, um aus einem eindeutigen Verhältnis, das sich bei diesen findet, in analoger Weise auf ein weniger eindeutiges Verhältnis, das sich bei den Naturdingen findet, zu schließen. Vielmehr schien er mit Hilfe technischer Beispiele nur etwas deutlich machen zu wollen, was uns bei den natürlichen Dingen zumeist auf undeutliche Weise begegnet. Nachdem Aristoteles in Kapitel 1.7 sein eigenes theoretisches Modell des Werdens vorgelegt hatte, ging es ihm in Kapitel 1.8 dann darum, zu zeigen, daß dieses Modell auch eine Lösung für die grundlegende eleatische Aporie bereithält, der zufolge ein Seiendes weder entstehen noch vergehen könne, da Seien-
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des entweder aus Seiendem oder aber aus Nichtseiendem wird und den Eleaten beide Alternativen als unmöglich erschienen. Dieser Aporie, die einen nachhaltigen Einfluß auf die Nachfahren der Eleaten ausübte, war das gesamte Kapitel 1.8 gewidmet. Hier machte die vorliegende Untersuchung deutlich, daß der tautologische Charakter der eleatischen Aporie in der aristotelischen Rekonstruktion derselben, auch wenn diese die Form eines Dilemmas hat, seinem Inhalt nach gleichwohl gewahrt bleibt. Während die Eleaten letztlich der Ansicht waren, daß ein Seiendes deshalb kein Werdendes sein kann, weil es ein Seiendes ist - fur die Eleaten stellt der Satz „ein Seiendes wird" eine Contradictio in adjecto dar; ein Seiendes ist ein Seiendes (und somit kein Werdendes) -, ging es Aristoteles in Entsprechung zu den Kapiteln 1.2 und 1.3, wo er zeigte, daß sich die Begriffe der 'Einheit' und der 'Vielheit' nicht gegenseitig ausschließen müssen, hier um den Nachweis der widerspruchsfreien Verknüpfbarkeit der Begriffe des 'Seins' und des 'Werdens'. Aristoteles gründete seine Kritik an der eleatischen Aporie darauf, daß solche Ausdrücke wie „aus Seiendem werden" und „aus Nichtseiendem werden" mehrdeutig sind und zumindest auf zweifache Weise gesagt werden können, wobei sie in der einen Bedeutung einen wahren Satz ergeben, während sie in der anderen Bedeutung einen falschen Satz ergeben. Die vorliegende Untersuchung zeigte, daß das Kapitel 1.8 ein ausgezeichnetes Beispiel dafür darstellt, daß nach Ansicht von Aristoteles der Untersuchungsweg zunächst vom Konkreten zum Allgemeinen zu fuhren hat, und nicht umgekehrt. Denn mit den Beispielsätzen bezüglich eines Arztes verdeutlichte Aristoteles, daß sich dasjenige, was auf einer allgemeinen Ebene - wie die Aporie der Eleaten gezeigt hat in Paradoxien und Schwierigkeiten fuhrt (nämlich das Werden aus Seiendem oder Nichtseiendem), auf einer konkreten Ebene, sofern man fur den allgemeinen Ausdruck „Seiendes" den konkreten Ausdruck „Arzt" einsetzt, als sinnvoll erscheint. Im Gegensatz zu den Eleaten, die - wie wir bereits in den Kapiteln 1.2 und 1.3 gesehen haben - den Weg vom Allgemeinen zum Konkreten wählten und so aufgrund der Tatsache, daß ein Werdendes weder aus einem Seienden noch aus einem Nichtseienden werden kann, dazu übergingen, daß kein Seiendes (und somit auch kein Arzt) wird, beschritt Aristoteles auch hier den umgekehrten Weg vom Konkreten zum Allgemeinen, was der in Kapitel 1.1 dargelegten Methodologie entspricht. Durch seine in Kapitel 1.8 vorgelegte Differenzierung der Betrachtung von etwas (i) „als dieses etwas" ('eigentliche' Bedeutung) oder (ii) „nicht als dieses etwas" ('uneigentliche' Bedeutung) gelang Aristoteles der Nachweis, daß auch solche Sätze wie „aus Seiendem werden" oder „aus Nichtseiendem werden" wahre Beschreibungen eines Werdeprozesses sein können, sofern hier nicht vom Seienden als Seienden und vom Nichtseienden als Nichtseienden die Rede ist. Zwar stimmte Aristoteles den Eleaten insofern zu, daß auch seiner Ansicht nach nichts aus einem schlechthin Nichtseienden werden kann, doch bedeutete dies für ihn nicht, daß ein Werden aus Nichtseiendem prinzipiell unmöglich ist. Vielmehr ist sowohl ein Werden aus Nichtseiendem als auch ein Werden aus Seiendem nach Ansicht von Aristoteles in einem akzidentellen Sinne möglich. Gerade in ihrer 'uneigentlichen' Bedeutung „aus Sei-
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endem nicht als Seiendes werden" und „aus Nichtseiendem nicht als Nichtseiendes werden", die die Eleaten übersehen haben, können diese Ausdrücke im Unterschied zur eigentlichen Bedeutung „aus Seiendem als Seiendes werden" und „aus Nichtseiendem als Nichtseiendes werden" eine zwar wahre, aber aufgrund ihrer Allgemeinheit und Unbestimmtheit auch unspezifische Beschreibung eines Werdeprozesses darstellen. Die vorliegende Untersuchung konnte zudem eine Erklärung dafür geben, warum Aristoteles das in der Sekundärliteratur umstrittene und durchaus ungewöhnliche Beispiel des Werdens eines Hundes aus einem Pferd (vgl. „οίον εί κύων έξ ϊππου γίγνοιτο": 191b20-21) wählt, indem seine Behauptung, daß etwas aus Seiendem nur in einem akzidentellen Sinne wird (vgl. „ωσαύτως δέ ούδ' έξ δντος οΰδέ τό δν γίγνεσθαι, πλην κατά συμβεβηκός": 191bl7-18), die er durch das Werden eines Hundes aus einem Pferd zu verdeutlichen suchte, in eine Beziehung zu der in Kapitel I. 5 aufgestellten Behauptung, daß Beliebiges aus Beliebigem nur in einem akzidentellen Sinne wird (vgl. ,,ούδέ γίγνεται ότιοΰν έξ ότουούν, άν μή τις λαμβάνη κατά συμβεβηκός": 188a33-34), gesetzt wurde. In dem abschließenden Kapitel 1.9 setzte sich Aristoteles dann schließlich mit der platonischen Theorie auseinander. Diese Auseinandersetzung fand sich aus dem Grunde erst im Anschluß an die Darlegung der eigenen Theorie - und nicht im Vorfeld derselben, wo sich Aristoteles mit den anderen Vorgängern auseinandersetzte -, da die Platoniker der ύποκειμένη φύσις bereits sehr nahe gekommen sind, so daß Aristoteles zur Widerlegung ihrer Ansicht zunächst in seiner Theorie diejenigen Begriffe einführen mußte, mit Hilfe derer der Unterschied zwischen seiner und der platonischen Theorie verdeutlicht werden kann. Hierzu zählte vor allem der Begriff der στέρησις. Zwar sind die Platoniker, so Aristoteles, dem Begriff einer ύποκειμένη φύσις bereits sehr nahe gekommen, doch haben sie diesen letztlich insofern verfehlt, als sie an dieser ύποκειμένη φύσις nicht zwischen den beiden Momenten der ύλη (als Akzidentell-Nichtseiendes) einerseits und der στέρησις (als Ansich-Nichtseiendes) andererseits differenzierten und beide in Eines zusammenfallen ließen. Mit Hilfe einer Darlegung der platonischen Überlegungen bezüglich des Werdens, wie sie vor allem in den Dialogen Timaios und Phaidon zu finden sind, konnte die vorliegende Untersuchung zeigen, daß die platonische Theorie ihren Stoffbegriff in Gestalt der χώρα als vollkommen leeres Gefäß nach Ansicht von Aristoteles letztlich zu niedrig angesetzt hat und auf diese Weise in einen Widerspruch zu ihren eigenen Grundannahmen fuhrt: So zeigte Aristoteles einerseits, daß es den Piatonikern geschehe, daß der Gegensatz nach seiner eigenen Vernichtung strebe (vgl. 192a 19-20); dies steht im Widerspruch dazu, was Piaton im Phaidon (vgl. 102d-103c) bezüglich des Werdens der Gegensätze auseinander ausführt, wo es heißt, daß nicht die gegensätzlichen Bestimmungen, sondern nur die gegensätzlichen Dinge auseinander werden. Und andererseits zeigte Aristoteles, daß es den Piatonikern geschehe, daß letztlich auch ihre ύλη nach ihrem eigenen Untergang strebt und an sich vergeht (vgl.
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192a25-27); dies steht im Widerspruch dazu, was Piaton im Timaios (vgl. 52a-d) bezüglich der χώρα ausführt, wo es heißt, daß die χώρα dem Untergange nicht unterworfen sei. Da Aristoteles der vorliegenden Untersuchung zufolge seinen eigenen ύληBegriff von dem platonischen ΰλη-Begriff einer χώρα, die wie eine πρώτη ΰ λ η erscheint, abgrenzen will, erschien es ebenfalls als unwahrscheinlich, daß Aristoteles in Kapitel 1.9 von einer πρώτη ύ λ η in bezug auf seinen eigenen ύληBegriff spricht, wie dies von einigen Interpreten angenommen wurde. Zudem konnte die vorliegende Untersuchung eine kohärente Interpretation der in der Sekundärliteratur bis heute umstrittenen Textstelle 192a25-34 geben, wo es heißt, daß die ύλη als das (i) In-dem (ώς τό έν φ) an sich vergehe, während sie als das (ii) 'dem-Vermögen-nach' (ώς κατά δΰναμιν) nicht an sich vergehe. Eine kohärente Interpretation dieser Textstelle wurde dadurch möglich, daß in der vorliegenden Untersuchung die beiden Hinsichten (i) und (ii) unter denen die ύ λ η in 192a25-34 betrachtet wird, nicht, wie dies bisher geschehen ist, als aristotelische Differenzierung seines eigenen ύλη-Begriffs angesehen wurden. Vielmehr wurde die Bestimmung der ύ λ η als das (i) In-dem (ώς τό έν φ) als aristotelische Beschreibung des platonischen ύλη-Begriffs verstanden, dem Aristoteles mit der ύ λ η als das (ii) 'dem-Vermögen-nach' (ώς κ α τ ά δύναμιν) seinen eigenen ύλη-Begriff gegenüberstellt. Aristoteles ging es im Buch Α der Physik primär um eine genauere Bestimmung der zugrundeliegenden Natur (ύποκειμένη φύσις) mit ihren beiden sie konstituierenden Momenten der ύ λ η einerseits und der στέρησις andererseits. Obgleich Aristoteles den Begriff des Stoffs (ύλη) in Physik Α auffallend selten erwähnte, 3 wird aus dem Gesamtüberblick doch deutlich, daß er im Mittelpunkt der Überlegungen stand. Aristoteles wollte sich gerade in bezug auf seinen StoffBegriff von seinen Vorgängern unterscheiden, wobei er auch hier einen mittleren Weg wählte. Gegenüber den Piatonikern, die den Stoff in Gestalt der χώρα als ein vollkommen leeres und gänzlich unbestimmtes Gefäß aufgefaßt und nach Ansicht von Aristoteles zu niedrig, zu passiv und zu unbestimmt angesetzt haben, wies Aristoteles darauf hin, daß der Stoff (i) bereits irgendwie ούσία und nahebei der ο υ σ ί α ist (vgl. 192a5-6), daß er (ii) bereits mehr ein Dieses-da ist (vgl. 190b25-26), daß er (iii) nur in einem akzidentellen Sinne ein Nichtseiendes ist (vgl. 192a4-5), und daß er (iv) selbst das strebende Moment darstellt (vgl. 192a22). 4 Gegenüber den Naturphilosophen, die den Stoff in Gestalt eines der vier Elemente als konkretes Ding aufgefaßt und nach Ansicht von Aristoteles zu 3
Er findet sich an folgenden Stellen: 1.4, 187al8-19; 1.7, 190b9, b25, [191al0]; 1.9, 192a3-6, a22, a31. Vgl. Zekl (1987: XXVII): „Ihrem [den Piatonikern] offenbar viel zu negativen, passiven, zu sehr abgewerteten Materie-Begriff setzt er [Aristoteles] bemerkenswerte Thesen und Bilder entgegen: Der Stoff ist »irgendwie nahe daran«, Substanz zu sein, die zugrundeliegende Materie ist »Mitursache des Werdenden« und verhalt sich »wie eine Mutter«. Das »Mangelhafte« an ihr darf den Blick nicht dafür verstellen, daß sie, soweit ihr Wesen das eben zuläßt, nach dem »Göttlichen, Guten, Erstrebenswerten« hinwill; und dies Streben wird verglichen mit der Sehnsucht der Geschlechter zueinander. (Kap. 9)".
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hoch, zu konkret und zu bestimmt angesetzt haben, wies Aristoteles darauf hin, daß der Stoff (i) noch nicht ούσία, sondern nur irgendwie und nahebei der ο υ σ ί α ist, und daß er (ii) ein Nichtseiendes in einem akzidentellen Sinne ist. Dadurch, daß Aristoteles in bezug auf den Stoff-Begriff eine mittlere Position einnahm, wurde es ihm - wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat - möglich, das Werden sowohl im Sinne einer Eigenschaftsveränderung als auch im Sinne eines substantiellen Entstehens und Vergehens gedanklich in Begriffe zu fassen. In den theoretischen Modellen seiner Vorgänger sah Aristoteles demgegenüber - wenn überhaupt - nur jeweils eine Bedeutung des Werdens vertreten. So konnte dargelegt werden, daß er die Naturphilosophen dahingehend verstand, daß es bei ihnen genaugenommen nur Eigenschaftsveränderungen gibt, während er Piaton dahingehend verstand, daß es bei ihm genaugenommen nur Entstehensund Vergehensprozesse gibt. Als ein solches Mittleres ist das Prinzip des Stoffs fur Aristoteles, wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, in gewisser Weise sowohl ein Unbestimmtes als auch ein Bestimmtes: Er ist je nach dem Standpunkt der Betrachtung entweder ein „unbestimmtes Bestimmtes" oder aber ein „bestimmtes Unbestimmtes". Auch wenn die Physik des Aristoteles im Vergleich zur neuzeitlichen Physik in vielen Punkten als weitgehend überholt erscheint, so sind doch gerade seine Überlegungen zum Begriff des Stoffs, der auch in unserem Jahrhundert noch zu den rätselhaftesten Gestalten in der Physik zu zählen ist, keineswegs irrelevant geworden. In bezug auf die Frage nach der „rätselvollen Materie" in unserem Jahrhundert hat Stegmüller folgendes ausgeführt: »Was ist der Treppenwitz des 20. Jahrhunderts?«, so werden Menschen künftiger Generationen vielleicht einmal fragen und darauf eine Antwort von etwa folgender Art geben: »Daß in diesem 20. Jahrhundert auf der einen Seite eine materialistische Philosophie, welche die Materie zur einzigen eigentlichen Realität erklärt, nicht nur in vielen Staaten der Erde Bestandteil der dort geltenden offiziellen Weltanschauung bildete, sondern auch in westlichen Philosophien, z.B. im Rahmen der Leib-SeeleDiskussion, häufig dominierte. Und daß auf der anderen Seile ausgerechnet der Materiebegriff der schwierigste, unbewältigste und rätselhafteste Begriff überhaupt für die Wissenschaft dieses Jahrhunderts blieb.« (Stegmüller, 6 1979: 583 f.)
Wenige Zeilen später bemerkt Stegmüller: Es ließe sich die boshafte Behauptung verfechten, daß die heutigen >Materieexperten< in einem gewissen Sinn zu einem schlimmeren Eingeständnis gezwungen sind als Goethes Faust. Sie sind nicht nur rnicht klüger als zuvor