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German Pages 268 Year 2014
Gesa Anne Busche Über-Leben nach Folter und Flucht
Kultur und soziale Praxis
Gesa Anne Busche (Dipl.-Soz.) arbeitet in der Geschäftsstelle des Sächsischen Ausländerbeauftragten. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrationssoziologie, Resilienzforschung und qualitative Sozialforschung.
Gesa Anne Busche
Über-Leben nach Folter und Flucht Resilienz kurdischer Frauen in Deutschland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Gesa Anne Busche Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2296-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Abbildungsverzeichnis | 7 Vorwort | 9 Einleitung | 11 I. Konzeptionelle Ansätze zur Resilienz | 19
1. Begriffsbestimmung – Facetten von Resilienz | 19 2. Aktueller Forschungsstand – Studien und Modelle | 24 II. Folter und ihre Folgen | 47
1. Der gefolterte Mensch | 47 2. Folterfolgen: Ist Folter erzählbar? | 52 III. „Kurdischsein in der Türkei“ und „Flüchtlingsleben in Deutschland“ | 61
1. Soziokultureller Kontext: Kurdischsein in der Türkei | 62 2. Soziokultureller Kontext: Flüchtlingsleben in Deutschland | 79 IV. Die Fallanalysen | 99
Die Erzählerin: Delal Hofmeister | 101 1. Die Lebensgeschichte im Überblick | 101 2. Das Genogramm – Großmütterliche Autonomie | 102 3. Die Interviews – Leben durch Improvisieren | 110 4. Zusammenfassung der Fallstrukturhypothesen | 129 Die Naturmystische: Aynur Karahan | 131 1. Die Lebensgeschichte im Überblick | 131 2. Das Genogramm – weite Horizonte, wenige Wege | 132 3. Das Interview – Die Transformation zum Stein | 138 4. Zusammenfassung der Fallstrukturhypothesen | 160 Die Eingefrorene: Erva Coskun | 163 1. Die Lebensgeschichte im Überblick | 163 2. Das Genogramm – Hoffnung in die Zukunft | 164
3. Die Interviews – Rollenkonfusionen | 170 4. Zusammenfassung der Fallstrukturhypothesen | 181 Die Krisenhafte: Kadin Arslan | 183 1. Die Lebensgeschichte im Überblick | 183 2. Das Genogramm – Ambivalenzen | 184 3. Die Interviews – Zusammen und doch allein | 193 4. Zusammenfassung der Fallstrukturhypothesen | 205 V. Resilienz im Kontext von Verfolgung, Folter und Flucht | 207
1. Themen biografischer Resilienz im Vergleich | 207 2. Resilienz im biografischen Verlauf | 211 3. Resilienz im Kontext von Verfolgung, Folter und Flucht | 234 VI. Empfehlungen für die Praxis | 245
1. Empfehlungen für die psychosoziale Begleitung | 246 2. Empfehlungen für die Politik | 248 3. Empfehlungen für die Verwaltung | 249 VII. Literatur- und Onlineangaben | 253
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19:
Modell des zeitlichen Verlaufs von Resilienz | 31 Modell der situativen Resilienz im Kontext | 35 Legende und weitere Erläuterungen | 213 Delal Hofmeisters Resilienz im biografischen Verlauf | 215 Biografische Phase A | 216 Biografische Phase B | 217 Biografische Phase C | 218 Biografische Phase D | 220 Biografische Phase E | 221 Biografische Phase F | 222 Biografische Phase G | 223 Biografische Phase H | 224 Biografische Phase I | 225 Biografische Phase J | 227 Biografische Phase K | 228 Biografische Phase L | 229 Biografische Phase M | 230 Biografische Phase N | 232 Biografische Phase O | 233
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde 2012 von der FSU Jena als Dissertation angenommen und mit „summa cum laude“ bewertet. Diese veröffentlichte Fassung kürzte oder formulierte ich im Sinne einer besseren Lesbarkeit und allgemeinen Verständlichkeit in einigen Kapiteln um. Das Methodenkapitel strich ich aus denselben Gründen. Die umsichtige Digitalisierung der verschiedenen abgebildeten Diagramme übernahm Tina von Wolffersdorf. Ich danke der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. für ihr Vertrauen in mich und ihre finanzielle und ideelle Förderung, die mir den Rahmen gaben, diese Dissertation zu erstellen. Mein Dank für die hilfreiche Begleitung der Doktorarbeit geht an meinen Doktorvater Prof. Dr. Bruno Hildenbrand und meinen Zweitgutachter Prof. Dr. Wolfgang Behlert. Auch möchte ich all denjenigen danken, die mich in Interpretationskreisen und bei der Korrektur meiner Dissertation inhaltlich, methodisch und technisch konstruktiv kritisiert und umfassend unterstützt haben. Meinem Lebensgefährten danke ich für sein stets „offenes Ohr“ in Zeiten des Zweifels und für seine liebevolle Präsenz für unsere Tochter. Bei ihm, meiner Tochter, meinen Eltern und meinen lieben Freundinnen und Freunden möchte ich mich für die zahlreichen freudvollen Stunden und die vielen Gespräche bedanken, die mir mein Leben außerhalb dieser Forschungsarbeit bereicherten und die mir immer wieder die Kraft gaben, wissenschaftlich weiterzumachen. Als Letztes, aber keineswegs Geringstes, danke ich stellvertretend für die vielen Opfer von Verfolgung und Folter, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, den vier in dieser Forschungsarbeit erzählenden Frauen, die mir offenherzig begegneten und mir bereitwillig ihre persönlichsten Erfahrungen anvertrauten. Ihre Kraft und Widerständigkeit in Zeiten der Gewalt und des Umbruchs haben mich nachhaltig beeindruckt.
Einleitung
Diese Forschungsarbeit beschäftigt sich mit Menschen, die in unserer Gesellschaft, wenn sie überhaupt eine öffentliche Wahrnehmung erfahren, oft auf die Rolle der bemitleidenswerten Opfer (Folteropfer, Verfolgte, Flüchtlinge) reduziert werden. Über Folter oder schwere Gewalt erzählt zu bekommen, erzeugt bei den Zuhörenden nicht selten Scham- oder Schuldgefühle. Die gesellschaftliche Anerkennung von Flüchtlingen in Deutschland sehr gering. Sie werden nicht selten kriminalisiert oder öffentlich als „SozialschmarotzerInnen“ bezeichnet. Dieser Situation möchte ich eine Forschungsarbeit entgegensetzen, die verfolgte und gefolterte Flüchtlinge in ihrer Komplexität und ihrer biografischen Gesamtheit erfasst. In der Soziologie gibt es nur wenige Forschungsarbeiten zur Situation von Flüchtlingen. Darüber hinaus sind mir keine soziologischen Studien bekannt, die sich mit Flüchtlingen befasst, die Folter- und Verfolgungserfahrungen machen mussten. Die Soziologie ist jedoch prädestiniert, sich diese soziale Gruppe anzunehmen. Sowohl das Leben von Flüchtlingen, als auch das von Folteropfern und Verfolgten ist ungewöhnlich stark durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen determiniert und aus diesem Grund für die Soziologie von besonders hoher Relevanz. In dieser Forschungsarbeit befindet sich diese Teilgruppe der in Deutschland lebenden gefolterten und verfolgten Flüchtlinge im Fokus. Ich interviewte ausschließlich Frauen, die aus den kurdischen Gebieten der Türkei nach Deutschland geflohen waren. Flüchtlinge sind eine rechtlich konstruierte und real definierte Gruppe von Menschen, die ihr Herkunftsland verlassen mussten und in Deutschland bzw. Europa, wenn sie rechtlich nicht als Flüchtlinge anerkannt sind, wenige Chancen zur sozialen, rechtlichen, kulturellen und ökonomischen Integration haben. Darüber hinaus sollte die Analyse der Folter als eines der extremsten sozialen Phänomene, bei dem die Interaktion in einer realen Situation, nämlich der Folter selbst, zum Auflösen gebracht wird, ebenfalls von hoher Relevanz für die Sozi-
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alwissenschaften sein. Die Zeit der Verfolgung, die vor und nach den Folterungen stattfand, stellte eine dauerhafte latente und phasenweise akute Belastungssituation für die interviewten Frauen dar. Sowohl das Leben als Flüchtling als auch Verfolgte und vor allem durch die Folterungen stellen enorme Herausforderungen für die Betroffenen dar. Wie es Menschen dennoch schaffen, während und nach diesen Lebenssituationen sozial und psychisch zu (über)leben, steht im Zentrum dieser Forschungsarbeit. Ich habe die in dieser Doktorarbeit gestellte Forschungsfrage auf kurdischtürkische Frauen beschränkt, da es noch keine soziologischen Studien zur Fragestellung gibt. Es ist in der Stess-Coping-Forschung und Resilienzforschung bekannt, dass sowohl die kulturelle bzw. ethnische Herkunft (Reis in: Fooken/Zinnecker 2007; Zinnecker in: Fooken/Zinnecker 2007) als auch das soziale Geschlecht (Conger/Elder 1994; Hepp in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006) einen großen Einfluss auf den Umgang mit Stresssituationen und die Bewältigung von Krisen haben. Flüchtlinge aus (den kurdischen Gebieten) der Türkei stellen eine der konstanten Gruppen dar, die nach Deutschland fliehen (Pro Asyl 2011; BAMF 2009) und extreme Gewalt- und Verfolgungserlebnisse machen mussten (REFUGIO Thüringen 2010; Zentrum ÜBERLEBEN 2010). Die Entscheidung für die Begrenzung auf Frauen statt auf Männer fiel aufgrund meines eigenen Geschlechts. Der Zugang einer Frau zu einer Frau aus der anatolischen Kultur ist leichter und selbstverständlicher (Kaser 1995). Die Forschungsfrage dieser Dissertation lautet: Wie und was ermöglicht Kurdinnen aus der Türkei ein psychosoziales Leben während und nach andauernder Verfolgung, Folter und Flucht? Andauernde Verfolgungssituationen und Foltererlebnisse stellen stets Stressoren dar, die Krisen entweder auslösen oder verstärken können. Die Fluchtmigration nach Deutschland kann, so eine Erkenntnis dieser Forschungsarbeit, ein krisenauslösendes (Stressor), ein krisenverstärkendes (Resilienzhindernis) oder ein krisenminderndes (Resilienzfördernis) sein. Ihre Bedeutung wird empirisch durch die Einzelfallanalyse erforscht. Um die Perspektive auf die Möglichkeiten und gelebten Spielräume von Verfolgten, Gefolterten und Flüchtlingen zu lenken, statt ihren Opferstatus festzuschreiben, entschied ich mich, an die psychologisch geprägte Resilienzforschung anzuschließen. Die Resilienzforschung ist ein noch recht junger Forschungszweig, der danach fragt, warum und wie Menschen, die unter „widrigen Umständen“ aufgewachsen sind, länger mit solchen gelebt haben (Verfolgung, evtl. Flucht) oder extrem Leidvolles (Folter) erleben mussten, einen Weg aus dem Schmerz, dem Leid, der Krise finden konnten oder gar nicht erst eine tiefe Krise gerieten. (Boss 2006; Fooken/Zinnecker 2007; Welter-Enderlin/Hildenbrand
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2006) Unter Resilienz wird in dieser Arbeit ein einzelfallbezogenes, biografisch orientiertes Konzept verstanden, das prozessual im Laufe der Forschungsarbeit weiterentwickelt wurde. Einige konzeptionelle Ansätze von Resilienz eignen sich, theoretischer Ausgangspunkt für dessen Weiterentwicklung durch die Beantwortung der Fragestellung zu sein. Das am weitesten reichende Krisenereignis ist hier die Folter. Die detaillierte Analyse der Foltersituationen war nicht bei allen vier Frauen möglich, da einige nicht über ihr Erleben während der Folter erzählten. Folter wird in dieser Arbeit als eine systematisch durchgeführte, bewusste und zweckgerichtete starke physische oder psychische Verletzung verstanden (Körner 2000). Für die Gefolterten bedeutet Folter ein sich steigerndes Schmerzerleben, das durch seine Wahrnehmbarkeit für andere durch Schreie oder Verletzungen noch verstärkt wird. Die Leugnung der Folter durch die öffentliche Wahrnehmung der Gesellschaft, in der die Gefolterten leben, bedeutet eine Fortsetzung des Leidens der Gefolterten. (Scarry 1992) Soziologisch ist Folter dadurch gekennzeichnet, dass sie in verbaler und nonverbaler Form ein Anerkennungsverhältnis der Folterer im Hinblick auf das Gegenüber, das Gewaltopfer, aufkündigt. Das Gegenüber wird durch die Folterer verworfen, denn es ist es nicht wert, mit ihm zu sprechen. (Müller-Funk in: Platt 2002) Was in und nach dieser sozialen und interaktionellen Ausnahmesituation aus der Perspektive der Gefolterten geschieht, wie sie mit diesem Einbruch in ihre psychosoziale Integrität und in die Grundlagen der Sozialen umgehen, werde ich im Rahmen der empirischen Analysen beantworten. Es geht in dieser Arbeit um die Rekonstruktion der Handlungs- und Orientierungsstrukturen und deren mögliche Transformationen von nach Deutschland geflohenen kurdischen Türkinnen. Die beiden einflussreichen externen Rahmungen dieser Gruppe sind die Sozialisation in den kurdischen Gebieten der Türkei und das Leben als Flüchtling in Deutschland. Diese „conditional matrix“ (Strauss 1991a) bzw. die mit ihr einhergehenden Inkorporierungen (Bourdieu 1982), die durch den Kontext, der ein Individuum umgibt, (unbewusst) in dessen Handeln und Orientieren eingeschrieben werden, müssen ebenfalls expliziert werden. Das Aufwachsen und das Leben in den kurdischen Gebieten der Türkei mit ihren historischen, politischen, kulturellen und ökonomischen Merkmalen beeinflusste die Entstehung und Entwicklung der Handlungs- und Orientierungsmuster der Frauen. Die politische Entwicklung in den kurdischen Gebieten der Türkei war immer wieder von den (gewalttätigen) Auseinandersetzungen und Fehden zwischen einzelnen kurdischen Stämmen und zwischen ihnen und der türkischen Staatsmacht geprägt (ai 1985; Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000). Diese teils bürgerkriegsähnlichen Phasen in der Türkei formte die ideologische Aus-
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richtung, Identität und den Umgang mit den durch die politische Lage entstandenen individuellen Krisensituationen der vier Kurdinnen. Das patriarchale System der kurdischen Kultur und die diskriminierte Rolle der Frauen (Kaser 2008) führten zu weiteren Krisen erzeugenden biografischen Ereignissen. Traditionelle Geschlechterrollen können, wie in dieser Arbeit erforscht wurde, je nach biografischer und familiärer Situation Resilienzfördernisse oder Resilienzhindernisse sein. Nach Deutschland geflohen zu sein, bedeutete für alle Frauen erst mal einen Schutz vor erneuter Folter. Gleichzeitig bedeutet jedoch die rechtliche Situation von in Deutschland lebenden Flüchtlingen ohne rechtliche Anerkennung, mit Restriktion und Einschränkung ihrer Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten umgehen zu müssen. Soziologisch ist ein Flüchtling ein Mensch, der aufgrund einer existentiell bedrohlichen Lebenssituation oder aufgrund der Bedrohung seiner physischen oder psychischen Unversehrtheit in ein anderes Land oder in eine andere Region des Herkunftslandes unfreiwillig fliehen musste (Haussamann 1992). Rechtlich wurden in Deutschland im Jahr 2010 nur 16% als asylberechtigt nach dem Grundgesetz Art. 16a oder der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt (BAMF 2011). Das deutsche Asylsystem ist sehr komplex und impliziert je nach Aufenthaltsstatus unterschiedliche Möglichkeiten der Lebensgestaltung (Busche 2003; Pieper 2008; Ramazani 2003). Für den Status der AsylbewerberInnen oder der Geduldeten, den alle vier Frauen durchlaufen haben, gilt ein faktisches Arbeitsverbot (damals nicht nur für das erste Jahr wie es heute der Fall ist), das z.B. für Geduldete eine Öffnung durch die 2006 beschlossene Bleiberechtsregelung (IMK 2006) und für alle Gruppen neuerdings durch das „Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung der im Ausland erworbenen Berufsqualifikation“ (BQFG) erfuhr. Flüchtlinge im soziologischen Verständnis unterliegen demnach abhängig vom Aufenthaltsstatus verschiedenen restriktiven Regelungen, die die Lebenswelt und den Umgang mit bereits vorhandenen Krisen meist ungünstig beeinflussen bzw. selbst Krisen auslösend sind. Trotz der Folterungen und trotz des Lebens als rechtlich nicht anerkannter Flüchtling finden diese Menschen immer wieder einen Weg aus ihrer Krise und ihren Begrenzungen. Die meisten Forschungsarbeiten im Bereich „Fluchtmigration“ und das „Leben der Flüchtlinge“ thematisieren die vorhandenen Exklusionen und Ausgrenzungen durch rechtlich-gesetzliche bzw. politische Gegebenheiten (Agamben 2002; Bauman 2005; Pieper 2008) oder deren Problematiken prekärer Lebens-, Gesundheits- und Arbeitssituationen (Illegalisierter) (Cyrus 2004; Deutsches Institut für Menschenrechte 2007; Heck 2008). Einzelne Arbeiten aus der Flüchtlingsforschung haben sich bereits mit den Potentialen von Flüchtlingen
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in Beruf und Bildung im Kontext restriktiver Regelungen befasst (Foda/Kadur 2005; Seukwa 2006; Inhetveen 2006 a, b). Es existieren auch in der Forschung über FluchtmigrantInnen generell, aber insbesondere im Zusammenhang ihrer Resilienz, ihrer Potentiale und Kompetenzen noch erhebliche wissenschaftliche Leerstellen. Methodisch fand ich es vor allem aufgrund dieser Forschungsdesiderate, des Resilienzverständnisses in dieser Studie und der Fragestellung sinnvoll, qualitativ, biografisch orientiert und einzelfallbezogen vorzugehen. Die qualitative Sozialforschung bietet die Perspektive auf den Einzelfall in seiner Komplexität und Tiefe und kann insbesondere bei fehlender Forschungsliteratur die zur Forschungsfrage gehörenden Themen und sehr umfangreiche erste Erkenntnisse eines Forschungsfeldes hervorbringen. Biografisch orientiert ging ich vor, da die Erlebnisse von Verfolgung, Folter und Flucht in der Vergangenheit der Menschen liegen und sie soziologisch rekonstruierend erarbeitet werden müssen. Folter beispielsweise kann keinesfalls aus der Situation heraus soziologisch erforscht werden. Verfolgung und das Leben als Flüchtling sind im Zusammenhang mit Resilienz sinnvollerweise retrospektiv zu erforschen, da der gesamte Krisenverlauf, also auch sein (vorläufiges) Ende, erforscht werden soll. Während der Zeit der Verfolgung und des Lebens als rechtlich nicht anerkannter Flüchtling befinden sich die Menschen noch auf dem Weg in eine, mitten in einer oder erst langsam auf dem Weg aus einer Krise. Sie sind im Prozess. Zudem bilden biografisch davor Krisenverläufe aufgrund der Strukturgesetzlichkeiten biografischen Handelns die Grundlage für weitere Krisenverlaufsmuster (Oevermann 1979, 2000, 2001). So entstehen durch die biografische Öffnung eine weit reichende Analyse und ein tiefes Verstehen der Resilienz im Zusammenhang mit Verfolgung, Folter und Flucht. Dass ich einzelfallbezogen analysiere, ist mit meiner Entscheidung für die qualitative Sozialforschung verbunden, die den Einzelfall ins Zentrum ihrer Analyse rückt. Außerdem beziehe ich mich in dieser Dissertation auf ein Verständnis von Resilienz, das den Blick auf den jeweils individuellen, kontext- und biografieabhängigen Umgang mit denselben Lebensereignissen richtet. Ein einzelfallbezogenes Vorgehen war auch deswegen unumgänglich, um der Komplexität und der Einzigartigkeit jedes Menschen gerecht zu werden. Zu oft verschwinden in der Flüchtlingspolitik und den entsprechenden Verwaltungsapparaten, aber auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen oder in Berichten über Menschenrechtsverletzungen die Einzelschicksale, das individuelle Menschsein und der Schmerz hinter quantifizierenden Zahlen und Berichten. Aufgrund der Forschungsdesiderate entschied ich mich für ein exploratives methodisches Vorgehen. Ich folgte dem Forschungsdesign der „Grounded Theo-
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ry“ (Strauss 1994; Strauss/Corbin 1996). Sie wird in dieser Arbeit als Rahmen des methodischen Vorgehens eingesetzt. Die „Grounded Theory“ kann präzise, verifizierbare Ergebnisse produzieren und ermöglicht die Vereinbarkeit von Theorie und Beobachtung (Peter 2004). Das schrittweise Vorgehen im Forschungsprozess, der immer wieder revidiert und verändert werden kann, ist die Grundlage dieses Forschungsdesigns. Sie dient dem Erkenntnisgewinn und entwickelt aus dem Datenmaterial Hypothesen bzw. Theorien unterschiedlicher Reichweite. Meine Studie stellt aufgrund ihrer Einschränkungen auf Resilienz nach Verfolgung, Folter und Flucht von in Deutschland lebenden kurdischen Türkinnen den Anspruch der Entwicklung einer Theorie „mittlerer Reichweite“. Den Einzelfallbezug und die biografische Orientierung implizieren in der qualitativen Sozialforschung verschiedene Datenerhebungs- und Datenauswertungsmethoden. Das biografisch orientierte narrative Interview (Schütze 1983, 1987; Rosenthal 2002) eignet sich besonders als Datenerhebungsmethode, da es im Zusammenhang mit sehr sensiblen Erzählungen wie die über Verfolgung, Folter und Flucht einen offenen Rahmen und den größtmöglichen Raum zur Selbstentfaltung für die Interviewten bietet. Ein weiterer Vorteil dieser Interviewart ist, dass durch die selbst strukturierte und freie Entfaltung der autobiografischen Erzählungen ohne das Eingreifen der Interviewerin die biografischen Erfahrungen aus der Perspektive der Erzählerinnen umfassend rekonstruiert werden können. Der Umgang mit Krisen und mit die Routine durchbrechenden Ereignissen wie Verfolgung, Folter und Flucht wird ist nicht nur biografisch strukturiert, sondern auch durch die Einbettung in soziale und kulturelle Kontexte geprägt. Diese Einbettung findet vor allem in gemeinschafts- und familienorientierten Kulturen, wie die kurdische eine ist, durch die Familie statt. Daher bildet die familienhistorische Analyse, die Genogrammanalyse (Hildenbrand 2005), einen weiteren Baustein in dieser Forschungsarbeit. Das Genogramm als Datenerhebungsmethode umfasst mindestens drei Generationen, die sich um die Person zentrieren, die für die Forschungsarbeit von Interesse ist. Bei der Analyse des Genogramms werden Familienstrukturen erarbeitet, die auf die jeweilige Forschungsfrage bezogen werden. Dementsprechend wird bei den Genogrammanalysen in dieser Dissertation der Fokus auf die familiären Krisenbewältigungsmuster gerichtet werden. Durch das Einbetten in einen familienhistorischen Kontext kann ein breites Verständnis und gewisse „Erwartbarkeiten“ von Krisenverläufen der Indexperson entwickelt werden. Als Datenauswertungsmethode entschied ich mich für die Objektive Hermeneutik (Oevermann 1979, 2000). Diese Methode hat durch ihr sequenzanalytisches Vorgehen, „Wort für Wort“, „Satz für Satz“ bzw. „Generation für Genera-
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tion“ ein außerordentliches Potential, die verschiedenen Ebenen (sprachlicher) Ausdrücke zu explorieren. Die Objektive Hermeneutik geht von Strukturhomologien zwischen Text, die in dieser Forschungsarbeit durch die narrativen Interviews und die Genogramme erzeugt werden, und der „Realität“ aus. Es werden Handlungs- und Orientierungsmuster der Einzelfälle in einer streng sequenziell vorgehenden Analyse der textlich verfassten Lebenspraxis rekonstruiert. Die Objektive Hermeneutik erfasst die konkreten Gebilde der Lebenspraxis eines Individuums mit ihrem Strukturmodell in der jeweiligen Dialektik von Besonderheit und Allgemeinheit. Die Objektive Hermeneutik ist eine effektive Datenauswertungsmethode, die in dieser Forschungsarbeit durch die Verbindung mit dem Forschungsdesign der „Grounded Theory“ eine sehr produktive Zusammenarbeit eingeht. Das Kapitel über das in der Einleitung umrissene methodische Vorgehen kann auf Anfrage eingesehen werden. Ich habe es aus Gründen der Lesbarkeit aus dieser Veröffentlichung gestrichen. Der Aufbau dieser Studie sieht folgendermaßen aus: Zum Beginn werden die konzeptionellen Ansätze von Resilienz vorgestellt, die für die Beantwortung der Forschungsfrage von Bedeutung sind. Daran schließen die soziologischen und psychologischen Erkenntnisse über die Bedeutung und die Folgen von Folter für die Gefolterten an. Der Folter als krisenauslösender Stressor wird ein eigenes Kapitel gewidmet, da sie und die Gefolterten in Wissenschaft und Gesellschaft weitestgehend „ignoriert“ werden. Außerdem ist die Foltersituation ein Grenzfall des gängigen soziologischen Verständnisses von Interaktion, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Das Kapitel über das methodische Vorgehen habe ich einerseits wegen der besseren Lesbarkeit und andererseits aufgrund des Umfangs der Veröffentlichung gestrichen. Nach den beiden theoretisch geprägten Kapiteln, die die Lesenden die Kernthemen dieser Forschungsarbeit vorstellen, folgen die beiden konditionellen Matrizes. Diesen beiden lebensweltlich relevanten externen Kontexten wird ebenfalls ein Kapitel gewidmet. Dieses vertieft das Verständnis für die ReProduktion und Transformation von Handlungs- und Orientierungmustern bei der Entstehung und Entwicklung von Krisenverläufen. Der erste Teil des Kapitels widmet sich dem biografischen Kontext während der Kindheit, Jugend und des jungen Erwachsenenalters der vier Frauen, den Lebensbedingungen in den kurdischen Gebieten der Türkei. Der zweite Teil des Kapitels fokussiert im Hinblick auf die Forschungsfrage die Lebensumstände der in Deutschland lebenden Flüchtlinge und deren Rehabilitationsmöglichkeiten für Gefolterte und einst Verfolgte. An diese biografischen Rahmungen schließen die vier Fallanalysen in einem weiteren Kapitel an. Die vier biografischen Analysen stellen die Ergebnisse der
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Genogramm- und Interviewanalysen vor, die durch das sequenzanalytische Interpretieren gewonnen werden konnten. Es entstand bei jeder Fallanalyse ein „Typus“ der Resilienz im Kontext der Fragestellung. Die Einzelfallanalysen werden im Schlusskapitel im systematischen Vergleich vorgestellt. Ich stelle als ein wesentliches Ergebnis der Forschungsarbeit einen biografischen Krisenverlauf in Form von Diagrammen vor, der die Resilienz situationsbezogen und im zeitlichen Verlauf integriert. Zuletzt wird zusammenfassend die Forschungsfrage beantwortet.
I. Konzeptionelle Ansätze zur Resilienz
In diesem Kapitel stelle ich sowohl den Begriff der Resilienz, als auch relevante inhaltliche und konzeptionelle Resilienzansätze vor. Dabei gehe ich insbesondere auf die soziologisch orientierte Resilienzforschung und auf die Studien aus der Psychologie ein, die sich mit Flucht, Gewalt und Verfolgung bzw. anderen potentiell traumatisierenden Lebensereignissen befasst haben. Einige konzeptionellen Ansätze und inhaltlichen Ausrichtungen von Resilienz, die relevant für diese Forschungsarbeit sind, werden detaillierter vorgestellt, um eine Grundlage für das Verständnis von Resilienz in dieser Arbeit zu bilden. Dieses dient als Ausgangsbasis für die datenbasierte Weiterentwicklung einer Theorie von Resilienz im Kontext von Verfolgung, Folter und Flucht. Beginnen werde ich mit einem allgemeinen und durchaus heterogenen Begriffs- und Konzeptverständnis von Resilienz. Die beiden folgenden Unterkapitel zur allgemeinen psychologischen und soziologischen Resilienzforschung fallen kurz aus. In einem kurzen Überblick stelle ich einige Studien und theoretisch weiterentwickelten Modelle der für diese Arbeit relevanten psychologischen und soziologischen Resilienzforschung vor. Die Analysen, die sich mit den Themen Fluchtmigration, Trauma, Folter und Verfolgung beschäftigt haben, sind in einem eigenen Unterkapitel zusammengefasst.
1. B EGRIFFSBESTIMMUNG – F ACETTEN
VON
R ESILIENZ
a) Resilienz – individuelle Krisenbewältigung und soziale Unterstützung Die Wissenschaft zur Resilienz ist ein junges, aber sich rasch entwickelndes interdisziplinäres Forschungsfeld. Die konzeptionellen und inhaltlichen Schwerpunkte der verschiedenen Ansätze sind umfangreich. Sie reichen von psycholo-
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gischen (Rutter 1985; Werner 1977) hin zu soziologischen Ansätzen (Antonovsky 1997; Hildenbrand 2006), von intra- zu interpersonellen Konzeptionen, von Studien über Kinder, die bei Pflegeeltern aufgewachsen (Gassmann 2009), über Kinder, die mit einem oder zwei alkoholabhängigen Eltern (Vellmann/ Orford 1999) oder in Armut aufgewachsen sind (Conger/Elder 1994), bis zu Kriegserfahrungen im Kindesalter und Resilienz bei Flüchtlingen (Caplan 1992; Lafranchi 2006). Inzwischen sind auch Ansätze in der Resilienzforschung vorhanden, die sich nicht auf die widrigen Umstände während des Kindesalters konzentrieren, sondern Resilienz auch auf krisenauslösende Erfahrungen im Erwachsenenalter beziehen (Welter-Enderlin in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 7-19; Hildenbrand 2006). Um einen Einblick in die verschiedenen psychologischen und soziologischen Definitionen von Resilienz zu geben, werde ich die populärsten und m. E. relevantesten kurz vorstellen: Andrea Lafranchi definiert Resilienz als eine „psychische, physische und soziale Kraft, die es Menschen ermöglicht, selbst aus den widrigsten Umständen von Not und Elend gestärkt hervorzugehen.“ (Lafranchi 2006, S. 127) Lafranchi hält fest, dass sich Resilienz weder allein durch Psychotherapie noch durch erzieherische Maßnahmen herstellen lässt, denn sie ist ein langjähriges Zusammenspiel von risikozentrierten Strategien, ressourcenorientierten Maßnahmen und prozessgesteuerten Angeboten. Resilienz bedeutet operationalisert die positive Nutzung von Entwicklungschancen bei Hochrisikoindividuen. Je nach Störungsart, Personen- und Kontextmerkmalen haben Risikound Schutzfaktoren unterschiedliche Auswirkungen (Lafranchi 2006, S. 134135). Bruno Hildenbrand konzipiert eine abstraktere, soziologische Definition von Resilienz. Bei ihm umfasst Resilienz spezifische Handlungs- und Orientierungsmuster von Individuen oder sozialen Gruppen in „widrigen Umständen“ einerseits, aber auch deren Entwicklungen in immer neue Erfahrungen bei der Bewältigung von Krisen andererseits (Hildenbrand 2006, S. 205). Rosemarie Welter-Enderlin versteht unter Resilienz die Fähigkeit von Menschen, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen (Welter-Enderlin in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 13). Resilienz bedeutet nach Froma Walsh die Fähigkeit, zerrüttenden Herausforderungen des Lebens stand zu halten und aus diesen Erfahrungen gestärkt und bereichert hervorzugehen. Beeinträchtigenden Lebensbedingungen begegnen resiliente Menschen, indem sie sich durch sie hindurch kämpfen, sie erfolgreich angehen und aus ihnen lernen (Walsh in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 43-44).
K ONZEPTIONELLE A NSÄTZE ZUR R ESILIENZ
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Resilienz ist bei ihr auch das Vorhandensein der Fähigkeit, Beziehungen und Kontakte zu genießen und zu „pflegen“ (Walsh 1998). Kritisch möchte ich zu dieser Definition von Resilienz anmerken, dass die genannte Anpassungsfähigkeit ein Resilienzfördernis sein kann. Anpassung kann auch ein Resilienzhindernis sein. Anpassung ist z. B. hinderlich, wenn sich nur eine Person innerhalb eines sozialen Gefüges stets anpasst und damit beispielsweise innerfamiliäre Gewalt duldet (Boss 2006) oder selbst Gewalt ausübt (Zinnecker in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 197-210). Anpassung ist somit nicht nur ein mögliches resilientes Handlungsmuster, sondern sie kann ein Resilienz hinderndes Muster sein. Eine weitere medizinisch-psychologisch orientierte Definition von Resilienz bezieht sich auf die Gesundheit eines Individuums. In dieser Definition von Boss führt Resilienz zu oder erhält Gesundheit. Sie ist im Zusammenhang mit Resilienz gekennzeichnet durch die Abwesenheit von medizinischen oder psychiatrischen Symptomen, von Beziehungskonflikten und sozialer Isolation. (Boss in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 47, 60) Gesundheit und Wohlbefinden sind sehr umfassende Konzepte, die medizinisch und psychologisch, aber nicht soziologisch operationalisierbar bzw. empirisch erfassbar sind und daher in dieser Forschungsarbeit nicht vertieft werden. Im Zentrum des Resilienzverständnisses in dieser Forschungsarbeit steht die Autonomie der Lebenspraxis. Emmy Werner, Mitbegründerin der Resilienzforschung, betont die Relevanz der Wechselwirkungen zwischen den vorhandenen Schutzfaktoren (bzw. Resilienzfördernissen) und deren konkrete Bedeutung für Resilienz, die beim Individuum, bei der Familie und den relevanten Kontexten wirksam sind. (Werner in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 30) Ich möchte erweitern, dass nicht nur die die Wechselwirkungen der Resilienzfördernisse untereinander, sondern auch die Wechselwirkungen der Resilienzhindernisse untereinander und mit den Resilienzfördernissen die Resilienz eines Individuums bestimmen. Da Resilienz in dieser Forschungsarbeit prozesshaft konzipiert ist, beziehe ich mich abschließend auf folgende Definition von Resilienz: „Resilience, stress resistance or invulnerability refer to processes that operate in the presence of risk to produce outcomes as good or better than those obtained in the absence of risk.“ (Hetherington/Blechman 1996, S. 14) In diesem Sinne sind Langzeitstudien bzw. zeitlich angelegte Rekonstruktionen von biografischen oder sozialen Prozessen sinnvoll für Studien zur Resilienz. Wenn die ForscherInnen weder zeitliche noch ökonomische Ressourcen besitzen oder das Forschungsthema (z. B. bei Foltererlebnissen) nicht dafür geeignet ist, um eine Langzeitstudie durchzuführen, eignen sich, wie auch hier angewandt, biografisch orientierte, rekon-
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struierende Forschungsansätze, um Resilienz im zeitlichen Verlauf vor und nach den Stress erzeugenden Ereignissen zu erfassen. b) Facetten von Resilienz – Stress, Krise, Resilienzfördernis, Resilienzhindernis In diesem Abschnitt werde ich nur die Facetten von Resilienz explizieren, auf die mich in dieser Forschungsarbeit stütze. Der konzeptionelle Ansatz von Resilienz richtet den Fokus statt auf pathologische Befunde oder langfristig wirkende soziale Beschädigungen auf die vielfältigen Möglichkeiten, die individuell gelebten Spielräume, die stabilisierende und Krisen bewältigende Entwicklung eines Menschen oder einer sozialen Gruppe unter widrigen Umständen. Eine notwendige Voraussetzung von Resilienz ist Stress. Erst wenn Stress auf das Leben von Menschen einwirkt, kann Resilienz zum Tragen kommen. Dies ist das Doppelgesicht von Resilienz. Resiliente Menschen können sich nach destabilisierenden, die Autonomie der Lebenspraxis begrenzenden Ereignissen wieder stabilisieren und einen Weg aus dem Chaos, aus der Krise finden. Dabei geht es immer um ein relatives Maß an Stabilität und Autonomie, das nicht absolut oder in Zahlen messbar ist. Resilienz ist nur individuell und kontextuell begreifbar und wie das Level an Auonomie, Stabilität oder Gesundheit aus soziologischer Sicht nicht exakt und quantifizierend definierbar. Die in der Resilienzforschung verbreitete Metapher für Resilienz als Druck auf eine Brücke, die nie bricht (Boss 2006, S. 47-49), möchte ich in Frage stellen. Nach bisherigen Kenntnissen aus der Holocaustüberlebenden- und Folterüberlebendforschung ist davon auszugehen, dass die Brücke bricht. Es bleibt auch im Rahmen dieser Studie zu fragen, wenn die Brücke zerbricht, wie und durch was ein Individuum (oder ein soziales Gefüge) die Krise bewältigen und ob beispielsweise eine neue Brücke erbaut bzw. eine noch vorhandene genutzt werden kann? Die Einbettung der Resilienz in Kontexte wird in der Weise berücksichtigt, dass sowohl die Forschungsfrage relevanten gesellschaftlichen Kontexte (die Lebensbedingungen in den kurdischen Gebieten der Türkei und als Flüchtling in Deutschland) expliziert werden, als auch situational bei den Fallanalysen methodisch die verschiedenen Einflüsse mitformuliert werden. Ein weiteres wesentliches Merkmal von Resilienz, auf das ich mich in dieser Doktorarbeit stütze, ist deren Prozesshaftigkeit (Boss 2006; Hildenbrand 2006). Der resiliente Prozess umfasst stets die Stresseinwirkung und reicht über die Krisenentwicklung bis zur neuen Stabilisierung des Individuums oder der Gruppe. Dieser Prozess beginnt mit der Einwirkung eines oder mehrerer Stressoren, der
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unter dem Einfluss von Resilienzfördernissen und Resilienzhindernissen in eine und schließlich aus einer Krise unterschiedlicher Intensität führt. Unter Krisen verstehe ich Prozesse, die die Stabilität und Autonomie der Lebenspraxis eines Individuums oder eines sozialen Systems beeinträchtigen und in ein mehr oder weniger großes Chaos bzw. in eine Heteronomie der Lebenspraxis führen. Nach Oevermann (2004) sind Krisen konstitutiv für die Lebenspraxis und stellen den Normalfall einer Biografie dar. Sie können erwartbar (z. B. Schuleintritt, Pubertät, Schulende, Hochzeit) oder nicht erwartbar (z. B. Folter, Unfall, Naturkatastrophe) sind. Erwartbare Krisen beginnen in der Kindheit und bilden meistens die Grundlage für die Bewältigung nicht-erwartbarer Krisen, die im biografischen Verlauf später verortet sind (Hildenbrand in: WelterEnderlin/Hildenbrand 2006, S. 24-26). Das hier verwandte Krisenverständnis bewegt sich im Grenzbereich des individuellen und kollektiven Handelns, in dessen Zentrum sich ein zur Kreativität fähiges Individuum befindet. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Transformation angeeigneter Handlungs- und Orientierungsmuster und Habitualisierungen und der Entwicklung neuer Handlungen und Orientierungen im Laufe des Lebens. Während eines Krisenbewältigungsprozesses können entweder Muster oder neu entwickelte Handlungen und Orientierungen zur Stabilisierung des Individuums oder des sozialen Systems führen. Die Quellen und Wege zur Resilienz, die Resilienzfaktoren bzw. Resilienzfördernisse, können je nach Person, biografischer Lebenslage und Stresssituation variieren. Eine Resilienzquelle kann zu einem anderen biografischen Zeitpunkt oder im Zusammenhang mit einer anderen Stresssituation zu einem Risikofaktor/ Resilienzhindernis werden. Ebenso kann ein Resilienzfördernis für einen anderen Menschen im Zusammenhang mit demselben Stressor ein Resilienzhindernis sein. Dieselbe Flexibilität gilt für Resilienzhindernisse. Resilienz muss methodisch einzelfallspezifisch und kontextuell eingebettet analysiert bzw. rekonstruiert werden (Hildenbrand in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 20-27; Walsh 1998, S. 12-13). Unter Resilienzfördernissen verstehe ich Einflüsse auf eine stressreiche Situation eines Menschen oder einer Gruppe, die helfen, den durch Stresseinflüsse ausgelösten Krisenprozess aufzuhalten oder zu bewältigen. Resilienzhindernisse verzögern, erschweren oder vertiefen den begonnenen Krisenprozess. Die Stressoren, die auf ein Individuum oder ein soziales System einwirken, sind im Zusammenhang mit Resilienz ausschließlich die Stressoren, die einen Krisenprozess auslösen oder einen bereits begonnenen verstärken. In der Abgrenzung zum der Resilienz nahen Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1997) fokussiert Resilienz folgendes: Salutogenese befasst sich wie die
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Stress-Coping-Forschung (Hobfall/Buchwald 2004; Lazarus/ Folkman 1984) mit der Entwicklung und Erhaltung von Gesundheit bzw. Krankheit. Die Begrenzung auf diese Krisenverläufe des Krank- und Gesundwerdens bzw. die Frage nach den Möglichkeiten der Gesunderhaltung sind zu beengend für das Resilienz-Konzept. Resilienz ist auch bei Krisenverläufen mit anderem Inhalt unabhängig von Krankheit und Gesundheit vorhanden und wird in dieser Arbeit als Autonomie der Lebenspraxis bzw. Stabilität verstanden.
2. AKTUELLER F ORSCHUNGSSTAND – S TUDIEN UND M ODELLE Die Resilienzforschung hat in den letzten Jahren erheblich an Popularität gewonnen. Diese Entwicklung ist einerseits aus einer Perspektivverschiebung vom Opfer zum immer noch handlungsautonomen Menschen mit Krisenerfahrungen und andererseits aufgrund der Erweiterung und Verbreitung des Personenkreises, die als traumatisiert gelten dürfen (Zinnecker in: Fooken-Zinnecker 2007, S. 197-210), zu erklären. Diese Zunahme der Gruppe an potentiell traumatisierten Opfern gründet sich auf der Annahme einer zunehmenden Vulnerabilität der Menschen in den letzten Jahrzehnten. Diese zunehmende Vulnerabilität ist laut Zinnecker die Geburtsstunde der medizinisch-psychologischen und politischgesellschaftlichen Resilienzmodelle. Die Relevanz der Tatsache, dass viele der „Opfer“ sich eben nicht vorrangig als „Opfer“ definieren oder definieren lassen wollen, bleibt gegenüber der Kritik Zinneckers an der Resilienzforschung bestehen und stärkt den Forschungszweig über Resilienz. Gerade die Resilienzforschung verschiebt den Fokus vom Opferstatus auf den gesamten Menschen mit seinen Potentialen und kann gleichzeitig individuelles Leiden berücksichtigen und Kritik an den „widrigen Umständen“ formulieren. Der Resilienz-Begriff ist im deutschen Sprachschatz nicht verwurzelt und hat im Deutschen somit keine eigene konnotative Bedeutung. Diese Tatsache wird durch Karin und Klaus Grossmann als Problem eines ungenauen Begriffs ohne eigene Konnotation bewertet (Grossmann/Grossmann 2007, S. 30-31). Genauso kann diese Ausgangssituation, so wie ich sie einschätze, als der Vorteil eines relativ offenen Begriffs, der zu entwickeln ist, interpretiert werden. Diese bisherige große Offenheit des Resilienzbegriffs konkreter zu fassen und theoretische Ansätze von Resilienz zu entwickeln, ist die sich stellende Aufgabe für die Resilienzforschung, der auch diese Doktorarbeit nachgeht. Die Entwicklung des Resilienzkonzepts in der Wissenschaft ist noch relativ jung. Die anfänglichen Bedeutungen von Resilienz wurden von einigen Resi-
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lienzforscherInnen kritisiert und die Grenzen derart angelegter Konzeptionierungen aufgezeigt (Boss 2006; Grossmann/Grossmann 2007; Hildenbrand in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 20-27, S. 205-229). Resilienz kann laut Karin und Klaus Grossmann beispielsweise nicht meinen, dass Menschen, die teils schwere Krisen durchlebt haben, sich von diesen Erfahrungen rasch wieder erholen oder elastisch, „als wäre nichts gewesen“, auf ein davor liegendes Wohlbefinden oder ein noch höheres Level an Wohlbefinden zu gelangen. Dieses in den Anfängen der Resilienzforschung verbreitete Verständnis von Resilienz ist reduktionistisch und impliziert weder eine soziologische noch eine psychologische Erklärung des Phänomens (Grossmann/Grossmann 2007, S. 29-30). Ebenfalls kritisieren möchte ich eine normativ angelegte „Resilienz“, die verallgemeinernd durch ausschließlich objektive Daten wie Berufstätigkeit oder das Fehlen von pathologischen Diagnosen festlegt, ob ein Mensch resilient ist oder nicht. Da die jeweilige konkrete Ausformung von Resilienz insbesondere vom Geschlecht (Conger/Elder 1994; Hepp in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006), von der kulturellen bzw. ethnischen Zugehörigkeit (Reis in: Fooken/Zinnecker 2007; Zinnecker in: Fooken/Zinnecker 2007) und der jeweiligen biografischen Entwicklung abhängt, bestimmen diese Aspekte die Resilienz eines Individuums bzw. einer sozialen Gruppe. Resilienz, in einem normativen Sinne zu verwenden, bedeutet, dass die von außen (meist von der forschenden Person) gesetzte Norm von „gelungener“ und „nicht-gelungener“ Bewältigung weder den individuellen Besonderheiten der Bewältigung noch der Reflexionsebene über die kultur- und historischbedingte Setzung gerecht werden kann. Resilienz muss stets die Perspektive der Menschen oder eines sozialen Systems, um die oder das es geht, einbeziehen und kann beim gegenwärtig geringen Forschungsstand am Besten rekonstruktiv durch die Einzelfallanalyse bestimmt werden. Die Quellen, aber auch die Hindernisse von Resilienz können aus verschiedenen inter- und intraindividuellen Bereichen beispielsweise aus der eigenen biografischen Geschichte, aus Persönlichkeitsmerkmalen, der Familie, der Nachbarschaft oder der Arbeitswelt stammen. (Welter-Enderlin in: WelterEnderlin/Hildenbrand 2006, S. 14f) Diese Faktoren stehen laut Cornelia von Hagen und Gisela Röper in Wechselwirkungen zueinander und entfalten möglicherweise nur in einer konkreten Stresssituation ihre Wirkung (Von Hagen/ Röper in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 17-19). Bisherige Forschungsarbeiten zu Resilienz fokussieren inhaltlich Resilienzaspekte von Menschen, die während ihrer Kindheit und Jugend langfristig unter widrigen Umständen aufgewachsen sind (Fooken/Zinnecker 2007; Walsh 1998; Werner 1977). Aber auch Stressoren, die langandauernd oder von kurzer Dauer
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und dennoch weit reichende Folgen haben, als auch Resilienz bei Krisenerlebnissen im Erwachsenenalter sind aus meiner Perspektive von Interesse für die Resilienzforschung. Resilienz sollte hinsichtlich dieser Kriterien erweitert und theoretisch spezifiziert werden. Resilienz von erwachsenen Menschen, Resilienz im Zusammenhang mit Folter, Verfolgung und Flucht ist bisher sehr selten in den Fokus der Resilienzforschung gerückt. Bei der Weiterentwicklung des Resilienzkonzepts in den letzten Jahren sind vor allem Veröffentlichungen aus dem englischsprachigen Raum zu nennen, wie die von Pauline Boss (1987, 2006), Froma Walsh (1998) oder Emmy Werner (1977). In der deutschsprachigen Literatur wird das Thema „Resilienz“ inzwischen auch in Monographien bearbeitet. Hier sind die Veröffentlichungen von Rosemarie Welter-Enderlin und Bruno Hildenbrand (2006), Insa Fooken und Jürgen Zinnecker (2007) besonders hervorzuheben. Resilienz gewann in den letzten Jahren nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in populärwissenschaftlichen Arbeiten an Bedeutung und Quantität. Die Wissenschaft sollte sich zur Aufgabe machen, die Weiterentwicklung jenes Resilienzbegriffs kritisch zu begleiten, die ein Individuum konstruiert, dem es in allen Lebenssituationen möglich ist, das Beste aus seinem Leben zu machen und dem das Recht auf sein Schwachsein, des im Chaos Versinkens und des Destruktivseins aberkannt wird. Eine wissenschaftliche Konzentration auf durch und durch resiliente Lichtgestalten sollte nicht dazu führen, die Forschung über die dauerhaft Krisengeschüttelten, die „VerliererInnen“ einer Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren. Ebenso sollte die Resilienzforschung, wie ich sie auch in dieser Arbeit verstehe, stets die ungünstigen Lebensbedingungen, die widrigen Umstände nicht nur mitformulieren und in die wissenschaftliche Analyse einfließen lassen (Hildenbrand in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 21-23), sondern ihnen gegenüber eine eindeutige Position einnehmen. Angesichts der widrigen Umstände wie alkoholkranke Eltern, Kriegsgeschehnisse, familiäre Gewalt, Verfolgung oder Folter ist eine explizite Kritik und eindeutige Positionierung der WissenschaftlerInnen gegenüber diesen Kontexten unerlässlich. Letztlich sollte auch wissenschaftlich durch die Analyse und das Öffentlichmachen alles versucht werden, diese widrigen Umstände langfristig zu beseitigen. a) Psychologische Resilienzforschung Das Resilienzkonzept ist in der Psychologie entwickelt worden und in diesem Wissenschaftszweig am stärksten vertreten. In einem Teilbereich der Psychologie und in einigen therapeutischen Ansätzen werden Ressourcen, Potentiale und Bewältigungsmechanismen von krisenerfahrenen Menschen thematisiert. Im
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Rahmen einer veränderten Ausrichtung der Psychologie und der Psychotherapie haben Neuerungen und Erweiterungen in der Resilienz- und in der Traumaforschung stattgefunden (Boss 2006; Fooken/Zinnecker 2007; Helmreich 1992; Moskovitz 1983; Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006). Wissenschaftshistorisch wurde der Kompetenzbegriff durch den Resilienzbegriff abgelöst (Masten 2001; Boss 2006, S. 51-52). Erste Forschungen zur Resilienz wurden von Emmy Werner (1977) über die Entwicklung von Kindern aus Kauai, die in Armut und unter widrigen Umständen aufwuchsen, und die teilweise als Erwachsene ein psychosozial stabiles Leben führten, durchgeführt. In dieser Studie wurde ein hoher Sinn für Kohärenz, der Glauben, Hindernisse überwinden zu können und die Überzeugung, das eigene Schicksal kontrollieren zu können, als Resilienzfaktoren erforscht. Weitere Pioniere der Resilienzforschung Norman Garmezy und Michael Rutter (1983) untersuchten Kinder aus risikoreichen Familien und legten dabei den Fokus auf deren Kompetenzen. In einer Studie von Walsh über Stress und dessen Bewältigung wurde erarbeitet, dass Personen mit „kühnen Persönlichkeiten“ resilienter sind. Sie vereint der Glaube, dass sie Geschehnisse ihrer Erfahrungswelt kontrollieren oder beeinflussen können, die Fähigkeit, sich tief verbunden zu den Aktivitäten ihres Lebens zu fühlen und Veränderungen als interessante Aufgabe für ihre weitere Entwicklung zu betrachten. (Walsh 1998, S. 9-11) Die Bedeutung von sozialer Unterstützung in Krisenzeiten ist in verschiedenen Studien belegt. Ein psychologischer Ansatz der Resilienz, der z. B. von Grossmann und Grossmann vertreten wird, ist ein bindungstheoretischer. Dieser besagt, dass konstruktives, resilientes Verhalten auf psychischer Sicherheit basiere, die wiederum durch eine feinfühlige Responsivität der frühen Bindungspersonen wie zum Vater oder zur Mutter entsteht. Im Idealfall kann sich eine komplexe Übereinstimmung von innerer Kohärenz und äußerer Korrespondenz der Wirklichkeit als persönlich relevanter Aspekt der Realität entwickeln. Zentral ist dabei die Möglichkeit, komplexe Wirklichkeiten sprachlich verfügbar zu machen, um eine eigene Autonomie zu entwickeln. (Grossmann/Grossmann 2007, S. 135-136; Whitbeck/ Lorenz/ Simons/ Huck in: Conger/Elder 1994, S. 149) Dieser Aspekt korrespondiert mit dem Unterkapitel über die Erzählbarkeit von Foltererlebnissen im Kapitel über „Folter“. Resilienz kann abschließend analog dem Coping, den Stressbewältigungen, „das Bemühen (sein), … mit belastenden Anforderungen umzugehen, egal, was dabei rauskommt. … Viele streßerzeugende Situationen können nicht gemeistert werden, und ein effektives coping unter diesen Bedingungen bedeutet, daß die Person dazu in der Lage ist, das zu ertragen, zu minimieren, zu akzeptieren, oder
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zu ignorieren, was nicht gemeistert werden kann.“ (Lazarus/Fokman 1984, S. 140) b) Soziologische Resilienzforschung Aaron Antonovsky (1997) gilt als Vorläufer des Resilienzkonzepts in der Soziologie. Als Medizinsoziologe erforschte er im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit den „sense of coherence“. Dieses Kohärenzgefühl meint, dass eine Person, die ihre Welt als handhabbar und verstehbar wahrnimmt, besser mit ihrer Krankheit umgehen kann. Das bedeutet auch, dass eine Krankheit, wenn sie nicht heilbar ist, akzeptiert wird. Die Zuschreibung eines Sinns für das Erleben des Stresses oder einer Krise, bei Antonovsky einer Krankheit, für den es sich anzustrengen lohnt, ist Teil des Kohärenzgefühls. Das Kohärenzgefühl entscheidet, wie eine Person mit einer Krankheit bzw. Stress oder einer Krise umgeht. Zur Resilienz gehört also auch, mit Schmerz verbundene Gefühle und Empfindungen wie Trauer, Angst und Wut zu akzeptieren und mit ihnen umgehen zu können. Boss führt das Beispiel einer Geschäftsführerin aus den USA an, die aufgrund der sie umgebenden gesellschaftlichen Norm der Leistungsorientierung und Kontrolliertheit erst lernen musste, dass ein Gefühl der tiefen Trauer nach dem Tod ihrer Mutter normal ist. Die Trauerarbeit und die Entwicklung des Kohärenzgefühls, dass ihre Trauer einen Sinn hat und der Tod der Mutter von ihr akzeptiert werden muss, ermöglichten ihr schließlich die Entwicklung einer tieferen Verbundenheit zu ihrem Ehemann und ihren Geschwistern. (Boss in: Hildenbrand 2006, S. 68-70) In Beziehungen zeigt sich laut Walsh (1998) Resilienz darin, dass langfristig eine Verbindung zu anderen Menschen und einer Gemeinschaft, etwa der Familie oder FreundInnen besteht und diese freudvoll gestaltet werden kann. Es gibt eine kritisch zu betrachtende Resilienzforschung, die betont, dass auch TäterInnen Opfer sind. Das ist in vielen Fällen richtig. An diese Erkenntnis schloss sich allerdings laut Zinnecker die einseitige Erforschung der Traumatisierungen der TäterInnen, z. B. von SoldatInnen, an. Es ist bei solchen Forschungsarbeiten von großer Bedeutung, dass die Verantwortung der TäterInnen am Leiden anderer unmissverständlich mitformuliert wird. Bei der Konzentration auf die Erforschung der Traumatisierungen von TäterInnen wurde zudem oft die Erforschung der Kriegs- oder Gewaltfolgen auf die zivilen Opfer vernachlässigt. (Zinnecker in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 201-202) Eine solche Haltung und Fokussierung der Wissenschaft ist meist in „TäterInnengesellschaften“ verbreitet. Dies kann ein Erklärungsmoment sein, warum nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland Folteropfer oder andere Opfer von Gewalt kaum eine adäquate Beachtung finden.
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Ein soziologisches Resilienzkonzept zu entwickeln, ist auch deswegen unerlässlich, da jedes Individuum von sozialen Kontexten beeinflusst wird und während seines gesamten Lebens (auch im Umgang mit Krisen) unter den Einflüssen der jeweils relevanten kontextuellen Faktoren, der „conditional matrix“ (Strauss 1991a), steht. Während der Sozialisation entwickeln sich ein inneres Bild von Familie und Gesellschaft, Werte, Normen und Habitualisierungen. Diese wechselseitige Beziehung von Individuum und sozialem Kontext ist nach Hildenbrand ein wesentliches konstitutives Merkmal soziologischer Resilienzforschung. Wenn die engen Sozialbeziehungen wie die in der Herkunftsfamilie günstig waren, wirkt sich dies meist günstig auf die individuelle Resilienz aus. In einer Art „Wendeltreppe“ stehen individuelle Dispositionen und günstige Umwelten in Interaktion und entwickeln Resilienz (Hildenbrand in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 20-24). b.1) Familienresilienz Die Familien-Resilienz wurde von Dale Hawley und Laura DeHaan begründet (Hawley/DeHaan 1996) und bisher vor allem in us-amerikanischen Forschungsarbeiten thematisiert. Familienresilienz ist aus der Bewältigung und Prävention von Familienstress entstanden. Angesichts von Stresssituationen reagieren Familien verschieden auf diese. Diese familienbezogenen Unterschiede sind Teil der Erforschung von Familienresilienz. Es geht in diesem Forschungszweig einerseits um die spezifische Resilienz des familiären Systems, wenn dieses widrigen Umständen ausgesetzt ist und andererseits um die Rolle der Familie als Resilienzfördernis oder Resilienzhindernis bei der individuellen Bewältigung von widrigen Lebensumständen. Konkrete bereits erforschte familiäre Resilienzfaktoren können bestimmte Glaubenssysteme, spezifische organisatorische Aspekte der Familie, eine ähnliche Perspektive der Familienmitglieder auf den jeweiligen Stress und fördernde Kommunikationsprozesse sein (Boss 2006, S. 49-50; Walsh 1998). Schlüsselmomente der Resilienz, die die familialen Glaubenssysteme fördern, sind bei Walsh beispielsweise Sinngebung in Bezug auf die Widrigkeiten oder generell positive Perspektiven auf das Leben. Organisatorische Resilienzaspekte können Flexibilität, Verbundenheit und ökonomische Ressourcen sein. Resilienz zeigt sich in ihrer Studie vor allem bei den Familien, in denen Nähe und Distanz der einzelnen Familienmitglieder zueinander ausgewogen sind. Diese Ausgewogenheit kann in Abhängigkeit der kulturellen Zugehörigkeit sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen (Walsh 1998, S. 79-89). Des Weiteren sind in einer anderen Studie von Conger und Elder innerfamiliäre Mechanismen und Faktoren erforscht worden, die einzelne Familienmit-
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glieder in Zeiten wirtschaftlicher Depression besser mit dieser krisenhaften Situation umgehen ließen. Das Modell zeigt, dass akute (kurzfristige, aber intensive) und chronische (lang andauernde) Stressfaktoren einen Einfluss auf die individuelle Resilienz haben. (Conger/Elder in: Conger/Elder 1994, S. 259-262). Daran anschließend lässt sich für meine Forschungsarbeit bestätigen, dass sowohl die akute Folter als auch die chronische Verfolgung relevant sind für die Resilienzforschung. Als Ergebnis einer weiteren Studie (DeMarco/Ford-Gilboe/Friedemann/ McCubbin/McCubbin in: Rice 2005, S. 343) wurde ein familienorientiertes Stress-Modell entwickelt. Dieses hat folgende Ergebnisse hervorgebracht: 1. In denselben belastenden Situationen zeigen Familien unterschiedliche Reaktionsmuster. 2. Familien, die schnell Ressourcen aktivieren, bewältigen Stress meist besser als Familien, die erst abwarten. 3. Das emotionale Subsystem kann sich unter Stress verbessern, da Kohäsion, Zusammenhalt und die Bindung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern gestärkt werden kann. 4. Wenn die Familie sich auf die Veränderungen in ihren emotionalen Subsystemen konzentriert, bewältigt sie Stress besser. 5. Bestimmte Bewältigungsstrategien sind generell besser bzw. schlechter, dennoch hängt es immer vom Kontext ab, wohin sie führen. 6. Es existieren einige allgemeine Unterschiede in der Stressbewältigung zwischen Männern und Frauen. Diese Ergebnisse bestätigen zum einen die Variabilität von Resilienz, andererseits gibt es Generalisierbarkeiten von besseren und schlechteren Bewältigungsstrategien, die erst im Laufe vieler künftiger Forschungen über Resilienz erforschbar sind. Familiäre Resilienz wird in dieser Forschungsarbeit einerseits durch die Genogrammanalysen familienhistorisch fokussiert und andererseits im Rahmen der biografisch orientierten Interviews eine Rolle spielen. Da die Familie in der kurdischen Kultur ein noch entscheidender sozialisatorischer und kontextueller Faktor im Umgang mit Krisen und Stress ist, spiegelt sich dies in der Datenerhebung und der Auswertung wider. c) Resilienz-Modelle In diesem Abschnitt werden abstrakte, konzeptionelle Ansätze von Resilienz kurz vorgestellt und deren aus theoretischen Überlegungen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen Weiterentwicklungen erläutert.
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c.1) Modell des zeitlichen Verlaufs von Resilienz (MzVR) – Weiterentwicklung des „Resiliency Model of Family Stress, Adjustment and Adaption“ und des „Konzepts von Wandel“ Abbildung 1: Modell des zeitlichen Verlaufs von Resilienz
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Das bereits durch theoretische Vorüberlegungen entwickelte MzVR stellt die Entstehung, Entwicklung oder Verhinderung eines Krisenverlaufs mit dessen Bewältigungsmöglichkei-ten dar. Die Grundlagen zur Weiterentwicklung sind die prozesshaft orientierten „Resiliency Model of Family Stress, Adjustment and Adaption“ (RMFSAA) nach Hamilton und Marilyn McCubbin (McCubbin/McCubbin 1993; McCubbin/McCubbin 1996) und das „Konzept von Wandel“, das auf der Grundlage des „Normal Disruption Reintegration Cycle“ von Frederic Flach (1988, S. 14), das durch Hildenbrand (2011, S. 5) weiterentwickelt wurde. Den Beginn des Modells markiert das Einwirken eines oder mehrerer Stressors/en, der/die auf ein (mehr oder weniger stabiles) Gleichgewicht eines Individuums bzw. eines sozialen Systems wirkt/wirken. Der Stressor oder die Stressoren können unterschiedlich lang einwirken oder intensiv sein. Dies zeigen auch die empirischen Analysen. Ebenso können Stressoren interagieren (sich verstärken oder verringern). Weder beim RMFSAA noch beim „Konzept von Wandel“ ist die Möglichkeit entworfen worden, dass gleichzeitig mehrere Stressoren, die miteinander in Beziehung stehen, auf ein Individuum oder soziales System einwirken können. Diese konzeptionelle Leerstelle kann ich bereits an dieser Stelle durch theoretische Überlegungen schließen und später in dieser Studie empirisch begründen. Das Einwirken von einem Stressor oder mehrerer Stressoren führt zu einer ersten Destabilisierung des Gleichgewichts bzw. der Autonomie der Lebenspraxis und zu einem Streben nach Gleichgewicht bzw. dem Wiedererlangen einer größeren Autonomie der Lebenspraxis. Bei Resilienz geht es aus der Perspektive eines Krisenbewältigungsmodells einerseits um das „Gleichgewicht“ eines Individuums bzw. sozialen Systems und andererseits aus der Perspektive des betroffenen Individuums um die Autonomie seiner Lebenspraxis. Dass diese ein Gradmesser für Resilienz ist, werde ich weiter unten in der empirischen Analyse zeigen. Diese Autonomie bzw. das Gleichgewicht zeigt sich nicht nur in objektiven Daten wie in familiären Verhältnissen, der Berufswahl oder Kinderzahl, sondern auch und vor allem in den subjektiven Deutungen und dem individuellen Umgang mit diesen objektiven Gegebenheiten. Dieses Zusammenspiel ergibt die jeweilige Resilienz. Sowohl das Gleichgewicht als auch die Autonomie der Lebenspraxis sind Gradmesser für Resilienz. Das ins Wanken geratene Gleichgewicht kann entweder mit Hilfe von Resilienzfördernissen, die unter der Erschwernis von Resilienzhindernissen ein Chaos, eine größere Krise, verhindern. Diese Phase wurde beim RMFSAA als „Adjustierung“ berücksichtigt, nicht aber beim „Modell von Wandel“ ausdifferenziert.
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Falls eine zügige Restabilisierung nicht vollzogen werden kann, kommt unter dem Einfluss interagierender Resilienzfördernisse und Resilienzhindernisse die Phase des Chaos, der Destabilisierung und der Heteronomie der Lebenspraxis. Die Heteronomie der Lebenspraxis kann bis zur Destabilisierung von „Ego“ reichen. Daher kann ich auch empirisch begründen, dass die in der Resilienzforschung verbreitete Metapher zur Resilienz einer Brücke, die nie bricht (Boss 2006, S. 47-49), verworfen werden. Die manifeste Krise wird beim RMFSAA und dem „Konzept von Wandel“ gleichermaßen berücksichtigt. Nach der Phase des Zusammenbruchs und des Chaos folgen unter dem Einfluss der relevanten und interagierenden Resilienzfördernisse und -hindernisse die Entwicklung neuer (Muster von) Handlungen bzw. Orientierungen. Diese bezeichne ich als „neu“, da auch alte relevante Handlungsmuster im Zusammenhang mit einer tiefen Krise in einem anderen biografischen Kontext erscheinen und eine gewisse Transformation erfahren. Dieser Schritt ist beim RMFSAA nicht vorhanden. Diese explizite Weiterentwicklung von Handlungen und Orientierungen wurde nicht berücksichtigt. Beim „Konzept von Wandel“ sind die Einflüsse von Resilienzhindernissen nicht berücksichtigt und die „Resilienz“ folgt erst nach dem Chaos bzw. der Krise. Es ist aber theoretisch vorstellbar, dass Resilienzhindernisse und Resilienzfördernisse bereits während und kurz nach der Einwirkung des/ Stressors/en von Bedeutung sind. Die Ebene der Handlungen und Orientierungen sind im „Konzept von Wandel“ nicht explizit formuliert, so dass unklar bleibt, welche und ob sie eine Rolle in diesem Konzept spielen. Die weitere Entwicklung des Krisenbewältigungsverlaufs kann in zwei Richtungen gehen. Entweder die „neuen“ Handlungen und Orientierungen wirken unter dem Einfluss der relevanten Resilienzhindernisse und -fördernisse derart, dass kurzfristig das Individuum bzw. soziale System stabilisiert werden und einen Teil seiner Autonomie wiedererlangen kann. Oder die (Muster der) neu entwickelten Handlungen und Orientierungen können kurzfristig keine Stabilisierung erreichen und führen erneut in eine Krise. Dieser Schritt im Krisenverlauf des MzVR ähnelt dem Schritt von der Krise, dem Ungleichgewicht in ein neues Gleichgewicht bzw. in eine weitere Krise des RMFSAA. Es fehlt im RMFSAA der empirisch nachgewiesene Schritt der Entwicklung neuer Handlungen und Orientierungen hin zur Reintegration dieser mit alten Handlungen und Orientierungen. Dieses werde ich in dieser Forschungsarbeit weiter unten liefern. Die darauf folgende Phase der „Reintegration“ neuer und alter (Muster von) Handlungen und Orientierungen folgt unter dem Einfluss der relevanten Resilienzhindernisse und Resilienzfördernisse. Die weitere Entwicklung kann in Richtung neues Gleichgewicht gehen oder nach einer Phase der Stabilität zurück
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ins Chaos führen. Dieser Krisenbewältigungsschritt fehlt dem RMFSAA. Hier ist eine Leerstelle des RMFSAA. Das „Konzept von Wandel“ benennt diesen Schritt der „Reintegration“. Wie auch bei dem vorigen Krisenbewältigungsschritt fehlen diesem Konzept die Formulierung der Einflüsse von Resilienzhindernissen und Resilienzfördernissen sowie die explizite Möglichkeit auf lange Sicht, erneut in ein Chaos zu gelangen. Am Ende eines resilienten Krisenbewältigungsprozesses steht ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes neues Gleichgewicht des Individuums bzw. des sozialen Systems. Die Formulierung „mehr oder weniger stark ausgeprägtes“ Gleichgewicht bzw. Autonomie der Lebenspraxis entwickelte ich für das MzVR, da ich nach den bisher vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen annehme, dass nach Folterungen ein Zurückkehren auf dasselbe oder ein höher liegendes Gleichgewichts- oder Autonomieniveau wie vor der Folter nicht gegeben ist. Das Innerste wird durch die Folter (langfristig) erschüttert. Das Verständnis von Resilienz ist im forschungsthematischen Zusammenhang dieser Studie als fragile Autonomie angelegt. Der gesamte Resilienzablauf des Einwirkens eines oder mehrerer Stressors/en, die Krisenentstehung, der Krisenverhinderung und -bewältigung, die möglichen neuen Einbrüche und Rückfälle ins Chaos, in die Heteronomie der Lebenspraxis während der Krisenbewältigungsschritte sind bei allen Situationen, die die Autonomie der Lebenspraxis kurz- oder langfristig einschränken, zu finden. c.2) Modell der situativen Resilienz im Kontext (MsRK) Weiterentwicklung des „Contextual Model of Family Stress“ und der „Konditionellen Matrix“ Aufgrund von bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vorüberlegungen entwickelte ich das „Contextual Model of Family Stress“ CMFS (Boss 1987) unter Berücksichtigung der „Konditionellen Matrix“ (Corbin/Strauss 2008; Strauss 1991a) wie folgt weiter:
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Abbildung 2: Modell der situativen Resilienz im Kontext
Der Kern des Konzepts besteht nicht mehr wie beim CMFS aus dem ABCXModell nach Hill (1958). Der Mittelpunkt des „Modells der situativen Resilienz im Kontext“ (MsRK), das zeitlich begrenzte, momenthafte Ausschnitte eines Krisenverlaufs und dessen Bewältigung bzw. Verhinderung darstellt, ist „Ego“. Mit „Ego“ meine ich das „Ich“ eines Menschen. Das „Ich“ beinhaltet ein Bewusstsein über sich selbst. Es ist vergleichbar mit dem „I“ und „Me“ von George Herbert Mead (1973), das im „I“ einerseits spontan und kreativ Handlungsimpulse entwickelt und diese reflexiv und das Gegenüber antizipierend im „Me“ kontrolliert in Handlungen umsetzt. Wie ich im Kapitel über „Folter“ und in den Fallanalysen zeigen werde, kann dieses „Ich'“, dieses Zentrum jedes Individuums, die die Basis des Sozialen darstellt, die Interaktionsmöglichkeit, nicht während der gesamten Folter aufrechterhalten. Die (kurzzeitige) Auflösung des
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„Ich“ im Schmerz und das damit einhergehende Verschwinden des Gegenüber, der Welt, in der eigenen absoluten Ohnmacht ist konstitutiv für die Folter. Aus diesen Erkenntnissen heraus entschied ich, dass „Ego“ das Zentrum des kontextuell eingebundenen situationsbezogenen theoretischen Modells von Resilienz wurde. Das Zentrum des CMFS, das ABCX-Konzept, wird in anderer Weise Teil des MsRK. Die relevanten Stressoren, die Resilienzfördernisse, zu denen auch die subjektive Sinnzuscheibung des Stressors bzw. der Krise zählt, und Resilienzhindernisse wirken auf und in die verschiedenen Ebenen der Zwiebelschalen. Sie werden mit ihrer jeweiligen Wirkrichtung und ihrem Entstehungsort durch „Wirkfaktoren“ innerhalb des Modells für die jeweilige Situation visualisiert und verortet (siehe Kapitel VI „Legende“). Die Intensität der Krise zeigt sich in den konkreten Verlaufskurven der Biografien im Schlusskapitel in der Höhe bzw. Tiefe der „Lebenslinie“. Das Zentrum der „Konditionellen Matrix“ (Corbin/Strauss 2008; Strauss 1991a) stellt das auf das jeweilige Forschungsthema bezogene Handeln eines Individuums oder eines sozialen Systems dar. Das auf die Forschungsfrage dieser Dissertation bezogene Handeln fließt in alle Ebenen des kontextuellen Modells der situativen Resilienz ein. Das Handeln ist auf allen Ebenen des Modells zu finden. Handeln und Orientieren durchdringen das Modell auf allen Ebenen und zeigen und formieren sich in Stressoren, Resilienzfördernissen und Resilienzhindernissen. Beim Modell der „Konditionellen Matrix“ ist das auf das Forschungsthema bezogene interaktionelle Handeln von der relevanten sozialen Gruppe und vom Gemeinwesen, der Nation und dem internationalen Kontext umschlossen. Das Verhältnis von Struktur/ gesellschaftlicher Ebene und individuellem Handeln/Interagieren konzipiere ich anders. Interaktionen finden auf allen kontextuellen Ebenen statt. Das Ordnungssystem der relevanten Kontexte der Resilienz folgt anderen Logiken. Wesentlich erscheint mir, ein Kontextmodell von Resilienz weiter zu entwickeln, das die Themen, die Inhalte der Resilienz am geeignetsten inkludiert. Dieser Idee bin ich bei der Entwicklung des MsRK gefolgt. Die erste, das „Ego“ umschließende, Zwiebelschale des MsRK ist der „psychische Kontext“. Dieser umfasst in dieser Arbeit hauptsächlich Emotionen, Gefühle, das Selbstverhältnis, enge Bindungen und frühe Prägungen eines Individuums oder eines sozialen Systems. Die Kontexte „Gemeinwesen“, „Nation“ und „Internationaler Kontext“ der „Konditionellen Matrix“ finden sich im MsRK vor allem auf der strukturellen Ebene in Form von Rollen/Identitäten (als verfolgte „Kurdin“ oder als „rechtlich nicht anerkannter Flüchtling“), auf der sozialen Ebene (als Beziehungen zu Per-
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sonen des Gemeinwesens) und im externen Kontext wieder. In dem MsRK zeigen sich diese heteronomen Lebensbedingungen näher an „Ego“ auf der strukturellen, der sozialen Ebene und im externen Kontext. Die erste Zwiebelschale des CMFS beinhaltet „interne“ Kontextfaktoren wie Psyche, Geist und Struktur. Damit meint Boss subjektiv wahrgenommene und mit subjektiver Bedeutung erfüllte Aspekte. Sie fasst in einem Kontext verschiedene Ebenen des kontextuellen Eingebundenseins eines Menschen zusammen. Da die in dieser Forschungsarbeit relevanten Kontexte weiter differenzierbar sind, habe ich mehr Kontexte um „Ego“ zentriert als das CMFS. Die Psyche beinhaltet in diesem Modell vor allem die Persönlichkeit des Individuums bzw. der Individuen. Der Geist meint bei Boss Intellektuelles und auf Werte bezogene und spirituelle Elemente eines Individuums. Diese bestimmen ebenfalls die Resilienz. Mit „Struktur“ meint sie Rollen und Muster eines Individuums oder eines sozialen Systems. Der zusammengefasste „interne Kontext“ des CMFS kann wie folgt ausdifferenziert werden: Ich unterteile im MsRK in eine psychische, die geistige, strukturelle und die soziale Ebene. Die psychische Ebene wurde bereits beschrieben. Die geistige Kontext beinhaltet im MsRK Überzeugungen, Werte, Moralvorstellungen und spirituelle Glaubensüberzeugungen eines Individuums oder sozialen Systems. Aus der Resilienzforschung ist bekannt, dass insbesondere der Glaube und politische Aktivitäten mit den entsprechenden ideologischen Überzeugungen Resilienzfördernisse sein können. Daher wurde ein „geistiges Level“ eingeführt. Das „geistige Level“ umfasst in dieser Studie neben spirituellen Überzeugungen, Glaubenssystemen und Ideologien auch Sinnzuschreibungen und Normen/Bewertungen, die Resilienz befördern, behindern oder Stress auslösen können. Das geistige Level wird von dem strukturellen Kontext umschlossen. Dieser ist der „Struktur“ beim CMFS inhaltlich ähnlich. Es handelt sich in erster Linie um Rollen und Rollenwechsel. Die Rollen von Migrantinnen sind aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vielfältig und in der Regel einem Wandel unterworfen. Dieses Kontextlevel ist insbesondere im Zusammenhang mit der Fluchtmigration von Relevanz zur Beantwortung der Forschungsfrage. Die äußere Zwiebelschale ist der soziale Kontext. In ihm werden soziale Beziehungen subsumiert. Im Kontext dieser Forschungsarbeit sind, wie sich in den Genogramm- und Interviewanalysen zeigen wird, die Beziehungen zur Herkunftsfamilie und die Ehebeziehung von besonderer Bedeutung und Tragweite als Resilienzfördernisse, Resilienzhindernisse und als Stressoren.
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Das Zwiebelschalenmodell wird vom externen Kontext umrahmt, der individuell kaum oder sehr schwer veränderbare Aspekte gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (als Kurdin in der Türkei, als Flüchtling in Deutschland) beinhaltet. Diese Rahmungen nehmen Einfluss auf jedes Leben und können, wie auch in dieser Studie deutlich werden wird, ganze Biografien und Einzelschicksale bestimmen. Durch die Einführung von „Wirkfaktoren“ beim MsRK kann gezeigt werden, dass z.B. vom externen Kontext auf alle Zwiebelschalen Einfluss genommen werden kann. Es können von allen Ebenen auf alle Ebenen (gegenseitige) Einwirkungen stattfinden. Die Wirkfaktoren beeinflussen von einer Ebene eine andere. Sie können im Laufe der Zeit oder gleichzeitig von der einen Wirkrichtung in die andere Wirkrichtung wechseln oder sich gegenseitig beeinflussen. Die Zwiebelschalen sind so aufgebaut, dass im Zentrum mit „Ego“ das Innerste eines Individuums (oder sozialen Systems) steht. Je näher die Zwiebelschalen oder die Wirkpfeile diesem Zentrum kommen, desto weit reichender und tiefer ist das Individuum (oder soziale System) betroffen. Der psychische, geistige und strukturelle Kontext sind intraindividuell konzipiert und werden vom Individuum her gedacht. Alle Ebenen des Intraindividuellen sind vergesellschaftet, durch die Sozialisation geformt worden und daher auch von soziologischem Interesse. Auch die intraindividuellen Resilienzfördernisse, Resilienzhindernisse oder Stressoren aller Kontextlevel zeigen sich erst im (sprachlichen) Handeln oder in der Interaktion. Das Handeln und die Art der Interaktionen lassen Rückschlüsse auf die Inkorporationen, die den verschiedenen Kontextlevel zugeordnet werden können, zu. Der soziale Kontext umfasst die interindividuellen Beziehungen zu anderen Individuen oder sozialen Systemen. Der externe Kontext stellt den großen Rahmen für das gesamte Zwiebelschalenmodell. Die beiden großen externen Rahmungen, die in dieser Forschungsarbeit relevant sind, werden im empirischen Teil den Fallanalysen vorangestellt, um das Verständnis der biografischen Entscheidungen und Möglichkeiten zu vertiefen und die konkreten Interpretationen der Sequenzen aus den Interviews und den Genogrammen den Lesenden nachvollziehbarer zu machen. d) Resilienzfördernisse und Resilienzhindernisse Um das Verständnis von Resilienz in diesem Kapitel und bei den Fallanalysen zu vertiefen, werden die folgenden Begriffsverständnisse von Resilienzfördernissen und -hindernissen, die erst während des Forschungsprozesses entstanden sind, geklärt.
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Resilienzfördernisse werden in der bisherigen Resilienzforschung meist Resilienzaspekte oder Resilienzfaktoren genannt. Diese üblichen Termini werden in dieser Arbeit nicht verwandt. Der Begriff „Aspekt“ im Sinne eines „Gesichtspunkts“ ist räumlich stark begrenzt. Daher wird ein Resilienzaspekt dem Umfang, der Komplexität und zeitlichen Dimension von Resilienzfördernissen nicht gerecht. Ein Faktor ist „etwas, das Wirkungen hervorruft“ (Kluge 1999, S. 246). Dieser Terminus impliziert eine Gerichtetheit und ist mit der Ursache-WirkungLogik verbunden. Die Resilienzfördernisse und -hindernisse müssen nicht immer in der Ursache-Wirkung-Logik stehen und ihre Gerichtetheit ist meistens, aber nicht immer gegeben. Daher ist auch der Begriff „Faktor“ nicht geeignet im Zusammenhang mit Resilienz. Es sind Situationen von Resilienz, die analysiert werden, in denen meist mehrere Inhalte und Prozesse zur Milderung bzw. Bewältigung einer Krise bzw. des Stresses beitragen (Resilienzfördernisse) oder sich ihr in den Weg stellen (Resilienzhindernisse). Resilienz kann nur kontextuell, situational und im Zusammenspiel der Resilienzfördernisse und -hindernisse betrachtet werden. Aus diesen Gründen verwende ich in dieser Arbeit die Termini Resilienzfördernisse bzw. -hindernisse. Resilienzfördernisse und -hindernisse sind nach Lafranchi immer relativ und können je nach Inhalt und Intensität der Stressoren, der Personen- und Kontextmerkmale unterschiedliche Auswirkungen und Bedeutungen haben (Lafranchi 2006, S. 127). Resilienzhindernisse sind in der bisherigen Resilienzforschung als Quellen, die sich der Resilienz in den Weg stellen, kaum beachtet worden, da sie nicht dem inhaltlichen Fokus der Resilienzforschung entsprechen. Sie entsprechen auch nicht den Risikofaktoren, die in dieser Forschungsarbeit Stressoren genannt werden. Stressoren sind Einflüsse, die das vorhandene Gleichgewicht destabilisieren und die bedrohlich oder überfordernd für das Individuum oder das soziale System sind. Resilienzhindernisse hingegen sind beispielsweise individuelle Aspekte, Beziehungen, Situationen, Lebensumstände, die den bereits ausgelösten Krisenprozess zur oder von der tiefsten Krisenphase weg erschweren oder behindern. Die Relevanz und Wichtigkeit der Resilienzhindernisse zum Verständnis des Gesamtphänomens und des Ablaufs von Resilienz ist als ein wichtiges Ergebnis dieser Doktorarbeit zu nennen und wird im Schlusskapitel deutlich werden. Zur besseren Verstehbarkeit dieser Arbeit stelle ich den Begriff „Resilienzhindernisse“ bereits an dieser Stelle vor. Das Kernstück der Resilienzforschung bleiben die Resilienzfördernisse. Der Fokus liegt auf den Möglichkeiten und Potentialen im Zusammenhang mit widrigen Lebensumständen. Es wird in manchen Arbeiten über Resilienz in Schutzund Erholungsfaktoren unterschieden. Schutzfaktoren halten den Prozess in die
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Krise auf oder mildern diesen, so dass es lediglich eine „kleine Krise“ entsteht. Erholungsfaktoren erleichtern den Krisenbewältigungsprozess, aus dem Tal der Krise, das bereits erreicht wurde, hinaus. Diese Differenzierung ergibt sich m. E. aus der jeweiligen konkret erforschten Resilienz. Ob diese Differenzierung in Schutz- und Erholungsfaktoren bei der Auswertung in dieser Forschungsarbeit wieder eingeführt wird, zeigt sich im Rahmen der Beantwortung der Forschungsfrage. Des Weiteren möchte ich einige Ergebnisse aus Studien zur Resilienz vorstellen, die konkrete Resilienzfördernisse erforscht haben. Quellen von Resilienz finden Menschen laut Welter-Enderlin (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 14-15) in verschiedenen Bereichen wie in ihrer eigenen Geschichte, innerhalb ihrer Familie, in der Nachbarschaft, der Arbeitswelt oder der Schule. Resilienz ist bei ihr eine Art von Selbstschutz, der durch die Nutzung von Möglichkeiten, die im eigenen Umfeld zur Verfügung stehen, vorhanden ist. Werner/Smith (1992) nennt in einem Aufsatz, in dem sie sich auf ihre Langzeitstudie über in widrigen Umständen aufgewachsenen Kinder bezieht, folgende Schutzfaktoren: Ein individueller Schutzfaktor war, dass in frühen Kinderjahren die Kinder pflegeleicht und freundlich waren. Später waren diese Kinder meist selbstbewusst und von sich selbst überzeugt. Weitere Schutzfaktoren waren in der Herkunftsfamilie zu finden. Kinder, die zu mindestens einer emotional stabilen Person eine enge Bindung eingehen konnten, waren resilienter. Nicht entscheidend war, ob dies ein Elternteil oder eine andere Person war. Diese eine enge Beziehung kann nach Masten (2001) als „Surrogatelternteil“ bezeichnet werden. Zudem förderte in dieser Studie die Religiosität der Familie deren Resilienz. Ebenso wurde die Kommunikation als ein wichtiges Resilienzfördernis erforscht. Kommunikation kann laut Walsh in der Form des Geschichtenerzählens resilienzfördernd sein und im Zuge einer Erzählung Kohärenz, Sinn und Glaube zum Ausdruck bringen. Durch das Geschichtenerzählen lernen wir uns kennen und konstruieren kohärente Identitäten, um dem größeren sozialen Kontext einen Sinn zu geben und unser Verbundensein mit ihm zu zeigen. Diese narrative Kohärenz ist besonders zur Sinngenerierung von schmerzhaften Erlebnissen relevant und kann heilend sein (Walsh 1998, S. 24, 45-49). In der Kommunikation zeigt sich Resilienz auch darin, dass sie Klarheit durch eindeutige und in sich stimmige Botschaften schafft. Resiliente Kommunikation bringt Gefühle zum Ausdruck und das Individuum versucht, gemeinsam mit anderen kreativ seine Probleme zu lösen. Gespräche über Möglichkeiten der Entlastung und der Stressminderung, der Prozess des Sprechens und nicht des Grübelns können nach Boss (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006) Zeichen von Resilienz sein. Außerdem sind laut Simons, Whitbeck und Chyi-In (in: Con-
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ger/Elder 1994, S. 228-230 Krisenberatungen, die professionell, semiprofessionell oder durch FreundInnen durchgeführt werden, Schutzfaktoren. Walsh (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 60-76), die sich mit familialer Resilienz befasst hat, erforschte folgende Schlüsselprozesse und Quellen von Resilienz: 1. Die Überzeugungssysteme der Familie sind von großer Bedeutung. Dies kann sich entgegen dem Paradigma des Individualismus in einem Kohärenzgefühl (Antonovsky 1997) der Familie zeigen, das die Krise als sinnhafte und verstehbare Herausforderung einschätzt und dieses mit kausalen und erklärenden Zuschreibungen versieht. 2. Optimistische Einstellungen erleichtern das Bewältigen von Krisen. Zudem ist eine realistische Einschätzung von dem, was möglich ist zu ändern, handlungsaktiv anzugehen und das zu akzeptieren, was nicht änderbar ist, hilfreich. (Antonovsky 1997) 3. Transzendenz und Spiritualität bieten die Möglichkeiten des Schutzes und des Haltes. (Hawley/DeHaan 1996) 4. Flexibilität bedeutet Offenheit für Veränderung und sich den jeweiligen herausfordernden Situationen und Momenten im Leben, neu orientieren zu können. (Boss 2006) 5. Verbundenheit wahrnehmen und zu anderen Menschen, vor allem zu Familienmitgliedern, aufbauen zu können, ist eine wichtige Stütze und Teil familialer Resilienz. (Boss 2008, S. 83) 6. Soziale und ökonomische Ressourcen stärken die familiale Resilienz. Wie auch in der Medizin bekannt, sind reichere und sozial in der Schule, Nachbarschaft oder religiösen Gemeinschaften eingebundene Individuen und Familien gesünder und resilienter (Welter-Enderlin in: Welter-Enderin/ Hildenbrand 2006, S. 8-9). Ein interessantes Ergebnis einer Langzeitstudie ist, dass beim Erreichen des mittleren Erwachsenenalters einstige Problembewältigungsschwierigkeiten im Jugendalter oft nicht mehr vorhanden waren. Es gab Wendepunkte im Leben, die zu positiven Veränderungen führten. Durch die Eröffnung von Chancen wie Bildung oder dauerhafte Partnerschaften in der dritten und vierten Lebensdekade konnten dauerhaft positive Veränderungen herbeigeführt werden. Die persönliche Lebensphilosophie kann laut Boss (in: WelterEnderlin/Hildenbrand 2006, S. 80-92) eine weitere Quelle von Resilienz sein. Sie hat einen starken Einfluss auf die Belastungskapazität von Individuen oder die sozialen Gruppen. Die Art der Wahrnehmung der Realität durch die betroffenen Menschen selbst kann, wenn sie realistisch ist, ein Resilienzfördernis sein. Nach dem (uneindeutigen) Verlust eines Menschen, der auch im Rahmen einer Fallanalyse dieser Forschungsarbeit eine Rolle spielt, ist die Akzeptanz des Todes oder des unklaren Verschwindens eines Menschen ein Resilienzfördernis. Boss (2008, S. 80-83) Erkenntnisse aus einer ihrer Studien besagen, dass die Akzeptanz dieses (uneindeutigen) Verlusts und das Aufsuchen oder Einfordern an-
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gemessener Unterstützung und der weiterhin bestehende Glaube an eine gerechte Welt Resilienz bedeutet. Eine jeweils optimale Bewältigungsstrategie kann das Lachen, die Verdrängung (in einem gewissen Maß) oder eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive sein. Hoffnung zu schöpfen im Zusammenhang mit dem nicht geklärten „Verschwinden“ einer Person bedeutet, Ambiguität zu akzeptieren und einen Sinn, in dieser Art der Unsicherheit zu finden. Ein Leben mit Widersprüchen ist in diesem Zusammenhang resilienter, als an dem festzuhalten, was einmal war, an einer nicht mehr realisierenden Sehnsucht. (Boss 2008, S. 267-268). e) Resilienz und (Flucht-)Migration Alle Arten von Migrationen werden, wenn sie wissenschaftlich differenziert sind, in der Migrationsforschung als krisenauslösendes Ereignis definiert (Breckner 2005, Schütz 1972), das bewältigt werden muss. Zweifelsohne stellen die neue Umgebung für MigrantInnen Herausforderungen und vor allem die Lebensbedingungen von rechtlich nicht-anerkannten Flüchtlingen in Deutschland Stressoren oder Resilienzhindernisse dar, die sich ungünstig auf das Lebens von diesen Menschen auswirken können. Ob der reale Schutz für Flüchtlinge vor erneuter Gewalt wie Folter, Krieg oder Verfolgung, der durch die Migration gewonnen wird, langfristig die neuen Stressoren oder Resilienzhindernisse mildern kann, bleibt zu beantworten. Resilienz im Zusammenhang mit Foltererfahrungen von Flüchtlingen, die in Deutschland leben, ist in wenigen Studien und Publikationen von PsychologInnen, die im Bereich der Flüchtlingshilfe tätig sind, bearbeitet worden (Adam in: Schäffer 1995; Adam/ Aßhauer in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 156-160; Becker 1992). Diese betonen, dass der emotionale Austausch, eine gemeinsame Geschichte und Identität der Familie und eine gewisse gemeinsame Zukunftsplanung wesentlich für Flüchtlinge und deren Familien sind. Gefühle wie Wut oder Aggression könnten (kurzfristig) hilfreich für die individuelle Resilienz sein. Sie sind es langfristig hingegen nicht. Ein unsicherer bzw. kein Aufenthaltsstatus von Flüchtlingen ist immer ein Risikofaktor (Stressor/ Resilienzhindernis), ebenso wie die allgemeine Marginalisierung von Flüchtlingen in der Gesellschaft und der wahrgenommene Anpassungsdruck, der auf FluchtmigrantInnen lastet. Termine bei Behörden können die psychosoziale Stabilität eines Menschen gefährden (siehe auch Kapitel über Flüchtlinge). Die Migration bedeutet für FluchtmigrantInnen einerseits risikomildernde und andererseits risikosteigernde Kontexte vorzufinden. Daraus ergibt sich ein wechselseitiger Prozess der Anpassung und Entwicklung von Risiko-Resilienz-Schutz.
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Vor allem resiliente Kinder erhalten laut Lafranchi (Lafranchi in: WelterEnderlin/Hildenbrand 2006, S. 124-127) im Kontext von Fluchtmigration die Chance, eine transitorische Identität und Multistabilität aufgrund der Migration aufzubauen. Eine weitere Perspektive auf die Möglichkeiten der resilienten Identitätsentwicklung im Kontext von (Flucht-)Migration und der kulturellen Vielfalt stellt die von Homi Bhabha (2000) entwickelte hybride Identität dar. Sie wurde im Kontext kritischer Postkolonialismusforschung bzw. in den cultural studies entwickelt und hinterfragt die Idee einer homogenen individuellen Identität. Hybridität sei Teil jeder Kultur, da sich keine Kultur mehr der globalen Zirkulation von Menschen, Dingen, Zeichen oder Informationen entziehen kann. Meist ist die Vorstellung eines hybriden Individuums, das sich nicht eindeutig zuordnen lässt, mit der Angst vor Vermischung und Bastardisierung verbunden. Unbedacht bleibt dabei, dass nur Neues entstehen kann, wenn Vermischungen stattfinden oder Grenzen neu ausgehandelt werden können. Die hybride Identität zeichnet sich durch das Aushalten von Ambivalenzen, Kontingenzen und unlösbaren Widersprüchen aus. Sie unterbricht und vermischt kulturelle Traditionen und wird als Ideal unter Bedingungen der Globalisierung zur Charakteristik jeder gesellschaftlichen Kultur. (Nick 2002, S. 138-141) Diese Entwicklung einer hybriden Identität zeigt, dass die Fluchtmigration theoretisch auch ein Resilienzfördernis sein kann. Diese Erkenntnis aus dem Kontext der Postkolonialismusforschung kann in dieser Forschungsarbeit empirisch bestätigt und an einem Einzelfall tiefer begründet werden. f) Resilienz und Trauma In der Resilienzforschung, die sich thematisch mit traumatischen Ereignissen befasst, sind zwei Ansätze denkbar: Die eine Forschungsrichtung fokussiert Traumatisierte, die aufgrund von (beispielsweise) therapeutischer Begleitung ihre Resilienz aktivieren konnten. In diesem Zusammenhang seien Arbeiten von Walsh, Boss und Hepp genannt. Boss (2006, S. 43) geht davon aus, dass die meisten Menschen Resilienzfördernisse in sich tragen, die aktiviert werden können. Walsh (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 56-60) und Hepp (in: Welter- Enderlin/ Hildenbrand 2006, S. 144f) arbeiteten therapeutisch mit bosnischen Kriegsüberlebenden. Walsh betont, dass eine resilienzfokussierende familientherapeutische Tätigkeit bei vielen KlientInnen zu deren Genesung beitragen konnte. Hepps Fallbeispiel eines bosnischen Flüchtlings zeigt, dass für ihn die eigentlich traumatisierende Situation die Lebensbedingungen als Flüchtling in der Schweiz und nicht die Erlebnisse während des Bürgerkrieges in seinem Herkunftsland waren.
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Zum anderen betrachtet die Resilienzforschung diejenigen, die trotz traumatischer Ereignisse bzw. extremen Stresssituationen durch ihre Resilienz geschützt waren und in keine tiefe Krise gerieten. Nicht alle Menschen, die traumatischen Erlebnissen ausgesetzt waren, entwickeln eine Posttraumatische Belastungsstörung, die eine tiefe, lang anhaltende Krise ist (Hepp in: WelterEnderlin/Hildenbrand 2006, S. 145-149). Walsh (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 56-60) betont, dass die Bedeutung des Glaubens in diesen Familien eine wichtige Funktion im „Heilungsprozess“ gehabt habe. Zudem erwähnt sie, dass ihre Arbeitsweise der resilienzorientierten Familientherapie wesentlich größere Erfolge zu verzeichnen hatte, als dies andere therapeutische Methoden konnten. Eine Studie im Zusammenhang mit dem II. WK von Grunker und Spiegel (1945) fragt nach den Zusammenhängen von extremen Stress durch Kriegs- und Verlusterfahrungen und dem Gesundbleiben der Betroffenen. Die Menschen, denen es gelang, gesund zu bleiben, hatten nach ihren Forschungserkenntnissen eine spezifische Persönlichkeitsstruktur der „Widerstandsfähigkeit“. Ebenso wurden nach dem II. WK bzw. dem „Dritten Reich“ Studien erarbeitet, die die Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden, die während ihrer Verfolgung und des Krieges Kinder gewesen waren, erfassten. Resilienzfördernisse waren auch für sie fürsorgliche Eltern oder andere hauptsächliche Bezugspersonen, eine lebensbejahende Lebenseinstellung, die aktive Verpflichtung einer gerechten Sache gegenüber und die Fähigkeit, mitfühlend zu handeln (Helmreich 1992; Moskovitz 1983; Werner in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 53-54). Hepp (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 145) fand heraus, dass interpersonelle Gewalt für die Opfer schwerer zu bewältigen ist als nicht „menschengemachte“ Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Unfälle. Das Zuschauen bei Gewaltsituationen kann genau so traumatisierend wie das direkte Erleben von Gewalt sein. Frauen sind seltener traumatischen Ereignissen ausgesetzt, wenn sie eines erleben, entwickeln sie allerdings häufiger eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Hepp (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 147-151) nennt eine Studie, in der Verlaufsmuster nach traumatischen Erfahrungen entwickelt wurden. Diese zeigen, dass etwa 2/3 der körperlich schwer verletzten Menschen keine Symptome von Traumatisierung zeigten und 1/3 folgende Verlaufsmuster aufwiesen: 1. Anfänglich schwere, später rückläufige Symptome, 2. Anfänglicher Symptomrückgang, dann Anstieg der Symptome bis zu einer Traumatisierung, 3. Von Anfang an ansteigende Symptome. Darüber hinaus existiert ein Phänomen, das als „posttraumatic growth“ bezeichnet wird und das aussagt, dass Reifungsprozesse aufgrund traumatischer Erfahrungen entstehen und Veränderungen in
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der Selbstwahrnehmung, in den interpersonellen Beziehungen und/oder in den Lebenseinstellungen ausgelöst werden können. Trotz extremer Gewalterfahrungen ist die Entwicklung von psychischen Störungen bei Menschen mit einem „posttraumatic growth“ unwahrscheinlich. Kritisch anmerken möchte ich zu letztgenannten Forschungsergebnissen, dass ihr die Gefahr innewohnt, dass das traumatische Ereignis selbst, das im Zusammenhang mit dem „posttraumatic growth“ steht, nicht mehr so verheerend und menschenverachtend erscheint. Es könnte, wie Platt (2002, S. 16) in einem anderen Zusammenhang formuliert, die Gewalt mit ihrer Zerstörungskraft nicht mehr gesehen und die Türen für Gewaltausübung weiter geöffnet werden. Wesentlich ist in dieser Forschungsarbeit, nicht auf ein sich stets versöhnendes Opfer hinzuarbeiten, das alles gut verkraftet und die suggeriert, dass die Gewalt doch nicht so schlimm war und diese damit zum Schweigen bringt. Die Zerstörungskraft von Verfolgung und Folter und den mit ihnen verbundenen Einbrüchen in die persönliche Integrität muss ebenso Berücksichtigung finden wie die Möglichkeiten des Erlangens einer neu gestalteten und erfüllten Lebensqualität der einstigen Opfer. g) Vorläufiges Resilienzverständnis in dieser Forschungsarbeit Resilienz wird in dieser Arbeit als lebenslanger, einzelfallspezifischer, kontextgebundener Prozess konzipiert (Hildenbrand in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 20-27; Walsh 1998). Sie wird als Möglichkeit verstanden, unter anhaltenden widrigen Lebensumständen bzw. unter der Einwirkung massiven Stresses immer wieder Handlungsmacht zu erlangen, die Autonomie der Lebenspraxis zu stärken und in eine Stabilität bzw. ein Wohlbefinden (zurück)zugelangen (Antonovsky 1997; Conger/Elder 1994). Die Bedeutungen soziokultureller Kontexte und Prozesse, analog der „conditional matrix“ (Strauss 1991a) der Resilienz, vor allem das Wechselspiel von Autonomie und Heteronomie der Lebenspraxis, von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, von Wohlbefinden und Unwohlsein und deren Prozesshaftigkeit sind konstitutiv für das hier verwendete Verständnis von Resilienz. Sie kann nur konkret im Einzelfall unter Berücksichtigung einer Langzeitperspektive, des biografischen Verlaufs, erforscht werden. Methodisch operationalisierbar wird ein solches Verständnis von Resilienz unter Berücksichtigung der verschiedenen für die Forschungsfrage relevanten Kontexte (conditional matrix) durch das Einbeziehen von Genogrammanalysen und durch die qualitative einzelfallbezogene Auswertung narrativer, biografischer Interviews. So werden Prozesse und Entwicklungen in ihren jeweiligen Kontexten eingebettet und das Konzept der Resilienz erweitert.
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Für das in dieser Forschungsarbeit zugrunde liegende Verständnis von Resilienz sind die abstrakten Resilienzmodelle, aber auch die inhaltlichen Erkenntnisse über Resilienz von Interesse. Die Modelle können aufgrund ihres Abstraktionsgrades auf verschiedene Fragestellungen und Forschungsbereiche bezogen werden. Diese Modelle und die bisherigen inhaltlichen Erkenntnisse werden im Schlusskapitel durch das Vorgehen der Grounded Theory empirisch basiert in modifizierter und integrierter Form im Zusammenhang mit der Forschungsfrage als Ergebnisse vorgestellt.
II. Folter und ihre Folgen
Folter und ihre Folgen für die Folteropfer stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Der Folter und ihren Folgen wird gesellschaftlich wie sozialwissenschaftlich wenig Beachtung eingeräumt, obwohl die Folter eine der radikalsten sozialen Situationen überhaupt ist. In der Foltersituation wird die Macht der Folternden brutal durchgesetzt. Die Gefolterten haben keinen Handlungsspielraum. In der Folter löst sich die Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeit in der Radikalität absoluter Machtfülle bzw. absoluter Ohnmacht auf. Die Folter soziologisch zu erfassen, stellt ein großes Forschungsdesiderat und eine Herausforderung für die Sozialwissenschaft dar. In diesem Kapitel werden zentrale wissenschaftliche Erkenntnisse über die Folter, die zentrale gemeinsam geteilte Krise der kurdischen Türkinnen, und über ihre Folgen zusammengefasst. Es werden die Forschungsstände aus der Psychologie, der Medizin und die wissenschaftlichen Ansätze aus der Soziologie vorgestellt. Diese bilden die Grundlage für ein tieferes Verständnis der Folter und die Bedeutung der Folter für die vier Probandinnen im Rahmen der Fallanalysen und zur Beantwortung der Forschungsfrage.
1. D ER
GEFOLTERTE
M ENSCH
a) Wissenschaft über Folter Das Forschungsfeld „Folter und Folterfolgen“ wurde bisher von WissenschaftlerInnen aus der Psychologie und der Medizin besetzt, die den Fokus auf Abweichungen und Krankheiten im Zusammenhang mit Folter und ihren Folgen für die betroffenen Opfer (und TäterInnen) legen. Folter als kultur- und geschichtsübergreifendes Phänomen wurde aus soziologischer Perspektive bisher kaum erforscht. Trotz ihrer Komplexität, ihrer Tragweite und Radikalität des Sozialen ist Folter bis heute aus sozialwissen-
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schaftlicher Perspektive kaum erfasst. Wissenschaftliche Arbeiten über Folter sind, wie Hans-Rudolf Wicker (1993, S. 257) betont, auch aus dem Grund sehr begrenzt weil niemand, der Wissenschaft betreibt, bei Folterungen anwesend ist und sich immer normativ gegen Folter ausspricht. Diese Wertung der WissenschaftlerInnen bildet eine notwendige Grundlage jeder Forschung über Folter. Folter wurde und wird als Phänomen formuliert, das den demokratischen Staaten der Moderne rechtlich durch die Einführung der „Allgemeinen Menschenrechte“ 1948, nicht aber faktisch entgegengesetzt ist. Zur Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse (in modernen demokratischen Staaten), zu deren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Auswirkungen gehört auch die Analyse des Folterkomplexes. In der Weiterführung des Max Weberschen Konzepts von Macht und dessen Einbindung in institutionelles Wissen versuchten SoziologInnen, wie Wicker (1993, S. 257-259) ausführt, die Voraussetzungen zu klären, unter denen in der Moderne institutionalisierte Folter möglich ist Durch parastaatliche Gebilde, in denen Institutionen wie Militär oder Polizei umgedeutet und deren Handlungskompetenzen erweitert werden können, durch die Ausbildung von Folterern mittels extremer Feindbilder und eine allgemeine Atmosphäre der Gewalt ist es auch in modernen demokratischen Staaten möglich, systematische Folter zu institutionalisieren. Die große gesellschaftliche Aufgabe ist es laut Jan Philipp Reemtsma, sich auch gegen das Vergessen zu stellen, um Exzesse von Herrschenden nicht als Ausnahmen einzuordnen, sondern ihre strukturelle Verankerungen und Logiken offen zu legen, die auch in demokratischen Gesellschaften verankert sind (Reemtsma 1991, S. 35). Folter kann laut Lutz Ellrich (in: Burschel/ Lembke 2000, S. 27-66) eine Fortsetzung, ein radikaler Teil der (modernen) westlichen Gesellschaft sein. Folter ist kein Residuum aus anderen, vergangenen, grausameren Zeiten. Sie wird nicht nur in totalitären Regimen ausgeübt. Sie ist ein faktischer Teil des Gesellschaftlichen. Der Raum, die der Folter in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit zugeordnet wird, hat sich geändert: Erst wurden bestimmte Foltermethoden nicht mehr in der Öffentlichkeit praktiziert, das sich wandelnde Bewusstsein über den Körper, Macht, Wissen, Normalität und die tatsächliche Verschiebung der Macht zum Bürgertum drängte, wie Michel Foucault (1977) ausführlich analysiert, Folter als offen zur Schau gestellten Machtbeweis an die Seite. Stattdessen wurden Prozesse der schmerzhaften Körperlichkeit während der Folter, sowie der Tod und das Sterben, aus der Öffentlichkeit in geschlossene Räume verlegt und von dafür ausgebildeten Personen erledigt. Letztlich wird Folter als Ausnahme in bestimmten Situationen auch in demokratischen Staaten diskutiert und angewandt.
F OLTER
UND IHRE
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Darüber hinaus wäre aus soziologischer Perspektive zu erforschen, wie eine Gesellschaft mit enormen historischen kollektiven Gewalterfahrungen gegenwärtig mit Opfern und TäterInnen von Gewalt umgeht und wie die Perspektive der Opfer (und TäterInnen) ist? Löwenthal (1998, S. 15) als Holocaustüberlebender betrachtet das Widerstreben bzw. das fehlende Engagement, massive Gewalt und Zerstörung rückhaltlos erforschen zu wollen, selbst als Teil des Terrors. Dass gegenwärtig in unserer Kultur trotz mannigfaltiger historischer Untersuchungen die Perspektive auf die Geschehnisse, die Ermöglichung von Genoziden, insbesondere des Holocaust, immer noch von kollektiven Schuldgefühlen und Tabuisierungen geprägt ist, zeigt den Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Friedfertigkeit und der durchaus gewalttätigen Realität in demokratischen Staaten (Mann 2007; Welzer 2005). Diese Verdrängung führt m. E. auch zu einer Aberkennung der Gewalterlebnisse von in Deutschland lebenden Folteropfern und zu mit dieser Verdrängung in Verbindung stehenden weiteren Folgen. In dieser Forschungsarbeit interessiert mich die Rekonstruktion der Perspektive der Folteropfer bzw. -überlebenden, die meist als Flüchtlinge in Deutschland leben, aus dem Blickwinkel der Resilienz. Daraus kann einerseits die Erkenntnis erwachsen, wie und was Resilienz als verfolgter und gefolterter in Deutschland lebender Flüchtling ermöglicht. Andererseits ist eine solche soziologische Forschung eine notwendige Voraussetzung, um der Verantwortung der Soziologie nachzukommen, Sinnorientierungsangebote zur (gesellschaftlichen) Rehabilitation dieser Menschen zu machen. Die wenigen sozialwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Folteropfern bzw. Folterüberlebenden befassen, interpretieren die Gewalterfahrung der Folteropfer als ein passives Erleben, in der die Interaktionsfähigkeit des Opfers völlig ausgeschaltet ist. Ob diese Deutungen treffend sind, wird durch die Analyse des empirischen Materials innerhalb dieser Arbeit beantwortet werden. b) Der gefolterte Mensch Der gefolterte Mensch ist „im Schmerz … ganz Leib, nichts sonst. ... Indem er den Leib entzweit, überwältigt er die Person, reißt sie hinab in die Ohnmacht.“ (Sofsky 1996, S. 74) Der Schmerz steht im Zentrum der Folter. Der Schmerz wird bei der Analyse der Folter von Scarry (1992, S. 79-86) und Jan Philipp Reemtsma (1991, S. 17) als die Negation der Sinneswahrnehmungen konstituiert. Denn in seiner Gegenwart kann der gefolterte Mensch sich nicht mehr als etwas anderes, als Nicht-Ich wahrnehmen. Der Schmerz wirkt auf das Bewusstsein und zerstört dessen Inhalte. Die Verwandlung der materiellen und kulturellen Umwelt in Folterinstrumente ist sowohl ein innerer als auch ein äußerer Vorgang. Die Folterer können alle Dinge und jede Regung des gefolterten Menschen
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in Folterinstrumente verwandeln. Die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen aus der Perspektive des Opfers. Die Privatheit des gefolterten Menschen wird im Rahmen der Folterungen zur Selbstentblößung. Das Opfer muss unter ständiger Überwachung auf intimste Körperregungen wie Schmerz, Ausscheidungen, Hunger, Durst oder Ekel achten. Der Schmerz erfüllt zu Beginn der Folter die gefolterte Person nicht total, aber zum Ende der Folterungen hat der Schmerz alles eliminiert, was nicht der Schmerz selbst ist. Die Folter trachtet nach dem totalen Charakter des Schmerzes. Der Schmerz ist für die Leidenden sehr real, dennoch ist er von außen kaum sichtbar. Die mangelnde (gesellschaftliche) Anerkennung des Schmerzes wird zum sozialen Äquivalent ihrer physischen Widerwärtigkeit: Die Blindheit ist das Kernstück der Macht. Während des Prozesses der Folter streife aus einer psychoanalytischen Perspektive (Friedrich 1999, S. 95) die gefolterte Person gleich einem Menschen, der durch den Schlaf jede Nacht seine Hüllen, die er über die nackte Haut gezogen hat, ablegt, ebenfalls alle Hüllen ab. Der gefolterte Mensch wird zu dieser Handlung gezwungen im Gegensatz zum Schlafenden. Dieser regressive Prozess könne willkürlich immer wieder durch die Folterungen ausgelöst werden, so dass der gefolterte Mensch über den Grad seines Selbstschutzes keine Wahl habe. Die Gegenwehr, die ein gefolterter Mensch aufbringt, um die Angriffe, die durch die Folterer und die Folterungen getätigt werden, abzuwehren, würden in den Prozess der Folter integriert und gegen den gefolterten Menschen gewendet. Die Folterbeziehung ist, wie auch die Fallanalysen zeigen werden, eine einseitige und absolute. In kaum einer anderen sozialen Situation ist die Abhängigkeit eines Menschen von einem anderen so groß und allumfassend wie in der Situation der Folter. Der folternde Mensch hat grenzenlose Macht über den gefolterten Menschen. Die Folter kündigt in verbaler und nonverbaler Form ein Anerkennungsverhältnis im Hinblick auf das Gegenüber, das Gewaltopfer auf (Müller-Funk in: Platt 2002, S. 79). Das Gegenüber wird verworfen, denn es ist es nicht wert, mit ihm zu sprechen. Daher ist diese Situation eine der radikalsten „Sozialsituationen“ überhaupt. E gibt immer wieder Erzählungen über „heldenhaften Widerstand“, wenn ein gefolterter Mensch während der Folter schweigt und nicht (falsche) Aussagen macht, um die Folter zu Ende gehen zu lassen. Dieses Schweigen wird, wie auch Sofsky (1996, S. 89) betont, als Beweis gedeutet, dass nur der Körper, der Leib des Opfers gefoltert wurde, nicht aber der Geist gebrochen oder die Psyche beschädigt werden konnte. Diese Deutung zeigt m. E., dass sich die Opfer (retrospektiv) auf die Logik der TäterInnen einlassen, indem sie die Annahme übernehmen, dass es um Wahrheit und Wissen in der Folter ginge und nicht um individuelle und soziale Zerstörung von Strukturen und Ordnungen.
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d) Foltermethoden Bei den modernen Foltermethoden wird zwischen somatischer/physischer, psychologischer und pharmakologischer Folter unterschieden. (Friedrich 1999, S. 93) In den letzten Jahrzehnten wird die Psyche immer mehr zum Markierungsraum für Folterungen. Da Folter weltweit verpönt ist, wird versucht, körperlich sichtbare Folterspuren zu vermeiden. (Wicker 1993, S. 262-263) In der Türkei sind physische und psychische Foltermethoden verbreitet, von denen auch die vier Frauen erzählten. Die sexuelle Folter von Frauen stellt eine besondere Art der Folter dar, die in muslimisch geprägten Ländern die Ehre der Frau und ihrer Familie verletzen und in der Folge ganze Familiensysteme zerstören können. Sexuelle Folter an Männern in der Türkei hinterlässt bei den Folteropfern meist ein enormes Schamgefühl, da Homosexualität die männliche Identität in Frage stellt. Bei der direkten körperlichen Folter, die in der Türkei angewandt wurde und wird, sind außerdem Elektroschocks an allen Körperteilen, das Verbrennen von Haut durch Feuer oder Zigaretten, das Aufhängen des Körpers, Boxhiebe und Schläge mit Knüppeln, das Schlagen auf die Fußsohlen (Falanga oder Falaka), unzureichende und verschmutzte Nahrung und das Untertauchen ins Wasser bis kurz vorm Ertrinken verbreitet. (Amnesty International 1985, S. 6-13) Bei der psychischen Folter sind das erzwungene Zuschauen bei der Folterung von anderen vertrauten Personen, Scheinhinrichtungen, Schlafentzug, Desorientierungstechniken wie „good guy - bad guy“, sexuelle Erniedrigungen und Licht- bzw. Geräuschexpositionen zu nennen. d.1) Sexuelle Folter an Frauen Diese spezielle Art der Folter wird in einem eigenen Unterkapitel beschrieben und analysiert, da ihre Bedeutung und ihre Auswirkungen in muslimisch geprägten Kulturen wie der kurdisch-türkischen Kultur sehr weit reichend sind. Mindestens drei der vier Frauen sind sexuell gefoltert worden. Die Folgen sexueller Folter reichen oft weiter als die Folgen nicht sexueller Folter. Sexualisierte Folter an Frauen wird, wie Sepp Graessner und Mechthild Wenk-Ansohn (2000, S. 28-29) schreiben, vor allem bei politisch aktiven Frauen oder bei Müttern, Schwestern oder Töchtern von politisch aktiven Männern angewandt. Die Zerstörung der Persönlichkeit von Frauen zielt auf die Zerstörung der sozialen und kulturellen Stabilität der verfolgten und gefolterten Gruppe durch die Folter der einzelner Gruppenmitglieder ab. Frauen sichern die Reproduktion einer sozialen Gruppe und ermöglichen die soziokulturelle Tradierung der Gemeinschaft. Im Rahmen politisch motivierter Verfolgung, wie sie in der Türkei stattfand (und teilweise noch stattfindet), werden Frauen und Mädchen mit sexueller Gewalt bedroht, mit verbundenen Augen ausgezogen, in ge-
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schlechtsspezifischen Regionen misshandelt, (mit Elektroschocks) vergewaltigt, mit Spermien oder Urin besudelt und in erniedrigende Positionen gebracht. In den kurdischen Gebieten der Türkei ist die familiäre Einbindung in die sexuelle Folter verbreitet, in der beispielsweise der Ehemann, Sohn oder Bruder bei der sexuellen Folter seiner Ehefrau, Mutter oder Schwester zuschauen muss. Das kurdische bzw. muslimische Verständnis von Ehre sieht sexuelle Gewalt als einen Angriff auf die individuelle und soziale Identität der betroffenen KurdInnen und deren Familie. Ehre und Scham sind in muslimischen Gesellschaften Werte, die im Mittelpunkt ihrer Identität stehen. Hinzu kommt eine noch immer starke Gemeinschaftsorientierung, durch die eine Ehrverletzung eines Familienmitglieds auch immer die Ehre der Familie verletzt. Ehre ist gleichbedeutend mit Unberührtheit, Reinheit, Sittsamkeit und Treue (der Mädchen und Frauen). Die Ehre des „verantwortlichen“ Mannes, des Ehemanns, Vaters oder des Bruders, wird durch das „unsittliche Verhalten“ der Frau verletzt und muss wiederhergestellt werden. Zum „unsittlichen Verhalten“ der Frau gehört auch an ihr ausgeübte sexuelle Gewalt und Vergewaltigung. Die Frauen werden in der Regel entweder verstoßen, getötet oder möglichst schnell verheiratet, falls sie noch ledig sind. Eine andere Möglichkeit zur Wiederherstellung der Ehre ist die gewaltsame Bestrafung bzw. Ermordung des/r Täter/s. Diese Art der Wiederherstellung der Ehre findet sich hauptsächlich bei den Familien, die für die kurdische Unabhängigkeit kämpfen (Graessner/Wenk-Ansohn 2000, S. 100-103). Viele von den Opfern sexueller Folter, die wie die vier Frauen als Flüchtlinge in Deutschland leben, wählen, betont Wenk-Ansohn (in: Birck/Pross/Lansen 2002, S. 58-75), das Schweigen über sich und ihre Erlebnisse als Überlebensstrategie. Da das Sprechen über sexuelle Gewalt vor dem Hintergrund eines kollektiven Ehrgefühls als erneute Entehrung definiert und wahrgenommen werden kann, ist dann eine mögliche Reaktion, körperlichen Schmerz bzw. psychosomatische Erscheinungsformen zu entwickeln. Diese gelten als kulturell und gesellschaftlich akzeptabel und der betroffene Mensch gilt nicht als geisteskrank. Ein Möglichkeit, diese ausweglose Situation zu ändern, ist psychotherapeutische Begleitung, durch die ein Erzählen über und Bewältigen der Foltererfahrungen erleichtert werden kann.
2. F OLTERFOLGEN : I ST F OLTER ERZÄHLBAR ? Für die Folteropfer hat die Folter meist weitreichende und langfristige Folgen. Welche Möglichkeiten der Rehabilitation und der Resilienz in diesem Kontext überhaupt gegeben sind, steht in dieser Arbeit zur Disposition. In diesem Ab-
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schnitt stelle ich verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse über die Folgen von Folter vor. Der Brückenschlag zur Resilienz wird weiter unten im Kapitel und bei der Beantwortung der Forschungsfragen im Schlusskapitel vollzogen. Durch die Folter wird bei den Folteropfern der Glaube an die persönliche Unverletzlichkeit zerstört. Ihre Wahrnehmung der Welt als etwas Sinnhaftes gerät laut Hans-Rudolf Wicker (1993, S. 262) folgend ins Wanken. Ihre positive Selbstwahrnehmung kann langfristig zum Verschwinden gebracht werden. Die Beziehungs- und Interaktionsfähigkeit der Gefolterten, ihre Identität und Widerstandsfähigkeit werden zerstört (Nirumand 1996, S. 7). Der Prozess des Folterns spaltet laut Sofsky den gefolterten Menschen in Körper und Ich. Die Reflexionsmöglichkeit des gefolterten Menschen wird während des totalen Schmerzes ausgeschaltet und so m. E. die Identität dieses Menschen getroffen. Das Konstitutive des Menschseins, seine exzentrische Positionalität (Plessner 2003), ist während der Folter nicht mehr vorhanden. So wird jeder gefolterte Mensch bis in die Mitte seines Seins erreicht. Sofsky (1996, S. 66) formuliert es folgendermaßen: „Der Körper ist nicht Teil des Menschen, sondern er ist dessen konstitutionelles Zentrum. Daher trifft sie Verletzung zugleich Seele und Geist, das Selbst und die soziale Existenzweise.“ In der psychologischen Forschung, die sich mit Überlebenden als Traumatisierte befasst hat, sind nach Wicker (1993, S. 259) zwei extreme Abwehrmechanismen als endgültige Stressbewältigungsformen auf die Bedrohung des Ich durch das Überleben erkannt: Es kann entweder zur Psychose als einer Art psychischer Tod oder zum Suizid als physischen Tod kommen. Kurzfristige Reaktionen der Psyche können nach Erkenntnissen der Psychologie die Isolation der gefolterten Person von der sozialen Umgebung, das Ausweichen in Fantasien, das Entwickeln von Bewunderung und Respekt gegenüber den Folterern oder das Eintreten in schmerzabwehrende dissoziative, d. h. abspaltende, Prozesse sein. Die Folgen sexualisierter Folter sind, wie die/der PsychotherpeutIn Graessner und Wenk-Ansohn (2000, S. 23-32) in ihrer Berufspraxis mit Folteropfern erfahren haben, meist psychosomatischer und psychischer Art. Häufig sind Schuld- und Schamgefühle, Depressionen, Kontrollverluste und Aggressionen gegenüber nahen Angehörigen, eine Posttraumatische Belastungsstörung oder dissoziative Störungen die Folge sexueller Folter zu finden. Auf psychosozialer Ebene finden sich Störungen der geschlechtlichen Identität, des Selbstwertgefühls, der Würde und der Beziehungsfähigkeit zwischen Männern und Frauen. Den Auswirkungen auf das Familiensystem durch Folterungen eines oder mehrerer Familienmitglieder haben sich Salah Ahmad und Wiltrud MüllerSchöll (in: Birck/Pross/Lansen 2002, S. 95-104) gewidmet. Sexuelle Folter kann,
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wie bereits geschrieben, bei den KurdInnen zum Familienausschluss oder der Ermordung der weiblichen Opfer führen. Entfremdungserscheinungen zwischen den Familienmitgliedern sind eine weitere wahrscheinliche Folge von Folterungen, die sich im Familiensystem zeigen. Bei Flüchtlingsfamilien mit folterüberlebenden Familienmitgliedern ist das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins besonders stark. Dysfunktionale Umgangsweisen mit Trauma und Exil sind emotionaler Rückzug oder ein überfürsorgliches Verhalten der Familienmitglieder dem Folteropfer gegenüber. a) Traumatisierung durch Foltererlebnisse Die psychologische Forschung zentriert sich, wenn sie Gewalterlebnisse und ihre verbreiteten Folgen für die Opfer (und TäterInnen) erfasst, um das Traumamodell. In diesem geht es um die Diagnose eines nicht gelungenen Trauer- und Bewältigungsprozesses und um die Wiederherstellungsmöglichkeiten von individueller Kohärenz, wenn die Traumatisierung überwunden werden kann. Dieser Prozess wird in der psychologischen Traumaforschung als Kernstück des Überlebens konstituiert. Das Kernstück der Folterfolgen ist und ob und inwieweit Kohärenz wiederhergestellt und ein Heilungsprozess beginnen kann, muss immer empirisch und einzelfallspezifisch geklärt werden. Nach Freud wurden verschiedene Traumakonzepte in der Psychologie entwickelt. Eines befasst sich, wie Lydia Hantke (1999, S. 185) ausführt, mit der wechselseitigen Beeinflussung von Trauma und Dissoziation. Eine kurzfristige Dissoziation kann das psychosoziale Überleben der traumatisierten Person ermöglichen. Problematisch kann die langfristige Dissoziation werden, die sich beispielsweise auch bei Frau Karahan zeigt (siehe Fallanalysen). Erinnern und Erzählen ist in diesem Traumakonzept der Weg aus der psychischen Störung. Traumatisierungen, vor allem Traumatisierungen von Flüchtlingen, müssen, wie David Becker (2002, S. 68-72) aufzeigt, auch unter den jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, durch die sie entstanden sind, analysiert werden. Beide Ebenen der Analyse gehören unweigerlich zusammen. Bei traumatisierten Flüchtlingen kommen, wie Becker betont, erschwerende Rahmenbedingungen nach dem traumatischen Erleben hinzu. Ihre vertrauten Bezugskoordinaten sind verloren gegangen, sie haben Schreckliches erlebt und es wird von ihnen trotz der widrigen Lebensumstände in Deutschland erwartet, dass sie sich besonders vernünftig und autonom verhalten. Die Rahmenbedingungen, als Flüchtling in Deutschland zu leben, dienen jedoch in der Regel dazu, Menschen ohnmächtig statt selbständig werden zu lassen. Sie verstärken das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins bei Traumatisierten (Becker 2002, S. 68-72).
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b) Folter erzählen? Dieser Frage habe ich einen eigenen Unterpunkt innerhalb dieses Kapitels eingeräumt, weil ich einerseits das biografisch orientierte „Narrative Interview“ als Datenerhebungsmethode ausgewählt habe und weil andererseits wissenschaftliche Erkenntnisse über die Möglichkeiten der „Heilung“ durch das Erzählen über die Foltererlebnisse wesentlich für diese Forschungsarbeit sind. Ich gehe der Frage nach, ob und wie im Rahmen des Narrativen Interviews Erzählungen über Foltererlebnisse zu erwarten sind? Zum anderen zeige ich die verschiedenen Möglichkeiten und Bedeutungen auf, die das Erzählen über das „Überleben“ für die Betroffenen haben kann, die sich auch in den Fallanalysen wiederfinden. Die Folgen des Überlebens und ihrer Erzählbarkeit wird hauptsächlich als Erzählbarkeit von Erlebnissen, Situationen und Erfahrungen von Holocaustüberlebenden thematisiert. Die Erlebnisse der Holocaustüberlebenden können nicht auf allen Ebenen mit denen von Folterüberlebenden gleichgesetzt werden. Die Unterschiede liegen in der zeitlichen Dauer und in der Art der Verfolgungssituation. Holocaustüberlebende waren über viele Jahre verfolgt bzw. lebten über einen längeren Zeitraum in Konzentrationslagern bzw. Ghettos mit deren alltäglichen Unterdrückungs- und Zerstörungsmechanismen. Verfolgte in der Türkei konnten und können in eine andere Stadt oder Region innerhalb der Türkei fliehen. Folterüberlebende erleiden die Folter über einen kürzeren Zeitraum, über mehrere Stunden oder Tage, und sind je nach aktueller politischer Situation in der Gefahr, erneuten Diskriminierungen, Verfolgungen oder Folter ausgesetzt zu sein. Die Fluchtmöglichkeiten waren bzw. sind für Folterüberlebende aus der Türkei besser im Vergleich mit den Verfolgten während des Dritten Reichs. Ähnlichkeit besitzen beide Überlebendengruppen bezüglich ihrer Ohnmachtserfahrung gegenüber einer politischen Instanz, die willkürlich in die Integrität und die körperliche Unversehrtheit der verfolgten Menschen eingreift. Diese existentiell bedrohliche Erfahrung ist es, deren Erzählbarkeit in der „Normalität danach“ zur Disposition steht. In diesem Sinne ist die Erzählbarkeit von Folterund Verfolgungserfahrungen den der Holocaustüberlebenden ähnlich. Der Diskurs über die Erzählbarkeit von existentiell bedrohlichen Verfolgungs- und Gewalterfahrungen ist geprägt von verschiedenen Auffassungen, die das umfassende Erzählen dieser Erfahrungen bzw. das verstehende Zuhören von „heilsam“ bis zu „unmöglich“ einordnen (Ahmad 1996; Graessner/WenkAnsohn 2000; Platt 1998; Scarry 1992; Semprum 1989; Rosenthal 2002; Terr 1997; Wiesel 1993). Diese Heterogenität und die mit den verschiedenen Haltungen verbundenen Argumenten stelle ich im Weiteren vor.
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b.1) „Der wahre Zeuge kann hier nur stumm sein.“ WIESEL 1987, S. 203
In diesem Abschnitt gehe ich auf die Position ein, dass alles Erlebte und Erfahrene des Überlebens nicht in Sprache transformierbar ist. Das Erfahrene und Erlebte als Opfer von Verfolgung und Gewalt bleibt in dieser Perspektive vor allem aufgrund seiner Komplexität und Grausamkeit immer eine individuelle Angelegenheit, die einsam machen kann. Innerhalb dieser Perspektive gibt es zwei etwas unterschiedliche Sichtweisen. Einerseits gibt es die Position, die besagt, dass z. B. der Holocaust undarstellbar, nicht ausdrückbar sei (Adorno 1975; Lyotard 1987). Andererseits gibt es die Einschätzung, dass alles ausdrückbar, also sagbar sei, an was sich die Überlebenden erinnern können, aber es könne zu keinem Zeitpunkt jemals jede Facette des Erlebten und Erfahrenen gesagt werden (Semprum 1990, S. 101; 1995, S. 23). Jorge Semprum als Holocaustüberlebender hat bis 1962 nicht über seine Holocausterfahrungen schreiben oder erzählen können. Über diese Zeit äußerte er viele Jahre später folgendes: „Es war nicht möglich zu schreiben – es wäre unmöglich gewesen, das Schreiben zu überleben. ... Mich stieß jede geschriebene Seite, die ich mir mit Gewalt entreißen musste, hinein in eine unheilvolle und todbringende Erinnerung, sie raubte mir den Atem mit den Ängsten jener Vergangenheit. Ich musste zwischen Schreiben und Leben wählen und entschied mich für das Leben.“ (Semprum 1994, S. 34) Ähnlich dem unaufhörlichen Erzählen stellte für Semprum das Erzählen oder Schreiben selbst eine Bedrohung dar. Wenn die überlebende Person nicht bereit für diesen Schritt des Erinnerns und des Öffentlichmachens ist, ist ein Erzählen unmöglich und kann psychologisch ausgedrückt „retraumatisierend“ sein. Der Preis des Erzählens ist in dieser Perspektive, dass die erzählende Person sich nur auf die Vergangenheit konzentriert und das gegenwärtige Leben darüber vergisst (Semprum 1989, S. 376). Die andere Perspektive über die Unaussprechlichkeit vom Überleben besagt, dass z. B. die Folter mit all ihren Implikationen nicht in ihrer Vielschichtigkeit kommunizierbar ist, da das Vokabular und die kulturell angebotenen Möglichkeiten der Versprachlichungen zu gering sind (Platt 1998; S. 252). Das Trauma bleibe in seiner Komplexität dem Gedächtnis stets unverfügbar und jedes Erinnern komme einer inadäquaten Repräsentation gleich (Weilnböck 2007, S. 45). Dieser Standpunkt impliziert, dass beispielsweise die Foltererlebnisse aufgrund ihres „Wesens“ nie eine adäquate Versprachlichung finden können. Die Erinner- und Erzählbarkeit von traumatisierenden bzw. traumatischen Erlebnissen wird durch die Tatsache erschwert, dass diese Erlebnisse in einem
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außeralltäglichen Kontext stattgefunden haben und es den Überlebenden kaum, gar nicht oder nur schwer gelingen kann, diese in einen alltäglichen Kontext zu übertragen. Die extrem gewalttätigen Erfahrungen wurden unter anderen Rahmenbedingungen gemacht. Eine wirkliche Integration traumatischer Ereignisse ergibt sich oft erst im Laufe einer Stabilisierung und Verarbeitung der Erlebnisse (Graessner/Wenk-Ansohn 2000, S. 82-85). Im Kontext der Forschungsfragen und des konkreten Kontextes dieser Forschungsarbeit kann schon jetzt aus theoretischen Erkenntnissen und Überlegungen heraus festgehalten werden, dass auf gesellschaftlicher Ebene das umfassende und kollektive Schweigen über Gewalterlebnisse und über deren Kontexte eben diese Gewalt legitimieren kann. Ein Schweigedogma oder Tabu über Gewalt und ihre Kontexte führt mit hoher Wahrscheinlichkeit, wie Harald Weilnböck (2007, S. 30-32) ausführt, dazu, dass sich Gewaltstrukturen manifestieren und die TäterInnen durch ein Schweigen der Opfer und Überlebenden unbehelligt bleiben. b.2) Sprechen der Opfer ist möglich, aber das Zuhören nicht Ein weiterer Aspekt der Schwierigkeit bis Unmöglichkeit des Erzählens vom Überleben betrifft die Seite der Zuhörenden, die die Überlebenserfahrungen nicht anhören, aufnehmen und verarbeiten können oder wollen. Jeder Mensch hat in seinem Leben schon mal Schmerzen empfunden. Sich den unermesslichen Schmerz von Folterungen vorzustellen oder empathisch zuhörend nachzuvollziehen, übersteigt laut Reemtsma (1991a, S. 12-13) einerseits den Vorstellungshorizont der nicht gefolterten Menschen und bringt andererseits die Zuhörenden mit ihren Ängsten und (verdrängten) Schmerzerfahrungen oder Schuldgefühlen in Kontakt, die zu einer Abwehr eines empathischen Zuhörens führen kann. Nicht selten reagiert das soziale Umfeld auf Erzählungen über Gewalt und Schmerz mit Weghören, Unverständnis oder mit im- oder expliziter Leugnung des Erzählten. Besonders weitreichend ist m. E. die Leugnung des Erzählten, wenn durch den Unglauben an den Wahrheitsgehalt des Erzählten der Aufenthaltsstatus eines Flüchtlings verschlechtert wird. Auf eine solche Reaktion beim Gegenüber zu treffen, nachdem sich das Folteropfer bzw. der Folterüberlebende erzählend geöffnet hat, kann für die betroffene Person retraumatisierend sein und das Misstrauen gegenüber der Umwelt verstärken. Ein Zuhören z. B. von sexuellen Gewalterlebnissen kann mit Schuld und Scham verbunden sein. Auch dann wird ein Zuhören erschwert. Bei den Zuhörenden werden Schuld- und Schamgefühle ausgelöst und zur Aufrechterhaltung des Tabus darf ein empathisches und verstehendes Zuhören nicht stattfinden. Die Reaktion auf diese Tabuverletzung kann Abwehr des Gegenübers sein und ent-
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sprechend wird der erzählenden Person entweder kein Glauben geschenkt oder ihr sogar Schuld an der erlittenen sexuellen Gewalt gegeben. Manche Überlebenden berücksichtigen diese gesellschaftlichen Tabus und Schamgefühle ihres Gegenübers und selektieren in ihrer Erzählung entsprechende Passagen aus (Kopecny 1999, S. 17). b.3) Durch Sprache kann Heilung stattfinden Die Position, dass durch Sprache Heilung stattfinden kann, ist die hoffnungsvollste Position der Überlebendenforschung. Die Erzählung über Gewalt besitzt laut Platt (1998, S. 253-254) einen Vermächtnischarakter. Sie ist eine Art Zeugnis, dem eine wichtige Stellung im Trauerprozess der Erzählenden zukommen kann. Das Überleben kann eine Erfahrung werden, die nie vergangen ist, sondern die immer wieder durch Erzählungen in Erinnerung gebracht wird. Der Heilungsprozess besteht im beständigen Erinnern und Erzählen bereits verdrängter und schmerzhafter Erlebnisse. Mit jedem Erzählen kann aus dieser Perspektive eine andere Facette des Erlebens zum Ausdruck kommen. Das aufmerksame und der Erzählung Glauben schenkende Gegenüber ist eine Voraussetzung für diesen Heilungsprozess. So kann durch das Erzählen ein heilsames Vergessen im Sinne eines „Loslassens“ generiert werden (Blanchot 1993, S. 148). Die Erinnerung an vergangene Erlebnisse und deren sprachliche Bearbeitung ist mit zukünftigen Erwartungen verbunden und „der Funktionsfähigkeit der Lebenspraxis im Ganzen. Erinnern heisst hier Vorwärtserinnern.“ (Kauppert 2007, S. 104) Michael Kauppert schreibt, dass es eine besondere Leistung des menschlichen Bewusstseins sei, dass es sich in dem Maße aufs Sprechen verlegt, wie die Nachahmung von traumatischen Erlebnissen zu seiner Selbsttherapie beitragen. In der Psychotherapie mit Gefolterten wird, wie Ahmad (1996) ausführt, im Rahmen des „konstruktiv-narrativen Ansatzes“, der auch in Deutschland in der Psychotherapie mit Folterüberlebenden eingesetzt wird, durch Geschichtenerzählen versucht, den Gefolterten ihr soziales, psychisches und geistiges Rehabilitieren und Weiterleben zu ermöglichen. Der Grundgedanke ist, dass alternative Handlungs- und Orientierungsangebote entwickelt werden können, die die Heilungsprozesse der Erzählenden fördern (Ahmad 1996). Sich in Anwesenheit eines anderen Menschen zu erinnern, verbindet das Ich mit dem Du. Durch diesen Prozess wird auch eine Beziehung zum Selbst wieder ermöglicht (Kinston/Cohen 1986, S. 823; Boss 2008, S. 64-65; Laub 2000, S. 69). Heilung kann Gabriele Rosenthal (1995, S. 174) folgend nur für diejenigen geschehen, die sich dem Prozess des Erzählens, des Sich-Öffnens hingeben. Die Opfer, die nicht über ihre Erlebnisse bzw. Erfahrungen erzählen können oder möchten, werden sich auch nicht zwingen lassen zu sprechen. Das Erzählen kann
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einerseits eine kathartische Wirkung für die erzählende Person haben, indem Belastendes abgegeben wird. Zudem ist die Erfahrung, dass das Schrecklichste aussprechbar, kommunizierbar und somit real ist, erleichternd. Ein empathisches und aufmerksames Zuhören ohne viele Nachfragen und mit einem Blick auf die gesamte Lebensgeschichte ist, wie es auch das in dieser Forschungsarbeit angewandte biografisch orientierte „Narrative Interview“ vorschlägt, bei der Erzählung von Verfolgungs- und Gewalterlebnissen hilfreich (Rosenthal 1995, S. 175176). Dennoch kann es sein, dass ein Rest, ein Nicht-Wissen immer bestehen bleibt. Diese Situation zu akzeptieren, wäre auch Teil des Heilungsprozesses. Die Erzählenden dürfen u. a. durch die Unterstützung der Zuhörenden erkennen, dass die Verantwortung und Schuld für die ihnen angetane Gewalt im Außen und nicht bei ihnen, den Opfern, liegen. Ein anderer möglicher heilsamer Effekt des Erzählens ist, dass der/die Erzähler/in sich zum/r Akteur/in seiner/ihrer Geschichte macht und so Handlungsautonomie wiedererlangt. (Rosenthal 1995, S. 182-183) Die Frage nach dem Ausmaß der Heilwirkung bzw. der Unmöglichkeit eines Erzählens bleibt in dieser Forschungsarbeit empirisch im Einzelfall zu prüfen.
III. „Kurdischsein in der Türkei“ und „Flüchtlingsleben in Deutschland“
Diese beiden externen Kontexte der „Konditionellen Matrix“1 beeinflussen und bestimmen das Leben von Frau Hofmann, Frau Karahan, Frau Coskun und und Frau Arslan. Ihr Handeln und Orientieren wurde maßgeblich von den politischen, sozialen und ökonomischen Situationen in den kurdischen Gebieten der Türkei und in Deutschland als Fluchtland mit seinen Gegebenheiten für Flüchtlinge und Folterüberlebende umrahmt. Zum tieferen Verständnis der äußeren Matrixlevel dient dieses Unterkapitel. Die vier Frauen lebten und leben unter Lebensbedingungen, die sie phasenweise in ihren Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten stark beeinflussten. Diese Heteronomien, die das Leben in den kurdischen Gebieten der Türkei und als (rechtlich nicht anerkannter) Flüchtling in Deutschland hervorbrachte, wirkten und wirken auch noch in der Gegenwart bis in das Innerste der vier Frauen. Der Einfluss dieser externen Kontexte reichte so weit, dass die vier in der Türkei gefolterten Frauen aus dem Kontext der kurdischen Türkei geflohen sind, um ein verfolgungsfreies Leben in Deutschland zu führen. Dieser Wechsel des externen Kontextes geschah nicht freiwillig und führte sie in neue Fremdbe1
Die Matrix (Corbin/Strauss 2008; Strauss 1991a) verbindet gesellschaftliche Strukturen mit individuellem Handeln und versucht zu erklären, ob und inwieweit sich die verschiedenen Ebenen der Strukturen und des Handelns gegenseitig beeinflussen. Bei der „Konditionellen Matrix“ zentrieren sich die Kontexte um die Handlungen, die das zu erforschende Phänomen oder die Fragestellung betreffen. Die Matrix ist als interaktionelles System gedacht. Eine der wesentlichen Aufgaben ist es, in entsprechenden Forschungsarbeiten wie dieser die Matrixniveaus inhaltlich zu benennen und die konkreten Beeinflussungsmechanismen der jeweiligen Levels aufzudecken.
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stimmungen ihrer Lebensbedingungen. Das Leben zuerst als rechtlich nicht anerkannter Flüchtling bedeutet auch in einem demokratischen, freiheitlich orientierten Land wie Deutschland enormen Begrenzungen in den Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten ausgesetzt zu sein. Dieses Kapitel versteht sich als rahmender Teil der Fallanalysen, da relevanten „Konditionellen Matrizes“ zur Rekonstruktion und damit zur Beantwortung der Forschungsfrage unerlässlich sind. Um die folgenden Fallanalysen und die Fallvergleiche mit ihren Erkenntnissen nachvollziehen und verstehen zu können, werden die Lebensbedingungen in den kurdischen Gebieten der Türkei und als Flüchtling in Deutschland nachvollzogen. Sie dienen dem Verständnis der Handlungen und Orientierungen der vier Frauen im Kontext von Verfolgung, Folter und Flucht.
1. S OZIOKULTURELLER K ONTEXT : K URDISCHSEIN IN DER T ÜRKEI Die Lebensbedingungen der KurdInnnen in der Türkei waren die Grundlage der Sozialisation der Probandinnen. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bilden die Grundlage für die jeweils individuelle Sozialisation und Vergesellschaftung, für die Handlungen und Orientierungen, für die Resilienz. Diese Konditionelle Matrix beschreibt und analysiert die Situation der KurdInnen in der Türkei, als die vier Frauen, ihre Eltern und ihre Großeltern dort aufwuchsen und lebten. Als kurdische Türkin geboren worden zu sein, evozierte spezifische Krisenerfahrungen und deren Bewältigung. Ich werde makrogesellschaftliche Einflüsse wie Geschichte, Kultur und Werte der KurdInnen, die Verfolgungen und Auseinandersetzungen zwischen KurdInnen und TürkInnen, sowie die Menschenrechtslage in diesen Gebieten thematisieren. Auf mikrogesellschaftlicher Ebene werde ich familiäre Strukturen und Rollen und die Situation und soziale Stellung der kurdischen Frauen als Einflussfaktoren auf das Leben der Kurdinnen erläutern. a) KurdInnen in der Türkei a.1) Geschichte und Gegenwart der KurdInnen in der Türkei Kurdistan kann als geografischer Begriff der hauptsächlichen Besiedlung bestimmter Regionen durch KurdInnen oder als politischer Zielbegriff verwandt werden. Eine allgemein akzeptierte Verwendung existiert nicht (Bozkurt 1994, S. 27-29). Martin Stohmeier und Lale Yalcin-Heckmann (2000, S. 20) führen aus, dass VertreterInnen der kurdischen Freiheitsbewegung den Begriff als Aus-
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sage ihrer unabhängigen Existenz verwenden. Staaten, in denen KurdInnen leben, vermeiden oder verbieten ihn. Der Begriff existiert seit dem 1. Jahrtausend und heisst auf persisch „Land der KurdInnen“. Offiziell wird Kurdistan derzeit nur für die Provinz im Iran verwendet. Das „Herz“ Kurdistans sind die östlichen Gebiete des Taurusgebirges auf türkischem Territorium und das westliche Zagrosgebirge im Iran. Diese gebirgige Landschaft hatte Einfluss auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der kurdischen Bevölkerung. Aufgrund ihrer Abgeschiedenheit war die Region bis in die jüngere Zeit hinein von Ackerbau und Viehzucht bestimmt (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 21-23). Wieviele KurdInnen in der Türkei leben, ist umstritten. Es existiert seit 1985 keine Bevölkerungsstatistik mehr, die nach der jeweiligen Muttersprache der türkischen StaatsbürgerInnen differenzieren würde. D. h. die KurdInnen und andere Minderheiten werden in der Türkei nicht mehr erfasst. Hinzu kamen massenhafte (Flucht-)Migrationen, die eine Schätzung der verschiedenen Minderheiten in der Türkei noch schwieriger werden ließ. (Bozkurt 1994, S. 32) Es werden in verschiedenen Literaturen und Internetseiten 14% bis 20% der Gesamtbevölkerung als kurdisch eingestuft. Dies würde bedeuten, dass bis zu 18 Millionen KurdInnen in der Türkei leben. Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei beispielsweise schätzte 2009 diese Zahl auf 12,6 Millionen Menschen. Da im Genogramm aufgrund des innerfamiliären Einflusses und der innerfamiliären Prägungen (von beispielsweise Bewaltigungsmechanismen) bis zur Großelterngeneration analysiert wird, wird im Folgenden die Zeit ab 1920 bis 2002 in Eckdaten erläutert. Der Zeitstrang endet 2002, da alle Frauen in den 1990er Jahren aus der Türkei nach Deutschland geflohen waren. 1923: Der Friedensvertrag von Lausanne beendete den Krieg zwischen der Türkei und den Griechen zugunsten der Türkei. Kemal Atatürk rief die Türkische Republik aus. Obwohl es im Lausanner Vertrag anders geregelt wurde, gab es nach dem Kemalismus keinen Platz für andere ethnische oder kulturelle Gruppen in der Türkei. Es begann die Politik der Zwangsassimilation (Kurdmania 2011). 1925: Eine halbe Million kurdischer ZivilistInnen wurde ermordet (Kopecny 1999, S. 163). 1932: Ankara verkündete ein Gesetz zur Deportation und Versprengung der KurdInnen. KurdInnen wurden nach Zentral- oder Westanatolien deportiert. 1936-1938: Der bewaffnete Widerstand der KurdInnen von Dêrsim (türkisch: Tunceli) wurde durch die türkische Staatsgewalt niedergeschlagen. Danach erfolgten erneut Deportationen in die Westtürkei. Diese Zeit wurde als „Dêrsim Genozid“ bekannt (Kurdmania 2011).
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1946-1960: Nach 1946 wurde die Parteienlandschaft in der Türkei neu geordnet und es fand teilweise eine Eingliederung der kurdischen Minderheit in die „Mehrheitsgesellschaft“ statt. Eine Phase der Entspannung war mit geringer militärischer Kontrolle und der Installation von Internatsschulen in den kurdischen Gebieten in den 50er Jahren verbunden. Es war trotz der staatlich verordneten Säkularisierung der Bevölkerung ein Wiedererstarken des Islam durch die Wiederbelebung der Medresen und den Aufschwung religiöser Orden zu beobachten. Einige kurdische islamische Führer gewannen an Reichtum und Einfluss (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 93-97). 1961: Es trat eine neue Verfassung in Kraft, die das Gründen und Verbreiten linkspolitischer, marxistisch orientierter und an der kurdischen Kultur interessierter Gruppierungen in der Türkei ermöglichte. Aufgrund dieser Bewegungen konnten Großteile der städtischen KurdInnen mobilisiert werden, die sich zu einer Sozialbewegung entwickelten, die für die Autonomie der kurdischen Gebiete bzw. für einen unabhängigen kurdischen Staat einsetzten (Kurdmania 2011). 1965: Gründung der Kurdischen Demokratischen Partei der Türkei, KDPTürkei. Zum ersten Mal durften ausländische BesucherInnen nach Nordkurdistan einreisen. Die Region war seit 1925 für Ausländer verbotenes Militärgebiet. 1971: Viele Gruppierungen mit Autonomiebestrebungen und solche, die die kurdische Sprache erhalten wollten, wurden verboten. In dieser Zeit verstärkte sich ihr Einfluss auf die kurdische Bevölkerung, die sich aufgrund der vielen Verbote und Restriktionen ihr gegenüber bedrängt sah. 1974: Gründung der Sozialistischen Partei Kurdistan/Türkei PSKT in Ankara. DieHerausgabe verschiedener Zeitungen in Kurdisch und Türkisch begann. Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes 1978 stellte die Organisation in der Türkei ihre Arbeit ein. Die meisten Mitglieder gingen nach Europa ins Exil. 1976: Bei einem schweren Erdbeben in der Region Van kamen mehrere tausend Menschen ums Leben. Viele starben an den Folgen ihrer Verletzungen und wurden Opfer der Winterkälte. Mehr als 100.000 kurdische Bauernund Bäuerinnen und ihre Familien wurden obdachlos. Die humanitäre Hilfe von türkischer Seite fiel sehr gering aus (Kurdmania 2011). 1978/1979: Am 27.11.1978 wurde die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK 2, gegründet. Rechtsextreme Todesschwadronen der „Grauen Wölfe“ griffen aktiv führende Streikende in den kurdischen Gebieten an. Sunnitische Anhänger Erbakans, der stellvertretende Ministerpräsident, ermordeten linke kurdische EinwohnerInnen von Meresh, die meisten von ihnen waren AlevitInnen. Wenige
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Die PKK war und ist eine Guerillaorganisation, die sich gegen die RepräsentantInnen des türkischen Regimes wendet/e.
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Tage später verhing Ministerpräsident Ecevit den Ausnahmezustand über acht kurdische Provinzen und über Meresh, Sivas, Istanbul, Ankara und Adana - die Zentren der Streikbewegung. Der Ausnahmezustand wurde wenig später auf sechs weitere kurdische Provinzen erweitert. Nur 10% der staatlichen Investitionen und rund 2% aller Handelsinvestitionen flossen in die kurdischen Gebiete. Die kurdischen Gebiete waren ökonomisch abgehängt (Kurdmania 2011). 1980: Am 12.09.1980 putschte General Evren gegen die amtierende Regierung. Der Putsch richtete sich eindeutig gegen die erstarkten linken und kommunistischen Kräfte in der Türkei. Tausende von politischen Gefangenen wurden gefoltert und zum Tode verurteilt (Amnesty International 1985, S. 5-10. Die PKK zog sich in den Libanon zurück. Türkische und kurdische oppositionelle Gruppen gingen ins Exil, die meisten nach Europa. 1984: Nach einigen Jahren bürgerkriegsähnlicher Zustände in den kurdischen Gebieten der Türkei trat die PKK 1984 erstmals mit gewaltsamen Aktionen in die Öffentlichkeit. Die Aktionen der PKK richteten sich auch gegen andere KurdInnen wie DorfschützerInnen3, LehrerInnen oder PolizistInnen, die auf die „falsche“ Seite gewechselt waren. Der von der türkischen Staatsmacht erwünschte Erfolg stellte sich ein. Das Militär kontrollierte die Region, die Regionalgouverneure wurden mit Macht ausgestattet, in der Region wurde der Kriegszustand ausgerufen. 1989: Die Menschenrechtskonvention und später die Anti-Folterkonvention wurden von der Türkei unterschrieben. Dies entsprach nicht der realen Situation in der Türkei. Es waren immer noch tausende Menschen inhaftiert, es existierten staatlich organisierte Folterkommandos neben demokratischen Strukturen und freien Wahlen. Die freie Presse hatte nicht die Macht wie in anderen demokratischen Ländern (Erzerem 1990, S. 7-10). 1990: Die kurdische Intifida (Serhildan) fand statt. Am 10.08.1990 ging beim Europarat in Straßburg eine offizielle Note der türkischen Regierung ein, dass in den kurdischen Gebieten der Türkei fortan die Menschenrechte außer Kraft gesetzt seien. Bis zu diesem Jahr konnte kommunistisches Gedankengut strafrechtlich verfolgt werden. Ehemalige Folterer waren in gehobenen Positionen und wendeten noch immer dieselben Methoden an (Kurdmania 2011). Der damalige Staatspräsident Özal, der 1993 starb, trat in einen Dialog mit den KurdInnen ein und hob das kurdische Sprachverbot auf.
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Die DorfschützerInnen wurden durch den türkischen Staat (unter Zwang) eingesetzt, um das jeweilige Dorf vor der Guerilla zu schützen (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 110-111). Sie wurden mit Geld und Waffen beliefert und plünderten selbst die Dörfer oder okkupierten Land.
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1991-1995: Es wurden prokurdische VertreterInnen gewählt, die 1992 aus dem Parlament wieder ausgeschlossen wurden. Diese Zeit war eine besonders massive Zeit der Verfolgung und Vertreibung von KurdInnen. Nur die DorfschützerInnen überlebten und wurden vom türkischen Militär instrumentalisiert. (Koordinationsbüro Newroz 1995, S, 31) Deutsche PolitikerInnen, AnwältInnen und Organisationen stellten Strafanzeige gegen die Bundesregierung wegen Beihilfe zum Völkermord an den KurdInnen. Viele der Waffenlieferungen an den türkischen Staat kamen aus Deutschland (John in Plehwe 1995, S. 57-71). Es wurde ein einseitiger Waffenstillstand der PKK erklärt. Viele der vormals pro-türkisch, kemalistisch orientierten KurdInnen wendeten sich in dieser Zeit der Repression und Verfolgung einer ethnisch-kurdischen bis marxistisch-leninistischen Ideologie zu und organisierten sich teilweise mit Waffengewalt (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 102-111). 1999: Bis Ende der 1990er Jahre wurden etwa 1,5 Millionen Menschen aus ihren Dörfern vertrieben und viele dieser Dörfer niedergebrannt. Systematisch wurden soziale Strukturen und Erinnerungsorte vieler Menschen ausgelöscht (Kopecny 1999, S. 164-165). Entscheidend für eine innenpolitische Balance der Türkei und den Frieden in den kurdischen Gebieten wurde die Unterstützung und Toleranz gegenüber der kurdischen Kultur und deren Institutionen (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 111-115). 2002: Die Aufhebung der Todesstrafe in Friedenszeiten und ihre Umwandlung in eine lebenslange Haft wurde in der Türkei eingeführt. Die folgenden Jahre bis in die Gegenwart sind nicht detailliert beschrieben, da alle Interviewpartnerinnen bis Ende der 90er Jahre aus der Türkei geflohen sind. a.2) Kultur und Familie kurdischer TürkInnen Den Begriff Kultur verstehe ich in dieser Arbeit im Sinne der „Cultural Studies“ (CS). Kultur umfasst nach einem bekannten Vertreter der CS Stuart Hall (1999) die Bedeutungen und Werte, die innerhalb spezifischer sozialer Gruppen und Klassen auf der Basis ihrer gegebenen historischen Bedingungen sowie Beziehungen entstehen und mittels derer sie ihre Existenzbedingungen gestalten. Ebenfalls zählen gelebte Traditionen und Praktiken, durch die bestimmte Deutungen ausgedrückt und verkörpert werden, zu ihr. Kultur wird bei den CS außerdem als polyphoner, stets umstrittener und komplexer Prozess der Konstruktion soziokultureller Bedeutungen und Identitäten verstanden. Von der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein zeichnet die kurdische Kultur, wie Strohmeier und Yalcin-Heckmann (2000, S. 210-211) feststellen, ei-
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ne große gesellschaftliche Autonomiebestrebung aus. Auch wenn in vielen Forschungsarbeiten die Heterogenität und Differenz der verschiedenen kurdischen Stämme betont wird, eint die meisten KurdInnen der Wunsch nach politischer, ökonomischer und kultureller Freiheit und Eigenständigkeit. Wesentlich ist, dass es in den kurdischen Gebieten viele wechselnde Identitätszugehörigkeiten gibt, in der der eigene Stamm eine bedeutende war und teilweise noch ist. Der gemeinsame Wohnort und die gemeinsame Abstammung sind zwei Kernpunkte in den Theorien korporativer Gesellschaftssysteme wie dem der KurdInnen. Der Drang nach politischer Autonomie und Selbständigkeit ist laut Birgit Ammann (2004, S. 207) variabel. Er tritt seit der gewalttätigen Verfolgung der KurdInnen in der Türkei und dem Irak in den 1980er Jahren bis Anfang des neuen Jahrtausends deutlicher hervor. Damit geht ein Erstarken verschiedener radikaler kurdischer Organisationen wie der international agierenden PKK einher. Die durch die Verfolgung verstärkte Migration formiert einen Widerstand in der kurdischen Diaspora. In der Ökonomie überlappen bis heute Stammesstrukturen, seminomadische und nomadische Produktionsweisen, die von modernen Organisationsstrukturen durchflochten sind. In den kurdischen Gebieten leben Stammes- und Nichtstammesgruppen, ChristInnen, MuslimInnen und AlevitInnen. Die sunnitischen MuslimInnen sind die größte religiöse Gruppe und hegen einen Dominanzanspruch. Die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der KurdInnen ist feudalistisch organisiert. Diese war vor allem in den 1990er Jahren ein Hindernis bei Modernisierungsbestrebungen des laizistischen Staates. Die zweite Grundform sozialer Organisation ist die Stammesorganisation, die nicht nur antithetisch zur modernen Struktur steht, sondern auch die Stämme untereinander in Konflikt geraten lässt (Bozkurt 1994, S. 36-46). Die traditionelle kurdische Gesellschaft ist stark regionalisiert, (semi)nomadisch und zersplittert. Sie zeichnet laut Askim Bozkurt (1994, S. 34-35) eine akephale Organisationsform aus, die in politisch gleichrangig unterteilte mehrstufige Gruppen vermittelt ist. Sie ist eine segmentäre Gesellschaft im Sinne Èmile Durkheims (1996), die in Klans organisiert wird und intern in Familien unterteilt ist. In solchen segmentären Gesellschaften ist keine außerhäusliche, geordnete Dauergewalt vorhanden. Diese gesellschaftliche Situation sorgt für ständige Aushandlungs- und Neuordnungsprozesse. Die kleinste Einheit der Sozialorganisation bei den KurdInnen ist, wie Strohmeier und Yalvcin-Heckmann (2000, S. 205-208) ausführen, der „Mal“, der gemeinsame Haushalt, und die „Lineage“, die auf einer gemeinsamen Genealogie beruhende Abstammungsgruppe, die allein über den rechtlichen Status
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entscheidet. Die „Lineage“ meint eine patrilineare Verwandtschaftsgruppe, die von fiktiven Vorfahren abstammt. Diese Zugehörigkeit verpflichtet zur Solidarität und zu gemeinsamem Handeln. Die höchste Organisationsform ist der „Esiret“, der Stamm, wobei das wesentliche Element der Zugehörigkeit die vorgestellte oder tatsächliche patrilineare Abstammung ist. Es gibt immer wieder Stammeskonföderationen und Allianzen zwischen den „Esirets“. Ein Stamm hat traditionell Anspruch auf ein Territorium (Strohmeier/YalcinHeckmann 2000, S. 208). Die Nutzungsrechte für die Sommerweiden können inzwischen gekauft werden, was im Konflikt zur traditionellen Weitergabe von Nutzungsrechten steht. Aufgrund der Fluchtmigrationsbewegungen, der Bürgerkriege und der Modernisierungsentwicklungen werden die traditionellen Regelungen in Frage gestellt und befinden sich in einem Prozess der Auflösung, der Transformation, aber auch der Retraditionalisierung. Die „Aga“, die Stammesführer, sind theoretisch gegen Ausbeutungsstrukturen, profitieren aber praktisch von diesen. Unterwürfigkeit und Gehorsam gegenüber dem „Aga“ und der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Ehre sind noch immer Normen, die das Soziale von KurdInnen bestimmen. Die Stammesidentität ist heute eine von vielen bei den KurdInnen. Streitigkeiten innerhalb des Stammes verursachen neue Allianzen und Fragmentierungen in dessen sozialer Organisation. Es existieren gleichzeitig ein innerer kultureller Zusammenhalt und latente Spannungen. Der Umgang mit Straftaten, mit Norm- und Ehrverletzungen sind kulturell durch die noch geltende „Sippenhaft“ geprägt. Diese besagt, dass auch die Angehörigen z. B. von TabubrecherInnen für diese Tat mitverantwortlich sind. Diese ständige kollektive Verantwortung des Klans, der Familie oder der Kohärenz, der „Wir-Gruppe“ der Blutsverwandten, verstärkt deren Zusammenhalt und die sozialen Kontroll- und Sanktionierungsmöglichkeiten (Strohmeier/YalcinHeckmann 2000, S. 208-217). Ein weiteres Element der kurdischen Kultur ist, wie Karl Kaser (1995, S. 226) analysiert, die dichotome Einteilung in Freund und Feind. Jede Person, die der eigenen Abstammungsgruppe angehört, ist ein Freund und jede Person, die ihr nicht angehört, ist ein (potentieller) Feind. Diese Polarisierung ist die Folge eines völlig nach innen gerichteten, autofokussierten Abstammungskonzeptes. Im Milieu einer face-to-face-Gesellschaft, in der allen verwandtschaftliche und nicht verwandtschaftliche Beziehungen bekannt sind und in der nur FreundInnen und Verwandte solidarisch und loyal behandelt werden, sind alle Fremden potentielle Feinde (Durkheim 1996). Die Folge dieser Einteilung Fremden gegenüber ist ein sehr abgeschlossenes und misstrauisches System, das schwer transformierbar ist. Gegenwärtig hat sich diese Situation durch die schwierigen Lebensbedingungen von KurdInnen, deren Politisierung und Migrationsbewegungen
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geändert. Doch auch in der Migration sind Tendenzen der Abschottung, der Retraditionalisierung und der starken Innenzentrierung zu beobachten. Die kurdischen Gebiete erstrecken sich geografisch über die Nationalstaaten der Türkei, des Irak, Syriens, Armeniens und des Irans. In den letzten Jahren sind im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei den KurdInnen politisch und rechtlich immer mehr Möglichkeiten eingeräumt worden. Die Aufhebung der Verbote der kurdischen Sprache, kultureller Organisationen und Institutionen sind wesentliche Verbesserungen. In den kurdischen Gebieten der Türkei wird in erster Linie Kurmanci, aber auch Zazaki/Dimili gesprochen. Die Türkei war den Ausführungen Taner Akcams (in: Reemtsma 1991, S. 176-181) folgend seit der Einführung des Laizismus durch Kemal Attatürk lange ein Staat, der ausschließlich das politische Herrschaftssystem akzeptierte und außerstaatliche Institutionenbildungen verhinderte. Noch heute sind diejenigen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, in der Minderheit und gelten als AbweichlerInnen. Ideologisch wird dies durch das Ideal der Vereinheitlichung innerhalb der türkischen Nation verfestigt und legitimiert. In der Folge fehlen wirtschaftliche, politische, zivilgesellschaftliche und intellektuelle Strukturen, die eine kontinuierliche und systematische Opposition ermöglichen würden. Die Frage der Menschenrechte ist seit den massiven Übergriffen und bürgerkriegsähnlichen Situationen seit Ende der 1980er Jahre aufgekommen. Die Suche nach einer gemeinsamen Identität der verschiedenen Ethnien in der Türkei ist laut Akcam (in: Reemtsma 1991, S. 181) von der Frage nach dem Schaffen moralischer und religiöser Einheit und Gemeinschaftlichkeit geprägt. Individual- oder Minderheitenrechte spielen in dieser Diskussion keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Dementsprechend ist die Situation von Minderheiten. Sie wurden in der jüngeren und älteren Vergangenheit verfolgt und mit Gewalt unterdrückt. Die Idee individueller Freiheit musste und muss hinter die Idee einer kollektiven Persönlichkeit zurücktreten. Die sozialistische Bewegung (der KurdInnen) hat kaum zur Diskussion oder zur veränderten Situation der Menschenrechte in der Türkei beigetragen. Sie richtete sich in einer Haltung ein, bei der sich die Gefolterten in der Folter bewähren müssen und in der die Folter als Normalität akzeptiert wurde und wird (Akcam in: Reemtsma 1991, S. 182183). Die innere Ordnung der Haushalte und der Haushaltszyklus bestimmen laut Kaser (1995, S. 384-414) in hohem Maße den individuellen Zyklus und die individuelle Erfahrung. Über Generationen betrachtet sind die Auswirkungen der Modernisierung enorm: Es fand eine Trennung der Großfamilien statt, ein Wegzug bzw. die Vertreibung von Familien aus den kurdischen ländlichen Gebieten und ein rasches Verlassen des Hauses der erwachsenen Kinder. Dennoch blieben
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Traditionen wie zyklische Zeiteinteilungen oder patriarchalische Mechanismen erhalten. Die Autorität der Mütter stand und fiel mit der Unterstützung des Sohnes. Je paternalistischer das Umfeld ist, desto stärker unterstützt der Sohn seine Mutter auf Kosten der Unterstützung seiner Frau. Erste Zeichen des Aufbrechens des Patriarchats sind die Entsolidarisierungen des Sohnes von seiner Mutter und der Wegzug seiner Kernfamilie. Diesem Prozess gehen meist heftige Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Schwiegertochter voraus. Eine Allianz zwischen Mutter und Tochter ist in diesem System nicht sinnvoll, da die Tochter mit ihrer Hochzeit aus dem Haus geht und in der Hierarchie ganz unten steht. Dennoch sind zärtliche Zuwendungen von Mutter zur Tochter vorhanden. Je patriarchalischer ein System ist, desto umfassender kann der Bruder über seine Schwester herrschen. Gleichzeitig ist er ihr Beschützer und Bewacher. Aus dieser Perspektive ist die Distanz zwischen Ehemann und Ehefrau größer als die zwischen Bruder und Schwester. Kurdische Familienorganisation und Verwandtschaft im Modernisierungsprozess bedeutet, dass zwei verschiedene, sich teilweise widersprechende Mechanismen aufeinandertreffen. Für demokratische Neuordnungen sowie Nationalstaaten bedeuten das Patriarchat und traditionell organisierte Haushalte aus ordnungspolitischen und ideologischen Gründen ein Angriff auf ihre Prinzipien und Funktionsweisen. Kollektivbesitz, Nomadentum und ähnliche Praktiken sind für kapitalistisch nationalstaatlich orientierte Gesellschaftsformen nicht akzeptabel, da sie Besitz und Sesshaftigkeit und damit eine zentralistische Kontrollierbarkeit der Bevölkerung erschweren. Dies kann auch (individuelle, familiäre, gesellschaftliche) Konflikte erklären, die durch die Fluchtmigration von KurdInnen nach Deutschland entstehen. Wenn Frauen durch den Modernisierungsprozess Bildung erwerben und einer Lohnarbeit nachgehen, ist es für sie in der Regel eine Doppelbelastung, da sie gleichzeitig für den Haushalt und die Kindererziehung die Hauptverantwortliche bleiben. Traditionelle Geschlechterrollen überleben (nicht nur bei KurdInnen) den Modernisierungsprozess (Kaser 1995, S. 417438). Die Familie ist bei den KurdInnen laut Strohmeier und Yalcin-Heckmann (2000, S. 199-205) nicht unbedingt identisch mit den Mitgliedern eines Haushalts. Zu den Mitgliedern des Haushalts können Schutzbedürftige, Dienstpersonal, aber auch weit entfernte Verwandte gehören. Im „Mal“ als die kleinste Einheit eines Stammes fallen gemeinsames Wohnen und die wirtschaftliche bzw. konsumtive und produktive Einheit zusammen. Die Haushalte umfassen auch heute in ländlichen wie städtischen Regionen mehr Personen als die der Kernfamilie. Gemeinsames Wohnen kann saisonal begrenzt sein oder ununterbrochen. Im ländlichen Raum ziehen durch die Weidewirtschaft einige der Familienmit-
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glieder während des Sommers durch die Berge und kehren erst zum Winter in die Bergdörfer zurück. Auch Arbeitsmigrationen finden innerhalb der Türkei, aber auch in das europäische Ausland statt. Die Trennung von Haushalten, wenn die Söhne eigene größere Familien gegründet haben, ist meist ein schmerzvoller Prozess. Der Zusammenhalt der Familien ist größer, wenn der Vater mit den Söhnen zusammenarbeitet bzw. Land bewirtschaftet. Die Ideologie der patrilinearen Solidarität lässt aufgrund der Urbanisierung, der Migration, der Bildung und der Individualisierung nach. Die Stadt-Land-Migrationen zeigen eine Kontinuität in der Kontaktpflege und in den Traditionen der ehemals ländlichen Bevölkerung. Die Verbindung zu Menschen aus derselben Region entscheidet über den Umzug. Sozialer Aufstieg ist und bleibt schwer für die ehemalige Landbevölkerung aus den kurdischen Gebieten, da sie einerseits eine geringere Bildung erhielten und erhalten und andererseits aufgrund der traditionellen Berufs- und Geschlechterrollen im städtischen Milieu nicht leicht aufsteigen können. Frauen sind in patriarchalischen Systemen in Relation zu ihren Ehemännern deutlich jünger und zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit oft gerade volljährig. Zum einen verdeutlicht das höhere Lebensalter des Mannes seine Dominanz in der Paarbeziehung, zum Anderen muss er für den Lebensunterhalt einer Familie aufkommen können. Das sehr junge Heiratsalter der Mädchen von 10 oder 11 Jahren war bis vor wenigen Jahrzehnten in den kurdischen Gebieten der Türkei noch weit verbreitet und findet sich auch in den Genogrammen der Fallanalysen. Ein solches Heiratsalter wirkt sich nicht nur das Patriarchat festigend aus, sondern auch ungünstig auf die Persönlichkeitsentwicklung der Mädchen bzw. jungen Frauen aus. Erikson (1966) entwickelte für westliche Kulturen des 20. Jahrhunderts ein Lebenszyklusmodell, bei dem die Identität zwischen dem 13. und 20. Lebensjahr entwickelt wird. Lebenszyklisch ist die Phase zwischen dem 20. und dem 45. Lebensjahr die Zeit der Entwicklung einer tragfähigen Partnerschaft und der Intimität. Eine geklärte Identität bildet die Voraussetzung einer solchen Partnerschaft. Die Möglichkeiten des Sich-Verlierens und Sich-Findens im jeweiligen Gegenüber beginnen ab dem 20. Lebensjahr. Durch eine sehr frühe Heirat und die darauf folgende Familienbildung wird die Phase der Identitätsbildung mit typischen Aufgaben des Erwachsenenalters für diese Mädchen verkürzt. Durch die Beeinträchtigung dieser Lebensphase sind die folgenden Lebensphasen, die auf den jeweils vorhergehenden aufbauen, gestört. Die Heirat in jungen Mädchenjahren führt zur Reproduktion der sozialen, psychischen und ökonomischen Abhängigkeiten der Mädchen und Frauen (von ihren Ehemännern).
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a.3) Die Situation der kurdischen Frauen in der Türkei Frauen sind in traditionell patriarchalischen Strukturen für das Kinderkriegen, weitestgehend die Erziehung und die Haushaltsaufgaben zuständig. Sie werden in patriarchalischen Familien und Ehen auch präventiv geschlagen, um ihren Gehorsam und ihre Untertänigkeit gegenüber ihrem Ehemann bzw. der männlichen Herrschaft allgemein zu garantieren. Diese gewalttätig durchgesetzten traditionellen Geschlechterrollen sind auch in der kurdischen Kultur tief verankert. Auch in sozialistischen, prokurdischen und gewerkschaftlichen Organisationen hielten und halten sich diese stark patriarchalischen Strukturen und Mechanismen, auch wenn deren Ideologien die Gleichberechtigung von Männern und Frauen vorsehen (Savelsberg/Hajo/Borck 2000; Yasar in: Institut für Interkulturelle Forschung und Bildung 1996, S. 198-199). Die Frauen, die politisch tätig sind, müssen geschlechtslos erscheinen und einen männlichen Fürsprecher haben. Durch die Modernisierung und das Leben in einer städtischen Kernfamilie können manche Frauen nicht mehr durch die Männer „kontrolliert“ werden können. Es sind Transformationstendenzen erkennbar. Gelebte und umfassende solidarische Beziehungen zwischen Frauen sind laut Kaser (1995, S. 188-189) in patrilinearen Abstammungsgruppen selten. Wenn weibliche Solidarität praktiziert wird, ist sie nur zwischen den Frauen möglich, die aus anderen familiären Gruppen eingeheiratet wurden. Bis vor einigen Jahrzehnten waren diese Beziehungen die einzigen legalen Beziehungen zu anderen Gruppen. Die Wichtigkeit ihrer kommunikativen Rolle hing in erster Linie vom Ansehen der Abstammungsgruppe der eingeheirateten Frau ab. Für die eingeheiratete Frau entstand ein zweifaches Rollendilemma: Einerseits war sie ihrem Ehemann und dessen Familie verpflichtet und andererseits sollte sie sich immer noch solidarisch gegenüber ihrer Herkunftsfamilie, vor allem gegenüber ihren Brüdern, zeigen. Der Kern des weiblichen Netzwerkes bestand aus der Ehefrau, den Schwestern des Ehemannes, dessen Mutter und seinen Töchtern. Gleichzeitig fühlte sich die Ehefrau ihren eigenen weiblichen Verwandten stärker solidarisch verbunden. Sie durfte nur wenig Kontakt zu ihren weiblichen Blutsverwandten pflegen. Durch die auferlegte Solidarität, die oft mit Konkurrenzverhalten und Konflikten der Ehefrau mit ihren angeheirateten weiblichen Verwandten einherging, entstand ein wirksames System weiblicher Unterwerfung und der Reproduktion des Patriarchats. Diese Prinzipien sind in der Gegenwart noch nicht vollständig aus den familiären Systemen und Logiken verschwunden. Historisch betrachtet hatten Frauen vor der Islamisierung der KurdInnen weitgehende ökonomische und politische Rechte. Sie durften sich ihren Partner selbst aussuchen und ihr sexuelles Potential wurde geschätzt. Während ihrer Zeit als NomadInnen mussten sich kurdische Männer und Frauen als gleichberechtigt
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akzeptieren, da auch die Frauen arbeiteten und nicht auf ein Haus verwiesen werden konnten. Seit ihrer erzwungenen Sesshaftigkeit durch die Nationalstaatenbildung haben sich immer mehr patriarchalische Strukturen durchsetzen können (Yasar in: Institut für Interkulturelle Forschung und Bildung 1996, S. 200202). Kaser (2008, S. 148-154) rekonstruiert, dass es in der Zeit des aufkommenden Kemalismus Frauen gelang, sich im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Der Kemalismus stärkte ihre Position innerhalb der traditionellen Familienordnung und definierte die Frau als Gefährtin im Arbeitsbereich neben, aber immer noch etwas unterhalb des Mannes. Diese top-down-Entwicklung kann als staatliche verordnete Stärkung der Rechte der Frauen definiert werden. Das Konzept der top-down Gleichberechtigung ließ die bottom-up Frauenbewegung lange verstummen. Der Widerspruch zwischen gleichberechtigter rechtlicher Stellung und der realen Situation der Frauen wurde und wird sehr langsam erkannt und öffentlich thematisiert. Die Differenz von Männern und Frauen bezüglich des Analphabetismus beispielsweise war in den 1970er Jahren in der Türkei die höchste der Welt. In den kurdischen Gebieten lag die Analphabetinnenrate noch Ende der 1990er Jahr bei knapp 50%. Die erste kurdische Frauenbewegung von unten entstand, wie Yasar (in: Institut für Interkulturelle Forschung und Bildung 1996, S. 214-216) ausführt, aus politisch aktiven Flüchtlingsfrauen, die sich den Fragen der Gleichberechtigung stellten. Sie nutzten die Erfahrungen der Weltfrauenbewegung und trugen ihre sexuelle Identität und Forderungen offen vor und identifizierten die kurdischen Befreiungsprogramme als männliche. Ihrer Auffassung nach müssen alle Programme der kurdischen Freiheitsbewegung immer auch unter geschlechtsthematischen Gesichtspunkten analysiert und umformuliert werden. Die kurdische Befreiung könne nicht durch die Beteiligung der Frauen an einem männlichen Befreiungsprojekt durchgesetzt werden. Mindestens zwei Identitäten seien zu vereinbaren: die als Kurdin und die als Frau. Kurdische Männer wollen die jeweiligen Herrschaftssysteme und die nationale (türkische) Identität stören bzw. zerstören. Sie wenden zur Durchsetzung ihrer eigenen Herrschaftsansprüche auch Gewalt gegenüber Macht beanspruchenden kurdischen Frauen und den VertreterInnen der Nationalstaaten an. Gegen diese Situation stellen sich kurdische feministisch orientierte Frauenorganisationen. (Häuslicher) Gewalt gegenüber Frauen wird in der Türkei, wie Amnesty International (2008, S. 9) zu berichten weiß, nur unzureichend strafrechtlich und normativ begegnet. Es gab Bemühungen, die Zahl der Frauenhäuser für weibliche Opfer häuslicher Gewalt zu erhöhen, indem z. B. eine Quote pro EinwohnerInnen eingeführt wurde. Diese Quote wurde von 2004 bis 2008 jedoch bei wei-
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tem nicht erreicht. Es wären weitere Bemühungen und Änderungen der herrschenden Wertvorstellungen und der Moral erforderlich, um häusliche Gewalt nachhaltig und umfassend zu veröffentlichen, zu verfolgen und diese zu unterbinden. Auch der national geltende telefonische Notruf, der eingerichtet werden sollte, wurde bis 2008 noch nicht realisiert. Insgesamt ist die Situation der kurdischen Frauen in der Türkei von physischer und psychischer Gewalt und tief verankerten paternalistischen Strukturen geprägt, die in der breiten Masse nur sehr langsam in Bewegung geraten. Die Unterdrückung und Ausbeutung von Kurdinnen findet nicht nur aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, sondern auch aufgrund ihres Geschlechts statt. Diese zusätzliche Belastung aufgrund des Geschlechts werde ich ebenso wie den geschlechtsspezifischen Unterschied im Umgang mit Stress und Krisen in dieser Studie berücksichtigen. a.4) Religion und Laizismus von KurdInnen in der Türkei Wie bereits erwähnt, gehört der Großteil der TürkInnen und KurdInnen laut Strohmeier und Yalcin-Heckmann (2000, S. 49-54) dem sunnitischen Islam an. Es gibt heute nur noch wenige kurdische Gruppen, die nicht islamisiert sind und anderen Religionen angehören. Seit den 1980ern wurde die sunnitische Ausprägung des Islams richtungweisend für die türkische Kultur und die herrschenden Moralvorstellungen (ZellerMohrlock 1992). Die meisten sunnitischen KurdInnen, zu denen sich auch Frau Karahan, Frau Coskun und Frau Arslan zählen, gehören im Gegensatz zu den sunnitischen hanafitischen TürkInnen und IrakerInnen der schafiitischen Rechtsschule an. Diese ist bekannt für ihre Offenheit anderen religiösen Elementen gegenüber und kann als Volksislam bezeichnet werden. Eine besondere Rolle nehmen die AlevitInnen, zu denen Frau Hofmeister gehört, ein, die eine andere Auslegung der Schia beanspruchen. Sie bezeichnen sich selbst als AnhängerInnen Alis und werden wegen ihrer Heterodoxie weder von den SchiitInnen noch von den SunnitInnen als MuslimInnen anerkannt. Neben den traditionell islamischen folgen sie auch synkretischen und esoterischen Lehren und streben eine Verinnerlichung der religiösen Erfahrung an, statt einer Orthodoxie oder Orthopraxie zu folgen. All diese Besonderheiten führten und führen in vielen islamischen Ländern zu ihrer Verfolgung und Diskriminierung (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 42-46). Der Laizismus in der Türkei ist aufgrund seiner historischen Entwicklung kompliziert und mit religiösen Strömungen verstrickt. Den Laizismus in der Türkei prägte Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, der vehement für einen nationalen Staat eintrat, dessen politische Sphäre sich von der des Religiösen
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trennen sollte. (Agai 2004; Jäschke 1951) Die Grundpfeiler des Laizismus und der Demokratie sind die Wissenschaft und die Vernunft. Religion und Glauben sind ihre Antagonisten, die aus der modernen Politik verbannt wurden. Besonders der frühe Kemalismus musste sich laut Bekim Agai (2004) vom Islam als einer potentiellen Gefahr für seine Herrschaft abgrenzen. Dieses Gefahrenpotential prägte seine Ideologie. Der türkische Nationalismus, der Minderheiten als Bedrohung wahrnahm und wahrnimmt und das Bekenntnis zur laizistischen Republik sind durchgängige Merkmale des Kemalismus. Paradoxerweise findet der Islam, wie Agai (2004) ausführt, im Nationenkonzept des Kemalismus als nationales Kulturgut seinen Platz. Erst der Islam konnte aus der ethnischen und kulturellen Heterogenität der auf osmanischem bzw. türkischem Gebiet lebenden Menschen eine Nation werden lassen. Diese Religion vereinte zumindest spirituell und kulturell KurdInnen, ArmenierInnen, KaukasierInnen, AlbanerInnen, BosnierInnen und TartarInnen zu TürkInnen. Wer sich nicht subsumieren ließ, wurde mit Gewalt unter den Schirm der Nation gebracht. In der Türkei ist das Ministerium für Religionsangelegenheiten, Diyanet, laut Verfassung für die nationale Einheitssicherung zuständig und der entstandene sunnitische Staatsislam soll die staatliche Politik in religiöser Bildung und im Religionsunterricht unterstützen und predigen. Schließlich setzte sich in der Türkei die islamisch ausgerichtete „Refah Partisi“ Erbakans für eine gerechte Ordnung im Sinne des Islam ein und gewann 1996 die Parlamentswahlen. Diese wurde 2002 von der gemäßigteren AKP Erdo÷ans abgelöst. (Mecham 2004) Auf die Ideen eines liberalen Kemalismus stützen sich heute die meisten türkischen PolitikerInnen. Intern konnten sich die islamischen Reformkräfte nur durchsetzen, weil es eine Beitrittsperspektive in die EU und damit verbundene Forderungen gab. Es ist gegenwärtig ersichtlich, dass die Kräfte aus dem radikal-islamischen Milieu stärker aufleben können. Es hat bereits eine Wende zum konservativen Islam in der Türkei gegeben und die Möglichkeit zu einer stärkeren Radikalisierung besteht noch immer (Agai 2004). b)Verfolgung und Folter von KurdInnen in der Türkei b.1) KurdInnen als verfolgte Minderheit in der Türkei KurdInnen wurden kontinuierlich von der osmanischen bzw. türkischen Herrschaft verfolgt und unterdrückt, aber auch phasenweise unterstützt und als PartnerInnen betrachtet. In den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre während der Zeit der bürgerkriegsähnlichen Zustände in den kurdischen Gebieten wurde, wie Frau Arslan schmerzlich erfahren musste, abends in den meisten Dörfern und Städten eine Ausgangssperre verhängt, die durch die Präsenz von Militärpanzern und Scharfschützen durchgesetzt wurde (Erzerem 1990, S. 48-49). Die Spirale
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von Gewalt und Gegengewalt begann. Je mehr KurdInnen verfolgt und gefoltert wurden, desto mehr KurdInnen schlossen sich der PKK oder anderen Gewalt ausübenden kurdischen Organisationen an. Strafrechtliche Konsequenzen für die folternden und mordenden türkischen Polizisten und Militärs gab es nur sehr vereinzelt. Sie setzten im staatlichen Auftrag Methoden der Massenvernichtung wie C-Waffen, Todesschwadrone oder Feuerstürme zur Vernichtung ganzer Landstriche, Wälder und Dörfer ein, um den Widerstand und die sozialen Strukturen der KurdInnen nachhaltig zu zerschlagen. Die von der türkischen Herrschaftselite eingesetzte Methode, reaktionäre Stammesorganisationen zu fördern, um die KurdInnen gegeneinander aufzuwiegeln, war ebenfalls eine wirksame Strategie der Entsolidarisierung (Erzerem 1990, S. 48-61; Ofteringer in: Plehwe 1995, S. 30-34). Durch die Dorfzerstörungen und die Einführung der DorfschützerInnen sind Serdar Celik (in: Plehwe 1995, S. 51-52) folgend viele Bauern und Bäuerinnen aus den kurdischen Gebieten in die Städte geflohen, in denen sie ihre Arbeitskraft für Hungerlöhne verkauf(t)en. Der Städtezuwachs wiederum hatte zur Folge, dass neue Probleme im Gesundheitswesen, im Bildungs-, Wohnungs- und Ernährungssystem entstanden, die die staatliche Seite nicht beheben konnte oder wollte. Die KurdInnen wurden in den westtürkischen Städten die neue Unterschicht. Die ideelle Vernichtung der KurdInnen durch die TürkInnen begann laut Mehmet Özkan (1995/1996) mit der rassistischen Ideologie, dass das türkische Volk das Herrenvolk aller Völker und die türkische Sprache die Muttersprache aller Sprachen sei. Diese Überzeugung, mit der die nationale Überlegenheit der TürkInnen verbreitet werden sollte, war und ist wie alle rassenideologisch begründeten Unterdrückungsverhältnisse gewalttätig. Die Aufwertung der TürkInnen begann mit dem Kemalismus, durch den der Türkismus hoffähig und zur offiziellen Ideologie des Nationalstaates wurde. Er war verbunden mit einem Gefühl der Überlegenheit, der Arroganz und der Verachtung von Nicht-TürkInnen. TürkInnen wurden im Zuge der Nationalstaatenbildung zur edelsten und tapfersten Rasse der Erde erklärt. Für die KurdInnen blieben Özkans (1995/1996) Argumentation folgend nur zwei Wahlmöglichkeiten im Rahmen dieses entwickelten rassistischen Nationalgefühls: Entweder sie akzeptierten diese neue, erzwungene Identität und wurden Teil der Gesellschaft oder sie identifizierten sich weiter als KurdInnen und nahmen Diskriminierungen und Gewalt in Kauf. Der Versuch des türkischen Herrschaftssystems, die KurdInnen durch eine andere Geschichtsschreibung gefügig zu machen bzw. zu assimilieren, gelang nicht im gewünschten Ausmaß.
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Erst durch die teilweise entstehende türkische Akzeptanz einer anderen Geschichte, Kultur und Sprache der KurdInnen nähern sich diese freiwillig der türkischen Mehrheitsgesellschaft an. Heute sind kurdischsprachige Sendungen im Fernsehen erlaubt, in Bildungseinrichtungen darf kurdisch gesprochen und kurdische Namen dürfen vergeben werden. Auch die Religionsfreiheit hat einen Wandel erfahren. Erstmals wurde ein religiöser Pluralismus rechtlich abgesichert. Diese reformatorischen Entwicklungen fanden ausgerechnet unter der islamischen AKP statt, die nur vor dem Hintergrund der Entwicklungen im islamischen Diskurs seit Mitte der 1990er Jahre zu verstehen sind. (Agai 2004) Heute geht es vielen KurdInnen und kurdischen Organisationen nicht mehr um die Gründung eines autonomen Staates, sondern um die Akzeptanz ihrer Kultur und Sprache und eine Form der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Türkei (Bozkurt 1994, S. 140). b.2) Folter und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei Folter gehört zur Normalität in der Türkei. Da einerseits über faktisch Normales, das gleichzeitig ideologisch tabuisiert ist, selten öffentlich gesprochen wird, wurde und wird auch die Folter selten öffentlich thematisiert. Folter als Herrschaftsmittel wurde in der Türkei nicht nur bei politisch Verfolgten oder diskriminierten Minderheiten eingesetzt, sondern auch bei Kriminellen bis Kleinkriminellen. Folter hatte sich in der Türkei als grundsätzliche Verhörmethode etabliert, die Geständnisse erzwang, die real keine waren. Die gesellschaftliche Frage ist, wie und warum Folter als etwas Nützliches definiert und als Normalität akzeptiert wurde und wird? Eine mögliche Erklärung ist laut Akcam (in: Reemtsma 1991, S. 155-157) und Amnesty International (1985, S. 5), dass TürkInnen sich in ihr Schicksal ergeben und sich übergeordneten Kräften unhinterfragt unterordnen. Der Einfluss der islamischen Mystik, der zu dieser Mentalität beiträgt, ist groß. Die türkische Kultur ist keine Kultur des Widerstands, sondern eher eine Kultur des SichAbfindens. Gewalt und Kriege waren immer wieder Teil der Entwicklung der Türkei. Sie sind als Kulturmerkmale definiert, die Folter mit einschließen. Diese Haltung hat für die in der Türkei lebenden Menschen, die potentiell Folteropfer oder TäterInnen sind oder werden können, verheerende Auswirkungen auf ihr Handeln und ihre Beziehungen untereinander. Auffällig ist, wie Pascal Der Hovsepian (2011) beschreibt, die Diskrepanz zwischen dem offiziellen Folterverbot, das seit 1858 in der Türkei durch die Unterzeichnung und Verabschiedung verschiedener Konventionen und Gesetze rechtlich verankert wurde, und der bis heute andauernden Realität der Folterungen. Allein zwischen 1976 und 1988 wurden etwa 650.000 Menschen gefoltert.
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Der türkische Staat hat für die kurdischen Regionen verschiedene Sondergesetze, die Kontraguerilla-Gesetze, erlassen, die das Folterverbot und die Menschenrechte unterminieren und Folter legitimieren. 1978 wurde über die meisten kurdischen Gebiete der Ausnahmezustand verhängt. Mit dem Militärputsch 1980 wurde das Kriegsrecht in den kurdischen Gebieten eingeführt. 1983 wurde das „Polizei-Ermächtigungsgesetz“, 1985 das „Reuegesetz“ und das „Dorfschützergesetz“ erlassen. 1987 folgte das „Gesetz über die Region im Ausnahmezustand“ und 1990 trat das „Zensur- und Vertreibungsgesetz“ in Kraft. Ein Jahr später wurde das „Antiterrorgesetz“ erlassen. Anfang der 1990er Jahre wurde die türkische Verfassung in den kurdischen Gebieten außer Kraft gesetzt. Durch das „Reuegesetz“ werden Mitglieder aus kurdischen Organisationen abgeworben und in die Todesschwadrone aufgenommen. Sie kennen die innerkurdischen Strukturen und töten und erpressen wie kaum eine andere Gruppierung des türkischen Staates andere KurdInnen. Das „Dorfschützergesetz“ macht mit Hilfe von Zwang oder Bestechungen Dorfbewohnende in den kurdischen Gebieten zu Milizen für den türkischen Staat. Auch sie üben Gewalt und Verbrechen gegenüber der kurdischen Bevölkerung aus. Das „Gesetz über die Regionen im Ausnahmezustand“ richtet sich gegen Massenaktionen in kurdischen Städten. Dieses verleiht dem Sondergouvernuer in der Region die Vollmacht über die Entvölkerung der Dörfer, über das Verbot von Streiks und Versammlungen und das Einstellen von Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Das „Antiterrorgesetz“ dient der Verstärkung der Respression gegenüber der Presse. Die Aktivitäten der Streitkräfte stehen unter Straffreiheit, so dass Folter, Mord und dem Verschwindenlassen von Menschen kein Hindernis im Weg stehen. Das „Ciller-Geheimdekret“ befiehlt die Liquidation von kurdischen Geschäftsleuten und das Verbot politischer Parteien und Zeitungen (Hovsepian 2011). Einige Schritte einer Transformation in der Rechtsprechung sind im letzten Jahrzehnt unternommen worden. Nach zahllosen Verzögerungen des Verfahrens zog laut Amnesty International (2008, S. 3) der türkische Staat vier Polizisten zur Rechenschaft, die 1991 einen Menschen zu Tode gefoltert hatten. Die Tatsache, dass der Kassationshof die Haftstrafen bestätigt, ist im Hinblick auf den Kampf gegen die Straflosigkeit der Folterer ein wichtiger Fortschritt in Richtung Demokratie und Menschenrechte. Generell werden unabhängige medizinische Gutachten selten von türkischen Gerichten akzeptiert. Durch die Neufassung des Antiterror-Gesetzes von 2006 gibt es weitere rechtliche Möglichkeiten, die direkte und tödliche Gewalt, ohne zu zögern, ermöglicht. Amnesty International sorgt sich um die Gerichtsverfahren, die (angeblichen) TerroristInnen gemacht werden. Auch in diesen Verfahren
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werden unter Folter erpresste Aussagen oder Geständnisse als Beweismittel eingesetzt (Amnesty International 2008, S. 3). Die Zahl der Misshandlungen und Folterungen in Polizeihaft haben in den letzten Jahren abgenommen. Wenn gefoltert wird, findet dies häufiger außerhalb offizieller Haftorte statt, z. B. bei Demonstrationen, auf offener Straße, im eigenen Haus, in Gefängnissen und bei Gefangenentransporten. Trotz der offiziellen „Null-Toleranz-gegenüber-Folter“ Politik wurden in den Jahren 2006 und 2007 über 4000 Klagen wegen Folterungen eingereicht. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. In wenigen Fällen gab es unabhängige Untersuchungen. Bei den meisten Klagen werden die Verantwortlichen gerichtlich nicht verfolgt. (Amnesty International 2008, S. 1-2; Bia News Center 2008; Türkeiforum 2007) In den letzten Jahren wurden auch ZivilistInnen durch Sicherheitskräfte getötet. Beispielsweise wurden in den kurdischen Gebieten häufiger Zivilistinnen erschossen, weil diese eine Aufforderung zum Anhalten angeblich nicht befolgten. Ein schwer verletzter Zeuge sagte in einem dieser Fälle aus, dass die Soldaten sie aufgefordert hätten, sich zu entkleiden und anschließend auf sie geschossen hätten. (Amnesty International 2008, S. 8) Diese Einzellberichte zeigen, dass die Türkei noch weit von der Einhaltung der Menschenrechte und der konsequenten Umsetzung demokratischer Normen und Werte entfernt ist und die Bevölkerung teilweise lebenslang und teilweise akut unter diesen widrigen Umständen leben muss.
2. S OZIOKULTURELLER K ONTEXT : F LÜCHTLINGSLEBEN IN D EUTSCHLAND Dieser Teil des Kapitels widmet sich dem Kontext des Lebens als Flüchtling in Deutschland. Dieser externe Rahmen bestimmt/e das Leben der vier Frauen nach ihrer Fluchtmigration nach Deutschland und beeinflusst/e ihre Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten in hohem Maße. Mit der Fluchtmigration nach Deutschland änderten sich die Lebensbedingungen der Frauen stark. Einerseits lebten sie nicht mehr unter der ständigen Bedrohung der Verfolgung oder einer erneuten Folter. Andererseits warteten in Deutschland das Asylverfahren mit seinen restriktiven Regelungen, die sich direkt oder indirekt auf das Leben der Frauen auswirk(t)en. Hinzu kamen die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, differente kulturelle Gepflogenheiten, eine unbekannte Sprache und nicht selten fremdenfeindliche Einstellungen oder Verhaltensweisen, mit denen sich die Frauen konfrontiert sahen. Die
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Fluchtmigration und das Leben als Flüchtling in Deutschland beeinflussen auch Krisenbewältigungsmechanismen, Resilienzfördernisse, Resilienzhindernisse. a) Flucht und Flüchtlingsein a.1) Aktueller Forschungsstand In diesem Abschnitt werden Erkenntnisse und Studien aus der historischen und aktuellen Migrations- und Flüchtlingsforschung vorgestellt. So wird dem/der Leser/in ein Einblick in die Arbeiten und wissenschaftlichen Desiderate gegeben, die allgemein von Relevanz für die Migrations- und Fluchtmigrationsforschung oder speziell für diese Forschungsarbeit sind. Weder allgemein in der Migrations- noch im Besonderen in der Fluchtmigrationsforschung sind Untersuchungen unter dem Blickwinkel biografischer Dimensionen verbreitet. Biografisch orientierte Migrationsforschung versucht, die Migration als Zusammenhang von Erfahrungen aus den Herkunfts- und den Ankunftsgesellschaften zu verstehen. Migration wird nach Roswitha Breckner (2005, S. 43-44) biografisch aus der Perspektive der MigrantInnen als komplexer Vorgang der Neu- und Reorientierung verstanden. Dabei stellt die Migration einen offenen Prozess dar, bei dem Veränderungen fließend stattfinden und Entscheidungen und Deutungen sich immer weiter entwickeln. An dieses Verständnis von (Flucht-)Migration schließe auch ich mich an. Breckner (2005, S. 411) arbeitete in ihrer Forschungsarbeit über die biografische Bedeutungsgebung von Migrationserfahrungen heraus: Die biografischen Bedeutungsgebungen sind abhängig von migrationsunabhängigen, fall- und lebensphasenspezifischen Ereignissen und Erfahrungen. Die Bedeutungsgebung hängt von Prozessen der Transformation biografischer Schemata der Erfahrungsorganisation und Selbstpräsentation unter migrationsspezifischen Bedingungen ab. Die Einbettung der Biografie in gesellschafts- und milieuspezifische kollektivgeschichtliche Kontinua bestimmt die Bedeutungsgebung der Migrationserfahrungen. Es gibt Falltypen, in denen Migration in der biografischen Strukturierung relevant ist und solche, in denen sie irrelevant geblieben ist. Für die biografische Strukturierung von unfreiwilliger Fluchtmigration bleibt in dieser Forschungsarbeit zu beantworten, ob und welche Bedeutung die Fluchtmigration erhält? Die Flüchtlingsforschung ist in die Migrationsforschung eingebettet. Die Migrationsforschung kann im Gegensatz zur Flüchtlingsforschung auf ein breiteres Forschungsfeld und vielfältigere Theorieangebote schauen. In der Chicagoer Schule z. B. ist die Rolle des „marginal man“ entwickelt worden, zu der auch Flüchtlinge gehören. In der frühen deutschen soziologischen Migrationsforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen zwei Strömungen im Mittel-
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punkt: die Georg Simmelsche Betrachtung des „Fremden“4 in der Relation zum Einheimischen, in der Menschen bleiben und nicht wieder gehen (Simmel 1992) und in der Alfred Schützschen Typik von Erfahrung der „Fremden“ auf der Grundlage eines phänomenologischen Krisis-Konzepts (Schütz 1972). Neuere Ansätze gehen über diese beiden hinaus. Im Rahmen meiner Forschungsarbeit ist der Schützsche (1972, S. 53-69) Ansatz relevant, da es hier um die Erfahrungen und Perspektiven der FluchtmigrantInnen – vor dem Erfahrungshintergrund von Folter, Verfolgung und Fluchtmigration – geht. Nach Schütz ist vor allem die Erfahrung der Krisis kennzeichnend für MigrantInnen. In seinem bekannten Aufsatz „Der Fremde“ bezieht sich Schütz auf den Wechsel von einem Kulturmuster in ein anderes. Er versucht, die Prozesse mit Hilfe phänomenologischer und wissenssoziologischer Begriffe und Konzepte zu klären. Dabei beschränkt er sich zeitlich auf die Krisis. Er zeigt, wie sich in-group und out-group konstituieren und bei der ersteren ein „Denkenwie-üblich“ vorherrschend ist. Die Krisis, zu er bei Folteropfern eine weitere existentielle Krisis hinzukommt, ist eine Unterbrechung der Gewohnheiten und erfordert ein erneutes umfangreiches Lernen, die Aneignung eines neuen Ausdrucksschemas. Der „Fremde“ bleibt auf der Ebene gemeinsam geteilter Vergangenheit immer ein „Fremder“, er könnte sich im Sinne der Forderung der Aufnahmegesellschaften sozial assimilieren. Dadurch entsteht eine paradoxe Situation der Assimilation (Gleichheit) und der permanenten Differenz (Ungleichheit) durch die nicht-gemeinsam geteilte Vergangenheit, die bei Schütz nicht aufgelöst werden kann. Ebenso zu kritisieren ist bei Schütz die Gegenüberstellung von permanenter Differenz und Assimilation. Es gibt auch in dieser Forschungsarbeit Fallbeispiele, die nicht an der Erfahrung der „Fremdheit“ leiden und sich auch nicht vollkommen assimilieren mussten, um in der Aufnahmegesellschaft „anzukommen“. In dieser Forschungsarbeit steht das Krisis-Konzept im Zusammenhang mit der Fluchtmigration zur Disposition. Ich möchte herausarbeiten, was die Fluchtmigration vor dem Hintergrund von Folter- und Verfolgungserfahrungen bedeutet.
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Eine generelle Kritik übe ich an dieser Stelle an dem Fremdheitsbegriff. Fremd stellt nicht nur Differenz her, sondern impliziert die Betrachtung von einem Subjekt, das das Andere als „fremd“, was oft gleichbedeutend mit „gefährlich/ bedrohlich“ oder „unbehaglich/ verunsichernd“ verwendet wird, kategorisiert. Aus dieser Tradition der normativen Verwendung von „fremd“ halte ich den Begriff des „Anderen“ für sinnvoller und konstruktiver. Damit nicht bereits durch die Begriffsverwendung eine Diskriminierung stattfindet.
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Eine weitere Kritik an Schütz` Konzept ist dessen Darstellung von abgetrennten homogenen Kulturen, die insbesondere in der Gegenwart nicht mehr real sind. Dennoch ist das Konzept der Krisis durch Migration ein Grundbestandteil vieler Migrationserfahrungen (Breckner 2005, S. 114-115). Simmel (1992) entwickelte in seiner Analyse von Migration eine neue Relation von Nähe und Entferntheit. Mit der Moderne ist der „Fremde“ konstitutiv für die Gesellschaft und Bestandteil der Gruppe geworden. Aus seiner Perspektive sind die Gleichzeitigkeit bzw. Ambivalenz des Drinnen und Draußen ein positives Element moderner Sozialverbände. Dieser Gedanke ist, wie Breckner (2005, S. 77-79) schreibt, immer noch hochaktuell, da eine Einheit durch die räumliche und soziale Ausgrenzung von „Fremden“ auf ein anderes Territorium in der gesellschaftlichen Realität immer noch vorhanden ist. Dies ist bei der räumlichen, d. h. wohnlichen Situation von Flüchtlingen versinnbildlicht (Busche 2003). Jüngere Migrationsforschungen wie die von Armin Nassehi (1995, 2003) und ähnlich auch Alois Hahn (1994) fragen nach den Bedingungen und den Zwecken, unter denen „Fremde“ zu „Fremden“ gemacht werden. Jede Form sozialer Prozesse führt zu Unterscheidungen und auch zu Einteilungen in vertraut und unvertraut. Wer „Fremdes“ als „Fremdes“ verstehen will, muss nach den Bedingungen seiner Re-Produktion fragen. AusländerInnen sind laut Nassehi der Prototyp des „Fremden“ im Nationalstaat. Durch den Nationalstaat werden Personen mit einer anderen Staatsbürgerschaft entfremdet und zu dem entscheidenden „Gegenüber“ der Nationalstaatsangehörigen, zu deren negativer Identifikationsfolie gemacht. Diese diskriminierende Konstruktion des „Fremden“ hat nach meinem Kenntnis- und Erfahrungsstand die Funktion, Erlebnisse zunehmender Desintegration und sozialer Ungleichheit abzumildern und einen Sündenbock zu konstituieren. Forschungsarbeiten zur Fluchtmigration bzw. zum Leben von FluchtmigrantInnen haben sich vereinzelt mit den Potentialen von Flüchtlingen in Beruf und Bildung im Kontext restriktiver Regelungen befasst (Foda/Kadur 2005; Seukwa 2006; Inhetveen 2006 a, b). Die meisten Forschungsarbeiten in der Flüchtlingsforschung thematisieren die Exklusionen und Ausgrenzungen durch rechtlichgesetzliche bzw. politische Gegebenheiten (Agamben 2002; Bauman 2005; Pieper 2008) oder Problematiken prekärer Lebens-, Gesundheits- und Arbeitssituationen Illegalisierter (Cyrus 2004; Deutsches Institut für Menschenrechte 2007; Heck 2008). Es existieren in der soziologischen Forschung über Fluchtmigration und das Leben von Flüchtlingen erhebliche Leerstellen, derer sich die Wissenschaft (noch) nicht angenommen hat.
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Inhaltlich werden in den vorhandenen Studien vor allem die Unterbringungssituation, die gesundheitlichen Aspekte und der Zugang zum und die Lage im Arbeitsmarkt erforscht. Selten werden theoretische Kontexte (wie bei Foda/Kadur 2005) einbezogen. Forschungsperspektiven, die sich auf die Diskriminierungs- und Ausschlussmechanismen während der Fluchtmigration und in den Aufnahmegesellschaften, auf die Menschenrechtsverletzungen im Bereich der Fluchtmigration und des Flüchtlingsdaseins konzentrieren, liefern beispielsweise Bauman (2005), Giorgio Agamben (2002) und Dirk Vogelskamp (2007). In ihren Schriften zeigen sie, wie Flüchtlinge politisch zum „Abfall der Globalisierung“ (Bauman 2005, S. 90) oder zur Bedrohung werden, da in ihnen Mensch und BürgerIn nicht identisch sind (Agamben 2002). Die Art der Unterbringung in einem Flüchtlingslager oder einer sogenannten „Gemeinschaftsunterkunft“ wird häufig mit der „totalen Institution“ (Gefängnisse, Psychiatrien u. ä.) von Erving Goffman verglichen (Behrensen/Groß 2004; Dünnwald 2002): Es findet eine deutliche Trennung zwischen Innen- und Außenwelt statt, auch wenn die Flüchtlingslager deutlich durchlässiger und ihre „Insassen“ in der öffentlichen Wahrnehmung mit größeren Stigmatisierungen belegt sind. Begrenzungen ihrer Handlungsmöglichkeiten ist ein gemeinsames Merkmal der Insassen totaler Institutionen und der Flüchtlinge, die meist in Flüchtlingsheimen wohnen. Sie haben eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, zu ihrer leiblichen Versorgung, zum Gesundheitssystem und zu sonstigen relevanten Institutionen (Scherschel 2011). Bei Seukwa (2006, 2007) wird das Leben als rechtlich nicht anerkannter Flüchtling insgesamt als ein Leben im „offenen Gefängnis“ konstituiert, das durch gesetzliche, strukturelle, institutionelle und gesellschaftliche Restriktionen bestimmt wird. Trotz dieser widrigen Lebensumstände gibt es z. B. eine beachtenswerte Zahl an jugendlichen Flüchtlingen, die Bildungserfolge aufweisen. Anhand einer Untersuchung zeigte Seukwa (2006) die Aktionsschemata des beherrschten aber nicht passiven Subjekts, die dazu führten, dass es sich der Entfremdungsmacht der sozialen Strukturen entziehen kann. Diese Menschen zeigen den erfinderischen und improvisierten Umgang mit repressiven Strukturen und die Widerstandsfähigkeit eines Subjekts innerhalb von Diskriminierungsstrukturen. Diese Kompetenz kann für diese Arbeit übersetzt werden in das Resilienzpotential, selbst in Situationen extremer Fremdbestimmung gestaltend zu wirken und Bildungserfolge zu erzielen. Seukwa nennt es den „Habitus der Überlebenskunst“. Da die Flüchtlinge meist in ihren Herkunftsländern und fortsetzend in Deutschland mit heteronomen Strukturen aufgewachsen sind und leben mussten, entwickelten und verfestigten sie einen „Habitus der Überlebenskunst“.
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Ich halte fest, dass in der Flüchtlingsforschung kaum Erkenntnisse über den Alltag und das Bemühen um (rechtliche und gesellschaftliche) Anerkennung von Flüchtlingen bekannt sind. Die wenigen Arbeiten und Untersuchungen haben zudem einen geringen symbolischen Wert. Sie finden in der etablierten Wissenschaftswelt kaum Anerkennung. Es besteht eine große Notwendigkeit, Forschungsarbeiten zu generieren, die eine differenzierte Analyse der Untersuchungsgruppe und deren spezifische Benachteiligung, aber auch Potentiale/Resilienz beinhalten. Daraus könnten auch wirksame Instrumente und Erkenntnisse für die Praxis gewonnen werden. a.2) Der Flüchtlingsbegriff Flüchtling wird eine Person genannt, die aus einem Gebiet oder einem Land geflohen ist. Fluchtmigration ist eine spezifische Form der Migration. Es existieren verschiedene Definitionen von Migration. Anschließen möchte ich mich dem Migrationsverständnis von Petrus Han (2000, S. 7): Menschen, die migrieren, verlegen räumlich ihren Lebensmittelpunkt für mindestens 12 Monate. Diese räumlichen Verlegungen werden soziologisch nicht als Migration bezeichnet, wenn der dauerhafte Wohnortwechsel nicht über die bisher ansässigen politischen Gemeindegrenzen hinausgeht. Damit wird nach diesem Migrationsverständnis nicht jede räumliche Bewegung als Migration bezeichnet. Die Fluchtmigration, um die es in dieser Doktorarbeit geht, erfolgt unfreiwillig (Hausammann 1992; Kälin 1990, S. 23; UNHCR 1997, S. 55) und aufgrund einer Lebenssituation im Herkunftsland des Flüchtlings, die seine/ihre physische, psychische oder soziale Existenz bedroht. Menschen können entweder binnenmigrieren oder außenmigrieren, d. h. über die Landesgrenzen hinaus ihren Wohnort dauerhaft verlegen (Stuchly 2001, S. 59). Im Rahmen dieser Doktorarbeit finden bei allen Frauen Au0enfluchtmigrationen, aber auch bei zwei der vier Frauen vor dieser Binnenfluchtmigrationen in den Westen der Türkei statt. Weltweit handelt es sich bei 80% der Flüchtlinge um Frauen und Kinder. Sie werden oft zusätzlich Opfer von Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch, erzwungener Schwangerschaft oder auch deren Abbruch. (Ravazi 2003, S. 7475) Frauen auf der Flucht sind nicht nur quantitativ deutlich häufiger, sondern in ihren Leidenserlebnissen ebenfalls stärker betroffen. Auch aus diesem Grund sind Forschungsarbeiten über die Lebenssituation von geflohenen oder fliehenden Frauen unerlässlich und noch zu leisten. In der Soziologie wird die Person als Flüchtling bezeichnet, die real, wie oben definiert, geflohen ist. Dieser empirisch reale Flüchtlingsbegriff unterscheidet sich vom rechtlich definierten Flüchtlingsbegriff, der wesentlich enger gefasst ist und weiter unten näher erläutert wird. Wenn in dieser Dissertation
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vom Flüchtling geschrieben wird, ist die soziologische Definition des Flüchtlingsbegriffs gemeint. Für den rechtlichen Flüchtlingsbegriff wird ein entsprechendes Adjektiv hinzugefügt. In Deutschland ist die Rechtsprechung zum Aufenthaltsstatus von Flüchtlingen wie folgt geregelt: In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein 5-stufiger Aufbau des Flüchtlingsschutzes, der das 1. Asylrecht nach Artikel 16a des Grundgesetzes (GG), 2. den Flüchtlingsschutz der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in § 60 (1) des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und § 3 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) und 3. den subsidiären Schutz in § 60 (2), (3), (7) 2 des Aufenthaltsgesetzes vorsieht. Die auch in Deutschland umgesetzte durch die EU zuvor verabschiedete Qualifikationsrichtlinie (QRL) befasst sich mit den Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes. In dieser QRL ist der subsidiäre Schutz dem Schutz der Flüchtlinge angenähert steht diesem aber in vielen Rechten nach bzw. ist stärker einschränkbar wie im Zugang zur Beschäftigung oder bei Aufenthaltstiteln. Hinzu kommt 4. der absolute Abschiebungsschutz aufgrund menschenrechtlicher Bestimmungen, insbesondere Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und § 60 (5) des AufenthaltG und 5. der Abschiebungsschutz aus sonstigen humanitären oder familiären Gründen, insbesondere §60 (7) 1 AufenthaltG bei Krankheit. Dieser tritt auch bei nachgewiesen traumatisierten Flüchtlingen in Kraft. Wie Pro Asyl (2011) aufzeigt, werden in Deutschland nur wenige Asylanträge positiv beschieden: Die Anerkennung nach Artikel 16a des GG erhielten in den letzten zehn Jahren im Schnitt nur 2% der AsylantragstellerInnen, rund 12% wurden nach der GFK anerkannt. Der Abschiebungsschutz nach § 60 (2-7) des AufenthaltG erhielten seit 2000 etwa 2% der AsylantragstellerInnen. Rund 84% der Asylanträge werden abgelehnt und die Betroffenen müssten die BRD innerhalb weniger Wochen verlassen. Wenn sie nicht reisefähig sind, kein Pass für eine Rückkehr vorliegt oder die Situation im Herkunftsland eine Rückreise nicht zulässt, erhalten sie so lange eine Duldung, bis die Abschiebung möglich ist. Das kann Jahre dauern und über den Aufenthalt wird teilweise wöchentlich neu entschieden. Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist im deutschen Grundgesetz verankert. Die Änderung des Artikel 16a GG im Jahr 1993 schränkte dieses Grundrecht erheblich ein. Es wurde die „Drittstaatenregelung“ eingeführt, durch die sich AusländerInnen, die über einen sogenannten sicheren Drittstaat einreisen, nicht auf das Asylrecht in Deutschland berufen können. Das „Problem“ wurde nicht nur durch die Drittstaatenregelung auf die EU-Außenstaaten bzw. EU-
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Außengrenzen verschoben mit den bekannten Folgen des Sterbens und Verschwindens einiger Tausend Flüchtlinge (aus Afrika) jedes Jahr vor allem im Mittelmeer. Inzwischen werden auch die Fluchtwege über die Türkei und Griechenland immer dichter durch „Frontex“ verteidigt und das Problem der anhaltenden Flüchtlingsbewegungen auf die überforderten EU-Außenstaaten verlagert. Die vier Frauen, um die es in dieser Forschungsarbeit geht, kamen über den Luftweg nach Deutschland bzw. waren nicht von der Drittstaatenregelung betroffen, so weit sie zum Fluchtzeitpunkt bereits galt. Rechtlich wird laut der Genfer Flüchtlingskonvention (UNHCR 1951) ein Flüchtling als solcher anerkannt, wenn die Person 1. verfolgt wird, so dass eine Bedrohung des Lebens oder der Freiheit des Menschen wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, wegen seiner politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe stets vorhanden ist. 2. vor dieser Verfolgung begründete Furcht hat oder ein reales Risiko vorliegt, das entweder im Herkunftsland generell vorhanden ist oder aufgrund des persönlichen Hintergrund des/der Antragstellers/in besteht. 3. aufgrund einer der in Punkt 1 genannten Verfolgungsgründe geflohen ist. 4. in ihrem Herkunftsland nicht effektiv geschützt ist. Dabei sind alle nichtstaatlichen AkteurInnen ohne weitere Einschränkung, also auch Einzelpersonen beinhaltet, sofern von ihnen Verfolgungshandlungen ausgehen. 5. nicht aufgrund von Beendigungs- oder Ausschlussgründen ihren rechtlichen Flüchtlingsstatus verliert. Dieser kann aberkannt werden, wenn die Person ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Außerdem kann ein schweres nichtpolitisches und seit dem bundesdeutschen Asylverfahrensgesetz von 1993 auch ein politisch motiviertes Verbrechen als Ausschlussgrund gelten. Ein weiterer Ausschlussgrund liegt vor, wenn die Person den Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt hat (UNHCR 2003). a.3) Historie und Gegenwart des deutschen Asylrechts Nach der Darlegung des Verständnisses von Fluchtmigration und den verschiedenen Definitionen des Flüchtlings möchte ich auf die konkrete Situation der Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Deutschland eingehen. Das Asylrecht mit seiner historischen Gewordenheit und all seinen rechtspraktischen Konsequenzen ist äußerst vielfältig und komplex. Daher habe ich in diesem Unterkapitel die Gesetze zusammengefasst und stelle einige bekannte Folgen für die Lebenspraxis der Flüchtlinge, also auch der vier Probandinnen in dieser Doktorarbeit, in Abhängigkeit des Aufenthaltsstatus vor.
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Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland5 wurde das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte im Jahr 1949 eingeführt. Im Winter 1948/1949 hat der parlamentarische Rat – als bewusste Reaktion auf teils eigener Erfahrungen im Exil, während des Nationalsozialismus das Asylrecht so knapp und umfassend formuliert: „Das Asylrecht ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muss man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben“, erklärte dazu in den Verhandlungen Carlo Schmid (SPD). Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es also: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Da eine gesetzliche Definition für „Politische Verfolgung“ nicht existiert, bleibt für die Gerichte und die EinzelentscheiderInnen des BAMF bis heute ein großer Ermessensspielraum dahingehend, wonach und wie sie ihre Entscheidungen treffen (Ravazi 2003, S. 55-56). In der BRD wurden später folgende rechtlichen Restriktionen entschieden: Durch das Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens wurde einerseits das Widerspruchsverfahren beim Bundesamt gestrichen und andererseits das Dreiergremium bei der Entscheidung über Asylanträge auf eine Einzelperson begrenzt. Diese Person brauchte nun nicht mehr die Befähigung zum Richteramt haben. Die teils existentielle Folge für die AsylbewerberInnen aus dieser Neureglung ist, dass die Asylbewerbenden von der Willkür und persönlichen Einstellung der EinzelentscheiderInnen abhängig sind. Zum Beispiel berichtete CDU-Mitglied und Major a. D. Siegfried Westermann 1995 wie folgt: „Ein Jahr habe ich als Anhörer gearbeitet. Mein Glaube an die Rechtsstaatlichkeit ist nach dieser Zeit erschüttert. ... Die rechtlich vorgeschriebene Einzelfallprüfung ist eine Farce. ... Mich packt das Entsetzen. In einigen Jahren werden wir wieder Grund haben, uns zu schämen.“ (Ravazi 2003, S. 67) Diese Willkür der EinzelentscheiderInnen kann sehr weit reichende Folgen für die Menschen haben, über deren Aufenthaltsstatus entschieden wird. Es kann im äußersten Fall um Leben und Tod (nach einer Abschiebung) gehen. 1980 wurde ein einjähriges Arbeitsverbot für Asylbewerbernde eingeführt. Die Beschränkung der Sozialhilfe auf Hilfe zum Lebensunterhalt wurde kurz darauf entschieden. D. h. die Höhe des „Taschengeldes“ für Asylbewerbende wurde auf ein Minimum unterhalb des Existenzminimums reduziert. Diese Entscheidung wurde durch das Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichtes (2012) gekippt. Es steht fest, dass Flüchtlinge monatlich mehr Gelderhalten müssen. Ob sich das einjährige Arbeitsverbot aufrechterhalten lassen wird, bleibt
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Ich gehe in erster Linie auf die rechtliche Situation und Praxis in der BRD ein, da alle Frauen entweder in die BRD vor oder nach der Wiedervereinigung mit den hier vorgestellten rechtlichen Situationen konfrontiert waren.
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abzuwarten. Eine ökonomische und damit soziale und kulturelle Integration von AsylberwerberInnen oder Geduldeten in Deutschland ist, wie auch Foda und Kadur (2005) betonen, nicht gewollt. Was dies für die betroffenen Menschen bedeuten kann, wird unten näher erläutert. 1990 traten die Neuregelungen des Asylverfahrensgesetzes in Kraft, das eine Verkürzung der Fristen und einen Ausschluss des Beschwerdeverfahrens vor Gericht beinhaltet. 2002 wurde das „Neue Zuwanderungsgesetz“ verabschiedet und schließlich 2004 rechtskräftig, nach dem Asylbewerbende und Geduldete zwar wieder nach einem Jahr arbeiten gehen dürfen. Aber auch danach haben sie kaum Chancen auf eine Arbeit, weil es „bevorrechtigte ArbeitnehmerInnen“ wie andere AusländerInnen oder Deutsche gibt. Durch das BQFG, das der Verbesserung der Anerkennung ausländischer Schul- und Bildungsabschlüsse dient, soll der Zugang von MigrantInnen zum Arbeitsmarkt künftig erleichtert werden. Im Neuen Zuwanderungsgesetz sind Verbesserungen hinsichtlich der Anerkennung nicht-staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung festgeschrieben. Es blieben jedoch die Residenzpflicht, das Asylbewerberleistungsgesetz, das Flughafenverfahren und die Bleiberechtsregelung unangetastet (Ravazi 2003, S. 80-84). Die Türkei, das Herkunftsland der vier „Hauptfiguren“ dieser Forschungsarbeit, zählt seit 1986 zu den Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen (BAMF 2009, S. 17). Die Ursachen liegen einerseits in einer starken Verbindung zwischen der Türkei und Deutschland durch die Anwerbung von GastarbeiterInnen in den Jahrzehnten zuvor, sowie in den massiven Verfolgungen von KurdInnen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Türkei in den 1980er Jahren. Im Jahr 2009 war sie das drittstärkste Herkunftsland der hauptsächlich kurdischen AsylantragstellerInnen (etwa 80%). (BAMF 2009, S. 27) Die asylrechtlichen Entscheidungen über türkische AsylantragstellerInnen im Jahr 2009 sind wie folgt ausgefallen: Es gab 52% Ablehnungen, 36,8% formelle Entscheidungen, 1,9% Anerkennungen nach dem GG und 8% Flüchtlingsschutz nach §60 Abs. 1 des AufenthG, 1,4% Abschiebungsverbot nach §60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 des AufenthG. Insgesamt nimmt die Schutzquote in den letzten Jahren zu (bis 30% insgesamt), jedoch bleibt die Anerkennungsquote gleichbleibend sehr niedrig (BAMF 2009, S. 50). Dies bedeutet für die meist kurdischen Folteropfer aus der Türkei, dass sie kaum Chancen auf eine offizielle rechtliche Anerkennung ihrer Foltererlebnisse haben. Bedenkenswert erscheint, so formuliert es Akcam (in: Reemtsma 1991, S. 158-159), die Entscheidungspraxis über die Asylverfahren von kurdischen AntragstellerInnen, weil die von ihnen erlittene Folter als „Bestandteil der türkischen Kultur“ angesehen wird, der zwar nicht begrüßenswert ist, aber auch nicht
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unbedingt zur Asylanerkennung führen muss. Diese Entscheidungspraxis ist menschenrechtswidrig und führt zur Anerkennung von Folter als legitime Herrschaftspraxis. Für die gefolterten Flüchtlinge bedeutet dies einerseits eine rechtliche Schlechterstellung und Aberkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft und andererseits als Opfer nicht gehört, verleugnet zu werden. Dies verhindert auf vielfache Weise deren Rehabilitations- und Heilungsmöglichkeiten. a.4) Die Diskurse „Scheinasylanten“ und „Das Boot ist voll!“ Diese Diskurse waren in den 1990er Jahren in der Zeit, als die vier Frauen ihren Asylantrag in Deutschland stellten und als Asylbewerbende oder Geduldete lebten, auf ihrem Höhepunkt angelangt. Sie werden in dieser Forschungsarbeit vorgestellt, weil sie sich auf die gesamte Stimmung in Deutschland gegenüber AusländerInnen und Flüchtlingen auswirkten. Sie verdeutlichen die Vorurteile, Stereotype und xenophoben Einstellungen, denen auch die vier Frauen in ihrem konkreten Lebensalltag begegneten. Eine allgemein xenophobe Einstellung im Aufnahmeland kann nicht nur Krisenbewältigungen erschweren, sondern auch neue Krisen produzieren. Claude Lévi-Strauss (1988) hat zwei Strategien für den Umgang mit der Andersartigkeit von Menschen erforscht: Seines Erachtens gehen Menschen mit dem „Fremden“ entweder anthropoemisch oder anthrophag um. Die anthropoemische Strategie ist eine des „Auswurfs“, des Ausspeiens und der Kontaktvermeidung. Die anthropophage Strategie ist die der Ent-Entfremdung von als fremd wahrgenommener Substanzen, indem der Fremdkörper in einer Art der Aneignung (Kannibalismus bis Assimilation) verdaut wird. An dieser sehr polarisierten Position des Umgangs mit „Fremden“ wird deutlich, wie tief xenophobe Einstellungen historisch und gegenwärtig in Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens verwurzelt sind. Lévi-Strauss analysierte abgeschlossene und genau trennbare Kulturen, bei denen „Fremde“ und „NichtFremde“ genau unterscheidbar sind und „Fremde“ abgewertet werden. Diese Trennlinien sind gegenwärtig nur noch ideologisch zu finden. Die beiden von Lévi-Strauss aufgezeigten Umgangsweisen mit „Fremden“ sind in dieser Polarisierung lediglich als Norm oder als Diskriminierungsstrategien zu finden. Xenophobe Diskurse und Einstellungen gegenüber den „Fremden“ sind noch immer verbreitet (Göktürk/Gramling/Kaes/Langenohl 2011) und bedeuten für die „Fremden“ Diskriminierungen, ein (latentes) Abgewertetwerden und Krisen. Eine Gruppe der „Fremden“, auf die sich seit einigen Jahrzehnten xenophobische Handlungen und Diskurse in Deutschland richten, sind Flüchtlinge. Die „Anti-Asyldebatte“ wurde, wie Tobias Pieper (2008, S. 337-340) ausführt, zu einem elementaren, „vereinenden“ gesamtdeutschen Diskurs. Anfang der 1990er
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Jahre entlud sich vor allem in den ostdeutschen Bundesländern Rassismus und Aggression fast täglich in Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und deren BewohnerInnen. Inzwischen sind die Flüchtlingslager noch immer aus der Öffentlichkeit an die Ränder der Städte und Dörfer verlegt und die unerwünschten MigrantInnen werden „unsichtbar“ gemacht (Busche 2003). Der offene gewalttätige Rassismus ist seltener zu finden. Rassismus zeigt sich heute v. a. in institutionellem und indirektem Rassismus und Diskriminierungen. Die „ScheinasylDebatte“ begründet sich auf die rechtliche Unterscheidung von politisch Verfolgten und deren Legitimität für ein Leben in Deutschland und der großen Mehrheit der rechtlich nicht-anerkannten Flüchtlinge, die keine (rechtliche) Legitimation haben, in Deutschland zu sein. Ihnen wird unterstellt, „ScheinAsylantInnen“ zu sein. Der allgemein seit Jahrzehnten herrschende xenophobe Diskurs über MigrantInnen in Deutschland erschwert das Leben aller in Deutschland lebender MigrantInnen und macht sie zur latenten Diskriminierungsfläche im Lebensalltag. Diese Situation erschwert die Verständigung und die Integrationsprozesse aller MigrantInnen erheblich und beeinträchtigt ihre Autonomie der Lebenspraxis in Deutschland. Durch diese beiden in Deutschland herrschenden Diskurse insbesondere über FluchtmigrantInnen wird deren rechtliche, soziale, ökonomische Desintegration eher festgeschrieben als aufgelöst. In den letzten Jahren wurden diese Diskurse weniger medial vermittelt, da die zurückgehenden Flüchtlingszahlen eine politische Entspannung mit sich brachten. Dennoch ist die Wahrnehmung des überlasteten Aufnahmelandes tief in den individuellen Perspektiven verankert. Dies zeigt sich, wie Ralf-Burkhard Hamm (2011, S. 238-240) schreibt, in der Xenophobie und Fremdenangst in Gebieten oder Städten in den ostdeutschen Bundesländern, in denen kaum MigrantInnen leben. b) Das Ausländergesetz und seine Implikationen Unter dieser Überschrift werden die rechtlichen Rahmenbedingungen, die oben bereits kurz vorgestellt wurden, weiter ausgeführt und ihre konkreten Auswirkungen und möglichen Bedeutungen für die Lebenswelt von Flüchtlingen erläutert. Die Bewerbung auf Asyl: Nach der Ankunft in Deutschland und der polizeilichen Datenerfassung wird nach der Prüfung, ob die betroffene Person nicht in einen sicheren Drittstaat zurückgeschoben werden kann, der Asylantrag gestellt. Zur Lebensgestaltung der Asylbewerbenden wie Geduldeten gilt das Asylbewerberleistungsgesetz. Asylberechtigung: Diese erhalten Personen, die förmlich als Asylberechtigte anerkannt sind. Ihnen werden alle Asylrechte gewährt und sie erlangen die
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Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings nach der GFK oder dem § 16a des GG. Die Asylanerkennung ist für die Geltendmachung des Asylgrundrechts unerlässlich, da sie Behörden und Gerichte bindet. Duldung: Eine Duldung beschreibt den Zustand, wenn eine Person abgeschoben werden soll, dies aber aufgrund verschiedener Gründe nicht vollzogen werden kann. Diese Gründe können in der Situation im Heimatland oder in der in Deutschland liegen, z. B. Krankheit oder fehlender Pass, Drohung der Todesstrafe oder körperlicher Beeinträchtigungen im Heimatland etc.. Sie gilt so lange, wie der entsprechende Zustand anhält, verändert er sich, wird die Abschiebung vollzogen. (Renner 1998, S. 630-631) Für Geduldete gilt das AsylbLG. Abschiebung in das Herkunftsland, Kirchenasyl, Illegalisierung: Mit der Abschiebung in das Herkunftsland, die unfreiwillig geschieht und nicht selten mit individuellen Dramen verbunden ist, endet der Aufenthalt des Flüchtlings in Deutschland. Meist hat er/sie keine Chance, in einem anderen Land oder in Deutschland erneut einen Asylantrag zu stellen. Nicht wenigen Abgeschobenen „verschwinden“ nach der Ankunft in ihrem Herkunftsland oder sind erneut Repressionen ausgesetzt. Das Kirchenasyl stellt eine außergewöhnliche Möglichkeit der Kirchen dar, in Einzelfällen Flüchtlingen Asyl zu gewähren, die nach deutschem Recht weder Asyl noch einen sicheren Aufenthalt bekommen haben. Das Kirchenasyl ist zahlenmäßig gering und spielt daher keine entscheidende Rolle in der Asylpolitik. 2010 z. B. wurden bundesweit 31 Kirchenasyle gewährt (Kirchenasyl 2010). Unter Illegalisierung verstehe ich die Situation der rechtlichen Illegalität, d. h. die Person verfügt über keine juristische Berechtigung sich in Deutschland aufzuhalten. Flüchtlinge, die gerade in Deutschland angekommen sind, können auch in die Illegalisierung untertauchen, so lange sie keinen Asylantrag stellen. Wie groß die Zahl der Illegalisierten in Deutschland ist, ist nicht bekannt. Die Schätzungen reichten 2005 von 500.000 bis zu 1.000.000 Menschen in der rechtlichen Illegalisierung (BAMF 2005, S. 58). b.1 ) Das Anhörungsverfahren Das Anhörungsverfahren als Teil des Asylverfahrens, das beim Erst- und Zweitinterview durchgeführt wird, ist das Kernelement für die Entscheidung über das Asylverfahren. Zudem sind die autobiografischen Erzählungen und Erinnerungen von Traumatisierten lückenhaft, manchmal inkohärent und inkonsistent. Dies führt oftmals fälschlicherweise zu einer Ablehnung im Asylverfahren. Hinzu kommt die erschwerende latente Unterstellung des „Lügens für den Aufenthalt“, die einen generalisierte Verdacht der AnhörerInnen bzw. der gesamten Verwaltung darstellt, dass die FluchtmigrantInnen ihre Lebensgeschichte frei er-
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finden würden, um einen Aufenthalt zu erlangen. Das macht es den Erzählenden besonders schwer, glaubwürdig zu erscheinen (siehe Kapitel über „Folter“). Mit Hilfe von diagnostischen Verfahren wurde in einer Studie (Gäbel/Ruf/Schauer/Odenwald/Neuner 2006, S. 12-20) eine Prävalenz von unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidenden Flüchtlingen von über 40% festgestellt. Dies ist eine außerordentlich hohe Zahl, überrascht aber diejenigen, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind, nicht sonderlich. Dieser Studie zufolge konnten die AnhörerInnen und EinzelentscheiderInnen des BAMF auch nach speziellen Schulungen zur Erkennung von traumatisierten Personen diese unter den FluchtmigrantInnen nicht signifikant besser ausfindig machen. Diese Ergebnisse weisen auf die Dringlichkeit, möglichst schnell praktische Verbesserungen in der Erkennung und Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland herbeizuführen. b. 2 ) Das Asylbewerberleistungsgesetz Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ist das zentrale Instrument, um den Lebensstandard von in Deutschland lebenden FluchtmigrantInnen (der Asylbewerbenden und Geduldeten) im Vergleich zu anderen in Deutschland lebenden sozialen Gruppen herabzusetzen. Das Kernelement ist die generelle Festlegung eines gekürzten Sozialhilfesatzes außerhalb des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), die Auszahlung dieses Satzes in Form von Sachleistungen, die Residenzpflicht, eine verbreitete Unterbringung in Lagern bzw. Gemeinschaftsunterkünften und ein begrenzter Zugang zum Gesundheitssystem. Die erste restriktive Änderung des AsylbLG fand 1997 statt. Die Verschärfung des Gesetzes bestand darin, die gekürzten Leistungen für alle betroffenen Gruppen (AsylbewerberInnen und Geduldete) auf drei Jahre zu erweitern, statt wie bisher auf ein Jahr zu begrenzen. Mit der zweiten Novellierung 1998 wurde der § 1 a) eingeführt, nach dem für bestimmte AsylantragstellerInnen durch das zuständige Sozialamt, alle Leistungen gekürzt werden können. (Pieper 2008, S. 75) Die gekürzten Leistungen wurden am 18.07.2012 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig festgestellt und müssen durch eine Änderung des Bundesgesetzes verändert werden. Im Folgenden beziehe ich mich auf die „alte Fassung“ des AsylbLG, das für die vier Frauen galt. Das AsylbLG wird, da es einige Interpretationsfreiheiten lässt, in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlicher Weise umgesetzt. In Bundesländern oder Städten, in denen das Sachleistungsprinzip gilt, werden Lebensmittel nur ausgegeben. D. h. sie können nicht frei gewählt werden, sondern sind an bestimmte, oft teure Supermärkte und Angebote beschränkt. Die Grundleistungen (§ 3 des AsylbLG) umfassen auch heute noch monatlich von Beginn
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des 15. Lebensjahres 40,- € pro leistungsberechtigter Person bei der Unterbringung in einem Flüchtlingslager bzw. einer „Gemeinschaftsunterkunft“. Bei der Unterbringung außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen können anstelle der vornehmlich als Sachleistungen zu entrichtenden Anschaffungen durch vergleichbare unbare Abrechnungen oder in Form von Geldleistungen zur Verfügung gestellt werden. Zuzüglich zu der Bezahlung der Unterkunft, der Heizungskosten und des Hausrats werden dem Haushaltsvorstand 180,- €, Haushaltsangehörigen bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres 110,- € und für jedes weitere Haushaltsmitglied von Beginn des 8. Lebensjahres 155,- € im Monat zur Verfügung gestellt. Rechtlich fraglich wird das geringe Lebensniveau, das durch das AsylbLG festgeschrieben ist, vor allem mehrere Jahre in Deutschland lebenden AsylbewerberInnen, denn in diesem Zeitraum (Zeit als Faktor des Existenzminimums) sind nach Horrer (2001, S. 195-197) Bedürfnisse anzuerkennen, die den Sozialhilfesätzen entsprechen. Sein Vorschlag ist, die Zeit des Asylverfahrens auf maximal ein Jahr zu beschränken. Damit wird auch der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des GG („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) nichtig gemacht. Die Gruppe der Leistungsberechtigten sollte also neu definiert werden, um den Anforderungen des Völkerrechts zu genügen. b. 3 ) Die Unterbringung und Verteilung: Dritter Abschnitt des Asylverfahrensgesetzes Die Unterbringung wirkt sich ganz unmittelbar auf die Lebensqualität und die Lebensweise der Flüchtlinge im Alltag und deren Handlungsmöglichkeiten aus. Sie verläuft in unterschiedlichen Phasen: Die AsylbewerberInnen werden zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht, in der sie zunächst sechs Wochen, längstens drei Monate untergebracht sein sollen. Danach folgt die Unterbringung in „Gemeinschaftsunterkünften“ oder selten dezentral in Wohnungen. Ich beziehe mich im Weiteren lediglich auf die Unterbringung in den Flüchtlingslagern. Diese werden in Rechtssprache „Gemeinschaftsunterkünfte“ und in dieser Arbeit die Realität treffender Flüchtlingslager genannt. Die Mindestbedingungen über Größe und Beschaffenheit der Unterbringung sind, wie Marx (1999, S. 840) ausführt, im Gesetz nicht geregelt, unterliegen also behördlichen Entscheidungen (der Ausländerbehörde) mit extrem weitem Spielraum. Die Behörde kann sich auch der Hilfe von privaten Unternehmen bedienen, so lange sie ihre Fürsorgepflicht erfüllt, indem sie Auflagen schafft und theoretisch regelmäßig kontrolliert, ob diese erfüllt werden. Stellt der/die private BetreiberIn bekannt gewordenen Missstände nicht ab, muss die Behörde theore-
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tisch den Vertrag kündigen und die Wohnverpflichtung der betroffenen AsylbewerberInnen aufheben. Oft werden private BetreiberInnen, die die Flüchtlingslager auf Gewinnmaximierung ausrichten, weder kontrolliert noch aus den erbärmlichen Unterbringungen notwendige Konsequenzen gezogen (Pieper 2008). Die Errichtung von Flüchtlingslagern in Städten oder Dörfern spiegelt die soziale Verortung seiner BewohnerInnen wider. Die Flüchtlingslager sind oft in Wäldern, in Industriegebieten, in ehemaligen Kasernen oder Heimen verortet. Prägend für die dort lebenden Flüchtlinge sind die Verwahrlosung des Lagerinnenraums und das individuelle Leiden an der nicht nutzbaren Zeit. Daher kommt es nicht selten zu einem Verlassen des Lagers, was in ein Leben in der Irregularität bzw. Illegalisierung mit all seinen Implikationen mündet (Pieper 2008, S. 534-535; Ravazi 2003, S. 293-295; Busche 2003). Das Leben in einem Flüchtlingslager wirkt sich langfristig ungünstig auf die Gesundheit (Busche 2003), das Wohlbefinden, das Gleichgewicht und die Autonomie der Lebenspraxis aus. Beispielsweise berichten viele MitarbeiterInnen aus der Flüchtlingshilfe und einige Studien (Pieper 2008; Ravazi 2003, S. 103-105), dass bei den Flüchtlingslagerbewohnenden Alkoholmissbrauch zunahm, häufiger ÄrztInnen vor allem wegen psychosomatischer Beschwerden aufgesucht werden, Zunahme von Streitigkeiten unter den LagerbewohnerInnen, Zunahme von aggressiven und depressiven Redewendungen und Handlungen. Die objektiven Bedürfnisse entsprechen nicht den Lebensbedingungen der Menschen. Dementsprechend führen die fehlschlagenden Anpassungsleistungen an die widrigen Umstände zu inneren Spannungen, die zu Konflikten mit der Umwelt oder Krankheiten als Formen der Konflikt- und Stressbewältigung führen können. Die Unsicherheit der eigenen Existenz darüber, ob und wann eine Ablehnung, eine Anerkennung bzw. eine Abschiebung entschieden wird, bestimmt und beeinflusst das Leben der (noch) nicht-anerkannten Flüchtlinge. Die Flüchtlinge können dreifach traumatisiert werden: in ihrem Herkunftsland, durch das Asylverfahren und das Flüchtlingslager. b. 4 ) EU-Richtlinien mit ihren Möglichkeiten Es gibt einige EU-Richtlinien, die auf Nationalstaatsebene umgesetzt werden müssen, die sich speziell mit der Situation von „besonders schutzbedürftigen“ Personen mit Flüchtlingsstatus befassen. Beispielsweise ist in der EUAufnahmerichtlinie vom 27.01.2003 formuliert, dass die EU-Mitgliedstaaten die Gesundheit und den Lebensunterhalt der Asylbewerbenden gewährleisten müssen. Dieser Satz müsse derart interpretiert werden, dass einerseits die bereits psychisch erkrankten Menschen in Behandlung kommen und andererseits Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass in den Zielländern lebende Flüchtlin-
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ge nicht an ihnen psychisch bzw. psychosomatisch erkranken. Dies ist derzeit weder systematisch noch strukturell in Deutschland verankert oder umgesetzt. Im Artikel 17 der EU-Aufnahmerichtlinie ist geregelt, dass die Mitgliedstaaten die spezielle medizinische Versorgung von besonders schutzbedürftigen Personen, zu denen auch Folter-, Vergewaltigungsopfer und Opfer sonstiger schwerer Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt, bereitstellen müssen. Das praktische Problem erwächst aus dem Absatz 2 des Artikels, in dem vereinbart wurde, dass ausschließlich den Personen diese Versorgung zugute kommen soll, die nach einer Einzelprüfung als besonders hilfsbedürftig anerkannt wurden. In Deutschland werden von Seiten der Behörden leider viele der besonders Schutzbedürftigen nicht erkannt bzw. anerkannt. Im Artikel 20 dieser Richtlinie wird konkret auf die Situation der Opfer von Folter und Gewalt eingegangen und es wird formuliert, dass diese im Bedarfsfall die Behandlung erhalten (sollen), die für Schäden, welche ihnen durch jene Handlungen zugefügt wurden, erforderlich ist. Dennoch nehmen viele EUMitgliedstaaten, so auch Deutschland, diese Aufgabe und Verantwortung nicht vollständig ernst und wahr. c) Flüchtling Sein nach Verfolgung und Folter c.1) Rehabilitationsmöglichkeiten für Gefolterte Die Möglichkeiten der individuellen Heilung und der gesellschaftlichen Rehabilitation von Folterüberlebenden mit Flüchtlingsstatus sind in Deutschland begrenzt. Das Flüchtlingsleben in Deutschland kann dennoch auch ohne Erlebnisse von Verfolgung und Folter Resilienzfördernisse, Resilienzhindernisse oder Stressoren bereithalten. Diese näher zu bestimmen, ist Teil dieser Forschungsarbeit. Ich stelle für ein tieferes Verständnis und zur weiteren Klärung des aktuellen Forschungsstandes einige Aspekte, die aus Forschungsarbeiten, beruflichen Erfahrungen oder aus theoretischen Überlegungen zur Lebenssituation von Flüchtlingen entstanden sind, vor. Wie bereits geschildert, existiert (noch) eine Diskrepanz zwischen rechtlichpolitischen Forderungen nach Rehabilitationsmöglichkeiten von Folterüberlebenden und Gewaltopfern in EU-Mitgliedsstaaten und der realen Situation von psychosozialer Begleitung und rechtlicher Anerkennung dieser Menschen. Die Rehabilitation umfasst verschiedene Ebenen: Zum einen die Ebene des gesellschaftlich-diskursiven Anerkennens dieser Menschen, die unter uns leben und öffentlich als Opfer wahrgenommen werden müssten. Wenn eine öffentliche Wahrnehmung stattfindet, ist sie entweder als schweigende „BetroffenheitsWahrnehmung“ oder als „Verleugungs-Diskurse“ zu beobachten. Beide Arten der Artikulation werden den Opfern und ihren Erfahrungen nicht gerecht.
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Die rechtliche Anerkennung der Foltererfahrungen ist die Ebene der institutionellen und rechtlichen Rehabilitation. Durch diese Anerkennung kann das Opfer sein Leben künftig in sichereren Rahmenbedingungen verbringen. Rechtlich finden die Verfolgungs- oder Foltererlebnisse vieler Flüchtlinge in einem Großteil der Asylverfahren keinen Niederschlag. Wie oben beschrieben ist die geschätzte reale Zahl der Folterüberlebenden bzw. der Traumatisierten wesentlich höher. Eine dritte Ebene der Rehabilitationsmöglichkeit der Folter- und Gewalterfahrungen sind psychosoziale Begleitungen und Psychotherapien. Diese Formen professioneller Bewältigung von Folter- und Gewalterfahrungen sind typisch westliche Formen der Unterstützung einer Krisenbewältigung bzw. der Resilienzfördernisse. Ob und inwieweit diese auch für z.B. kurdisch-türkische Folter überlebende Frauen sinnvoll und zur Resilienz beitragend sein können, wird sich in dieser Arbeit zeigen. Alle interviewten Frauen verfügen über psychotherapeutische und autobiografische Erzählerfahrungen. In ihrer selbstreflexiven Bewertung und Formulierung wird sich in manchen Fällen erkennen lassen, welche Auswirkungen die Psychotherapien für sie hatten und haben. Psychotherapie ist eine der gängigsten Möglichkeiten der Heilung und der Rehabilitation der Folteropfer mit Flüchtlingsstatus im Gesundheitssystem der westlichen Länder. Kritik an der Traumapsychotherapie besteht bei Harald Welzer (2003) in dem Argument, dass diese durch ihre Methode den Opferstatus der KlientInnen verstärke, statt ihn zu beheben. Es muss nach meiner beruflichen Erfahrung aber nicht durch die Traumapsychotherapie zu einer Verstärkung des Opferstatus der KlientInnen kommen. Es kann im Rahmen von Psychotherapien zu ungünstigen Beziehungskonstellationen, Abhängigkeiten oder Rollenfestschreibungen kommen. Viele PsychotherapeutInnen sind sich laut Harald Weilnböck (2007, S. 38-39) dieser Risiken jedoch bewusst und versuchen, ihre KlientInnen den Umgangsstil mit ihren Gewalterlebnissen selbst entwickeln zu lassen. Diese einzelfallspezifisch und kontextuell angemessene Psychotherapie, die die Menschen unterstützend auf ihrem Weg in die Wiedererlangung der Autonomie ihrer Lebenspraxis begleitet, kann aber genau so zur Heilung oder zur Aktivierung von Resilienz beitragen. Für die Heilungsmöglichkeiten von traumatisierten Flüchtlingen sind zudem sowohl die menschenrechtliche Situation der Betroffenen im Herkunftsland als auch die mögliche weitere Verfolgung im Exilland relevant. Im (psychotherapeutisch begleiteten) Heilungsprozess Traumatisierter muss der biografische, soziale, kulturelle und politische Kontext Berücksichtigung finden. Es ist laut Kathrin Groninger (2006, S. 2-3) nicht nur zu berücksichtigen, wo und wie die Traumatisierung entstand, sondern auch unter welchen Rahmenbedingungen sie
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weiterexistiert. Von beiden Kontexten hängt in hohem Maß die Möglichkeit der Rehabilitation und der Heilung ab. Besonders misslich ist die Lage der Folterüberlebenden, die in Deutschland als rechtlich nicht-anerkannte Flüchtlinge leben. Sie können nicht in ihr Herkunftsland zurück, in dem ihnen erneut Folter und Verfolgung durch die staatliche Instanz oder beispielsweise durch entehrte Familienmitglieder droht. Noch wird ihnen ihre Erzählung über Gewalterlebnisse in Deutschland geglaubt, so dass sie weder in der Öffentlichkeit noch rechtlich durch eine Anerkennung als Flüchtling rehabilitiert werden. Für Aufsehen sorgte der Fall eines irakischen Kurden. Er, der über Deutschland nach Großbritannien geflohen war, legte, wie Stefan Keßler (2003, S. 6) berichtet, Rechtsmittel ein, um nicht laut Drittstaatenregelung von Großbritannien wieder nach Deutschland zurückgeschoben zu werden. Er hatte zuvor in Deutschland einen Asylantrag gestellt, der abgewiesen worden war. Danach floh er nach England. Gerichtlich konnte er bewirken, dass er als Folterüberlebender und Traumatisierter nicht nach Deutschland zurückgeschoben wurde, da er in Deutschland weder Anspruch auf eine adäquate psychotherapeutische Behandlung gehabt hätte und die Lebensbedingungen als Geduldeter für Traumatisierte nicht förderlich, sogar krankheitsfördernd seien. Deutschland kann also als ein Land betrachtet werden, in dem traumatisierte rechtlich nicht anerkannte oder illegalisierten Flüchtlingen keine oder wenige Rahmenbedingungen für eine Rehabilitation angeboten werden. Deutlich wird, dass sowohl kontextuelle als auch individuelle Faktoren bei der Bewältigung von Folter- und Verfolgungserfahrungen relevant sind. Die Situation als (nicht-)anerkannter Flüchtling spielt ebenso eine Rolle wie die psychischen, sozialen, strukturellen und geistigen Aspekte einer Person. Das Herkunftsland, die jeweils angeeigneten Muster des Handelns und Orientierens einer dort sozialisierten Person, sind ebenso relevant bei der Bewältigung von (extremen) Krisen. c.2) Fluchtmigration nach Folter und Verfolgung Die Bewältigung der (potentiellen) Krise, die durch die Migration ausgelöst wurde, ist ein weiterer Aspekt im Kontext der Fragestellung dieser Arbeit. Zur Disposition steht, ob und inwieweit die Fluchtmigration im Kontext der durch die Folterungen und Gewalt ausgelösten Krisenerfahrung selbst krisenauslösend und/oder resilienzfördernd bzw. -hindernd ist. In der allgemeinen Migrationsforschung wird die Migrationserfahrung meist als Krisenphänomen gerahmt, die mehr oder weniger gut bewältigt werden kann. Thomas Maurenbrecher (1985) bezieht sich in seiner allgemein angelegten Migrationsforschung auf das Verlaufskurvenkonzept nach Schütze, das sich auf
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Situationen bzw. Phasen bezieht, in denen sich ein Mensch vollkommen ohnmächtig ausgeliefert fühlt und nicht mehr agiert, sondern nur noch reagiert. Die biografischen „Kosten“ der Migration seien hoch und die (Kultur-) Schockerfahrung, die durch die Migration ausgelöst werde, müsse durch Restabilisierungspraktiken ausgeglichen werden. Der Migrationsverlauf sehe wie folgt aus: Auf die Entstehung des Migrationswunsches, der bei Flüchtlingen oft sehr spontan entsteht und auf den unmittelbar nach seiner Entstehung die ersten Schritte zur Migration folgen, werden von (Kultur-)Schockerfahrungen abgelöst. Diese Erfahrungen werden normalerweise restabilisiert, d. h. die Krise wird bewältigt. (Breckner 2005, S. 45-48) Deutlich wird, dass es bei Maurenbrecher einen Krisenverlauf im Zusammenhang mit der Migration gibt, der seiner Meinung nach immer eingehalten wird. Ob die Migration allerdings eine Schockerfahrung impliziert bzw. eine Krise auslöst und diese immer restabilisiert bzw. stabilisiert wird, kann nicht vorweggenommen werden, sondern muss am Einzelfall beantwortet werden. Eine weitere Interpretation der bzw. Perspektive auf Migration ist die Migration als Freisetzungs- und Individualisierungserfahrung zu konstituieren. Werner Schiffauer (1991) untersuchte beispielsweise, wie sich Menschen aus kurdischtürkischen ländlichen Strukturen verändern bzw. modernisieren, wenn sie in eine Großstadt migrieren. In den Lebensgeschichten arbeitete er anhand beispielsweise von Strukturen der Subjektivität oder Muster der Selbstwahrnehmung heraus, wie die Modernisierung durch die Migration in die Leben der MigrantInnen eingreift. Ob und inwieweit Modernisierung durch Migration im Kontext dieser Forschungsfrage stattfindet, muss ebenfalls rekonstruktiv beantwortet werden. In Breckners (2005) Forschungsarbeit wurden folgende migrationsspezifische Krisiserfahrungen analysiert: Die bis zur Migration habituell bestimmenden Wissensbestände müssen umgebaut werden, was einer Diskontinuitätserfahrung gleichkommt. Diese reichen vom Alltag bis in die für die gesellschaftliche Teilhabe wichtige Funktionssysteme wie Arbeiten, Wohnen, Gesundheit. Zudem sind sie in der Ankunftsgesellschaft mit den typischen Zuschreibungen des „Fremden“ konfrontiert, welche nur begrenzt autonom steuerbar sind. Alltagsund positionsbezogene „Fremdheitserfahrungen“ der MigrantInnen können radikale auslösen, die die Ordnung und Vertrautheit der Welt in existentieller Weise berühren. (Goffman 1990, S. 13-15). Die Krisis kann in produktive und destruktive Weise entwickelt werden. Sie kann ebenfalls Teil eines problemlösenden oder -generierenden Prozesses sein. Sie kann als belastende Einschränkung oder als Handlungserweiterung erlebt werden. Ihre zeitliche Ausdehnung sowie ihre biografischen Langzeitfolgen sind ungewiss. (Breckner 2005, S. 405-409)
IV. Die Fallanalysen
Die Fallanalysen stellen die Ergebnisse der Interpretationen, die aus der Analyse der Genogramme und Interviews gewonnen wurden, noch am Einzelfall dar. Durch die Fallauswahl in Anlehnung an das „Theoretical Sampling“ konnte ein möglichst weiter Analyseraum eröffnet werden, der die Verschiedenheit von Resilienz im Kontext von Verfolgung, Folter und Fluchtmigration zeigt. Im Rahmen der Fallanalysen wurden „Typen“ bzw. einzelfallspezifische „Schlüsselkategorien“ gebildet, die in den Überschriften zu den jeweiligen Fallanalysen erkennbar sind. Die einzelfallspezifisch relevanten Orientierungen und Handlungen im Kontext dieser Forschungsarbeit werden in den thematischen Überschriften und Analysen der Genogramme und Interviews deutlich. Dieses Kapitel dient dem tiefen Verständnis des Einzelfalls und seiner Strukturen von Resilienz im biografischen Verlauf. Die Genogramme geben Aufschluss über die familiären Strukturen und Traditionen von Handlungen und Orientierungen im Verhältnis zur „Indexperson“. Die Interviews ermöglichen die Rekonstruktion der Perspektive der vier Frauen in umfassendem Maße. Die Falldarstellungen sollen, um überprüfbar zu bleiben, an die Rekonstruktionsarbeit angelehnt werden. Sie beginnen mit einem Überblick zur Lebensgeschichte, um den Lesenden einen biografischen Überblick zu verschaffen. Ihnen folgen die Erkenntnisse aus der Genogrammanalyse. Auch im Rekonstruktionsprozess wird zuerst die Genogrammanalyse vorgenommen, um anschließend die Eingangs- (und Schluss)Sequenz der/des Interviews zu analysieren. Die Ergebnisse aus den Eingangs- und Schlusssequenzen der Interviews werden aufgrund einer besseren Lesbarkeit und inhaltlichen Zuordnung in thematische Abschnitte unterteilt. Die Falldarstellung soll lesbar bleiben. Dies bedingt, dass auf einiges in der Darstellung (z.B. die detaillierten Sequenzanalysen) verzichtet werden muss, auch um die Textmenge zu begrenzen. Die Überprüfbarkeit der Interpretationen für Dritte bzw. für die InterpretInnen selbst, sichert das stets auf Nachfra-
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ge einsehbare Protokoll (Lorenz 2005, S. 89). Die Fallanalysen werden in der Reihenfolge vorgestellt, in der ich die Daten erhoben habe.
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D IE E RZÄHLERIN : D ELAL H OFMEISTER
1. D IE L EBENSGESCHICHTE
IM
Ü BERBLICK
Delal Hofmeister, geb. Yilmaz, wurde in einem kleinem Ort im Odenwald geboren. Ihre Eltern waren 1974 zum Zeitpunkt ihrer Geburt als Gastarbeitende in der Industrie tätig. Delal Hofmeister wurde etwa 6 Wochen nach ihrer Geburt zu ihrer Großmutter und der Familie ihres Onkels väterlicherseits in ein ostanatolisches Dorf gebracht, wo sie bis zu ihrem 9. Lebensjahr bei der Großmutter väterlicherseits aufwuchs. Ihre Eltern und ihre 5 Geschwister zogen 1982 in die Türkei zurück. Nachdem die gesamte Familie einige Wochen zusammen war, zog Delal Hofmeister mit ihrer Kernfamilie weit weg von dem Dorf, in dem die Großmutter und die Familie des Onkels väterlicherseits wohnten. Der Grund lag in der Weigerung Delal Hofmeisters, zu ihrer Kernfamilie zu ziehen und ihre Großmutter zu verlassen. Delal Hofmeister ging einige Monate später in eine Internatsschule für muslimische Mädchen. Diese musste sie kurz vor ihrem „Abitur“ verlassen, da sie einerseits gegen die ihrer Meinung nach Frauen diskriminierende muslimische Ideologie protestierte und andererseits wegen vermuteter Aktivitäten ihres Vaters bei der PKK. Nachdem sie das Internat verlassen hatte, kehrte sie zu ihrer (Rest-)Familie ins Dorf zurück und wurde wenige Tage später auf die Polizeistation gebracht und gefoltert. Delal Hofmeister stellte nach den Folterungen Kontakte zur PKK her. Sie wurde von der PKK vorbereitet, in die Berge zu den Guerillakämpfenden zu gehen. Daraufhin wurde sie erneut mehrfach gefoltert. Nach einem „Gerichtsprozess“ wurde sie für ein Jahr in einem Frauengefängnis inhaftiert. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis war ihre Familie bereits nach Deutschland geflohen. Die Fluchtmigration war auch für sie der einzige Ausweg. Da ihr Vater inzwischen Geld hatte, konnte Delal Hofmeister ihre Flucht nach Deutschland umsetzen. Sie floh 1992 nach Istanbul und 1993 über die Tschechische Republik nach Deutschland. Ihr Antrag auf Asyl in Deutschland wurde im Asylantrag abgelehnt und ihre Klage gegen diese Entscheidung zurückgewiesen. Delal Hofmeister hätte ausreisen bzw. abgeschoben werden müssen. Stattdessen lebte sie illegalisiert bei einer Aktivistin von Amnesty International (AI), deren Haushalt sie führte. In dieser Zeit schrieb sie ein autobiografisches Buch. Das bereits entschiedene Asylverfahren wurde aufgrund neuer Beweise, die AI-Mitarbeitende aus der Türkei geholt hatten, nochmals aufgenommen. Ihr Buch wurde veröffentlicht
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und stieß auf breites öffentliches Interesse. Delal Hofmeister wurde schließlich als Asylberechtigte anerkannt. Psychotherapeutisch begleitet wurde Delal Hofmeister für etwa 3 Jahre. Ihren späteren Ehemann lernte sie 2000 beim Nachhilfeunterricht kennen. Im Rahmen ihrer autobiografischen Veröffentlichung und den daran anschließenden Lesungen kamen sich die beiden näher. Sie heirateten 2002. In den Jahren 2004 und 2006 kam jeweils eine Tochter zur Welt, 2011 ein Sohn. Derzeit leben sie in der Nähe von Göttingen. Sie ist im Erziehungsurlaub, er arbeitet als Naturwissenschaftler an einer Universität.
2. D AS G ENOGRAMM – G RO SS MÜTTERLICHE AUTONOMIE a) Die Rahmung Das Genogramm Delal Hofmeisters erarbeitete ich im Gespräch mir Delal Hofmeister und mit Hilfe eines schriftlich ausgearbeiteten Stammbaumes ihres Ehemannes. Das Genogramm wurde in der Küche der Hofmeisterschen Wohnung erstellt. Die beiden Kinder waren in der Küche und zeitweise im benachbarten Wohnzimmer anwesend. Während meiner Fragen bzw. ihrer Erzählung räumte sie auf oder betreute ihre beiden Kinder. Dadurch entstand eine gewisse Unruhe. b) Die väterliche Seite – Großmütterliche Autonomie als Familienauftrag Der Großvater Delal Hofmeisters wurde 1930, die Großmutter 1929 geboren. Bereits der Vergleich der Geburtsjahre zeigt eine kulturell und historisch ungewöhnliche Konstellation. Die Großmutter war älter als ihr Ehemann. Diese Tatsache deutet auf eine starke Position der Ehefrau in einem stark patriarchalen System hin. Die Großmutter heiratete 12-jährig 1941 einen 11-Jährigen. Das frühe Heiratsalter der Großmutter ist kontextuell betrachtet „normal“ und unterstreicht die Bedeutung sexueller Reinheit der Frauen in der kurdisch-türkischen Sozialordnung. Mädchen wurden in dem Alter verheiratet, in dem die Regelblutung einsetzte, damit sie vor der Hochzeit nicht schwanger werden konnten. Den Grund für das ungewöhnlich frühe Heiratsalter des Großvaters konnte ich nicht erforschen. Der Großvater ist als junger Mann „im Krieg gefallen“. Aufgrund dieser Formulierung ist unmissverständlich, dass der Großvater Delal Hofmeisters im „Krieg“ auf der Seite der TürkInnen gekämpft hat. Er kämpfte in einer Zeit auf
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der türkischen Seite, in der sich die Beziehungen zwischen KurdInnen und TürkInnen entspannt hatten. (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 92-115). Viele KurdInnen waren während und nach der „Ära Attatürk“ VertreterInnen eines modernen laizistischen Nationalstaats. Die Anschlussfähigkeit an den modernen Nationalstaat der Familie Yilmaz wurde und wird erleichtert und gestärkt durch die Zugehörigkeit der Familie zu den AlevitInnen, deren moderne, weltliche Ausrichtung konstitutiv für diese Glaubensrichtung ist. Sie werden von den meisten sunnitischen und schiitischen Strömungen aufgrund ihrer säkularen und der westlichen Moderne aufgeschlossenen Lebensweise nicht als MuslimInnen anerkannt. Die AlevitInnen aus dem Raum Dersim, aus dem auch Frau Hofmeister und ihre Herkunftsfamilie stammen, weisen weitere Besonderheiten auf: Der Glaube zentriert sich um heilige Orte und dort lebende heilige Männer und Frauen. Die DersimerInnen sind in ihrem Alevitentum mystisch ausgerichtet. Alevitische Vorstellungen und Werte transformierten sich vor allem nach dem II. Weltkrieg hin zum säkularen Denken und Beurteilen. Aufgrund der Popularisierung linkspolitischer Vorstellungen und Ideologien innerhalb vieler kurdischer Gruppen, hielten sozialistische und marxistische Ideologien Einzug in die alevitische Glaubensrichtung (Lerch 2007, S. 12). Zurück zum Großvater väterlicherseits: Da der Großvater bereits im Alter von 21 Jahren 1951 im Krieg fiel, stellt sich die Frage nach den Lebensperspektiven der Großmutter, die in diesem Alter bereits vier Kinder zu verpflegen hatte? Sie wohnte entgegen den Traditionen einer erneuten Heirat oder eines Wohnens bei der Herkunftsfamilie ihres verstorbenen Mannes oder ihrer eigenen allein mit ihren Kindern in einem ostanatolischen Dorf. Das Lebensmodell einer Alleinerziehenden war auch bei AlevitInnen nicht vorhanden. „Normalerweise“ wäre diese Lebenssituation der soziale Tod der Großmutter gewesen. Ihre konstruktive Lösung war ihre Rolle als Dorfheilerin und Hebamme, die sie für die Dorfgemeinschaft unentbehrlich machte. Die Großmutter väterlicherseits wurde nach dem Tod ihres Mannes von dessen Bruder, den Frau Hofmeister als „Krüppel“ bezeichnete, vergewaltigt. Aus dieser Vergewaltigung entstand ein Mädchen, das gleich nach seiner Geburt von den Schwiegereltern der Großmutter umgebracht wurde. An dieser Stelle griff der Besitzanspruch der Großeltern väterlicherseits, die über die Ehre und deren Wiederherstellung durch den Tod des Babys, das „Symbol“ der Entehrung entschieden. Bei der Frage der Ehre waren die familiären Grenzen der Individualisierung erreicht. Die traditionelle Moral setzte sich durch. Die soziale Stellung der Großmutter als Alleinerziehende war die einer „Außenseiterin“. Was eine solche Rolle bedeuten kann, ist in verschiedenen Studien und Forschungsarbeiten (im Kontext westlicher Gesellschaften) erarbeitet wor-
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den (Elias/Scotson 1990; Goffman 1990; Park 1950). Die konstruktive Wendung ihrer AußenseiterInnenposition war ihre Berufstätigkeit. Sie zählte als Hebamme und „Heilerin“ zur lokalen Elite. Sie als Außenseiterin war jedoch in ihrer Rolle labil und sozial angreifbar (wie in einem Dogma-Film sehr gut dargestellt wurde; von Trier 2003). Diese Rolle als Außenseiterin ist in Gefahr, in ihre „dunkle Seite“ verkehrt zu werden. Vor allem während gesellschaftlicher Transformationsprozesse oder bei drohendem Herrschaftsverlust der (noch) Mächtigen bzw. der Aufstrebenden besteht die Gefahr, von einer positiv in eine negativ bewertete Außenseiterin transformiert bzw. umgedeutet zu werden (Denz/ Tschaikner 2004; Fischer um 1903). Frau Hofmeister verbrachte ihre ersten Lebensjahre demnach in einem sozialen Umfeld, in der die Großmutter mit ihrem Handeln die größtmögliche, aber dennoch labile weibliche Autonomie in ihrem Kulturkreis einnehmen konnte. Diese Rolle war mit Risikobereitschaft, Ambivalenzpotentialen und vergleichsweise großen Handlungsspielräumen verbunden. Dieses Umfeld war prägend für Delal Hofmeister. Die Transformation traditioneller Strukturen kann als „Familienauftrag“ verstanden werden. Die der Großmutter nachfolgenden Generationen haben ein Vorbild in ihr, das Transformationen von Orientierungs- und Handlungsmustern erleichtern. Das soziale und kulturelle Kapital1 der Großmutter wurde auf die beiden Söhne, nicht auf ihre Tochter, übertragen. Der Älteste, der
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Ich beziehe mich auf das von Pierre Bourdieu (1983) entwickelte Konzept, in dem die Bedeutungen unterschiedlicher „Kapitalien“, die jede Person zu einem bestimmten biografischen Zeitpunkt besitzt, innerhalb eines sozialen Raumes bestimmt werden. Die vier Kapitalien, auf die ich mich im Weiteren beziehen werde, sind das kulturelle, ökonomische, symbolische und soziale Kapital. Die Wertungen, der Machtbereich und die Bedeutungen der Kapitalien in einer Gesellschaft sind historisch und kulturell wandelbar und spiegeln sich in ihren Verteilungsprinzipien auf bestimmte soziale Gruppen wider. Diese vier Kapitalien stehen in wechselseitigen Relationen zueinander und bedingen sich gegenseitig. Qualität und Bedeutung, Verteilung und Wahrnehmung der Kapitalien bei den sozialen Gruppen sind entscheidend für die jeweilige soziale Positionierung und können die Organisation und Struktur einer sozialen Gruppierung nachvollziehbar machen. Bourdieu führt aus, dass es neben kulturellen (Kenntnisse und Fertigkeiten in Gepflogenheiten, Traditionen, Rituale, Sprache etc. einer Kultur), sozialen (Beziehungsnetzwerke, um an gewünschte Ressourcen o. ä. zu gelangen), symbolischen (Titel, Bildungsabschlüsse u.ä.) und ökonomischen (finanzielle und materielle Ressourcen wie Finanzen, Eigentümer etc.) Kapitalien auch weitere Teilungsprinzipien Geltung erlangen können bei der Stellung einer sozialen Gruppe im (abstrakten) sozialen Raum.
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Onkel Delal Hofmeisters, der drei Geschwister wurde Bürgermeister und erhielt von Frau Hofmeister ebenfalls die Berufsbezeichnung „Heiler“. Der zweite Sohn, der Vater Delal Hofmeisters, wurde Lehrer und gehörte ebenfalls zur lokalen Elite. Die Schwester hingegen wurde verheiratet und fiel in die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter zurück. Hierin zeigt sich eine geschlechterspezifische Ambivalenz innerfamiliärer Transformationsbereitschaft. Die Transformationspotentiale wurden nur durch die Söhne realisiert. c) Die mütterliche Seite – Leerstelle des familiären Gedächstnisses Die bäuerlich geprägte Familie der Mutter Delal Hofmeisters stammt ebenfalls aus einer ostanatolischen, ländlichen, seminomadisch geprägten Region, die unweit der Herkunftsfamilie des Vaters lebte. Die Familie der Mutter Delal Hofmeisters zeigte keine Transformationsprozesse, sondern reproduzierte traditionale Orientierungen und Handlungsstrukturen. Die Geschwister der Mutter von Delal Hofmeister schlugen sehr unterschiedliche Lebenswege ein. Einige kamen wie die Mutter als Gastarbeitende nach Deutschland, eine Schwester arbeitet als Krankenschwester in der West-Türkei, ein Bruder lebt als Musiker „auf Kosten“ der Geschwister. Einer der Brüder arbeitet als gelernter Facharbeiter in Deutschland und hat den Kontakt zu allen anderen Familienmitgliedern abgebrochen. Er ist sehr gut integriert und möchte laut Delal Hofmeister aus diesem Grund mit dem Rest seiner Herkunftsfamilie keinen Kontakt mehr pflegen. Bezeichnend für das kurdische Patriarchat ist die Fokussierung auf die Herkunftsfamilie der Männer, in die die Frauen „einverleibt“ werden. Die Geschichten, Daten und Personen der Familie der männlichen Seite werden auch in dieser Familie, durch Frau Hofmeister genauer erinnert. Die Erinnerungen und Kenntnisse der Familie mütterlicherseits waren spärlich und ungenau. d) Die Eltern – Zurück zur Tradition? Der Vater Delal Hofmeisters heiratete eine Frau, die aus einer ärmlichen bäuerlichen Familie stammte. Mit dieser Heirat fiel es ihm leicht, seine Machtstellung als Patriarch und „Kapitalträger“ auszubauen. Er retraditionalisierte die Geschlechterrollen, indem er sein kulturelles Kapitel als Lehrer nicht an seine Ehefrau, eine Analphabetin, weitervermittelte. Die Eltern gingen in einer Situation vergleichbar mit „Hänsel und Gretel“ nach Deutschland. Das Ehepaar konnte sich in der Fremde gegenseitig Unterstützung und Halt aus ihrer gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Herkunft geben, um den durch die Migration hervorgerufenen Wandel und bedingte Neu-
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orientierung gut zu bewältigen. (Schütz 1972) Die Situation des auf sich selbst gestellten Paares und der Kernfamilie zeigen Transformationsbereitschaft hin zum individualisierten Lebensstil. Jedoch wurde auch die soziale Situation durch die Migration nach Deutschland und den mit ihr verbundenen sozialen Abstieg des Vaters erschwert. Insbesondere für MigrantInnen, denen durch die Migration ein sozialer Abstieg widerfährt, sind die Werte und Orientierungen ihrer Herkunftskultur besonders wichtig (Bourdieu 1985; Von Wensierski/Lübcke 2007). Die retraditionalisierten Orientierungen und Handlungen der Eltern Delal Hofmeisters zeigten sich auch durch die Anzahl ihrer Kinder: sechs insgesamt. Die Namensgebungen der Generation Delal Hofmeisters durch ihre Eltern verdeutlichen einerseits die Orientierung an der kurdischen Kultur und den damals von kurdischen Unabhängigkeitsbewegungen vertretenen marxistischleninistischen Ideologien. Die Namen der Geschwistergeneration Delal Hofmeisters heißen übersetzt „Revolution“, „Mao-Tse-Tung“ oder „Freiheit“. Diese Vornamen sind bezeichnend für die jeweiligen Lebenswege. Die Schwester „Freiheit“ starb beispielsweise im Kampf für die „Freiheit der KurdInnen“ bei der PKK. e) Die väterliche Seite des Ehemanns – Bürgerliches Leben Die Familie von Delal Hofmeisters Ehemann ist in der Großelterngeneration väterlicherseits nach dem II. Weltkrieg von Dresden nach Bielefeld geflohen. Dieser Familienstrang gehörte und gehört zum Großbürgertum. Der Großvater Frank Hofmeisters war im staatlichen Dienst als höherer Beamter beschäftigt. Die Großmutter blieb bei den Kindern Zuhause und organisierte den Haushalt. Die Partnerschaft der Großeltern väterlicherseits war „leicht patriarchal“ organisiert. Die beruflichen Entwicklungen der Töchter sind in dieser Familie denen der Söhne in Bildungsabschlüssen, Einkommen und gesellschaftlicher Anerkennung deutlich untergeordnet, was auf Tradition und Patriarchat schließen lässt. Der Vater Frank Hofmeisters war leistungsorientiert und intellektuell. Er wurde Professor für Romanistik. Er stand beruflich mit seinem Vater, einem Juristen, in keiner Konkurrenzsituation. Beide waren Beamte im Dienste des Staates. Dies kann als hohe Identifikation mit den jeweiligen Staatssystemen interpretiert werden. Der Großvater Frank Hofmeisters migrierte von Dresden nach Bielefeld in einer Zeit, in der der Sozialismus bzw. eine Demokratie aufgebaut werden sollte. Er entschied sich für die demokratische Staatsordnung. Die ideologische und Werte bezogene familiäre Herkunft Frank Hofmeisters ist eine des bürgerlichen, demokratisch orientierten Weltverständnisses. Delal Hofmeister hingegen wurde durch die Ideologie des Sozialismus bzw. Marxismus geprägt. Sie heiratete in eine sehr etablierte und gesellschaftlich anerkannte
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Familie. Diese Heirat ist ein direkter Sprung in die „Mitte der Gesellschaft“, durch die sie vielfältige und außergewöhnliche Handlungsmöglichkeiten erhält. f) Die mütterliche Seite des Ehemanns – Bäuerliche Traditionen Die Mutter von Frank Hofmeister stammt aus einer besitzbürgerlichen, patriarchalen Familie, in der der Großvater Dorfschullehrer und die Mutter Hausfrau waren. Die Mutter Frank Hofmeisters war eines von zehn Kindern. Sie zog im Erwachsenenalter von Süddeutschland nach Bielefeld. Mit ihrer Berufswahl als Psychologin und Familienpsychotherapeutin zeigt sich eine starke Orientierung nach Sinngebung und Integration. Sie heiratete bezogen auf den Status „nach oben“. Hier zeigt sich eine Fortsetzung des „leichten Patriarchats“, das aus der Familie väterlicherseits tradiert wurde. Die finanzielle Abhängigkeit der Ehefrauen, ihre Hauptverantwortung bei der Erziehung der Kinder und das gleichzeitige respektvolle Miteinander der Eheleute bezeichne ich als „leichtes Patriarchat“. Die Eltern Frank Hofmeisters bekamen erwartungsgemäß zwei Kinder. Die Tochter trat die Nachfolge ihrer Mutter an, indem sie als Psychologin psychotherapeutisch arbeitet. Der Sohn, der jetzige Ehemann Delal Hofmeisters, habilitierte in einem naturwissenschaftlichen Fach, arbeitet an der Universität und ist ebenso leistungs- und karriereorientiert wie sein Vater. Bleiben wir in der Lesart des „leichten Patriarchats“ so liegt die Interpretation nahe, dass Delal Hofmeister als zu erwartende künftige Professoren- und derzeitige Wissenschaftlergattin studiert haben sollte, um das leichte Patriarchat zu tradieren und keine zu große Bildungsdistanz bzw. Bildungsgefälle entstehen zu lassen. Es ergeben sich folgende Strukturähnlichkeiten, Homologien, von Frank Hofmeisters Eltern und der von Frank und Delal Hofmeister: Beide Frauen heiraten statusbezogen und sozial „nach oben“, beide Männer sind leistungsorientiert und intellektuell, beide Frauen stammen aus einer stärker patriarchalen Familie und beide Männer aus einer „leicht patriarchal“ geprägten. Die Männer reproduzieren das aus ihrem Elternhaus bekannte Modell des „leichten Patriarchats“ in der von ihnen gegründeten Familie. Die Ehefrauen sind größtentiels verantwortlich für die Kindererziehung, während die Männer für die ökonomische Stabilität der Familie sorg(t)en. Zudem haben beide Familien auf unterschiedliche Weise Migrationserfahrungen gemacht. Diese Strukturähnlichkeiten begründen einerseits die PartnerInnenwahl und zeigen andererseits die Handlungslinien der Familien auf.
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g) Die Geschwistergeneration – Kurdische FreiheitskämpferInnen Die Namensgebungen der Geschwistergeneration Delal Hofmeisters wurden bereits analysiert. Die familiäre Bedeutung der Schwestern „Revolution“ und ihrer jüngeren Schwester „Freiheit“ ist, dass ihnen das soziale und kulturelle Erbe der Großmutter über (den Vater und) den Onkel väterlicherseits übertragen wurde. Wie ihre Großmutter konnten sie sich als Außenseiterinnen in der Rolle der PKK-Kämpferinnen Handlungsmöglichkeiten erobern, der für kurdischtürkische Frauen außergewöhnlich groß waren/sind. Die Rollenträgerinnen haben jedoch nicht (vergleichbar mit der Figur des „Fremden“ bei Simmel (1992) die Ansprüche der dauerhaften sozialen Integration und Unversehrtheit. Die mächtigen Außenseiterinnen dürfen nur von wenigen Frauen eingenommen werden, damit die Gesamtordnung stabil bleibt. Delal Hofmeister war das einzige Geschwisterkind, das im Alter von 40 Tagen in die kurdischen Gebiete zur Oma und der Familie ihres Onkels väterlicherseits gebracht wurde. Eine Bindungs- oder Beziehungsstörung ist aus dieser frühen Trennung nicht entstanden, da Delal Hofmeister drei kontinuierliche und zuverlässige Bezugspersonen in ihrer Großmutter, dem Onkel und ihrer Amme fand. Die soziale Elternschaft lag bei der Großmutter und dem Onkel und sie bilden die Grundlage für ihre gegenwärtige Beziehungsfähigkeit. h) Die eigene Familie – Integration und Tradition Das Ehepaar Hofmeister reproduziert in seiner Ehe das „leichte Patriarchat“. Delal Hofmeister bringt durch ihre kulturelle und „politische“ Herkunft neue und unbekannte Komponenten in die Beziehung ein. Durch die matriarchal handelnde Großmutter Delal Hofmeisters sind ihr Orientierungs- und Handlungsstrukturen bekannt, die ihr trotz ihres patriarchalen Elternhauses eine relativ hohe Autonomie der Lebenspraxis erhalten. Diese zeigen sich in ihrem enormen Willen, durch Bildung und Schulabschlüsse in die „Mitte“ der deutschen Gesellschaft vorzudringen. Dies gelingt ihr nicht nur durch ihre Heiratsstrategie, sondern vor allem durch ihre in Deutschland nachgeholten Schulabschlüsse und ihr aufgenommenes Studium. Auch das Schreiben und präsentieren ihres autobiografischen Buches zeigt ihre Fähigkeit und ihren Willen zur Integration durch Bildung und den Erhalt ihrer Autonomie. Die Namensgebungen der beiden Töchter, Charlotte und Karla, und des Sohnes, Friedrich, verdeutlichen die für die Töchter angedachte Orientierung zur Herkunftskultur des Mannes und eine Ausblendung der Herkunftskultur Delal Hofmeisters. Die Kinder sollen auch an ihren Vornamen nicht als Kinder einer Migrantin erkennbar sein. Die Integration der Kinder in die Herkunftskultur Frau
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Hofmeisters zeigt sich in der Nahrungszubereitung und der zweisprachigen Erziehung der Kinder. i) Zusammenfassung bisheriger Fallstrukturhypothesen Die relevanten Zugehörigkeiten der Herkunftsfamilie Delal Hofmeisters sind das (sozialistisch orientierte) Kurdischsein und die „moderne“ alevitische Religionszugehörigkeit. Beide Identifikationen sind mit westlichen Werten und Ideologien vereinbar und stark sinnorientiert mit modernisierendem Charakter. Gleichzeitig ist die Orientierung am Kurdischsein eine Retraditionalisierung. Delal Hofmeister weist „interkulturelle“ Handlungs- und Orientierungsstrukturen, also eine gelungenen Krisenbewältigung der Fluchtmigration, auf. Sie trägt einerseits ihre Herkunftskultur und ihre in der Türkei gemachten biografischen Erfahrungen in die deutsche Öffentlichkeit, heiratet andererseits einen deutschen Mann und kann sich im deutschen Bildungssystem behaupten. Zudem ist die bilinguale Erziehung ihrer Kinder eine Verbindung beider Kulturen und ein Zeichen für in diesem Text als praktisch umgesetzt verstandene „Interkulturalität“. Durch die Sozialisation bei der Großmutter erfuhr Delal Hofmeister ein weibliches Vorbild mit maximaler Handlungsautonomie. Dies und die liebevollen stabilen Beziehungen zur Großmutter und zum Onkel gaben Delal Hofmeister eine sichere Grundlage für ihr weiteres Handeln. Die Großmutter nahm gesellschaftlich die Position einer weiblichen mächtigen Außenseiterin ein und generierte den Familienauftrag „Transformation“, der durch den Onkel und Delal Hofmeister fortgesetzt wurde. Die Entscheidung der Eheleute Frank und Delal Hofmeister füreinander ist auch von familiären Traditionen geprägt. Die aus der Herkunftsfamilie von Frank Hofmeister bekannte Beziehungskonstellation des „leichten Patriarchats“ und die Reproduktion der sozialen Herkünfte bezogen auf das jeweilige Geschlecht ist augenfällig: Die Männer verkörpern das Bildungsmilieu, die Frauen das bäuerlich-ländliche Milieu. Beide Frauen sind die Hauptverantwortlichen für den gemeinsamen Haushalt und die Kinder. Die Heiratsstrategie Delal Hofmeisters impliziert einen außergewöhnlich schnellen sozialen und symbolischen Aufstieg (Transformation).
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3. D IE I NTERVIEWS – L EBEN
DURCH I MPROVISIEREN
a) Rahmungen und Besonderheiten der Interviews Ich führte drei Interviews mit Delal Hofmeister. Während des ersten Interviews erzählte Delal Hofmeister über ihre Kindheit und Jugend in der Türkei. Das zweite Interview beinhaltet die Zeit ihrer Folterungen, ihren Gefängnisaufenthalt bis zur Ermordung ihres Onkels durch die PKK. Das dritte Interview erzählt von der Flucht(vorbereitung), das Ankommen in Deutschland, ihre Heirat, die Geburt der beiden Töchter und ihr gegenwärtiges Leben. Durch die Anzahl der Interviews konnte eine große Datenmenge erhoben werden. Das erste Interview fand im öffentlichen Raum am Rande eines Spielplatzes statt, auf dem die beiden Töchter Frau Hofmeisters spielten. Die während dieses Interviews vorhandenen Rahmenbedingungen sind für ein Interview, in dem es um autobiografische Themen gehen soll, ungünstig. Da die Interviewte bereits ein autobiografisches Buch veröffentlicht hatte, war Frau Hofmeister geübt darin, ihre Lebensgeschichte in der Öffentlichkeit zu erzählen und scheute diese nicht. Das zweite Interview fand im Wohnzimmer der Interviewten statt. Die beiden Töchter waren auch in der Wohnung. Grammatikalisch auffällig ist das zweite Interview aufgrund der ungewöhnlich großen Anzahl grammatikalischer und Ausdrucksfehler. Ein Vergleich der Textstellen des zweiten Interviews mit denen aus den beiden anderen Interviews zeigt, dass auf einer Textseite des ersten und dritten Interviews etwa halb so viele grammatikalische oder Fehler im Ausdruck zu finden sind wie auf einer Textseite des zweiten Interviews. Interpretierbar sind diese Auffälligkeiten durch Erkenntnisse über Folterfolgen. Beim Sprechen über traumatische Erfahrungen kam es auch bei Frau Hofmeister zu Konzentrationsschwächen (und so zu sprachlichen Fehlern), zu rein bildhaften Erinnerungen oder Erinnerungslücken (Graessner/Wenk-Ansohn 2000, S. 70, 82-83; Scarry 1992, S. 65-66). Das dritte Interview wurde ebenfalls im Wohnzimmer der Wohnung der Familie Hofmeister geführt. Die beiden Töchter waren anwesend und unterbrachen Frau Hofmeister immer wieder in ihrem Erzählen. Dieses Interview dauerte nur etwa eine halbe Stunde. b) Autonomie durch Distanzierung Delal Hofmeister: Das war meine erste Begegnung. (.) Ich (.) Das hat mein Vater und mein Onkel, die auch, eh, von der Polizei immer, ehm, zur Polizeistation gebracht worden sind, haben die uns nicht so erzählt. Wahrscheinlich, weil wir Kinder waren und Angst hatten oder wie auch immer.
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Die „erste Begegnung“ war das erste Mal, dass Delal Hofmeister von der Polizei auf das Polizeipräsidium gebracht wurde. Die „erste Begegnung“ ist eine Formulierung, die sonst im privaten Kontext oder in Begegnungen, die nicht mit Gewalt in Verbindung gebracht werden, zu tun haben. Diese Formulierung wird der Gewalt und Folter, die Delal Hofmeister angetan wurde, nicht gerecht und lässt das real Geschehene hinter der Formulierung verschwinden. Meist sind die „ersten Begegnungen“ mit positiven Wertungen verbunden, die das Leben bereichern. Die erste Foltererfahrung wird als eine „Begegnung“ formuliert, bei der zwei Menschen gleichberechtigt in Beziehung und Kontakt zueinander treten können. Eine reziproke Interaktionsmöglichkeit ist hingegen in der Foltersituation nicht gegeben. Die Übermacht und Gewalt der Folterer verunmöglicht eine „Begegnung“. Der Begriff scheint in diesem Zusammenhang unfreiwillig komisch. Über das, was man nicht beweinen kann, kann man manchmal nur lachen (Plessner 1950). Statt über sich selbst zu erzählen, erzählt Delal Hofmeister über andere: über ihren Vater und ihren Onkel. Beide waren wichtige männliche Bezugspersonen in ihrer Kindheit und Jugend. Diese beiden Vertrauenspersonen haben die gleichen Erfahrungen bei der Polizei gemacht, auch sie wurden gefoltert. Sie haben Delal Hofmeister und den anderen Kindern nicht das erzählt, was dort wirklich geschieht. Für die Erzählerin war es etwas Überraschendes, auf der Polizeistation gefoltert zu werden. Es klingt vorwurfsvoll, dass weder Onkel noch Vater sie auf Folterungen in irgendeiner Weise vorbereitet haben. Eine Interpretation für das Schweigen des Vaters und des Onkels liefert die Erzählerin selbst im nächsten Satz: Sie und die anderen waren Kinder und Kindern werden nicht alle Wahrheiten aus der Welt der Erwachsenen erzählt. Die Kinder hatten dennoch Angst. Es bleibt unklar, warum und vor wem die Kinder Angst hatten. Delal Hofmeister wollte mehr über die Gewalt und Folterungen wissen, die sie erwartete. Ob dieses Wissen um konkrete Geschehnisse und Gewaltbeschreibungen ein Schutz vor den realen eigenen Erfahrungen von Gewalt und Folter gewesen wären, ist m. E. unwahrscheinlich. Wusste ich nicht. Ich dachte: Das is einfach (.) so nen riesengroßen Zimmer und so das das is dann, man wird halt dort gequält und nen bisschen gehauen, das is alles. (1) Die Erzählerin wusste nicht. Sie nennt das Objekt in diesem Satz nicht: das was sie nicht gewusst hat. Die Erzählerin setzt nicht mal ein stellvertretendes Objekt an die Stelle des Nicht-Aussprechbaren. Das Objekt ist so stark tabuisiert, dass es keinen Platz im Satz findet. Eine andere Interpretationsmöglichkeit ist, dass der Erzählerin an dieser Stelle ein grammatikalischer Fehler unterläuft und
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sie aus diesem Grund das Objekt des Satzes vergisst. Wie bereits geschrieben, sind in diesem Interview grammatikalische Fehler wesentlich häufiger vorhanden verglichen mit den anderen Interviews. Es gibt zwei Aspekte aus dem vorhergehenden Satz, auf die sich das NichtWissen beziehen könnte: Die Erzählerin wusste entweder nicht, was sie auf der Polizeistation erwartete oder sie verstand nicht, warum die beiden Männer den Kindern so wenig von ihren Foltererfahrungen erzählt hatten. Delal Hofmeister hat sich vorgestellt, dass sie bei der Polizei in ein riesengroßes Zimmer kommt, das in der Relation zu ihrem eigenen Körper mächtig und groß sei. Die Körper-Raum-Beziehung wird so zum Bezugspunkt und Ausgangsort der vorgestellten Erfahrungen auf der Polizeistation. Die Vorstellung der Erzählerin, was mit ihrem Körper während der Folterungen geschieht, ist, dass sie nur ein „bisschen“ gehauen und gequält wird. Sie stellt sich analog zur Perspektive eines Kindes vor, dass Folterungen auf der Ebene des Spiels bleiben können, die nur ein wenig schmerzhaft werden. „Hauen“ ist ein Begriff, der häufig im Kontext von Kindersprache bzw. gegenüber Kindern gebraucht wird. Wer gehauen wird, wird nicht wirklich schmerzhafte Erfahrungen machen. Das sollte alles sein, was die Erzählerin auf einer Polizeistation zu erwarten hatte. Aber die sind sehr grob, die, ehm schließen sofort die Augen mit so (.) nem, mit so nem (.) ehm, Augenbinde. Ganz fest, dass du gar nichts mehr siehst. (.) Und die Hände hinten gebunden. (.) Mit dem „aber“ wurde die reale Erzählung, das nicht Erwartete, eingeleitet. „Die“ meint eine Gruppe von Menschen, die nicht näher benannt wird. Aus dem Satz geht aber hervor, dass die Folterer gemeint sind. „Die“ Folterer sind die Polizisten. Durch das unpersönliche „die“ distanziert sich die Erzählerin von ihren Folterern und den von ihnen ausgeübten Erniedrigungen, Beschädigungen und Gewalttaten. Das Handeln der Folterer wird als „grob“ beschrieben. „Grob“ findet sich häufig in Kontexten von Paarbeziehungen bzw. in Beziehungen zwischen vertrauten Personen. Zum Beispiel könnte die Mutter von zwei Töchtern zu der älteren Tochter sagen, wenn diese ihre jüngere Schwester bedrängt: „Sei nicht so grob zu deiner Schwester!“ Meist ist die mächtigere Person gegenüber einer machtloseren Person „grob“. Die mächtigere Person kann sich Grobheit erlauben, da sie keine gleichwertige Reaktion erwarten muss. Dennoch transportiert „grob“ eine gewisse Nähe und Vertrautheit der beteiligten Personen. Die erste Handlung im Zusammenhang mit der ersten Folterung ist, die Augen der Erzählerin zu verbinden. Durch das Verbinden der Augen wird die
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Wahrnehmung Delal Hofmeisters eingeschränkt, so dass sie ihre Folterer nicht identifizieren kann. Zudem desorientiert diese Wahrnehmungsbegrenzung die Gefolterten. Es wird durch das Verbinden der Augen die Macht der Folterer und die Machtlosigkeit der Erzählerin demonstriert und verstärkt. Als nächster Schritt in Richtung Ohnmacht werden Delal Hofmeister die Hände gebunden. Sprichwörtlich bedeutet, wenn jemandem die „Hände gebunden sind“, dass er/sie keine Handlungsmöglichkeiten mehr hat. Diese schrittweisen Begrenzungen markieren den Beginn einer extrem ungleichen sozialen Situation. c) Der Beginn der Folter: Ermächtigungen Kontext: Diese Sequenz stammt aus dem zweiten Interview. Delal Hofmeister erzählt, wie sie festgenommen und auf eine Polizeistation gebracht wurde. Der Anlass war, dass ihr Vater und ihre älteste Schwester nach Deutschland geflohen waren und sie verdächtigt wurden, zur PKK „in die Berge“ gegangen zu sein. Delal Hofmeister beschrieb zuvor, wie sie in der nächstgelegenen Polizeistation gewaltsam festgehalten wurde, Polizisten ihr die Augen verbanden, eine Treppe hinunterführten und sie in einen Raum auf einen Stuhl setzten. Und eh, dann haben die mich meine Hände aufgemacht und irgendwie mit dem Stuhl mit so gebunden. Ich weiß aber nicht mehr so Einzelheiten, weiß ich nich mehr. „Die“ waren die Polizisten oder „ausgebildete“ Folterer, die zu ihr in den Keller kamen. Die Formulierung „die“ schafft eine Distanz zu den Folterern. Diese Distanzierungsformulierung ist nicht selten mit einer Abwertung des Gegenübers verbunden. So schafft die Erzählerin retrospektiv eine Distanz zu denjenigen, die über sie in einer absolut heteronomen sozialen Situation bestimmen konnten, um eine gewisse Autonomie wahrnehmen zu können. „Die“ bestimmten, was mit ihrem Körper geschah: Erst verbanden sie ihre Augen, dann fesselten sie ihre Hände und Delal Hofmeister an einen Stuhl. Zu Beginn der Folter wurden die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Frau Hofmeister berichtete detailliert über diesen Folterbeginn und deren Handlungsabfolgen. Einerseits erzählte sie sehr detailliert über diese Handlungsabfolge, sagt aber im nächsten Satz, sie könne sich nicht an Einzelheiten erinnern. Es liegt nahe, dass sie an diesem Punkt die Erzählung verkürzen wollte, da sie nicht über die weiteren Foltersituationen reden konnte oder wollte. Eine Rahmung der Beziehung der Interviewerin – Interviewte findet durch die Formulierung der Erzählerin „Ich weiß ..., weiß ich...“ statt. Statt auf eine aktive, gemeinsam zu gestaltende Ebene des Erinnerns zu rekurrieren, wusste Deal Hofmeister keine Einzelheiten mehr und zog sich aus dem Erzähl- und Erinne-
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rungsprozess heraus. Sie verortete ihre biografischen Geschichten innerhalb einer distanzierten Beziehung mit klaren Rollen: Ich als Zuhörerin war die Wissenschaftlerin und sie die Erzählerin. Diese These der Verengung des Erzählens auf Wissen konnte im Weiteren falsifiziert werden, indem ich analysierte, dass die Form des Interviews eine Erzählung ist und sich Deal Hofmeister trotz dieser Rahmung auf einen Prozess des Erinnerns einließ. So dass ich (nun) auf dem Stuhl sitzen bleiben musste. (.) „So dass“ bezieht sich auf die vorherige Aussage, es schließt an die Situation an, in der der Erzählerin die Hände an den Stuhl gebunden wurden. Die Folge der verbundenen Hände ist das „Sitzen-bleiben-müssen“. Erst wurden die Wahrnehmungsmöglichkeiten von Delal Hofmeister begrenzt, anschließend ihre Handlungsmöglichkeiten. Sie präsentierte sich in dieser Satzkonstruktion dennoch als handlungsfähiges Subjekt, als Akteurin in einer Situation, in der sie objektiv kaum noch Handlungsoptionen hatte und diese immer weiter eingeschränkt wurden. Sie ließ durch ihre Formulierung „ich ... sitzen bleiben musste“ die erzwungene Handlung bzw. Handlungsunfähigkeit in der Verantwortung der Aggressoren und räumte sich selbst (vorgestellte) Handlungsmöglichkeiten ein. Wenn sie es unbedingt gewollt hätte, hätte sie aufstehen können. Die These des unbedingten Willens zur Autonomie- und Handlungsfähigkeit wird gestützt durch die „Ich-Perspektive“. Delal Hofmeister zeigte auch an dieser Stelle eine Widerständigkeit gegen die reale Heteronomie. Die Funktion dieser Autonomiekonstruktion ist, sich trotz der realen Situation gedanklich und gefühlt einen Rest von Eigenständigkeit zu bewahren, um einem sozialen und psychischen Zusammenbruch vorzubeugen. Durch diese Haltung leistete sie eine Form des Widerstands und konstruierte sich auch in heteronomen Situationen als autonomes Wesen. Und dann hab ich irgendwie geguckt (.) versucht zu gucken, versucht irgendwas zu machen, wahrzunehmen, wo ich bin und wie ich wirklich sitze und warum und so weshalb? „Und dann hab ich irgendwie geguckt“ beschreibt eine Situation, in der Deal Hofmeister trotz der Augenbinde „gucken“ kann. Gegen die Situation der Heteronomie wendete sich Delal Hofmeister erneut durch die Konstruktion des aktiven Wahrnehmens, des Gucken-Könnens. Das Gucken wird relativiert in ein „versucht zu gucken“, das die Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der Realität verdeutlicht. Wenn das Sehen behindert wird, bedeutet dies eine enorme Einschränkung für die Einordnung und Orientierung in einer Situation und der
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Handlungsspielräume in ihr. Sie versuchte, ihre Entmachtung aufzuhalten und dieser eine eigene Einschätzung und Ordnung der Situation entgegen zu setzen. Auf der Wahrnehmungsebene übertrug das Sehen metaphorisch auf die Handlungsebene, indem sie „irgendwas machen“ möchte. Gleich darauf reduzierte sie diesen unerfüllbaren Wunsch auf die Wahrnehmungsebene, um die Situation gedanklich einordnen und kontrollieren zu können. Die Fragen nach dem „Wo?“ und dem „Wie?“ lassen auf erste Körperwahrnehmungsstörungen schließen. Das „Wo?“ kann nicht beantwortet werden, da Frau Hofmeister nichts mehr sehen konnte, das „Wie?“ kann sie offensichtlich auch nicht mehr wahrnehmen. Die Frage nach dem „Wie ich auf einem Stuhl sitze?“ kann im Normalfall beantwortet werden, ohne Sehen zu können. Demnach muss für Delal Hofmeister bereits eine Wahrnehmungsbeeinträchtigung stattgefunden haben, so dass sie ihre Körperhaltung nicht mehr wahrnehmen konnte. Die Fragen nach dem „Warum?“ und „Weshalb?“ sind Fragen nach dem Sinn und den Gründen dieser Situation. Diese werden in dieser Sequenz nicht beantwortet. Auf der sinnhaften Ebene können diese Fragen nie beantwortet werden, da es keinen moralisch oder ethisch vertretbaren Grund für Folter gibt. Auf herrschaftsanalytischer oder politischer Ebene könnten die Antworten Informationsgewinnung durch ein „Geständnis“, das Zerstören der Freiheitsbewegung der KurdInnen bzw. der Persönlichkeit der WiderständlerInnen sein. Dieses (rhetorische) Fragen ist der Versuch durch Kognition den „unterworfenen“ Körper kontrollierbar zu machen. Die Kontrolle der Welt durch die Wahrnehmung ist mit einer Erzählung Edgar Allan Poes vergleichbar, die Norbert Elias (1987) aufgreift, um den Typus des Intellektuellen zu beschreiben: Das Gleichnis handelt von drei Fischern, die um die Gefährlichkeit des Mahlstroms auf hoher See wissen. Doch weil sie der reichhaltige Fischgrund, der in der gefährlichen Gegend vorhanden sein soll, reizte, brachen sie eines Tages trotzdem in Richtung des Mahlstroms auf. Wie erwartet entfaltete der Mahlstrom seine Gewalt und Kraft. Der erste Fischer fing an zu rudern und versuchte, sich gegen die todbringende Strömung zu stellen. Er wurde von der See in ihre Abgründe gezogen. Der zweite Fischer befestigte sich selbst an einem Teil seines Bootes, um nicht über Bord zu gehen. Doch auch dies nützte ihm nichts. Denn nach einiger Zeit wurde sein Boot in viele Teile zerschmettert und er selbst ging mit dem Boot unter. Der dritte Fischer handelte erst mal nicht, sondern beobachtete die Situation. Aufgrund dessen konnte er die jeweiligen Situationen richtig einschätzen und überlebte. Den dritten Fischer vergleicht Elias mit dem Typus des Intellektuellen, der die Welt und die Situationen beobachtet, versteht und angemessen handeln kann. Eine solche Lebenshaltung bringe die nötige Distanz und Kontrolle auch über gefährliche Situationen
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und ermögliche adäquates Handeln. Ob dieses Handeln während der gesamten Folter aufrechterhalten werden kann, wird sich zeigen. Delal Hofmeister nahm in dieser Sequenz die hilfreiche Rolle der Beobachterin ein. Sie bemühte sich trotz „stürmischer See“, wahrzunehmen, einzuordnen und die Situation zu erfassen. Dennoch zeigte sie bereits in dieser Sequenz eine Fragmentierung der Sprache und eine beginnende Zerrüttung der (inneren) Ordnungen und Normalitäten. (1) War einfach ganz erst mal so so Todesstille, (.) war gar nichts, (.) war dunkel war ganz kalt (.) und das roch noch so nach nach Fäkalien und so, das war (1) so als ob man auf so ner Toilette sitzt (1). Ich hätte beinahe schwören können, dass ich auf Toilette wäre, also dass da ne Toilette wäre (-) war aber keins. Die Situation war „einfach … erst mal“ und absolut. Das bedeutet, dass später ein Kontrast folgen wird, der nicht mehr „einfach“ sein wird. Die „Todesstille“ ist eine bedrohliche Stille. Der Tod liegt vor, in oder nach der Stille.2 Der Tod kündigt sich hier durch die Stille an oder zeigt sich in ihr. Wahrscheinlich sind in diesem Raum andere Menschen gefoltert worden. Die Stille deutet auch auf einen von der Außenwelt abgetrennten Bereich hin. Der Prozess, der die Folter hervor bringt, zeigt sich: die (Außen-) Welt verschwindet und die Einsamkeit größer wird. (Scarry 1992, S. 60-69) Die mit Todesstille gefüllte Welt ist eine andere als die normale, alltägliche Welt. Die Erzählerin nahm eine Gefahr in der Stille wahr. „Todesstill“ ist gruselig und gespenstisch. Jede/r weiß, dass etwas Schreckliches auf ihn/sie warten kann. Das „Spiel“ mit der Angst, mit der Todesangst hat begonnen. Delal Hofmeister wechselte in dieser Sequenz sprachlich in das unpersönliche „man“. Sie ließ sich vom Kontext nicht vereinnahmen und signalisierte durch „man“, dass sie die Situation noch immer kontrollieren konnte. Die Formulierung „Toilette“ kann als weitere Distanzierungsformulierung zu ihren realen Erlebnissen und Wahrnehmungen interpretiert werden. Die Begriffe und Bilder wurden sprachlich „dekontaminiert“, um die Situationserzählung zu veralltäglichen und erzählbar zu machen. So kann Delal Hofmeister den benötigten Abstand zu den mit der realen Situation verbundenen Gefühlen wie Hilflosigkeit, Angst, Scham oder Erniedrigung erlangen.
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In einem Roman Juli Zehs (2002) wird die Stille beschrieben, die der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina hinterlassen hat. Eine Stille, in der das Unfassbare des Krieges und seiner Zerstörungen beinhaltet sind. In Folge dessen die Menschen, die den Krieg überlebten, nicht mehr so sein können wie vorher und in dem die Stille eigentlich das Geräusch ist.
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d) Nach der Folter: Hass als Motor Kontext: Die folgende Sequenz ist im zweiten Interview nach der ersten Foltererfahrung zu verorten. Ich hab mich gehasst. Ich hab mich einfach selber gehasst. Ich weiß nicht, warum ich mich gehasst hab. Die Menschen auch, aber die konnte ich ja nicht sehen. ... Ich hab so nen plötzlich irgendwas gespürt, dass ich alle Männer gehasst hab. (.) Alle Männer. ... Vielleicht war, dass das mir so nen bisschen Kraft gegeben hat, weiter zu leben. Durch die Erfahrung von absoluter Heteronomie und einer nicht mehr als „interaktiv“ zu bezeichnenden Situation, die in der absoluten Gewaltausübung der Folterer endete, ging Frau Hofmeister als Gefolterte als in ihrer Vertrauensund Wahrnehmungsfähigkeit gestörte Person hervor (Gurris/Wenk-Ansohn 1997, S. 281-283). Selbsthass oder Fremdhass entwickeln sich nicht selten aus der systematischen Zerstörung von interaktiven Beziehungsmöglichkeiten. Selbsthass entsteht durch die Entwicklung von Schuldgefühlen, die sich durch die Übernahme von Verantwortung für die Entstehung und Ausübung der erlittenen Gewalt entwickeln kann (Becker 1992). Am Beginn dieser Sequenz steht Selbsthass. Delal Hofmeister konnte sich nicht während der gesamten Folterzeit als aktives Handlungszentrum konstruieren und die Geschehnisse an sich „abprallen“ lassen. Selbsthass wird nicht selten durch die Zuschreibungen der Umwelt, die internalisierten kulturellen Moral- und Wertvorstellungen generiert. (Unger 2007; Gahleitner/Lenz/Oestreich 2007) Besonders in muslimisch geprägten Kulturen, in denen die Sexualität der Frauen mit Reinheit, Ehre und Scham assoziiert sind, zerstören „Befleckungen“ der weiblichen Sexualität die Ehre der gesamten Familie. In diesem Sinne ist Selbsthass als kulturell geprägte Entwicklung von Schuld- und Schamgefühlen zu interpretieren. Eine weitere Erklärung für die Entwicklung von Selbsthass in Folge von Folter verdeutlicht Scarry (1992). Sie beschreibt, dass alle Sinneswahrnehmungen der Gefolterten aufgrund der existentiell bedrohlichen physischen Schmerzen negiert werden. Der totale, alles erfüllende Schmerz ist etwas, das als Anderes, als Nicht-Ich eingestuft werden muss. Zu dieser „Negation“ geselle sich „Etwas“, das sich gegen die malträtierte Person stellt. Dieses Etwas kommt gleichzeitig von außen und von innen in Form von Mord und Suizid. An dieser Stelle wird m. E. Selbsthass als Vorstufe des Suizids und Hass gegen Menschen als Vorstufe des Mordes generiert. Der unermessliche Schmerz kann bei den Gefolterten den Wunsch nach dem eigenen Tod hervorrufen, um von diesem erlöst zu werden. Selbiges formulierte auch Delal Hofmeister in diesem Interview: „Ich wollte nur eins auf dieser Welt: (1) Dass ich einfach nichts mehr (er)leben wollte. Ich
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wollte einfach nur auf der Stelle tot sein und nie wieder, (-) nie wieder erleben...“ Wer die Folter überlebt, kann sich dafür hassen. Die Frage des „warum“, nach den Ursachen ihres Selbsthasses blieb für Delal Hofmeister unbeantwortet. Ihr Selbsthass verwandelte sich ganz von selbst in Hass. Diese Transformation ist die Verlagerung der Schuld auf die die Täter(Innen), und bedeutet die „Richtigstellung“ der Wirkrichtung des Hasses. Die Schuld und die Hassgefühle können zurückgegeben werden, damit kann ein Raum für die Wiederherstellung der Identität der Opfer entstehen. (Becker 1992) Erst wenn der Selbsthass zum Hass wird und Handlungsfähigkeit (begrenzt) wiederhergestellt wird, kann das Opfer seine Reduktion auf die Rolle als Opfer aufgeben und die Schuld an die TäterInnen, hier verallgemeinert „alle Männer“, zurückgeben. Mit der Transformation vom Selbsthass zum Hass kann das Folteropfer in die „normale“ Welt mit ihren Wertmaßstäben und Regeln beginnen zurückzukehren. Mit dem „Hass auf alle Männer“ äußert die Erzählerin eine universelle Anerkennungsvernichtung, die ihren Glauben an die „Männerwelt“ auf der allgemeinen, auf der ethischen Ebene erreichte. Sie bleibt an dieser Stelle auf der Ebene der Gewalt, auf der des Hasses und richtet ihren Hass generalisierend gegen alle Männer. Es bleibt abzuwarten, wie sie ihre Handlungsautonomie vollends wiedererlangen und die Ebene der Gewalt und den Hass auf alle Männer verlassen konnte? Kontext: Bereits nach der ersten Folterung wollte Delal Hofmeister nach Deutschland fliehen, wo sich zu dem Zeitpunkt bereits ihr Vater und ihre älteste Schwester aufhielten. Diese konnten ihr aber kein Geld für ihre Flucht schicken. Als Handlungsalternative zur Flucht entwickelte die Erzählerin folgende Zukunftsperspektiven. Hab ich gesagt: Okay, eins will ich nur: (-) Überleben. (.) Dann geh ich halt eben zur PKK. Dann geh ich, da hab ich ne Waffe in der Hand und kann ich kämpfen. Überleben war das einzige Ziel Delal Hofmeisters. Das Überleben als Existenzsicherung ist die Grundlage allen Handelns. Da der Erzählerin nach ihrer ersten Folter mit erneuten und massiveren Folterungen gedroht wurde, war der Handlungsdruck, der auf ihr lastete, sehr groß. Die Handlungsalternative, die zweite Wahl zur Flucht nach Deutschland, war der bewaffnete Kampf bei der PKK. Durch diese Perspektive wollte sie den Verlust ihrer Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Diese Perspektive war bei der kurdischen Minderheit in der Türkei eine sehr verbreitete Reaktion auf die türkischen Repressionen (Ammann 2004).
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Weitere Handlungsalternativen wären die Binnenflucht oder der Versuch eines so weit wie möglich „normalen“ Lebens in ihrem Dorf gewesen. Bei der Wahl für ein Leben in ihrem Dorf wäre sie wahrscheinlich, wie angedroht, von der Polizei erneut gefoltert worden. Die Binnenflucht innerhalb der Türkei bedeutet(e) für KurdInnen zur großstädtischen diskriminierten Unterschicht zu werden und erneut in widrigen Umständen leben zu müssen. Da sich Delal Hofmeister für das Kämpfen bei der PKK entschied, blieb sie auf der Ebene der Gewalt. e) Die (autobiografische) Erzählerin Kontext: Nach einer Art „Ausbildung“ bei der PKK wurde die Erzählerin festgenommen, erneut gefoltert und anschließend für ein Jahr in einem türkischen Frauengefängnis interniert. Die folgende Sequenz schildert Delal Hofmeisters Zeit im Gefängnis. Aber so Briefkontakte und so, dass man halt Briefe schreibt, die man sonst nie getan hat, (.) und so. Das is auch ganz hübsch. Man, man freut sich über jeden Brief, egal von welchen Mensch. Die früher, die man nicht zu sagen hat, sogar, wenn man irgendein Brief kriegt. Das is so was von schön. Im Gefängnis konnte die Erzählerin durch Briefe ihre Kontakte und Beziehungen zur Außenwelt aufrechterhalten und ausbauen. Das Gefängnis als „totale Institution“ (Goffman 1991) bedeutet, dass die GefängnisinsassInnen alle Angelegenheiten ihres Lebens innerhalb des Gefängnisses stattfinden lassen (müssen). Die Orientierungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume innerhalb einer totalen Institution sind sehr begrenzt. Delal Hofmeisters soziale Praxis in dieser Lebenswelt war durch ihre neue Praktik, dem Briefeschreiben, geprägt. Dieses ermöglichte ihr nicht nur, bestehende Beziehungen zu erhalten, sondern auch neue Bekanntschaften auszubauen. Das Briefeschreiben bezeichnete Delal Hofmeister als „ganz hübsch“. Die Situation war angenehm, aber nicht begeisternd. Briefe schreiben war „hübsch“, aber das Erhalten von Briefen von Menschen, mit denen Delal Hofmeister vor ihrer Gefängniszeit nur bekannt war, war „so was von schön“. In einer Schicksalsgemeinschaft, in denen sie sich ihre face-to-face Interaktionen und Beziehungen nicht aussuchen konnte, entdeckte sie die Schönheit und die Qualitäten von schriftlicher Kommunikation. Delal Hofmeisters baute durch das Briefeschreiben ihre Kommunikationsfähigkeit auf und aus. Die Interaktionsmöglichkeiten der Erzählerin gewannen eine neue Qualität. Sie konstituierte sich während der Gefängniszeit trotz ihrer begrenzten Handlungsmöglichkeiten als autonomes Handlungssubjekt.
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Das is, als ob, (1) ach ich weiß es nicht. Als ob man, (1) ach so unbeschreibliche Gefühl, das einen aus Gefängnis rausholt, bringt in die Natur und ich darf laufen, ich darf (.) machen, gucken und dann wieder reingehen. So doll, so schön wars für mich. [hm] Die Erzählerin suchte nach einer treffenden Metapher für das, was das Briefeschreiben für sie bedeutete. Sie verglich es mit dem Gefühl, „frei“ zu sein. Sie konnte durch diese Briefe imaginäre Orte besuchen, in Freiheit „in die Natur ... laufen“, und die sie unmittelbar umgebende Realität, das Gefängnisleben, gedanklich und emotional verlassen. Die Möglichkeiten, die durch die Welt der Sprache und der Imagination entstanden, empfand Delal Hofmeister als enorme Bereicherung für ihren Gefängnisalltag. In dieser Zeit waren es die inneren Welten, die ihr ein Gefängnisleben ermöglichten, das ihr Kraft und innere Freiheiten gab. Viele Briefe geschrieben, viel gelesen, viel darüber nachgedacht. Als ich dann rauskam ausm Gefängnis, hatt ich so nen Gefühl, dass ich, ehm (1) einfach so hundert, (.) ja so hundert Jahre alt geworden bin. Plötzlich ganz ruhig, ganz skeptisch, (1) Männerhasser. (3) Männerhasserin, ja. Die Transformation ihrer sozialen Beziehungen durch die Briefe machten sie zur nachdenklichen und reflektierten autobiografischen Erzählerin. Dadurch nahm sie sich als alte, erfahrene und weise Frau wahr. Das Gefühl, hundert Jahre alt zu sein, kann auch auf Lebensmüdigkeit deuten. „Plötzlich“ geschah etwas Unerwartetes. Die Situation der Erzählerin änderte sich nicht prozesshaft sondern schnell und ohne Ankündigung. Die Situation nach dem Gefängnis war für Delal Hofmeister plötzlich und überraschend eine andere. Sie gewann eine Qualität, die dem „plötzlich“ entgegengesetzt ist. Sie wurde „ganz ruhig“ und „ganz skeptisch“. Mit Ruhe werden meist positive besetzte Bilder und Assoziationen in Verbindung gebracht: Eine in sich ruhende Person, die Ruhe in den Bergen, aber auch die trügerische Ruhe vor dem Sturm. Das Wort „ganz“ verstärkt die Beschreibung und unterstreicht die Bedeutung der Ruhe. Delal Hofmeister ruhte nach der Gefängniszeit in sich und war ausgeglichen. Skepsis impliziert hingegen verloren gegangenes Vertrauen, Vorsicht und ein Gegenüber oder etwas, auf das die Skepsis bezogen werden kann. SkeptikerInnen hinterfragen und reflektieren kritisch, es fällt ihnen schwer zu vertrauen. Es gibt eine „gesunde Skepsis“, die Menschen vor großen Enttäuschungen bzw. einer übermäßigen Vertrauensseligkeit bewahrt. SkeptikerInnen sind aber auch oft vom Leben Enttäuschte, die einen großen Teil ihrer Vertrauensfähigkeit in das
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Leben und ihre Umwelt verloren haben. Die Erfahrungen von Verfolgung, Folter und Gefängnis, die die Erzählerin haben alt werden lassen, haben sie auch skeptisch werden lassen. Zum Ende dieser Sequenz wird deutlich, dass sie ihren Hass auf Männer auch während der Gefängniszeit, in der sie viel Zeit hatte zum Briefeschreiben, austauschen und reflektieren, nicht hatte abschließen können. Immer noch hasst sie stellvertretend für die Männer, die sie gefoltert haben, alle Männer. Die Erzählerin konnte sich auch während ihres Gefängnisaufenthaltes noch nicht vollständig als autonomes Handlungssubjekt regenerieren. f) Improvisationen als Krisenlösung Kontext: Die folgende Sequenz ist im dritten Interview zu finden. Die Erzählerin war nach ihrer Flucht bereits einige Zeit in Deutschland. In dieser Situation klingelten Polizisten an der Wohnungstür, um Delal Hofmeister abzuholen. Sie sollte in die Türkei abgeschoben werden. Ich hatt dann ne eigne Wohnung. Und dann ham die (Polizisten, Anmerkung der Autorin) gesagt: Ja die sind halt hier. Ob die suchen halt Delal Yilmaz. Die Erzählerin hatte eine eigene Wohnung. Eine eigene Wohnung zu haben, bedeutet für Asylbewerbende oder geduldete Flüchtlinge privilegiert zu sein. Eine eigene Wohnung erhielten und erhalten normalerweise nur Familien, Traumatisierte oder Flüchtlinge mit einem gesicherten Aufenthaltstitel. Delal Hofmeister hatte das ungewöhnliche Glück trotz ihres Duldungsstatus einen Job gehabt zu haben, durch den sie sich eine eigene Wohnung finanzieren konnte. Die Polizisten waren in der Wohnung und suchten die Erzählerin. Sie erkannten Delal Hofmeister nicht und sagten, dass sie sie suchen würden. Eine wahrscheinliche Reaktion von Delal Hofmeister könnte sein, dass sie sich als Delal Hofmeister zu erkennen gibt und sich abschieben lässt. Hab ich gesagt: Ja, die sind zwar hier in der Wohnung richtig, aber die Delal Hofmeister is nich da, das is meine Freundin. Ich helfe hier, bei der Wohnung sauber zu hinterlassen. Weil ich ihr Kautiongeld gegeben hab. Delal Hofmeister, damals Yilmaz, verleugnete ihre Identität und gab sich ad hoc als eine Freundin von sich selbst aus. Diese spontane Reaktion zeigt, dass Delal Hofmeister sich entweder bereits Gedanken gemacht hatte, wie sie reagieren würde, wenn sei abgeschoben werden sollte und/oder sie hatte die Begabung, „ad hoc“ Rollen zu spielen. Die Erzählerin gewann durch ihr „Rollenspiel“ Zeit, um die fast ausweglose Situation der bevorstehenden Abschiebung zu verändern und zu gestalten. Sie konnte sich durch die gewonnene Zeit neu orientieren. Das Rollenspiel erprobte
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Delal Hofmeister während ihrer Kindheit vielfach. Das Rollenspiel in seinen verschiedenen Ebenen ist Bestandteil der Identitätsbildung und der Identitätsvielfalt eines Menschen. (Mead 1973; Goffman 1969, 1973) In dieser Situation reagierte die Erzählerin in einer spontanen Weise und „log“, um sich vor der Abschiebung und somit vor möglicher erneuter Folter zu retten. Diese Fähigkeit des spontanen Rollenwechsels in eine fiktive Rolle, war eine sehr kreative Problemlösungsstrategie. Delal Hofmeister dachte sich eine Geschichte über sich und die erklärungsbedürftige Situation aus, warum sie als eine Freundin Delal Hofmeister, sich in deren Wohnung aufhielt und diese sauber machte. Sie musste überzeugend wirken, damit ihr die Polizisten diese Geschichte und ihre fiktive Identität glaubten. Und während ich das erzählt hab, hab ich versucht, mich irgendwie von de Balkon runter zu werfen. Um weg zu kommen. Ja. Was isn besser? Also irgendwie zwei Füße zu brechen oder nach. Zwei Füße zu brechen oder (3) tot sein oder noch mal gefoltert zu werden? Nee, das war mir dann halt lieber, dass ich mal die Füße brechen lasse würde. Sie erzählt den Polizisten ihre fiktive Geschichte und in derselben Zeit, versucht sie gedanklich Wege aus der Wohnung zu finden. Noch ist ungewiss, ob sie tatsächlich vom Balkon gesprungen ist und fliehen konnte. Vom Balkon zu springen und sich die Füße zu brechen, hätte bedeutet, dass sie nicht weit gekommen wäre. An mich gerichtet fragt sie, ob ihre Überlegung, vom Balkon zu springen nicht richtig und vernünftig gewesen sei angesichts der Gefahr einer erneuten Folter. Die Erzählerin stellt rhetorische Fragen, die sie sich selbst beantwortet. Sie sieht ihre Wahlmöglichkeiten zwischen einem Fußbruch und in Deutschland zu bleiben oder sich in der Türkei nochmals foltern, vielleicht töten, zu lassen. Delal Hofmeister wollte in Deutschland bleiben, da ihr hier keine erneute Folter drohte. In dieser Situation geht es für Delal Hofmeister ums Überleben. Trotz des enormen Drucks dieser drohenden Abschiebung, die über das Leben der Erzählerin entscheiden konnte, reagierte sie souverän und schuf sich unerwartete Handlungsspielräume. Dieses kreative und improvisierte Handeln zeigt enorme Kreativität, Mut und Gegenwärtigkeit. Und dann hab ich versucht, in die Balkon und die Polizisten kamen immer hinter mir her und ich weiß nicht wie, wie schnell ich so was gedacht habe, weißte. Ich hab gesagt: Ich bring mich hier einfach, also, (.) ich spring ausm Balkon, dann sehn die mich nicht, dann lauf ich weg. (2) Und dann kamen die immer hinter mir her und ich hab gesagt: Ja, also die Ausweis hab ich nicht. Wir warn gestern
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Nacht noch in der Disko und ich hab meine ganze Sachen dort gelassen, aber die Delal, ehm, die Freundin von mir, ich komm nicht von hier und die is (.) eh, zu Post gegangen. Die musste noch mal abmelden oder so. Delal Hofmeister suchte nun verzweifelt nach einer Möglichkeit, der Situation und den Polizisten zu entfliehen. Der Satz „ich bring mich hier einfach“ könnte ergänzt werden als „ich bring mich hier einfach um“. Diese schnell assoziierte Weiterführung des Satzes würde bedeuten, dass sie sich lieber umbringen wollte, als in die Türkei abgeschoben zu werden. Dies verdeutlicht ihre sehr beschränkten Handlungsperspektiven in dieser Situation. Entweder sie „bringt sich um“, springt vom Balkon, um zu fliehen, oder wird von der Polizei zur Rückkehr in die Türkei zu ihren Folterern gezwungen. Die Polizisten folgten ihr auf Schritt und Tritt und die Erzählerin erfand weitere Geschichten, warum sie keinen Personalausweis dabei hatte und wo ihre Freundin Delal Hofmeister gewesen sei. Die Geschichten wurden von den Polizisten nicht in Zweifel gezogen. Sie hätten die Erzählerin auch mit auf die Wache nehmen können oder versuchen, ihre Identität auf andere Weise festzustellen. Die Geschichten der Erzählerin hatten für die Polizisten große Überzeugungskraft. Im vorletzten Satz wurden zwei Aussagen miteinander verschränkt. Erst ging es um die gemeinsamen Aktivitäten der beiden Freundinnen, dann um die Erzählerin. Die verwirrende bzw. „chaotische“ Satzstruktur spiegelt das damalige innere Chaos und die Aufgeregtheit Delal Hofmeisters wider. Sie setzte dennoch ihr Rollenspiel, die Entwicklung einer parallelen Erzählwelt fort und streute immer mehr Informationen, die ihre begonnene Geschichte bestätigte und reproduzierte. Dann einer ist weg gegangen, wahrscheinlich zur Post wirklich, oder wohin, weiß ich nich, und der andere war bei mir und ich hab dann angefangen, an zu putzen und so richtig. Und der war immer hinter mir her. Irgendwann hab ich gesagt: Wissen Sie was, (.) ich muss noch nen Staubsauger von, von der Nachbarin holen. Wenn ich hier nich sauber mache und die Delal (2) mir dann ihre Kaution nicht kriegt, dann krieg ich mein Geld nich mehr. (1) Dann hat der gesagt: Ja, ja dann holen Sie doch mal. Also ich natürlich Staubsauger holen. Seitdem hol ich immer noch. Die Polizisten glaubten Delal Hofmeister. Einer der Polizisten verließ die Wohnung, wahrscheinlich um Delal Hofmeister zu suchen. Delal Hofmeister spielte ihre Rolle weiter und putzte die Wohnung. Für die von ihr dargestellte Situation der Wohnungsreinigung für die Wohnungsübergabe hatte der Polizist Verständnis. So schaffte es Delal Hofmeister, die Wohnung zu verlassen, um bei
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der Nachbarin einen Staubsauger zu holen. Der Polizist, der ihr bis dahin gefolgt war, folgte ihr aber nicht bis zur Wohnung der Nachbarin, sondern blieb in der Wohnung Delal Hofmeisters. Dies zeigt entweder die Naivität des Polizisten oder spricht für die Vertrauenswürdigkeit der Erzählerin oder für eine „stille Kooperation“ des Polizisten. Diese von ihr geschaffene Gelegenheit, aus der Wohnung gehen zu können, nutzte die Erzählerin sofort und floh. Ihr Improvisations- und Erzähltalent ermöglichten Frau Hofmeister ein Entkommen aus der schwierigen und bedrohlichen Situation. Die Erzählung beendete sie ironisch und verdeutlichte damit ihre innere Distanz zur konkret bedrohlichen Situation. Vergleichbar mit Scheherazade in „1001 Nacht“ erzählte Delal Hofmeister Geschichten und rettete sich vor einem sehr wahrscheinlich leidvollen Leben in der Türkei. g) Die Transformation der Geschlechterrollen Kontext: Der folgenden Sequenz, die sich im ersten Interview befindet, ist von der Erzählung über das Leben im muslimischen Mädcheninternat gerahmt, in dem sie sich unwohl fühlte und aus dem sie kurz vor ihrem Abitur verwiesen wurde. Und da habe ich halt versucht, immer Randale zu machen. Die Erzählerin stellt sich bereits in ihren Mädchenjahren als „Randaliererin“ dar. Die Randale blieb auf der Ebene eines Versuchs. Ihre Randale war demnach wenig erfolgreich bzw. machte die Erzählerin in ihrer Selbstwahrnehmung, keine „richtige“ Randale. Entweder war Delal Hofmeister aufgrund ihrer EinzelkämpferInnen- oder AußenseiterInnenposition als Alevitin und Kurdin nicht in der Lage, wirklich zu randalieren oder sie wurde nicht ernst genommen. Die Tatsache, dass die Erzählerin von sich alleine spricht, deutet auf ihre frühe Individualisierung bzw. darauf, dass sie alleine randaliert hatte. Sie orientierte sich an Normen, die außerhalb einer muslimischen Schule lagen. In einem Land, in dem die Rebellion der Jugend ,vor allem die von jungen Frauen, keine „Tradition“ hat und in dem der Übergang vom Mädchen zur Frau durch den Ritus einer frühen Heirat oder durch die starke Kontrolle der Herkunftsfamilie geprägt war, war die Erzählerin eine der wenigen jungen Frauen, die gegen herrschende Normen, Werte und Praktiken rebellierte. Äh, ich weiß es nicht, ich fand es halt schlimm, dass die Frauen dort halt so wie nichts, dass man ihnen beibringt, dass sie nur zu Hause blieben, weißt Du, damit sie nachher nicht irgendwas tun, was Wichtiges tun, sondern einfach nur Mutter sein von Kindern, mehreren Kindern möglichst, natürlich ... Und das war für mich, das passte halt nicht in den Kram.
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Der Grund der Rebellion lag in den traditionellen, patriarchalen Geschlechterrollen. Das muslimische Internat bzw. die Mädchenschule vermittelte ein Frauenbild, in dem die Aufgabe der Frauen in der Erziehung vieler Kinder und dem Haushalten bestand. Wenn die Frauen Zuhause bleiben und nichts „Wichtiges“ tun, empfand dies die Erzählerin als inakzeptabel. Sie als junge Frau wünschte sich für sich und die anderen Frauen wichtige Aufgaben, die gesellschaftlich anerkannt und geachtet werden. Wichtige Aufgaben sind meistens mit wichtigen beruflichen Aufgaben bzw. Ämtern verbunden. „Wichtig“ wird von der Erzählerin aber nicht die Aufgabe bewertet, den Haushalt zu erledigen und Kinder zu erziehen. Als junge Frau fand sie diese Aufgaben unwichtig. Die Abhängigkeit der Ehefrau von ihrem Ehemann war und ist in der Türkei faktisch eine viel höhere als im gegenwärtigen Deutschland. Eine Frau würde bei einer Scheidung einerseits sozial isoliert werden. Andererseits wäre sie finanziell nicht abgesichert. Diese Situation machte die Ehefrau in der Türkei zu einer stark heteronom bestimmten Person. Diese Heteronomie und der niedrige soziale Status von Frauen in der Türkei waren für die Erzählerin nicht zu ertragen. Die Einstellung der Erzählerin der Rolle der Hausfrau gegenüber kann sich auch aufgrund ihrer gegenwärtigen Lebenssituation, in der sie sich hauptsächlich den Kindern und dem Haushalt widmet, geändert haben. Sie lebt inzwischen eine Geschlechterrollenteilung, die sie als junge Frau ablehnte. Hier ist eine Hinwendung zu traditionellen Strukturen und eine Transformation ihrer früheren Einstellung festzustellen. Zumal meine Oma mich ja ganz anders erzogen hat. Meine Eltern auch. Weil die erwarteten ja bereits, dass ich ein Junge wäre. Bin ich nicht. War ich nicht. Bin ich nicht. Aber die haben versucht, mich wie einen Jungen zu erziehen. (2) Also, mit der Waffe in der Hand. Und wir hatten auch Blutrache und so was. [hm] (1) Wenn die Erzählerin von „meiner Oma“ spricht, ist stets die Oma väterlicherseits gemeint. Die Unabhängigkeit der Großmutter von männlichen Autoritäten beeinflusste Delal Hofmeister nachhaltig, die durch die Erziehung zum „Jungen“ vermischt wurde. Jungen und Männer hatten und haben wesentlich mehr Rechte und Freiheiten als Mädchen, und Frauen aber sie wurden zur Gewalttätigkeit und zum „Kampf mit der Waffe“ erzogen. Einerseits durfte die Erzählerin freier sein als andere Mädchen und sah sich als junge Frau in ihrem späteren Leben nicht alleinig als Mutter und Hausfrau, andererseits wehrte sie sich gegen die von außen an sie heran getragene Rolle als „Junge“. Die Sozialisation von Jungen wurde in dieser Erzählsequenz nicht mit Freiheit, Autonomie oder ähnlich positiv besetzten Handlungs- und Orientierungs-
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möglichkeiten assoziiert, sondern mit der Erziehung zur Gewalttätigkeit, von der sich Delal Hofmeister distanziert. Die Erzählerin grenzt sich negativ formulierend von der kurdischen Jungensozialisation und dem Modell der Mädchensozialisation der muslimischen TürkInnen ab. Weder das Angebot für die männliche noch für die weibliche Sozialisation sind für sie erstrebenswert. Die Frage ist: Wenn sie sich von diesen beiden Formen der Geschlechterrollen abgrenzt, mit welcher Rolle kann sie sich positiv identifizieren? Und Oma war Alleinerziehende. Das war zu dem Zeitpunkt nicht möglich, aber das hat sie möglich gemacht. Die war wie nen Mann sozusagen. Und ich hab mich im Grunde, ich hab mich zu dem Zeitpunkt, hab ich mich auch so gefühlt. Ich hab gedacht, nur Männer haben so nen Wert. Wir nicht. Also habe ich versucht, mich wie nen Mann zu verhalten. Jetzt zum Glück nicht. Hoch. ... Die Oma (väterlicherseits) war ihrer Zeit und ihrer Herkunftskultur weit voraus. Das Lebensmodell der Alleinerziehenden ist auch in westlich-modernen Kulturen erst in den letzten Jahrzehnten sozial anerkannt und verbreitet. In der Türkei war und ist die Alleinerziehende kein gängiges Modell für das Leben einer Frau. Es gab und gibt es kaum alleinerziehende Mütter in der Türkei, da das oder die Kind/er im Falle einer Trennung, Scheidung oder Tod des Mannes dem Vater oder seiner Herkunftsfamilie „gehören“. Die Großmutter handelte, entschied und lebte wie ein Mann. Sie hatte die gleichen Rechte und Freiheiten, war aufgrund ihrer Anormalität bewundert als Hebamme und Heilerin, aber auch stigmatisiert als Außenseiterin. Als junge Frau hat sich die Erzählerin auch als Mann gefühlt. Sie dachte aufgrund der Inkorporierung der Normen und Werte der sie umgebenden Kultur nur Männer hätten einen „Wert“. Im Laufe ihres Lebens reflektierte sie diese Werthaltung kritisch und änderte ihre Einstellungen. Die Erzählerin nahm das biologische und soziale Geschlecht als eine untrennbare Einheit wahr, die nicht gestört werden konnte. In der Gegenwart ist die Erzählerin froh, dass sie nicht mehr wie ein Mann handelt. Sie identifiziert sich heute als Frau und kann trotzdem handlungsautonom sein. h) Natur und Transkultur Ja. Ich bin Delal Yilmaz, Hofmeister, ähm bin am 11.10.1974 geboren, in Deutschland, in Michelstadt. Delal Hofmeister beginnt ihre autobiografische Erzählung in Form eines tabellarischen Lebenslaufs. Sie wendet sich an ein Publikum, dessen Vertreterin ich war. Diese Interpretation verifiziert These, dass die Interviewte sich als „öffentliche Person“ versteht.
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Delal Hofmeister stellt sich zuerst mit ihrem Mädchennamen vor. Eine Lesart dieses „Versprechers“ ist, dass die Eingangsfrage nach der Kindheit und Jugend eine gedankliche Konzentration auf diesen Zeitraum ausgelöst hat. Eine weitere Lesart lautet, dass die Interviewte aufgrund ihrer vielen Lesungen und Interviews nach ihrer Buchveröffentlichung als damals Unverheiratete aus „Gewohnheit“ ihren Mädchennamen nennt, wenn sie sich als „öffentliche Person“ darstellt. Gleich welche Deutung zutreffend ist, betont Delal Hofmeister mit der Nennung ihres Geburtsnamens ihre Herkunft. Damit signalisiert sie eine noch vorhandene Identifizierung mit dieser und eine Form der Transkulturalität in der Gegenwart. Delal Hofmeister beginnt die autobiografische Erzählung mit ihrem Geburtsort und identifiziert sich gleich durch den ersten Satz als „deutsche Kurdin“. Mit dem Nennen des deutschen Geburtsortes verweist die Erzählerin auf ihre Möglichkeiten, sich in zwei Kulturen und Ländern bewegen, leben und „Ansprüche stellen“ zu dürfen. Meine Eltern waren als Gastarbeiter hierher gekommen und ja (3) mein Vater, der war Lehrer und meine Mutter war n Hausfrau, Analphabetin, hatten sechs Kinder und ähm (4) die hatten mich, als ich vierzig Tage alt war, sie hatten mich, ähm, nach Türkei, im Osten, Kurdistan geschickt zu meinem Oma, die halt zu dem Zeitpunkt lebte mit meinem Onkel und seine Frau. Die Erzählung wird fortgesetzt, indem Frau Hofmeister auf die Gründe ihres Geburtsorts eingeht. Als beschreibende Merkmale der Elternteile wird zuerst das Bildungsniveau des Vaters und im Anschluss das der Mutter genannt. Da der Vater zuerst genannt wird, wird die These des Patriarchats innerhalb der Familie Yilmaz bestätigt. Der Bildungsgrad ihrer Eltern ist für die Erzählerin von hoher Relevanz, da sie sie zu Beginn ihrer Erzählung nennt. Durch das Thema „Bildung“ betont die Erzählerin die innerfamiliäre Hierarchie und Dominanz ihres Vaters. Bildung ist gesellschaftlich assoziiert mit Wissen, Macht und sozialem Hochstatus, mit kulturellem und symbolischem Kapital. In dieser Sequenz bestätigt sich, dass der Vater das Bildungsniveau seiner Frau nicht förderte und die Ehe patriarchal blieb. Die Mutter der Erzählerin war nicht nur Hausfrau, sondern auch Fabrikarbeiterin, während sie als Gastarbeiterin in Deutschland lebte. Diese Rolle wird von der Erzählerin nur im Zusammenhang mit ihrer Geburt genannt und dient nicht zur Beschreibung von Eigenschaften oder Rollen der Mutter. Dennoch zeigt sich, dass beide Elternteile arbeiten und die Mutter von Delal Hofmeister im Kontext der Arbeitsmigration ökonomisch unabhängig war. Dies deutet auf die Verbindung von Normen zweier Kulturen (Berufstätigkeit der Frau in modernen westlichen Gesellschaften und
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den Erhalt des Patriarchats durch große Bildungsdifferenzen der Eltern Delal Hofmeisters). Ähm (-) mein Onkel hatte selber auch sechs Kinder (-) sieben Kinder … Ich bin bei denen aufgewachsen, ähm bis ich halt acht Jahre alt war. ((Freudige Stimme)) Das war ´ne schönste Kindheit, wo es mir halt total wichtig ist, wo ich mich freue, dass ich das wenigstens erlebt habe oder erlebt haben konnte, durfte. + Es, das Schönste in der Kindheit, war bis dahin, dass ich einfach in der freien Natur sein konnte, dass wir, (5) dass wir halt alles machen konnten, (-) dass wir sehr viel geklettert haben, auf ´n Bäumen, dass wir nur abends unsere Haus gesehen haben. Die Kinder des Onkels gehören nur (zu) ihm. Diese Formulierung bestätigt das Patriarchat in der Wahrnehmung der Erzählerin. Ebenso deutet die große Zahl der Kinder des Onkels und der Tante auf ihre traditionellen familiären Orientierungen. Bis zu ihrem neunten Lebensjahr wuchs die Erzählerin im verwandtschaftlichen System des Vaters auf. Die Erzählerin war ein Kind unter vielen und sie genoss diese Zeit ihrer Lebens. Vor allem die Naturverbundenheit ist ein positiv erinnerter Aspekt ihrer Kindheit. Diese Zeit wird von ihr als frei und naturverbunden mit hoher und prägender Relevanz für ihr folgendes Leben definiert. Die Kindheit der Erzählerin war die „schönste“. Die schönste, die sie sich vorstellen konnte oder die schönste von allen Geschwisterkindern oder die schönste Zeit ihres Lebens? Der Bezug des Superlativs bleibt unbeantwortet. „... wo ich mich freue, dass ich das wenigstens erlebt habe oder erlebt haben konnte, durfte“ „Wenigstens“ zeigt an, dass diese Zeit im Kontrast steht zu anderen Zeiten ihres Lebens, die weniger freudvoll waren. Delal Hofmeister korrigierte ihre Aussage, dass sie etwas „erlebt hat“ in „erlebt haben konnte, durfte“. Die Freude bezog sich nicht nur auf das Erlebte selbst, sondern wird erweitert in eine Freude über eine höhere Macht, ein Schicksal, das ihr ermöglichte bzw. erlaubte, diese schönen Erfahrungen zu machen. Sie verlagerte die Verantwortung für ihre schönen Erlebnisse auf eine höhere Instanz, die nicht näher beschrieben wird und drückt ihre Dankbarkeit gegenüber dieser Instanz aus. Die Perspektive der Autonomie ihrer Lebenspraxis wird korrigiert in die Perspektive der Heteronomie ihrer Lebenspraxis. Ihre Wahrnehmungen und Gefühle von Freiheit und Schönheit entstanden aus den Erfahrungen, täglich in der Natur zu sein, auf Bäume klettern zu können und als Kind alles tun zu dürfen. Erst am Abend mussten sie als Kinder zurück nach Hause kommen. In der Erinnerung der Erzählerin ist dieser Lebensabschnitt, in dem sie bei der Großmutter und ihrem Onkel und dessen Familie lebt,
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ausnahmslos positiv belegt. Das Phänomen der positiven Umdeutung der eigenen Kindheit ist hinlänglich bekannt und wird hier überdeutlich, wahrscheinlich auch aufgrund der leidvollen Erfahrungen in ihrem weiteren Leben. Das Gefühl der Freiheit und Selbständigkeit, ihrer Handlungsautonomie und der unendlichen Entscheidungsspielräume ist Teil der Kindheit der Erzählerin. Dennoch ist sie an eine andere Instanz gebunden, die ihr diese Erfahrungen und Gefühle ermöglicht. Sie entwickelt eine Form der Autonomie ihrer Lebenspraxis innerhalb einer schicksalhaften Heteronomie, die es gut mit ihr meint.
4. Z USAMMENFASSUNG DER F ALLSTRUKTURHYPOTHESEN Zwei relevante soziale Identifikationen der Herkunftsfamilie Delal Hofmeisters sind das Kurdischsein und die alevitische Religionszugehörigkeit. Beide sind verbunden mit Sinn gebenden Strukturen (Sozialismus und Glaube) mit inhaltlich transformatorischem Charakter. Beide sind anschlussfähig an moderne, westliche Werte und Lebensweisen. Dies kann als innerfamiliäre Grundlage „interkulturellen“ Handelns und Orientierens betrachtet werden, die Delal Hofmeister in verschiedenen Lebensbereichen wie Bildung, privates Umfeld oder Wahl der Studienfächer fortsetzen konnte. Das Aufwachsen bei der Großmutter und der Familie des Onkels in die Türkei stellte sich als Resilienzfördernis heraus. Ihre Kindheit war voller Freude und Freiheit. Die Großmutter war das weibliche Vorbild einer ungewöhnlich autonomen und selbständigen kurdischen Frau, die in ihrem gesellschaftlichen Kontext des starken Patriarchats enorme Transformationen lebte. Den Folterungen folgte Hass. Der anfängliche Selbsthass, der aus Schuldund Schamgefühlen entstand, konnte transformiert werden in einen „Hass auf alle Männer“. Delal Hofmeister konnte so einen Schritt in Richtung Rehabilitation zum autonomen Handlungssubjekt gehen. Sie blieb aber (vorerst) im Modus der „Gewalt“. Im Gefängnis lernte sie das Briefeschreiben als neue Ausdrucks- und Kommunikationsform für sich kennen und schätzen. Durch dieses Erzählen wurde eine andere Art des Austauschs generiert, durch die sie den Kontakt zur Außenwelt halten bzw. ausbauen konnte. So entfaltete sie innere Freiheit und Autonomie. Ein zentrales Krisenereignis im Leben Delal Hofmeisters war die Ermordung ihres Onkels väterlicherseits. Diese führte zu einem Vertrauensverlust in die PKK, der zu Desorientierungen und zum Verlust von Handlungsperspektiven führte. Der darauf entwickelte Fokus der Fluchtmigration nach Istanbul und
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Deutschland ermöglichte ich schließlich ein Leben in Frieden und ohne Verfolgung. Delal Hofmeister entwickelte in der bedrohlichen Situation ihrer bevorstehenden Abschiebung spontan eine „Rollenimprovisation“. Durch diese gelang es ihr, in Deutschland zu bleiben und schließlich als Flüchtling rechtlich anerkannt zu werden.
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D IE N ATURMYSTISCHE : AYNUR K ARAHAN
1. L EBENSGESCHICHTE
IM
Ü BERBLICK
Aynur „Besna“ Karahan wurde 1956 in der Nähe von Bingöl in Ostanatolien geboren, wo sie auch aufwuchs. Ihre zwei älteren und ihre drei jüngeren Brüder und ihre jüngere Schwester erhielten eine „gute Bildung“, da ihr Vater Lehrer war. Dieser unterrichtete als Dorflehrer in den ersten Schuljahren auch seine Kinder. Die Mutter war für den Haushalt, die Erziehung und die Pflege der Kinder und kleinere landwirtschaftliche Tätigkeiten zuständig. Aynur Karahan verbrachte nach der Grundschule ihre Schulzeit in einer muslimischen Mädchenschule mit Internat in der Stadt Bingöl. Sie und ihre Geschwister fingen früh an, sich für die politischen Unabhängigkeitsbewegungen der KurdInnen und damit assoziierte sozialistische Ideologien zu interessieren und zu engagieren. Aynur Karahan absolvierte eine Ausbildung zur Lehrerin und unterrichtete im Anschluss in verschiedenen kurdischen Dorfschulen. Im Alter von 23 Jahren heiratete sie ihren Kreuzcousin Can Karahan. Diese Heirat beruhte auf beiderseitigen Liebesgefühlen und wurde gleichzeitig von der Herkunftsfamilie willkommen geheißen. Während der jungen Ehe wurde sie, nachdem bei ihr „sozialistische“ un kurdischsprachige Bücher gefunden worden waren, gefoltert. Die erste Schwangerschaft Aynur Karahans endete mit einer Fehlgeburt, die sie während dieser gefoltert worden war. Die folgenden vier Schwangerschaften wurden ebenfalls durch Fehlgeburten frühzeitig beendet. Mit 28 Jahren brachte Frau Karahan ihre Tochter Hürrem, 5 Jahre später ihren Sohn Emre in Deutschland zur Welt. Die Familie floh 1987 nach Deutschland aufgrund der kritischen Situation in den kurdischen Gebieten der Türkei. Die Familie erhielt nach einigen Jahren einen Aufenthaltstitel. Sie zogen nach ihrer rechtlichen Anerkennung als Flüchtlinge nach Münster. Aynur Karahan konnte in Deutschland wieder als Lehrerin arbeiten. Sie schreibt Gedichte und Erzählungen, die sie größtenteils auf Kurdisch, aber auch auf Deutsch veröffentlicht. Zugleich unterrichtet sie Kurdisch in verschiedenen Institutionen. Von ihrem Ehemann, einem Alkoholiker, trennte sich Aynur Karahan 1999. Sie lebte anschließend mit ihren Kindern in verschiedenen Orten rund um Münster. Eine neue, etwas labile Partnerschaft mit einem spanischen Künstler begann 2004. Die Tochter fing an, Jura zu studieren, der Sohn wurde kriminell und saß bereits in einer Jugendvollzugsanstalt. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnte Aynur Karahan in einem kleinen Ort in der Nähe von Münster und verdiente sich
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ihr Einkommen durch Lehrtätigkeiten als Kurdisch-Lehrerin und mit Kinderbetreuung.
2. D AS G ENOGRAMM –
WEITE
H ORIZONTE ,
WENIGE
W EGE
a) Die Rahmung Die Daten für das Genogramm wurden im Anschluss an das Interview mit Aynur Karahan erhoben. Die Datenerhebung für das Genogramm fand im Freien, sitzend auf einer Parkbank, statt, auf der nur Aynur Karahan und ich anwesend waren. Eine solche örtliche Rahmung für die Erhebung des Genogramms ist ungewöhnlich. Private und intime Daten wurden im öffentlichen Raum erzählt. Diese Situation entstand einerseits aufgrund der Besuchssituation von Aynur Karahan und aufgrund ihrer starken Affinität zu den Elementen der Natur, die ihr Wohlgefühl und Sicherheit gaben. Sie wünschte sich, sich draußen aufzuhalten. b) Die väterliche Seite – Kurdische LaizistInnen Die Großeltern väterlicherseits lebten in Südostanatolien in einem kleinen Bergdorf. Sie betrieben eine kleine Landwirtschaft mit Gemüseanbau und einer Ziegenherde. Beide Großelternteile wurden Anfang des 20. Jahrhunderts geboren. Sie bekamen lediglich drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Dies war zu dem Zeitpunkt kontextuell verglichen auffällig gering. Es gibt keine eindeutige Deutungsvariante für diese „Besonderheit“. Der Großvater starb mit 97 Jahren an Altersschwäche, die Großmutter erlag bereits mit 52 Jahren einem Herzinfarkt.3 Das erste Kind, der Vater Aynur Karahans, wurde 1926 geboren. Als Erstgeborener hatte er das Recht, den Besitz seiner Eltern zu erben. Gleichzeitig hätte er die Verpflichtung gehabt, für andere Familienmitglieder zu sorgen, die ökonomisch zu schwach bzw. noch abhängig waren. In der Zeit, in der er und seine Geschwister erwachsen wurden, war die Zeit der Etablierung des türkischen Nationalstaats und der in verschiedenen Formen immer wiederkehrenden Diskriminierung von KurdInnen in der Türkei (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 101-103).
3
Nicht nur in der Türkei auch in Deutschland leidet eine vergleichsweise große Zahl der türkischen MigrantInnen unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem sind die PatientInnen im Schnitt 10 Jahre jünger und erleiden signifikant häufiger einen Infarkt. (http://www.tdg-stiftung.de) Nicht erhoben bei diesen Studien wurde die ethnische Zugehörigkeit der TürkInnen.
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Nach dem II. Weltkrieg wurde durch einen Demokratisierungsschub in der Türkei versucht, kurdische Bewegungen und Interessen durch VertreterInnen im Parlament zu berücksichtigen. Kurdische Männer wurden in dieser Zeit oft als Soldaten für die türkische Armee einberufen und die kurdische Sprache wurde zeitweise verboten. (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 102-105) In dieser Zeit entwickelte sich der Vater Aynur Karahans zu einem Befürworter des attatürkischen Systems, der erst als Soldat diente und anschließend als Lehrer an „türkischen Schulen“ arbeitete. Als Vertreter des staatlichen Sytems musste auch er in kurdischen Dörfern die Interessen des Staatsapparates vertreten und in türkischer Sprache unterrichten. Der jüngere Bruder des Vaters, das zweitälteste Kind, schlug beruflich denselben Weg ein wie sein älterer Bruder. Die Brüder waren im Erwachsenenalter aus nicht bekannten Gründen zerstritten, so dass kein Kontakt zwischen diesen beiden und deren nächsten Familienangehörigen bestand. Aus diesem Grund sind die vorhandenen Informationen und Daten über den Bruder des Vaters gering. Biografisches Wissen über die Schwester des Vaters war gar nicht vorhanden. Dieses Erinnerungsdefizit entspricht dem „balkanischen Familienmodell“ (Kaser 1995). Töchter einer Familie gehören nach der Hochzeit zur Familie des Ehemannes und werden per Heirat „abgegeben“. Die Schwester spielte keine Rolle im Leben Aynur Karahans. c) Die mütterliche Seite und die väterliche Seite des Ehemanns – Zerfall von Normen Der Vater Aynur Karahans heiratete die Tochter eines Agas, dem 18 Dörfer unterstellt waren. Er heiratete „nach oben“, sie „nach unten“. Diese Heirat eröffnete ihm einen erheblichen Transformationsraum durch neue, machtvolle Beziehungen zum ökonomischen und politischen Kapitel und die Anbindung an die Familie eines „Großgrundbesitzers“. Mit der Hochzeit rückte der Vater Aynur Karahans noch höher in die Sphäre der Mächtigen. Die Mutter Aynur Karahans wuchs mit sechs weiteren Geschwistern auf. Die ersten drei Kinder waren Mädchen, es folgten ein Sohn, zwei Töchter und ein Sohn. Die Mutter Aynur Karahans war die letztgeborene Tochter der Familie. Die Verheiratung der jüngsten Tochter in eine Lokal-, zumal Bildungs-Elite war eine ökonomisch realisierbare und auch für einen Aga noch angemessene Heirat. Von den Geschwistern der Mutter wurden erneut nur die männlichen Familienmitglieder erinnert. Die beiden Brüder der Mutter wurden per Geburt Agas. Der ältere Bruder der Mutter übernahm die Aufgabe, Familienmitglieder oder Mitglieder der ihm unterstellten Dörfer in schwierigen Zeiten aufzunehmen bzw. für deren Wohlergehen Verantwortung zu übernehmen.
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Der jüngere Bruder der Mutter Aynur Karahans war der Vater des Ehemannes Aynur Karahans, Can Karahans. Von ihm erzählte Frau Karahan, er hätte seine eigenen Kinder (vor allem die Mädchen) und die Kinder einiger Verwandter sexuell missbraucht. Er unterwarf als Aga und Patriarch seine „Schutzbefohlenen“ durch sexuelle Gewalt. Durch Gewalt, vor allem sexuelle Gewalt gegenüber deutlich Schwächeren, war eine von beiden Seiten anerkannte und geschätzte Form der Autorität und Macht zerstört. Autorität erlangte er nur über ein destruktiv-aggressives Hándlungsmuster. Sexuelle (inzestuöse) Gewalt gegenüber Kindern war und ist in der kurdisch-türkischen Gesellschaft stark geächtet und tabuisiert. Warm niemand der „Verantwortlichen“, der Vater oder der Bruder des Täters, diese innerfamiliäre Missbracuhssituation änderte, muss uneklärt bleiben. Diesxe herkunftsfamiliäre Situation bot für Can Karahan wenige Transformationsmöglichkeiten. Der Mangel und Verlust an Vertrauens- und positiver Beziehungserfahrung war eine schwierige Voraussetzung für eine gleichberechigte Partnerschaft und eine eigene Familiengründung. d) Die Eltern – Bildung trifft Reichtum Die Mutter Aynur Karahans, Hülya Celik, heiratete „nach unten“, er „nach oben“. Sie musste sich dem sozialen und ökonomischen Umfeld ihres Ehemannes anpassen. Dies wollte sie aber nicht. Daraus ergab ein partnerschaftliches Konfliktfeld, das die familiäre Situation dauerhaft schädigte. Die Mutter war die ewig unzufriedene Ehefrau, die sich stets eine bessere als die reale ökonomische Situation wünschte. Die Herkunftsfamilie Aynur Karahans war traditionell sunnitisch ausgerichtet, aber stark vom Atheismus durch sozialistische Orientierungen seit den 1970ern geprägt. Das Sunnitentum als die größte islamische Strömung ist die verbreitetste religiöse Zugehörigkeit in der Türkei, auch bei den KurdInnen (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000, S. 42-43). Der Vater bezeichnete sich als Atheist und befürwortete den Laizismus. Die innerfamiliäre Ausrichtung der Karahans an Säkularität, sozialistischen Strömungen und die gleichzeitige Wahrung einiger religiöser Rituale spiegelte die Mehrheitsorientierung der KurdInnen in der Türkei wieder. e) Die mütterliche Seite Can Karahans – Integration des Außergewöhnlichen? Der Vater Can Karahans heiratete „standesgemäß“ (statusgleich) die Tochter eines Agas und einer Armenierin. Vom Großvater mütterlichserseits wird erzählt, er hätte aufständige KurdInnen während verschiedener Unruhen – wahrschein-
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lich in den 1920ern und 1930ern – „verraten“ und wäre aus diesem Grund von seinen kurdischen Verwandten ermordet worden. Historisch denkbar ist, dass sich dieser Großvater Can Karahans auf die Seite Attatürks und gegen seine „eigenen Leute“ gestellt hatte und aus diesem Grund von anderen KurdInnen angefeindet wurde oder er sich in Stammesfehden begab, die ihm das Leben kosteten. Dass dieser Großvater in der Zeit des Genozids an den chrsitlichen ArmenierInnen in der Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts eine Armenierin heiratete, ist als sozialer Akt oder als „Rettungsaktion“ in Zeiten des Genozids an den ArmenierInnen interpretierbar. Als (künftiger) Aga waren die Heiratsmöglichkeiten für ihn sehr breit gefächert. Eine weitere Hypothese lautet, dass diese Hochzeit vergleichbar mit Attatürk, der ein überlebendes armenisches Mädchen als Adoptivtochter bei sich aufnahm, im Rahmen der Assimilations- und Genozidpolitik der christlichen Minderheit in der Türkei stattfand. Eine letzte, ungewöhnliche Hypothese wäre, dass der Großvater sich in dieses armenische Mädchen verliebt hatte und sie daher heiratete. Welche Hypothese verifiziert bzw. falsifiziert werden kann, lässt sich aus dem vorhandenen Datenmaterial nicht klären. Sowohl die Mutter Can Karahans als auch seine Großmutter waren „Hausfrauen“, was im Haushalt eines Agas ein breites Aufgabenfeld mit sich brachte. f) Die Geschwister – weite Horizonte, wenige Wege Wider Erwarten hatte Aynur Karahan sechs Geschwister. Dies lässt auf eine taditoinelle Orientierung der Familie schließen. Es wurden vier Söhne und zwei Töchter geboren. Dies lässt auf eine traditionelle Orientierung ihrer Eltern schließen. Die Namenswahl für diese Geschwistergeneration umspannt türkische, islamische und arabische Namen. Die Geschwister wurden in einen (beruflich und sozial) weiten Möglichkeitsraum mit vielen Transformationspotentialen hineingeboren. Ihre Mutter stammte aus einer Familie mit Status und Besitz, der Vater aus dem Bildungsmilieu, der selbst Transformationspotentiale nutzte und sozial aufstieg. Die allmähliche Abwanderung dieser Generation nach Deutschland war aufgrund der GastarbeiterInnenbewegung aus in den 1960ern und 1970ern bzw. den kurdischen Flüchtlingsströmen in den 1980ern erwartbar. Der älteste Bruder, der Erstgeborene, wurde „Künstler“. Diese berufliche Wahl lässt auf ein ökonomisches und soziales Umfeld schließen, das in der Lage war, einen Künstler zu finanzieren und zu tolerieren. Er migrierte nach Deutschland und starb 1997 an Krebs. Das zweitgeborene Kind war ebenfalls ein Junge, Habib Celik. Er musste als Stellvertreter für den Erstgeborenen die berufliche Rolle des Vaters übernehmen
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und wurde Lehrer. Diese beiden Brüder werden als „systemtreu“ dem Kemalismus gegenüber und als säkular-atheistisch beschrieben. Das drittgeborene Kind ist Aynur Karahan. Sie orientierte sich in Bildung und Beruf an ihrem Vater. Für eine kurdische Frau stellte diese Bildungs- und Berufsentwicklung ein mit transformatorischen Zügen verbundenes Handeln dar. Das nächstes Kind ist Ahmet Celik. Er ist ein in der Türkei studierter Chemiker, der gegenwärtig in Münster lebt, mit einer Türkin verheiratet, Vater mehrerer Kinder ist und beruflich Taxi fährt. Er hat aufgrund seiner familiären Herkunft und aufgrund seines Studiums einen größeren Transformationsraum zur Verfügung gehabt, als er realisierte. Das fünftgeborene Kind ist eine Tochter. Die Schwester der Probandin leitet derzeit einen Kosmetiksalon in der Türkei, obwohl auch sie in der Türkei ein Studium an der Universität absolviert hat. Sie ist wegen des streng relisiösen Ehemanns in einem „Frauenberuf“ tätig. Sie hat zwei Kinder und lebt eine Mischung aus traditionellem und modernem Leben. Das zweitjüngste Kind ist männlich, 1963 geboren und heisst Habib Celik. Er lebt ebenfalls in Münster und ist seit mehreren Jahren mit einer Deutschen verheiratet. Er wurde ebenfalls als „Künstler“ bezeichnet. Dieser Bruder weist durch seine Berufs- und Heiratswahl hohe Transformationstendenzen auf. Der jüngste Bruder, das jüngste der Geschwister, wurde 1977 geboren. Er heisst Orhan Celik und arbeitet als Physiker in einer westtürkischen Stadt. Der älteste und der zweitälteste Bruder missbrauchten ihre beiden jüngeren Schwestern während ihrer Kindheit. Die inzestuösen Täter wurden auch hier nicht in ihre Schranken verwiesen. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass das Transformationspotential bezüglich innerfamiliärer Beziehungsfähigkeiten sehr gering war und die innerfamiliären Geschlechterhierarchien mit Gewalt erhalten werden sollten. g) Die eigene Familie – Weibliche Perspektiven Aynur Karahan heiratete aus Liebe ihren Kreuzcousin. Die Heirat mit dem Kreuzcousin, einem Cousin mütterlicherseits, brachte die beiden Herkunftsfamilien näher zusammen, denn die Familie, aus der die Mutter stammte und zu der sie per Heirat nicht mehr gehörte, wurde durch die Heirat Aynur und Can Karahans wieder verbunden. Das Ehepaar hatte sich lange gekannt, geliebt und vor der Hochzeit miteinander gelebt, was in den 1970ern in der kurdischen Türkei einer Revolution gleichkam. Es mischten sich in dieser Heirat die vormoderne Heiratsstrategie (Cousine heiratet Cousin) und die moderne Form der Heiratswahl (Gesinnungsgenosse, Liebe). Das Hochzeitsalter Aynur Karhans war mit 23 Jahren für kurdi-
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sche Verhältnisse relativ hoch. Die Herkunftsfamilie Aynur Karahans bot ihr einen großen Transformationsraum, den sie lebenspraktisch umsetzte. Can Karahan war aufgrund seiner Missbrauchserfahrungen sozial und psychisch belastet. Er hatte keine berufliche Ausbildung absolviert, sondern lebte vom Reichtum seines Vaters und später vom Einkommen seiner Ehefrau. Durch seinen ökonomischen Wohlstand benötigte Can Karahan für sein Überleben weder Bildung noch berufliche Entwicklungen. Die fehlende Aufgabe und Alltagsstrukturierung führte in der Migration zu massiveren Problemen wie Alkoholismus. In Deutschland angekommen, musste die Kleinfamilie erst in einem Flüchtlingslager in Bayern leben und wurde nach einer Zeit in der Illegalisierung als Asylberechtigte anerkannt. Danach zogen sie nach Münster um. In Münster traf Emre Karahan auf seine Cousins. Diese Beziehungen sind traditionell sehr stark in anatolischen Familien. Emre Karahan war die „Schwachstelle“ der Kernfamilie. Er hatte einen instabilen Vater als männliches Vorbild (alkoholabhängig und beruflich perspektivlos) und eine starke Mutter (berufstätig und strukturbildend) als weibliches Pendant. Der Sohn Emre Karahan wurde straffällig. Er war 2008 in einer Jugendstrafanstalt aufgund eines Raubüberfalls einer Tankstelle, die er mit seinem Cousin ausraubte. Er ging in die Opposition von Ordnung, Struktur und sozialen Regeln. 1999 ließ sich Aynur Karahan von ihrem Ehemann scheiden. Die beiden Kinder wohnten seit der Scheidung bei ihrer Mutter. Die Tochter studiert(e) Jura und organisierte sich ihren sozialen Aufstieg in Deutschland. Sie war und ist in der Lage, die Potentiale und Ressourcen, die ihr ihre Mutter als weibliches Vorbild gab, zu nutzen. Nach der Scheidung von Can Karahan liierte sich Aynur Karahan mit einem Spanier. Er ist Künstler und von Aynur Karahan finanziell unabhängig. Die beiden leben in getrennten Wohnungen. h) Zusammenfassung bisheriger Fallstrukturhypothesen Die väterliche Verwandtschaft Aynur Karahans war traditionell. In der Elterngeneration war dieser Familienzweig von sozialem und symbolischem Aufstieg in die Bildungselite gekennzeichnet. Durch die Heiratsstrategie des Vaters wurde der Transformationsraum noch vergrößert, da er zum ökonomischen Kapital heiratete. Die mütterliche Seite, gleichzeitig die väterliche Seite Can Karahans, war die eines kurdischen Großgrundbesitzers. Auf der Ebene der Mutter Aynur Karahans und des Vaters Can Karahans, fiel die Familie sozial auseinander. Der Vater Can
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Karahans missbrauchte seine Kinder. Can Karahan stammte aus einer sozial desintegrierten, enttabuisierten, aber ökonomisch kapitalreichen Familie. Die Geschwister Aynur Karahans setzten ihre Transformationspotentiale teilweise um. Auf der Geschwisterebene Aynur Karahans fand ebenfalls sexueller Missbrauch statt, der innerfamiliär lange verschwiegen wurde. Insgesamt waren in der Geschwisterreihe keine eindeutigen Orientierungen erkennbar. Aynur Karahan füllte ihren Transformationsraum aus und entwickelte nach ihrer Flucht in Deutschland eine ausgeprägte Indiidualisierung. Can Karahan hingegen konnte den Herausforderungen des Lebens nicht Stand halten. Er wurde arbeitslos und alkoholabhängig. Die Tochter nutzte die Migration für einen gesellschaftlichen Aufstieg. Der Sohn hatte einen begrenzteren Optionsraum, dem er mit Kriminalität begegnete. Aynur Karahan erlebte viele belastende soziale Situationen wie die sexuellen Übergriffe der Brüder, ihre Verfolgung und Folter in der Türkei, fünf Fehlgeburten, das Leben in der „Illegalisierung“, einen strukturlosen Ehemann und einen Sohn, der eine „kriminelle Karriere“ begann. Trotz dieser Erfahrungen nutzte und erweiterte sie ihren Möglichkeitssraum.
3. D AS I NTERVIEW – D IE T RANSFORMATION
ZUM
S TEIN
a) Die Rahmung Aynur Karahan wählte einen Spaziergang entlang eines Flusses und schließlich einen Sitzplatz an dessen Ufer als Ort des Interviews. Da Aynur Karahan das schöne Wetter zum Draußensein nutzen wollte, konnte die kontinuierliche und gleichförmige Bewegung des Spazierengehens und das Sitzen am Ufer eines Flusses eine Unterstützung für ihren „Gedankenfluss“ sein. Beim Spaziergang und während des Gespräches am Fluss schauten sich Erzählerin und Zuhörerin selten in die Augen. Auch dies kann für die erzählende Person den Redefluss erleichtern. b) Begegnungen mit der Natur Aynur Karahan: Die Erde ist da, kein Beton. (2) Hm. (2) Letzte Jahren gehe ich, versuche ich oft, äh, so zu Erde, auf die Erde gehen, [Hm] ne. [Hm] Über die Erde laufen. [Hm] Aynur Karahan begann von sich aus ihre autobiografische Erzählung. Aynur Karahan erzählte ihr spezifisches Weltverhältnis. In dieser Sequenz konstruierte Aynur Karahan die „Erde“ als Gegenspielerin zum „Beton“, Lebendiges gegenüber etwas Totem. Das Laufen auf der Erde as-
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soziierte sie mit Situationen, die ihr Vertrauen und Wohlbefinden ermöglichten. Das über die Erde laufen könnte ein persönliches, naturreligiöses Ritual sein. Rituale bieten Menschen eine strukturierende, ordnungs(re)produzierende oder bedeutungsstiftende Ebene für ihren alltägliches oder außeralltägliches Leben. Äh, ich such mir so Bäume, welche mir spricht, ne. [hm] Spricht, ausspricht? Spricht. [Hm, dich anspricht] Ja. Und ich suchen solche Bäume und dann geh ich hin, einfach, ich lass mich, am Baum. [Hm] …. Oder versuche ich zu hören, was man auch nicht hören kann, vielleicht hört man auch. Dann äh, merke ich, dass ich einfach, diese täglichen negative, so, Gefühle durch das am Boden, so, sitzen oder stehen und mit ein Baum, besser mit Sonne und alles, ne, was man auch eigentlich jeden Tag braucht, ne. Wieso, merke ich, dass diese negativen, alles sich löschen, [Hm] gehen. Von dem Laufen auf der Erde setzte sie ihre Erzählung über ihr Verhältnis zum „Baum“ fort. Der Baum als Metapher entspricht entweder dem Menschen selbst, dem Leben oder symbolisiert eine Verbindung zwischen Erde und Himmel. An dieser Erzählstelle präsentierte sich Aynur Karahan als eine Frau auf der Suche nach Stabilität. Die Bäume gaben ihr eine Verbindung zur Natur. Der Baum wurde zum Interaktionspartner. Es mussten bestimmte Bäume sein, denen sie sich anvertraute, die sie „hörte“. Durch diese Beziehungen gelang es ihr, negativ bewertete Gefühle zu „löschen“. Der erdige Boden, der bestimmte, auserwählte Baum und die Sonne sind Naturelemente, durch deren Anwesenheit Aynur Karahan sich mit ihnen in Beziehung setzen und ein größeres Wohlbefinden erlangen konnte. Es waren Erlösungsmomente, die sie im Kontakt mit dem Baum, der Sonne und der Erde erfuhr. Aynur Karahan entwickelte diese Form des Weltverhältnisses, das ihr Sinn und innere Standfestigkeit geben konnte. Die Naturelemente waren Teil ihrer Handlungs- und Bedeutungswelt. Sie dienten ihrer Befreiung von „negativen“ Gefühlen. Die Natur wurde mit „menschlichem“ Leben erfüllt. Sie konnte zu Aynur Karahan „sprechen“. Ihre metaphysische, naturmystische Seite zeigte sich in symbolischen Interaktionen mit verschiedenen Naturelementen. Dieses Welt- und Selbstverhältnis, das sich in der reflexiven Aneignung und Benutzung eines Symbolvorrats und in ritualisierten Handlungen zeigte, ist ein Resilienzfördernis Aynur Karahans, um mit ihren „negativen“ Gefühlen umzugehen und sich sich wohler zu fühlen. Dass Aynur Karahan ihre biografische Erzählung mit der Beschreibung ihres Weltverhältnisses begann, offenbart die Annahme Aynur Karahans, dass die beschriebenen Praktiken für mich anschlussfähig sein würden. Aynur Karahan war
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trotz des Risikos erzählbereit, dass ich ihre metaphysische Weltanschauung nicht teilen würde. … Ich glaube in meinem Leben, nicht ich glaube, ich weiß es, ne, [Hm] wenn ich an mein Kindheit denke, ich hab ein freie, so, Leben gehabt. Ich hab mich frei bewegt, ich hab, frei, laut- lauter Gedanken gehabt. Nach der Erzählung ihres Welt- und Selbstverhältnisses in der Gegenwart („jetzt“) wurde die Erzählung auf den anderen Aspekt der Eingangsfrage gelenkt: ihre „Kindheit“. Aynur Karahan stellte ihrer autobiografischen Erzählung ihre weltanschauliche Perspektive voran. Diese Perspektive rahmte die folgende autobiografische Erzählung und fordert das Publikum auf, die folgende Erzählung unter dem Blickwinkel des Welt- und Selbstverhältnisses zu betrachten. Das Gefühl der Freiheit war und ist ein wichtiger Wert bzw. ein wesentliches Gefühl für die Erzählerin. Die Freiheit während ihrer Kindheit stand im Kontrast zu anderen Lebensphasen, in denen Aynur Karahans Leben von Zwang und Fremdbestimmung geprägt war. Sie konkretisierte die allgemeine Freiheit auf die Freiheit des Bewegens und des Denkens. Diese Aspekte ihrer kindlichen Freiheit schätzte die Erzählerin besonders. Sie konnte sich überall hinbewegen und alles denken (und sagen), ohne mit unangenehmen Folgen rechnen zu müssen. Diese beiden Arten der Freiheit waren besonders bedeutsam für sie. Die Kindheit war für die Erzählerin eine sehr positiv wahrgenommene, eine freie Zeit gewesen. c) Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen Kontext: Die folgende thematische Sequenz fand während der Kindheit Aynur Karahans statt. Diese Geschichte erzählte sie im ersten Viertel des Interviews. Und, äh, wir waren in Ferien wann die Schulen, äh, so, Ferien gehabt haben, waren wir bei Oma und Opa in diesem Haus, sonst waren wir beim äh, ja, in einem in einem anderen Dorf wo mein Vater gearbeitet hat, als Lehrer. Diese Erinnerung bezog sich auf die Ferienzeit. „Ferien“ zu machen, war und ist in der Türkei ein Privileg der Wohlhabeneren, die es sich zeitlich und finanziell leisten konnten bzw. können, in die Ferien zu fahren. Wenn ein Lehrer wie Aynur Karahans Vater, wenig Geld zur Verfügung hatte, fuhr er mit seiner Frau und Kindern zur Verwandtschaft. Sie besuchten aufgrund des Prinzips der Patrilinearität die Verwandtschaft väterlicherseits. Der Vater band seine Familie in die Strukturen seiner Herkunftsfamilie ein, erhielt die Ordnung und stärkte seine Position. Die Familie „war“ im Dorf des Vaters, obwohl sie die meiste Zeit des Jahres in diesem lebten. Dieser Satz ermöglicht folgende Lesarten:
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1. Durch die Formulierung verdrehte die Erzählerin die „normalen Verhältnisse“. Sie präsentierte das Haus der Großeltern als ersten, mindestens ebenso relevanten Bezugsort wie das Dorf des Vaters. Alltag und Gewohnheit lagen für sie gleichfalls bei den Großeltern wie im Dorf des Vaters. Sprachlich traf sie keine Unterscheidung zwischen diesen beiden Orten. Das Haus der Großeltern stellte demnach einen wichtigen Bezugsort im Leben des Kindes dar. Der erstgenannte Hauptwohnsitz war im Rahmen dieser Interpretation bei den Großeltern und der Nebenwohnsitz im Dorf des Vaters. 2. Eine zweite Lesart dieser Sequenz ist, dass die Familie während der Ferien einen Teil der Zeit im Haus der Großeltern und einen anderen Teil der Ferienzeit im Dorf des Vaters verbracht hat. So dass sich „sonst“ auf eine Zeit innerhalb der Ferien bezog, die am eigentlichen Wohnort, dem Dorf des Vaters, und zeitweise bei den Großeltern verbracht wurden. Damit würden diese beiden Orte gleichermaßen als mögliche Ferienziele präsentiert, die ihren Charakter der Besonderheit verlieren, sobald dort viel Zeit verbracht wurde. Die Familie wurde dezentriert zwischen beiden Orten verortet Beide Lesarten sind möglich. Das Dorf des Vaters war für Aynur Karahan nicht größer oder wichtiger als das der Großeltern. Die Verortung des väterlichen Hauses im Dorf verwies auf eine unverbindlichere Sozialeinheit, in der die Beziehungen nicht nur diffus (wie in familiären, Paar- oder Freundschaftsbeziehungen) sondern auch rollenbezogen und funktional (wie LehrerIn, BürgermeisterIn etc) waren. Aynur Karahan erzählte vom „Dorf des Vaters“ und bestätigte so die traditionsgemäße Familienhierarchie. … Mein Vater sein Dorf, ich war immer, so, weit weg von zu Hause, nach Steinen gesucht. .. Und, so, äh, ein Kilometer weit weg, war ein Ort, für mich war dort so geheimnisvoll, da war ein, äh, Getrümpel sagt man, so kaputtes Haus. ... Mit Angst, aber, ich bin immer wieder hin gegangen weil da waren auch, so, Meersteinen, Muscheln, Meersteinen, glänzende Steinen. Das Dorf des Vaters war entweder das Dorf, in dem er selbst aufwuchs, das großelterliche Dorf oder das Dorf, in dem er als Lehrer arbeitete. Dieses Dorf war ein Bezugsort Aynur Karahans, an dem sie sich nicht lange aufhielt. Dies verstärkte ihre Dezentrierung. Seit Beginn ihrer Kindheit war das Kommen und Gehen ein wesentliches Lebensthema. Aynur Karahan stellte sich bereits in Kindheitsjahren als eine Abenteurerin dar. Sie entfernte sich alleine vom Haus, um nach Steinen zu suchen. Steine sind für Kinder in einem bestimmten Alter interessant. Sich jedoch dafür weit weg vom Dorf zu entfernen, wäre für ein „normales“ Kind nicht notwendig gewesen. Es geht also um bestimmte, besondere Steine, die nicht in unmittelbarer Nähe
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des Dorfes zu finden waren. Sie zog in die Ferne, um dort das Besondere, das Nicht-Alltägliche, das Abenteuer zu suchen. Sie zog alleine los, analog zum Märchen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ der Gebrüder Grimm, um mutig, selbständig und autonom die Steine zu entdecken. Aynur Karahan hatte sich wie die Märchenfigur selbst einen „Auftrag“ gegeben, den sie ausführen musste. Der geheimnisvolle Ort dieser Geschichte Aynur Karahans war eine Ruine. Es war ein geheimnisvolles Haus mit vielen mystischen Ecken, in denen es spuken konnte. Ihr Mut siegte immer wieder über ihre Angst, die sie an der Entdeckung einer fremden, geheinisvollen und angsteinflößenden Welt hätte hindern können. Aufregung und Angst waren miteinander verwoben und führten zum Finden wunderbarer Steine. Der Überwindung der Angst folgte das Entdecken des Besonderen. Aynur Karahan konnte nur dort besondere Steine finden, auf dessen Weg sie ihre Angst hatte überwinden müssen. Ich liebe Steine, immer=immer=immer., wenn ich in der Natur gehen, immer suchen ich nach Steinen, welche mir wieder anspricht, ne, [Hm] und denke: Das gehört mir. Frau Karahan beschrieb spezifische Eigenschaften, die in der Kindheit begannen, ihre Identität zu fomen. Das Steinesuchen ist eine markante persönliche Eigenschaft, die Aynur Karahan von anderen Kindern und von ihren Geschwistern unterschieden hat. Kindliche Identität wird meist im elterlichen Haus und dessen unmittelbaren Umgebung geprägt. Sie hingegen entwickelte ihre Identität in der Ferne. Die Naturelemente sprachen Aynur Karahan an, mit ihnen trat sie in Interaktion. Die wechselseitige Beziehung fand zwischen ihr und bestimmten Steinen statt. Sie wurde von den Steinen angesprochen. Aus dieser Wahrnehmung kreierte die Erzählerin eine Persönlichkeitseigenschaft. Dieses von ihr konstituierte Naturverhältnis unterschied sich vom Naturverhältnis der normalen kurdischen Bevölkerung. Aynur Karahan entwarf die Natur als einen „Ort der Ferne“, des Reizvollen voll schöner Steine. Nachdem die Steine Aynur Karahan „angesprochen“ hatten, gingen sie in ihren Besitz über. Die Steine waren ihr Besitz, Identifikationsflächen für Aynur Karahan. Steine scheinen gleichbleibend und unveränderlich zu sein. Die Erzählerin verwandelte sich in Steingleiches und machte die mit Steinen assoziierten Eigenschaften zum Teil ihrer Identität. Aynur Karahan nutzte die Eigenschaften des Steines der Kraft, der Härte und des unveränderlichen Charakters, um den Veränderungen und viefältigen Eingriffen in ihre soziale und psychische Integrität standzuhalten. Diese Eigenschaften bedeuten Zentrierung nach Innen und
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Abgeschlossenheit nach Außen. Sie kehrte im Kontext ihrer auffällig frühen Individualisierung zur Mystifizierung der Natur zurück, die in hochindividualisierten Gesellschaften (in der Öffentlichkeit) einen geringen Raum einnimmt bzw. abgewertet wird. d) Vater-Töchter: „Guter Vater, böse Mutter“ Bei einem Vergleich der Erzählabschnitte Frau Karahans über ihren Vater und über ihre Mutter konnten folgende Erkenntnisse gewonnen werden: Der Vater wurde vor der Mutter genannt. Die Erinnerungen an ihn begannen mit positiv bewerteten, die Erinnerungen an die Mutter begannen mit neutral bewerteten Erinnerungen, die in negativ bewertete übergingen. Insgesamt waren die Erinnerungen an den Vater in 76 Zeilen positiv, in 3 Zeilen negativ bewertet und 30 Zeilen waren als neutral bewertet worden. Die Mutter wurde in 3 Zeilen positiv bewertet, in 48 Zeilen negativ und 30 Zeilen neutral bewertet. Eine Idealisierung des physisch bzw. psychisch abwesenden Vaters ist laut Peisker (1991, S. 27-28) häufig zu finden und erklärbar durch die nicht vorhandene Möglichkeit das Bild eines „realen“ Vaters aufzubauen. d.1) Der idealisierte Vater Da war ein Person, mein Vater, der mir geholfen hat. Der hat mich immer respektiert, und, ich war auch sein, ein Glückskind – „Person“ wird in seiner Begriffsverwendung üblicherweise bei Menschen genannt, zu denen eine distanzierte, unpersönliche oder nicht auf gegenseitiger Sympathie beruhende Beziehung besteht. Die Beziehung zwischen Aynur Karahan und ihrem Vater wird durch eine Distanzierung, Entfernung gerahmt. Eine diffuse familiäre Beziehung wird nicht assoziiert. Aynur Karahan nannte zuerst ihren Vater, dann ihre Mutter. Das spricht dafür, dass er die wichtigste Person in ihrem kindlichen Leben war. Es zeigt sich eine höhere Relevanz der Beziehung zum Vater. Der Vater hatte seine Tochter stets respektiert. Diese Tatsache ist vor allem vor dem Hintergrund stark patriarchaler Kulturen erwähnenswert. Die Töchter bzw. Frauen sind in ihren Handlungs-, Bewegungs- und Kommunikationsmöglichkeiten normalerweise stark eingeschränkt. Der Vater von Aynur Karahan transformierte die traditionellen Geschlechterrollen gegenüber seiner Tochter so weit, dass er sie respektierte. Dass die Erzählerin „sein“ in „ein“ Glückskind korrigierte, lässt sich in zweierlei Richtung interpretieren. Zum einen könnte die Beziehung zum Vater der Grund gewesen sein, die ein „Beziehung bezogenes“ Glückskind nicht zuließ. Eine starke Nähe zum Vater und die Differenz zu ihren Geschwistern, die durch „sein Glückskind“ entstand, relativierte Aynur Karahan. Zum anderen
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könnte die Korrektur bedeuten, dass sie allgemein und nicht nur durch die Beziehung zu ihrem Vater mit Glück überschüttet wurde. ... wollte er eine Tochter haben. [Hm] Und, er war, als Soldat, ne, so beruflich. Er=er ist, er war Lehrer, ne, [Hm] aber als er sein Soldat machen wollte, Anfang hatte er gedacht: ich bleib da, mache ich Karriere und so weiter, hätte er, höher Sternen am Schulter gehabt, [Hm, hm] aber dann hat er gemerkt: das ist ein Spinnerei, das ist kalt, das ist unnatürlich, das ist unmenschlich. Der eigentliche Grund für ihr Glückskinddasein war Frau Karahans biologisches Geschlecht. Das Glück war demnach zufällig. Wenn sie als Junge geboren worden wäre, wäre sie nicht Vaters Glückskind geworden. Die Erzählerin beschrieb ihren Vater in seinen beruflichen Rollen. Er ernährte traditionsgemäß die Familie und wurde über seine Leistungsfähigkeit und seine berufliche Rolle identifiziert. Aynur Karahan beschrieb die Transformation des Vaters, die ihn vom kalten, unnatürlichen und unmenschlichen Soldaten zum natürlichen, warmen und menschlichen Lehrer werden ließ. Es war die Verwandlung vom Anti-Helden zum Helden, vom Karrieristen zum Humanisten, vom potentiell gewalttätigen Krieger zum Friedensbringer durch Bildung. Dass der eigene Vater in einer Institution gearbeitet hatte und sich möglicherweise mit ihr noch immer identifizierte, die neben der Polizei maßgeblich für die Folterungen und gewalttätigen Verfolgungen von KurdInnen in der Türkei verantwortlich war und ist, war für die Erzählerin nicht akzeptabel. Durch die „Läuterung“ des Vaters konnte die Beziehung zwischen Vater und Tochter aufrechterhalten werden. Die Erzählerin kann als „Vater-Tochter“ bezeichnet werden. Sie idealisierte ihren Vater und orientierte sich an ihm. Der Vater wurde gleichgesetzt mit Glück und Freisein. Seine Idealisierung konnte sich aufgrund seiner Berufstätigkeit und damit einhergehenden Abwesenheit in der Familie entwickeln. Ein ausgewogener Triangulationsprozess von Vater-Mutter-Kind wurde durch seine berufsbedingte Abwesenheit gestört (Peisker 1991, S. 26-27). ... wann sie (die beiden älteren Brüder, Anmerkung der Autorin) mich erpressen wollten, ne, hat mein Vater nie Toleranz gegeben, hat er sofort gesagt: „Es ist nicht so, es ist so. Das ist Besna (kurdischer Vorname Aynur Karahans, Anmerkung der Autorin) und das ihre, wie heißt das, Wahrheit, das ist wie sie wahr nimmt, äh, wie für sie wichtig ist, macht sie das, ne, bleibt ihr, ne, still.“ Die beiden älteren Brüder der Erzählerin bedrohten ihre Schwester. Als ältere männliche Geschwister hätten sie traditionell Macht über ihre Schwester gehabt. Diese wurde aber vom Vater begrenzt. Eine ungewöhnliche innerfamiliäre
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Situation entstand. Die Brüder verloren Einfluss über ihre Schwester. Die Aussagen, Forderungen und Drohungen der Brüder wurden durch den Vater zurückgewiesen und ihre Stellung gegenüber ihrer Schwester deutlich geschwächt. Der Vater stellte die Reproduktion des Patriarchats in Frage. In dieser Familie durfte die Tochter Eigenständigkeit, Autonomie und Urteilsfähigkeit offen kommunizieren und entfalten. Der Vater war innerfamiliär der Kämpfer für Gerechtigkeit und Emanzipation (seiner Tochter). d.2) Die abgewertete Mutter Aber, irgendwie, sie (die Mutter, Anmerkung der Autorin) hat richtig geschafft, dass ich wirklich bis ich geheiratet war, nie, [Hm] jemand nah komme oder mir jemand nah lasse, ne. Weil, sie hat so ein Gedanken gegeben, ein Mann, will eine Frau nur für Sex, ne, [Hm] sonst nichts, [Hm] und so weiter. Und (3) das ist das ist ein sehr sehr tiefe Problem für mich zum Beispiel (2) ich war, fast zwanzig Jahre geheiratet, [Hm] ich schämte mich für meinen Körper, noch immer, noch immer mit mein neue Beziehung, ne. Die Mutter war eine traditionelle türkisch-kurdische Mutter, die keinen sexuellen Kontakt mit Männern vor der Hochzeit ihrer Tochter zuließ und ihre Tochter dementsprechend erzog. Diese Aussage steht im Widerspruch zur Aussage der Erzählerin, sie hätte bereits vor der Hochzeit mit ihrem späteren Ehemann Can Karahan in „wilder Ehe“ zusammen gelebt. Wie dieser Widerspruch zu lösen ist, bleibt ungeklärt. Eine Interpretationsmöglichkeit ist, dass das Paar vor der Hochzeit miteinander gelebt hat, aber keinen Geschlechtsverkehr hatte. Die Mutter wurde von Aynur Karahan für ihre gestörte Sexualität verantwortlich gemacht. Männer wurden durch die Mutter als Menschen dargestellt, die in der Frau lediglich die Funktion des Sexes sehen und sie auf diesen Aspekt reduzieren würden. Diese in Aynur Karahan ebenfalls wirkende Unterstellung des reduktionistischen Interesses von Männern an Frauen habe die Mutter zu verantworten. Die Mutter wurde als die Person in die autobiografische Erzählung eingeführt, die eine Verursacherin für „tiefe Probleme“ Aynur Karahans war. Die Perspektive der Erzählerin war von „aufklärerischen“ und emanzipatorischen Idealen geprägt, die eine befreite Sexualität als Teil ihres Wohlbefindens und Identität formulierte. Dieses Ideal ist verbunden mit einem hohen Maß an Autonomie der Lebenspraxis und Individualisierung bzw. Selbstverwirklichung. Die „sexuelle Revolution“ als Lebensziel ist maßgeblich durch Wilhelm Reich (1990) und später in der „68er Revolution“ begründet, ausformuliert und verbreitet worden. Die Erzählerin strebte durch eine befreitere Sexualität ein befreiteres Geschlechterverhältnis und befreiteres Sein an. Diese Befreiung war durch die Erziehung und die Wertmaßstäbe der Mutter Aynur Karahans behindert worden.
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Aynur Karahan machte ausschließlich ihre Mutter für die Unterdrückung ihrer Sexualität und ihr (negatives) Männerbild verantwortlich. Die kulturelle Norm und die Mechanismen eines patriarchalen Systems, die sich auch im Handeln und Orientieren der Mutter widerspiegelten, wurden nicht reflektiert bzw. kommuniziert. Die in muslimischen Kulturen herrschende Norm, dass Frauen jungfräulich in die Hochzeit gehen müssen, wurde von Aynur Karahan als persönliche Entscheidung der Mutter dargestellt. Sie deutete einen kollektiven Habitus und eine elementare kulturelle Norm als individuelle Entscheidung ihrer Mutter. So wurde die Mutter verantwortlich für das Leid ihrer Tochter gemacht. Diese Perspektive Aynur Karahans zeigte ihren Überschuss autonomer Handlungsorientierung, die außerindividuelle Entscheidungsgrundlagen wie Normen, Moral, kulturelle Regeln nicht berücksichtigte. Typischerweise haben Töchter, die ihren Vater idealisieren, eine schwierige, konfliktreiche und abwertende Beziehung zu ihrer Mutter (Gerisch 2003, S. 154-155). Die Mutter symbolisiert das Gegenteil des Vaters: Unfreiheit bzw. Abhängigkeit, starke Traditionsorientierung oder/und ein niedriges Bildungsniveau, welches mit Dummheit gleichgesetzt wird. Auffällig ist auch, dass für die hier beschriebenen Probleme mit Körperlichkeit und Sexualität Aynur Karahan nicht ihre Erfahrungen (und das Tolerieren) der sexuellen Übergriffe durch die Brüder, ihre Vergewaltigung oder ihre Folterungen verantwortlich machte. Ein Begründungszusammenhang mit diesen biografischen Erfahrungen liegt sehr nahe. Kontext: An einer anderen Stelle des Interviews beendete die Erzählerin eine Geschichte über ihre Vergewaltigung. Ja, äh, mit diesem Vergewaltigung, was ich, wie heißt das, ne, [Hm] von Fremden, ne, haa, (das) weiß ich, Leute gehabt habe, [Hm] für mich ist wirklich kein Problem. [Hm] Aynur Karahan hatte „kein Problem“, als sie von einem Fremden vergewaltigt wurde. Das klingt unglaubwürdig und/oder abgewehrt. Der Bewältigungsprozess der Vergewaltigungserfahrung war noch nicht abgeschlossen. Angesichts der schmerzvollen und demütigenden Erfahrung, die zugrunde lag, wirkte ihre Entproblematisierung befremdlich. Zur Ironie schrieb Sigmund Freud folgendes: „Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, dass ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahegehen können, …“ (Freud 1927, S. 10) Wenn ihre Aussage nicht ironisch, sondern ernst gewesen ist, war es ein Entproblematisieren der Vergewaltigung und den damit verbundenen Eingriff in die
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physische und psychische Integrität. Dann wäre es ein Leugnen der schmerzvollen Erinnerungen. Das „Fremde“ wurde betont, da nicht nur Fremde sondern auch Bekannte vergewaltigen. Im Fall Aynur Karahans waren es ihre Brüder, im Falle Can Karahans der Vater. Innerfamiliäre sexuelle Gewalt war der Vergleichshorizont. Die Vergewaltigung durch einen Fremden hat weniger weitreichende Folgen und ist besser zu bewältigen als die Vergewaltigung durch Bekannte bzw. Vertraute oder die sexualfeindliche Erziehung durch die Mutter. e) Tradition und Transformation im Spiegel sexueller Gewalt und sozialer Beschädigung Kontext: Der folgende Erzählabschnitt ist in der Kindheit Aynur Karahans verortet. Sie handelt von den Beziehungen der Erzählerin zu ihren Geschwistern. ... nach einiger Zeit, als ich, in der dritte, vierte Klasse war, [Hm] mein ältester Bruder ... ist immer wieder ins Ba- mein Bett gekommen, ne. [Hm] ... hat er (der zweitälteste Bruder, Anmerkung der Autorin) auch versucht, mein Schwester, ne (3) so, missbrauchen, sagt man missbrauchen? [Hm, hm] Der älteste Bruder hat Aynur Karahan sexuell missbraucht. Der zweitälteste Bruder „versuchte“, ihre jüngere Schwester zu missbrauchen. Da die Familie die beiden Töchter nicht vor den innerfamiliären Übergriffen schützte, wurde auf einer abstrakteren Ebene die Geschichte misslungener familiärer Transformation erzählt. Die Familie konnte Strukturen weder erhalten, die sexuelle Übergriffe gar nicht ermöglicht hätten, noch transformieren, was bedeutet hätte, dass die sexuellen Übergriffe innerfamiliär hätten thematisiert, geahndet und bewältigt werden müssen. Die Brüder hatten in dieser Familie nicht in der verbalen Auseinandersetzung, aber im nächtlichen sexuellen Missbrauch einen „Zugriff“ auf und die Macht über ihre Schwestern. Die Familie zeigte sich stark binnenzentriert, da die innerfamiliären Normen sich von den Normen ihrer Umgebung unterschieden. Die Eltern konnten befürchtet haben, dass die Töchter „urein“ in die Ehe gehen würden. Aus diesem Grund war eine innerfamiliäre Heirat sinnvoll. Der geheiratete Cousin Can Karahan war ebenfalls eine sozial beschädigte Person, da er von seinem Vater missbraucht wurde. ... Wahnsinn, schön dass ich, diese beide Brüdern (die beiden jüngsten, Anmerkung der Autorin) und mein Schwester habe. Ich hab, diese Probleme, nie mit Ahmet, nie mit Habib gesprochen, ne, [Hm] mit anderen Bruder. Erst … Zweitausendsieben habe ich mit Habib gesprochen, ne, ... Wir haben immer wieder gesprochen immer wieder gesprochen.
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Die innerfamiliäre Aufarbeitung der sexuellen Übergriffe fand bei Aynur Karahan durch Gespräche mit zwei jüngeren Brüdern statt. Die Erzählerin wandte sich nicht nur an eine professionelle psychotherapeutische Einrichtung, sondern sie besprach das Erlebte mit drei ihrer Geschwister. Sie versuchte durch Gespräche, durch Enttabuisierungendie die innerfamiliären Übergriffe zu bewältigen. Erst nach vielen Jahren des Schweigens sah sie sich im Stande, diese Schamund Ehrverletzungen auszusprechen und ihnen einen Erzählrahmen zu geben. Dieser gab Aynur Karahan die Möglichkeit, ihren scham- und schuldbesetzten Erfahrungen einen Teil ihrer destruktiven Wirkungskraft zu nehmen. Bemerkenswert war die Reaktion der beiden jüngeren Brüder auf die Missraucherzählungen der Schwestern: Sie zeigten Verständnis für sie und solidarsierten sich mit ihnen statt wie in partriarchalen Strukturen üblich mit ihren Geschlechtsgenossen. So konnten die Opfer durch die Anerkennung ihres Opferstatus denselben verlassen, da sie die Schuld und die Scham an die Verantwortlichen zurückgaben. Kontext: Eine weitere Textstelle zum Thema dieses Abschnitts, in der die Erzählerin über ihre Erfahrungen als Frau in der kurdischen Gesellschaft berichtete. [Hm] ich werde dich vergewaltigen, ich werde alles als Polizist und so weiter, [Hm] als Regierung, [Hm] und, ah, das ist, das ist schrecklich einfach. [Hm] Als Frau, einfach, äh, wir sind Gefahr, nur Gefahr für dein Körper, für dein Leben, [Hm] alles, ne. Die Angst wurde in dieser Sequenz nur durch Männer generiert, die zur türkischen Staatsmacht gehörten. Diese Männer bedeuteten eine generalisierte Bedrohung gegenüber der weiblichen kurdischen Welt. Alle Staatsvertreter waren potentielle Vergewaltiger. Die Erzählerin vollzog in dieser Sequenz eine Perspektivübernahme und gab die möglichen Gedanken ihrer potentiellen Vergewaltiger wieder. Die permanente Bedrohung Aynur Karahans verdeutlichte die Dringlichkeit, die sie und ihre Familie zur Flucht bewegt hatten und die Unmöglichkeit, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Wenn ihr Körper bedroht war, war auch ihr Leben bedroht. Durch Folter und Vergewaltigung fanden physische, psychische und soziale Grenzüberschreitungen statt, die vor allem vor dem Hintergrund des muslimischen Umfelds und dessen Praktiken zur Wiederherstellung der „Ehre“ existenzbedrohlich waren. Kontext: Eine Geschichte über Grenzüberschreitungen, die die Erzählerin mit ihrem Mann aushandelte. Can Karahan sagte zu seiner Frau, sie hätte vor ihm mit einem anderen Mann Sex gehabt. Als er mir das gesagt hat, erst nach einer Woche, [Hm] habe ich gedacht: Mit
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mir hat so was passiert. Dann habe ich versucht Can zu erzählen, [Hm] hat er dann nicht geglaubt, ich glaube, [Hm] oder, hat er sich so gegeben, ob er mir glaubt, ne. ... „Mit mir hat so was passiert“ bedeutet, dass sie sich wieder an eine Situation oder einen Mann erinnern konnte, mit dem sie sexuellen Kontakt hatte. Es „ist“ ihr nicht etwas passiert, sondern es „hat“ etwas passiert. Die von ihr verwendete Formulierung drückte Passivität und Distanzierung zu dem aus, was ihr passiert ist. Das Geschehene wurde ihr Besitz. Das, was passierte, war kein Teil ihres „Seins“ oder ihrer Identität, sondern es gehörte zum Teil ihres Besitzstandes. Sie gab den „realen“ Dialog ohne Kommentare, Einschätzungen oder Reflektionen aus heutiger Perspektive wieder. Dies deutet auf eine geringe innere Distanz zum Geschehenen hin. Aynur Karahan rekonstruierte die Erzählsituation mit ihrem Mann. Das, was sie erlebt hatte, benannte sie (noch) nicht. Can Karahan signalisierte seiner Ehefrau, dass er ihre Geschichte glaubte, doch sie war misstrauisch und dachte, er würde simulieren. Aynur Karahan war gewillt, das Vertrauen in der Paarbeziehung wieder herzustellen. Sie versuchte, ihre Erinnerungen zu aktivieren und erzählte diese ihrem Ehemann. Dennoch blieb das Vertrauensverhältnis zwischen den Eheleuten gestört. … Ich wollte von meinem Körper immer was weg zu haben, ne, [Hm] das habe ich, erste Mal, so, ne, das Bild, aber nur so viel, von meinem Körper, etwas weg zu haben. [Hm] Ich war, als ich siebzehn, achtzehn Jahre, sechsundsiebzig ne, [Hm] was ich erlebt habe, vergewaltigt worden bin4, ne, [Hm] wollte ich nur was von meinem Körper weg haben, nur das, ne, habe ich alles geschrieben, in dem Moment, ich glaube, weiß ich nicht. Das Unwohlsein im eigenen Körper wurde durch die Vergewaltigung als junge Frau erklärt. Es verifizierten sich die Lesarten, dass Aynur Karahan unter
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Die Vergewaltigung wurde an einer anderen Stelle der Erzählung genauer berichtet. Aynur Karahan erzählte von einer Nacht, in der sie und zwei andere Internatsschülerinnen auf dem Weg zum Internat mit dem Cousin der einen Mitschülerin im Auto gefahren sind. Sie haben in Ankara in einer reichen Wohngegend angehalten, um angeblich einen Freund einer der Mitschülerinnen abzuholen. Sie warteten in einer Wohnung auf ihn, in der sie aßen und tranken. Obwohl sich Aynur Karahan unwohl fühlte und nichts essen oder trinken wollte, trank sie aus Höflichkeit etwas Raki. Dann klingelte die Türglocke und ein unbekannter Mann trat ein. Sie wachte erst am nächsten Nachmittag auf und war außer im Gesicht voller blauer Flecke. Außer ihren beiden Mitschülerinnen war niemand mehr in der Wohnung anwesend.
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Alkoholeinfluss an tabuisiert bzw. dissoziierte Ereignisse erinnerte. Nun erinnerte sie sich an ein „Bild“. Das Bild wurde erst mal nicht in Worte geformt. Ein Erlebnis kann für lange Zeit oder auch ein Leben lang nicht erinnerbar bzw. dissoziiert sein, wenn die Erinnerung daran die Person überfordern und nicht integrierbare Emotionen geweckt werden würden. Das erinnerte Ereignis war ihre Vergewaltigung. Die Tatsache, dass die Erzählerin etwas von ihrem Körper „weg haben“ wollte, wurde ohne Überleitung an die Sequenz über die Vergewaltigung gereiht. Die negative Körperempfindung war eine Folge der Vergewaltigung. Die Dissoziation gab ihr bis zum Zeitpunkt des Erinnerns die Möglichkeit, nach der Vergewaltigung handlungsfähig zu bleiben. In den Prozess des Erinnerns, des Aufschreibens ihrer Erfahrungen wurde der Ehemann nicht einbezogen. Es ging Aynur Karahan zuerst um eine individuelle biografische Aufarbeitung ihrer Erfahrungen. (Der sie behandelnde Psychotherapeut:) Haben Sie welche Probleme? Habe ich gesagt: Ich hab keine Probleme, die Menschen die das mir getan haben, die haben Problem. ((lacht)) Der Psychotherapeut fragte nach den Problemen, die die Erzählerin zu ihm haben gehen lassen. „Ich habe keine Probleme“ klingt wie ein Bruch zu ihrer vorhergehenden Erzählung über ihre Krisen auslösenden Erfahrungen der Vergewaltigung und des Konfliktes mit ihrem Ehemann. Wenn die Erzählerin sich von ihren Problemen befreien konnte, beschrieb sie nicht den Prozess, wie sie zu dieser Erkenntnis gelangte, sondern präsentierte nur das Ergebnis. Sie präsentierte sich in dieser Sequenz mit einer Klarheit und Strukturiertheit, die weder im Inhalt noch in der Form den vorhergehenden Sequenzen entsprechen. Die Erzählerin gab die Schuld für die Vergewaltigung den Tätern und rehabilitierte sich auf diese Weise. Offensichtlich nahm Aynur Karahan in der Interaktion mit dem Psychotherapeuten ihre abspaltende Körperwahrnehmung nicht als „Problem“ wahr oder wollte dies als Problem vor ihm nicht zugeben. Sie begab sich in der Erzählsituation nicht in eine „typische“ Opferhaltung, in der sie sich ohnmächtig oder gar schuldig fühlte. Sie kam zu dem Schluss, dass der/die Täter ein „Problem hatten“ und nicht sie selbst. f) Das Überleben der Folter: Die Transformation zum Stein Kontext: Vor der nun folgenden Sequenz erzählte Aynur Karahan, dass bereits ihr jüngerer Bruder Habib Celek von der Polizei geholt worden war, da ihn der „blonde Selim“, ein „Spion“, verraten habe. Die Polizisten suchten angeblich nach dem hohen Funktionär („Yilmaz“) einer kurdischen Gewerkschaft, in der auch die Erzählerin ein aktives Mitglied gewesen war. Die Sequenz spielte im
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Dorf, in dem die Erzählerin zur damaligen Zeit als Lehrerin arbeitete. Der Übergriff der Polizei fand während der Schulferien statt. Und dann, erste Frage war, mir, gestellt worden: „Wo ist Yılmaz?“, [Hm] ne. Ich hab gesagt: „Ah, hier.“ „Wer?“ Ich hab gesagt: „Ihr habt zu uns gebracht“, ne. Ich meinte diese blonde Selim. ((lacht)). Das war lustig, ne, Anfang an waren alle Türen, ne, gesperrt. Und dann haben sie geholt, diese blonde Selim. Ich hab gesagt: „Der ist Yılmaz.“ ((lacht)) Und dann haben sie gefragt: „Wer ist das? Selim!“ Ich sag: „Nein, er ist er ist Yılmaz.“ Aynur Karahan leitete die Geschichte ihrer ersten Folterung mit einem Schwank ein. Diese Erzählform steht im Kontrast zum Inhalt: der beginnenden Folterung. Der „blonde Selim“ hatte sie verraten. Nun versuchte sie, ihren Verräter als Doppelagenten anzuklagen und die Polizei zu verwirren. Mit dem Schwank, der ein Verwirrspiel für die Polizisten beinhaltete, ging Frau Karahan ein großes Risiko ein, da die Staatsmacht Aynur Karahan schnell als „Lügnerin“ erkannt haben musste. Das Risiko, das Aynur Karahan mit ihrem Verwirrspiel einging, bestand aus der Rache der Polizisten, wenn sie dieses enttarnten. Aynur Karahan provozierte in einer sehr ernsten Situation. Aynur Karahan stürzte sich sehenden Auges in ihr Verderben. Sie lachte, obwohl der zu erwartende Erzählinhalt zum Weinen war. Beide emotionale Reaktionen sind Antworten auf Extremsituationen und können „getauscht“ werden (Plessner 1950). Dann haben sie ihn, wieder raus geschmissen. Ja, erste Bewegung war, der sah wie ein Bär aus, klein aber, so breit, er hieß auch Ahmet, vielleicht war auch sein Codename, ne, [Hm] unter Polizei. Für die Polizei stand außer Zweifel, dass „der blonde Selim“ kein Doppelagent war. Die Polizei ließ ihn gehen. Nur Aynur Karahan blieb mit den Polizisten zurück. „Ja“ ist eine Selbstbestätigung und ein Innehalten im Erzählfluss. Bewegungssequenzen werden im Kontext von Choreografien oder Bewegungssportarten, die einem bestimmten Ablauf folgen, genannt. „Bewegung“ ist ein Begriff, der meist mit positiven Werten und Gefühlen assoziiert wird. Für den Beginn einer Folter war die Begriffswahl unpassend. Inhalt und Form stimmten nicht überein. Die Form milderte die Brutalität des Inhalts ab. Ein Polizist, der aussah wie ein „Bär“, trat in Erscheinung. Ein Bär symbolisiert Kraft und Macht, er ist stark und von seiner Statur kompakt und rund. Einem Bären zu begegnen bedeutet, sich vorsichtig bewegen zu müssen und zu hoffen, dass man nicht angegriffen wird. Es ist ein Tier, das Menschen töten kann. Diesem Bild vergleichbar befand sich Aynur Karahan in einer schutzlosen
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Situation, als der „Bär“ sie angriff. In diesem ungleichen Kampf würde der Bär die Erzählerin besiegen. Aynur Karahan blieb im Rahmen dieser Erzählsequenz in der Vergangenheitsform und wechselte nicht in die Gegenwartsform, was als Distanz zum Erlebten zu interpretieren ist. Die Erzählung ging nahtlos vom Schwank in die reale Foltererzählung über. Und der hat, hier angefasst, das war erste Bewegung nach diese Frage: „Du Nutte, jetzt wirst du mir sagen was du alles gemacht hast, wo Yılmaz ist?“ Ne. [Hm] Hat er da angefasst mich wie ein, wie heißt das, Kreisel um sich gedreht gedreht gedreht, wie viel mal weiß ich nicht, aber auf einmal auf Wand geschmissen, ne, [Hm] dann bin ich runter gefallen. Ich war am, wie heißt das, an meinem Bauch, am Boden lagen, ne die Geschwindigkeit und dann, ne, dieser harte Stoß, und dann, war dieser Bär auf meinem Rücken, ne, [Hm] echt, wie hat mein Körper, ich kann mich, äh, ich weiß es nicht, wie konnte ich das aushalten, ne, [Hm] getrampelt, auf meinem Rücken. [Hm] Und dann, ja, wieder, ne, hoch gehoben, geschlagen. Schlägt erst, wie ich geachtet habe so, ne, [Hm] aber wie, tat weh, ne. Kein Spuren. Und seitdem habe ich, ne, wie heißt das, Bandscheibenvorfall, Die Handlungen und Fragen des „Bären“ entsprachen dem erwartbaren Muster bei Folterungen. Er gab vor, Informationen erhalten zu wollen, die er mit seiner ersten Gewalthandlung an Aynur Karahan verband. Er begann die Folter mit einer verbalen Abwertung Aynur Karahans, die erniedrigender kaum hätte sein können. Frauen wurden und werden in patriarchalen Gesellschaften in zwei polarisierte Kategorien eingeteilt: Nutten oder Heilige/Mütter. Widerständige und Frauen mit hohem Selbstwertgefühl gehören in die erste Kategorie. Sie sind verachtenswert und sozial bereits beschädigt, so dass eine weitere soziale Beschädigung wie sexueller Missbrauch oder Beschimpfung als akzeptabel gilt, um die Machtverhältnisse im Patriarchat wieder herzustellen. Eine sehr genau beobachtete Sozialstudie, wie eine einmal sozial beschädigte Frau immer weiter sozial beschädigt werden darf, bietet beispielsweise der Spielfilm „Dogville“ (von Trier 2003). Die erste „Bewegung“ im Kontext der Folter war ein „Kreisel“. Ein Kreisel ist ein Kinderspielzeug. Er dreht sich um sich selbst und tanzt. Die Erzählerin bildete mit dem ersten Folterer zusammen einen Kreisel. Kreisel war ein Begriff, der die reale Dramatik der Situation entschärfte, weil er aus der Kinderwelt stammte. Wie ein Kind wurde Aynur Karahan an einem Arm und Bein gepackt und durch den Raum gedreht, wie es Erwachsene mit Kindern tun und diese sich
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freuen. Die Begriffe „Kreisel“ und „Bewegung“ weckten positive Assoziationen und wirkten im Kontext von Gewalt und Folter verharmlosend. Die Erzählerin schilderte detailliert die einzelnen Handlungssequenzen. Die Folterungen hinterließen physisch wenig sichtbare Spuren. Außer einem Bandscheibenvorfall gab es keine weiteren langfristigen Beweise ihrer Folterungen. Folterungen werden seit einigen Jahren in fast allen Ländern dieser Erde so durchgeführt, dass sie körperlich kurze Zeit später kaum nachweisbar sind. Dies hat den Hintergrund der weltweiten Einführung der „Allgemeinen Menschenrechte“ und der Lobbyarbeit entsprechender Organisationen. Staaten und andere Gruppen werden inzwischen stärkerem Druck ausgesetzt, wenn sie nachweislich foltern. … ich war sehr jung und so weiter, [Hm] der Arzt wollte mir drei Monate, äh, krank schreiben, ein Spritze geben, ich habe gesagt: „Nee, will ich nicht“, ne. [Hm] Mit fünf Tagen bin ich zu Hause geblieben. [Hm] Aufgrund des Bandscheibenvorfalls wollte sie ein Arzt medizinisch unterstützen und für drei Monate krankschreiben. Dieses Angebot, Zuhause zu bleiben, um zu genesen, nahm die Erzählerin nicht an. Aynur Karahan blieb nur fünf Tage Zuhause und trat anschließend vor ihre Schulklasse. Dass Aynur Karahan keine Genesungszeit in Anspruch nehmen wollte, kann durch ihre innere Transformation zum “Stein“ gedeutet werden, der hart und unumstößlich war und sie die Geschehnisse schnell einkapseln ließ. Sie transformierte sich zum Stein, der ihr zumindest kurzfristig ein alltägliches Weiterleben ermöglichte. Sie wollte so schnell wie möglich das Alltägliche weiter leben, als wäre nichts geschehen. Kurz nach ihrer Folterung ermöglichte Aynur Karahan dies ihr Überleben. Kontext: Die Erzählerin hatte den Socken ihres Bruders Habib an einer Zwischentür zum Nachbarraum, hinter einem Schrank entdeckt und ahnte, dass ihr Bruder im Nachbarraum gefoltert wurde. Und, die haben, Habib, ungefähr zwei Stunden als ich auch dort war, so gefoltert, Anfang, hat Habib auch dagegen gekämpft, ne, wollte er auch schlagen, ne, der ist auch groß und ja, na, ((lacht)) ja, und dann am Ende, fünf sechs Polizeien haben richtig geschlagen, gefoltert, Strom gegeben, ne. Hinter diese Schrank, gehörte diese Socken ihm etwa. [Hm] Ja, und dann haben sie ihm gesagt: „Wenn du, wenn du“ zum Beispiel gabs so viele Falle, [Hm] Fälle, dass sie keinen so, äh, Jugendliche dafür gefunden haben der das gemacht hat. Dann, äh, wenn sie jemand erwischt haben oder so, auf der Straße genommen haben für diese äh, Nummer bestimmte Fällen haben sie, durch Folter, [Hm] haben sie, mussten diese Personen sagen: „Ja, habe ich gemacht“, ne, und so weiter,
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Die Erzählerin gab die Perspektive ihres Bruders wieder, wie er versuchte, sich zu Beginn der Folter gegen die Folterer zu wehren. Das Schweigen und die Demonstration von Stärke waren im Wertehorizont der Erzählerin wesentliche Aspekte zur Wahrung der kurdischen Identität und Ehre während der Folter. Der Kampf des Bruders dauerte so lange, bis so viele Folterer da waren, dass er unter Schlägen und Stromstößen keine Gegenwehr mehr aufbringen konnte. Die Folter wurde als Kampfsituation gerahmt, in der dem Gefolterten die Möglichkeit eingeräumt wurde, eine reale Chance auf einen „Sieg“ zu haben.5 Diese Einschätzung war eine Illusion. Die Mittel, Werkzeuge, die Menschenkraft und die Machtmittel waren und sind in Foltersituationen stets ungleich verteilt und die Gefolterten hatten und haben keine Möglichkeiten, diesen „Kampf“ zu gewinnen. Sie können nur versuchen, sich im Nachhinein durch psychisch-geistige Kraft von diesen Gewalterfahrungen und Demütigungen zu distanzieren. Eine Praxis der türkischen Polizei war es, StellvertreterInnen für ungeklärte Strafdelikte zu suchen und diese den Gefolterten zuzuschreiben. Die „Geständnisse“ wurden im Rahmen von Folterungen erlangt. Auch dies zeigte, dass es bei Folterungen nicht um das Aufdecken von Wahrheiten geht, sondern um die Zerstörung der sozialen und psychischen Identität. haben sie bei Habib das auch haben sie gesagt: „Wir werden dein Schwester hier bringen, ne, vor dein Augen sie vergewaltigen wenn du das und das und das auf dich nicht nimmst“, ne. [Hm] Dann sagte er: „Ja, habe ich alles gemacht. Das habe ich gemacht, das habe ich gemacht, was ihr sagt“, ne. Er war sechzehn Jahre alt. [Hm] Dem Bruder wurde gedroht, dass seine Schwester vor seinen Augen vergewaltigt werden würde, wenn er nicht „gestand“. Diese Drohung reichte aus, um Habib Ceylik zu Geständnissen zu bewegen. Wenn ein weibliches Familienmitglied vor den Augen eines männlichen Familienmitglieds vergewaltigt werden würde, wäre dies die größte denkbare Ehrverletzung und soziale Beschädigung. Die verletzte Ehre wieder herzustellen wäre die Aufgabe der männlichen Familienmitglieder. Dem „Geständnis“ fügte Aynur Karahan in dieser Erzählung das Alter ihres Bruders Habibs zu. Das „Geständnis“, die Unterlegenheit ihres Bruders, war für
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Ähnlich schilderte Jean-Paul de Sartre die Folter, indem er die Foltersituation als Kampfsituation interpretierte, in der die Gefolterten reelle Chancen auf einen Sieg haben könnten (Ellrich in: Burschel/ Distelrath,/ Lembke 2000, S. 63).
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die Erzählerin erklärungsbedürftig, da ihr Ideal aus einem verschwiegenen, solidarischen und unendlich starken Gefolterten bestand. … Und, dann haben die ihn wieder in diese Folter, Zelle rein genommen und dann auch mich. [Hm] Dann haben sie Habib gesagt: „Jetzt sagst du deine Schwester, wenn sie, was wir wollen wenn sie nicht mitmacht, was wir ihr tun“, ne. Und dann, er war am Sitzen, ich hab versucht ihn zu anfassen, ne, [Hm] dass er merkt, dass ich da bin, ne. Und dann, als sie das gesagt, guckte er mich, dann sagte er mir: „Tu alles was sie sagen, sag dass du gemacht hast“, ne. Die=die die standen da, ne. [hm] Und dann habe ich Habib, was habe ich gesagt? „Verschwinde von hier“, habe ich gesagt, aber nicht ein w, wie, ne. [Hm] Weil, wenn sie auch merken, du bist schwach da, ne, [Hm] ja, dann die Spiele geht weiter. Und dann haben die Habib wieder raus, genommen, und dann wieder angefangen mich zu foltern, und, ja, schlagen, alle mögliche, ne. Die Folterer stellten eine Interaktion zwischen den beiden Geschwistern her, um den Druck auf Aynur Karahan zu erhöhen. Der massiv gefolterte Bruder Habib Ceylek wurde als Abschreckungsbeispiel, als Drohung eingesetzt. Er versuchte, seine Schwester zum Geständnis zu bewegen. Für ihn war es wichtiger, dass seine Schwester nicht vor seinen Augen vergewaltigt oder weiter gefoltert werden würde, als sein „Gesicht“ vor den Folterern zu wahren. Habib Ceylek war im Gegensatz zu seiner Schwester geständig und aus der Perspektive Aynur Karahans schwach. Da er noch ein Kind war, fand sie seine Schwäche legitim. In dieser Situation präsentierte sich Aynur Karahan im Gegensatz zu ihrem Bruder als stark, unabhängig und in einer der ohnmächtigsten „sozialen“ Situationen überhaupt immer noch als gewitzt. Sogar vor den Folterern demonstrierte sie eine real nicht vorhandene Unabhängigkeit und forderte ihren Bruder auf, aus der Foltersituation zu „verschwinden“. Aynur Karahan konstruierte in diesem Moment Handlungsmöglichkeiten, die irreal waren. Der Grund für diese Übertreibung war ihre Überzeugung, dass jedes Zeichen von Schwäche, ihre Folterungen verstärken könnten. Stärke und Härte waren die Ideale Aynur Karahans, die es zu erreichen galt. Sie war zu einem Stein geworden. f) Rebellion gegen die Heteronomie Kontext: Die Flüchtlingsfamilie Karahan sollte in Deutschland in ein großes Flüchtlingslager, verlegt werden. Sie wollte aber in der Wohnung und dem Ort wohnen bleiben. Alle anderen Flüchtlinge waren bereits aus dem Ort in das große Flüchtlingslager verlegt worden. Nur die Familie Karahan wehrte sich gegen die Verlegung, die eine Verschlechterung der Lebensqualität bedeutete.
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Ein Monat lang haben sie uns immer von Ausländer-, Herr Schmidt hieß er, hab ich nicht vergessen, ne, und, Herr Schmidt immer wieder mich angerufen, [Hm] durch Pension, hat gesagt: „Frau Karahan machen Sie kein Schwierigkeiten, Sie müssen auch nach Neuburg Donau.“ Der Bürokrat von der Ausländerbehörde folgte den Regeln der Gesetze, der Verwaltung. Er wollte und konnte für die Familie Karahan keine Ausnahme machen. Er drohte der Erzählerin und stellte sie vor keine Wahl. Die Familie Karahan hatte sehr wenige Möglichkeiten, seine Entscheidung zu beeinflussen. Der Verwaltungsmitarbeiter besitzt in Bezug auf den Wohnort der Flüchtlingsfamilie die Entscheidungshoheit. Aynur Karahan trat in dieser Sequenz als Sprecherin der Familie auf und kommunizierte mit der deutschen Öffentlichkeit. In einer traditionellen patriarchalen Rollenverteilung wäre es Herr Karahan gewesen, der mit der Öffentlichkeit kommunizieren müsste. Dies bedeutete eine Machtverschiebung innerhalb der Familie hin zu Aynur Karahan. Ich hab immer gesagt: „Nö, machen wir nicht“, jeder Donnerstag, ne. Am Ende nach ein Monat hat er mir gesagt, beim letzte Telefonat: „Ich schick morgen Polizein, die werden euch abholen und hin bringen.“ Ich habe gesagt: „Ja, eure Polizein sind süß, ne (3) mir macht nichts aus, können Sie das machen.“ Und, ja, er hat ernst gemeint, ne. Und dann, ja, ich konnte irgendwie nicht so gut schlafen fünf Uhr war ich wach, ich hab Can geweckt, habe ich gesagt, ne: „Was machen wir jetzt? Sie werden kommen.“ Er hat gesagt: „Sieh, die Autobahn“ war nah, ne, Nürnberg München und so, nah zu unsere Pension. Er hat gesagt: „Ja, wir können vielleicht ein Feuer auf dem Autobahn machen.“ „Das werden die Menschen nicht mögen die werden echt schimpfen und so weiter, das bringt dich in-, ja, das bringt nichts“, ne. Aynur Karahan reagierte auf die Aufforderung des Mitarbeiters der Ausländerbehörde mit stetem Protest und dem Anspruch, ihren Wohnort selbst bestimmen zu können.6 Zwischen den beiden baute sich ein Machtspiel auf, das in Drohungen einer Zwangsverlegung durch die Verwaltung endete. Die Erzählerin ironisierte. Sie verwandelte eine für die Familie ernste Situation in ein interaktives Spiel. Dem Bürokraten gegenüber zeigte die Erzählerin
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Diese Idee kann aus den Allgemeinen Menschenrechten abgeleitet werden. In Artikel 12 heißt es: “Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen” (UNO-Generalversammlung 1948).
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(wie anderen Autoritäten oder Mächtigen gegenüber) keine Schwäche oder Angst. Sie war die starke und selbstbewusste Frau, die sich durchsetzen wollte. Das Ehepaar plante eine Aktion, um ihre Verlegung zu verhindern. Can Karahan hatte die Idee, etwas auf der Autobahn zu verbrennen, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Statt sich in Vereinen zu organisieren oder sich an einschlägige Organisationen zu wenden, kam er auf die Idee, eine Einzelaktion zu starten. Aynur Karahan verwarf sie. Auch in diesem Zusammenhang war sie die innerfamiliäre Entscheidungsträgerin. Da habe ich mir gedacht: Ich gehe aufs Dach, ne. ... Frau Karahan entwickelte gleich eine andere Idee. Sie wollte auf das Dach gehen. Es könnte das Dach des Hauses, in dem sie damals wohnten oder das Dach der Ausländerbehörde gewesen sein. „Ich steig jemandem aufs Dach“ ist eine Redewendung, die in Kontexten gebraucht wird, wenn jemand unter Druck gesetzt werden soll. Die Person, die aufs Dach steigt, möchte bei der anderen Person oder Gruppe eine Veränderung bewirken. Und, so ungefähr kurz vor sieben bin ich hochgegangen, Wörterbuch mitgenommen, wie ich gesagt habe, konnte ich nicht so gut Deutsch, und dann, Wörterbuch mitgenommen. Emre war drei Monate alt, ich glaube, glaube neunundachtzig, äh, Juni ist er geboren, [Hm] und, was, ja, drei Monate später war, ne, hat das passiert. Und dann, ja, und, dann war mir langweilig, habe ich mir eine Zeitung, das war so irgendwie, ja, auch lustig, ne, und, habe ich mir eine Zeitung geholt, und dann auf einmal kam Nachbarsfrau, war ein alte Frau aber sehr nette Frau, achtzig so, sie war am Balkon dann, hat sie so einmal hoch geguckt, ne, hat gesagt, ich las Zeitung, ne, hat gesagt: „Oh, ist das nicht so hoch?“ [Hm] zu mir sagt und ( ). ((lacht)) Die Erzählerin ging auf das Dach des Hauses, in dem sie wohnten. Sie erzählte erneut in der Form eines Schwankes, wie sie es sich auf dem Dach gemütlich machte, um auf die Polizei zu warten. Auf dem Dach war ihr langweilig, also holte sie eine Zeitung und unterhielt sich mit einer Nachbarin. Aynur Karahan war belustigt über ihre Situation und in einer Art Vorfreude auf das zu erwartende Spektakel. Ihren drei Monate alten Sohn ließ sie bei ihrem Mann und ihrer Tochter in der Wohnung. Sie war die Kämpferin, die sich vor ihre Familie stellte, um sie zu beschützen. Die Entscheidung, allein aufs Dach zu gehen, um ein Ziel zu erreichen, war eine individuelle Vorgehensweise, um für ihre Rechte zu kämpfen. Zu Beginn ihres Aufenthaltes als Flüchtling waren ihr wahrscheinlich weder Sprache, Flüchtlingsorganisationen noch das Rechtssystem bekannt, um institutionel-
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len Widerstand zu organisieren. In dieser Zeit ist der Widerstand der Flüchtlinge gegen heteronome Entscheidungen und Lebensbedingungen meist sehr gering. Der individuelle Widerstand, den die Familie Karahan leistete, hatte zwar weniger Aussichten auf Erfolg, aber er ist ad hoc realisierbar und außergewöhnlich engagiert und selbstbewusst für eine Flüchtlingsfamilie. Ihre nach außen demonstrierte Gelassenheit könnte ihr beim Durchsetzen ihres Anliegens hilfreich sein. ... Und, i, d, ja, äh, dann war Gertrud (eine Freundin aus dem Ort, Anmerkung der Autorin) sofort da und so weiter, und, äh, ich hab, ja, die Bürgermeister erzählt: „Nee, wenn ich runter komme, sie packen uns nach, Neuburg Donau, mitnehmen.“ Er hat gesagt: „Nein ich geb euren“, bla bla und so weiter. Dann auf einmal, ne, das war ein S-Straße, ne, voller Autos, Polizeiautos, Zeitungs, Bus und s- äh, wie heißt das, Ambulanzen, alles, ne, alles, ganze S-Straße, ne, ((holt tief Luft)) voller Polizeiwagen da, ne. Ich hab von oben gesagt: „Wenn einer versucht rein zu kommen, ich werde sofort springen“, ne. ... Ich hab ein Schal gehabt, in dem Zeit ein sehr große Schal, einmal, als einer sich bewegt hat durch ein Gespräch was ich nicht mitgekriegt habe, ne, wollten, in in ins äh, Haus rein, ne, ich hab den Schal runter geschmissen, aber, in solche Moment, obwohl ich, mir nie gedacht habe, ne, ich springe runter, ne, das war nur einfach ein Protest, einfach ein Stimme, ne, dass sie nicht so spielen dürften, aber, in dem Moment, meine Nerven kommen so hoch, ne, gekocht, ne, so, du denkst: „Wenn dann wirklich springe ich runter“, ne so. [Hm] Kamen solche Momente, ne. ((räuspert sich)) Der Schwank wurde in eine ernste und bedrohliche Geschichte übergeleitet. Das Geschehen erhielt eine große öffentliche Aufmerksamkeit und schien so gefährlich zu sein, dass die Polizei nicht ins Haus hineinging. Die Selbstmorddrohung der Erzählerin wurde ernst genommen. Die Erzählerin konnte sich im Verlauf der Situation nicht nur vorstellen, mit ihrem Selbstmord zu drohen, sondern ihn auch zu vollziehen. Erst wollte sie nur ein Druckmittel haben, durch das sie ihren Willen, im Ort wohnen bleiben zu dürfen, ausdrückte. In der Situation selbst aber war der reale Schritt zum Selbstmord nicht mehr weit. Frau Karahan wehrte sich gegen jegliche Heteronomie. Sie wollte selbst bestimmen, wo sie wohnte. Enorme Heteronomie hatte Aynur Karahan auch als Teil einer verfolgten Minderheit und während der Folterungen erfahren. Diese kontinuierliche Heteronomie wurde von Aynur Karahan als bedrohlich empfunden, gegen die sie sich auflehnte.
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… Dann der Kommissar war so aggressiv, ne. Mir hat gesagt: „Sind die anderen nicht Menschen die dort leben im Lager?“, habe ich gesagt: „Bist du auch kein Mensch, kannst du auch dort leben, warum zahlst du für die Miete oder, für ein Haus?“, ne, irgendwie, [Hm] so kindlich, so. Und, dann hat er mir gesagt: „Wenn Sie nochmal so was tun, ne, werden Sie in eine Klinik gesteckt“, ne, ja. [Hm] Das vergesse ich nicht. Und, dann hat dieser Bürgermeister wirklich ein kleines Haus, Häuschen für uns, gemietet, das Haus gehörte Fritz und Gertrud, ne. Die Dachgeschichte war beendet und die Geschichte über ihre Verhandlungen mit StaatsvertreterInnen begann. Aynur Karahan präsentierte sich weiterhin als selbstbewusste Frau, die auch in der Auseinandersetzung mit staatlichen Autoritäten eine Gewinnerin war. Interaktiv zeigte sie sich als ein Gegenüber mit Argumenten, das sich aufgrund ihres Handelns und Kommunizierens durchsetzen konnte. Vorerst erreichte Aynur Karahan ihr Ziel und konnte mit ihrer Familie ein kleines Haus im selben Ort bewohnen. Der Dialog mit dem Kommissar verdeutlicht die Schieflage des Vergleichs, den der Kommissar formulierte. Er verglich die Flüchtlingsfamilie mit anderen Flüchtlingen, die auch in dem großen Flüchtlingslager lebten. Aynur Karahan verglich ihre Situation mit der Wohnsituation des Kommissars. Der letzte Vergleich ist der legitime. Ebenso wenig wie die Lebenssituation der Flüchtlinge in Deutschland mit der in ihren Herkunftsländern verglichen werden darf, kann sich die Vergleichsreferenz für „angemessenes“ Wohnen nicht auf genauso benachteiligte andere Flüchtlinge reduzieren. Mit ihrem Vergleich forderte sie entgegen der Praxis und Norm, sich mit den Etablierten dieser Gesellschaft auf Augenhöhe bewegen zu können. Der Kommissar reagierte auf ihre für einen Flüchtling ungewohnt autonome und fordernde Haltung ihm gegenüber mit der Drohung einer Einweisung in die Klinik, in eine Psychiatrie. Er spielte sich als Mächtiger auf. Seine Drohgebärde sollte die Aufsässige einschüchtern und zum Schweigen bringen. In eine Psychiatrie wollte Frau Karahan nicht eingewiesen werden. Sie ging davon aus, dass der Kommissar die Entscheidung über eine Einweisung hätte treffen können. Diese Drohung, die ihre Heteronomie der Lebenspraxis noch mehr verstärken würde, brachte sie zum Schweigen.
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4. Z USAMMENFASSUNG DER F ALLSTRUKTURHYPOTHESEN Der Vater Aynur Karahans und dessen Geschwister organisierten einen sozialen und symbolischen Aufstieg in die lokale Bildungselite. Dies und die Heiratsstrategie des Vaters ergaben einen weiten Möglichkeitshorizont für die Generation Aynur Karahans. Auf der Elternebene fiel die Familie mütterlicherseits, die gleichzeitig die Herkunftsfamilie väterlicherseits Can Karahans war, aufgrund des innerfamiliären sexuellen Missbrauchs durch den Vater Can Karahans sozial auseinander. Dieser Familienzweig ist gekennzeichnet durch ein Entgrenzen sozialer Regeln und Wertezuschreibungen gekennzeichnet, der sich in Inzest, beruflicher Perspektivlosigkeit bis hin zu kriminellen Handlungen zeigte. (Allert/Bieback-Diel/Oberle/Seyfahrt 1994) Die Geschwister Aynur Karahans setzten ihre Transformationspotentiale nur teilweise um. Auf der Geschwisterebene spielte erneut sexueller Missbrauch eine Rolle, der innerfamiliär bis zum mittleren Erwachsenenalter von Frau Karahan verschwiegen wurde. Aynur Karahan setzte ihre Transformationsmöglichkeiten um und entwickelte auch nach ihrer Flucht nach Deutschland eine ausgeprägte Autonomie ihrer Lebenspraxis. Die Tochter der beiden nutzte das Leben in Deutschland für ihren sozialen Aufstieg. Der Sohn hatte wegen des „strukturlosen“ Vaters einen begrenzteren Optionsraum, dem er mit kriminellen Handlungen begegnete. Das „naturmetaphysische Weltverhältnis“ Aynur Karahans zeigte sich in verschiedenen Lebenssituationen als Resilienzfördernis. Ihr spezifisches Weltverhältnis und ihre offene Erzählbereitschaft ermöglichten Aynur Karahan, eine identitätsunterstützende Beziehung zu ihrer Umwelt aufzubauen. Das ritualisierte Handlungsmuster der Interaktionen mit Naturelementen führte zu einem Gefühl des Identischseins. „Negativ“ bewertete Emotionen wie Hass, Angst, Verzweiflung waren für sie nach einem dieser Rituale nicht mehr spürbar. Aynur Karahan machte während ihrer Kindheit oft Ferien bei den Großeltern väterlicherseits. Der Hauptwohnort der Familie war neolokal nach dem Arbeitsort des Vaters gewählt. Dieser Hauptwohnort konnte sich aus der Perspektive Aynur Karahans nicht als Lebensmittelpunkt etablieren, sondern konkurrierte mit dem Dorf der Großeltern. Sie war stets unterwegs: Kleinkind ging Frau Karahan alleine los, um besondere „Steine zu suchen“. Diese in frühen Kindheitsjahren einsetzende Individualisierung führte zur Delokalisierung. Sie war überall und nirgendwo. Das Handlungsmuster des Steinesuchens formte sehr früh ihre Identität. Sie hätte keine schönen Steine gefunden, wenn sie nicht ihre Angst vor der unheimlichen Umgebung hätte überwinden müssen. Sowohl das Suchen und Überwinden der Angst, als auch die metaphysische Naturverbundenheit und die
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Identifikation mit Steinen sind Handlungsmuster, die Überlebensstrategien geworden sind. Der Vater wurde von Aynur Karahan idealisiert. Der Vater brachte transformatorisches Potential in die Familie. Er wurde in seiner Abwesenheit von Frau Karahan idealisiert. Die anwesende Mutter war hingegen ambivalent besetzt und wurde abgewertet. (Peisker 1991; Gerisch 2003, S. 154-157). Die sozialisatorischen Krisen im Rahmen der Ablösungsprozesse von ihren Eltern konnte Aynur Karahan nicht vollenden. Der Vorwurf des fehlenden Schutzes vor den sexuellen Übergriffen durch die Brüder ging an die Mutter, die ihre Töchter nicht schützte. Die Individualisierungs- und Reflektionsansprüche, die Aynur Karahan an ihre Mutter stellte, berücksichtigten in keiner Weise die Kontexte, die das Handeln und Orientieren ihrer Mutter prägten. Ihre Weiblichkeit assoziierte Aynur Karahan mit Angst. Die Ausbeutung des weiblichen Körpers war allgegenwärtig. Ein Resilienzfördernis Aynur Karahans war kurzfristig nach der Folter und nach sexuellen Gewalterlebnissen die Abspaltung dieser Erfahrungen und damit eines Teils ihres Körpers von ihrem „Ich“. Aynur Karahan versuchte, durch Psychotherapien und Selbsterfahrungsmethoden ihren Körper und ihre „negativen“ Gefühle in ihre Identität zu reintegrieren. Trotz ihrer kontinuierlichen Anstrengungen konnte sie langfristig ein körperliches Wohlbefinden nicht vollständig erreichen. Die Abspaltung entwickelte sich die Versteinerung als Identitätsstörung. Durch das Insistieren ihres Ehemannes in Bezug auf ihre möglichen vorehelichen Sexualkontakte wurde bei Aynur Karahan ein Erinnerungsprozess eingeleitet. Von der individuellen Ebene der Aufdeckung und Erfahrungsbewältigung ihrer nicht-bewusst erlebten Vergewaltigung konnte dieser Prozess nicht in die Beziehungsebene integriert werden. Die Folge dieses eheinternen, nicht transformierbaren Krisenthemas war die Scheidung, die durch Aynur Karahan eingereicht wurde. Die Erzählungen über die Folterungen wurden mit einem Schwank eingeleitet. Der Schwank als Erzählgenre war eingesetzt worden, um die Dramatik und den Schmerz der erzählten Erfahrungen abzuschwächen. Weinen und Lachen wurden vertauscht (Plessner 1950). Im Rahmen der Foltererzählung zeigte sich eine große Risikobereitschaft Aynur Karahans. Auch während und kurz nach der Folter präsentierte sie individuelle Handlungsspielräume, die real nicht vorhanden waren und zeigte sich steingleich. Dies kann als unrealistische Einschätzung ihrer eigenen Handlungsautonomie bzw. als eine noch nicht voll entfaltete notwendige Relativierung des
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Ich (Peisker 1991, S. 68-69) oder als reines „Schauspiel“ gegenüber ihren Folterern interpretiert werden. Aynur Karahan zeigte sich in der Öffentlichkeit als Sprecherin der Familie, was die innerfamiliäre Machtposition und Autonomie Aynur Karahans zeigt. Die Art des Protestes war bei den Karahans eine individuell organisierte Protestaktion. Durch ihre öffentlich wirksame Selbstmorddrohung konnte die Verlegung in ein Flüchtlingslager aufgeschoben werden. Ihren hohen Handlungsautonomieanspruch und ihren Durchsetzungswillen setzte Aynur Karahan auch in Deutschland fort. Diese ermöglichten ihr die Realisierung einiger Unwahrscheinlichkeiten.
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D IE E INGEFRORENE : E RVA C OSKUN
1. D IE L EBENSGESCHICHTE
IM
Ü BERBLICK
Erva Coskun wurde 1974 in einem kleinen ostanatolischen Dorf in der Nähe von Özbek geboren. Ihr gebürtiger Nachname ist Gökdal. Sie ist das dritte von sieben Kindern und eine von fünf Schwestern. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr lebte Frau Coskun in diesem Dorf. Als ihr Vater vom türkischen Militär verschleppt (und wahrscheinlich getötet) wurde, zog die Kernfamilie zum bereits verheirateten ältesten Bruder in die nächste größere Stadt, nach Özbek. Frau Coskun war nicht zur Schule gegangen und ist bis heute Analphabetin geblieben, da ihr Vater ihr den Schulbesuch untersagte. Frau Coskun wurde gegen ihren Willen mit 17 Jahren mit ihrem jetzigen Ehemann Niyazi Coskun verheiratet. Ihr Ehemann ist sieben Jahre älter und stammt auch aus einem ostanatolischen Dorf an der Grenze zu Syrien. Ihr erstes gemeinsames Kind kam vier Jahre nach der Hochzeit zur Welt. Die ersten Jahre des Ehepaares bei der Familie des Ehemannes wurden als verwahrlost und sozial isolierend beschrieben. Nach dem Umzug des Ehepaares in ein anderes Dorf kam das erste Kind, ein Sohn, zur Welt. Seit dessen Geburt wurde das Dorf, in dem die Kleinfamilie lebte, viele Male von türkischen Soldaten „überfallen“. Diese verfolgten die Dorfbewohnenden und misshandelten sie. Das Ehepaar Coskun wurde bei einem dieser Verfolgungssituationen auf eine Polizeistation mitgenommen und dort gefoltert. Während der Zeit der Verfolgungen floh Herr Coskun aus dem Dorf und arbeitete bis nach der Geburt des zweiten Sohnes 1997 in einer anderen kurdischen Stadt. Er kam selten zu seiner Familie nach Hause. Dieses Handeln bezeichnete Frau Coskun als feige und verantwortungslos. Sie fühlte sich im Stich gelassen. Aufgrund einer Krankheit des zweitgeborenen Sohnes in Babyjahren und aus ökonomischen Gründen zog die Familie gemeinsam nach Istanbul. 1998 und 1999 wurde jeweils ein weiterer Sohn geboren. Mit der gesamten Familie floh Frau Coskun 1999 nach Deutschland, wo sie erst in Chemnitz und anschließend in Dresden in Flüchtlingsheimen untergebracht war. In Dresden konnte die Familie nach einigen Jahren aufgrund der Bleiberechtsregelung eine Wohnung beziehen. Herr Coskun konnte und kann aufgrund einer (der Autorin nicht näher bekannten) Krankheit nicht arbeiten. Alle Söhne gehen auf weiterführende Schulen. Frau Coskun ist in einem Dönerladen angestellt und ernährt mit ihrer Erwerbstätigkeit die Familie. Sie hatte einige Jahre lang psychotherapeutische Be-
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gleitung und trat bereits einmal mit autobiografischen Details in Form eines Buches über Flüchtlingsschicksale in die Öffentlichkeit. Die veröffentlichten Aussagen sind Teil der Analyse dieser Forschungsarbeit.
2. D AS G ENOGRAMM – H OFFNUNG IN
DIE
Z UKUNFT
a) Die Rahmung Die notwendigen Informationen zur Erstellung des Genogramms erfragte ich in einem Gespräch direkt im Anschluss an das zweite Interview. Frau Coskun wirkte etwas müde, war war aber sofort bereit, noch für das Genogramm zu bleiben. Die Atmosphäre war entspannt und offen. b) Die väterliche Seite – Transkulturelle Großmutter Viel konnte Erva Coskun von der väterlichen Seite ihrer Herkunftsfamilie nicht erinnern. Da traditionell das innerfamiliäre Wissen patrilinear weitergegeben wird, ist diese Tatsache erstaunlich. Entweder zeigte sich eine Transformation der patriarchalen Traditionen oder Frau Coskuns Wissen um innerfamiliäre Fakten war allgemein begrenzt. Ungewöhnlich in diesem Familienzweig war, dass der Großvater Erva Coskuns eine Armenierin heiratete. Wie der Großvater Aynur Karahans rettete auch dieser Großvater möglicherweise die Armenierin vor dem Genozid und der Verfolgung oder er nutzte seine Macht als Kurde aus, um eine Frau aus einer zeitweise noch stärker diskriminierten und verfolgten Minderheit zu heiraten. Entweder war die Hochzeit einer Armenierin eine „Hilfsaktion“ oder es fand im Rahmen einer Assimilationsstrategie statt. Die Großmutter war vor ihrer Hochzeit eine orientalisch-orthodoxe Christin gewesen, die danach zum Islam konvertierte und den muslimischen Vornamen Aishe annahm. Es war erwartbar, dass die Position der Großmutter innerhalb der Ehe schwach war und sie sich in allen Aspekten des Lebens an ihren Ehemann und dessen Werte und Normen anpassen musste. Der Transformationsschritt von der Lebensweise armenischer ChristInnen zu der kurdischer MuslimInnen ist ein großer. Die Vertreibung und Vernichtung der ArmenierInnen7 fand während der
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Die Großmutter väterlicherseits gehörte als armenische Christin der Gruppe an, die zur Zeit der Vernichtung und Vertreibung Berufe wie ÄrztInnen, ApothekerInnen, HandwerkerInnen oder HändlerInnen ausübten und zur Elite gehörten. Nachdem in der Türkei sowohl GriechInnen als auch ArmenierInnen vertrieben bzw. vernichtet worden waren, blieben kurdische Bauern und Bäuerinnen als große Minderheit übrig. Durch die Vernichtung der lokalen Eliten war die Versorgung der Bevölkerung auf
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Kindheit der Großmutter statt. Welches Schicksal dieser Großmutter während der Zeit des Genozids an den ArmenierInnen widerfuhr und was konkret sie zur Heirat eines Kurden bewegte, kann nicht beantwortet werden. Gegen ein starkes Patriarchat und für eine Liebeshochzeit sprachen die Aussagen Erva Coskuns, die ihre Großmutter als autonomes weibliches Vorbild wahrnahm. Sie soll frei von herrschenden Normen, Werten und Zwängen gehandelt haben. Durch ihre christliche und armenisch geprägte Sozialisation verfügte diese Großmutter über einen kulturellen Vergleichshorizont, der ihr größere Freiheit verlieh. Erva Coskun fand in dieser Großmutter ein Vorbild während ihrer Kindheit. Der Tod dieser Großmutter, als Erva Coskun 8 Jahre alt war, bedeutete für sie einen großen Verlust zu einer damals engen Beziehungsperson. Die älteste Schwester Erva Coskuns wurde nach dieser Großmutter benannt. Diese Wertschätzung der Mutter durch ihren Sohn, den Vater Erva Coskuns, zeigt ihre innerfamiliäre Anerkennung und bedeutsame Rolle. Diese Art der Wertschätzung erfuhr der Großvater in den nächsten Generationen nicht. Insgesamt liegt die Interpretation nahe, dass die Großmutter entgegen den Erwartungen nicht unterworfen und ihre Ohnmacht ausgenutzt wurde. Sie lebte relativ autonom und frei. c) Die mütterliche Seite – Nebulös Die mütterliche Seite ihrer Herkunftsfamilie konnte Erva Coskun sehr wenig erinnern. Diese Tatsache des Vergessens entspricht dem patrilinearen Prinzip und Erinnern. Bekannt waren das Geburtsjahr der Mutter und dass die Großmutter mütterlicherseits sich ausschließlich um die Kinder ihrer Söhne gekümmert hat. Dieser Familienzweig lebte kleinbäuerlich und ländlich. Die Mutter hatte weitere sieben Geschwister. Dies lässt auf ein traditionelles Milieu schließen. Ihre Mutter wurde 1951 geboren und verließ zeitlebens nicht die Türkei. Die Mutter lebt heute in der Osttürkei bei der Familie ihrer erstgeborenen Tochter. Sie stammte, ihrem Vornamen nach zu urteilen, aus einer sunnitischen Familie. Das Leben in einer Stadt und bei der Herkunftsfamilie der Tochter statt traditionsgemäß bei der Familie des erstgeborenen Sohnes lassen auf Transformationspotentiale schließen.
wenige Lebensbereiche eingegrenzt worden. Die Folgen für die ostanatolischen Gebiete waren massiv. Es waren viele der ModernisiererInnen und der Eliten vertrieben oder ermordet worden. Bis heute ist der Genozid an den ArmenierInnen ein Tabu in der Türkei, das einer allgemeinen Veröffentlichung und einer intensiveren Auseinandersetzung bedürfte (Bitschnau 2010).
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d) Die Eltern – Früher Verlust Über die Eltern Erva Coskuns lässt sich im Rahmen der Genogrammanalyse aufgrund weniger Informationen nur schreiben, dass die Eltern Erva Coskuns mit ihren Kindern bis zur Verschleppung des Vaters, als Erva Coskun 12 Jahre alt war, auf dem ostanatolischen Land nahe der syrischen Grenze wohnten und Subsistenzwirtschaft betrieben. Die elterliche Beziehung war eine arrangierte Ehe gewesen. Der Vater Erva Coskuns war ihr sehr zugewandt. Er unterstützte sie in vielen Lebensbereichen. Seine Verschleppung war besonders für Erva Coskun ein großer Verlust. Nach der Verschleppung (und Ermordung) des Vaters zog die Familie aufgrund des Wunsches der Mutter in die nächstgrößere Stadt Özbek um. Dort lebte bereits der älteste Bruder mit seiner Familie. In dessen Wohnung zog die Familie ein. Die Mutter zeigte durch ihre Entscheidung ein höheres Maß an Individualisierung und Autonomie, als es für eine kurdische Frau ihres Alters üblich gewesen ist. Für die Kinder bedeutete diese Entscheidung die Erweiterung ihrer Handlungsspielräume. e) Die Eltern des Ehemanns – schwache Basis Die Eltern Niyazi Coskuns wohnten in einem Dorf in Südostanatolien an der Grenze zu Syrien. Die Mutter Niyazi Coskuns starb, als er fünf Jahre alt war. Sein Vater heiratete erneut und bekam mit seiner zweiten Frau zwei weitere Kinder. Die Kinder aus seiner ersten Ehe wurden durch die Stiefmutter vernachlässigt und ihre eigenen bevorzugt behandelt. Niyazi Coskun hatte fünf Geschwister und zwei Halbgeschwister. Die hohe Kinderzahl lässt auf eine traditionell patriarchale Familienstruktur schließen. Er war das sechstgeborene Kind und der drittgeborene Sohn. Damit hatte er die ungünstigste Ausgangsposition innerhalb seiner Familie. Er war der Kleinste von den Geschwistern aus erster Ehe und noch sehr jung, als seine Mutter starb. Er war das Kind, das seine Mutter am stärksten gebraucht hätte, als ihm statt ihrer die „böse Stiefmutter“ vorgesetzt wurde. Da er der drittgeborene Sohn war, konnte er auch nicht mit den Vorteilen des Erbens rechnen. f) Die Geschwistergeneration – Transformation durch Migration? Das älteste Kind in der Geschwisterfolge von Erva Coskun war Ali Gökdal. Er nahm die Rolle des Patriarchen und des Versorgers ein, nachdem der Vater verschleppt worden war. Ali Gökdal war von diesem Zeitpunkt verantwortlich für die Versorgung und den Schutz seiner Familie. Er arbeitete in einer Baufirma in der Stadt, kaufte eine Wohnung und gründete mit Anfang zwanzig eine Familie.
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Er transformierte und modernisierte die traditionelle kurdische Lebensweise durch seine Berufstätigkeit und den Umzug in eine Stadt. Später zog er nach Istanbul und setzte den Transformationsprozess fort. Seine Aufgaben und die Rolle als Erstgeborener nahm hingegen er sehr ernst und füllte sie traditionell aus. Seine ledigen Geschwister, seine jüngste Schwester und sein Bruder, leben bei ihm. Die Schwester geht einer Erwerbstätigkeit nach und ist finanziell weitgehend unabhängig. Der Bruder geht auf eine weiterführende Schule in Istanbul. Seine zweitjüngste Schwester lebt mit ihrem Mann und einem Sohn ebenfalls bei Ali Gökdal und arbeitet als Näherin. Ali Gökdal gehört zu den Aufsteigern und Modernisierern unter den KurdInnen. Die beiden Schwestern Erva Coskuns, die noch in der Türkei leben, haben einen Beruf gelernt, verdienen ihr eigenes Geld und sind westlich orientierte, modernisierte junge Frauen. Sie sind ledig bzw. trotz der Ehe finanziell unabhängig. Der Bruder besucht eine weiterführende Schule und nutzt den Handlungsspielraum einer Großstadt, um durch Bildung seinen sozialen Aufstieg zu organisieren. Die älteste Schwester lebt als Mutter und Hausfrau mit ihrer Familie in Özbek. Sie hat sechs Kinder und führt ein traditionelles Leben einer kurdischen Frau. Die Mutter Erva Coskuns wohnt in der Nachbarschaft und wird durch diese Schwester mitversorgt. Die Familien von Erva Coskun und ihrer nächstjüngeren Schwester flohen nach Deutschland. Diese Schwester wohnt als Mutter und Hausfrau in Köln. Die Fluchtmigration nach Deutschland stellte einen größeren Transformationsraum als die Binnenmigration der anderen Geschwister dar. Erva Coskun geht einer Erwerbstätigkeit nach und versorgt ihre Familie. In dieser Familie fand eine enorme Transformation der Geschlechterrollen statt, über die sie selbst unglücklich ist. Die Schwester in Köln lebt traditionell als Hausfrau und Mutter eingebettet in eine türkische „community“. Erva Coskun und sie sehen sich selten und pflegen ihren Kontakt lediglich per Telefon. Der innerfamiliäre Zusammenhalt ging durch die Fluchtmigration verloren und steht im Kontrast zu den starken Bindungen der in der Türkei gebliebenen Familienmitglieder. g) Die eigene Familie – die Söhne als Hoffnungsschimmer Aufgrund der geschwächten innerfamiliären Position Niyazi Coskuns war zu erwarten, dass seine Heiratsstrategie „nach unten“ oder auf die gleiche Statusebene ging. Diese Hypothese traf zu. Niyazi Coskun heiratete ein drittgeborenes Kind, eine zweitgeborene Tochter aus einer kleinbäuerlichen kurdischen Familie. Auch Erva Coskuns innerfamiliäre Stellung war nicht stark genug und ihre Herkunftsfamilie zu arm, um die zweitgeborene Tochter „nach oben“ zu verheiraten. Es
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war eine arrangierte Hochzeit, die die Mutter gegen den Willen ihrer Tochter durchsetzte. Erva Coskun hatte sich bereits in einen Nachbarjungen verliebt, der sie heiraten wollte. Diese Verbindung unterstützte die Mutter aus nicht bekannten Gründen nicht. Erva Coskun heiratete gegen ihren Willen Niyazi Coskun. Dieser hatte bei der Mutter Erva Coskuns um die Hand ihrer Tochter angehalten. Die Hochzeit Erva und Niyazi Coskuns fand auch gegen den Willen des ältesten Bruders Ali Gökdal statt. Dieser hatte sich gewünscht, dass seine Schwester einen Mann heiraten würde, den sie selbst heiraten wollte. Der älteste Sohn als Nachfolger des Patriarchen konnte sich diesbezüglich nicht durchsetzen. Dies spricht auf der einen Seite für innerfamiliäre Transformation. Die Zwangsverheiratung hingegen spricht hingegen für die Reproduktion traditionell patriarchaler Strukturen. Die innerfamiliäre Situation war transformatorisch ambivalent. Die Mutter Erva Coskuns war eifersüchtig auf sie, da sie die Lieblingstochter des Vaters war, der ihre alle Rechte und Freiheiten eines „Jungen“ ermöglichte und sich stets schützend vor sie stellte. Außerdem war die Mutter gerade Witwe geworden und machte sich Sorgen, ihre fünf Töchter angemessen verheiraten zu können. Die Angst, die Hochzeiten bzw. Mitgiften finanziell nicht aufbringen zu können, war bei Erva Coskuns Mutter groß. Mit Niyazi Coskun heiratete Erva Coskun auf derselben Statusebene. Ihre ähnliche Situation zeigte sich in der kleinbäuerlich-ländlichen Herkunft und der geringen Schulbildung. In Deutschland, in der Situation der Fluchtmigration, nahm sie die Position der Erwerbstätigen und der Familienversorgerin ein. Diesbezüglich ermöglichte ihr die Migration die Transformation der Rollen, da sie finanziell unabhängig und stärker in der Öffentlichkeit präsent war und ist als ihr Ehemann. Doch machte sie dieser Geschlechterrollentausch unglücklich. Sie wünschte sich traditionelle Rollenverteilungen. Das Ehepaar bekam vier Kinder. Alle Kinder sind Söhne, die zwischen 1995 und 1999 geboren wurden. Das Paar gab den Kindern arabische oder türkische Namen. Die Familie gehört dem sunnitischen Islam an. Sie lebt nicht streng muslimisch und ist stark daran interessiert, dass die Söhne durch Bildungsaufstieg ihren sozialen und ökonomischen Aufstieg in Deutschland organisieren. Die Familie floh 1999 nach Deutschland. Gegenwärtig wohnen sie in Dresden. Die Söhne gehen in die Schule, zwei von ihnen auf ein Gymnasium. Erva Coskun setzte ihre Hoffnung und Kraft in den sozialen Aufstieg ihrer Söhne und vermittelte ihnen die Perspektiven, die sie in Deutschland durch eine höhere Bildung erhalten können. Erva Coskun delegierte den sozialen Aufstieg in die nächste Generation. Die Söhne nahmen den Delegationsauftrag offensichtlich an
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und versuchen über ihren Bildungsaufstieg ihren sozialen Aufstieg zu verwirklichen. Sie sind mit einem pflegebedürftigen und arbeitslosen Vater und einer ehrgeizigen und berufstätigen Mutter konfrontiert. Diese Situation wird ihre Geschlechterrollenfindung mit einem schwachen Vater und einer starken Mutter als heranwachsende junge Männer erschweren. Da Erva Coskun auch Zuhause die „Führung“ innehat, bietet Herr Coskun kaum Orientierungshilfen oder Identifikationsmöglichkeiten für seine Söhne. Der älteste Bruder, der erstgeborene Sohn, könnte eine Identifikationsfigur für seine jüngeren Brüder sein, wenn er dem innerfamiliären und gesellschaftlichen Druck standhält und seine Rolle als gesellschaftlich integrierter Gymnasiast und künftiger Student erfüllt. Die Familie fand sich in Dresden in einer Situation wieder, in der sie kaum Möglichkeiten hatte, sich in eine gleichsprachige „Community“ zurückzuziehen. Diese Situation erforderte für alle in der Öffentlichkeit agierenden Familienmitglieder das Erlernen der deutschen Sprache und eine größere Offenheit allen ihnen begegnenden Menschen gegenüber. Diese Situation bot insbesondere für die Söhne die Chance, vielfältige Kontakte und Ressourcen aufzubauen. Ob dies auch in Zukunft gelingen wird, hängt auch von der Bereitschaft des jeweiligen Gegenübers ab, sich mit türkischstämmigen Jungen anzufreunden. Diese Bereitschaft ist in Dresden erfahrungsgemäß nicht unermesslich groß. In das Gemeinwesen und in die Nachbarschaft ist die Familie kaum eingebunden. Das Ehepaar hat kaum Kontakte in Dresden. Lediglich einige kurdischoder türkischsprachige Bekannte pflegen regelmäßigen Austausch mit der Familie Coskun. Das Ehepaar befindet sich in einer sozial isolierten Lage, die Frau Coskun durch den angestrebten Umzug zu der Verwandtschaft ihres Mannes in einem westlichen Bundesland verändern möchte. h) Zusammenfassung bisheriger Fallstrukturhypothesen Die innerfamiliär gelebte Entscheidungsmacht der Mutter wurde zum negativen Vorbild für die Autonomie der Lebenspraxis von Erva Coskun. Die Folgen der Entscheidung der Mutter, ihre Tochter mit Niyazi Coskun zu verheiraten, bedeuteten für Erva Coskun Unglück. Die innerfamiliäre Rolle als Entscheiderin ergab sich für Frau Coskun aus der Krankheit, Arbeitslosigkeit und der Passivität ihres Ehemannes. Mit dem gelebten „Matriarchat“ gehen Unzufriedenheit und Leid einher. Der Verlust der Großmutter väterlicherseits und des Vaters in Kinderjahren bedeutete für Erva Coskun, zwei wichtige Bezugspersonen zu verlieren. Die Großmutter väterlicherseits war aus ihrer Perspektive ein Vorbild mit großer Handlungsautonomie. Der Vater schützte und förderte seine „Lieblingstochter“.
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Erva Coskun erfuhr durch ihn große Freiheiten. Der Tod dieser beiden Identifikationsfiguren vor ihrer Pubertät und der Phase der Ablösung bedeutete für Frau Coskun einen Bruch in diesem Prozess der Individualisierung. Niyazi Coskun verweilte zum Zeitpunkt des Interviews durch seine Krankheiten und seine Arbeitslosigkeit in einem „Zwischenraum“. Das Ehepaar pflegte kaum außerfamiliäre Kontakte und delegierte den sozialen Aufstieg in die nächste Generation. Die Söhne waren sozial und schulisch gut integriert und meisterten ihren Aufstieg trotz der vielfältigen Hürden. Ein weiteres Transformationspotential der Familie zeigte sich in der Migration mehrerer Familienmitglieder. Den Transformationsschritt zur zufrieden gelebten Individualisierung und Autonomie konnte Erva Coskun bisher nicht vollziehen.
3. D IE I NTERVIEWS - R OLLENKONFUSIONEN Ich führte mit Frau Coskun zwei Interviews, da große Teile des ersten Interviews nicht verwertbar waren. Dies war der Anwesenheit Dritter und der Qualität des Dolmetschens geschuldet. Das zweite Interview, das ohne Beisein Dritter stattfand, diente als Grundlage für die Auswertung der thematischen Sequenzen. a) Rahmungen und Besonderheiten der Interviews Das erste Interview wurde in der Wohnung der Coskuns erstellt. Eine nicht professionelle Dolmetscherin war anwesend, um zu übersetzen. Das Interview wurde im Wohnzimmer der Familie geführt. Die vier Kinder waren in der Wohnung anwesend und schauten immer wieder ins Wohnzimmer. Außerdem saßen der Ehemann Niyazi Coskun und der Chef von Erva Coskun mit im Wohnzimmer. Sowohl die Qualität des Gedolmetschten, als auch die soziale Situation des Interviews beeinträchtigten das Interview erheblich. Daher führte ich zu einem späteren Zeitpunkt ein weiteres Interview ohne Anwesenheit Dritter durch. Es stellte sich während des ersten Interviews heraus, dass die Deutschkenntnisse Erva Coskuns für ein Interview ausreichend waren. Das zweite Interview wurde in einem Büro- und Beratungsraum einer Flüchtlingsunterkunft in Dresden geführt. Die Familie Coskun hatte selbst lange in dieser Unterkunft gelebt und hatte noch Kontakte zu den dort angestellten MitarbeiterInnen. Sie hatten Tee gekocht und die Interviewerin brachte Gebäck mit, so dass eine freundliche und entspannte Atmosphäre entstand.
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b) Die verlorene Kindheit Dolmetscherin: Wir haben keine Kindheit gelebt. Wir waren in einem Dorf. Erva Coskun: Ja und ähm. ((Simultandolmetschen im Folgenden)) Dolmetscherin: Wir haben nur das getan, was die Eltern von uns gewollt haben. Wir hatten keine Schule. Wir hatten Ziegen. Ich musste die Herde führen. Wir hatten einen Obstgarten. Der erste Satz verdeutlicht die Normalität des kurdischen Landlebens, in dem die Kinder früh an den Alltagsaufgaben beteiligt wurden. Die „Kindheit“ wird von Frau Coskun als Phase mit bestimmten Eigenschaften formuliert und interpretiert, die sie selbst nicht leben konnte. Die Kinder kurdischer Kleinbauern waren und sind in jungen Jahren in die Arbeitsaufgaben einbezogen worden und konnten ihre Kindheit nicht im modernen westlichen Verständnis leben. Bei Frau Coskun kam hinzu, dass sie nicht zur Schule gehen durfte und so eine weitere Einschränkung ihrer Lebensperspektiven erfuhr. Bildung und Schule waren aber stets ein (für sie nicht realisierter) Wunsch Frau Coskuns. Diese Orientierungen stehen im Kontrast zu ihrer eigenen Lebenssituation. Eine Kindheit ohne Bildung und Freizeit war retrospektiv „keine Kindheit.“ Die Erfindung der „Kindheit“ in unserem heutigen Verständnis als eine Phase der rechtlichen Unmündigkeit, der emotionalen Bindung zu den Eltern, der Freizeit und des Disziplinierens und Lernens stand der kurdischen Kultur noch bevor. (Ariès 1975) Die Eltern wurden als autoritäre Instanz konstruiert, die gottgleich ihren Willen gegenüber ihren Kindern durchgesetzt haben und die ihre Kinder nicht in emotional-empathischer Weise unterstützten. Die Kinder wurden von ihr als willfährige Wesen dargestellt, die keinen Ungehorsam kannten, sondern die die Wünsche der Eltern stets erfüllten. Dass sie wie viele andere kurdischen Kinder die Ziegenherde führen musste, war aus ihrer Sicht eine Zwangshandlung, die sie eigentlich nicht wollte. Dolmetscherin: Als sie 13 war, eines Tages kamen auf einmal in das Dorf die Soldaten. Mein Onkel und ich waren im Obstgarten und die fragten nach meinem Vater. Ich habe nicht auf meinen Onkel gewartet, ich bin schnell gerannt. Ich habe zu meinem Vater gesagt: Die Soldaten sind da. Die haben einfach meinen Vater weggenommen. Erva Coskun: /6/ Dolmetscherin: Die haben ihm Handschellen angelegt und ich habe geguckt. Ich habe geweint, mein Vater hat auch geweint. Und der ist nie mehr zurückgekommen. Dass türkische Soldaten in den kurdischen Gebieten präsent waren, gehörte in jener Zeit zum Lebensalltag des kurdischen Mädchens. Der jeweils konkrete
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Zeitpunkt und die Verschleppung des Vaters waren dennoch überraschend. Trotz des Wissens und der Erwartbarkeit des Erscheinens türkischer Soldaten, der möglichen Verschleppungen und der Folter von Personen hoffte auch Frau Coskun, dass sie von der Gewalt und der Verfolgung verschont bleiben würde. Der Kreis um Erva Coskun wurde immer enger. Die einzige Möglichkeit in einer Situation, in der Handeln unmöglich wurde, zu reagieren, war wahrzunehmen und zu kommunizieren. Zuerst konnte Erva Coskun noch rennen, dann noch kommunizieren und schließlich nur noch „gucken“ und „weinen“. Die Handlungsoptionen wurden eingeschränkt, bis die Ohnmacht des Kindes und seines Vaters unumgänglich wurden. Dass dem Vater Leid zustoßen würde, war sicher. Das Militär hatte die Macht, der Vater hatte keine Macht. Der Ausdruck von ihren Gefühlen und ihren Wahrnehmungen blieben Erva Coskun als einzige Handlungsmöglichkeiten, mit dieser zunehmend heteronomen Situation umzugehen. „Und der ist nie mehr zurückgekommen.“ Ihr Vater wurde in diesem Satz objektiviert. Die Distanzierung, die durch die Objektivierung zum Ausdruck gelangte, bedeutete eine Distanzierung vom Vater und zeigte die Perspektivlosigkeit der realen Situation, die sich nie wieder ändern würde. Die Distanzierung vom Vater war eine Bewältigungsstrategie, die Erva Coskun das uneindeutige Verschwinden einer ihrer wichtigsten Bezugspersonen ermöglichte. Die türkische Staatsmacht war in der Lage, KurdInnen „wegzunehmen“ und „einfach“ über Menschenleben zu bestimmen. Während dieses Erzählabschnitts wurde auch das Umfeld mit der Macht der TürkInnen konfrontiert und zur ohnmächtigen ZuschauerInposition gezwungen. Die generell begrenzte Handlungsfähigkeit des Kindes Erva Coskun wurde durch die ohnmächtige Position als Kurdin verstärkt. Diese Erfahrung ist einerseits eine tiefe Krisenerfahrung Erva Coskuns und markiert andererseits einen Wendepunkt in ihrem Leben. c) Ein starker Junge? Ja, meine Familie. Hm. Ich wollten was, na ja, vier, äh, meine Papa, hat v=vier Bruder [Hm] und ä, ich hab=war hm, meine äh, Opa nicht gesehen nur meine Oma gesehen, (war) ich hab eine süße Oma [Hm], war meine Oma ein Mann nicht. [Hm] Äh, wann, war meine Oma ein Mann nicht, war meine Opa mit meine Oma heiraten, [Hm] und, meine Oma, äh, Muslim. [Ah ja, hm] Dann, Muslim, ne. Weil ich haben wirklich, war eine gute Oma. Frau Coskun entfaltete das Verwandtschaftssystems väterlicherseits. Sie begann in der Logik des Patriarchats mit ihrem Vater und seinen Geschwistern. Sie lokalisierte ihren Vater in seiner Rolle als Kind und als Bruder. Die Hauptthemen dieses Familienzweigs, die Frau Coskun voranstellte, waren die Geschwis-
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terkonkurrenz und die Erbnachfolge. Die Oma väterlicherseits wurde hervorgehoben. Über sie erzählte Frau Coskun detaillierter, statt sie nur aufzuzählen. Sie war eine wichtige Bezugsperson Frau Coskuns (siehe oben). Die „gute Oma“ hatte Zeit für ihre Enkelin und nahm mit ihrer Lebensgeschichte und den Eigenschaften eines „Mannes“ eine zentrale Rolle für die Entwicklung von Frau Coskun ein. Die Oma musste zum Islam konvertieren, aber sie konnte leben und frei sein, wie es eigentlich nur ein Mann konnte. Gleichzeitig bewahrte diese Großmutter ihre Lieblichkeit, sie war „süß“. Diese Eigenschaften dienten Frau Coskun als Orientierungshilfe für ihr eigenes Handeln und ihre Vorstellung von Geschlechterrollen. … Und dann, hm, na ja, das ist mit, meine Cousin, und, war Mama, und die Mama, meine ä, Onkel Frau so mit Mama immer machen äh, uns Problem. [Hm] Ja? [Hm, hm] Und äh wir Kinder. Und dann: wann Mama sagen darfst du nicht mit Cousin reden, wir reden nicht mit Cousin. [Hm] Ja? Bisschen kurdische ä Charakter, war ganz andre wie (1) [Hm] deutsche, na ja. Ganz andre. [Hm] Und, äh, hama sagen, jetzt Kinder kommen in Schule, gehen spazieren oder, ((sehr schnell)) mit Kinder spielen oder Hausaufgaben machen hama so was überhaupt nicht gesehen. [Hm, hm] Ne, war ich immer ähm draußen, immer gehen arbeiten, ähm, so, was sagen, m (3) wie, Dorf was machen. Die Kernfamilie lebte in der unmittelbaren Nachbarschaft mit den Familien der Geschwister des Vaters zusammen. Die Modernisierung reichte nicht für einen Wegzug an einen neutralen Ort, an dem die Kernfamilie auf sich gestellt gewesen wäre. Die Schwägerinnen gerieten immer wieder in Konkurrenzsituationen und in Streit miteinander. Ihr Konflikt übertrug sich auf das Verhalten ihrer Kinder, auf das der Cousins und Cousinen, die stellvertretend für den Konflikt ihrer Mütter keinen Kontakt haben sollten. Die Erzählerin begründete den Streit und den Umgang mit ihm mit der kulturellen Besonderheit des “kurdischen Charakters“. Aus ihrer Perspektive ist der Familienzwist eine Besonderheit ihrer Herkunftskultur. Dass in diesem Beispiel die Kinder in den Streit der Erwachsenen integriert wurden, ist entgegen der Annahme Frau Coskuns kein einzig kurdisches Phänomen, sondern findet sich in vielen anderen Kulturen. Für Frau Coskun hatte es „keine Kindheit“ (im westlich modernen Verständnis) gegeben. Ihre Kindheit bestand aus Arbeiten. Der Schulbesuch wäre theoretisch auch für sie Pflicht gewesen, doch verbot ihr den Besuch ihr Vater. Diese Entscheidung bedauerte sie, arrangierte sich jedoch damit und legitimierte sie retrospektiv. Die Kinder Frau Coskuns haben es besser. In dieser Sequenz benennt Frau Coskun sich als Opfer der kulturellen und familiären Rahmenbedin-
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gungen. Durch ihre fehlende Bildung blieben ihr insbesondere in Deutschland verschiedene Lebensperspektiven versagt. d) David oder Goliath? ... so stark ... niemand kann mich schlagen ... Und: ... niemand schlagt... macht alles selber. Erva Coskun konnte sich als Kind gegenüber anderen Menschen durchsetzen, weil sie körperliche Stärke besaß und ungewöhnlich selbständig war. Die Immunität gegenüber Gewalteinwirkungen durch andere ist eine wichtige Säule ihres Selbstbildes. Sich raufen und schlagen wird traditionell bzw. stereotyp in der kurdischen, aber auch westlichen Kulturen, dem männlichen Geschlecht zugeschrieben, die ihre Kraft messen wollen und in Konkurrenz zueinander stehen. „Schlägereien“ waren und sind bei kurdischen Mädchen unüblich. Mädchen bzw. Frauen sind „normalerweise“ die Opfer von Gewalt. Innerfamiliäre Gewalt ist in kurdischen Familien nicht unüblich. Eine weitere Gewalteinwirkung konnten KurdInnen durch TürkInnen erwarten. Erva Coskun war bereits als Kind so stark, dass sich niemand traute, ihr Gewalt anzutun. Sie ließ sich nicht zum Opfer machen und zeigte Stärke und Wehrhaftigkeit. Sie entwickelte als Kind Potentiale, die ihr auch später helfen konnten, sich nicht als (Folter-)Opfer, sondern zügig wieder als handelndes Subjekt zu konstituieren. Sie war als Mädchen unabhängig und autonom in ihrer körperlichen und moralischen Integrität. Ihre Integrität wurde durch ihren Vater bis zu seinem „Verschwinden“ geschützt. Inwieweit diese selbstverständliche Integrität nach dem Verschwinden des Vaters, nach ihrer Folter und der Verfolgung rehabilitiert werden konnte, ist fraglich. Ihre Kraft zog Frau Coskun aus der engen emotional stärkenden Beziehung zu ihrer Großmutter, der armenischen männlichen Außenseiterin. Weitere Anerkennung für ihre Stärke erhielt Erva Coskun von anderen Familienmitgliedern und der Nachbarschaft. Diese Eigenschaften verhalfen dem Mädchen Erva Coskun zu einer großen Beliebtheit. Die Autonomieentwicklung Frau Coskuns reichte aber nicht so weit, dass sie vor ihrem Mann ihre Lebensgeschichte hätte erzählen können, eine führende Position innerhalb der Partnerschaft ausfüllen könnte oder glücklich mit ihrer ökonomischen Selbständigkeit wäre. Diese Transformation der Zwangsehe zur partnerschaftlichen Beziehung konnte sie nicht realisieren. e) Papas Liebling ... ((betont)) ich viel wie Junge, nicht wie Mädchen und die liebe überhaupt, äh, ich, ich nicht lieben. Und: Mein Papa sagt: ... meine Jungs kommt ... so viel mich liebt.
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Frau Coskun distanzierte sich während ihrer Kindheit von ihren Geschlechtsgenossinnen. Sie bezog sich auf die Ungleichbehandlung der Geschlechter in ihrer Herkunftsgesellschaft, bei der Mädchen und Frauen abgewertet wurden. Mädchen wurden als weniger liebenswert konstituiert. Indem Erva Coskun unreflektiert den Grund für die Liebe ihres Vaters in ihrer „Geschlechtstransformation“ zum Jungen suchte, reproduzierte sie die patriarchalen Sichtweisen und Abwertungen des weiblichen und Aufwertungen des männlichen Geschlechts. Frau Coskun orientierte sich an der männlichen Perspektive aus, zu der auch sie sdazugehörte. Sie war ein „Junge“, aber kein Mädchen, das sich dieselben Rechte und Möglichkeiten, wie Jungen sie normalerweise hatten, eroberte. Die stereotypen Geschlechterrollen wurden auch retrospektiv nicht in Frage gestellt. Es sind oft die leistungs- und berufsorientierten „Vater-Töchter“, die die Grenzen der stereotypen Rolle als Mädchen nicht anerkennen und durch Disziplin, Stärke und stereotyp männliche Eigenschaften Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten. (Onken 2000, S. 121-158) Diese Grenzüberschreitungen (bzw. Grenztransformationen) waren in der kurdischen Kultur für Mädchen bzw. Frauen nicht vorgesehen. Als Junge hatte Frau Coskun während ihrer Kindheit und Jugend Fähigkeiten und Orientierungen entwickelt, die durch die Migration in ein westlich-modernes Land auch während ihres Erwachsenenalters weitergelebt werden konnten. Erva Coskun war und ist in Deutschland erwerbstätig und finanziell unabhängig. In biografischen Zeiten, in denen sich weibliche Identität ausbildet, beschrieb sich Erva Coskun bezüglich ihres „role taking“, ihrer sozialen Identität (Goffman 1990) als „Junge“. Ihr Vater förderte sie, als er noch lebte, in ihrer „Jungenhaftigkeit“. Damit signalisierte er die herausragende Stellung Erva Coskuns innerhalb der Familie und ermöglichte eine intensivere Beziehung zu seiner Tochter, als in kurdischen Kontexten normal war, ohne in den Verdacht des Inzesttabus zu geraten. Nur auf diese Weise konnte Erva Coskun freier sein als andere Mädchen. f) Der Wunsch nach Altbewährtem Dann hab- äh ges-, äh (2) die meine Nachbarn mich lieben, ich hab keine Ahnung, dass es mich sehr liebt. Die Junge ... später kommen, sagen: „Ich sehr Dich lieben. Ähm, na, ich bin sehr traurig ..., weil ich dich nicht gesehen, so. … Komm mit mir. Mer gehen weg.“ [Hm] Und dann ich hab aber gesagt: „Nein. Nee.“ Und anderen die meine Mama mich geben. Mein Mama mich geben. In dieser Situation zeigten sich in anderer Weise die Grenzen der Autonomiebereitschaft Erva Coskuns. Die Mutter bestimmte das Familiengeschehen
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zum Nachteil ihrer Tochter. Obwohl Erva Coskun von dem Jungen aus der Nachbarschaft, der sie liebte, affektiv berührt war, hielt sie die Traditionen und Normen ein, nach denen nicht sie über die Heiratswahl entscheiden konnte, sondern das Familienoberhaupt, die Mutter. Die Mutter gab als „Besitzerin“ ihre eigene Tochter an einen Mann weiter, zu dem die Erva Coskun vor der Hochzeit keine Beziehung aufgebaut hatte und den sie zudem nicht mochte. Der Wert der Liebe wurde sehr deutlich unter den der Tradition und der pragmatischen Heiratsstrategien gestellt. Das Matriarchat führte für Frau Coskun zum Unglück. Frau Coskun entschied sich in dieser Situation rational und nicht für eine „Romeo und Julia“ Variante, die ihr der Nachbarjunge anbot. Eine solche Heirat wäre in einer modernisierten kurdischen Familie damals auch schon denkbar gewesen, zumal der Nachbarjunge der Mutter bekannt gewesen war. Es wurde durch die Wiederholung der Worte „Mein(e) Mama mich gegeben.“ deutlich, wie folgenreich diese Situation für das Leben Frau Coskuns war. Auch wurde ihre Ohnmacht, Resignation und ihr Liebesunglück hierdurch zum Ausdruck gebracht. … Und dann ich kommen hier auch, Mann überhaupt nicht verstehen deutsch, und kann nix, mach alles ich, ... ich gehen zum Anwalt, ich gehen zum Ausländerbehörde, ich gehen zum Arbeitsamt, ich mach alles. Und ich hab so Schnauzen voll. Und ich ... arbeiten, bis jetzt. Die jeden Tag, ganz viel, nicht zehn Stunden ... So, ich bin, ja, und da ich abends so gehen nach Hause, mich Kinder warten, und die Kinder mich fragen: Mutti, du morgen gehen du wieder zum Arbeit oder nein? Dann ich sag: Ja. Und dann sagt: Warum du gehen zum Arbeiten, warum Papa nicht, und du arbeiten? In dieser Interviewpassage verdeutlicht sich Frau Coskuns eheliches und partnerschaftliches Unglück. Sie wünschte sich eine Beteiligung an der Organisation des Familienlebens durch ihren Ehemann. Auch beschäftigte sie die Frage seiner nicht vorhandenen Berufstätigkeit, die sie in dieser Sequenz stellvertretend durch den Mund ihrer Kinder formulierte. Sie wünschte sich die Wiederherstellung der Normalität traditioneller Geschlechterrollen, bei der Herr Coskun Stärke zeigen, in die Öffentlichkeit rücken und die Familie versorgen sollte. Herr Coskun war nicht in der Lage, seiner Ehefrau zur Seite zu stehen. Mit ihrer ungefestigten Autonomie war Frau Coskun mit diesen Herausforderungen überfordert. Den Wunsch nach einer traditionellen Normalität gab Frau Coskun in dieser Sequenz aus der Perspektive ihrer Kinder wieder und objektivierte dadurch ihre eigene Haltung ihrem Mann gegenüber. Durch die Fragen aus den Mündern ihrer
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gemeinsamen Söhne wurde die Anormalität und die Unhaltbarkeit der Situation verdeutlicht. Der Ehemann wurde als Versager dargestellt, der durch seine Krankheit die Rolle der Familienautorität und des Versorgers nicht nachkommen konnte. Erva Coskun managte das Familiäre, das alltäglich Organisatorische und war und ist darüber hinaus erwerbstätig. Sie konnte ihre Lebenssituation nicht ändern, aber sie akzeptierte sie auch nicht. Die Unzufriedenheit beherrschte Frau Coskun und eine Lösung dieses Zustands war nicht in Sicht. …Und dann, äh hier auch zwei-, dreimal mich schlagen, und dann einmal ich hab gesagt, dass es reicht, [Hm] wenn noch mal du mich schlagen, ich gehen zum Polizei, [Hm] ne. Ich sag, ich bin auch Mensch, [Hm] und, du denken du bist Mann, alles kennst du oder weißt du, das ist nicht so richtig, ne. [Hm] Und dann Schluss, [Hm] schon drei, vier Jahre überhaupt nix. [Hm] Das ist so mich helfen, und die Teller waschen, auch bügeln machen, [Hm] Kinder f, äh, für Kinder Essen machen. [Hm] Das ist, ja, jetzt gut, jetzt ich hab keine Probleme so, mit Mann Erva Coskun emanzipierte sich während ihrer Zeit in Deutschland so weit von ihrem Ehemann, bis er keine physische Gewalt mehr gegen sie ausübte. Das Eheleben war vorher von Gewalt geprägt gewesen. Das, was Frau Coskun in ihrer Kindheit nicht widerfuhr, widerfuhr ihr während ihrer Ehe. Auch hierin zeigt sich ihre eingefrorene Autonomie, die sie innerfamiliäre Gewalt lange ertragen ließ. Erst durch die Migration und die Schutzmöglichkeiten, die in Deutschland für Gewaltopfer wie sie bereitstanden, konnte sich Frau Coskun aus der innerfamiliären Gewalt befreien. Ihre Drohung, zur Polizei zu gehen, schien Herrn Coskun beeindruckt zu haben. Er begann sogar, ihr im Haushalt zu helfen. Dies war eine besondere Entwicklung für einen kurdischen Mann. Diese Situationsbeschreibung steht im Widerspruch zur vorherigen Sequenz, in der sich Erva Coskun über die eheliche Rollenverteilung beklagte. Die Sequenzen könnten sich insofern ergänzen, dass die Ausgangssituation der atypischen Rollenverteilungen für Frau Coskun eine Belastung darstellte, die sie gerne ändern würde. Andererseits war sie über die Gestaltung der grundsätzlich für sie beklagenswerten Situation zufrieden. Herr Coskun half wenigstens im Haushalt und organisierte das Privatleben der Familie mit. Frau Coskun war und ist für die Außenaktivitäten in der Öffentlichkeit und die Erwerbstätigkeit zuständig. ... naja, ich haben vier Kinder, und, ich immer, überlegen, das auch geht nicht, kann du machen Schluss. [Hm] Für Kinder schwer, bei uns ganz andre. [Hm] … Ich kann nicht und ich darf nicht, das ist bei uns, bisschen schwierig. [Hm] Und
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dann ich bin auch sehr müde und sehr traurig (2) [Hm] Ama, das ist, das ist schön, ich haben vier Kinder, … Und ich sagen: Mann, egal. In dieser Sequenz formuliert sie den „Kompromiss“, den sie einging: Einerseits wollte sie sich von ihrem Ehemann trennen und andererseits konnte sie diesem Wunsch aufgrund ihrer kulturellen Prägungen nicht nachgehen. Sie nahm sich und die Kultur, die sie geprägt hatte, als getrennt von der Kultur wahr, in der sie lebte. Sie durfte nicht so handeln, wie Deutsche handelten und sich scheiden lassen. Statt sich der Ehe zuzuwenden, wendete sie sich von ihr ab, blieb unglücklich mit ihr und konzentrierte sich auf ihre geliebten Söhne. Sie resignierte. Sie formulierte, dass sie am Ende ihrer Kräfte stand, „sehr müde und sehr traurig“ war. Sie konnte keine Kraft mehr aufbringen, das bestehende Problem zu lösen. Stattdessen floh sie in die angenehme Beziehung zu ihren Kindern. Frau Coskun wandte sich von der problematischen Ehebeziehung ab und den unproblematischen innerfamiliären Beziehungen zu. Die Kinder definierte sie als einen Grund, sich nicht von ihrem Mann trennen zu können. g) Umgang mit Angst und Schrecken Dann kommen jeden Tag Soldaten, Mann nicht zu Hausen schläft. [Hm] Und dann wir haben Angst. Der Einbruch in die persönliche Integrität begann für Frau Coskun mit der Zwangsheirat und wurde durch die bedrohlichen Verfolgungssituationen auf einer anderen Ebene fortgesetzt. Die Dauerpräsenz staatlicher Gewalt rief bei Frau Coskun Angst hervor. Die Situation steigerte ihre Bedrohlichkeit, da der Ehemann während der Übergriffe und des täglichen Einmarschierens der Soldaten seine Frau und Kinder während der Gefahrensituation alleine ließ. Herr Coskun floh mit allen anderen Männern des Dorfes vor den Soldaten in die Berge, da sie fürchteten, umgebracht zu werden. Damit lieferten die Männer ihre Ehefrauen und Kinder dem türkischen Militär aus und nahmen in Kauf, dass ihren Familien sexuelle oder andere Gewalt angetan werden konnte. Mit diesen Verfolgungssituationen begann der Glaube an ihre eigene Stärke, Kraft und Macht abzunehmen und sich aufgrund ihrer tatsächlichen Ohnmacht in Angst zu verwandeln. Das subjektive Gefühl des Verlassen- und Ausgeliefertseins und die damit verbundene realistische Angst vor Gewalteinwirkungen, sozialer und individueller Demütigung wurde durch die Abwesenheit ihres Ehemannes und der anderen Männer des Dorfes verstärkt. Ob Herr Coskun seine Familie hätte tatsächlich beschützen können, ist fraglich. Das Empfinden des Beschütztseins und die innerfamiliäre Solidarität hätte die Anwesenheit Herr Coskuns dennoch gestärkt und waren für Frau Coskun von großer Bedeutung. In diesen Situationen wurde die
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emotionale Distanzierung des Paares re-produziert. Neben ihrer Wut und Enttäuschung begann die fortschreitende Abwertung Herr Coskuns durch Erva Coskun. Kontext: Die folgende Sequenz stammt aus einem Buch über Flüchtlingsschicksale, in dem Frau Coskun über ihre Folterungen erzählte. Die Literatur wird nicht angegeben, um die Identität Frau Coskuns zu schützen. Später kamen die Uniformierten wieder und haben mich auf die Polizeistation mitgenommen. Und dort wurde ich geschlagen, gedemütigt und misshandelt. Ich sollte mich ausziehen, sie wollten mich vergewaltigen. Als ich mich wehrte, brachten sie plötzlich meinen Mann dazu. Ich wusste nicht, dass sie ihn auch abgeholt hatten. Er sollte dafür sorgen, dass ich mich ihnen fügte. Als das nicht funktionierte, wurde ich wieder geschlagen, an den Haaren gepackt und gegen die Wand geschleudert, so dass die Nase blutete. Aufgehört haben sie erst, als sie meinem Mann die Augen verbanden und mit den Worten: „Dann erschießen wir ihn!“ wegbrachten. Ich will nicht, dass dieser Tag nochmal geschieht. Nach dem wiederholten Einmarschieren der Soldaten in das Dorf, passierte das, wovor sich Frau Coskun immer fürchtete. Die Soldaten nahmen sie und ihren Ehemann mit zur Polizeistation und folterten sie. Die Angst und Ohnmacht, die Frau Coskun empfand, als sie alleine mit ihren Kindern und anderen Frauen und Kindern im Dorf bleiben musste, verwandelte sich in Realität und das Befürchtete trat ein. Die Folterer provozierten Frau und Herrn Coskun, damit Frau Coskun sich unter Anwesenheit ihres Ehemannes vergewaltigen ließe. Die Folterer griffen in die Intimsphäre des Paares ein und drohten mit Entehrung, die eine Vergewaltigung bedeuten würde. In dieser Situation blieb für Herrn Coskun unklar, ob Frau Coskun, nachdem er den Raum verlassen hatte, noch vergewaltigt wurde. Das Misstrauen wurde durch diese (drohende sexuelle) Folterung in die Paarbeziehung eingepflanzt und hatte weit reichende Folgen für die eheliche Intimität und das gegenseitige Vertrauen. Nachdem sich Frau Coskun erfolgreich gegen die angedrohte Vergewaltigung gewehrt hatte, wurde sie in den Glauben versetzt, dass ihre Weigerung, sich vergewaltigen zu lassen, den Tod ihres Mannes zur Folge haben würde. Auch an dieser Stelle wurden Schuldgefühle oder Schuldvorwürfe evoziert. Mit diesen Situationen, die das Ehrgefühl, den Stolz, das Selbstvertrauen und das allgemeine Wohlbefinden tief erschütterten, musste das Ehepaar leben. Aus dem Genogramm und anderen Stellen des Interviews wurde deutlich, dass Frau Coskun ihren Ehemann abwertete und sich einen anderen Mann, der seine traditionelle Rolle erfüllen würde, an ihre Seite wünschte. Die Foltererfahrungen nahmen dabei Einfluss auf das Vertrauen, die Schuldgefühle und den gegenseiti-
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gen Respekt innerhalb der ehelichen Beziehung. Die in dieser Sequenz beschriebene Folterstrategie, die die Opfer zu MittäterInnen machten und die eheliche Beziehungs- und Vertrauensfähigkeit zerstörten, wird insbesondere von Staaten eingesetzt, die den Zusammenhalt und den Widerstand einer sozialen Gruppe zerstören wollen. h) Rollenkonfusionen ... ich bin nicht Mutti für die Kinder, du denken, ich bin Freundin. Ich so immer mit Kinder lebt, immer lacht, immer überhaupt nicht böse. Wirklich immer ... und dann meine Kinder sehr mich liebt. Auch ich. Frau Coskun präsentierte sich in dieser Sequenz als Freundin und nicht als Mutter ihrer Kinder und brachte so die Position der Mutter innerhalb der Generationenachse zum Verschwinden. Ihre Aussage beinhaltete, dass sie sich in die generationale Ebene ihrer Söhne stellte und sich als Mutter statt auf der Elternebene auf der Kinderebene positionierte. Eine triadische Eltern-Kind-Beziehung, die mit unterschiedlichen Rollenaufgaben und Verantwortlichkeiten verbunden ist, wurde von ihr verweigert. Wie bereits oben formuliert war sie stärker an den gut laufenden Beziehungen zu ihren Söhnen als an einer Verbesserung der zerrütteten Ehebeziehung interessiert. Diese familiäre Situation manifestierte den eingefrorenen Ablösungsprozesses Frau Coskuns. Durch die Idealisierung ihres (abwesenden) Vaters entstand ein Bild des immer guten, niemals bösen Vaters, dessen Eigenschaften Frau Coskun als immer gute und lachende FreundinMutter an ihre Kinder weitergeben wollte. In ihrer Kernfamilie war auch Frau Coskun in ihrer Mutterrolle abwesend. Sie machte sich zur Freundin ihrer Söhne. Frau Coskun glaubte, dass ihre Söhne sie sehr liebten, weil sie nie böse war und immer lachte. In diesem Sinne wäre die Liebe ihrer Kinder an ein äußerst positives, entgrenztes und autoritätsfeindliches Handeln der Mutter gekoppelt. Die Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern ist bei einer verantwortungsvollen Rollenübernahme der Eltern mit konstruktiv und liebevoll ausgeübter Autorität und Grenzsetzung verbunden, um ihren Kindern auch Handlungsoptionen in problematischen und frustrierenden Situationen aufzuzeigen. Die Liebe, die hier beschrieben wurde, ist eine, die keine Grenzen und Konflikte kennt, die nicht vermitteln kann, wie Streit oder soziale Regeln und Grenzen konstruktiv gelebt werden können. Die Generationsachse wurde verschoben, so dass Herr Coskun alleine auf der Ebene der Eltern blieb. Frau Coskun entsolidarisierte sich von ihrem Ehemann. Die Kinder wurden in eine Koalition mit ihrer mütterlichen Freundin gebracht. Herr Coskun wurde isoliert. Herr Coskun war den verschiedenen Anforderungen an ihn offensichtlich nicht gewachsen und wurde krank. Das war seine Strategie, mit den Überforderungen umzugehen. Frau Coskun ent-
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zog sich ihrer Verantwortung, indem sie aus ihrer Elternrolle floh und ihrem Ehemann nicht zur Seite stand bzw. ihren Söhnen keine Mutter sein konnte. Die eingefrorene Autonomie Frau Coskuns war nur innerfamiliär gültig. Die Beziehung zu ihrem Chef, einem Dönerladenbesitzer, gestaltete Frau Coskun wie zu einem Partner in einer Paarbeziehung. Frau Coskun und ihr Chef besprachen sich, entschieden gemeinsam und er unterstützte sie, wenn sie Hilfe benötigte. Sie handelten solidarisch dem anderen gegenüber und respektierten einander.
4. Z USAMMENFASSUNG DER F ALLSTRUKTURHYPOTHESEN Die innerfamiliär gelebte Entscheidungsmacht der Mutter von Erva Coskun wurde zum negativen Vorbild für die Autonomie der Lebenspraxis. Die Rolle der Entscheidungsträgerin war und ist für Erva Coskun keine frei gewählte. Mit dem praktischen Matriarchat ging stets eine Unzufriedenheit und persönliches Leiden Erva Coskuns einher. Der Verlust der Großmutter väterlicherseits und des Vaters in Kinderjahren bedeutete für Erva Coskun, zwei wichtige Bezugspersonen zu verlieren. Der Tod dieser beiden Identifikationsfiguren bedeutete einen Bruch und ein Einfrieren ihrer Autonomieentwicklung. Niyazi Coskun verweilte durch seine Krankheiten und seine Arbeitslosigkeit in einem Zwischenraum. Das Ehepaar pflegte kaum außerfamiliäre Kontakte und delegierte den sozialen Aufstieg in die nächste Generation. Frau Coskun nahm sich während ihrer Kindheit einerseits als hochgradig abhängig und gehorsam wahr. Ihre Kindheit war keine unbeschwerte, freie und schöne. Auch die Erfahrungen der Ohnmacht gegenüber türkischen Soldaten prägten ihr Erleben und das Wahrnehmen ihrer begrenzten Handlungsmöglichkeiten. Die Großmutter hatte bei der Entwicklung Erva Coskuns eine herausragende Vorbildfunktion inne. Die „typisch männlichen“ Eigenschaften der Großmutter wie Freisein und ein großer Handlungsspielraum beeindruckten Frau Coskun und beeinflussten ihr Orientieren und Handeln nachhaltig. Diese Großmutter hielt große Transformationspotentiale für die nachfolgenden weiblichen Familienmitglieder bereit. Das Mädchen Erva Coskun erfuhr andererseits Liebe, Anerkennung und positive Aufmerksamkeit, weil sie so autonom wie ein Junge war und als solcher wahrgenommen und behandelt wurde. Die Folter führte für das Ehepaar Coskun zu einer weiteren Störung des Vertrauens und der innerfamiliären Struktur. Obwohl unklar blieb, ob Frau Coskun
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vergewaltigt wurde, verließ Herr Coskun untypischerweise seine Ehefrau nicht oder stellte auf andere Weise seine Ehre wieder her. Dies spricht für ein gewisses eheliches Transformationspotential.
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D IE K RISENHAFTE : K ADIN ARSLAN
1. D IE L EBENSGESCHICHTE
IM
Ü BERBLICK
Kadin Arslan, geborene Canavar, wurde als erstgeborenes Kind 1966 in den kurdischen Gebieten der Türkei geboren. Ihr Heimatdorf liegt im Südosten der Türkei. Dort lebte sie, bis sie zwölf Jahre alt war. Die Kernfamilie zog danach in die nächstgrößere Stadt um, als sich die Verfolgungssituationen in der Region ihres Heimatdorfes verstärkten und die Dörfer zerstört wurden. Außer Frau Arslan gingen alle ihre Geschwister zur Schule. Ihre Aufgabe als erstgeborenes Mädchen war es, den Haushalt zusammen mit ihrer Mutter zu organisieren und verantwortlich für ihre jüngeren Geschwister zu sein. Frau Arslans Zukunftsperspektiven wurden beschränkt. Der Vater der Familie Canavar arbeitete seit dem Umzug in die Stadt bei der Kommune. Die Herkunftsfamilie Kadin Arslans, vor allem ihre Mutter und ihre Brüder, identifizierten sich mit dem kurdischen Widerstand, den sie aktiv unterstützten. Der innerfamiliäre Widerspruch der Unterordnung und des Widerstands gegenüber der türkischen Staatsmacht ist mit der besonderen Situation in den kurdischen Gebieten der Türkei erklärbar. Einerseits musste zum Überleben eine Anpassung an das herrschende System erfolgen, andererseits war gleichzeitig eine Orientierung an der kurdischen Freiheitsideologie möglich. Kadin Arslan heiratete ihren Kreuzcousin. Diese Hochzeit war vorschriftsgemäß und gleichzeitig eine Liebeshochzeit. Nach ihrer Hochzeit blieb Kadin Arslan ungewöhnlich eng mit ihrer Herkunftsfamilie verbunden, die lange Zeit in der Nachbarschaft lebte. Remzi Arslan, ihr Ehemann, war als LKW-Fahrer oft abwesend. Kadin Arslan unterstützte in dieser Phase ihre Geschwister in allen Krisensituationen und geriet so selbst in die Gewalt der türkischen Polizei. Sie wurde zusammen mit ihrem erstgeborenen Sohn gefoltert. Kurze Zeit später gelang ihr mit Hilfe ihres Vaters die Flucht nach Deutschland, der sich auch ihr Ehemann Remzi Arslan anschloss. Die Familie mit damals zwei Kindern lebte einige Jahre in Erfurt in einem Flüchtlingsheim, bevor sie nach Hamburg umziehen konnten. Hier besuchte Kadin Arslan einige Jahre PsychotherapeutInnen, lernte Lesen und Schreiben und Deutsch. Ihr Ehemann arbeitete zum Zeitpunkt der Genogrammerstellung bei einer Baufirma. Ihre vier Söhne gingen in weiterführende Schulen und waren sozial und schulisch im Aufstieg begriffen. Sie hatten einen gesicherten Aufenthaltstitel und lebten mit allen vier Söhnen in einer 3-Raum-Wohnung.
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2. D AS G ENOGRAMM – AMBIVALENZEN a) Die Rahmung Das Genogramm wurde während eines Telefongesprächs nach den beiden Interviews skizziert und anschließend ausgearbeitet. Das Telefonat dauerte 70 Minuten. Die Interviewte war während des Telefonats sehr konzentriert. Die Uhrzeit des Telefonats wurde von der Interviewten so gewählt, dass kein Familienmitglied Zuhause anwesend war. Das Telefonat war für sie so relevant, dass sie „Störeinflüsse“ ausschließen bzw. sie ihre Intimsphäre nicht vollständig mit ihrer Kernfamilie teilen wollte. b) Die väterliche Seite und die mütterliche Seite des Ehemanns – Polygyne Konkurrenz Die väterliche Seite Kadin Arslans ist gleichzeitig die mütterliche Seite der Herkunftsfamilie ihres Ehemannes, Remzi Arslans. Die Mutter Remzi Arslans war die älteste Halbschwester des Vaters Kadin Arslans. Der Großvater väterlicherseits lebte polygyn mit drei Ehefrauen, die er mit einigem zeitlichen Abstand heiratete. Er war so wohlhabend, dass er drei Frauen mit Kindern versorgen konnte. Polygynie bedeutet neben Reichtum auch, stark patriarchale familiäre Strukturen zu reproduzieren und einen hohen Status des Patriarchen zu ermöglichen, der mit jeder weiteren Frau gesteigert wurde. Der Großvater väterlicherseits gehörte dem sunnitischen Islam an, welche die Polygynie religiös erlaubte und tradierte. Polygynie wurde (und wird) im Islam auf vier Ehefrauen beschränkt, wobei der Ehemann im islamischen Recht nur weitere Frauen ehelichen darf, wenn es ihm seine erste Ehefrau erlaubt. Zudem muss er nach islamischem Recht allen Ehefrauen ein Vermögen, eine eigene Mitgift und einen eigenen Haushalt ermöglichen. Die Ehefrauen leben manchmal sogar in verschiedenen Städten. Polygynie ging und geht mit verschiedenen Schwierigkeiten einher, die sich z. B. in der Konkurrenz der Frauen untereinander zeigte. Diese Konkurrenz konnte zu Vertreibungen einer bzw. mehrerer Frauen bzw. deren Kinder und zu großen Streitigkeiten führen. Je nach hierarchischer Position der beteiligten Frauen konnten diese Streitigkeiten politische Zerwürfnisse mit sich bringen. (Kaser 1995, S. 189-190) Polygyne Ehegemeinschaften waren und sind in der Regel durch eine starke Hierarchie geprägt. Die erste Ehefrau war höher gestellt als die ihnen nachfolgenden. Die Höchstrelevanz beim Ehemann erreichte meist die jeweils jüngste Ehefrau, was die anderen Ehefrauen erboste. Zu dieser Konkurrenz der Ehefrauen kam nicht selten die Ungleichbehandlung ihrer Kinder, die je nach Rangordnung der Ehefrauen ebenfalls bevorzugt oder benachteiligt wurden.
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Gesellschaftsanalytisch war und ist die Polygynie Ausdruck einer Stratifikation zwischen Alter und Geschlecht, bei der ältere Männer jüngere Frauen heiraten und jüngere Männer entweder leer ausgehen bzw. ältere Witwen heiraten mussten. Diese Situation sorgte auf längere Sicht für soziale Spannungen und Frustrationserfahrungen der unverheirateten jüngeren Männer und der polygyn verheirateten Frauen. Statussicherung konnte und kann als wesentliches Element der Polygynie genannt werden. Das Auftreten von Polygynie war an politische oder ökonomische Systeme gekoppelt, in denen Menschen und nicht Land oder Güter die wichtigsten Ressourcen darstellten. Polygynie ist heute in den kurdischen Familien nur noch wenig verbreitet. Der polygyn lebende Großvater war laut Frau Arslan Bauer und hatte wahrscheinlich mehrere Angestellte. Er lebte mit seinen Frauen und Kindern innerhalb eines Dorfes. Die Beziehungen der Ehefrauen waren von Konkurrenz geprägt. Die Kinder wurden durch ihren Vater ungleich behandelt. Das erstgeborene Kind, die Mutter Remzi Arslans, wurde 1916, das letztgeborene Kind, der Vater Kadin Arslans, 1947 geboren. Diese beiden Kinder trennte eine ganze Generation. Geschwisterbeziehungen im Sinne von Kohabitationen waren aufgrund des großen Altersunterschieds nicht möglich. Sehr wahrscheinlich heiratete der Großvater seine dritte und letzte Ehefrau bereits während des Polygamieverbots, das in der Türkei 1926 offiziell mit der Einführung des neuen Zivilrechts eingeführt worden war. Mit seiner ersten Ehefrau zeugte der Großvater drei Kinder, darunter waren zwei Söhne. Mit der zweiten Ehefrau hatte der Großvater zwei Kinder, mit der dritten wiederum zwei. Insgesamt waren es sieben Kinder mit vier Brüdern und drei Schwestern. Jeder Familienteil, als getrennte Kleinfamilien gedacht, hätte in eine moderne europäische Familiennorm gepasst. Die jeweiligen Ehefrauen bekamen kontextuell verglichen wenige Kinder, was auf eine Familienplanung und Modernisierungsprozesse schließen lässt. Die Namensgebungen waren türkisch und traditionell. Als jüngstes Kind hatte der Vater Kadin Arslans einen vergleichsweise alten Vater, der bei seiner Geburt über 50 Jahre alt gewesen ist. Bekannt ist, dass der Großvater Frau Arslans in den 1960er Jahren starb. Da war ihr Vater jugendlich. Devin Canavar erlebte seinen Vater in noch größerer Distanz, als es bei KurdInnen bereits üblich war. Als letztgeborenes Kind hatte er keine Rechte auf Erbschaften und damit auch nicht auf eine Hochzeit, die sich ökonomisch oder sozial „nach oben“ hätte orientierten können. Ein Leben innerhalb der brüderlichen Hierarchie unter unmittelbarer Anwesenheit seiner nächsten Verwandten beendete Devin Canavar mit 29 Jahren und zog mit seiner Kleinfamilie in die nächstgrößere Stadt um und leitete einen Transformationsprozess ein.
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Die Mutter Remzi Arslans hatte als Erstgeborene gute Chancen, „nach oben“ verheiratet zu werden und abgesichert zu leben. Dies war eine gute Ausgangsvoraussetzung für den mütterlichen Strang Remzi Arslans. c) Die mütterliche Seite – Bäuerlicher Widerstand Die Herkunftsfamilie mütterlicherseits war eine Kleinbauernfamilie, die Subsistenzwirtschaft betrieb und einige Kleintiere besaß. Devin Canavar heiratete wie erwartet in eine Familie mit geringerem sozialem und ökonomischem Kapital. Die Großeltern mütterlicherseits gründeten nach ihrer Hochzeit zügig eine Familie. Die Kinder wurden in sehr kurzen Abständen geboren. Nach fünf Kindern war die Familienplanung abgeschlossen. Die Namensgebungen in dieser Kernfamilie waren von geringer inhaltlicher Aussagekraft. Zwei der Brüder Yonca Canavars, der Mutter Kadin Arslans, starben an Folterfolgen. Da sie Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre in einer Zeit gefoltert wurden, in der im Südosten der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob diese Brüder politisch besonders aktiv gewesen waren. Diese Vermutung lag jedoch nahe, da sich die Mutter Kadin Arslans stets auf die Seite der kurdischen Freiheitsbewegung gestellt hatte und ein aktives Mitwirken an ihr unterstützte. Von den Geschwistern Kadin Arslans lebten 2010 nur noch die beiden Schwestern Yonca Canavars. Der dritte Bruder war an einer Krebserkrankung gestorben. Das älteste Schwester lebte seit ihrer Vertreibung aus dem kurdischen Dorf mit ihrer Familie in Istanbul. Yonca Canavar lebte noch in Hinis ein traditionelles Leben als Ehefrau und Mutter. Sie ist Analphabetin. d) Die Eltern – Ambivalente Entscheidungen Die Eltern Kadin Arslans heirateten 1964, als die Mutter 14 Jahre und der Vater 17 Jahre alt waren. Es war eine arrangierte Hochzeit. Beide Herkunftsfamilien waren traditionell orientiert, wobei die Mutter aus einer ärmlicheren und politisch aktiven Familie stammte. Es wurde eine traditionelle Geschlechterhierarchie in der Ehebeziehung reproduziert. Da die Mutter auch nach dem Umzug in die Stadt keiner Berufstätigkeit nachging und keinen Bildungsaufstieg für sich in Anspruch nahm, blieb die Abhängigkeit innerhalb der ehelichen Beziehung bestehen. Devin Canavar heiratete in eine Widerstandsfamilie, die bezüglich der Wertevorstellungen und Ideologien ein wesentlich größeres Transformationspotential mitbrachte als seine Herkunftsfamilie. Die politischen Aktivitäten der Brüder Yonca Canavars gefährdeten aufgrund der „Sippenhaft“ sie und ihren Ehemann. Sie wurden gefoltert.
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Innerfamiliär vertrat Yonca Canavar auch nach den Folterungen am stärksten die Position, sich mit Gewalt gegen das türkische Militär aufzulehnen. Ihr Einfluss auf das Handeln ihrer Kinder war groß. Ihre Töchter unterstützten die Brüder im Widerstand und gerieten in den Fokus der türkischen Polizei. Auch sie, Kadin Arslan und ihre Schwestern, wurden gefoltert. Durch die Folterungen konnte eine der Schwestern, die zum Zeitpunkt der (sexuellen) Folter noch unverheiratet gewesen war, nicht mehr heiraten. Die bedingungslose Unterstützung des Widerstands hatte enorme Einschränkungen auf die Handlungsspielräume der gesamten Familie. Devin Canavar als jüngstes Kind wurde in seiner Herkunftsfamilie wenig in das Verantwortungssystem eingebunden. In dieses wurde er beruflich im Rahmen seiner Arbeit beim türkischen Staat als oberstes Ordnungssystem eingeführt. Als Staatsangestellter leitete er eine Assimilierungsgeschichte einer kurdischen Familie in den türkischen Staat ein. Die Familiengeschichte über Verfolgung, Widerstand und Folter stand im Kontrast dazu. Verglichen mit ihren beiden Herkunftsfamilien war die Kinderzahl Yonca und Devin Canavars hoch. Modernisierungsprozesse, die durch den Umzug in eine Stadt und das Leben in einer modernisierten Welt hätte entstanden sein können, wurden in der Elterngeneration kaum umgesetzt. Es ist davon auszugehen, dass in der Herkunftsfamilie Kadin Arslans traditionell patriarchale Strukturen herrschten, die sich auch darin zeigten, dass Kadin Arslan als älteste Tochter im Haushalt helfen musste und nach dem Umzug in die Stadt nicht mehr zur Schule gehen durfte. Als die Familie nach Hinis vertrieben worden war, stieg sie durch die Berufstätigkeit des Vaters ökonomisch und sozial auf. Das Paar und die Kleinfamilie konnten in der Stadt nicht mehr auf das Verwandtschaftssystem zurückgreifen, sondern war auf sich gestellt. Obwohl Devin Canavar für den türkischen Staat arbeitete, waren seine Söhne im Widerstand. Auch in dieser Zeit wurden er und seine Ehefrau kurzzeitig verhaftet und gefoltert, als ihr Sohn Erhan Canavar von der PKK-Guerilla zu seiner Schwester Kadin Arslan nach Hinis floh und entdeckt wurde. Kadin Arslan war das erstgeborene Kind der Familie. Dies bedeutete, dass eine Heirat nach oben angestrebt wurde. Die Mitgift fiel bei der erstgeborenen Tochter noch verhältnismäßig groß aus. Die arrangierte Heirat des Kreuzcousins war in kurdischen Gebieten weit verbreitet. Nur diese Heiratsform gewährleistete dauerhafte Reziprozitätsbeziehungen der Stämme/der Clans/der Großfamilien (Lévi-Strauss 1993). Eine Liebesheirat, die die Hochzeit Kadin und Remzi Arslans ebenfalls war, war ohne Einwilligung der Eltern aufgrund der traditionellen
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Orientierung ihrer Herkunftsfamilie nicht möglich. Mit Remzi Arslan heiratete Kadin Arslan statusbezogen etwas nach oben. e) Die väterliche Seite des Ehemanns – große Chancen unterschiedlich genutzt Die väterliche Seite der Herkunftsfamilie Remzi Arslans konnte Kadin Arslan kaum erinnern. Das Wissen setzte erst bei den Eltern Remzi Arslans und seinen Geschwistern ein. Auffallend bei den Eltern Remzi Arslans war deren spätes Heiratsalter und der geringe Altersabstand der beiden Eheleute zueinander. Der Vater Remzi Arslans, Mehmet Arslan, war lediglich ein Jahr älter als seine Ehefrau Banu Arslan. Sie heirateten, als Mehmet Arslan 25 Jahre und seine Ehefrau 24 Jahre alt waren. Diese späte Heirat und die vergleichsweise sehr späte Geburt des ersten Kindes, als die Mutter bereits 31 Jahre alt war, ließen auf eine Liebesheirat bzw. die Entscheidung der beiden füreinander schließen. Die späte Geburt des ersten Kindes konnte auf Probleme in der Zeugung von Kindern oder auf starke Autonomieorientierungen des Ehepaares, vor allem Banu Arslans, deuten. Diese Tatsachen sprachen für hohe Transformationspotentiale der Herkunftsfamilie Banu Arslans, die als erstgeborene Tochter normalerweise viel früher und in jedem Fall gleichrangig oder nach oben hätte verheiratet werden müssen. Diese Lebenssituation hielt für die aus einem stark patriarchal orientierten Elternhaus stammende Banu Arslan enorme Autonomisierungs- und Modernisierungsaspekte bereit Die Paarbeziehung wurde monogam geführt und war auch in diesem Aspekt an Partnerschaftlichkeit orientiert. Die Eltern Remzi Arslans lebten mit ihren Kindern in der ländlichen Region bei Hinis und betrieben einen großen Bauernhof mit einigen Angestellten. Sie besaßen ökonomisches Kapital und gehörten zur ländlichen Elite. Mehmet Arslan als erstgeborener Sohn erbte den Hof und den Reichtum der Familie. Remzi Arslan konnte, obwohl er kein Erstgeborener war, in eine ökonomisch sichere Zukunft schauen. Banu Arslan wurde in ökonomisch abgesicherte Verhältnisse verheiratet. Das Ehepaar bekam trotz später Heirat und des relativ hohen Alters der Mutter zur Geburt ihres ersten Kindes noch fünf weitere Kinder. Die ersten vier Kinder und das letztgeborene Kind waren Söhne. Nur das vorletzte Kind war eine Tochter. Die Namensgebungen der Geschwistergeneration Remzi Arslans deuteten auf religiöse sowie herrschaftsorientierende Familienwerte. Die beruflichen Orientierungen der Kinder gehörten größtenteils dem unternehmerischen Bereich an. Die beiden erstgeborenen Söhne migrierten nach Frankreich, wo sie zusammen mit ihren Ehefrauen und Kindern eine Baufirma leiten und betreiben. Der erstgeborene Sohn hat vier erwachsene Söhne, der
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zweitgeborene Sohn ist Vater einer bereits erwachsenen Tochter. Diese Berufssituation bedeutete in der Migration einen großen sozialen Aufstieg. Die beiden Brüder hatten in der ersten MigrantInnengeneration beruflich das erreicht, was bei vielen Flüchtlingsfamilien oder GastarbeiterInnen erst in der zweiten oder dritten Migrationsgeneration verwirklicht werden kann. Die Möglichkeitsräume für die kommenden Generationen dieser beiden Familien waren außerordentlich groß. Der drittgeborene Sohn wohnt in Hinis und betrieb dort einen Einkaufsladen. Er ist Vater einer Tochter und zweier Söhne. Der viertgeborene Sohn wohnt in Istanbul und ist Vermieter verschiedener Wohnungen. Er hat acht Kinder. Seine Binnenmigration und der Beruf sprechen für einen beachtlichen sozialen und ökonomischen Aufstieg. Die hohe Kinderzahl weist auf Retraditionalisierungsaspekte. Die Tochter wohnt mit ihrer Familie in Istanbul. Sie erfüllt als Mutter und Hausfrau eine traditionell weibliche Rolle. Remzi Arslan ist das letztgeborene Kind der Familie. Er migrierte ebenfalls nach Europa, nach Deutschland. Er war der einzige Sohn, der in einem Angestelltenverhältnis arbeitet und nicht als selbständiger Unternehmer tätig ist. Die Orientierung an dem Ideal der beruflichen Unabhängigkeit mit Führungsanspruch wurde durch Mehmet Arslan als Großbauer mit Angestellten an seine Söhne weitergegeben. In diesem beruflichen Vergleich steht Remzi Arslan hierarchisch unter seinen Brüdern und bleibt hinter seinem Vater zurück. Remzi Arslan war der Verlierer seiner Herkunftsfamilie, der sozial und ökonomisch abstieg. Er war bei verschiedenen Baufirmen angestellt. Er erfüllte auch in der Migration den Anspruch eines traditionellen Familienvaters, der seine Familie alleine durch seine Berufstätigkeit versorgen und ernähren kann. f) Die Geschwister – weibliche Traditionen Kadin Arslan hatte fünf Geschwister. Verglichen mit ihren beiden Herkunftsfamilien gründeten die Eltern Kadin Arslans eine große Familie. Um sechs Kinder in der Stadt zu versorgen, musste der Hauptverdiener einen gut bezahlten Beruf ausüben oder die Kinder mussten ebenfalls in die Haushaltskasse wirtschaften. Yonca Arslan heiratete 14-jährig einen 17-jährigen jungen Mann. Die beiden gründeten im Folgejahr eine Familie. Diese auch für damalige Verhältnisse frühe Verheiratung zweier Minderjähriger ließ auf wenig Transformationsmöglichkeiten und/oder auf ökonomische Schwierigkeiten der Eltern des Brautpaares schließen. Die erstgeborene Tochter, Kadin Arslan, musste nach dem Umzug in eine Stadt den Haushalt zusammen mit ihrer Mutter organisieren und die traditionelle weibliche Geschlechterrolle erfüllen. Nach Kadin Arslan wurde ein Sohn gebo-
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ren, der zum Zeitpunkt des Interviews in Dortmund lebte und in einem Dönerladen arbeitete. Er war mit einer Kurdin verheiratet. Das Paar bekam 2008 Jahren ihr erstes Kind. Der Bruder wurde mit 42 Jahren das erste Mal Vater, was selten bei KurdInnen zu finden ist. Das drittgeborene Kind war wiederum ein Sohn, der 2004 in der Türkei an den Folgen von Folterungen starb. Dessen einziges Kind lebte bei der Mutter und deren neuem Ehemann in der Türkei. Das drittgeborene Kind war eine Tochter, die dem Beruf der Schneiderin nachging und noch bei ihren Eltern in Hinis lebte. Sie wurde 1979 geboren und konnte nicht heiraten, da sie während Folterungen durch das türkische Militär vergewaltigt wurde. Die beiden letztgeborenen Kinder waren Zwillinge, die 1981 zur Welt kamen. Der Zwillingsbruder lebte in Bochum und arbeitete an einer Tankstelle. Die Zwillingsschwester war Erzieherin und lebte ebenfalls in Hinis bei ihren Eltern. Auch sie konnte nicht heiraten bzw. verheiratet werden, weil sie während Folterungen „entehrt“ wurde. Viele der Geschwister waren in der Lage zu migrieren. Die jüngeren Töchter erlernten Berufe, um für sich selbst sorgen zu können. Den Folgen der traditionellen Geschlechterrollenbilder und Normen durch das kurdisch-islamische Verständnis von Ehre und Weiblichkeit waren die vergewaltigten Schwestern allerdings noch immer ausgesetzt. Sie konnten nicht heiraten. Sie migrierten auch nicht in die großen türkischen Städte oder ins Ausland, was ihnen größere Transformationspotentiale und Partnerschaften hätte ermöglichen können. Die Transformation der Generation von Kadin Arslan lag in der Migration und dem modernisierten Leben einer Kleinfamilienstruktur. g) Die eigene Familie – Transformation durch Migration Als erstgeborene Tochter erhielt Kadin Arslan besondere Aufmerksamkeit durch ihre Eltern. Einerseits war bei der Erstgeborenen eine angemessene standesgemäße Heirat wichtig, andererseits wurde sie stärker in das Verantwortungssystem als ihre jüngeren Geschwister einbezogen. Sie musste ihre jüngeren Geschwister mit erziehen und Aufgaben im Haushalt erledigen. Kadin Arslan wurde sehr stark in das familiäre, geschlechtstypische Verantwortungssystem eingebunden. Bildungsmöglichkeiten und daraus erwachsene Aufstiegs- und Autonomisierungschancen wurden Kadin Arslan nicht eröffnet. Bei der Heirat von Kadin und Remzi Arslan trafen Vorschriftsheirat und Höchstrelevanz zusammen. Einerseits war es der Kreuzcousin, den Kadin Arslan heiratete. Andererseits war Devin Canavar gegen diese Hochzeit, ließ sie aber zu, nachdem Kadin Arslan lange für sie gekämpft hatte. Der Grund für seine Haltung war wahrscheinlich die relativ schlechte soziale und ökonomische Stellung Remzi Arslans als letztgeborener Sohn, der vom Erbe nicht viel erhalten
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würde. Die Höchstrelevanz der Hochzeit zeigte sich in der Liebeshochzeit der beiden. Eine Liebesheirat könnte kontextuell auch bedeutet haben, dass nur bestimmte Männer für eine Heirat in Frage kamen und Kadin Arslan nicht denjenigen heiratete, der aus der Perspektive der Eltern an erster Stelle gestanden hatte. In diesem Fall wäre es ein kontrolliertes Diskrepanzerlebnis gewesen. Die Eltern Kadin Arslans konnten sich nicht mit ihrem ersten Wunsch durchsetzen, aber Kadin Arslan heiratete noch innerhalb des Regelsystems. Kadin Arslan heiratete als Erstgeborene einen Letztgeborenen. Eine solche Verbindung ist strukturell meist stabil. Kadin Arslan erhielt im Gegensatz zu Remzi Arslan seit ihrer Kindheit verantwortliche und strukturgebende Aufgaben. Der Jüngste, vor allem der männliche Jüngste, erhielt mehr Freiheiten und wurde wenig in das innerfamiliäre Verantwortungssystem eingeführt. Strukturgebung ist in der traditionellen Geschlechterrollenverteilung eine männliche Aufgabe. Diese Ausgangsposition hielt für das Ehepaar Transformationsmöglichkeiten bereit. Dennoch reproduzierte das Ehepaar traditionelle Rollenverteilungen. Frau Arslan war Mutter und Hausfrau und verließ ihren Ehemann auch nicht, nachdem er sie jahrelang geschlagen, gedemütigt und der Lebensgefahr ausgesetzt hatte. Erst mit Hilfe einer Psychotherapie in Deutschland konnte sie ihr Selbstwertgefühl stärken und ihren Ehemann in seine Schranken verweisen. Zum Zeitpunkt des Interviews schlug Herr Arslan seine Ehefrau nicht mehr. Kadin Arslans „Ehre“ wurde in der islamisch-kurdischen Logik durch die Vergewaltigung während der Folterungen verletzt. Die Reaktionen ihres Ehemannes waren Gewalt und Demütigungen seiner Ehefrau (siehe unten). Dennoch trennte sich Frau Arslan nicht von ihm, sondern fügte sich lange schicksalhaft in ihre Rolle als alles ertragende Ehefrau. Remzi Arslan machte in der Türkei eine Ausbildung zum Automechaniker und arbeitete als LKW-Fahrer. In Deutschland konnte er diese Fähigkeiten beruflich nicht amortisieren, sondern arbeitete als Bauarbeiter. Kadin Arslan nahm in Deutschland an Alphabetisierungs- und Deutschsprachkursen teil, so dass ihr ein gewisser Bildungsaufstieg durch die Migration gelang. In diesem Aspekt zeigte sich ein Transformationspotential und Bildungsorientierung. Das Ehepaar zeugte drei Kinder, deren Altersabstand jeweils mehrere Jahre betrug. Ein Grund für die relativ geringe Kinderzahl könnte sein, dass die drei Kinder drei Jungen waren. Es könnte aber auch eine Familienplanung zugrunde liegen, die für ein modernisiertes Familienmodell sprechen würde. Denkbar ist auch, dass die Zeugung weiterer Kinder durch die häufige und lang andauernde Berufstätigkeit als LKW-Fahrer Remzi Arslans bzw. aufgrund der schweren Ehekrise erschwert worden war.
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Der erstgeborene Sohn bot eine Entwicklungsorientierung für seine beiden jüngeren Brüder und wurde seiner Rolle als Vorbild gerecht. Er war 10 Jahre alt, als er nach Deutschland kam, hatte zum Zeitpunkt der Interviews sein Fachabitur abgeschlossen und wartete auf die Aufnahme in eine Fachhochschule, um studieren zu können. Er wurde zusammen mit seiner Mutter als 6-jähriger gefoltert und musste bei der sexuellen Folterung seiner Mutter zuschauen. Aufgrund dieser Erfahrung war auch er jahrelang in psychotherapeutischer Begleitung in Hamburg. Der zweite Sohn besuchte 2010 das Gymnasium, der dritte war auf einer Grundschule. Die Eltern der drei Brüder konnten in Form der Delegationsstrategie ihre Transformationspotentiale in die nächste Generation weitergeben und die Söhne zum sozialen Aufstieg durch Bildung motivieren. h) Zusammenfassung bisheriger Fallstrukturhypothesen Kadin Arslans väterlicher Familienzweig, der gleichzeitig der Familienstrang Remzi Arslans mütterlicherseits ist, war polygyn und stark patriarchalisch und religiös geprägt. Werte wie Ehre und Tradition waren von hoher Relevanz. Die mütterliche Seite Kadin Arslans konnte als kleinbäuerliche Widerstandsfamilie identifiziert werden. Diese Familie setzte eine Familienplanung um, was auf Transformationspotentiale schließen ließ. Yonca Canavar war wie ihr Ehemann eine Letztgeborene. Er konnte durch seine Berufstätigkeit bei der strukturgebenden Instanz des türkischen Staates Qualitäten der Verantwortungsübernahme und Strukturbildung entwickeln. Die Elterngeneration Kadin Arslans war traditionell orientiert. Obwohl eine Anpassung an die herrschende Ordnung erkennbar war, setzte sich die innerfamiliäre Tradition der Familie Yonca Canavars durch und die Söhne gingen in den bewaffneten kurdischen Widerstand. Die Eltern und die Geschwister Kadin Arslans wurden verhaftet und gefoltert. Remzi Arslans Eltern und Geschwister waren die ModernisiererInnen. Die Eltern heirateten, als sie über 20 Jahre alt waren. Die Mutter hatte durch den geringen Altersunterschied zu ihrem Ehemann eine gestärkte Position. Die Eltern Remzi Arslans waren Großbauern mit Angestellten. Das Ideal der beruflichen Selbständigkeit mit Führungsanspruch setzen alle Söhne außer Remzi Arslan fort. Remzi Arslan konnte als Jüngster den beruflichen Status des Vaters bzw. seiner Brüder nicht erreichen, hielt aber seinen Status in der Migration. Diese Tatsache ist erwähnenswert, da viele Flüchtlinge einen sozialen Abstieg durch die Fluchtmigration erleben. Kadin und Remzi Arslan konnten mit ihrer Hochzeit Vorschriftsheirat und Höchstrelevanz verbinden. Sie waren traditionell orientiert. Die geringe Kinderzahl und die Förderung der Bildungskarrieren der Kinder waren Modernisie-
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rungsschritte. Ebenso ermöglichte die Migration die Alphabetisierung und das Deutschlernen Kadin Arslans. In Deutschland wies sie ihren Ehemann in seine Schranken.
3. D IE I NTERVIEWS – Z USAMMEN UND
DOCH ALLEIN
a) Rahmenbedingungen und Besonderheiten der Interviews Das erste Interview wurde fand bei Frau Arslan Zuhause statt. Der Zeitpunkt für das Interview war so gewählt, dass während des Interviews keine weiteren Familienangehörigen in der Wohnung anwesend waren. Diese Rahmenbedingungen bestimmte Frau Arslan. Ihr Ehemann und ihre Söhne sollten nichts von ihren autobiografischen Erzählungen hören. Die Wohnung der Arslans befand sich in einem zentral gelegenen Hamburger Stadtteil, der in erster Linie von der Mittelschicht bewohnt wurde. Das erste Interview konnte nicht in die Analysen einfließen, da die Deutschkenntnisse der Interviewten über längere Erzählsequenzen unzureichend waren. Frau Arslan äußerte mehrmals den Wunsch, unter Anwesenheit und mit Hilfe der Laiendolmetscherin Benan Kaymaz, einer Vertrauensperson, ein weiteres Interview zu führen. Das zweite Interview führte ich mit Hilfe von Frau Kaymaz. Es fand in den Räumen des Frauenzentrums statt, in dem Frau Kaymaz gelegentlich arbeitete. Es wurde für das Interview ein eigener Raum zur Verfügung gestellt. Das Interview umfasste etwa 2,5 Stunden. Ein Problem ergab sich nach der Transkription dieses Interviews. Die Transkribierende verstand etwas kurdisch und sagte mir, dass Benan Kaymaz an einigen Interviewstellen entweder zu wenig, zu viel oder etwas anderes als Kadin Arslan gesagt hatte, gedolmetscht hatte. Der kurdischsprachige Teil des Interviews wurde nachträglich von einem vereidigten Dolmetscher erneut korrekt übersetzt. Mittels eines Vergleichs der Übersetzungen und Kommentare Benan Kaymaz` mit den Übersetzungen des vereidigten Übersetzers könnte das DolmetscherInnenhandeln Benan Kaymazs und ihre Rolle für das Interview untersucht werden. Eine solche Untersuchung wäre für die empirische Sozialforschung im Kontext interkultureller Forschungsthemen sehr aufschlussreich. Da dies in dieser Arbeit zu umfangreich werden würde und nicht das Forschungsthema dieser Arbeit ist, blieb dieses Forschungspotential ungenutzt und kann bei Interesse anderen ForscherInnen zur Verfügung gestellt werden.
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b) Die Krise als zentrales Erleben Kadin Arslan: /8/ Benan Kaymaz: Ich weiß nicht, wie ich soll anfangen. Benan Kaymaz: Du kannst (wechselt ins Kurdische) /2:13/ Kadin Arslan fand keinen geeigneten Erzähleinstieg in ihre autobiografische Erzählung. Die Dolmetscherin griff in das Erzählgeschehen ein und gab Kadin Arslan Hinweise, Ratschläge, wie und was sie von sich erzählen könnte. Die Dolmetscherin fühlte sich verantwortlich, dass das Interview gelang und unterstützte Kadin Arslan, einen Erzählbeginn zu finden. Die beiden Frauen kannten sich so gut, dass ihr Vertrauensverhältnis ausreichte, um die Dolmetscherin eingreifen zu lassen. Diese war gewohnt, als Sprach- und Kulturmittlerin für Kadin Arslan zu interagieren und nahm ihre Rolle als Mittlerin sofort ein. Eine Folge dieses sehr zügigen Eingreifens durch Benan Kaymaz war die Einschränkung der Eigenständigkeit und der autonomen Erzählentscheidungen Kadin Arslans. Die Dolmetscherin überging durch ihr zügiges Eingreifen die Forscherin, deren Aufgabe es gewesen wäre, das Interview zu strukturieren. Benan Kaymaz hat die Regeln wissenschaftlicher Interviews nicht beachtet, obwohl vorher die Verhaltens- und Kommunikationsregeln zwischen Dolmetscherin und mir besprochen worden waren. Dieses Eingreifen der Dolmetscherin hinderte immer wieder den freien Erzählfluss Kadin Arslans. Benan Kaymaz: Bis 12 Jahre war sie in einem kleinen Dorf. Und dann sie sind umgezogen in eine Stadt, nach Hinis. Ihr Vater war Beamter und dann sie sind umgezogen, mit Eltern. Kadin Arslan begann ihre autobiografische Erzählung unter dem Einfluss der Dolmetscherin. Sie erzählte eine einschneidende Lebensveränderung während ihrer Kindheit. Der Umzug vom Dorf in die Stadt bedeutete für die Kleinfamilie Modernisierungs- und Transformationsmöglichkeiten, die Kadin Arslan wenig nutzen konnte. Die Kernfamilie war in der Stadt stärker auf sich bezogen, Männer- und Frauenwelten fielen zusammen. Die Verfolgung in ihrem Herkunftsdorf war der Auslöser für diesen Umzug. Der neue Beruf des Vaters war eine Folge. Kadin Arslan begann ihre autobiografische Erzählung in der späten Kindheit und nicht wie bei traditionellen chronologischen Lebenslauferzählungen in der frühen Kindheit oder bei der Geburt. Der Umzug wurde hervorgehoben. Er war für Frau Arslan bedeutend. Die zentralen Figuren ihrer Familie und in ihrem Leben waren in dieser Sequenz ihr Vater, ihre Eltern und sie selbst. Die klassische Triade stand im Mittelpunkt ihres kindlichen Seins. Sie erzählte in dieser Sequenz bereits in der in-
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dividualisierten statt in der vergemeinschafteten Erzählform. Sie war als IchErzählerin die Hauptakteurin der Geschichte. Kadin Arslan: /27/ Benan Kaymaz: Mit Kurdensein oder kurdische Problematik war mit 12 Jahren mir nicht so bewusst. Und wir haben immer unsere Eltern und Oma, Opa gefragt. Die haben gesagt: Ihr seid Kinder, das wisst ihr noch nicht. Das soll euch nicht beschäftigen. Die Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie und die mit ihr verbundenen Probleme bzw. politischen Themen waren ihr damals nicht bewusst. Dies entsprach einer kindlichen Perspektive und war altersgemäß. Dennoch erwähnte Frau Arslan das Kurdischsein bereits an dieser Stelle, weil es im Laufe ihres Lebens an Relevanz gewonnen hatte und die Verfolgung der KurdInnen für den Umzug in die Stadt ursächlich war. Kadin Arslan berichtete von einer relativ unbeschwerten Kindheit, die durch ihre Eltern und Großeltern geschützt wurde, aber auch von Einbrüchen in das unbeschwerte kindliche Leben. Die politischen Auseinandersetzungen, die Kadin Arslan als Kind erlebt hatte, sollten aus der Perspektive der Großeltern und Eltern von ihr fern gehalten werden. Die politischen Querelen waren eine auferlegte Relevanz, die durch die Krisen auslösenden Alltagserfahrungen an Bedeutung gewannen. Durch die sich wiederholenden Verfolgungssituationen waren auch die Kinder mit der Verfolgung der KurdInnen und den Auseinandersetzungen zwischen KurdInnen und TürkInnen konfrontiert. Durch die Verfolgung wurde die Identifikation als Kurdin generiert. In diesem Abschnitt wurden zwei verschiedene Zeitperspektiven eröffnet. Während der Kindheit waren die Verfolgungsgeschehnisse nur insoweit relevant, weil die Kinder interessierte, was sie im Alltag beobachten konnten. Während des Erwachsenenalters erhielt das „Kurdischsein“ eine größere Relevanz und eine weitgehendere Bedeutung für Kadin Arslan. Die biografische Erzählung begann mit zwei Krisenerzählungen. Der Umzug in die Stadt war die erste erwähnte Krise, die im Zusammenhang mit der anderen zentralen Krise der Verfolgung der KurdInnen stand. Das Kurdischsein wäre für Kadin Arslan nicht so relevant geworden, wenn sie die Verfolgung als Kurdin nicht hätte erleben müssen. Und dann, das war auch die Problematik: Einfach Menschen wurden umgebracht. Das habe ich nicht verstanden. Weil da waren keine Fremde im Dorf. Die waren alle Kurden. Die Annahme, dass allein die Anwesenheit von „Fremden“ im Dorf bedeutet,
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dass es einen Anlass für Mord hätte geben können, zeigte die xenophobe kulturelle Prägung Kadin Arslans, die in Klangesellschaften stark ausgeprägt war. Eine fremde Person war immer ein potentieller Feind. Für Frau Arslan als Vertreterin einer autofokussierten und nach innen gerichteten Gesellschaft waren in ihrer Vorstellung Menschen der „in-group“ nicht imstande, andere Menschen der „ingroup“ umzubringen (Kaser 1995, S. 226). Die Formulierung in dieser Sequenz zeigte, dass die Zugehörigkeit zu einer kurdischen Dorfgemeinschaft in Abgrenzung zu anderen Menschen vom Gewaltmotiv beherrscht wurde. Gewalt war ein gängiges Mittel, die eigene Gruppe zu verteidigen oder sie wurde von einer anderen Gruppe ausgeübt. Die Erzählung blieb in dieser Sequenz auf einer allgemeinen Ebene, bei der persönliche Erzählungen über Ermordungen oder Verfolgungen bekannter Personen nicht erzählt wurden. Kadin Arslan verweigerte konkrete Erzählungen. c) Naturerleben als rettendes Fundament Ich würde sagen, meine Zeit dort, meine Kindheit war sehr schön. Denn die Berge und Hochebenen, Wasser, Seen dort, egal was man erlebt, wenn man sich an diese Dinge dort erinnert, man bekommt gute Stimmung. Es ist sehr, sehr schön. Vom ersten zum zweiten Interviewbeginn fand eine inhaltliche Wendung in der autobiografischen Erzählung Kadin Arslans statt. Sie hatte einige Minuten Zeit, ohne den Einfluss von Benan Kaymaz ihre Gedanken neu zu ordnen und erinnerte statt der Krisenseite die Lichtseite ihres kindlichen Erlebens. Kadin Arslan setzte bei dem Thema ein, das ohne den Einfluss der Dolmetscherin in den Relevanzbereich fiel. Die Lebensgeschichte Kadin Arslans erhielt eine neue Seite, die der perfekten ländlichen Idylle. Alle Erinnerungen an die Natur erzeugten gute Stimmung und bedeuteten Glück. Das unbeschwerte Leben stand im Kontrast zum Leben einer verfolgten Familie. Einerseits erlebte Kadin Arslan eine wundervolle Natur. Andererseits war ihre Kindheit von Krisen auslösenden Erlebnissen geprägt. Das Erleben in der Natur diente Kadin Arslan als persönlichkeitsstärkende Erfahrung. Diese Schönheit und die angenehmen Empfindungen wurden durch die folgenden Gewalterfahrungen kontrastiert. „Dort“ deutete die Distanz an, die Kadin Arslan zu diesen wundervollen Erfahrungshorizonten in Natur und Landschaft von damals zu ihrer Erzählgegenwart einnahm. „Dort“ war woanders. Es war ein Ort der Sehnsucht, der vorgestellt, beschrieben und idealisiert werden konnte, aber nicht mehr real erreichbar war. Vergleichbar war diese Idealisierung des Lebens im Dorf mit der Idealisierung der heilen und friedlichen Natur in der Geschichte von „Heidi“, die aus der
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Stadt kam und mit der Natur eine nicht gekannte erfüllende und wunderbare Erfahrungswelt entdeckte. Dieser zweite Erzählbeginn berichtete von einer wunderbaren Kindheit in, die schöner nicht hätte sein können. Die Schönheit bestand darin, dass keine Menschen diese Idylle trübten, sondern die Landschaft für sich Kadin Arslan erfreute. Erst mit den Menschen kamen Probleme und Schwierigkeiten in ihr Leben. Wir hatten Schafe und Großvieh. Wir haben sie weiden lassen. Wir hüteten Lämmer…Wir haben Gras gemäht, Holz gesammelt. Das Leben auf dem Dorf bedeutete Selbstversorgung und Subsistenzwirtschaft, bei der die Tierwirtschaft die Grundlage bildete. Auch die Kinder mussten beim kleinbäuerlichen Landleben Arbeiten verrichten und erhielten Pflichten wie Holz sammeln oder Lämmer hüten. Wen das “wir“ umfasste, war nicht näher definiert. Typischerweise waren die genannten Aufgaben Tätigkeitsbereiche der Kinder bzw. der Mädchen. Die Natur und die Aufgaben, die mit ihr verbunden waren, waren angenehm und erfüllend. Diese Erfahrungen stellten ein Resilienzfördernis Kadin Arslans dar. Es war sehr schön für mich, aber, wenn die Soldaten ins Dorf kamen, blieb kein einziger Mann im Dorf. Nur Frauen und Kinder blieben im Dorf. (2) Die Soldaten gingen dann in die Berge und sammelten die Männer ein und schlugen sie mit dem Schlagstock sehr. Man verstand nicht, warum sie sie schlugen und sie sagten uns auch nicht warum sie uns schlugen und wir bekamen Angst. (3) Zeitweise wurde die Dorfidylle getrübt. Es gab Einbrüche in das wundervolle Leben auf dem Land. Diese Einbrüche wurden durch „Soldaten“ herbeigeführt. Diese sollten in ihrer Funktion der Bevölkerung, vor allem den Männern, Gewalt antun. Der Grund der gewaltsamen Übergriffe blieb für das Kind Kadin Arslan unbekannt. Sie waren nicht erklärbar. Erst, nachdem die Soldaten nicht sagten, warum sie an der kurdischen Bevölkerung Gewalt ausübten, bekam Kadin Arslan Angst. Diese Aussage impliziert, dass es Gewalt geben konnte, die erklärbar (und gerechtfertigt) war. Kadin Arslan war selbst in der Logik der Gewalt verstrickt und verurteilte diese nicht generell. Eine Gewalt, die erklärbar war, war tolerierbar und hätte keine Angst erzeugt. Kadin Arslan blieb gedanklich und argumentativ im Modus der Gewalt. Mit den Soldaten begann die Beeinträchtigung des wunderbaren Lebens in der Natur. Die Lebenswelt der Kinder des Dorfes wurde entzaubert. Sie wurden mit Verfolgungserfahrungen konfrontiert. Die Angst setzte ein und wurde zum elementaren Lebensgefühl.
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Die Erzählung blieb auf einer unpersönlichen Erzählebene. Kadin Arslan nahm eine distanzierte Erzählhaltung zum Geschehen ein. Entweder hatte sie die Situationen aus einer gewissen räumlichen Distanz beobachtet und war aus diesem Grund nicht betroffen oder sie hatte eine innere Distanz hergestellt, um das Erlebte bewältigen zu können. Die Männer des Dorfes flohen aus dem Dorf, bevor die Soldaten kamen. Sie flohen entweder, damit Frauen und Kinder die Gewalt an ihnen nicht mitansehen mussten oder um sie als eine Art Schutzschild vor die Männer zu stellen. d) Familienresilienz oder unbedingte Familiensolidarität? Kontext: Die folgende Sequenz ist nach der Hochzeit mit Remzi Arslan, als Kadin Arslan in der Stadt in der Nähe des Hauses ihrer Herkunftsfamilie wohnte. Remzi arbeitete mehr auswärts. Er fuhr große LKWs in Richtung Iran und Irak. Er kam einmal im Monat oder einmal in zwei Monaten nach Hause (1) oder auch nicht. Das heißt, ich war bei meinem Vater und meiner Mutter. Ich hatte eine Wohnung, ein Haus. Als meine Brüder und Schwestern groß waren, kamen sie alle zu mir, wenn etwas passierte. Kadin Arslans Ehemann Remzi Arslan fuhr LKW. Durch seine mobile Berufstätigkeit war er selten Zuhause bei seiner Frau und seiner Familie. Kadin Arslan lebte praktisch alleine. Daraus resultierte die auch nach der Hochzeit anhaltend enge Bindung Kadin Arslans zu ihrer Herkunftsfamilie, welche in derselben Stadt wohnte. Frau Arslan hielt sich mit ihrem Kind meist bei ihren Eltern auf. Frau Arslan wechselte durch die Hochzeit nicht in die Herkunftsfamilie ihres Ehemannes. Diese Tatsache ließ auf Transformationspotentiale auf der Paarebene schließen. Die Herkunftsfamilie bot Kadin Arslan größere emotionale Nähe und vielfältige alltagspraktische Unterstützung. Als die jüngeren Geschwister Kadin Arslans erwachsen wurden, war die Wohnung Kadin und Remzi Arslans Mittelpunkt der Geschwister. Wenn eines der Geschwister Probleme hatte, konnte er oder sie zu der älteren Schwester und sich Unterstützung holen. Vor allem die Brüder, die im kurdischen Widerstand aktiv waren und von der türkischen Polizei verfolgt wurden, suchten ihre Wohnung auf, um sich zu verstecken. Kadin Arslan nahm eine führende Position ein. Normalerweise übernahmen die ältesten Söhne die Rolle des Beschützers für die Geschwister. Diese transformierte Rollenverteilung brachte einerseits Risiken mit sich, die Kadin Arslan für die familiäre Solidarität auf sich nahm, und andererseits ein Transformationspotential, das ihr durch ihre Herkunftsfamilie ermöglicht wurde.
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… Meine Mutter machte gute Stimmung für uns, damit wir dem Feind zeigen sollen, dass wir trotz allem eine gute Zeit haben. Sie sagte: „Heute ist das Wetter noch schöner.“ So dauerte unsere Lage an. Gut oder schlecht. Ich war bei der Familie meines Vaters. Die Mutter Kadin Arslans sorgte für „gute Stimmung“ innerhalb der Familie und stärkte die Familiensolidarität. Sie war diejenige, die trotz aller Leidenserfahrungen ihre Kinder stärkte und ihnen Freude und Lebenslust vermittelte. Die Mutter war das emotionale Zentrum der Herkunftsfamilie Kadin Arslans, um den sich die Familienmitglieder versammelten, den Familienzusammenhalt und ihr Wir-Gefühl stärkten. Das Wetter war jeden Tag noch schöner. Die Mutter trug eine Form des positiven Denkens in die Familie, dass das Leben unabhängig oder gerade wegen der kritischen Lebensereignisse immer besser werden konnte. Die Mutter erkannte, dass sie zwar im kurdischen Widerstand aktiv sein konnten, sich aber im Alltag die missliche Situation nicht ändern ließ. Eine Veränderung der Situation konnte nur durch eine Änderung der eigenen Einstellung, des eigenen Umgangs, der eigenen Perspektive bewirkt werden. Durch eine optimistische Sichtweise konnte nicht nur die Wir-Gruppe gestärkt, sondern auch die Feind-Gruppe geschwächt werden. Wenn der Feind die „gute Stimmung“ der kurdischen Familie wahrnahm, wurde ihm signalisiert, dass ihre Bedeutung für die KurdInnen gering war und alle Bemühungen, sie zu unterdrücken und zu zerstören, fehlschlugen. Diese „psychologische Kriegsführung“ der Mutter Kadin Arslans war eine familiäre Verpflichtung und Strategie während des „Bürgerkrieges“ zwischen KurdInnen und TürkInnen. Die Mutter war die treibende innerfamiliäre Instanz, die auf ihre Weise den kurdischen Widerstand unterstützte und ihre Kinder politisierte. Obwohl die Familie in dieser Erzählsequenz die „Familie meines Vaters“ war und dieser als Patriarch der Familie definiert wurde, nahm die Mutter eine zentrale Rolle innerhalb der Familienorganisation ein und hatte großen Einfluss auf das Handeln und die ideologische Ausrichtung ihrer Kinder. Ob die Zeiten nun „gut oder schlecht“ waren, für Kadin Arslan war das Zentrum ihres Lebens nicht ihre Kern-, sondern ihre Herkunftsfamilie. Sie war weiterhin solidarisches und ideologisches Zentrum. Unklar blieb, ob Kadin Arslan in ihrem Ablösungsprozess vom Elternhaus stehengeblieben war oder ob das Ehepaar Arslan ein westliches Familienmodell lebte, bei dem Kadin Arslan problemlos Kontakte und Beziehungen pflegen konnte, die für sie im Alltag unterstützend gewesen sind. Diese soziale Situation des familiären Zusammenhalts stand im Kontrast zu ihrer sozialen Situation in Deutschland, wo sie sich oft einsam fühlte. Aus dieser
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relativ sicheren und gewaltfreien Umgebung, idealisierte sie die Zeit in der Türkei. e) Zusammen und doch allein Kontext: In der folgenden Sequenz war Kadin Arslan verheiratet und hatte bereits zwei Söhne geboren. Ihr Ehemann war noch immer berufsbedingt häufig abwesend. Er (der ältere Bruder, Anmerkung der Autorin) war bei mir zu Hause. Er ging nicht zu meinen Eltern, denn wegen des anderen Bruders, war es bei meinen Eltern für ihn nicht sicher. Der ältere Bruder war im organisierten kurdischen Widerstand. Er kam zu Kadin Arslan Nachhause, weil er verletzt worden war. Der jüngere Bruder sympathisierte mit dieser Art des Widerstands, wohnte aber noch Zuhause. In dieser Situation wurde deutlich, wie das Handeln der Brüder im kurdischen Widerstand die gesamte Familie gefährden konnte. Die Eltern waren durch das Zusammenleben mit dem jüngeren Sohn unter türkischer Beobachtung. Der ältere Sohn musste bei seiner Schwester untertauchen. Diese Art der Familiensolidarität barg die konkrete Gefahr für Kadin Arslan, selbst verfolgt und gefoltert zu werden, weil sie ihren Bruder bei sich Zuhause versteckte. Die türkische Polizei oder das türkische Militär war in den Dörfern sehr präsent. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das Versteck gefunden hätten. Der Familienzusammenhalt war das oberste Prinzip, dem sich individuelle Risiken, Wünsche und Bedürfnisse unterordnen mussten. Sogar die Unversehrtheit der Töchter musste der Familiensolidarität weichen. Die Opfer, die vor allem die Töchter für den kurdischen Widerstand aufbrachten, waren individualitätsfeindlich. Remzi Arslans Einfluss auf Kadin Arslans unbedingte Familiensolidarität war entweder sehr begrenzt oder er war ebenfalls überzeugter kurdischer Widerständler, dem die kurdische und familiäre Solidarität so wichtig war, dass er das Risiko einer Folter seiner Frau und seiner selbst einging. Das Beherbergen des Bruders Kadin Arslans war kein aktiver Prozess, sondern eine unabänderliche Tatsache. Ohne zu fragen oder überlegen zu können, war „er … bei mir Zuhause“. Dies war eine Naturgesetzlichkeit. Unklar blieb, ob Kadin Arslan ihre Familiensolidarität aus eigenem Willen lebte oder ob sie dem moralischen Druck ihrer Herkunftsfamilie nachgab. Ebenso unklar ist die Rolle und Position ihres Ehemannes bezüglich des kurdischen Widerstands und der Familiensolidarität Kadin Arslans.
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Wenn so etwas passiert, fühlt man sich ganz allein. Es gibt überhaupt niemanden, der dir helfen kann. Man denkt: Warum hat die Welt deine Stimme nicht gehört? Warum tun diese Menschen dir so viel Ungerechtigkeit an? Man konnte es deswegen kaum aushalten. Es war sehr schwer. „So etwas“ war das Synonym für Folter. Die Beleggeschichte für dieses Synonym fehlte. Die Folter war unaussprechbar, die mit diesen zwei Worten „so etwas“ zusammengefasst und distanziert wurde. Eine Folge der Folter war das Gefühl der Einsamkeit. Die Erzählerin verallgemeinerte diese, von ihr erfahrene Folterfolge, indem sie nicht von sich persönlich, sondern allgemein von „man“ sprach und Einsamkeit als Konstante der Folteropfer konstituierte. Einerseits schaffte sie es nicht, von sich selbst und ihren persönlichen Schmerzerfahrungen zu erzählen und andererseits hatte sie den Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit von Foltererfahrungen und ihren Folgen. Kadin Arslan präsentierte sich als Vertreterin aller Gefolterten, indem sie in ihrer Kommunikation mit der Außenwelt die allgemeine Einsamkeit der Gefolterten thematisierte und eben diese Einsamkeit durch das Erzählen über sie verringert wollte. Kadin Arslan erhob ihre Stimme, aber „die Welt“ konnte oder wollte sie nicht hören. Der Grund für dieses Nicht-Hören war ihr bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht bewusst. Die Frage nach der Ursache bzw. dem Grund ihrer nicht erhörten Stimme blieb unklar. Unklar blieb auch, wer mit „der Welt“ gemeint war und in welcher Situation Kadin Arslan ihre Stimme erhoben hatte, um sich Gehör zu verschaffen. Sie wollte in der Zeit nach der Folter über das Unrecht und das erlittene Leid sprechen, aber niemand hörte ihr zu. Die Einseitigkeit der Kommunikation war es, die ihre Einsamkeit verstärkte und einen Bewältigungsprozess erschwerte (siehe II.2.b.2)). Die Bewältigung der Foltererfahrungen durch das offene Reden zu einem empathischen Gegenüber war Frau Arslan nicht möglich. Die sexuelle Folter und die mit ihr verbundene kulturelle Entehrung stellte ein weiteres Hindernis bei der Kommunikation über und der Bewältigung der Foltererfahrungen dar. Ihre Formulierung über die „Ungerechtigkeiten“ lässt offen, ob es aus ihrer Perspektive auch eine „gerechte“ Folter hätte geben können. Die Folter war schwerer zu ertragen, weil sie ungerecht gewesen war. Aus der Satzfolge ist interpretierbar, dass es eine gerechte Folter geben könnte, die moralisch vertretbar gewesen wäre. Dann hätte sich Kadin Arslan erneut an der Logik der Gewalt orientiert und würde in bestimmten Situationen Folter und Gewalt für nachvollziehbar und legitim halten. Da in der Türkei Folter über Jahrzehnte eine Normalität darstellt/e, hätte Frau Arslan diese Normalität in ihr Bewertungssystem integriert. Dann hätte sie einen reflexiven Erkenntnisprozess, einen Transformationsschritt, um zur kritischen Distanz zur Foltermethode allgemein zu kommen,
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nicht getan. Die zweite Interpretationsmöglichkeit ist, dass die Folter selbst die Ungerechtigkeit darstellte und jede Folter ungerecht gewesen wäre. Sie konnte der Folter, die ihr angetan wurde, keinen Sinn zuschreiben, da sie ungerecht gewesen war. Die Ungerechtigkeit war der Grund, warum die Folter unerträglich wurde. Soziale Motive spielten in dieser Sequenz eine herausragende Rolle. Frau Arslan litt unter Einsamkeit, niemand hörte ihre Stimme und die Folter war nicht ertragbar, da sie ungerecht gewesen ist. Die moralische Kategorie der Gerechtigkeit war durch andere, durch das türkische Militär bzw. die Polizei außer Kraft gesetzt worden. Wenn ich jetzt darüber spreche, meine Mutter kommt mir in Erinnerung. Meine beiden Schwestern wurden als Mädchen festgenommen. Deswegen sind sie noch zu Hause. Sie gingen in die Schule. Sie arbeiten. Weil sie als Mädchen festgenommen wurden, heiratet sie niemand. Sie sind bei den Kurden enttarnt (im Sinne von entehrt, Anmerkung der Autorin) worden. Im Moment des Erzählens über die Folter und die Einsamkeit erinnerte sich Kadin Arslan an ihre Mutter. Auch diese Erinnerung bezog sich auf die soziale Ebene. Mit der Erinnerung an die Mutter kam ihr die Geschichte der Folterungen ihrer beiden Schwestern und deren verheerende Auswirkungen in Erinnerung. Wenn Kadin Arslan an ihre Mutter dachte, dachte sie an ihre beiden Schwestern, die noch Zuhause wohnten. Aufgrund der Entehrung wollte niemand (kein Kurde) sie heiraten. Die Schwestern waren ökonomisch unabhängig und modernisiert, da sie in die Schule und einer Berufstätigkeit nachgingen. Aber die verloren gegangene Ehre war nicht wiederherstellbar. Die Opfer der Vergewaltigung wurden ein weiteres Mal bestraft. Sie waren nicht mehr verheiratbar. Die Widerstandsaktivitäten der Brüder, die von der Mutter initiiert bzw. unterstützt worden waren, zerstörten die Biografien und Lebensperspektiven ihrer Schwestern, die unter den Folgen dieses Widerstands langfristig und stärker litten als ihre Brüder. Wenn ein Mann während der Folter sexuell missbraucht wurde, war es für ihn demütigend, wenn eine Frau bzw. ein Mädchen sexuell missbraucht wurde, wurde es öffentlich gemacht, als Ehrverletzung eingestuft. Diese Frauen und Mädchen gelten als unrein. Es wirkte nicht nur der Fremdzwang durch die Gewalt ausübenden und vergewaltigenden Türken, sondern auch der moralische Selbstzwang der KurdInnen, der eine doppelte Demütigung und Erniedrigung der vergewaltigten Frauen darstellte. Die Strategie der TürkInnen der Zerstörung der sozialen Ordnung der KurdInnen ging auf. In diesem Sinne setzten KurdInnen die Logik der Folterer fort und verstärkten sie, indem
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sie die kurdischen weiblichen Opfer langfristig straften und sozial desintegrierten. In dieser Sequenz wurde der Begriff „enttarnen“ anstelle von entehren gebraucht. Enttarnen ist ein Begriff aus dem Militärischen, der die kriegsähnliche Situation in den kurdischen Gebieten zur Zeit der Übergriffe und Folterungen widerspiegelt. Mit der Enttarnung verschwand die öffentliche Anerkennung und Ehrbarkeit der Schwestern. Durch die Semantik wurde eine Differenz zwischen alltäglicher Entehrung und Entehrung im Kampf, im Krieg verdeutlicht. Als mein Bruder bei mir war, kam die Polizei. Ich bin raus gegangen und dann kam das Polizeifahrzeug. Kaan war damals 3 Monate alt. Ich rief meine Tante an und fragte sie, ob sie Kaan, d.h. meinen Bruder von zu Hause mitnehmen kann, weil die Polizei da ist. Sie fragte: Wohin soll ich ihn bringen? Ich kann nichts tun. Sie hatte einen Schwiegersohn, der mit dem MIT (Geheimdienst, Anmerkung der Autorin) zusammenarbeitete. Ihm konnte niemand etwas sagen. Kadin Arslan setzte ihre Erzählung fort. Die Erzählfolge war assoziativ. Eine chronologische Erzählung war nicht erkennbar. Im Augenblick der konkreten Erzählung über ihre Verfolgung und Folter fiel ihre autobiografische Erzählung assoziativ auseinander und bildete keinen kohärenten Erzählstrang mehr. Kadin Arslans Erzählung wies die typischen Merkmale von Erzählungen Traumatisierter auf. (Graessner/Wenk-Ansohn 2000, S. 82-85) Im Laufe ihrer Erzählung über das Leben in der Türkei verlor Kadin Arslan Distanz zum Erlebten und Differenzierungsmöglichkeiten im Erzählen. Sie erzählte Geschichten, die auf eine emotionale Verstrickung und damit fehlende Reflexivität bezüglich des Erzählinhaltes deuten. Die Normalisierungsstrategie durch Reflexivität konnte nicht aufrechterhalten werden. Diese Sequenz zeigte, wie die Frauen der Familie, das Risiko und die Gefahr unter sich aufteilten, die die Männer durch ihre Aktivitäten bei der PKK in die Familie brachten. Die weiblichen Familienmitglieder versuchten, so gut es ging, die männlichen Familienmitglieder zu schützen und zu unterstützen. Im Gegensatz zu Kadin Arslan waren ihre Brüder weniger solidarisch mit ihrer Herkunftsfamilie. Sie brachten ihre Familie in Gefahr, statt sich den Folgen ihres Handelns und Entscheidens zu stellen. In dieser Sequenz zeigte sich die Einseitigkeit der Familiensolidarität. In der Gefahr wurde Kadin Arslan alleine gelassen. Im Kontext der verfolgten kurdischen Minderheit in der Türkei stand die Ideologie eines freien kurdischen Volkes über der Gefahrenminimierung des Individuums. Der Preis, der für diese Ideologie gezahlt wurde, war vor allem für die Frauen sehr hoch.
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f) Die Hölle? Das sind die anderen. In Anwesenheit von Ünal taten sie sehr schlechte Sachen. Sie sagten, wenn die kurdischen Frauen und Mädchen ihre Brüste zeigen, werden sie noch schöner. Ich schäme mich vor Ünal, wenn er immer älter wird. Als sie mich in die Zelle brachten, brachten sie den Ünal und auch meinen Bruder mit, damit er sehen soll, was sie mit mir machen. Ihr Sohn Ünal war während der Folterungen Kadin Arslans anwesend. Frau Arslan wurde gezwungen, ihre Brüste zu zeigen. Dies war eine Handlung unter vielen anderen „sehr schlechten Sachen“, die die Folterer ihr und ihrem Sohn antaten. Die sexuelle Folter wurde verstärkt durch das, was die Folterer zu Frau Arslan sagten. Kurdische „Frauen und Mädchen“ wurden als eine eigene Kategorie aller Frauen und Mädchen gebildet. Diese Kategorie wurde schöner, wenn sie ihre Brüste zeigten und sich bereits dadurch entehrten. Die soziale Integrität der sexuell gefolterten kurdischen Frauen und Mädchen wurde langfristig gestört. „Sehr schlechte Sachen“ implizierte, wie die Forscherin aus Nebengesprächen erfuhr, auch die Vergewaltigung Kadin Arslans vor den Augen ihres Sohnes und ihres Bruders. Damit wurde die stärkste Form der Entehrung als Foltermethode eingesetzt, die es geben konnte. Kadin Arslans Familiengefüge und ihre Beziehungen zu ihrem Sohn und ihrem Bruder wurden langfristig gestört. Auch zum Zeitpunkt des Interviews schämte sich Frau Arslan noch für die sexuelle Gewalt, die ihr angetan wurde, sobald sie ihren Sohn sah. Die Scham nahm im Laufe der Jahre zu, als ihr Sohn erwachsen wurde und sich seine Geschlechtsreife entwickelte. Sie fühlte sich noch immer verantwortlich und schuldig für die an ihr ausgeübte sexuelle Gewalt. Den Schritt der Zurückweisung der Verantwortung und der Schuld an die Täter, an ihre Folterer, konnte sie (noch) nicht vollziehen. Die Bewältigung der Foltererfahrung blieb auf der Ebene der Schuld und der Scham. … Nachdem ich Zuhause war, dann begann das Problem von mir und Remzi. Für mich war es leichter im Gefängnis zu sein, als bei Remzi Zuhause zu sein. ... In Hinis fanden in jeder Nacht bewaffnete Auseinandersetzungen statt. Mein Mann nahm die Kinder von mir weg und schickte mich während der Auseinandersetzungen auf die Straße, mit der Hoffnung, dass ich von den Schüssen getroffen werde. Es gab dort einen Baum. Ich versteckte mich hinter dem Baum um mich zu schützen. Die Zeit und die Folterungen im Gefängnis waren leichter zu ertragen als die Situation nach ihrer Entehrung mit ihrem Ehemann. Das Problem, das zwischen den Eheleuten begann, entstand durch die Ehrverletzung, die die Folterer Kadin
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Arslan zufügten. Die Folter wirkte bis in das Eheleben Kadin Arslans hinein und verursachte eine tiefe Krise nach der anderen. Leichter war für Kadin Arslan, die Folter, die Demütigungen und Schmerzen durch die türkischen feindlichen Folterer zu ertragen, als die Demütigungen und die provozierten Tötungsversuche durch ihren Nächsten, ihren Ehemann. Er verließ sie nicht oder tötete sie, was zwei traditionelle Reaktionen auf Entehrungen gewesen wären. Remzi Arslan wollte oder konnte sich nicht gegen und nicht für Kadin Arslan entscheiden. Er entzog sich einer Entscheidung und überließ es dem Zufall, ob Kadin Arslan durch die Gefechte in der kurdischen Stadt getötet wurde. Herr Arslan nahm seiner Frau die Kinder weg, bevor er sie nachts auf die Straße schickte. Die Beziehung zwischen Frau Arslan und ihrem erstgeborenen Sohn war bereits gestört. Durch die nächtlichen Trennungen von ihrer Mutter wurden die Beziehungsstörungen der Mutter zu ihren Kindern verstärkt. Remzi Arslan hoffte, dass seine Frau bei den Schüssen, die nachts fielen, getroffen würde. Sie wurde nicht getroffen. Schließlich floh Remzi Arslan mit ihr und ihren Kindern nach Deutschland. Schutz erfuhr Frau Arslan in dieser Situation durch die Natur. Ein Baum rettete ihr das Leben. Sie konnte sich Nacht für Nacht hinter ihm verstecken, bis ihr Ehemann sie nicht mehr auf die Straße schickte. Der Baum wurde ihr Verbündeter, der sie vor den kämpferischen Auseinandersetzungen durch die Vollziehung der Ausgangssperre auf der Straße und ihrem Ehemann schützten. Schutz erfuhr Frau Arslan in dieser lebensbedrohlichen Situation weder von ihren Geschwistern noch von ihren Eltern. Die Familiensolidarität endete, als der Ehemann im Haus war und es um die Wiederherstellung seiner Ehre ging. Es war eine Solidarität, die Frau Arslan nicht in Schutz nahm, sondern von ihr nur verlangte. Die Hölle waren nicht nur die unbekannten Folterer, die Hölle bereiteten ihr ihre Vertrauten.
4. Z USAMMENFASSUNG DER F ALLSTRUKTURHYPOTHESEN Kadin Arslans väterlicher Familienzweig, der gleichzeitig der Familienstrang Remzi Arslans mütterlicherseits ist, waren stark patriarchalisch und religiös geprägt. Remzi Arslan orientierte sich entgegen seiner Herkunftsfamilie ebenfalls an traditionellen Werten und Normen, da er den Transformationssprung seiner Geschwister nicht schaffte. Die mütterliche Seite Kadin Arslans konnte als kleinbäuerliche Widerstandsfamilie identifiziert werden. Der Widerstand wurde in der kommenden Generation fortgesetzt.
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Die Migration ermöglichte Frau Arslan ihre Alphabetisierung und das Erlernen der deutschen Sprache. In Deutschland konnte sie mit Hilfe einer Psychotherapeutin und einer Sozialarbeiterin die eheliche Gewalt beenden. Die Kindheit wurde zuerst als problematischer Lebensabschnitt dargestellt. Die Krisen überschatteten die Erinnerungen. Die Krise deutete sich als zentrales Erleben an, die als dauerhaftes Lebensgefühl die Autonomie der Lebenspraxis Kadin Arslans beeinträchtigte. Lediglich die Natur und die Landschaft, die Kadin Arslan während ihrer Kindheit im Dorf erlebte, stellten für sie eine wichtige Erfahrung des Schönen und Guten dar. Diese Erinnerungen gaben Kadin Arslan Orientierung und die Möglichkeit, sich in eine heile Welt zu begeben, die ihr viel Lebensfreude und Glück beschert hatte. Die Herkunftsfamilie Frau Arslans war auch nach ihrer Hochzeit ihr ideelles und solidarisches Zentrum. Kadin Arslan unterstützte ihre Geschwister in allen Notsituationen und begab sich selbst in Gefahr. Die Familiensolidarität war ambivalent. Die familiäre Solidarität endete, als Frau Arslan entehrt wurde und diese für sich gebraucht hätte. Die Einsamkeit, die Kadin Arslan beschrieb, war eine Einsamkeit nach der Folter, die entstand, als sie gehört werden wollte und niemand ihr zuhörte. Diese Einsamkeit empfand Kadin Arslan auf der individuellen und der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Kadin Arslan wurde durch ihre Folterer gedemütigt. Die Demütigungen reichten bis in die Zerstörung der Familienstrukturen. Ihre Entehrung wirkte bis zum Zeitpunkt des Interviews. Frau Arslan blieb auf der Ebene der Schuld- und Schamgefühle und konnte die Verantwortung der sexuellen Folter nicht an die Täter zurückgeben. Die Hölle waren für Frau Arslan ihre Folterer, aber auch die kulturellen Normen und ihre Nächsten.
V. Resilienz im Kontext von Folter, Verfolgung und Flucht
Im letzten Kapitel entwickele ich die empirisch gewonnenen Erkenntnisse der Fallvergleiche mit den aus ihnen entwickelten Kategorien und Schlüsselkategorien unter Hinzuziehung bereits vorhandener Resilienzkonzepte zu einer neuen „Theorie mittlerer Reichweite“ über Resilienz im Kontext von Folter, Verfolgung und Flucht. Die im Kapitel I. theoretisch entwickelten Modelle „Modell der situativen Resilienz im Kontext“ (MsRK) und „Modell des zeitlichen Verlaufs von Resilienz“ (MzVR) verbinde ich mit dem biografischen Verlauf von Resilienz Frau Hofmanns und mache ihn grafisch darstellbar. Das empirisch entwickelte Modell der Resilienz im zeitlichen biografischen Verlauf zeigt, wie unterschiedlich und in Abhängigkeit von der jeweils konkreten biografischen Situation mit ihren Stressoren, Resilienzhindernissen und Resilienzfördernissen Resilienz differiert. Schließlich stelle ich im Fazit Resilienz im biografischen Kontext von Verfolgung, Folter und Fluchtmigration vor und schlage eine Brücke zur Praxis, indem ich Handlungsempfehlungen aus den hier gewonnenen Erkenntnissen ableite.
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Wie ich in den Fallanalysen gezeigt habe, können Resilienzfördernisse, Resilienzhindernisse und Stressoren biografie- und krisenübergreifend eindeutig und konstant sein oder sich innerhalb einer oder im Vergleich verschiedener Biografie/n ambivalent oder in Abhängigkeit von dem krisenauslösenden Ereignis unterscheiden. Resilienzhindernisse konkret zu benennen, erhielt in der bisherigen Resilienzfor schung wenig Beachtung. Das Verstehen von Krisenentstehungen und
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- entwicklungen benötigt neben dem Erforschen von Stressoren und Resilienzfördernissen auch Erkenntnisse über die Hindernisse von Resilienz. Durch die Unterscheidung in Stressor/en (bzw. Risikofaktoren) und Resilienzhindernisse und durch die detaillierte Analyse der Resilienzhindernisse konnte das Konzept von Resilienz weiter differenziert werden. Alle Resilienzfördernisse, als auch alle erforschten Resilienzhindernisse lassen sich auf dem MsRK verorten. Die Quellen und Hindernisse von Resilienz sind im psychischen, geistigen, strukturellen, sozialen und/oder im externen Kontext bzw. Kontext übergreifend zu finden. Im Bereich der „Frühen Prägungen“ ist für alle Frauen die Identifizierung als ethnische und politische „Kurdin“ eine eindeutig Resilienz fördernde Identifikation zur Bewältigung der Verfolgungs- und Foltererlebnisse. Des Weiteren ist für alle vier Frauen das naturnahe Aufwachsen in einem kurdischen Dorf mit Freiheit und innerem Frieden assoziiert, die in verschiedenen Stress- oder Krisensituationen resileinzförderlich war und ist. Im Themenbereich „Werte und Sinn“ wurde die in der Resilienzforschung bekannte Zuschreibung eines Sinns (Antonovsky 1997; Walsh in: WelterEnderlin/Hildenbrand 2006, S. 60-76 u. v. m.) als Resilienzfördernis bestätigt. Außerdem konnte die Relevanz von Spiritualität als Resilienzfördernis (Hawley/DeHaan 1996; Walsh in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 56-60) empirisch gestärkt werden. Eine hohe Ambiguitätstoleranz als Resilienzfördernis (Boss 2008, S. 135) zeigte sich in einer Fallanalyse. Das Improvisieren und Entdecken neuer „Rollen“ ist ein wichtiges, bisher noch nicht erforschtes Resilienzfördernis. Ebenso ist die soziale und juristische Anerkennung des Opferstatus in Deutschland Resilienz fördernd. Im Bereich „Familiäres und Soziales“ ist die Liebesheirat ein eindeutiges und konstantes Resilienzfördernis. Auch die familiären Bildungsorientierungen der Herkunftsfamilien stellten langfristig konsistente Resilienzfördernisse dar. Auf psychischer Sicherheit basierende konstante Beziehungen zu mindestens einer emotional stabilen Person während der Kindheit sind als Resilienzfördernisse erforscht (Werner/Smith 1992; Masten 2001; Helmreich 1992; Moskovitz 1983; Werner in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 53-54) und in den Analysen empirisch eindeutig bestätigt worden. Die „Fluchtmigration“ ist sowohl als Entwicklung einer „hybriden Identität“ (Bhabha 2000), als auch als Widerständigkeit gegenüber den restriktiven Lebensbedingungen als Flüchtling Resilienz förderlich. Außerdem eröffnete die Fluchtmigration erwartungsgemäß neue weibliche Handlungsspielräume, die auf verschiedene Weise konstant als Resilienzfördernisse genutzt wurden.
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Die Transformation zur „Erzählerin“ ist ein weiteres in dieser Dissertation analysiertes, eindeutiges und konstantes Resilienzfördernis, das bereits erforscht wurde (Grossmann/Grossmann 2007, S. 135-136; Whitbeck/Lorenz/Simons/ Huck in: Conger/Elder 1994, S. 149; Walsh 1998, S. 24, 45-49). Ein letztes eindeutiges transformatives Resilienzfördernis ist die Transformation der Wahrnehmungsqualitäten in der Situation der Folter. Nachdem ich die eindeutigen, konstanten und biografieübergreifenden Resilienzfördernisse zusammengefasst habe, stelle ich die Resilienzfördernisse vor, die eindeutigen, konstanten und biografieübergreifenden Resilienzhindernisse vor. Im Bereich „Werte und Sinn“ ist der kulturell verankerte Wert der „Ehre“ ein eindeutiges Resilienzhindernis zur Bewältigung der Foltererlebnisse bzw. zur Bewältigung der Fluchtmigration und von Vergewaltigung. Die innerfamiliäre „Rollenkonfusion“ ist ein konstantes Resilienzhindernis. Die Rolle als rechtlich Illegalisierte und die mit ihr verbundenen Handlungsbegrenzungen lösten nicht nur neuen Stress aus, sondern waren resilienzhindernd bei der Bewältigung der durch die Migration ausgelösten Krise. Die familiäre Rolle als „Widerstandszentrum“ war während der massiven Verfolgungszeit der KurdInnen ein Resilienzhindernis. Im Bereich „Familiäres und Soziales“ konnte die innerfamiliäre Beziehungskonstellation einer abgewerteten Mutter und eines idealisierten Vaters als Resilienzhindernis identifiziert werden. Ebenso ist die „Delegationsstrategie“ ein Resilienzhindernis bei der durch die Fluchtmigration ausgelösten Krise. Die „Zwischenräume“ als eigefrorene Autonomieentwicklung hat eine anhaltende Unzufriedenheit zur Folge und erschwert die Bewältigung der Krise in der Fluchtmigration. Die meisten empirisch erforschten Resilienzfördernisse waren entweder in einem anderen biografischen Zusammenhang, in einer anderen Fallanalyse oder im Kontext eines anderen Krisenereignisses Resilienzhindernisse oder Stressoren. Im Themenbereich „Frühe Prägungen“ sind Handlungen und Orientierungen an traditionell kurdischen Geschlechterarrangements sowohl resilienzfördernd als auch resilienzhindernd bzw. Stress auslösend. Die elterliche Gewalt ist ebenfalls ein nicht eindeutiges Resilienzhindernis, da ihr retrospektiv eine resilienzfördernde „vorbereitende“ Bedeutung zugeschrieben wurde. Das muslimische Mädcheninternat war innerhalb einer Biografie erst Resilienz fördernd und zum Ende der Schulzeit Stress auslösend und Resilienz hindernd. Im Bereich „Werte und Sinn“ ist die als Resilienzfördernis bereits bekannte „Schicksalsergebenheit“ (Lazarus/Fokman 1984, S. 140) in dieser Forschungsarbeit sowohl als Resilienzfördernis als auch als Resilienzhindernis erforscht wor-
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den. Ein uneindeutiges Resilienzfördernis, das in der bisherigen Resilienzforschung als eindeutiges und konstantes Resilienzfördernis bekannt ist (Walsh in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 60-76), ist das „Überzeugungssystem“. Die „Gerechtigkeit für KurdInnen“ und ihre jeweils persönliche Lebensphilosophie (Boss in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 80-92; Helmreich 1992; Moskovitz 1983; Werner in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 53-54) implizierte auch eine Resilienz hinderliche Orientierung an Gewalt. Die Eindeutigkeit und Konstanz dieses Resilienzfördernisses ist widerlegt worden. Auf dem Kontextlevel „Familiäres und Soziales“ wurde bereits erforscht, dass die familiäre Kohäsion unter Stress wachsen kann (DeMarco/FordGilboe/Friedemann/McCubbin/McCubbin in: Rice 2005, S. 343). Außerdem schrieb Walsh (1998), dass die freudvolle Gestaltung von Beziehungen Resilienz fördernd ist. Diese Resilienzfördernisse ließen sich in dieser Arbeit als „Familiensolidarität“ analysieren. Da die starke familiäre Kohäsion auch als Resilienz erforscht wurde, muss die bisherige Resilienzforschung relativiert werden. Darüber hinaus sind innerfamiliäre und außerfamiliäre unausgewogene NäheDistanz-Beziehungen als Einsamkeit und soziale Isolation als Resilienzhindernisse erkannt worden. „Starke Frauen“ als Resilienzfördernis waren zugleich ein Resilienzhindernis während der Zeit der Verfolgung. Die Frauen verfügten Resilienz fördernd entweder über eine auffällig große Handlungsautonomie, brachen kulturelle Normen oder entschieden sich bewusst für ein „traditionelles“ Leben. Resilienz hindernd waren diese Eigenschaften in Zeiten der Verfolgung, da sie schnell zur Zielscheibe türkischer StaatsvertreterInnen wurden. Die Delegationsstrategie und der Familienauftrag zur „Revolution“ waren keine konstanten und eindeutigen Resilienzfördernisse, sondern zeigten sich auch in ihrer Resilienz behindernden Seite. Die Mitschülerinnen waren Resilienz fördernd und hindernd. Die Fluchtmigration nach Deutschland bedeutete zuerst, wie auch Lafranchi (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 124) betont, Schutz vor der weiteren massiven Verfolgung und der Bedrohung einer erneuten Folter. Die durch die Fluchtmigration ausgelösten Krisen und Resilienzhindernisse, die die Forschungsliteratur zu Migrationserfahrungen (Breckner 2005, Schütz 1972) betont, erhielten vor allem langfristig Bedeutung. Die normative und von den Flüchtlingsfrauen als ausgrenzend erfahrene „Fremdheitserfahrung“ ist ein Resilienzhindernis, die die Bewältigung der durch die Fluchtmigration ausgelösten Krise erschweren oder auslösen kann. Diese Fremdheitserfahrung als konstitutives Element jeder Migrationserfahrung, wie es Schütz und Breckner nahelegen, ist in dieser Forschungsarbeit widerlegt worden.
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Grundlage für die Resilienz im biografischen Verlauf ist einerseits das MsRK und andererseits das MzVR. Diese beiden Modelle werde ich in dies „TrajektModells“ (Strauss 1991; Strauss/Corbin 2004) in einem zweidimensionalen Schema integrieren. Es wird auf der x-Achse die gesamte Biografie im Verlauf dargestellt, der auf der y-Achse von einer hohen Autonomie der Lebenspraxis (oben) bis zur umfassenden Heteronomie der Lebenspraxis (unten) reichen kann. Dabei sind die verschiedenen, zeitlich begrenzten Krisenverläufe an das in dieser Forschungsarbeit entwickelte MzVR angelehnt. Krisenverläufe, die sich über einen längeren biografischen Zeitraum erstrecken, sind in den Gesamtverlaufskurven erkennbar. Ein resilienter Krisenverlauf führt zu einem stabilen Gleichgewicht bzw. zu einer Autonomie der Lebenspraxis. D. h. die Kurve bewegt sich in die obere Hälfte des Schemas. Die Kurve kann sich stets nach oben und unten entwickeln und ist variabel. Die einzelnen, zeitlich kürzeren biografischen Krisenverläufe werde ich, wenn sie nicht von besonders großer Relevanz oder analytischer Aussagekraft sind, in nur einem Schema zusammenfassen. Biografisch besonders relevante Krisenverläufe werden in kleineren Schritten ausformuliert. Das MsRK ist die abstrahierte Grundlage der dargestellten konkreten Situationen. Die jeweils relevanten Ursachen, Wirkungen und Einflüsse für die Krisenentwicklung in Situationen werden in den Schemata verdeutlicht. Die situativen Schemata sind in Bezug auf die (Wechsel-)Wirkungen der jeweils relevanten Resilienzfördernisse, Resilienzhindernisse und Stressoren von von Hagen und Röper (in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 17-19) inspiriert worden. Ich stelle im Folgenden den biografischen Verlauf von Frau Hofmeister grafisch dar. Die Resilienz von Frau Hofmeister ist stark ausgeprägt. Sie verfügt über vielfältige Krisenbewältigungsmöglichkeiten und über eine meist hohe Autonomie ihrer Lebenspraxis. Durch die grafische Darstellung wird einerseits die zeitliche Komponente und andererseits die Einzelfallspezifik, Flexibilität und Wandelbarkeit von Resilienz deutlich. Analog zur Darstellung ihrer Resilienz im biografischen Verlauf können andere Fallanalysen im zeitlichen Verlauf dargestellt und abstrahiert zusammengefasst werden. Die grafische Darstellung ist ein wesentliches Ergebnis meiner Dissertation.
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a) Das Trajekt-Modell Das „Trajekt-Modell“ wurde von Corbin und Strauss (2004; Strauss 1991) im Zusammenhang mit der Pflege von kranken Menschen entwickelt. Es dient in erster Linie der optimalen Umsetzung der Pflege und Begleitung schwerst kranker Menschen, was sich begrifflich durch das englische Original „trajectory“=„Flugbahn/Verlaufskurve“ (der Krankheit) zeigt (Grötken, S. 1). Das Trajekt beinhaltet eine Verlaufskurve der Krankheit einer Person, die auf der x-Achse die Zeit und auf der y-Achse die Dependenz (von nahestehenden Personen bzw. Pflegepersonal) anzeigt. Diese Verlaufskurve ist je nach Krankheitsphase variabel und kann sich nach oben und unten entwickeln. Sie berücksichtigt das Handeln des/r Patienten/in, dessen/deren Familie und des Pflegepersonals. (Woog 1992) Abstrakt meint ein Trajekt einen sozialen Prozess, der einen strukturierten Zusammenhang zwischen der relevanten „Konditionellen Matrix“ und dem individuellen Handeln herstellt. Diese Verlaufskurve als Abstraktion ist in dieser Arbeit relevant, da auch die Resilienz, das Wohlbefinden bzw. die Autonomie der Lebenspraxis, im biografischen Verlauf betrachtet werden soll. Es soll nicht nur auszugsweise Resilienz kurz vor und nach Verfolgungssituationen, der Folter oder der Fluchtmigration erforscht werden, sondern die gesamte Biografie ist von Interesse und muss Beachtung finden. Daher ist die Entwicklung der biografischen Verlaufskurve der Resilienz ein wesentliches Ergebnis dieser Arbeit. In Abgrenzung zur Konzeption der Verlaufskurve bei Schütze (1995) möchte ich betonen, dass sich die Verlaufskurve in jeder biografischen Phase und Lebenssituation nach oben oder nach unten entwickeln kann. Schützes Verlaufskurven sind von einem Verlust der Handlungsmöglichkeiten und von Erfahrungen des Erleidens gekennzeichnet, die sich stets nach unten, zur Krise hin bewegen. Diese Kurve ist in den meisten Biografien nur ein kurzer Ausschnitt aus der Biografie und genügt auch in seinem zeitlichen Rahmen nicht der Fragestellung dieser Arbeit.
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Abbildung 3: Legende und weitere Erläuterungen
Die Legende stellt die Symbole vor, die in den situativen Darstellungen im Sinne des MsRK eingefügt wurden. Die Ovale stehen je nach Farbgebung für einen Stressor, ein Resilienzhindernis oder ein Resilienzfördernis. Im Zentrum jeder biografischen Situationsanalyse steht „Ego“. Die Wirkrichtungen der Stressoren, Resilienzfördernisse und Resilienzhindernisse werden durch Pfeile symbolisiert. Vor den in den Ovalen konkretisierten Stressoren, Resilienzfördernissen und -
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hindernissen steht jeweils ein Großbuchstabe. Dieser symbolisiert eine thematische Kategorie. Sie entsprechen den Themenbereichen der Resilienzfördernisse und Resilienzhindernisse, die in den Fallanalysen relevant sind: P = Frühe Prägungen (Psychischer Kontext) W = Werte und Sinn (Geistiger Kontext) R = Rollen (Struktureller Kontext) F/S = Familiäres/Soziales (Sozialer Kontext) M = Fluchtmigration/Zwischenräume (Externer Kontext/Kontextübergreifend) T = Transformationen (Kontextübergreifend) Der biografische Verlauf von Frau Hofmeister ist in einem zweidimensionalen Diagramm dargestellt. Auf der x-Achse befinden sich die Jahreszahlen, die biografischen Eckdaten bzw. biografischen Ereignisse, die eine biografische Relevanz haben. Die Einteilung der Jahreszahlen entspricht nicht mathematisch korrekten Abständen, sondern orientiert sich an der biografischen Bedeutung und dem Umfang der Geschehnisse während der biografischen Phase. Auf der y-Achse befinden sich im fließenden Verlauf von unten die totale Krise bzw. die totale Heteronomie der Lebenspraxis (geringe Resilienz) bis oben die maximale Autonomie der Lebenspraxis bzw. das stabile psychosoziale Gleichgewicht (ausgeprägte Resilienz). Auf der biografischen Verlaufskurve sind Buchstaben von A. bis O. eingezeichnet, die weiter unten als detaillierte Situationsanalyse bzw. Analyse einer kurzen biografischen (Krisen-)Phase im Sinne des MsRK ausformuliert werden. Die schematisch dargestellten Lebenssituationen sind mit „Überschriften“ versehen, die das Kernelement der Situation vorstellen. Die Höhe bzw. Tiefe der Verlaufskurve ist relativ im Kontext der gesamten Biografie und verglichen mit den Verlaufskurven der anderen, in dieser Dissertation analysierten biografischen Verläufe zu denken. Die Höhe bzw. Tiefe ist nicht als ein genaues Maß quantifizierbar, sondern als ungefähre Einordnung der Autonomie und Heteronomie der jeweiligen Lebenspraxis gemeint.
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a) Die Erzählerin: Delal Hofmeister Abbildung 4: Delal Hofmeisters Resilienz im biografischen Verlauf
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Zu A) „Das GastarbeiterInnenkind“ Abbildung 5: Biografische Phase A
Diese Grafik, die den Zeitraum rund um die Geburt von Frau Hofmeister veranschaulicht, zeigt die vielfältigen Einflüsse, die auf sie einwirkten. „Ego“ ist in dieser Darstellung mit gestrichelter Linie gekennzeichnet, da sich „Ego“ zur Geburt des Kindes noch nicht voll entwickelt hat. Der Stressor, der kurz nach der Geburt auf das Baby Delal Hofmeister einwirkte, war die Entscheidung der Eltern, ihre Tochter zur Großmutter väterlicherseits in die Türkei zu bringen und dort aufwachsen zu lassen. Diese sehr frühe Trennung von ihren Eltern bedeutete Stress für das Baby. Das GastarbeiterInnen-Milieu stellte neben dem Wunsch der Eltern nach einem Sohn und den traditionellen patriarchalen Geschlechterrollenvorstellungen der Eltern „widrige Umstände“ für Frau Hofmeister dar.
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Ein ambivalent besetzter Aspekt, der unterstützend und widrig war, war die Kernfamiliensituation in Deutschland. Einerseits trug diese Lebenssituation der Eltern dazu bei, die Tochter in die Türkei zu bringen und von ihren Eltern zu trennen, andererseits war die Kernfamiliensituation eine Lebensform, die der westlich-modernen Gesellschaft entgegenkam, d. h. sie war in der Migration anschlussfähig. Weitere Aspekte, die das Leben der Familie in Deutschland unterstützend beeinflussten, waren die moderne spirituelle Orientierung der Eltern als AlevitInnen und ihre Bildungsorientierung, die auch den Töchtern zugute kam. Die Bildungsorientierung schwächte die traditionellen Geschlechterrollenstereotype der Eltern ab. Diese Orientierung und das Alevitentum der Familie erleichterten die Bewältigung der durch die Migration ausgelösten Krise der Eltern und ihrer Kinder. Zu B) „Das Paradies“ Abbildung 6: Biografische Phase B
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Während ihrer Kindheit bei der Großmutter fühlte sich Frau Hofmeister glücklich und lebensfroh. Es war eine Zeit der Freiheit und der Naturverbundenheit. Das kurdische Dorf bestimmte Frau Hofmeisters Leben. Die berufstätige und liebevolle Oma und der wohlwollende Onkel waren die Hauptbezugspersonen, die als Teil der dörflichen Elite eine gehobene (AußenseiterInnen-) Position im Dorf innehatten. Die Oma und die Eltern erzogen Frau Hofmeister nicht wie ein typisch kurdisches Mädchen, sondern mit den Freiheiten eines kurdischen Jungen. Diese Lebensphase ermöglichten Delal Hofmeister, ein Gefühl der Freiheit zu entwickeln und den Wert der Freiheit zu entdecken. Diese blieb eine wichtige Orientierungsgröße für ihr weiteres Leben. Zwischen der „Oma als Vorbild“ und „Oma als Außenseiterin/Alleinerziehende“ bestand eine Dissonanz. Zu C) „Kampf um Autorität“ Abbildung 7: Biografische Phase C
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Diese Lebensphase Delal Hofmeisters, als ihre Eltern in die Türkei zurückkehrten und sich entschieden, mit ihren Kindern weg vom Dorf der Großmutter zu ziehen, war eine Zeit des Trennungsschmerzes für Delal Hofmeister. Erst musste sie sich von ihrer geliebten Oma trennen und schließlich schickten die gewalttätigen Eltern ihre „widerspenstige“ Tochter in ein Mädcheninternat. Sowohl ihr Freiheitsgefühl als auch die enge Bindung zur Oma wurden beeinträchtigt. Delal Hofmeister floh oft zum Haus ihrer Oma. Diese Flucht bedingte den Umzug der Kernfamilie Delal Hofmeisters in eine andere Region. Die elterliche Gewalt war ein weiterer Stressor für das Mädchen Delal Hofmeister. Die durch die Gewalt ausgelöste Krise konnte sie zügig durch geschwisterliche Solidarität, ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl als „Junge“ und den Familienauftrag der „Revolution“ mildern. Die retrospektive Sinnzuschreibung der elterlichen Gewalt, die sie gestärkt hätte für den Umgang mit weiteren Gewalterfahrungen wie die der Folter, war für Delal Hofmeister zum Zeitpunkt der Interviews resilienzfördernd. Durch diese früh erlittene Gewalt konnte sie die Folterungen besser ertragen, da sie um die Wirkung und den Schmerz von erlittener Gewalt wusste.
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Zu D) „Ruhe vor dem Sturm“ Abbildung 8: Biografische Phase D
Die Zeit im Mädcheninternat war geprägt von den Regeln, Strukturen und Werten eines traditionellen muslimischen Mädcheninternats. Einerseits konnte die Bildungsorientierung und der Lerneifer Delal Hofmeisters befriedigt und die Perspektive für ein unabhängiges Leben eröffnet werden. Andererseits entwickelten Konflikte zwischen der Orientierung an geschlechtlicher, religiöser und ethnischer Gleichberechtigung und der patriarchalen, traditionell muslimischen und türkischen Ausrichtung des Mädcheninternats. Ihr Fleiß, ihre revolutionären und Wertorientierungen an Gleichberechtigung und Freiheit machten Delal Hofmeister lange zu einer anerkannten und geschätzten Leitfigur unter den Mitschülerinnen.
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Zu E) „Ein plötzliches Ende“ Abbildung 9: Biografische Phase E
Das Ende ihrer Internatszeit war von vielfältigen Konfliktherden geprägt. Der Ausschluss vom Internat bedeutete den größten Stressor für Delal Hofmeister. Durch diesen Ausschluss wurden ihr (vorerst) einige Zukunfts-perspektiven vereitelt. Zu diesem Ausschluss kam es aufgrund ihrer widerständigen Überzeugungen, ihres Aleviten- und politisch motivierten Kurdischseins, durch die sie immer stärker in Konflikt mit dem sie umgebenden System geriet. Ihre Mitschülerinnen bewunderten Delal Hofmeister nicht mehr, sondern stellten sich gegen sie. Der Familienauftrag „Revolution“ ließ Frau Hofmeister weiter an ihren widerständigen Orientierungen und Handlungen festhalten, so dass es zum Bruch mit dem Internat kam. Auslöser für den Ausschluss vom Internat war die Flucht ihres Vaters und ihrer ältesten Schwester nach Deutschland, die von den türki-
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schen StaatsvertreterInnen als vermisst galten und als mögliche PKKKämpferInnen bewertet wurden. Die Flucht der beiden war nicht nur Auslöser, sondern auch ein Resilienzhindernis bei der durch den Internatsausschluss ausgelösten Krise. Zu F) „Wahrnehmung als letzte Möglichkeit“ Abbildung 10: Biografische Phase F
Zum Beginn der Folter konnte Delal Hofmeister zwei Resilienzfördernisse dem Schmerz und dem damit einhergehenden Krisenprozess entgegensetzen. Einerseits half ihr ihre den Schmerz distanzierende genaue Selbstwahrnehmung und andererseits ihre Überzeugung, auf der „richtigen“ Seite zu stehen. Der Schmerz wirkte direkt auf und in das Zentrum, bis zu ihrem „Ego“. Die kurzzeitig innere Distanz zum Schmerz gewährende Selbstwahrnehmung und die den Schmerz im
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Kontext der kurdischen Freiheitsideologie kategorisierende Bewertung kämpften mit den Schmerzen. Zu G) „Die totale Heteronomie“ Abbildung 11: Biografische Phase G
Schließlich dominierten die Situation, die Folterer und der zugefügte Schmerz die gesamte Situation. Je länger die Folter andauerte, desto stärker traten die Resilienzfördernisse hinter dem absolut werdenden Schmerz in den Hintergrund. Es existierte keine Welt mehr außerhalb der Folter. Der äußere Kontext der Foltersituation ließ keinen Gedanken und keine Wahrnehmungen außer über sie selbst zu. Die Folterer bestimmten auf der sozialen Ebene die Situation total und verunmöglichten jede Interaktion. Die Heteronomie war vollkommen. Der Schmerz erfüllte die Psyche und wirkte bis in das Innerste von Delal Hofmeister.
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Die Grenzen von „Ego“ wurden eingerissen. In den Momenten des absoluten Schmerzes verschwand für diesen Zeitraum „Ego“ im Schmerz. Zu H) „Der Kampf beginnt“ Abbildung 12: Biografische Phase H
Die Zeit kurz nach der ersten Folter war geprägt von der Suche nach geeigneten Krisenbewältigungsmöglichkeiten. Vorerst kehrte Delal Hofmeister in das Dorf ihrer Eltern, in dem nur noch ihre Mutter lebte, zurück. Dort drohte ihr erneute Folter durch die Präsenz türkischer Polizei, des türkischen Militärs. Diese dauerhafte Stresseinwirkung ließ sie nach weiteren Handlungsperspektiven suchen. Der finanzielle Mangel machte eine Flucht nach Deutschland unmöglich. Daher war die Perspektive, PKK-Kämpferin zu werden, die Möglichkeit für Frau Hofmeister, zumindest einen Schritt in Richtung Handlungsautonomie zu vollziehen. Ihr nach der Folter entstandener Selbsthass war ein Stressor für Delal Hofmeis-
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ter. Der Selbsthass konnte durch die Perspektive „PKK-Kämpferin“ nach außen auf ihre generalisierten Täter, (die Männer bzw.) die Türken, gerichtet werden. Die kurdische Freiheitsideologie wirkte in dieser Situation resilienzfördernd, da sie Frau Hofmeister nach der Situation absoluter Handlungsohnmacht eine Möglichkeit zur Entwicklung neuer Handlungsautonomie gab. Die „Perspektive PKK“ und ihre neue Rolle als PKK-Kämpferin waren gleichzeitig resilienzfördernd (Entwicklung von Handlungsautonomie) und resilienzhindernd (auf Ebene der Gewalt bleibend und somit heteronom). Zu I) Die Kämpferin Abbildung 13: Biografische Phase I
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Delal Hofmeister hat während ihrer aktiven Zeit bei der PKK ihren nach den Folterungen entwickelten Selbsthass vollends in einen generalisierten „Hass auf Männer“ transformiert. Dies war in dieser Lebenssituation für sie ein Resilienz fördernder Transformationsschritt von der Selbstzerstörung in die nach außen gerichtete Aggression. Durch diese Transformation konnte Delal Hofmeisters „Ego“ und ihre Handlungsfähigkeit wieder aufgebaut werden. Dennoch blieb sie in ihrer Orientierung und Handlungsqualität auf der Resilienz hindernden Gewaltebene. Ihr Hass als ein Stressor in dieser Lebenssituation richtete sich abstrakt auf alle Männer und konkret auf Vertreter des türkischen Staates wie türkische Soldaten oder Polizisten. Der Familienauftrag „Revolution“ und die kurdische Freiheitsideologie waren resilienzhindernd, da sie Delal Hofmeisters Gewalthandlungen befürworteten. Dies verhinderte eine Transformation in eine weitergehende Autonomie auf die Ebene der Gewaltlosigkeit. Ihre Gewaltbereitschaft und der Familienauftrag manifestierten Delal Hofmeister in ihrer Rolle als PKK-Kämpferin. Die kurdische Freiheitsideologie war gleichzeitig ein Resilienzfördernis, da sie Frau Hofmeister zu größerer Handlungsautonomie verhalf.
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Zu J) Schreiben für Beziehungen Abbildung 14: Biografische Phase J
Die Zeit im Gefängnis bedeutete für Delal Hofmeister ein äußeres Begrenztsein und innere Transformationsschritte. Vor ihrem Gefängnisaufenthalt war sie erneut gefoltert worden. Diese Folterungen reproduzierten ihren ambivalent besetzten und Stress auslösenden generalisierten Hass auf alle Männer. Dieser Stress bestimmte zu Beginn des Gefängnisaufenthaltes ihre Lebenssituation. Ihr zehn Monate langes Leben im Gefängnis konnte Delal Hofmeister sehr gut für ihre Resilienz förderliche psychosoziale Entwicklung, für neue Interaktionswege und ihre Rehabilitation nutzen. Frau Hofmeister baute Kontakte zu anderen kurdischen Frauen innerhalb des Gefängnisses auf, die gemeinsam ihren Gefängnisalltag organisierten und sich inhaltlich über ihre (politischen) Einstellungen, Aktivitäten und Erfahrungen austauschten. Außerdem entdeckte sie während dieser
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Lebensphase das schriftliche Erzählen und Interagieren in Form von Briefen, durch das sie mit FreundInnen und Bekannten außerhalb des Gefängnisses Kontakt halten bzw. aufbauen konnte. Dieses Erzählen und Interagieren war für Frau Hofmeister der Beginn ihrer konstruktiven und friedvollen Bewältigungsstrategie. Zu K) Auf der Flucht Abbildung 15: Biografische Phase K
Frau Hofmeister floh aufgrund der andauernden Verfolgungssituationen nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis nach Deutschland. Dies gelang ihr aufgrund der ökonomischen Unterstützung durch ihre Familie. Andererseits schien ihr die Perspektive, erneut für die PKK zu kämpfen, nicht mehr möglich zu sein, da ihr Onkel von der PKK ermordet worden war. Delal Hofmeister tauchte in Istanbul unter. Bereits dort spielte sie mit verschiedenen Identitäten, da sie sich vor der Polizei verstecken musste. Das Improvisieren mit verschiedenen Rollen hatte sie
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von ihrer Großmutter erlernt, die ungewöhnlich viele Rollen in ihrem Leben einnahm und mit diesen improvisierend und Resilienz fördernd umging. Als gebildete, moderne und westlich aufgeschlossene Alevitin fiel Delal Hofmeister ein Leben in der Großstadt Istanbul nicht schwer. Die Perspektive, nach Deutschland zu fliehen, eröffnete ihr noch mehr Möglichkeiten. Zu L) Asylbewerberin bzw. Geduldete in Deutschland Abbildung 16: Biografische Phase L
Die Migration nach Deutschland schützte Delal Hofmeister Die Existenz bedrohliche Situation der dauerhaften Verfolgung und erneuten Folter wurde beendet. Die juristisch auferlegte Rolle als Asylbewerbende und später als Geduldete bedeutete vor allem langfristig Stress auf verschiedenen Ebenen. Die zum Beginn ihres Lebens in Deutschland geringen Sprachkenntnisse und das Leben in einem Flüchtlingsheim waren Resilienzhindernisse bei der Bewältigung ihrer Folterer-
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lebnisse. Krisen mindernd waren die Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie, ihre Eigeninitiative, durch die sie einen Job bei einer großen Fast-Food-Kette bekam und ihre ausgeprägte Bildungsorientierung. Diese ermöglichte Frau Hofmeister das zügige Erlernen der deutschen Sprache und den erfolgreichen Abschluss der Haupt- und Realschule. Ihre politische Überzeugung, dass Flüchtlinge in Deutschland gerechter behandelt werden sollten, machte sie widerständig gegenüber den widrigen Lebensumständen als Asylbewerbende und Geduldete. Der Status als rechtlich nicht anerkannter Flüchtling war krisenauslösend. Dennoch realisierte sie ihre Lebenspraxis mit den größtmöglichen Autonomiepraktiken. Zu M) Das Leben als rechtlich Illegalisierte Abbildung 17: Biografische Phase M
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Die rechtliche Illegalisierung Frau Hofmeisters entstand durch ihre gelungene Flucht vor ihrer bevorstehenden Abschiebung. Dieses „Rollenspiel“ bzw. die improvisierte Rollenübernahme rettete sie vor einem erneuten Leben als Verfolgte in der Türkei. Das Leben als rechtlich Illegalisierte beeinflusste den gesamten Lebensalltag von Frau Hofmeister und wirkte sich krisenauslösend auf sie aus. Ihre Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten waren stark begrenzt. Frau Hofmeister versteckte sich bei einer Mitarbeiterin von Amnesty International und erledigte als Gegenleistung den Haushalt der Frau. Diese Situation war einerseits resilienzfördernd, da Frau Hofmeister eine Unterkunft und Verpflegung hatte, andererseits geriet sie in eine große (finanzielle) Abhängigkeit und in eine arbeitsbezogene Ausbeutungssituation. Delal Hofmeister lebte in ständiger Angst, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs war, von der deutschen Polizei aufgegriffen und doch abgeschoben zu werden. Sie begann während dieser Lebensphase, ein autobiografisches Buch zu schreiben, das mit Hilfe eines prominenten Schriftstellers und Amnesty International gedruckt und von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Auch die deutschen Behörden konnten sich der öffentlichen Wirkung und des Inhalts, der von einer politisch verfolgten Frau erzählt, nicht entziehen. Durch die öffentliche Rehabilitation als erhörtes und anerkanntes Opfer von Verfolgung und Folter wurde die rechtliche Rehabilitation, die juristische Anerkennung als politisch verfolgter Flüchtling ausgelöst. Die autobiografische Veröffentlichung stellte ein enormes Resilienzfördernis für Frau Hofmeister dar. Sie konnte gleichzeitig ihren Status als Flüchtling und als Folterüberlebende verändern.
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Zu N) Das Leben als Anerkannte Abbildung 18: Biografische Phase N
Diese Lebensphase war durch resilienzfördernde, durch freudvolle Ereignisse geprägt. Die Fluchtmigration ermöglichte Delal Hofmeister ihre Rehabilitation als Folterüberlebende, die Erfüllung ihrer starken Bildungsorientierung und das Kennenlernen ihrer großen Liebe. Die Veröffentlichung ihrer Biografie, die Lesungen, ihr nachgeholtes Abitur und ihr gesellschaftlich integrierter und anerkannter künftiger Ehemann eröffneten ihr eine breite gesellschaftliche Partizipation und Integrationsmöglichkeiten. Während dieser Lebensphase war Delal Hofmeister glücklich und handlungsautonom.
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Zu O) Die Resiliente Abbildung 19: Biografische Phase O
In dieser gegenwärtig noch andauernden Lebensphase vermischen sich verschiedene Resilienzfördernisse mit Stressoren und Resilienzhindernisse. Die Migration ermöglichte Delal Hofmeister ein Leben in Frieden, die Liebeshochzeit mit Herrn Hofmeister und die Aufnahme eines Studiums. Die Hochzeit mit einem Deutschen entsprach ihrem Familienauftrag „Revolution“. Dieser resilienzfördernde Aspekt ermöglichte ihr das Heiraten eines westlich modernen Deutschen mit stärkeren Gleichberechtigungsansprüchen, als sie bei der Mehrheit der türkisch- oder kurdischstämmigen Männern anzutreffen sind. Traditionell und nach dem Wunsch ihrer Eltern hätte Frau Hofmeister einen Kurden oder Türken heiraten müssen. Die traditionelle Orientierung bezüglich der Aufgabenverteilung der Eheleute zeigte sich in ihrer Rolle als Mutter und Hauptverant-
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wortliche für den Haushalt. Diese Rolle und der Wunsch, eine in allen Belangen unabhängige Frau zu sein, konfligierten miteinander. Dieser Konflikt bewirkte, dass beide Aspekte auch resilienzhindernd sind. Während der Zeit in den kurdischen Gebieten war Frau Hofmeister das Eingebettetsein in einen größeren sozialen Kontext als in den der Kernfamilie gewöhnt. Diesen größeren sozialen Kontext vermisste sie zum Zeitpunkt der Interviews. Der Wunsch nach einem regen Sozialleben stand im Konflikt mit dem relativ isolierten Leben auf dem Land, bei dem sie auf die Kernfamilie zurückgeworfen wurde. Auch wenn dieses Leben ihr Naturbedürfnis erfüllte, brachte sie ihren ständigen Bluthochdruck mit ihrer isolierten Situation als Mutter und Hausfrau und mit dem Umzug aufs Land in Verbindung. Der Bluthochdruck beeinträchtigte Frau Hofmeister in ihrem Lebensalltag. Insgesamt gab Frau Hofmeisters Biografie viele Beispiele für gelebte Resilienz in verschiedenen Lebenssituationen. Sie konnte neben einigen Stressoren und Resilienzhindernissen auf eine resiliente Identitätsentwicklung bauen, bei der sie kulturelle Vielfalt in ihrer Lebensgestaltung integrierte und mit Ambivalenzen umzugehen wusste. In diesem Sinn hat Frau Hofmeister eine hybride Identität (Bhabha 2000) entwickelt. In ihrer biografischen Resilienz konnte ich die Wandelbarkeit, Vielschichtigkeit und die Kontextgebundenheit von Resilienz gut durch die Diagramme zusammenfassen.
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In diesem Abschnitt fasse ich die Ergebnisse und die Antworten auf die Fragestellung dieser Forschungsarbeit „Wie und was ermöglicht Kurdinnen aus der Türkei ein psychosoziales Leben während und nach andauernder Verfolgung, Folter und Flucht?“ zusammen. Die Verfolgungssituationen und die Folterungen sind eindeutig und konstant Stressoren im Leben der Frauen. Von dem Zusammenspiel der Stressoren mit relevanten Resilienzfördernissen und Resilienzhindernissen hängen der Krisenverlauf und die individuellen Restabilisierungsmöglichkeiten ab. Die Fluchtmigration war Stressor, Resilienzfördernis und/oder Resilienzhindernis. Sie verhält sich biografisch variabel. a) Verfolgung: Krisen in Raten Die Verfolgung der KurdInnen durch türkische Sicherheitskräfte war während der Lebenszeit der vier Frauen in der Türkei unterschiedlich stark ausgeprägt. Alle Frauen erlebten Situationen der Verfolgung. Ab Ende der 1970er Jahre be-
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gannen in den kurdischen Gebieten Unruhen und Auseinandersetzungen, die rasch zu Eskalationen führten. Während der 1980er Jahre, in denen die Frauen in den kurdischen Gebieten der Türkei lebten bzw. aufwuchsen, waren bürgerkriegsähnlich und von vielfältigen Verfolgungs- und Gewalterfahrungen geprägt. Alle Verfolgungssituationen waren stets Stress auslösend und wirkten vom externen Kontext auf die verschiedenen Kontextlevel bis zum Innersten, dem „Ego“. Resilienzfördernisse, die entweder während oder nach den Verfolgungssituationen Stress abbauten bzw. den einsetzenden Krisenverlauf verkürzen halfen, sind auf dem geistigen Kontextlevel der Glaube an und das Handeln im Sinne einer „kurdischen Freiheitsideologie“, einer „Gerechtigkeit für KurdInnen“ und der „Schutz durch Naturelemente“. Auf dem strukturellen Kontext wirkten die „widerständige kurdische Mutter“ und die „aktive Mitarbeit“ in verschiedenen, nicht gewaltorientierten kurdischen Organisationen Resilienz fördernd. Der soziale Kontext konkretisierte Resilienzfördernisse in Form der „Familiensolidarität“, als „Umzug der Familie in die Stadt“ und im allgemein „solidarischen Zusammenhalt der KurdInnen“. Resilienzfördernisse im Zusammenhang mit Verfolgungssituationen wurden auf dem geistigen, strukturellen und dem sozialen Kontextlevel erforscht. Resilienzhindernisse im Zusammenhang mit Verfolgungssituationen waren folgende: Der geistige Kontext beinhaltet die „bedingungslose Familiensolidarität“, die „kurdische Freiheitsideologie“ und das „Prinzip der Sippenhaft“ (auch: externer Kontext), die den jeweiligen Krisenverlauf ungünstig beeinflussten. Auf dem sozialen Kontext waren der „Verlust naher Verwandter“, die „Fluchtmigration von nahen Verwandten“, die „Entsolidarisierung naher Verwandter“ und „Verwandte im aktiven kurdischen Widerstand“ Resilienzhindernisse bei der Bewältigung der durch die Verfolgung ausgelösten Krise bzw. hinderlich während der Verfolgungssituationen. Resilienzhindernisse im Zusammenhang mit Verfolgungssituationen konnten auf dem geistigen und sozialen Kontextlevel gefunden werden. Bestimmte kulturelle „Werte“ und insbesondere familiäre Beziehungen behinderten und erschwerten den Prozess der Bewältigung und den Umgang mit Verfolgung. Ich konnte in diesem biografischen Zusammenhang die „kurdische Freiheitsideologie“, die „Familiensolidarität“ und andere Familienmitglieder im „kurdischen Widerstand“ als ambivalente, nicht konstante Resilienzfördernisse bzw. Resilienzhindernisse erarbeiten. Während der Zeit der „chronischen“ Verfolgung beeinträchtigten die allgemeine Diskriminierung, die Repression und der Konflikt zwischen TürkInnen und KurdInnen den Alltag der vier Mädchen/Frauen. Alle vier Frauen entwickelten durch die Verfolgung ein Bewusstsein und ihre Identität als „Kurdin“. Die
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Lebenssituation als latent Verfolgte und diskriminierte Minderheit in der Türkei politisierte und ideologisierte die Gruppe der KurdInnen und ließ eine breite Solidarisierung mit allen anderen KurdInnen entstehen. Diese Facette ihrer Identität half den Mädchen bzw. Frauen, mit den Demütigungen, den Ängsten und dem Leid besser zu leben. Im biografischen Kontext der allgegenwärtigen Verfolgung und der dauerhaften Diskriminierungen erhielten die Mädchen bzw. Frauen neben ihrer Identifikation als Kurdin eindeutig und kontinuierlich Schutz durch ihre Bildungsorientierungen (geistiger Kontext), durch ihre Rolle als Leitfigur (struktureller Kontext) und durch Familienangehörige und Mitschülerinnen (sozialer Kontext). Auch die Rolle als „elitäre Außenseiterin“ war ein Resilienzfördernis zur Bewältigung der „chronischen“ Verfolgungssituation der KurdInnen in der Türkei b) Folter: Die bedrohte Existenz Die Folterungen sind die stärksten und am weitesten reichenden Stressoren. Die Möglichkeiten, über die Menschen verfügen während der, kurz und langfristig nach den Folterungen, die Wirkung des Stressors bzw. den Krisenprozess zu mildern, sind begrenzt. Während der Foltersituationen wird der gesamte externe Kontext von der absoluten und die Welt negierenden „Sozialsituation“ eingenommen. Auf der sozialen Ebene dominieren die Folterer den gesamten Kontextlevel, die durch die Zufügungen von Schmerz und der absoluten Machtfülle der Folterer, der die Gefolterten unterliegen, über den die psychische Ebene erfüllenden Schmerz bis zur Zerstörung des „Ego“ wirken können. Der Foltersituation als eine die Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeit negierende und zerstörende „Sozialsituation“ konnte lediglich zum Folterbeginn durch eine „konzentrierte Wahrnehmung“ auf dem psychischen und die „kurdische Freiheitsideologie“ auf dem geistigen Kontext kurzzeitig dem Schmerz entgegengesetzt werden. Erschwert wurde die Folter durch das Resilienzhindernis und den weiteren Stressor der „Anwesenheit von Familienmitgliedern während sexueller Folter“ auf dem sozialen Kontextlevel. Die Folter sollte, so eine meiner Erkenntnisse, in eine Anfangs- und eine Hauptphase der Folter unterschieden werden. Während der Anfangsphase konnten die Gefolterten dem Schmerz, den Folterern und der Folter etwas entgegensetzen und einen Rest ihrer Interaktionsfähigkeit aufrechterhalten. Diese wurde im Laufe der Folter vollkommen negiert und zerstört. Die Gefolterten konnten, wie bereits Scarry (1992, S. 69-75) betont hat, nicht mehr reagieren. Insofern ist die sich auf Jean-Paul Sartre beziehende Ausführung über die Situation der Folter, bei der die identitätsbildende Verobjektivierung des Gegenüber und des ei-
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genen Ich zerstört wird, zutreffend. Nicht zutreffend ist nach meinen Erkenntnissen, dass im gesamten Folterakt, in dem die Folternden die Verdinglichung des Opfers ins Extrem treiben und damit ihre eigene Objekthaftigkeit aufheben, eine Wende im Kampf stets möglich ist, da die gefolterte Person noch immer über einen „freien Willen“ verfüge. (Ellrich in: Burschel/Distelrath/Lembke 2000, S. 62-63) Dieser „freie Wille“ ist, wie ich analysiert habe, dem gefolterten Menschen zum Beginn der Folter noch verfügbar, er verschwindet durch die Auflösung des „Ego“ im Laufe der Folter durch ihre/seine eigene Verobjektivierung vollkommen im Schmerz. Ähnlich hat es Sofsky (1996, S. 74) formuliert, als er schrieb, dass der gefolterte Mensch „im Schmerz … ganz Leib, nichts sonst ist.“ Die gewonnene Erkenntnis über die zeitlichen Prozesse innerhalb der Foltersituation erlaubt, der Perspektive Jan Philipp Reemtsmas (1991, S. 17) auf die Folter als größtmögliche Individuierung der gefolterten Menschen, da sie alles außer ihm auf die Zufügung von Pein reduziere, zu widersprechen. Es ist während der Hauptphase der Folter keine größtmögliche Individuierung des gefolterten Menschen, sondern seine vollkommene Verobjektivierung und Auflösung des „Ego“, des „Ich“, dessen, was ein Individuum ausmacht. Nach der Analyse der Folter folgt die Zusammenfassung der Krisenentwicklungen nach den Folterungen. Diese biografische Phase konnten die Frauen kurzfristig durch einen „strukturierten Alltag“ auf allen Kontextebenen, auf dem psychischen Kontextlevel durch die „Versteinerung“ bzw. „Dissoziation“ und durch den „Hass auf Männer“ gemildert werden. Hassgefühle können, so auch Becker (1992), kurz nach Folterungen resilienzfördernd sein, sind es aber langfristig nicht, da sie auf der Ebene der Gewalt bleiben und eine Versöhnung (mit sich selbst) verhindern. Langfristig konnten auf der Ebene des Psychischen bzw. des Sozialen „Psychotherapien“ als Resilienzfördernisse analysiert werden. Auf dem geistigen Kontextlevel waren verschiedene spirituelle Überzeugungen und Praktiken, sowie die „kurdische Freiheitsideologie“ und die aktive Beteiligung an ihr, die Perspektive und die reale „Fluchtmigration“, „politische Aktivität" und eine gewisse „Schicksalsergebenheit“ Resilienz fördernd. Die strukturelle Ebene bot die „rechtliche Anerkennung als Flüchtling“, die gesellschaftliche Anerkennung als „Opfer“ und „traditionelle Geschlechterrollenverteilung“ als Resilienzfördernisse. Auf dem sozialen Kontext waren das „Erzählen“, die „Kernfamilie“ , die „eheliche, familiäre, kurdische Solidarität und innere Kohäsion“, die elterliche Gewalt als „Vorbereitung für die Folter“ und neu entwickelte Beziehungen Resilienzfördernisse zur Bewältigung der durch die Folterungen ausgelösten Krise. Die „Fluchtmigration“ nach Deutschland stellte ein mindestens kurzfristig wirksames Resilienzfördernis des externen Kontextes dar.
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Auf das Resilienzfördernis „Erzählen“ gehe ich näher ein, da im Laufe dieser Forschungsarbeit verschiedene Forschungsergebnisse, die das Erzählen über extreme und traumatische Erlebnisse von heilsam bis unmöglich oder nur unter bestimmten Bedingungen als Resilienz fördernd betrachtet haben (Ahmad 1996; Graessner/Wenk-Ansohn 2000; Platt 1998; Scarry 1992; Semprum 1989; Rosenthal 2002; Terr 1997; Wiesel 1993), erläutert wurde. Das Erzählen nimmt nicht nur in psychotherapeutischen Richtungen, sondern auch im Rahmen in dieser Forschungsarbeit z.B. bei der Datenerhebung, der Interviews, eine zentrale Rolle ein. In den vergleichenden Fallanalysen zeigte sich, dass bei einigen stets, bei anderen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen wie in psychotherapeutischen Settings oder in Seminaren das Erzählen über ihre Foltererlebnisse Resilienz fördernd war. Damit kann ich die Position der ForscherInnen bestätigen, die das Erzählen als befreiend, als Krisen mindernd und Autonomie stärkend kategorisiert haben (Ahmad 1996; Blanchot 1993; Boss 2008; Groninger 2006; Kinston/Cohen 1986; Laub 2000; Rosenthal 1995). Langristig sind Resilienzhindernisse im Kontext mit Folter und deren Krisenbewältigung auf dem psychischen Kontextlevel die „Versteinerung“ bzw. „Dissoziation“, die aufgrund der Folterungen einsetzende „eheliche Gewalt“, der „Selbsthass“ und das „Gefühl der Isolation“ (alle auch: Stressoren), der „Hass auf Männer“ und die „Scham“. Auf dem geistigen Kontextlevel sind die „kurdische Freiheitsideologie“, die „Ehre“ und die (durch die Familie vermittelte) „Gewaltbereitschaft“ Resilienzhindernisse nach den Folterungen. Auf der strukturellen Ebene waren die Rolle der „kurdischen Freiheitskämpferin“, des „rechtlich nicht anerkannten Flüchtlings“ und die „traditionellen Geschlechterrollenverteilungen“ Resilienz hindernd. Der soziale Kontext beinhaltete die „türkischen Sicherheitskräfte“, den „Familienauftrag: Revolution“ und die „gemeinsame Flucht der Eheleute“. Auf dem externen Kontext sind einige kulturelle Besonderheiten wie „hoher Individualismus“ und „geringer sozialer Zusammenhalt“ sowie „fehlende (familiäre) ökonomische Ressourcen“ Resilienzhindernisse im Zusammenhang mit Krisenbewältigungen nach Folterungen. Sowohl Resilienzfördernisse als auch Resilienzhindernisse sind auf allen Kontextebenen zu finden und wirken von allen auf alle Kontextebenen bis zum „Ego“. Auch dies zeigt, dass das gesamte System eines Individuums von der Folter betroffen ist. In der Analyse dieses biografischen Einschnitts zeigt sich erneut die Ambivalenz und Wandelbarkeit der Resilienz. Die Resilienzfördernisse „Hass auf Männer“, die „Versteinerung“ bzw. „Dissoziation“, die „kurdische Freiheitsideologie“ und die „gemeinsame Flucht“ waren in anderen biografischen Fallanalysen oder zu einem späteren biografischen Zeitpunkt Resilienzhindernisse.
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Die Verlaufsmuster nach traumatischen Erfahrungen kann, wie auch bei Hepp (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 147-151) zu finden ist, anfänglich schwere und später rückläufige Symptome zeigen. Dieser Verlauf ist eine resiliente Krisenbewältigung (Frau Hofmeister). Bei ihr hat ein „posttraumatic growth“ (Tedeschi/Calhoun 2004) stattgefunden. Sie veränderte während der Folter ihre Selbstwahrnehmung und entwickelte nach den Folterungen neue Beziehungen und ihre Autonomie der Lebenspraxis stärkende Interaktionsstile. Ein anfänglicher Symptomrückgang und ein späterer Anstieg der Symptome bzw. eine Vertiefung der Krise habe ich bei Frau Karahan analysiert. Sie konnte den Krisenverlauf durch verschiedene Resilienzfördernisse günstig beeinflussen, so dass sie keine lang anhaltende Traumatisierung entwickelt hat. Die Variante Hepps, dass nach den traumatischen Erlebnissen kontinuierlich ansteigende Symptome entwickelt wurden, ist bei keiner der Frauen zu finden. Frau Coskun und Frau Arslan befinden sich konstant im Krisenbereich und mehr in der Heteronomie ihrer Lebenspraxis, es gibt aber Höhen und Tiefen, die nicht immer mit den Foltererlebnissen im Zusammenhang stehen. Ihre Symptome steigen außerdem nicht kontinuierlich an. Sie zeichnen sich durch sporadisch wiederkehrende starke Krisenphasen mit Lebensphasen größerer Autonomie ihrer Lebenspraxis aus, die sich in Wellenbewegungen begrenzt nach oben und stärker nach unten entwickeln. Ihre Krisenverläufe sind sehr stark mit den biografischen Verläufen ihrer Kinder verbunden. Ihre beiden Krisenverläufe sind in Hepps Studie nicht als typische Verlaufsmuster erforscht. Langfristig ist ein restloses Befrieden mit den Foltererfahrungen nicht möglich. Es können, wie ich es bei allen vier Frauen analysierte, immer wieder Einbrüche in die Normalität stattfinden. Auch sehr resiliente Menschen entwickeln z. B. psychosomatische Beschwerden und können die Foltererfahrungen nicht aus ihrem Leben „löschen“ oder vergessen. Insofern stimmt möchte ich die Aussage Jean Amérys (1977, S. 73): „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“, um folgendes ergänzen: Wer der Folter erlag, kann nicht mehr so heimisch werden in der Welt, wie sie/er vorher heimisch gewesen sein konnte. Die Möglichkeiten des Heimischwerdens sind nach den Folterungen begrenzter als vorher. Dennoch können Menschen ihren Weg im Leben nach den Folterungen finden und mit diesen Erfahrungen als bewusst anerkannten Teil ihrer Biografie leben. Die Folterungen werden bei resilienten Menschen weder langfristig abgespalten noch sind sie der einzige Lebensinhalt. Sie können sich mit dem Bewusstsein dieser extrem leidvollen Erfahrung ein Leben in Autonomie und individueller Kohärenz wieder aufbauen. Dieser Prozess bedeutet im Kontext von Folter Resilienz.
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Die in der Resilienzforschung bekannte Metapher für Resilienz als Druck auf eine Brücke, die nie bricht (Boss 2006, S. 47-49), muss ich widersprechen. Die Brücke bricht im Zusammenhang mit Folterungen stets, da “Ego“ und damit das Individuum und die Interaktionsfähigkeit aufgelöst werden. Die Brücke muss neu (neue Orientierungen und Handlungen) errichtet oder die Person greift auf andere Brücken (alte Orientierungs- und Handlungsmuster) zurück Dem kulturellen Konzept der „Ehre“ räume ich an dieser Stelle einige Zeilen ein, da es für die Resilienz der vier Frauen, auf gesellschaftlicher, kultureller, sozialer, psychischer Ebene bis zum „Ego“ weit reichende Wirkungen beinhaltete. Die „Ehre“ spielte insbesondere im Zusammenhang mit der Bewältigung der Folter eine entscheidende Rolle. Einerseits wurde seitens der Folterer durch die sexuelle Folter (Androhen von Vergewaltigung, tatsächliche sexuelle Folter, sexuelle Folter vor den Augen männlicher Familienangehöriger etc.) und andererseits durch die Konsequenzen, die in der kurdischen Kultur aus der (vermuteten) sexuellen Folter erwachsen (Ausstoß, Verstoß, eheliche Gewalt, Mord), im Namen der „Ehre“ die Gewalt durch die Ehemänner fortgesetzt und eine Bewältigung der Folter bei zwei der vier Frauen unmöglich gemacht wurde. Die Verletzung der „Ehre“ der Frauen durch die sexuelle Folter bewirkte bei ihnen teilweise eine Legitimation der Gewalt gegen sie durch ihre Ehemänner bzw. produzierte kurz- und langfristig Schuld- und Schamgefühle, die eine nachhaltige Bewältigung deutlich erschwerten. c) Fluchtmigration: Resilienzfördernis, Resilienzhindernis und Stressor Die Fluchtmigration kann in verschiedenen biografischen Kontexten sowohl ein Resilienzfördernis, als auch ein Resilienzhindernis oder ein Stressor sein. Die Fluchtmigration ist vor dem Fluchtgrund „Folter und Verfolgung“ vorerst ein Resilienzfördernis, da sie Schutz vor erneuter Verfolgung oder Folter bietet. Mittel- und langfristig entwickelten sich aus der Situation der Fluchtmigration verschiedene Krisenmomente und -phasen, die individuell bewältigt werden mussten. Der Fluchtmigration gingen akute Verfolgungssituationen voraus. Während der Phase der Binnenflucht mussten sich die Flüchtenden vor der Staatsgewalt verstecken, da sie illegal mit gefälschten Papieren die Türkei verließen. Sich verstecken zu müssen und das permanente Gefühl bzw. das reale Verfolgtsein durch PolizistInnen oder Soldaten erzeugte neuen Stress bzw. war ein Resilienzhindernis auf dem sozialen bzw. externen Kontext zur Bewältigung der Foltererfahrungen. Resilienzfördernd war während der Fluchtmigration auf dem geistigen Kontext das „Alevitischsein“ und die „Fluchtperspektive: Deutschland“, im struktu-
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rellen Kontext die „Rollenimprovisation“ und das „Vorbild: Oma“, auf dem sozialen Kontextlevel die vielseitige „Unterstützung durch die Familie oder andere KurdInnen“ und die „Fluchtmigration gemeinsam mit der eigenen Familie“. Resilienzhindernd war auf der sozialen Ebene ein „gewalttätiger Ehemann“, der mit seiner Ehefrau floh. Während dieser Phase erreichte die andauernde latente Verfolgung den psychischen Kontextring. Die empfundene und reale Bedrohung der individuellen Unversehrtheit war insbesondere nach den Foltererfahrungen sehr präsent für die Frauen. Die Resilienzfördernisse befinden sich auf dem geistigen, strukturellen und sozialen Kontextlevel. Resilienz hindernd ist in dieser Phase lediglich das „andauernde Verfolgtwerden“. Nach der Fluchtmigration nach Deutschland waren auf dem psychischen Kontext die Liebeshochzeit und die Entwicklung einer „hybriden Identität“ Resilienzfördernisse. Diese Entwicklung einer „hybriden Identität“ (Bhabha 2000) wurde in ähnlicher Weise auch von Lafranchi (in: Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006, S. 123-126) durch die Erfahrung der Fluchtmigration als eine des „seelischen Grenzgängertums“ zu einer möglichen, Resilienz fördernden „transitorischen Identität“ und „Multistabilität“ entwickelt. Der geistige Kontext beinhaltete die Orientierungen und Handlungen im Sinne einer „Naturverbundenheit“, der Modernisierungen aufgeschlossene „alevitische Glaube“, „Bildungsorientierungen“, der „Familienauftrag: Revolution“ (auch: sozialer Kontext) und das Handeln und der Glaube an „Gerechtigkeit“ im politischen Sinn. Die strukturelle Ebene umfasste als Resilienzfördernisse das „Vorbild: Oma“, die Fähigkeit zu „Rollenimprovisationen“ in verschiedenen Lebenssituationen, die Rolle als „Erwerbstätige“, als „Erzählerin“, die „Enthierarchisierung der Ehe“ (auch: sozialer Kontext) und die rechtliche und gesellschaftliche „Anerkennung als Flüchtling und Folteropfer“. Die „familiären Beziehungen“ waren als Resilienzfördernisse in Form des emotionalen Austauschs und einer gemeinsamen Identität (Adam in: Schäffer 1995; Adam/Aßhauer in: Fooken/Zinnecker 2007, S. 156-160) bereits erforscht und auch in dieser Studie bestätigt worden. Weitere Resilienzfördernisse waren die „Mitarbeitende verschiedener (Hilfs-)Organisationen“ in Deutschland, die entwickelte „Beziehung innerhalb der Psychotherapie“, andere „kurdische Frauen“ in Deutschland, die „Delegationsstrategie“, die „Scheidung vom Ehemann“ und eine „neue Partnerschaft“ auf dem sozialen Kontextlevel. Resilienzhindernd bzw. Stressoren im Kontext der Fluchtmigration waren auf der psychischen Ebene ein „Gefühl der Isolation“, die „Sehnsucht nach der Heimat“ und eine „eingefrorene Autonomieentwicklung“. Der geistige Kontext implizierte die „Schicksalsergebenheit“, „geringe Sprachkenntnisse“ und ein „fehlender Sinn des eigenen Lebens“ als Resilienz hindernd. Auf der strukturellen Ebene war das größte Hindernis und Stressor im Zusammenhang mit der
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Fluchtmigration der Status als „rechtlich nicht anerkannter Flüchtling“ (auch: externer Kontext). Das zuletzt genannte Resilienzhindernis ist in anderen Forschungsarbeiten aus der Flüchtlingsforschung als desintegrierendes, psychotherapeutische Prozesse störende oder sogar als traumatisierende Lebenssituation genannt worden (Adam in: Schäffer 1995; Becker 1992; Hepp in: WelterEnderlin/Hildenbrand 2006, S. 144-145). Mit ihm gehen nicht nur rechtliche, sondern auch „gesellschaftliche Diskriminierungen“ als Resilienzhindernis einher. Hinzu kam auf diesem Kontextlevel der „Konflikt zwischen dem Selbstbild als unabhängige Frau und der Rolle als Mutter und Hausfrau bzw. als traditionell orientierte kurdische Frau“. Der soziale Level zeigte den „Konflikt zwischen Wunsch nach regem Sozialleben und der realen Begrenzung der Beziehungen“, die „Delegationsstrategie“ (auch: psychischer Kontext) als Resilienz hindernd. Alle Ebenen durchdringend ist das „Leben als rechtlich Illegalisierte“ Resilienz hindernd. Im Zusammenhang mit den Erlebnissen und Erfahrungen der Fluchtmigration waren lediglich die „Delegationsstrategie“ ein uneindeutiges und nicht konstantes Resilienzfördernis bzw. Resilienzhindernis. Alle anderen genannten Resilienzfördernisse und Resilienzhindernisse waren zeitlich und biografisch eindeutig und konstant. Die Wirkrichtungen und Ebenen der im Zusammenhang mit der Fluchtmigration stehenden Resilienzfördernisse und Resilienzhindernisse befanden sich auf allen Kontextringen und wirkten bis zu allen Kontextringen. Vor allem die Situation als „rechtlich Illegalisierte“ und als „rechtlich nicht anerkannter Flüchtling“ wirkte sich als Stressoren bzw. Resilienzhindernisse bis zum „Ego“ aus und durchdrangen alle Kontextlevel. Durch die in dieser Dissertation gewonnen Erkenntnisse kann der verbreiteten Annahme in der Migrationforschung, dass jede Migration Krisen auslöst (Breckner 2005; Maurenbrecher 1985; Schütz 1972), widersprochen werden. Die Fluchtmigration bedeutete im Kontext dieser Dissertation erst mal, einen Schutz vor erneuter Verfolgung und Folter zu erhalten. Langfristig entwickelten sich Stressoren und Krisen durch einen unsicheren Aufenthaltsstatus und durch die vielfältigen Diskriminierungen und Begrenzungen der Handlungsspielräume in Deutschland. Die Migration selbst hätte in diesen biografischen Analysen keine Krise auslösen müssen. Die mit jeder Migration einhergehende Neuorientierung stellt zwar Selbstverständlichkeiten und kulturelle Muster in Frage, diese Unsicherheiten sind aber nicht mit einer Krise gleichzusetzen. Schiffauers (1991) Forschungsergebnisse der Freisetzungs- und Individualisierungserfahrungen, die durch die Migration aus kurdischen ländlichen Gebieten nach Deutschland gemacht wurden, konnten hier bestätigt werden. Diese Individualisierungserfahrungen ermöglichten allen vier Frauen eine größere Auto-
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nomie in der Ausgestaltung ihrer weiblichen Geschlechterrolle. Diese Entwicklung war ein Reislienzfördernis. Jedoch brachte diese Individualisierung auch eine Vereinsamung und soziale Desintegration in Deutschland mit sich, die als Resilienzhindernis analysiert wurde. Dieser Aspekt ist demnach ambivalent und flexibel.
VI. Empfehlungen für die Praxis
Empfehlungen für die Praxis aus wissenschaftlichen Erkenntnissen abzuleiten, erachte ich aus verschiedenen Gründen für sehr wichtig. Einerseits ist es mir persönlich aufgrund meiner beruflichen Biografie, die sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft verortet ist, wichtig, einen Wissenstransfer von der Wissenschaft in die Praxis zu erleichtern und die Verbindung von Wissenschaft und Praxis auszubauen und zu stärken. Andererseits könnten PraktikerInnen von wissenschaftlichen vielmehr profitieren, wenn Erkenntnisse in praxisbezogene Arbeitsfelder transporiert und auf verschiedenen Wegen leichter zugänglich gemacht werden. Auch in diesem Fall die Sozialwissenschaft kann von der Verbindung von Praxis und Theorie profitieren, indem sie ihrer Aufgabe gerecht wird, Sinndeutungs- und Problemlösungsangebote für reale soziale Herausforderungen und Fragestellungen zu geben. Ermutigen möchte ich an dieser Stelle all diejenigen in der Verwaltung, der Politik und in der psychosozialen Begleitung von Flüchtlingen und Folteropfern, die sich teilweise seit Jahrzehnten trotz oder gerade wegen der vielen Hürden und entgegen aller Barrieren zuallererst den Menschen in ihrer Not zuwenden und sie in ihrer Gänze wahrnehmen. Diese Engagierten besitzen die Kraft und den Willen beispielsweise politische Diskussionen immer wieder aufzubringen, menschenrchtswidrige Praktiken aufzudecken, dem einzelnen Menschen zur Seite zu stehen oder auch die rechtlichen Spielräume im Sinne der Menschen zu interpretieren statt sich an eine sehr enge Auslegung der Gesetzestexte zu halten. Ihnen möchte ich danken für ihre großartige Arbeit und ihrem Verständnis von Zusammenleben und Solidarität.
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1. E MPFEHLUNGEN
FÜR DIE PSYCHOSOZIALE
B EGLEITUNG
Einige der folgenden Empfehlungen sind PraktikerInnen wie Sozialarbeitende oder PsychotherapeutInnen in der Begleitung von Flüchtlingen oder anderen Personengruppen bereits bekannt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ich in meiner Dissertation im Zusammenhang mit Empfehlungen zur psychosozialen Begleitung von Flüchtlingen gewinnen konnte, werden an dieser Stelle zusammenfassend in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen und mit ihren möglichen Wechselwirkungen dargestellt. Dies und einige neue die Resilienz unterstützende Handlungsschritte sind ein Gewinn für die Praxis. Resilienz fördernd für nach Deutschland geflohene Folteropfer ist eine familienorientierte psychosoziale Begleitung, wie sie bereits einige PraktikerInnen empfehlen. Beispielsweise gibt es gute Erfahrungen mit der Genogrammarbeit bei der Psychotherapie von Folteropfern. Bei dieser werden Familienmuster herausgearbeitet und besonders sinnhafte und kreative Reaktionen auf kritische Lebensereignisse fokussiert. Der positive Effekt von biografischer und familienorientierter psychosozialer Arbeit auf Krisenbewältigungen kann durch meine wissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigt werden. Die Förderung von konstruktiven nicht nur familiären, sondern auch freundschaftlichen Beziehungen ist ebenfalls meistens Resilienz fördernd. Vor allem für Menschen mit einem sozialen Bewältigungsmuster sind diese Beziehungen wesentlich für ihre Resilienz. Da das (schriftliche oder mündliche) „Erzählen“ bei allen Frauen ein wesentliches Resilienzfördernis ist, möchte ich mich an dieser Stelle für den „konstruktiv-narrativen“ Ansatz in der Psychotherapie aussprechen, wie ihn beispielsweise auch Ahmad (1996) für die Psychotherapie mit Gefolterten empfiehlt. Den Gefolterten wird durch das (nicht erzwungene) Erzählen einem offenen und empathischen (imaginierten) Gegenüber ein soziales, psychisches und geistiges Weiterleben nach Folter und in der Fluchtmigration erleichtert und trägt zur psychosozialen Integrität bei. Rollenspiele im Sinne einer Förderung des kreativen Rollenwechsels und der Erweiterung des eigenen Handlungsrepertoires durch spielerisches Üben (z.B. durch Theaterimprovisationen) ist eine weitere Methode, die zur Resilienz von Folterüberlebenden und Flüchtlingen beitragen kann. Vor allem bei Frauen, die aus patriarchalen Gesellschaften kommen, sind eine Unterstützung im Sinne einer Rollenerweiterung und die Förderung ihrer Individualisierung Resilienz fördernd. Die Stärkung und Bestätigung einer subjektiv definierten Gerechtigkeit als Handlungsorientierung und sinnstiftendes Element, das auf gegenseitigem Re-
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spekt und Gewaltfreiheit beruht, ist ein Resilienzfördernis bei der Bewältigung von Foltererfahrungen. Die meisten (nicht auf Totalität, Ausschluss und Abwertung anderer ausgerichteten) Forrmen spiritueller (bzw. religiöser) Praxis und Metaphysik fördern die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens und die Bewältigung von (schweren) Krisen. Diese nicht neue Erkenntnis der Resilienzforschung kann in dieser Dissertation bestätigt werden und sollte in der psychosozialen Begleitung von Flüchtlingen und Folterüberlebenden einen angemessenen Raum erhalten. Ein ebenfalls bekanntes Resilienzfördernis, der die gesellschaftliche „Inklusion“ in Deutschland bzw. die Hybridität der Flüchtlinge stärkt, ist die Bildungsorientierung und der mit ihr verbundene soziale und ökonomische Aufstieg (der Kinder). Für eine kurze, nur für eine kurze, Zeit nach der Folter können Dissoziationen oder Hassgefühle, die eine Transformation des nach innen gerichteten Selbsthasses sind, autonomiefördernd sein. Sie müssen langfristig integriert bzw. transformiert werden und sich von der Gewaltebene entfernen, um Resilienz erhalten und ausbauen zu können. Ich möchte an dieser Stelle auch auf die Rolle der „Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer“ (PsZF) eingehen, die Flüchtlinge und Folteropfer begleiten und mit denen ich beruflich verbunden war und bin. Die Zentren schrieben seit einigen Jahren Gutachten über den Gesundheitszustand ihrer KlientInnen im Rahmen der Asylverfahren. Zur psychotherapeutischen Bearbeitung der Traumatisierungen sind die Aufnahme in die Gemeinschaft und ein gesicherter Rahmen wie ein langfristiger Aufenthalt notwendige Voraussetzungen. Da diese Rahmenbedingungen bei den vielen Geduldeten nicht gegeben sind, ist bei diesen Flüchtlingen eine psychotherapeutische Behandlung meist nicht möglich. Eine amtlich abgesicherte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) verhindert die Abschiebung der Geduldeten, so lange sie krank sind. Der Druck, der durch die Konzentration auf die Diagnostik ihrer Krankheit verbreitet wird, kann erst weichen, wenn die Behörden den Betroffenen einen Aufenthaltstitel gewährleisten. Aufgrund der nachvollziehbaren Mehrzahl der aus den PsZF stammenden Gutachten, die den Flüchtlingen eine PTBS attestierten, bezweifelten laut Becker (2002, S. 70) die zuständigen SachbearbeiterInnen in den Ausländerbehörden bzw. dem BAMF die Qualität dieser und ließen Kriterien einer „echten“ und „vorgetäuschten“ PTBS entwickeln. Die MitarbeiterInnen von Ausländerbehörden sehen sich nun bei der Gruppe der Flüchtlinge in der Lage, die psychische Gesundheit oder Krankheit dieser Menschen einschätzen zu können und Gutachten der Fachleute in Zweifel zu ziehen bzw. bei Gutachten aus den PsZF
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„Gefälligkeit“ zu unterstellen und andere GutachterInnen zu beauftragen, die in der Regel keine psychische Erkrankung feststellen.
2. E MPFEHLUNGEN
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P OLITIK
Das Asylbewerberleistungsgesetz verwehrt faktisch vielen Flüchtlingen ihr Recht auf angemessene medizinische Behandlung, zu der auch Psychotherapie zählt. Dies liegt an der Einzelfallprüfung, die einerseits aufgrund der Unwissenheit und des hohen zeitlichen, psychischen und ökonomischen Aufwands für die Flüchtlinge selbst und anderrseits aufgrund des meist negativem Bescheids (aufgrund der Auswahl von „gewünschten„ GutachterInnen des BAMF) gegen eine Psychotherapie (mit Sprach- und Kulturmittelnden) beschieden wird. Eine Krankenkassenchipkarte für alle Flüchtlinge unabhängig ihres Aufenthaltsstatus wäre eine Veränderung, die in angemessener Weise Psychotherapien ermöglichen würde. Die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes würde eine nachhaltige Veränderung im Sinne der Rehabilitation von Folteropfern mit sich bringen und wäre in vielerlei Hinsicht eine sehr sinnvolle politische Entscheidung, die derzeit am politischen Diskurshorizont erscheint. Ein anderer Weg wäre, die barrierefreie reale Umsetzung des Artikels 17 der EU-Richtlinie 2003/9, der besagt, dass die EU-Aufnahmestaaten die medizinische Versorgung von Folter-, Vergewaltigungsopfern und Opfern schwerer Gewalt bereitstellen müssen. Gesundheitspolitisch ist zu klären, wer die Kosten für die oftmals notwendigen Sprach- und Kulturmittelnden im Setting der Psychotherapien bezahlt. Für das politische System ist es teuerer, chronisch kranke Menschen immer wieder intensiv (in Psychiatrien, in Suchtkliniken) betreuen zu müssen bzw. ihre Inklusionschancen enorm durch „verhinderte“ Psychotherapie und angemessene psychosoziale Begleitung zu reduzieren, als die Kosten für Psychotherapien mit Sprach- und Kulturmittelnden zu bezahlen. Auch und nicht primär aufgrund dieses ökonomischen Arguments sollte sich (nicht nur) die Gesundheitspolitik für Flüchtlinge und in ihren Vorannahmen über „das Lügen für den Aufenthalt“ ändern. Es ist vor allem für psychisch belastete Flüchtlinge notwendig, möglichst frühzeitig Intimsphäre wieder herstellen zu können und in Zimmern für sich allein oder dezentral wohnen zu können. Um dies umsetzen zu können, wäre ein frühzeitiges Erkennen und ein Screening der psychisch Belasteten in den Erstaufnahmeeinrichtungen sehr sinnvoll, die politisch gefordert und gesetzlich verankert werden sollte. Der Zugang zu Bildung und Arbeit sind wesentliche Struk-
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turierungsmomente des menschlichen Seins in unserer Gesellschaft, der in den letzten Jahren für Flüchtlinge zumindest etwas erleichtert wurde. Dies waren wichtige Schritte zur Förderung der Resilienz von Flüchtlingen und ihrer Teilhabechancen. Um diese Schritte zu festigen und weiter auszubauen, ist die politische Förderung eines sofortigen barrierefreien Zugangs zu diesen Gesellschaftssystemen und die Sprachförderung aller Flüchtlinge, wie sie in vielen anderen europäischen Ländern ermöglicht wird, weiterhin zu fokussieren. Auch vor dem historischen Hintergrund der Fluchtbewegungen, die vor 1945 aus und nach 1945 nach Deutschland stattfanden, ist eine offene und von Stereotypen und plakativen Zuschreibungsprozessen weitgehend bereinigte öffentliche Diskussion über individuelle/n, familiäre/n und kollektive/n Schuld, Verlust und Schmerz notwendig. Die historischen Erfahrungen und Diskurse von Verfolgung und Flucht werden äußerst selten in den Zusammenhang mit aktueller Flüchtlingspolitik gebracht. Sie werden innerfamiliär oft mit dem Mantel des Schweigens bedeckt und gesellschaftlich in revanchistisch bis rechtsradikales Gedankengut pervertiert oder auf Gedenkstätten reduziert. Eine breite öffentliche Diskussion über die Zusammenhänge von historischen Ereignissen während des III. Reiches und nach dem II. Weltkrieg, die sich im innerfamiliären Erzählen über Mittäter- oder Mitwisserschaften, über individuelle und familiäre Ängste, Schuld und Scham, über Flucht und Vertreibung und die Erschwernisse eines Neubeginns niederschlagen könnte, würde nach meiner Überzeugung die Diskurse über den Umgang und die Haltung gegenüber Flüchtlingen, die heute nach Deutschland kommen, nachhaltig verändern. Eine solche Diskussion auf makro- und mikrosoziologischer Ebene halte ich für sehr erstrebenswert und notwendig zur Verringerung von Xenophobie, Abwertungs- und Ausgrenzungsmechanismen. Vor allem ist von politischer Seite zu wünschen, dass mit xenophoben Mythen wie „Lügen für den Aufenthalt“ oder „Das Boot ist voll“ gebrochen wird und die Ursachen für Flucht und die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern stärker in den Fokus rücken.
3. E MPFEHLUNGEN
FÜR DIE
V ERWALTUNG
Wie bereits im ersten Abschnitt ausgeführt, ist es mehr als wünschenwert, wenn die Verwaltung (BAMF, Ausländer- und Unterbringungsbehörden, Sozialämter etc.) von der offensichtlich immer noch verbreiteten Annahme Abstand nehmen würde, dass viele (oder die meisten) Flüchtlinge für einen Aufenthalt in Deutschland lügen und beispielsweise ihre Verfolgung oder Folter „erfinden“. Dies kann
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nicht ausgeschlossen werden, ist aber nach meinen berufspraktischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen eher selten der Fall. Bereits im Anhörungsverfahren sind autobiografische Erzählungen und Erinnerungen von Traumatisierten aufgrund ihrer Erkrankung an einer PTBS lückenhaft, manchmal inkohärent und inkonsistent. Auch dieser Umstand führt fälschlicherweise zu einer Ablehnung im Asylverfahren, da biografische Erzählungen konsistent, kohärent und lückenlos sein sollen, um als glaubwürdig zu gelten. Dies macht es den erzählenden AsylbewerberInnen besonders schwer, glaubwürdig zu erscheinen und führt zu falschen Asylentscheiden. Mit Hilfe von diagnostischen Verfahren wurde in einer Studie (Gäbel/Ruf/Schauer/Odenwald/ Neuner 2006, S. 12-20) eine Prävalenz von unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidenden Flüchtlingen von über 40% festgestellt. Dieser Studie zufolge konnten die AnhörerInnen und EinzelentscheiderInnen des BAMF auch nach speziellen Schulungen zur Erkennung von traumatisierten Personen diese unter den FluchtmigrantInnen nicht signifikant besser ausfindig machen. Diese Ergebnisse weisen auf die Dringlichkeit hin, möglichst schnell praktische Verbesserungen in der Erkennung (durch unabhängige PsychologInnen oder PsychiaterInnen vor der Erstanhörung) und der Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland herbeizuführen. Des Weiteren sollte das BAMF auf möglichst viele verschiedene GutachterInnen bei der Beurteilung einer psychischen Erkrankung zurückgreifen, um auch „Gefälligkeitsgutachen“, die in einer auffälligen Regelmäßigkeit eben keine psychische Erkrkankung attestieren, zu umgehen. Denn die Gutachten über psychische Erkrankungen können bei Geduldeten, die eigentlich ausreisepflichtig sind, ihren Aufenthalt in Deutschland ermöglichen bzw. sind der Grund für die Aussetzung ihrer Abschiebung (siehe oben). Das macht die psychische Krankheit zum Politikum. Denn für die meisten Flüchtlinge gibt es dementsprechend keine große Motivation, ihre psychische Krankheit zu bewältigen, da eine Genesung für die geduldeten Flüchtlinge die Ausweisung aus Deutschland zur Folge haben würde (Becker 2002, S. 68-72). Auch in dieser Forschungsarbeit zeigte sich die hohe Relevanz eines Aufenthaltstitels, um sich der Bewältigung anderer biografischer Krisen zuwenden zu können. Generell wäre es wünschenswert, wenn eine psychische Belastung möglichst frühzeitig gescreent und systematisch (am sinnvollsten vor dem Erstinterview oder spätestens in den Erstaufnahmeeinrichtungen) erkannt werden kann. Und wenn eine psychische Erkrankung bekannt ist, (nicht nur) diese Menschen möglichst gleich nach der Erstaufnahmeeinrichtung dezentral oder in kleinen Wohngemeinschaften in einem eigenen Zimmer unterzubringen. Die räumlich auf eine „totale Institution“ im Sinne von Erving Goffman (1991) ausgerichtete Unter-
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bringung in den „Gemeinschaftsunterkünften“ und die immer ncoh in weiten Teilen auf gesellschaftliche Exklusion angelegte Flüchtlingspolitik und ihre verwaltungstechnische Umsetzung erschweren oder behindern Resilienz von Flüchtlingen und Folteropfern. Im Sinne der Erkenntnisse dieser Forschungsarbeit müsste die Unterbringung stets dezentral sein, psychische Krankheiten möglichst früh nach der Ankunft in Deutschland systematisch dignostiziert werden können und der Zugang zu Sprachkursen und dem Arbeitsmarkt ermöglicht bzw. noch stärker erleichtert werden. Ein letzter Aspekt zur Förderung von Resilienz von Flüchtlingen ist die Mehrsprachigkeit von MitarbeiterInnen der Ämter und Behörden bzw. das Hinzuziehen von professionellen Sprach- und Kulturmittelnden, die durch die Behörden/Ämter bezahlt werden. Vor allem für Neuankömmlinge kann die Konversationssprache noch nicht Deutsch sein. Außerdem finde ich es eine besonders augenfällige Absurdität der deutschen AusländerInnenpolitik und ihrer Umsetzung, dass einerseits keine Deutschkurse für Flüchtlinge angeboten werden, aber auf der Amtssprache Deutsch beharrt wird und diejenigen beispöielsweise in den Härtefallkommissionen „belohnt“ werden , die sich trotz dieser strukturellen Erschwernisse die deutsche Sprache orgendwie doch angeeignet haben.
VI. Literatur- und Onlineangaben
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Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung
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Ariane Sadjed »Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht Juli 2012, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1982-9
Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus März 2013, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
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Anne C. Uhlig Ethnographie der Gehörlosen Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft Januar 2012, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1793-1
März 2013, ca. 420 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2
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