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German Pages XIV, 569 [573] Year 2020
Marina Liakova
Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland
Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland
Marina Liakova
Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland
Marina Liakova Pädagogische Hochschule Karlsruhe Karlsruhe, Deutschland
ISBN 978-3-658-30456-0 ISBN 978-3-658-30457-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Die Herausgabe dieses Buches wurde in einer ereignisreichen Zeit vorbereitet. Seit Anfang 2020 ist die Welt aufgrund der Covid-19-Pandemie in einem Ausnahmezustand. Dieser wirkt sich stark auf Migration und Mobilität aus. In vielen Ländern wurde eine Ausgangssperre verhängt, Fluggesellschaften haben bis zu 90 % ihrer Flüge abgesagt, Zug- und Busverbindungen wurden gestrichen, Grenzübergänge geschlossen. Migranten und Mobile – die Menschen, die in mehreren Ländern zuhause sind – sind zu Verlierern dieser Krise geworden: Sie müssen auf ihre zur Selbstverständlichkeit gewordenen Mobilität verzichten und in einer nie da gewesenen Art und Weise sesshaft werden. Zugleich nimmt aber die virtuelle Mobilität zu. Die neuen Medien ermöglichen die Durchführung von dienstlichen Besprechungen, Tagungen, Konferenzen und Seminaren sowie von privaten Begegnungen zwischen Menschen, die sich in verschiedenen Ländern, ja auf verschiedenen Kontinenten aufhalten. Lehrer*innen und Schüler*innen, Dozent*innen und Studierende, Familien und Freund*innen treffen sich virtuell. Die physische Migration und Mobilität mögen in dieser Zeit abnehmen, die transnationale Verflechtung wird aber auch nach der Corona-Krise nicht geringer. Denn die Covid-19-Pandemie verdeutlicht: Die Prozesse der Globalisierung beziehen sich nicht mehr lediglich auf eine „Elite“ hochgebildeter Führungskräfte. Die Globalisierung und die daraus resultierenden Prozesse der Transnationalisierung umfassen in ihren Folgen alle Schichten und Staaten dieser Welt. Dennoch wird durch die pandemische Krise die Frage nach den Grenzen der globalen Welt laut. Die Zunahme der wirtschaftlichen Verflechtung und die Migration ganzer Branchen und Produktionen führen zur Unterbrechung der regionalen Versorgungsketten – eine Unterbrechung, die in einer Krise besonders schmerzvoll zu verspüren ist. Die Pandemie zeigt deutlich auch die Grenzen der Mobilität auf. Große Verlierer der pandemischen Krise werden die Unternehmen
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Vorwort
der Logistik, der Tourismus-, sowie der Eventbranche sein. Die Mobilität, die in den letzten 20 Jahren so stark forciert und gelobt wurde, die zum Statussymbol sowohl auf unternehmerischer als auch auf persönlicher Ebene geworden ist, wird zunehmend relativiert. In der Zeit der Aufarbeitung der Pandemie werden wir uns mit Fragen nach der Notwendigkeit und der Zweckmäßigkeit der Mobilität auseinandersetzen müssen. Obwohl die Nationalstaaten als symbolische Gewinner dieser Krise bezeichnet werden können, ist die Rückkehr in eine nicht mobile Welt nicht denkbar. Auch nach dem Ende der Pandemie wird die Welt global und mobil sein. Die Globalität und Mobilität sind viel mehr als der Habitus und Lifestyle einer privilegierten Schicht, sie sind eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeit. Die Herausforderung wird sein, nicht auf Globalität und Mobilität zu verzichten, sondern sie gerechter und ökologischer zu gestalten. Gerade in der Zeit der Pandemie wird deutlich, wie gewaltig die sozialen Ungleichheiten unserer Zeit geworden sind. Für manche Berufsgruppen bieten sich die Möglichkeiten der Heimarbeit (Home Office) an, andere Berufsgruppen, z. B. die Verkäufer*innen im Lebensmittelhandel, die Apotheker*innen, die Pflegefachkräfte, die Reinigungskräfte, die Lokführer*innen oder die Ärzt*innen können sich selbst nicht schützen, indem sie „zuhause bleiben“. Einem besonderen Risiko ausgesetzt werden sowohl die Geflüchteten, die in den griechischen Aufnahmezentren auf die Möglichkeit warten, einen Asylantrag zu stellen, als auch die Erntehelfer*innen, die aus Osteuropa mit Sonderflügen nach Westeuropa befördert werden, um dort als Saisonarbeiter*innen tätig zu werden. Sie werden viel häufiger mit der Gefahr konfrontiert, an Covid-19 zu erkranken. Auf die Armen, auf die Menschen, die in Ländern mit einem schwächeren Gesundheitssystem leben, auf die Milliarden Menschen, die über kein sauberes Wasser verfügen, wird sich diese Krise viel dramatischer auswirken. Die Verflechtung von Migration, Mobilität und sozialer Ungleichheit ist Gegenstand der klassischen Soziologie und zentrales Thema meines Buches. Dieses ist zugleich meine Habilitationsschrift, die im Jahr 2019 an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe vorgelegt wurde. An dieser Stelle möchte ich herzlich meiner Betreuerin und Erstgutachterin Prof. Dr. Annette Treibel für ihre Unterstützung sowie für die zahlreichen inspirierenden Gespräche danken. Desgleichen bin ich den weiteren Gutachterinnen Prof. Dr. Sabine Liebig (Pädagogische Hochschule Karlsruhe) und Prof. Dr. Almut Zwengel (Hochschule Fulda) zu Dank verpflichtet. Ich danke auch den Kolleg*innen vom Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule, mit denen ich mich auch über den akademischen Alltag hinaus verbunden fühle.
Vorwort
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Der Austausch mit den Studierenden, die meine Seminare zum Thema Migration besucht haben, war für mich wichtig und anregend. Insbesondere danke ich Madeleine Kumbartzki, Elena Link und Magdalena Beer, den Mitarbeiterinnen in der Soziologie, für die regen Diskussionen sowie für die kritische Lektüre der einzelnen Kapitel. Dr. Jana Fingarova bin ich für die Unterstützung in der empirischen Testphase meines Projekts und für die zahlreichen Diskussionen über den Alltag der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland zu Dank verpflichtet. Danken möchte ich den Kolleg*innen von den Lehrstühlen für Soziologie der „St. Kliment Ochridski“ Universität in Sofia und „Paisij Hilendarski“ Universität in Plovdiv und insbesondere Prof. Dr. Maya Grekova, Prof. Dr. Milena Iakimova und Prof. Dr. Svetlana Sabeva für die intensiven Fachgespräche und für die gelebte Transnationalität. In dieser Arbeit fließen nicht nur meine wissenschaftliche Analyse, sondern auch meine emotionale Verbundenheit mit dem Thema Migration ein, das Teil meiner Familiengeschichte ist. Beim Verfassen dieses Buches habe ich das Leben meiner Großeltern väterlicherseits mitgedacht, die in der Zeit der Balkankriege (1912–1913) aus dem Osmanischen Reich geflüchtet sind und ihre Heimat in Bulgarien gefunden haben. Inspiriert haben mich die Lebensgeschichte meines Großvaters mütterlicherseits, der aus Deutschland ausgewandert ist und seine Familie in Bulgarien gegründet hat, sowie die Biografie meiner Großmutter, die nach dem Abschluss ihres Studiums in München im Jahr 1923 als Bildungsrückkehrerin in Bulgarien gelebt hat. Motiviert haben mich die Lebensgeschichten meiner Verwandten und Freund*innen, die Bulgarien verlassen haben und in der Fremde – in Europa, Amerika oder Asien – ihre neue Heimat gefunden haben. Mein Dank gilt allen Migrant*innen und Mobilen, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben und als Interviewpartner*innen zur Verfügung standen. Ohne die menschliche Nähe und großzügige Unterstützung meiner Freund*innen hätte sich dieses Projekt nicht realisieren lassen. Mein besonderer Dank gilt Victoria Aleksieva, Svetlina Koeva, Elitza Stanoeva, Sandra Atseva, Dobrinka Schwacke, Yordan Terziev, Milena Paskowska, Ludmila Koleva-Banide und Svetla Encheva. Das Buch widme ich meinen Eltern, meiner Mutter Elsa Blank – Liakova und meinem Vater Nedialko Liakov. Marina Liakova
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1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2
Begriffsbestimmungen und Forschungskontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Definitionen des Begriffs „Migration“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.2 Theorien der Migration: Ein Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.3 Mobilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.4 Transnationale Migration und transnationale soziale Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.5 Diaspora oder Gemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.6 Mobilitäts- und Migrationsfähigkeit als Kapital. . . . . . . . . . . . . . 22 2.7 Mehrdimensionale Migrationspfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.8 Die drei Perioden der Analyse: Sozialismus, Post-Sozialismus, EU-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3 Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.1 Auswertung der Archivmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2 Durchführung von leitfadengestützten, biografischen Tiefeninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4
Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus (1945–1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.1 Besonderheiten der sozialistischen Gesellschaftsform in Bulgarien: Strukturelle Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.2 Politische, ideologische und rechtliche Regelungen der Wanderungsbewegungen im sozialistischen Bulgarien. . . . . . . . . 51
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4.2.1
Einschränkungen der Migrationsbewegungen nach 1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.2.2 Schrittweise Öffnung des Migrationsregimes im Kontext des Helsinki Agreement . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4.2.3 Exkurs: Die Politik bezüglich der ethnischen Gruppen in Bulgarien in der sozialistischen Zeit und ihre Auswirkung auf die Migration. . . . . . . . . . 66 4.3 Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien: Alltagspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.4.1 Klassifizierung der Möglichkeiten zur Ausreise aus der Volksrepublik Bulgarien (1945–1989). . . . . . . . . 74 4.4.2 Systematische Typologie der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . 94 4.5 Migration und Transnationalität vor dem Jahr 1989: Möglichkeiten und Einschränkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.5.1 Die exklusive Migration: Die bulgarischen Migrant*innen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.5.2 „Kein Weg zurück“ – die in die BRD emigrierten Bulgar*innen vor dem Jahr 1989. . . . . . . . . 102 4.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5
Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.1 Migrationspolitik und Migrationspraxis in Bulgarien nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.1.1 Institutionalisierung der bulgarischen Migrationspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.1.2 Migration und Bildung: Die Schulen der Auslandsbulgar*innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5.1.3 Die gesetzliche Verankerung der Migrationsproblematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“. . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.2.1 Die Parlamentsdebatten 1990–2015. . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.2.2 Die politischen Parteien und ihre Stellung zur Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.2.3 Die Gewerkschaften und ihre Positionen zur Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
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5.2.4
Die Religionsgemeinschaften und ihre Stellungnahmen zur Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.2.5 Die Wirtschaftsorganisationen und die Migration. . . . . . 152 5.3 Die öffentlichen Debatten über Migration: Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.3.1 Immigration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.3.2 Emigration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.3.3 Typologisierung der diskursiven Stränge. . . . . . . . . . . . . 167 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6
Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde und biografische Reflexionen. . . . . . . . . . . . . . . 183 6.1 Migration und Migrationspolitik als Gegenstand der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6.1.1 „Migration“ im wissenschaftlichen Diskurs der 1980er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.1.2 Wendepunkte im wissenschaftlichen Migrationsdiskurs der 1990er Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.1.3 „Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“ in der Migrationsforschung der 2000er Jahre . . . . . . . . . 188 6.2 Die migrationspolitische Entwicklung der Bundesrepublik in der Zeit nach 1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.3 Auswirkungen der Migrationspolitik Deutschlands auf die Migration bulgarischstämmiger Personen in der Zeit 1990–2017. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.4 Methodik und Datenlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 6.5 Zur Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration nach Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6.6.1 Chronologische Typologisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6.6.2 Soziodemografisches Profil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6.7 Verdeckte Migration: Die bulgarischen Migrant*innen in Deutschland in der Zeit 1990–2007. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6.8 Typologie der Motive der bulgarischen Migrant*innen. . . . . . . . . 239 6.9 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
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Die bulgarische Migration nach Deutschland nach 2007: Individualisierung der Motive und Pluralisierung der Community. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 7.1 Gesellschaftliche und politische Veränderungen nach 2007. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 7.2 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach 2007: Biografische Reflexionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 7.2.1 Die veränderten Rahmenbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . 268 7.2.2 Der Wandel der individuellen Migrationsprojekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 7.2.3 Neuere Grenzziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 7.2.4 Exkurs: Ethnische Heterogenität in Bulgarien. . . . . . . . . 284 7.2.5 Einwanderungsland als Bezugsgröße. . . . . . . . . . . . . . . . 292 7.2.6 Postmaterialismus und Individualisierung. . . . . . . . . . . . 294 7.2.7 Pluralisierung der bulgarischen Community in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.3 Typische Migrant*innenfiguren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 7.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
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Rückkehr nach Bulgarien: Von der Unmöglichkeit der Rückkehr zur Rückkehr als Lebensweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 8.1 Migrationstheorien und ihr Bezug zur Rückkehr. . . . . . . . . . . . . . 337 8.2 Befunde der Forschung zur Rückkehr nach Osteuropa. . . . . . . . . 342 8.3 Die Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit vor 1989. . . . . . . . . . . . 346 8.4 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit 1990–2007 . . . . . . . . . . . . . 352 8.4.1 Return of Failure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 8.4.2 Return of Conservatism. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 8.4.3 Return of Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 8.4.4 Gespiegelte Rezeptionen der Rückkehr. . . . . . . . . . . . . . 360 8.4.5 Herausforderungen nach der Rückkehr. . . . . . . . . . . . . . 362 8.5 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit nach 2007. . . . . . . . . . . . . . 367 8.5.1 Veralltäglichung der Rückkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 8.5.2 Selbstorganisationen der Rückkehrer*innen. . . . . . . . . . 375 8.5.3 Figuren der Rückkehrer*innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 8.6 (Fehlende) politische Steuerung der Rückkehrmigration . . . . . . . 378
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8.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 9
Transnationalität und Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 9.1 Begriffe und Forschungsfelder zur transnationalen Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 9.2 Das Konzept der transnationalen Migration: Würdigung und Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
10 Der Transnationale Raum Bulgarien – Deutschland. . . . . . . . . . . . . . 411 10.1 Wirtschaftliche Dimensionen der Transnationalität. . . . . . . . . . . . 412 10.1.1 Transnationale Geldüberweisungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 412 10.1.2 Transnationalisierung der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 10.1.3 Steuerliche Transnationalisierungspraktiken. . . . . . . . . . 415 10.2 Transnationalisierung im Versicherungswesen am Beispiel der Renten- und der KfZ-Versicherung. . . . . . . . . . . . . . 418 10.2.1 Transnationalisierung im Bereich der Rentenversicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 10.2.2 Transnationalisierung in Bezug auf die KfZ-Versicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 10.3 Transnationalisierung der Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . 429 10.4 Transnationalisierung der Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 10.4.1 Transnationalisierung des Bildungswesens. . . . . . . . . . . 447 10.4.2 Transnationalisierung der Mediennutzung. . . . . . . . . . . . 458 10.4.3 Konsumbezogene Transnationalität. . . . . . . . . . . . . . . . . 462 10.4.4 Transnationalisierung der Freizeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 10.5 Transnationale Familien und Freundschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 467 10.6 Transnationalisierung der politischen Partizipation. . . . . . . . . . . . 474 10.6.1 Wahlverhalten der bulgarischen Migrant*innen . . . . . . . 476 10.6.2 Heimat: Identifikation mit Deutschland oder Bulgarien? Vier Typen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 10.7 Prozesse der Transnationalisierung in sozialistischen und postsozialistischen Gesellschaften: Systematische Analyse der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 10.8 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
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11 Mehrdimensionale Migrationspfade: Migration, Mobilität und Transnationalität in der Zeit des Sozialismus, Postsozialismus und der EU-Mitgliedschaft. Systematische Betrachtung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Tabellenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Liste der Interviewpartner*innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Archivdokumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Medien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
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Einleitung
Über die bulgarischen Migrant*innen in Deutschland zu schreiben oder zu forschen, ist ein schwieriges Unterfangen. Vor allem, weil die bulgarische Migration nach Deutschland nicht existiert. Die Bulgar*innen gehören zu den ‚unsichtbaren‘ Migrant*innengruppen in Deutschland: Sowohl in den Medien als auch in der Öffentlichkeit spielen sie kaum eine Rolle. Auch in der deutschen Politik erlangen Bulgar*innen wenig Aufmerksamkeit. Die meisten Deutschen haben nur marginale Kenntnisse über Bulgarien, was teilweise daran liegt, dass Bulgarien lange Zeit ein Teil des ‚Ostblocks‘ war und ‚hinter dem Eisernen Vorhang‘ lag. Dieser Unkenntnis stehen ca. 350.000 bulgarische Staatsbürger*innen, die in Deutschland leben, gegenüber (Stand November 2019). Die Anzahl der Menschen mit bulgarischem Migrationshintergrund und deutschem Pass ist noch höher. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens ist eine neue, noch weniger sichtbare Kategorie bulgarischer Migrant*innen nach Deutschland gekommen: Die Mobilen, die Menschen, die sich nur kurzfristig in Deutschland aufhalten, sei es als entsandte Mitarbeiter*innen, sei es als Expert*innen oder als irregulär Beschäftigte in der inländischen Schattenwirtschaft. Wenn man sich diesem Thema widmet, wird man mit den Fragen nach dem sozialen Profil der in Deutschland lebenden Bulgar*innen konfrontiert. Welche Bulgar*innen migrieren nach Deutschland? Mit welchen Motiven wandern sie ein? Wie leben sie in Deutschland? Gibt es eine bulgarische Gemeinschaft in Deutschland, oder ist die bulgarische Migration eher heterogen und individualistisch? Wie hat sich das soziale Profil der bulgarischen Migrant*innen nach Deutschland historisch verändert? Inwieweit agieren sie transnational? Inwieweit sind sie bereit, nach Bulgarien zurückzukehren? Bisher sind diese Fragen in der Forschung kaum gestellt, bzw. unzureichend bearbeitet worden.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_1
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1 Einleitung
Ziel der Arbeit ist es, zum einen, zu rekonstruieren, inwieweit die drei unterschiedlichen, im makropolitischen Sinne, Perioden in der Entwicklung einer Gesellschaft – Sozialismus, Post-Sozialismus und die EU-Mitgliedschaft – die Migrationspolitik und die transnationalen Migrationspraktiken maßgebend prägen und die Handlungen der sozialen Akteur*innen, die in diesen sozialhistorischen Kontexten aktiv sind, mitbestimmen. Die Analyse ist zunächst auf Makroebene angesiedelt und rekonstruiert die Besonderheiten der unterschiedlichen Gesellschaftsformen in Bulgarien in historischer Perspektive. Zu diesem Zweck werden Archivmaterialien (Parlamentsdebatten, Parteiprogramme, Gesetze, Richtlinien, Beschlüsse, etc.), die sich auf das Thema Migration beziehen, erfaßt und ausgewertet. Einschlägige Medienveröffentlichungen aus den drei untersuchten Perioden werden bei der Analyse herangezogen. Das Ziel ist es, zu verdeutlichen, inwieweit Migration und Transnationalität in diesen drei unterschiedlichen sozialhistorischen Kontexten makropolitisch beschleunigt bzw. gehindert werden. Zum anderen geht es darum, die Strategien der sozialen Akteur*innen auf Mikroebene, die den Zwang der sozialen Makrostrukturen teilweise entkräften, einer Analyse zu unterziehen. Es ist zu verdeutlichen, inwieweit die sozialen Akteur*innen durch ihre Handlungen, Initiativen oder Proteste den Makrorahmen ändern. Die Studie wird sich primär auf der Mikroebene der Transnationalität bewegen. Zentral sind die folgenden Fragen: Wie planen und gestalten die sozialen Akteur*innen ihre Migration und Mobilität? Wie bauen sie über die Staatsgrenzen hinweg Netzwerke auf und wie pflegen sie diese? Wie legitimieren sie ihre Migrationsprojekte und wie bekommen sie Anerkennung für ihre Migrationsprojekte? Die Fragen werden dreidimensional interpretiert: • Das erste Level der Analyse ist historisch. Es wird erörtert, inwiefern in welcher der drei genannten Perioden Migration, Mobilität und Transnationalität praktiziert werden. • Das zweite Level der Analyse umfasst die horizontale Dimension und wird sich mit der Frage befassen, in welchen gesellschaftlichen Bereichen eine migrations- bzw. mobilitätsbedingte transnationale Vernetzung zwischen Bulgarien und Deutschland aufgebaut wird. • Das dritte Level der Analyse ist stratifizierend. Zentral ist, inwieweit Migration, Mobilität und Transnationalität durch das Vorhandensein eines bestimmten ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals der sozialen Akteur*innen beeinflusst werden. Inwieweit beeinflusst der soziale Status die Wanderungsmöglichkeiten der Individuen?
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Diese Fragen werden im Rahmen der Analyse biografischer und narrativer Interviews mit bulgarischstämmigen Menschen, die in Deutschland leben, gelebt haben, oder zwischen den beiden Ländern pendeln oder mobil sind, beantwortet. Die übergeordnete Aufgabe der Arbeit besteht darin, die aktuellen Theorien der Migrationsforschung und vor allem das Konzept der transnationalen Migration an einem konkreten empirischen Fall zu prüfen. Die Analyse der Migrations- und Mobilitätsprozesse zwischen Deutschland und Bulgarien sowie der Spezialfall der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland haben eine Schlüsselrolle für die Art und Weise, wie ein transnationaler Raum entsteht. Eine der Grundlagen der Entwicklung eines transnationalen Raums liegt in den internationalen Beziehungen zwischen zwei Gesellschaften begründet, die auf der Ebene der Diplomatie und der Handelsverträge stattfindet. Die Rekonstruktion der makropolitischen Kontexte basiert auf der Grundlage einer von mir durchgeführten Analyse der medialen, politischen und rechtlichen Diskursen in den beiden Gesellschaften – Bulgarien und Deutschland. In Kap. 2 der Arbeit werden die Begriffe der Migration, Mobilität und transnationale Migration definiert und als Kapital bestimmt. Es wird auf die Unterschiede zwischen Diapora und Gemeinschaft eingegangen. In Kap. 3 wird die Vorgehensweise bei der Konzeption und der Durchführung der Studie erläutert. Die Besonderheiten der Methoden, die in der Arbeit eingesetzt werden, werden vorgestellt. In der Arbeit wurden bulgarische Archivmaterialien (Parlamentsdebatten, Parteiprogramme, Gesetze, Richtlinien, Beschlüsse, etc.) von mir erfasst, ausgewertet und übersetzt. Dadurch wird der zeithistorische Kontext, in der die Studie verortet wird, analytisch rekonstruiert. Die Analyse beruht auf der Konzeption, Durchführung und Auswertung von 72 biografischen Tiefeninterviews. Die Auswahl der Gesprächspartner*innen erfolgte nach dem Schneebnallsystem nach von mir vorgegebenen Kriterien. Die Interviews fanden in bulgarischer Sprache statt. Meine eigene Migrationsbiografie hat den Zugang zum Feld erleichtert. Die im Text zitierten Interviewauszüge wurden von mir übersetzt. In der Arbeit wurde auch Sekundärliteratur verwendet und zitiert. So wurden z. B. die Besonderheiten der Versicherungs- und der Rentensysteme, auf die in Kap. 9 im Kontext der transnationalen Praktiken der sozialen Akteure eingegangen wird, anhand der Analyse von Sekundärquellen rekonstruiert. In Kap. 4 werden die Makrostrukturen der sozialistischen Periode anhand der Auswertung der von mir erfassten Archivmaterialien beleuchtet. Zum Zweck der Analyse habe ich Materialien aus dem Archiv der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP), der bulgarischen Parlaments und des bulgarischen Staates erfassten und analysiert. Die Archivmaterialien wurden vor Ort im Zentralen Staatlichen Archiv der Republik Bulgarien in Sofia gesichtet. Nach Möglichkeit, soweit
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zugänglich, wurden auch digitalisierte Versionen der Archivmaterialien im Internet ausfindig gemacht und in der Auswerung verwendet. Alle Übersetzungen der Archivquellen stammen von mir. Die Schwierigkeiten, im Zuge der Übersetzung die Diktion der jeweiligen Zeit, die Mehrdeutigkeiten oder die Sprachfehler, die in den bulgarischen Originalversionen vorhanden sind, nicht übertragen zu können, sind mir bewusst. Im zweiten Teil des Kap. 4 werden die biografischen Erzählungen von Migran*innen aus der sozialistischen Zeit zusammengefasst und analysiert. Diese Zusammenfassung erfolgte nach Themen, die von mir in der Vorbereitungsphase festgelegt wurden. Die Übersetzungen stammen von mir. Im Kontext dieser Arbeit war es nicht möglich, in den Übersetzungen Dialekte und soziale Codes im Detail abzubilden. Kap. 5 befasst sich mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die sich in Bulgarien nach 1989 ereignet haben. In diesem Teil der Arbeit wird der zeitgenössische Kontext der bulgarischen Gesellschaft rekonstruiert. Die Ausführungen fokussieren die staatliche Politik und die öffentlichen Diskurse zu den Themen Migration und Rückkehr nach 1989. Die Analyse beruht auf der Auswertung von Parlamentsdebatten, medialen Veröffentlichungen, gesetzlichen Regelungen und umfasst, soweit nicht im konkreten Fall anders angegeben, die Zeit 1990–2017. Auch in diesem Teil der Arbeit wurden alle Übersetzungen der ausgewerteten Archivmaterialien von mir vorgenommen. In Kap. 6 werden zunächst die Migrationspolitik und die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Migration in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 skizziert. Aus ihrer Spezifik resultieren die Formen und die Gestaltung der individuellen Wanderungsmöglichkeiten bulgarischstämmiger Personen nach Deutschland in dieser historischen Periode. Im Weiteren stehen die Spezifika der Migration der Bulgar*innen nach Deutschland nach 1990 im Fokus. Die Ausführungen beruhen auf der Analyse der statistischen Daten des Statistischen Bundesamtes Deutschlands und des Nationalen Instituts für Statistik der Republik Bulgarien. Anhand der Auswertung der durchgeführten leitfadengestützten biografischen Tiefeninterviews mit bulgarischen Migrant*innen, die in der Zeit nach 1990 in Deutschland gelebt haben, wurden spezifische Migrationsverläufe und Migrationsfiguren typologisiert. In Kap. 7 wird auf den veränderten gesellschaftlichen und politischen Migrationsbedingungen nach dem EU-Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 eingegangen. In Kap. 8 wird die Problematik der Rückkehrmigration nach Bulgarien in historischer Perspektive analysiert. Anfangs werden relevante Befunde der Rückkehrforschung zusammengefasst und vorgestellt. Auf der Grundlage der durchgeführten leitfadengestützten biographischen Tiefeninterviews werden die
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Rückkehrbereitschaft, die Schwierigkeiten bei der Gestaltung des Lebens nach der Rückkehr sowie die typischen Figuren der Rückkehrer*innen in den drei analysierten Perioden – vor 1989, zwischen 1990–2007 und nach 2007 – beschrieben. In Kap. 9 wird das Thema Transnationalität aufgegriffen. Die Forschungsfelder und Befunde der transnationalen Migrationsforschung werden vorgestellt und kritisch interpretiert. In Kap. 10 wird die Problematik der Transnationalität zwischen Bulgarien und Deutschland in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere Kultur, Politik, Wirtschaft, Familie, Bildung und Medien analytisch rekonstruiert. Diese Analyse ist historisch aufgebaut und umfasst die drei zentralen Perioden der Studie. Sie beruht auf Analyse von gesetzlichen Regelungen und Ausführungsbestimmungen, der Auswertung von Sekundärliteratur und der Interpretation der von mir durchgeführten Tiefeninterviews. In Kap. 11 werden die Ergebnisse der Studie zusammengefasst und im Kontext der Forschung reflektiert.
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Begriffsbestimmungen und Forschungskontext
Zusammenfassung
Im Kap. 2 werden Grundbegriffe der Migrationsforschung eingeführt und Theorien der Migration und Mobilität vorgestellt. Es wird begründet, welche historischen Perioden die Analyse umfasst. Schlüsselwörter
Migration · Mobilität · Transnationalität · Migrationspfade
Die Sozialwissenschaften entdeckten das Thema der Wanderungsbewegungen in einer spezifischen historischen Zeit – am Ende des 19. Jahrhunderts, in der Blütezeit der industriellen Moderne. Diese historische Grundlage bestimmt die Art und Weise, mit der die Sozialwissenschaften die Migration in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten denken und definieren. Beim Versuch zu erklären, warum einige Menschen die Entscheidung treffen, zu migrieren und andere doch in ihrer Heimat bleiben, vor welche Herausforderungen die Migrierenden gestellt sind und welche Möglichkeiten der Verwirklichung eines gemeinsamen Lebens von Menschen mit unterschiedlichem sozialen, ethnischen und religiösen Hintergrund vorhanden sind, erarbeiten die Migrationsforscher*innen unterschiedliche theoretische Konzepte. In den Anfangsjahren der Migrationsforschung sind sie überwiegend geografisch und ökonomisch geprägt – die ersten Wissenschaftler*innen, die sich mit dem Thema Wanderung befassen, sind Geograf*innen und Ökonom*innen. In diesen, mittlerweile klassisch gewordenen Migrationstheorien, wird die Migration als eine gezielte und gewollte Änderung des Wohnortes einer Person © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_2
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2 Begriffsbestimmungen und Forschungskontext
oder einer Gruppe von Menschen angesehen. Der Begriff der „Migration“ impliziert eine Eindimensionalität der Bewegung, eine Dauerhaftigkeit der Entscheidung und ein Erreichen und Verankern am Endziel. Die „Migration“ ist der „dauerhafte Wechsel des Wohnorts“ (Nauck 1989, S. 362), sowie der „auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen“ (Treibel 2008, S. 21). Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts entsprechen diese ‚klassischen‘ Definitionen der „Migration“, die die migrierenden Personen als aus einem Nationalstaat herausgehend und für immer wegziehend darstellen, nicht den etablierten sozialen Praktiken. Die Figur des/r klassischen Migrant*in, der/die von der Heimat Abschied nimmt, alles verkauft, sich für immer verabschiedet und wegzieht, um niemals zurückzukehren, ist zwar nicht komplett verschwunden; sie ist aber bei weitem nicht die Einzige. Neben dieser Figur existieren auch andere Migrationstypen: die mobilen Expert*innen, die Student*innen, die einzelne Auslandssemester oder das komplette Studium im Ausland absolvieren, die migrierenden Fachkräfte, die im geografischen Raum wandern und verschiedene Phasen ihres Lebens in anderen Ländern verbringen, die saisonalen Arbeitskräfte, die mehrmals im Jahr wandern, um ihren Beruf auszuüben, die wandernden Pflegenetzwerke überwiegend von Frauen, die rotierend eine private Pflegestelle im Ausland bedienen etc. Zahlreich und mehrdimensional sind die Migrationspfade der migrierenden Personen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Analyse dieser biografischen Trajektorien im Rahmen der klassischen Theorien und Definitionen des Begriffs der „Migration“ ist nicht möglich – weder ihre Motive, noch die Ressourcen oder die Sichtwiesen können umfassend aus der Perspektive der ursprünglichen theoretischen Paradigmen analysiert werden. Es sind alternative Vorgehensweisen notwendig. Zentrale Zielsetzung dieser Arbeit ist es, die Grenzen der ursprünglichen Migrationstheorien auf der Grundlage eines konkreten empirischen Beispiels aufzuzeigen und nach neuen theoretischen Erklärungsoptionen zu suchen. Zu diesem Zweck werden zunächst die klassischen Theorien der Migrationsforschung vorgestellt.
2.1 Definitionen des Begriffs „Migration“ Der Begriff „Migration“ bedeutet übersetzt „Wanderung“ und ist in den Sozialwissenschaften ganz unterschiedlich definiert worden. Für alle Definitionen sind jedoch die Aspekte des Wohnortwechsels, der Bewegung und der Verwirklichung der Absicht an einem bestimmten Zielort wieder sesshaft zu werden zentral. Ein
2.1 Definitionen des Begriffs „Migration“
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weiter Migrationsbegriff betont den Wechsel in eine andere Gesellschaft von Menschen. Den Aspekt der Dauerhaftigkeit der Wohnsitzänderung betont Petrus Han in seiner Definition des Migrationsbegriffs. Nach ihm werden als Migration: „Bewegungen von Personen und Personengruppen im Raum (spatial movement) verstanden, die einen dauerhaften Wohnortwechsel (permanent change of residence) bedingen“ (Han 2005, S. 6). Die Migration ist laut dieser Definition eine Bewegung im Raum, die einen Herkunfts- und einen Zielort einschließt. Ebenso implizit vorhanden ist die Absicht der sozialen Akteur*innen, am Zielort dauerhaft zu verbleiben. Nicht relevant für die Definition des Begriffs ist hingegen die Frage, ob der Wohnortswechsel freiwillig oder erzwungen erfolgt. Zum Zweck der Erfassung der Migrationsbewegungen wurde in der internationalen Statistik in den 1950er Jahre der Begriff der Migration definiert. Als Migrant*innen gelten Personen, die länger als ein Jahr außerhalb ihres Wohnortes leben. In den 1960er Jahren wurde die internationale statistische Definition des Migrationsbegriffs geändert. Demnach wurde als Migrant*in nur derjenige/ diejenige gezählt, der/die länger als fünf Jahre außerhalb seines/ihres Wohnortes gelebt hat. Die aktuelle Definition wurde im Jahr 1998 festgehalten. Nach ihr wird als Migrant*in derjenige/diejenige berücksichtigt, der/die wenigstens für die Periode von einem Jahr seinen/ihren Wohnsitz in einem anderen Land verlagert (Han 2005, S. 6). In der klassischen Perspektive typologisiert man die Migration und unterscheidet zwischen internationaler und nationaler Migration, zwischen individueller und gemeinschaftlicher Kettenmigration, zwischen freiwilliger und erzwungener Migration. Die Migration kann aber nicht nur als Wohnortswechsel, sondern auch als Wechsel der sozialen Netzwerke, in die die Akteur*innen eingebunden sind, bestimmt werden. Migration wird als „Wechsel der Gruppenzugehörigkeit“ (Elias und Scotson 1990, S. 229) definiert: „Was geschieht, scheint nur zu sein, dass Menschen sich physisch von einem Ort zum anderen bewegen. In Wirklichkeit wechseln sie immer von einer Gesellschaftsgruppe in eine andere über“ (Elias und Scotson 1990, S. 248). Eine ähnliche Definition des Migrationsbegriffs ist auch bei Ingrid Oswald zu finden. Nach ihr wird die Migration als „ein Prozess der räumlichen Versetzung des Lebensmittelpunkts, also einiger bis aller relevanter Lebensbereiche, an einen anderen Ort, der mit der Erfahrung sozialer, politischer und/oder kultureller Grenzziehung einhergeht“ verstanden (Oswald 2007, S. 13). Diese klassischen Definitionen des Migrationsbegriffs implizieren die Existenz einer Grenze sowie ihre dauerhafte Überwindung; sie setzen das Vorhandensein einer Einbahnbewegung sowie einer Zielrichtung dieser Bewegung
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2 Begriffsbestimmungen und Forschungskontext
voraus. In diesem Sinne haben diese Definitionen ihre Geltung in einer modernen nationalstaatlichen Gesellschaft, die strikt von den anderen Gesellschaften durch Grenzen und durch Zutrittseinschränkungen abgesondert ist. Bei einer Staatengemeinschaft wie der EU hingegen, in der die Prinzipien der Freizügigkeit praktiziert werden, sowie bei sozialen Schichten außerhalb der EU, die ein Leben voller Mobilität führen, verliert diese Definition an Bedeutung. Für Personen und Gruppen, die die nationalstaatliche Grenzziehung aufgrund ihres kulturellen (z. B. ein weltbekannter Autor), sozialen (z. B. Verwandtschaft im Einwanderungszielland) oder ökonomischen Kapitals (z. B. durch die Möglichkeit, Geld zu investieren oder die eigene Arbeitskraft über Staatsgrenzen hinweg anzubieten) leichter überwinden können, ist die klassische Definition des Migrationsbegriffs nicht zutreffend. Als „Migrant*innen“ werden im Folgenden diejenigen Personen bezeichnet, die eigene Migrationserfahrungen haben, indem sie aus ihrem Herkunftsland aus- und in ein anderes Land eingewandert sind. Migrant*innen können, im Gegensatz zu Ausländern, die Staatsangehörigkeit der Aufnahmegesellschaft besitzen, da sie eingebürgert werden und dabei ihre Staatsangehörigkeit ändern können. Zum Personenkreis der Menschen mit Migrationshintergrund bzw. mit Migrationsgeschichte gehören die im Zielland geborenen Personen, deren Vorfahren – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit – Migrationserfahrung haben. Wichtig für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ist also nicht die Staatsangehörigkeit, sondern die Migrationserfahrung der Vorfahren, die vielfach kulturell tradiert wird. Entscheidend dabei ist das kulturell überlieferte Wissen1, das im Gegensatz zur Aufenthaltsdauer und der Frage, zu welcher Migrant*innengeneration man gehört, konstituierend für den Aufbau eines ‚Wir-Gefühls‘ ist. Zur Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund bzw. mit Zuwanderungsgeschichte können also sowohl Eingebürgerte ohne eigene Migrationserfahrung als Kinder ausländischer Eltern, die bei Geburt die Staatsangehörigkeit des Ziellandes erhalten haben, als auch Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund, bei denen nur ein Elternteil Migrant*in, Eingebürgerte(r) oder Ausländer*in ist, gerechnet werden (vgl. Oswald 2007, S. 85). „Ausländer“ hingegen sind Personen, die die Staatsangehörigkeit des Ziellandes (in Deutschland im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes) nicht besitzen. Sie können einen ständigen, langjährigen Wohnsitz in der Aufnahmegesellschaft haben, aber keine Staatsbürger*innen sein. In der heutigen Migrationsforschung wird strikt
1Dieses
wird durch Erzählungen auf die nächste Generation übertragen.
2.2 Theorien der Migration: Ein Überblick
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zwischen den Begriffen „Ausländer“ und „Migrant*innen“, bzw. „Menschen mit Migrationshintergrund“ unterschieden, denn der Begriff „Ausländer“ konnotiert eine bestimmte Fremdheit, Nicht-Zugehörigkeit zur Gesellschaft und temporäre Begrenztheit des Aufenthaltes. Die Migrationsbewegungen verursachen Gegenbewegungen – diese These von Ravenstein (Ravenstein 1972, S. 41–64) gehört zu den bedeutendsten Gesetzmäßigkeiten der Migrationsforschung. In der vorliegenden Arbeit wird auch das Thema „Rückkehrmigration“ in den Blick genommen. Unter „Rückkehrmigration“ wird eine Wanderungsbewegung von Personen verstanden, die nach einem längeren, mindestens einjährigen Aufenthalt im Ausland, in das Land ihrer Herkunft zurückkehren und dort mindestens ein Jahr lang nach der Rückkehr bleiben. Detailliert wird das Thema „Rückkehr“ in Kap. 8 der vorliegenden Arbeit behandelt.
2.2 Theorien der Migration: Ein Überblick2 Die Theorien der Migration haben den Anspruch, eine systematische, strukturell-fundierte Antwort auf die Frage zu geben, warum Menschen migrieren. Dabei sollen die möglichen Ursachen, Verläufe und Folgen der Migrationsbewegungen typologisiert werden. Die Erforschung der Migrationsprozesse hat ihren Ursprung in der ökonomischen Geografie. Die ersten, aus heutiger Sicht „klassischen“ Theorien, die das Phänomen der Wanderung erklären, betonen überwiegend die Bedeutung der geografischen und ökonomischen Faktoren für die Entscheidung der Individuen oder der Gruppen, zu migrieren. Die neueren Theorien berücksichtigen auch andere Faktoren z. B. die soziale Einbettung der Migrant*innen in Netzwerke, die historische Tradition einer Migrationsbewegung, die zu einer Kettenmigration führt, sowie die Entstehung von transnationalen Räumen. Zu den klassischen Theorien, die das Phänomen „Migration“ erklären, gehören der bevölkerungsgeografische Ansatz, der makroökonomische Ansatz, der mikroökonomische Ansatz und der entscheidungstheoretische Ansatz. Ende des 19. Jahrhunderts kam es vor dem Hintergrund der Modernisierung, Industrialisierung, Urbanisierung und zunehmenden Wanderungsbewegungen zu
2Die
folgende Ausführung zu den Theorien der Migration wurde in Liakova (2013, S. 35–38) veröffentlicht.
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den ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Migration. 1885 publizierte Ernest G. Ravenstein einen Vortrag mit dem Titel „Gesetze der Wanderung“ (Ravenstein 1972, S. 41–64). In diesem analysierte er die Ergebnisse der britischen Volkszählungen aus den Jahren 1871 und 1881 und stellte einen Zusammenhang zwischen dem Wanderungsvolumen und der geografischen Entfernung fest: Ravenstein ging davon aus, dass die geografische Entfernung eine wichtige Rolle für die örtliche Verteilung der Migration hat. Zudem wies er nach, dass urbane Zentren mehr Menschen anziehen als ländliche Gegenden. Eine wichtige These in seiner Theorie ist, dass jeder Einwanderungsstrom auch Auswanderungsströme („Gegenströme“) produziert. Ravensteins Theorie gilt als Meilenstein des bevölkerungsgeografischen Ansatzes. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in den Sozialwissenschaften die sogenannten Gravitationsmodelle populär. Als Grundlage dieser Modelle gilt das Newtonsche Gravitationsgesetz. Die Anzahl der Wanderungsbewegungen stand demnach im Zusammenhang mit der Entfernung und mit der Einwohnerzahl der jeweiligen Ortschaft. Die Wanderung zwischen zwei Ortschaften wird kleiner, wenn die geografische Entfernung zwischen Ortschaften größer wird (Dodd 1950; Zipf 1946). Die makroökonomischen Ansätze fokussieren auf die Ungleichheiten zwischen den Arbeitsmärkten in den einzelnen Ländern und interpretieren diese als Ursachen der Migration. Von Bedeutung sind dabei Variablen wie die Arbeitslosenquote und das Bruttoinlandsprodukt. Die Annahme dieser Theorien ist, dass Menschen zu Gebieten migrieren, in denen sie einen leichteren Zugang zu einem Arbeitsplatz und zu besseren Verdienstmöglichkeiten haben (Hicks 1963). Als Teil der makroökonomischen Ansätze sehen die neoklassischen Ansätze die Unterschiede im Lohnniveau als Hauptursache für eine Wanderungsbewegung. Nach dieser analytischen Perspektive verläuft die Migration aus Regionen mit niedrigerem Lohnniveau zu Regionen mit höherem Lohnniveau. Wanderungen erfolgen so lange, bis sich das Lohnniveau zwischen Regionen oder Ländern angeglichen hat (vgl. auch Massey et al. 1993). Die Push-Pull-Theorie von Everett S. Lee (1972) betont die Bedeutung von Faktoren, die Migrant*innen abstoßen bzw. anziehen. Solche Sogfaktoren sind z. B. offene Stellen, gut bezahlte Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, Wohnungsangebot usw. Als Druckfaktoren gelten fehlende Arbeitsplätze, soziale Unruhen, Wohnungsmangel, Unsicherheit u. a. (vgl. auch Todaro 1976; Chies 1994, S. 34 ff.). Zu den klassischen Migrationstheorien gehört die Segmentationstheorie bzw. die Theorie des dualen Arbeitsmarktes. In dieser Theorie wird die Unmöglich-
2.2 Theorien der Migration: Ein Überblick
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keit eines Gleichgewichts postuliert. Der Arbeitsmarkt einer Gesellschaft wird in Segmente geteilt. Das sichere primäre Segment beinhaltet Arbeitsplätze, die gut bezahlt, stabil und langfristig sind. Das sekundäre Segment besteht hingegen aus Arbeitsplätzen, die schlecht bezahlt sind und eine nicht oder nur gering qualifizierte Arbeitskraft erfordern. Ein Grund für die Migrationsbewegungen ist nach dieser Theorie der ständige Bedarf nach Arbeitsplätzen im sekundären Segment. Diese werden Migrant*innen angeboten (Piore 1979). Die Weltsystemtheorie (Wallerstein 1974) erklärt die Migration als eine Bewegung von den Peripherien in die globalen Zentren. Das Weltsystem besteht aus verschiedenen Schichten: Zentrum, Semi-Peripherie und Peripherie, wobei diese Schichten hierarchisch einzustufen sind. Die wirtschaftliche Entwicklung in den globalen Zentren wirkt anziehend für Arbeitskräfte aus den Peripheriegebieten. Besonders intensiv ist die Bewegung zwischen den ehemaligen Kolonien und den kolonialen Mächten. Sie wird von den bereits bestehenden kulturellen, sprachlichen und administrativen Verbindungen zusätzlich beschleunigt (vgl. auch Pries 1997). Die neoklassischen mikroökonomischen Modelle (Sjaastad 1962, S. 84 f.) konzentrieren sich beim Versuch, die Migrationsprozesse zu erklären, auf die individuellen Entscheidungen der sozialen Akteur*innen. Die Humankapitaltheorie (Speare 1971) begründet die Wanderungsbewegungen durch die Entscheidungen, die von den sozialen Akteur*innen getroffen werden, um ihr Einkommen und ihre Arbeitssituation zu verbessern. Die Individuen wandern dieser Theorie zufolge in Regionen, in denen es besser dotierte Arbeitsplätze gibt. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Arbeitsplatz zu finden, kalkuliert und bei der Planung der Wanderung berücksichtigt. Diese Kosten-Nutzen-Analyse, die von den Akteur*innen durchgeführt wird, ist eine zentrale Annahme dieser Theorie. Die Neue Migrationsökonomie (Mincer 1978; Sandell 1977) stellt nicht das individuelle Interesse, sondern die Entscheidungen der gesamten Haushalte in den Mittelpunkt. Nicht das persönliche Einkommen und seine mögliche Verbesserung, sondern die Steigerung des Einkommens des gesamten Haushalts, kann eine Wanderungsentscheidung erklären. Dabei ist das Interesse des Gesamthaushalts nicht immer deckungsgleich mit dem Interesse der einzelnen Haushaltsmitglieder. So muss ein Haushaltsmitglied eine Stelle aufgeben, damit der Gesamthaushalt zu einem anderen Ort migrieren kann, wo die meisten Haushaltsmitglieder und damit der Gesamthaushalt bessere Verdienstmöglichkeiten haben. Diese Theorie hat Erklärungspotenzial, insbesondere in Gesellschaften, in denen die Gemeinschaft eine wichtige Bedeutung hat.
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2 Begriffsbestimmungen und Forschungskontext
Die entscheidungstheoretischen Ansätze (Ritchey 1976; Bogue 1977) nehmen die individuelle Interpretation der strukturellen Bedingungen vonseiten der sozialen Akteur*innen in den Blick. Mit dem Instrumentarium dieser Theorie kann erklärt werden, warum Personen, die ähnliche Rahmenbedingungen haben, unterschiedliche Wanderungsentscheidungen treffen. Nach dieser Theorie sind nicht nur die Kombination von Push- und Pull-Faktoren für eine Migrationsbewegung ausschlaggebend, sondern die Wahrnehmung und die subjektive Einschätzung eines möglichen Nutzens bzw. eines wahrscheinlichen Verlust. Die Migration führt in Folge einer subjektiven Kalkulation zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die klassischen Ansätze erklären die Migration als Ergebnis eines Zusammenspiels von Push- und Pull-Faktoren. Von den Vertretern der klassischen Migrationsparadigmen wird die Wanderung als eine einmalige Entscheidung aufgefasst, die in eine Richtung geht. Die neueren Theorien der Migration betonen hingegen die Bedeutung von mehrfachen Wanderungsbewegungen, die in verschiedene Richtungen verlaufen können. Phänomene, wie die zirkuläre Migration oder die Rückkehrmigration sowie die Veränderungen in der individuellen Lebensplanung werden stärker berücksichtigt (Glick Schiller et al. 1992). Dabei tendieren die neueren Theorien dazu, die Erklärungen nicht auf der Ebene der zwischenmenschlichen face-to-face Verhältnisse (Mikroebene) zu suchen. Sie betrachten auch nicht die Ebene der Gesamtgesellschaft bzw. der zwischenstaatlichen Beziehungen (Makroebene). Sie verlagern die Analyse beispielsweise auf die Ebene Freundeskreis, Gemeinschaft, Migrant*innenorganisationen, -vereine und -netzwerke (Mesoebene). Die Wanderungsbewegungen können demnach nicht nur auf der Grundlage der individuellen Entscheidungen oder der strukturellen Rahmenbedingungen erklärt werden. Kategorien wie „Familie“, „Haushalt“ oder „Netzwerk“ werden in den neueren Theorien verstärkt berücksichtigt. Im Konzept der Migrationssysteme (Fawcett 1989), einer weiteren neueren Migrationstheorie, wird die Bedeutung des Austauschs von Wissen, Informationen, Dienstleistungen, Personen usw. betont. Migrationssysteme entstehen zwischen Gesellschaften, die verstärkt in einem Austauschverhältnis zueinander stehen. Dabei können die Austauschprozesse variieren: Sie können von Staat zu Staat anders verlaufen und Handel, Dienstleistungen, Güter, Arbeitskräfte usw. umfassen. Alternativ können die Austauschprozesse den Bereich der Kultur betreffen und kulturelle Güter wie Filme, Musik, Literatur aber auch Werte
2.3 Mobilität
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oder Bilder umfassen. Die Migrationssysteme können auf der Ebene der Familien sichtbar sein: Geldüberweisungen oder Briefe zwischen den Familienmitgliedern belegen diese systemische Verbindung. Auf der Ebene der Migrant*innenorganisationen oder Netzwerke können auch Verbindungen in den Migrationssystemen festgestellt werden. Zu den neueren Perspektiven der Migrationsprozesse gehört die sogenannte kumulative Sichtweise. Sie versucht die Migrationsprozesse als Ergebnis unterschiedlicher Faktoren zu begreifen z. B. strukturelle Transformationen der Ausreise- und Einreisegesellschaft, Entstehung sozialer Netzwerke und Kettenmigrationen usw. Monokausale Erklärungsmuster werden als nicht hinreichend für die Erklärung angesehen (Portes 1995). Im Rahmen der neueren Migrationstheorien wird einerseits verstärkt auf die Bildung sozialer Netzwerke und andererseits auf die Bedeutung existierender Netzwerke für die Migrationsentscheidung geachtet (Hugo 1981; Zlotnik 1992). Es wird davon ausgegangen, dass persönliche Beziehungen der Migrant*innen, die über Staatsgrenzen hinausgehen, zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Kettenmigration führen. Existierende Netzwerke können die Migrationsentscheidung beschleunigen, wenn die sozialen Kontakte positiv gegenüber einer Migration eingestellt sind. Wenn sie eine Migration negativ bewerten, können sie sich hinderlich auf eine Migrationsentscheidung auswirken. Wie sich soziale Beziehungen auf die Migration auswirken, ist die zentrale Frage der neueren Migrationstheorien.
2.3 Mobilität Mit dem Begriff „Mobilität“ werden diejenigen Wanderungsbewegungen bezeichnet, die nicht dauerhaft und zielgerichtet sind, die eben nicht zum ‚Verbleiben‘ in einem anderen Staat führen bzw. auf die Integration des Verbleibenden in einem Nationalstaat abzielen. Mit „Mobilität“ werden diejenigen diffusen Bewegungen bezeichnet, die durch eine ständige Mikro-Verbindung zwischen verschiedenen Gesellschaften entstehen (Urry 2007, S. 18). Sowohl die „Migration“, als auch die „Mobilität“ zeichnen sich durch eine Verortungsveränderung der Migrierenden aus. Im Unterschied zur „Migration“ stellt die „Mobilität“ eine temporäre, diffuse Bewegung dar, die kein Endziel impliziert. Bei der „Mobilität“ ist keine „Verlagerung des Lebensmittelpunktes“ (Oswald
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2 Begriffsbestimmungen und Forschungskontext
2007, S. 13) feststellbar, ein „Wechsel der Gruppenzugehörigkeit“ (Elias und Scotson 1990, S. 229) wird nicht vollzogen. So können Bewegungen wie der Tourismus, die Transitreisen, der Ideenaustausch, die professionellen Dienstreisen, das Expatriats-Leben als „Mobilität“ aber eben nicht als „Migration“ definiert werden.3 Die Unterscheidung der beiden Begriffe „Migration“ und „Mobilität“ scheint auf dem ersten Blick problemlos. Sie ist allerdings nicht nur deskriptiv, sondern hat auch normative Implikationen. Die beiden Begriffe beschreiben nicht nur die verschiedenen Wanderungsbewegungen von Menschen im Raum, indem sie ihnen eine unterschiedliche Bezeichnung geben, die ihren unterschiedlichen Eigenschaften entsprechen (vgl. insbesondere Urry 2007; Krasteva 2014; Schneider und Collet 2010). Sie klassifizieren diese Bewegungen und werten sie, indem sie die „Mobilen“ als „moderne“, „erfolgreiche“, „freie“ und „unabhängig von den Visaeinschränkungen“ der modernen Nationalstaaten, spielend mit verschiedenen hybriden Identitäten darstellen und die „Migrant*innen“ als traditionelle Emigrant*innen, die in ihrer Herkunftsgesellschaft noch verankert sind, aber ständig bemüht sind, in der neuen Gesellschaft anzukommen, sich zu „integrieren“ und ihre Loyalität zu beweisen, definieren. Die Mobilität setzt ein bestimmtes ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital voraus. Sie setzt aber auch etwas voraus, was ich als „Nationalitätskapital“ oder „staatsbürgerliches Kapital“ bezeichne4. Die Definition der Mobilität impliziert: Mobil zu sein, ist angesehen; wenn man mobil ist, ist man erfolgreich. Diese These wird im Folgenden empirisch überprüft.
3Eine
internationale Studie (vgl. Schneider und Collet 2010) vergleicht und typologisiert die Mobilität in sechs europäischen Ländern: Belgien, Frankreich, Deutschland, Polen, Spanien und Schweiz. Durch die Methode Computer Aided Telephone Intervieweing (CATI)/Computer Aided Personal Interviewing (CAPI) wurden 7220 Personen befragt. Diese umfassende Analyse erlaubt dem Forscherteam, eine Typologisierung der Mobilitätsformen durchzuführen, indem auch Faktoren wie Grenzübertritte, Intensität der Bewegungen, Dauerhaftigkeit der Mobilität, Wiederholbarkeit der Wanderungsbewegungen, Doppelte Haushaltsführung, Übernachtungen außerhalb der eigenen Wohnung, (Un)Freiwilligkeit der Mobilität, Entfernung vom Partner etc. berücksichtigt werden. 4Unter „Nationalkapital“ bzw. „staatsbürgerschaftlichem Kapital“ verstehe ich die Rechte und die Zugänge, die aus dem Besitz einer bestimmten Staatsangehörigkeit resultieren.
2.4 Transnationale Migration und transnationale soziale Räume
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2.4 Transnationale Migration und transnationale soziale Räume Neben der Forschung der Migration und der Mobilität etabliert sich in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften eine andere Richtung – die der „Transnationalität“ bzw. der „transnationalen Migration“. Sie gehört zu den bedeutendsten neueren Ansätzen der Migrationsforschung. Sie beansprucht, den Gegensatz „Herkunftsgesellschaft versus Aufnahmegesellschaft“ zu überwinden, der von den klassischen Theorien analytisch geprägt wurde. Die Grundannahme dieser Theorie ist, dass die Personen, die in einer neuen Aufnahmegesellschaft leben, die Verbindungen zu ihrer Herkunftsgesellschaft nicht abbrechen. Die transnationalen Migrant*innen pflegen Kontakte und haben Wohnorte in verschiedenen Gesellschaften, zwischen denen sie pendeln. Die Räume, die im Rahmen dieser Pendelbewegungen entstehen, werden als „transnationale Räume“ bezeichnet. Durch die transnationale Migration entwickeln sich Netzwerke zwischen den transnationalen Migrant*innen sowie institutionalisierte Verbindungen zwischen den Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften. Die transnationalen Räume sind sowohl Orte als auch Praktiken, durch die die Nationalstaaten verbunden sind. Diese Praktiken können sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene gelebt werden; sie können mehr oder weniger strukturiert bzw. organisiert sein: Nach Thomas Faist, Margit Fauser und Eveline Reisenauer (Faist et al. 2014, S. 31) existieren unterschiedliche Formen transnationaler Räume. Die Migrationsbewegungen sind eine wichtige, jedoch nicht die einzige Voraussetzung für die Existenz transnationaler Räume. Die transnationalen Räume werden nicht nur durch die individuellen Migrationsbewegungen, sondern auch durch die Zirkulation von „Vorstellungen, Symbole[n], Aktivitäten, materieller Kultur“ strukturiert. Nach Faist umfasst die transnationale Migration auch die sogenannten „border-crossing movements of people“ (Faist o. J.), aus welchen transnationale soziale Bindungen entstehen können. Die transnationalen Räume können auch ohne die physische Fortbewegung von Menschen existieren: Durch die Medien können z. B. Ideen ausgetauscht werden. Trotzdem stellt ausgerechnet die Fortbewegung von Menschen der wichtigste Faktor für die Dynamisierung und Etablierung der Transnationalität und für den Aufbau transnationaler sozialer Räume dar. Faist bezeichnet die transnationalen sozialen Räume als „boundary-breaking process in which two or more nation states are penetrated by and become a part of a singular new social space“ (Faist 2013, S. 452).
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Ludger Pries begreift die Prozesse der Transnationalisierung als eine Form der Internationalisierung. Im Unterschied zur Diaspora – eine andere Form der Internationalisierung – wird die Transnationalisierung nicht von einem Steuerungszentrum kontrolliert.5 Die Definition des Begriffs der „transnationalen Räume“ von Faist ist bedeutungsvoll, da sie nicht nur auf die Transnationalität generierende Funktion der Migration fokussiert. Die diplomatischen, die wirtschaftlichen oder die kulturellen Beziehungen, der Handel, die Mitgliedschaft der Staaten und der nichtstaatlichen Akteur*innen in supranationalen Organisationen sind ebenso als Triebfeder der Transnationalität zu sehen – sie schaffen ebenso transnationale Räume. Nach Nancy Foner (2001) sind die transnationalen Räume historisch gesehen kein neues Phänomen. Neu ist nach Faist, Fauser und Reisenauer allerdings ihre Ausdehnung – sowohl die geografische als auch die soziale (vgl. Faist et al. 2014, S. 54–60). Die neue Tendenz ist die Verankerung der Transnationalität auf Mikroebene. In früheren Zeiten wurde die Transnationalität nur von internationalen Großkonzernen oder gar von Nationalstaaten praktiziert, in neuerer Zeit, seit Beginn des 21. Jahrhunderts, wird sie zunehmend von den Individuen in ihren mikrosozialen Praktiken gelebt. Die transnationalen Verbindungen, vor allem auf mikrosozialer Ebene, nehmen zu. Auch sozial nimmt die Ausdehnung zu – immer mehr Personen unterschiedlicher sozialer Schichten leben in transnationalen sozialen Räumen. Diese sind allerdings nicht im 21. Jahrhundert entstanden. Der Zugang zu ihnen wird aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts für immer mehr Menschen gewährleistet: Immer mehr Menschen sind in transnationale Netzwerke und Praktiken eingebunden, auch wenn sie nicht migrieren. Der Begriff „transnationale Migration“ überwindet, zumindest teilweise, die Dichotomie zwischen den beiden Begriffen „Migration“ und „Mobilität“ und schafft die soziale Unterscheidung ab, die durch die Verwendung von Migration für die Bezeichnung der als ‚sozial problematisch‘ angesehenen Wanderungsbewegungen und von Mobilität für die Bezeichnung von ‚Wanderung der Hochbezahlten und Hochqualifizierten‘ entsteht. Der Begriff „transnationale
5„Transnationalisierung
ist eine idealtypische Internationalisierungsform, bei der sich ein relativ stabiler und verdichteter Sozialraum über mehrere Flächenräume (z. B. nationalstaatliche Territorien) hinweg erstreckt, ohne – wie im Falle der Diaspora – ein steuerndes Zentrum aufzuweisen. Transnationale Sozialräume können im Rahmen internationaler Migrationsprozesse aber auch aus anderen Formen internationaler Profit- oder Non-ProfitOrganisationen entstehen“ (Pries o. J.).
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Migration“ fokussiert die Migrationsbewegungen, die nicht dauerhaft verankert sind und die nicht von den Konzepten der klassischen Migrationstheorien analytisch erfasst werden können, aber auch nicht ausschließlich die Mobilität der Hochbezahlten und Hochqualifizierten (z. B. die Expat- und Expertenmobilität) berücksichtigen (Glick Schiller et al. 1995, S. 48–63). Das Konzept der transnationalen Migration überwindet das Verständnis von Migration als eine eindimensionale und auf Dauer ausgelegte Verlagerung des Lebensmittelpunktes, wobei diese Überwindung nicht auf Praktiken wie Tourismus, Geschäftsreisen oder Transit-Reisen eingeschränkt wird. Die Transmigration kann eine wirtschaftliche, bildungs- oder familienmotivierte Migrationsbewegung sein, die allerdings nicht in der Einwanderungsgesellschaft endet, sondern immer wieder Verbindungen zum ‚Ausgangspunkt‘ der Wanderungsbewegung herstellt. Dabei beinhalten diese Verbindungen nicht zwangsläufig eine konkrete Rückkehrplanung bzw. eine Rückkehrannahme, die oft Bestandteil eines klassischen Migrationsprojekts sind. Die ‚um-zu‘ und ‚damit‘ Motive der transnationalen Migrant*innen verdeutlichen diese These – die Mutter, die migriert und ihre Kinder im Herkunftsland lässt, damit sie im Ausland arbeiten kann und dadurch den Kindern bessere Aufstiegsmöglichkeiten anbieten kann; die internationale Fachkraft, die Geld spart, damit sie ein Haus im Herkunftsland kaufen kann; der/die Wissenschaftler*in, der/die mit seinen Kolleg*innen aus dem Herkunftland gemeinsam forscht etc. Die Transmigration wird durch Mehrdimensionalität, Diffusität und Rotation gekennzeichnet. Sie beinhaltet die potentielle Hybridität und Pluralität menschlicher Identitäten, indem sie die „simultaneous embeddedness in more than one society“ (Glick Schiller et al. 1995, S. 48) postuliert. Welche gesellschaftlichen Bedingungen machen die Transmigration möglich? Die Transmigration ist bei bestimmten Durchlässigkeiten der nationalstaatlichen Grenzen realisierbar. In diesem Sinne ist eine bestimmte Gesetzmäßigkeit in der Tatsache zu finden, dass der Begriff „Transmigration“ und die Erforschung der Transmigration erst nach dem Ende des Kalten Krieges (1989) etabliert wurden. Auch die zunehmende Kommunikationsverflechtung (Internet, Mobilfunk, Datenaustausch), die Prozesse der Globalisierung sowie die Europäisierung spielen eine wichtige Rolle hierfür. Eine bedeutende Grundlage der Zunahme der transnationalen Verbindungen ist die Öffnung der Grenzregime. Der Begriff „Grenzregime“ bezieht sich auf den juristischen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Makrorahmen, in dem bestimmte Migrationsbewegungen verwirklicht oder verhindert werden können, aber auch auf die etablierten Regelungen des Grenzenübertritts, des Aufenthalts sowie auf die legitimen Einschränkungen der Wanderung und des Aufenthalts. Dieser M akrorahmen
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wird von den einzelnen Nationalstaaten und/oder von den übernationalen Organisationen (z. B. von der EU) vorgegeben. Auch wenn die soziale Welt nicht ausschließlich durch die nationalstaatlichen Container der klassischen Soziologie des 19. und des 20. Jahrhunderts zu begreifen ist, ist weiterhin festzustellen, dass die Nationalstaaten eine Schlüsselbedeutung bei der Regulierung der Wanderungsbewegungen haben. Die Entstehung transnationaler Räume kann nur im Kontext der Bedeutung der Nationalstaaten analysiert werden. Die Grenzregime sind allerdings nicht statisch, sie haben eine historische Entwicklung (Hoerder et al. 2007, S. 28–53). Der Begriff „Grenzregime“ entkoppelt die Migrationsforschung von der exklusiven Verbindung mit der Geografie, die die Entfernung als Schlüsselfaktor für die Migrationsbewegung festlegt. Ebenso wird der Einfluss der Wirtschaftswissenschaften auf die Migrationsforschung reduziert, welche lediglich die Verbesserung der materiellen Lagen als individuelles Motiv oder Gruppenmotiv für die Migrationsbewegungen festlegen (Liakova 2013, S. 35–38). Durch die normative Festlegung der Idee der Freizügigkeit wird die EU von einem geografischen Raum, der die transnationalen Bewegungen ermöglicht, aber auch teilweise eingeschränkt hat, zu einem transnationalen Raum – zu einem Raum transnationaler Bewegungen von Menschen, Ideen, Waren und Dienstleistungen. Die auf der Freizügigkeit beruhende Bewegung kann als eine quasi-regionale Bewegung angesehen werden. Dieses neue Migrationsregime erhöht das Potenzial für die Verwirklichung bestimmter Migrationsstile wie die Mobilität und die transnationale Migration und beschränkt zugleich, ohne sie allerdings komplett zu überwinden, die klassische Migration.
2.5 Diaspora oder Gemeinschaft? Die Form der Vergemeinschaftung der im Ausland lebenden Bulgar*innen ist ein zentraler Aspekt der Arbeit. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Diaspora“ einzuführen. Die Begriffsbestimmung von „Diaspora“ und „Gemeinschaft“ ist von Bedeutung, da sie die Möglichkeit einer präzisierten Interpretation der quasi-gemeinschaftlichen Strukturen der bulgarischen Migrant*innen, die in Deutschland leben, bietet. Der Begriff „Diaspora“ wird kontrovers diskutiert, da er sich nicht nur auf die Zusammensetzung einer ethnisch homogenen Gemeinschaft, die im Ausland lebt, bezieht, sondern ihre politische Beteiligung impliziert. Er bezeichnet zum einen „Orte, die von religiösen, konfessionellen oder nationalen Minderheiten bewohnt werden, bzw. für die Minderheiten selbst, die an der Zugehörigkeit zu
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Herkunftsort und Gemeinschaft (Sprache, Religion, Kultur) festhalten, bzw. diesen zugerechnet werden“ (Fuchs-Heinritz et al. 2011, S. 138). Dieser Gebrauch des Begriffs „Diaspora“ weist auf Ähnlichkeiten zum Begriff „nationale Minderheit“ hin, wie er von Friedrich Heckmann definiert wurde: „Nationale Minderheiten haben oder streben intensive Beziehungen zu dem Nationalstaat an, in dem ‚ihre‘ ethnische Gruppe Staatsvolk ist […] Ihr politisches Ziel sind enge Beziehungen zu oder der Anschluß an den in Bezug auf ihre historisch-kulturelle Identität zugehörigen und ihren sozial-ökonomischen Interessen förderlichen Nationalstaat“ (Heckmann 1992, S. 62). Relevant für die vorliegende Arbeit ist eine zweite Bedeutung des Begriffs „Diaspora“: „Der Begriff findet heute Aufnahme in der Migrationsforschung und in den Post-colonial Studien zur Thematisierung von Erfahrungen und Bindungen von Einwanderern, Arbeitsmigranten, Nachkommen von Sklavenbevölkerungen, Deportierten, Flüchtlinge usw.“ (Fuchs-Heinritz et al. 2011, S. 138). Thomas Faist vertieft diese Definition und betont: „Kollektive von Auswanderern oder über die Welt zerstreut lebende Menschen, die entweder in ihren eigenen Augen oder aus fremder Sicht nicht in ihrem (imaginierten) Heimatland oder Herkunftsland leben, kulturell nicht in ihren Niederlassungsländern assimiliert sind, wohl aber eigene, gruppenspezifische politische bzw. religiöse Ziele verfolgen, die sich auf ein reales oder imaginiertes Herkunfts- bzw. Zielland konzentrieren“ (Faist et al. 2014, S. 126). Der Begriff kann von den politischen Eliten einiger Länder missbräuchlich verwendet werden, indem sie durch die Diaspora versuchen, die Gründung einer Nation zu forcieren oder von außen Einfluss auf einen Staat auszuüben. In diesem Sinne sind Diaspora „Ergebnisse politischer Mobilisierung“ (Faist et al. 2014, S. 126) innerhalb der transnationalen sozialen Räume. Hingegen beinhaltet der Begriff „Gemeinschaft“ („Community“) nicht die politische Implikation einer Beteiligung oder gar Einmischung in die Angelegenheiten eines Nationalstaates vonseiten einer Gruppe, die außerhalb der Staatsgrenzen des Staates lebt. Die Gemeinschaft basiert auf gemeinsam rezipierten bzw. sozial konstruierten Phänomenen: Sprache, Kultur, Vergangenheit, Humor, Werte, Normen, Idealvorstellungen etc. Die Gemeinschaft „beruht auf instinktivem Gefallen oder auf gewohnheitsbedingter Anpassung oder auf ideenbezogenem gemeinsamem Gedächtnis der beteiligten Personen“ (Fuchs-Heinritz et al. 2011, S. 230). Die Gemeinschaft stellt eine „organisch gewachsene Ganze“ (ebenda) dar. Das Gemeinschaftshandeln basiert auf Solidarität (ebenda, S. 231) und ist typisch für kleinere Gruppen z. B. für Familien. In Bezug auf größere Gruppen, z. B. auf eine nationale Gemeinschaft, verwendet Benedict Anderson den Begriff „vorgestellte Gemeinschaft“. Die Nation ist eine „vorgestellte
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Gemeinschaft“, „weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen […] werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert. […] In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit ihren Face-to-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson 2005, S. 14). Die Nation ist dennoch eine Gemeinschaft, obwohl kein face-to-face Kontakt zwischen den Mitgliedern existiert, „weil sie, unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ‚kameradschaftlicher‘ Verbund von Gleichen verstanden wird“ (Anderson 2005, S. 16). Im Weiteren wird unter anderem diskutiert, inwieweit die Begriffe „Diaspora“ und „Community“ für die quasi-gemeinschaftlichen Zusammenschlüsse der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland relevant sind und wie sich diese historisch verändern.
2.6 Mobilitäts- und Migrationsfähigkeit als Kapital Der Zugang zu Migration und Mobilität ist in allen Gesellschaften und Epochen ein Privileg. Das Recht auf Migration, die Möglichkeit und die Fähigkeit mobil zu sein, sind Ressourcen, bzw. eine neue Kapitalform. Vincent Kaufmann, Manfred Max Bergmann und Dominique Joye begreifen die Mobilität nicht als eine soziale oder geografische Fortbewegung in der gesellschaftlichen Hierarchie bzw. im geografischen Raum, sondern als eine Ressource, als ein Kapital, auf individueller Ebene. Sie bezeichnen dieses Kapital als „Motility“: „Motility can be defined as the capacity of entities (e.g. goods, information or persons) to be mobile in social and geographic space“ (Kaufmann et al. 2004, S. 750). Die Fortbewegungsfähigkeit ist eine Ressource, die sowohl weltweit als auch innerhalb einer Gesellschaft ungleich verteilt ist – manche erhalten sie per Geburt, andere müssen sie sich erarbeiten oder erkämpfen. Migration und Mobilität spiegeln sowohl die nationale, als auch die globale soziale Ungleichheit wieder und verstärken sie. Selbst in der heutigen deutschen Gesellschaft, in der Massentourismus, Student*innenpraktika im Ausland und weltweite Karrieren nicht nur möglich, sondern selbstverständlich erscheinen, sind sie nicht allen Mitgliedern einer Gesellschaft gegeben. Global kann ich, in Anlehnung an Kaufmann et al. (2004), vier Typen der Einschränkung der Mobilität und der Migration feststellen: eine ökonomische (bezogen auf das individuelle Einkommen), staatsbürgerschaftliche (bezogen auf die individuelle Staatsangehörigkeit), kulturelle (bezogen auf die Sprachkenntnisse und auf das Wissen, das Reisen ermöglicht) und schließlich
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soziale Einschränkung (bezogen auf die sozialen Ressourcen, Bekanntschaften, Verwandtschaften, Freundschaften im Ausland, die als ‚Türöffner‘ dienen). Die Fortbewegungsfähigkeit steht im Zusammenhang mit dem sogenannten „Netzwerkkapital“. Der Begriff wurde von John Urry (2007) eingeführt. Nach ihm ist das Netzwerkkapital „capacity to engender and sustain social relations to those people who are not necessarily proximate and which generates emotional, financial and practical benefit“ (Urry 2007, S. 197). Die Elemente des Netzwerkkapitals nach Urry sind: Dokumente, Visa, Geld, Qualifikationen, Arbeitskolleg*innen, Freund*innen, Familie, Fortbewegungsmöglichkeiten, nicht ortsgebundener Informationszugriff, Kommunikationsmittel, angemessene Treffpunkte, Zugang zu Mobilität sowie Zeit und Ressourcen, um die genannten Aspekte zu koordinieren (ebenda). Die ungleiche Verteilung der Ressource ‚Migration‘ ist auch durch den unterschiedlichen Wert der nationalstaatlichen Reisepässe sichtbar6. Joachim Schroeder bezeichnet diese ungleiche Verteilung der staatsbürgerschaftlichen oder aufenthaltsrechtliche Ressourcen als „juridisches Kapital“ oder „Rechtskapital“, das „staatsbürgerschaftliche, aufenthalts- und arbeitsrechtliche“ Zugänge, z. B. Aufenthaltstitel, Arbeitserlaubnis etc., beinhaltet (Schroeder 2003, S. 261). Jedes Jahr führt die Schweizer Privatfirma „Henley und Partners“ eine Studie durch, in der der Wert der Reisepässe von 170 Staaten verglichen und in einer Rangliste geordnet wird (vgl. Henley & Partners o. J.). In dieser Studie wird die visumfreie Zugangsberechtigung, die aus den einzelnen Staatsbürgerschaften resultiert, gemessen. Im Jahr 2017 war der deutsche Reisepass der wertvollste – ohne Visum konnten die Träger*innen in 186 Länder einreisen. Im Jahr 2018 teilen Singapur und Japan Platz eins. Hingegen konnten die Besitzer*innen des afghanischen und des irakischen Reisepasses lediglich in 30 Ländern visumfrei einreisen. Eine weitere Sichtbarkeit ergibt sich durch das ökonomische Kapital – wohlhabende Menschen können sich den Zugang zu Mobilität und Migration ‚kaufen‘: Sowohl Einbürgerungsurkunden als auch Visa werden ‚verkauft‘ bzw. gegen Investition einer bestimmten Summe in einem Land verliehen (Tagesschau 2017). Menschen mit besonderer Begabung, die als wichtig für das öffentliche Interesse erachtet wird, z. B. Künstler*innen oder Sportler*innen, können bevorzugt eingebürgert werden und dadurch Zugang zur Migration und Mobilität erhalten. Die Staatsbürgerschaft wird auch von Harald Bauder als „Kapital“
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‚Wert der nationalstaatlichen Reisepässe‘ verstehe ich die Rechte und die Zugänge, die aus dem Besitz einer bestimmten Staatsangehörigkeit resultieren.
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bezeichnet (Bauder 2008, S. 315 ff.). Der Begriff „Kapital aus Staatsbürgerschaft“ findet auch bei Manuela Boatca (Boatca 2017, S. 137 ff.) Verwendung. Im Folgenden soll die These über die Bedeutung der Mobilität als Ressource überprüft werden. Es wird auch die These von Adrian Favell berücksichtigt, dass mit der Öffnung einer Gesellschaft bei gleichzeitiger Zunahme der Intensität der Migration, das Ansehen der Migration und der Mobilität in der Gesellschaft abnimmt: „The value of mobility capital decreases as it becomes more of a mass phenomenon“ (Favell 2008, S. 96).
2.7 Mehrdimensionale Migrationspfade Ich führe im Rahmen dieser Arbeit den Begriff „mehrdimensionale Migrationspfade“ ein. Mit diesem Begriff soll die Heterogenität der Lebensentwürfe, der Migrationsverläufe, der Wege und Umwege bei der Planung und Verwirklichung der Migrationsprojekte der sozialen Akteur*innen bezeichnet werden. Durch diesen Begriff soll gezeigt werden, dass die Migrant*innenbiografien keine von vorneherein festgelegten Projekte darstellen, sondern die sozialen Akteur*innen aktiv die Grenzen der sozialen Strukturen austesten und versuchen, sie in ihrem Sinne zu verändern. Durch diesen Begriff soll die Handlungsfähigkeit der Migrant*innen betont werden: Die sozialen Akteur*innen sind keine ‚Gefangenen‘ der Strukturen, sie entwerfen und verwirklichen ihre Biografien im Rahmen des Möglichen und manchmal auch darüber hinaus.
2.8 Die drei Perioden der Analyse: Sozialismus, P ostSozialismus, EU-Mitgliedschaft Die Analyse wird sich über drei historische Perioden erstrecken: a. die sozialistische Zeit Bulgariens (1945–1989) b. die post-sozialistische Zeit (1990–2006) c. die Zeit nach dem EU-Beitritt Bulgariens (seit 2007) Auf die sozial-strukturellen Besonderheiten der drei Perioden wird detailliert in der Arbeit eingegangen. Die drei Perioden sind Gegenstand zahlreicher Studien sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in den bulgarischen Sozialwissenschaften. Die sozialistische Periode wird vor allem in den Studien des Instituts für Erforschung der nahen Vergangenheit (Институт за изследване на близкото
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минало) analysiert, das vom ehemaligen Kulturminister Bulgariens Prof. Dr. Ivaylo Znepolski gegründet wurde. Im Rahmen dieser Studien werden verschiedene Aspekte der sozialistischen Zeit untersucht. Analysiert werden der Konsum im Sozialismus (Dimitrov 2018) und das sozialistische Alltagsleben (Elenkov 2018). Die Erinnerungen und Erzählungen aus der Zeit des Sozialismus werden einer Analyse unterzogen (Kyossev und Koleva 2017). Das Thema über die Tätigkeit des bulgarischen Geheimdienstes in der Zeit des Sozialismus ist zentral in der Studie von Momchil Metodiev und Maria Dermendzieva (Metodiev und Dermendzieva 2015). Im Center for Advanced Studies (CAS) werden der sozialistischen Zeit Bulgariens zahlreiche Studien im Rahmen individueller Post-Doc-Projekte gewidmet. Daniela Koleva analysiert den Körper und die Körperlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft (Koleva 2016), die Liebe im Sozialismus (Koleva 2015) und den Tod im Sozialismus (Koleva 2013). Der Historiker Roumen Avramov befasst sich mit der Wirtschaft des sogenannten „Wiedergeburtsprozesses“ (Avramov 2016). Von besonderer wissenschaftlicher Bedeutung ist der Sammelband von Mihail Gruev und Diana Mishkova über die Debatten und Interpretationen in der sozialistischen Zeit Bulgariens (Gruev und Mishkova 2013). Dem Thema Kindheit im Sozialismus wurde der Sammelband von Daniela Koleva und Ivan Elenkov gewidmet (Koleva und Elenkov 2010). Die sozialistische Stadt analysiert Elitsa Stanoeva (Stanoeva 2016). In der Studie von Ivan Elenkov wurden die Kultur und das Alltagsleben im Sozialismus analysiert (Elenkov 2013). Die Alltagskultur im Sozialismus ist das Hauptthema einer Studie des Ethnographischen Instituts zur Bulgarischen Akademie der Wissenschaften: „Sozialismus: Realität und Illusionen: Ethnologische Aspekte der Alltagskultur“ (Ethnographisches Institut 2003). Die Zeit des Postsozialismus (1990–2006) ist Gegenstand verschiedener vor allem soziologischer und politologischer Studien. In der bulgarischen Fachliteratur wird sie als „Übergangszeit“ („преход“) bezeichnet, was man sinngemäß auch als „Transition vom Sozialismus zum Kapitalismus“ übersetzen könnte. Die Zeit wurde in der Fachliteratur mit den Begriffen „nachholende Modernisierung“, „Konvertierung der Kapitale“, „Netzwerke“, „Übertragung der Machtressourcen“ (Tchalakov et al. 2008; Raychev 1992) beschrieben. Themen, wie die Änderung der Werte (Fotev 2009) der bulgarischen Gesellschaft und die politische Orientierung (Deyanov 1992, 1997; Dimitrov 1995; IKSI 1995) sind zentral für die in dieser Zeit durchgeführten Studien. Ein wichtiges Thema ist die demografische Entwicklung Bulgariens (Zentrum für Bevölkerungsstudien 2005). In dieser Studie wird ein Kapitel dem Thema „Migration nach 1989“ gewidmet. Die sozialen Folgen der geänderten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen
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wurden thematisiert. Zentral ist die Frage „was ist geschehen?“ (Raychev und Stoychev 2008) Die ethnischen Dimensionen der sog. „Übergangsperiode“ wurden analysiert (Georgiev et al. 1992; Georgieva 1994; Grekova 1995, 2001; Grekova et al. 1997; Fotev 1994). In der Zeit nach 2007 wird vor allem die Notwendigkeit der Reformen im Kontext des EU-Beitritts Bulgariens thematisiert. In einzelnen Studien wurden die Veränderung der Werte in der bulgarischen Gesellschaft, die Korruption aber auch die soziale Ungleichheit analysiert (Center for Study of Democracy 2018; Marinova 2019). Analysiert wird die Verbreitung antidemokratischer Propaganda in der bulgarischen Öffentlichkeit (Znepolski 2018; Junes 2018; Hranova 2018; Kanoushev 2018; Dimitrova 2018). Die Thematik des Sozialismus wird in der deutschsprachigen Literatur im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit analysiert (Hürtgen 2014). Die Besonderheiten des bulgarischen Falles werden in der deutschsprachigen Fachliteratur kaum berücksichtigt. Dagegen zeichnet sich die Habilitationsschrift von Ulf Brunnbauer „Die sozialistische Lebensweise“ durch eine Betrachtung der Charakteristika der bulgarischen sozialistischen Gesellschaft aus. In verschiedenen Studien stehen die ethnischen Spannungen in Bulgarien und in Südosteuropa im Mittelpunkt (Höpken 1986). Die post-sozialistische Zeit ist ein Thema vieler Studien in Deutschland; diese haben allerdings ebenfalls wenig Bezug zu Bulgarien. Thematisiert werden die ethnischen und religiösen Spannungen auf dem Balkan in den 1990en Jahren des 20. Jahrhunderts (Brahm 1999; Eminov 1997; Härtel 1994; Riedel 1993). In den meisten Studien über Bulgarien, die in Deutschland und Bulgarien nach 1990 erschienen, ist das Thema „Migration“ marginal. Diese wird in einzelnen Master-Abschlussarbeiten (z. B. Thimm 2018), Doktorarbeiten (Fingarova 2019) oder Aufsätzen (Bobeva und Telbizova-Sack 2000) thematisiert. Zentral hingegen sind die Analysen der Migration aus Osteuropa (Dietz 2008; Ziane 2009; Nowicka 2014, 2015). Eine der Aufgaben der vorliegenden Arbeit ist es, diese Lücke zu schließen.
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Methoden
Zusammenfassung
Im Kap. 3 werden die Methoden und ihre Besonderheiten vorgestellt, die im empirischen Teil der Studie angewendet werden. Es wird auf ihre Möglichkeiten sowie auf ihre Einschränkungen eingegangen. Schlüsselwörter
Methoden · Archivarbeit · Interviews
Die vorliegende Analyse der Migrations- und Mobilitätsprozesse von Bulgarien nach Deutschland und zurück beruht auf der Anwendung unterschiedlicher qualitativer Methoden, auf der Analyse statistischer Daten und bereits durchgeführter Studien. Das Vorgehen ist in diesem Sinne multimethodisch, wobei die qualitativen Forschungsmethoden bei der Analyse bevorzugt werden. Grund dafür ist, dass die ‚Grundgesamtheit‘ der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland rückwirkend nicht hergestellt werden kann – eine quantitative Studie mit repräsentativem Charakter ist in Bezug auf vergangene Epochen nicht durchführbar. Die Anwendung quantitativer Methoden würde den Verzicht auf die historische Perspektive bedeuten. Selbst in der Gegenwart ist die bulgarische Migrant*innencommunity in Deutschland nicht einfach als eine im statistischen Sinne „Grundgesamtheit“ zu denken: Es fehlt an zuverlässigen Adressendaten. Gegen die Anwendung der öffentlichen Telefonbücher bei der Ermittlung der Grundgesamtheit der Bulgarischstämmigen spricht die Tatsache, dass die
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_3
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3 Methoden
Anmeldung in den Telefonbüchern freiwillig erfolgt und in der Zeit der mobilen Kommunikation nicht weit verbreitet ist. Aus diesen Gründen baut die Arbeit vor allem auf qualitativen Forschungsmethoden auf. Die qualitativen Methoden stellen im Wesentlichen eine Reihe von Forschungsansätzen dar, deren Ziel ist, „Lebenswelten ‚von innen heraus‘ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben“ (Flick 2008, S. 14). Dadurch können sie „zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beitragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen“ (Flick 2008, S. 14). Die qualitative Forschung beruht auf einem ständigen Dialog mit dem zu Erforschenden. Von Bedeutung ist die subjektive Sichtweise der befragten Personen. Besonders gut geeignet ist die qualitative Forschung für das Bearbeiten von wenig bekannten Themen und Forschungsfelder, sowie für das Erforschen von Phänomenen, die sich statistisch und demografisch nur schwierig erfassen lassen (Reinders 2005, S. 19 f.). Die drei zentralen Prinzipien qualitativer Forschung sind nach Heinz Reinders die „Offenheit“, die „Prozesshaftigkeit“ und die „Kommunikation“ (Reinders 2005, S. 34–42). Die Offenheit bedeutet, den Forschungsprozess offen für den Gegenstand zu halten, sodass eine Vielzahl von Antworten sowie die Ergänzung neuer Fragestellungen im gesamten Prozess des Forschens möglich sind. „Der Forschungsprozess muss so offen dem Gegenstand gegenüber gehalten werden, dass Neufassungen, Ergänzungen und Revisionen, sowohl der theoretischen Strukturierungen und Hypothesen als auch der Methoden möglich sind, wenn der Gegenstand dies erfordert“ (Mayring 2002, S. 28). Unter Prozesshaftigkeit wird verstanden, dass qualitative Forschung kein statisches Bild einer Wirklichkeit zeichnet, sondern „die Verhaltensweisen und Aussagen der Untersuchten als prozesshafte Ausschnitte der Reproduktion und Konstruktion sozialer Realität“ (Lamnek und Krell 2010, S. 22) betrachtet. Unter „Kommunikation“ versteht Reinders, dass das Gewinnen von Informationen von den befragten Personen durch eine natürliche, alltagsnahe Kommunikationssituation zu erfolgen hat (vgl. Reinders 2005, S. 34–42). Die Analyse beruht methodisch auf drei Säulen: Auf der Analyse von Archivdokumenten, auf der Durchführung von tiefen, leitfadengestützten, biografischen Interviews und der Auswertung von relevanten Studien (Sekundärliteratur). Die empirische Feldphase der Arbeit wurde in der Zeit von Januar 2015–Dezember 2016 durchgeführt: Im Jahr 2015 wurden die Archivarbeit und die Auswertung der öffentlichen Diskurse abgeschlossen; in diesem Jahr fanden auch die Pre-Tests der Interviews statt. Im Jahr 2016 wurden die Interviews in Bulgarien und in Deutschland durchgeführt. Die Auswertung der empirischen Daten wurde
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im Jahr 2017 vorgenommen. Die Studie beruht auf einer explorativen und hypothesengenerierenden Vorgehensweise: Zu Beginn der Studie werden Hypothesen formuliert, die im Laufe der Arbeit weiterentwickelt und ergänzt wurden.
3.1 Auswertung der Archivmaterialien Im Rahmen einer Archivarbeit wurden Dokumente mit Bezug zum Thema „Migration“ aus den Archiven der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) und der Republik Bulgarien ausgesucht, ausgewertet und im Rahmen der Arbeit interpretiert. Die ausgesuchten Dokumente (Gesetze, Debatten, Beschlüsse, Richtlinien, Erlasse etc.) umfassen die Periode 1945–1989. Die Suche nach relevanten Unterlagen erfolgte nach vorherig festgelegten Kriterien: Bezug zu den Themen Migration, Mobilität, Rückkehr, Staatsangehörigkeit. Eine Vielzahl der Dokumente war in digitaler Form zugänglich, was die Suche nach vorbestimmten Kriterien erleichterte. Als Archivquelle für die Periode 1990–2016 wurden auch die Parlamentsdebatten, die in der bulgarischen Volksversammlung zum Thema Migration durchgeführt wurden, herangezogen. Die Protokolle der Parlamentsdebatten wurden nach vorher bestimmten Schlüsselbegriffen durchsucht, z. B. Migration, Emigration, Immigration, Migrant*in, Mobilität, Rückkehr, Staatsangehörigkeit etc. Aufgrund der Spezifik der Regierungsform vor 1989 konnten keine in der Zeit von 1945–1989 durchgeführten Parlamentsdebatten analysiert werden – das Parlament war zur damaligen Zeit kein unabhängiges Staatsorgan, vielmehr legitimierte es die Diktatur der BKP und stimmte ohne Verzögerung, oft ohne Debatten, den Beschlüssen der verschiedenen Parteigremien zu. Die Parlamentsdebatten in der Zeit von 1990–2016 wurden nach relevanten, migrationsbezogenen Themen durchsucht; die Befunde wurden extrahiert und ausgewertet. In der Analyse wurden Programme der einzelnen im Parlament vertretenen politischen Parteien, Positionen der Gewerkschaften, der führenden religiösen Gemeinschaften in Bulgarien, der Arbeitgeber*innenorganisationen, die in Bulgarien nach dem Jahr 1990 veröffentlicht wurden, ausgewertet und in der Analyse herangezogen. Relevante staatliche Unterlagen, wie die beiden Nationalen Strategiepapiere zum Thema Migration (Regierung 2007 und Regierung 2014), wurden ebenso in der Analyse berücksichtigt. Die Auswahl der Dokumente erfolgte aufgrund ihres Bezugs zum Thema Migration: Sobald in einem Dokument Themen wie Migration, Rückkehr, Immigration, Emigration, Flucht, Asyl, Vertreibung besprochen wurden, wurde das Dokument gesichtet und nach seiner Relevanz geprüft.
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Bei der Interpretation der Ergebnisse wurden auch statistische und demografische Daten aus dem Nationalen Institut für Statistik der Republik Bulgarien und aus dem Statistischen Bundesamt der Bundesrepublik Deutschland ausgewertet und interpretiert; Ergebnisse soziologischer Meinungsumfragen und bereits durchgeführter Studien wurden sekundär ausgewertet und zitiert.
3.2 Durchführung von leitfadengestützten, biografischen Tiefeninterviews Den Mittelpunkt der empirischen Arbeit bilden aus methodischer Sicht die biografischen, leitfadengestützten Tiefeninterviews. In der qualitativen Sozialforschung existieren verschiedene qualitativ orientierte Interviewtechniken. Uwe Flick analysiert ausführlich die folgenden Interviewtypen: das narrative Interview, das episodische Interview, das problemzentrierte Interview, das fokussierte Interview, das Tiefen- oder Intensivinterview, das rezeptive Interview und das Experteninterview (vgl. Flick 2008). Eine Besonderheit all dieser qualitativen Interviewmethoden ist die Anlehnung an Alltagssituationen. Bei der Durchführung der Interviews ist auf die Lebensnähe des Gesprächs zu achten. Fachbegriffe und theoretische Konzepte sind sowohl bei der Formulierung der Fragestellung im Interviewleitfaden, als auch bei der Formulierung der Fragen bei der Gesprächsführung zu vermeiden. In der Frage verwendetes Vokabular soll an die jeweiligen Sprachstile der Befragten angepasst werden. Es muss auf die Einfachheit und Verständlichkeit der Frageformulierung geachtet werden. Ähnliche Bedingungen gelten bei der Auswahl des Interviewortes. Dieser soll dem/der Interviewten bekannt sein, so dass sich die Person während des Interviews wohlfühlt und nicht aus seiner/ihrer natürlichen Umwelt „gerissen“ wird. Der Ausschluss von Dritten während der Interviewdurchführung und generell bei den qualitativen Methoden ist im Gegensatz zu den quantitativen Methoden nicht von zentraler Bedeutung. Während des Interviews soll sich der/die Interviewer*in möglichst passiv verhalten. Kommentare sind zu vermeiden. Der/die Interviewer*in hat sollte aufmerksam zuzuhören und gegebenenfalls nachzufragen. Unklarheiten sind durch Fragen (z. B. „Habe ich das richtig verstanden“? „Heißt das, dass …“?) zu klären. Die Interviewatmosphäre soll idealerweise „locker, informativ und aufklärend“ (Lamnek 1995, S. 20) sein. Der/die Interviewer*in soll die sogenannte „Asymmetrie der Erhebungssituation“ (Lamnek 1995, S. 20) überwinden. Für die durchgeführten Interviews wurde eine offene, schwach strukturierte, narrative Interviewtechnik verwendet (vgl. Mayring 2002, S. 66–67). Das
3.2 Durchführung von leitfadengestützten, biografischen …
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Ziel war es, den interviewten Personen die Möglichkeit zu geben, ihre Lebensgeschichte zu erzählen und zu interpretieren, sowie Themen anzusprechen, die von besonderer Relevanz für sie waren. Die Durchführung der Interviews verlief in verschiedenen Phasen: In der Erklärungsphase wurden die interviewten Personen über die Besonderheiten der Studie und der Methode informiert; die Interviewerin stellte sich vor, versicherte die Anonymität der Vorgehensweise bzw. fragte ab, ob die Person namentlich zitiert werden möchte. Es wurde um Genehmigung gebeten, das Interview aufzuzeichnen, zu transkribieren und auszuwerten. Wichtig für diese Phase ist es, Vertrauen aufzubauen. In der Einleitungsphase wurde der interviewten Person erklärt unter welchen Aspekten die erlebten Ereignisse erzählt werden sollen, sodass das Gespräch nicht ‚ausufert‘. Es wurde besonders auf die Formulierung der Eingangsfrage geachtet – sie soll ‚erzählgenerierend‘ sein. In der Erzählphase wurde der interviewten Person die Möglichkeit gegeben, von seinen/ihren Erlebnissen, Meinungen und Überzeugungen zu erzählen. Dabei hörte die Interviewerin zu. In dieser Phase hat die Interviewerin davon abgesehen, Nachfragen und Kommentare zu stellen. In der Nachfragephase hingegen wurden Unklarheiten geklärt. Die Interviewerin fragte hierfür aktiv nach: „Haben Sie gesagt, dass…?“; „Sind Sie dieser Meinung…?“, „Habe ich richtig verstanden, dass…?“. In der Bilanzierungsphase wurden abschließend direkte Fragen nach der Motivation, der Intention und nach dem Sinn der Handlungen gestellt. Die von der interviewten Person erzählte Geschichte wurde „bilanziert“. Jedes Interview endete mit der Erhebung sozialer und demografischer Merkmale wie Alter, Geschlecht, ggf. Religion, Bildung, Beschäftigung, Einkommen, Wohnort etc. Der Leitfaden wurde vor der Durchführung der Interviews konzipiert. Bei der Konzeption wurde die genaue Fragestellung der Studie beachtet. Formulierungsvorschläge für die Fragen wurden ausgearbeitet. Der Leitfaden sollte der Interviewerin eine Struktur und eine Orientierung geben, jedoch konnten Fragen während des Interviews neu formuliert oder umformuliert werden – in den qualitativen Interviews kann der Leitfaden während der Durchführung verändert werden (vgl. Mayring 2002, S. 68–71 sowie Lamnek und Krell 2010, S. 333–336). Zum einen kann die Reihenfolge der Fragen und zum anderen die strikte Formulierung der Fragen geändert werden. Der Interviewleitfaden wird als „flexibles Instrument“ (Reinders 2005, S. 151) verstanden. Nach der vorläufigen Konstruktion des Interviewleitfadens wurde dieser in Interviews mit Bulgar*innen, die in Deutschland leben, erprobt. Dabei wurde besonders auf die Formulierung und Verständlichkeit der Fragen geachtet. Im Anschluss der Testphase wurde der Leitfaden überarbeitet: Fragen wurden umformuliert, die Reihenfolge einiger Fragen geändert, Aspekte intensiver
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abgefragt und andere aufgrund der Mehrdeutigkeit ausgeblendet. Im Rahmen der Studie wurden insgesamt fünf Testinterviews durchgeführt. Ihre Dauer betrug jeweils zwei Stunden. Diese Interviews wurden transkribiert, allerdings nicht ausgewertet. Im Unterschied zur Vorgehensweise bei einer Studie, die auf quantitativen Methoden beruht, geht es bei Studien, die qualitative Methoden nutzen, darum, die gesellschaftliche Heterogenität bei der Wahl der Interviewpersonen zu berücksichtigen, sodass sie abgebildet werden kann (vgl. Reinders 2005, S. 134–136). Bei einer qualitativen Studie ist die Anzahl der interviewten Personen nicht von primärer Bedeutung; vielmehr stellt sich die Frage, welche Personen als Teilnehmer*innen der Studie gewonnen werden können. Je spezifischer die erforschten Fälle sind, desto aussagekräftiger kann die Studie sein. Die Auswahl der interviewten Personen kann auf verschiedenen Vorgehensweisen fußen. Welche Variante sich für die jeweilige Studie anbietet, hängt sowohl von der Fragestellung als auch vom Zugang zum Forschungsfeld ab. Grundlegend kann man zwischen der deduktiven, induktiven und der selbstaktivierenden Vorgehensweise bei der Auswahl der Interviewpersonen unterscheiden. Bei der deduktiven Vorgehensweise werden vorab Kriterien festgelegt, anhand derer die Befragten ausgewählt werden. Die Interviews selbst haben keine Rückwirkung auf den Stichprobenplan. Der Vorteil liegt in einer gezielten Auswahl der Personen für die Studie. Nachteil ist aber, dass die Auswahl der Personen lediglich von den gewählten Kriterien abhängig ist. Im Gegensatz dazu steht die induktive Vorgehensweise. Bei ihr ist zu Beginn der Interviewreihe noch offen, nach welchen Kriterien die Interviewteilnehmer*innen ausgesucht werden sollen. Mit der Befragung wird mehr oder weniger beliebig begonnen und die dadurch neu gewonnenen Informationen werden zur Auswahl der Befragten herangezogen. Die Stichprobe entsteht im Forschungsprozess selbst. Vorteilhaft bei dieser Vorgehensweise ist die große Offenheit. Der Nachteil liegt darin, dass die gewonnene Information aus den durchgeführten Interviews zu einer selektiven Auswahl weiterer Personen führen und diese Selektivität möglicherweise den gesamten Forschungsprozess beeinflussen kann (vgl. Reinders 2005, S. 136–139). Bei der Stichprobenziehung durch Selbstaktivierung wird mithilfe von Aushängen oder Anzeigen in Foren, Medien oder im Internet auf die Studie aufmerksam gemacht und um Teilnahme gebeten. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass die Befragten sich freiwillig zur Befragung melden und dadurch eine höhere Motivation bei der Durchführung der Interviews haben. Nachteilig ist, dass die Selbstaktivierung auch Selektivität mit sich bringt, da sich nur bestimmte Personen für Interviews bereit erklären (vgl. Reinders 2005, S. 139–142).
3.2 Durchführung von leitfadengestützten, biografischen …
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Bei der Wahl der Stichprobe der vorgelegten Studie wurde ein induktives Vorgehen gewählt: Es wurden feste Auswahlkriterien festgelegt und die Interviewpartner*innen nach diesen ausgewählt. Allerdings wurden auch Personen in die Studie einbezogen, die von den Interviewten empfohlen wurden. Bei der Auswahl der Interviewpersonen wurden informelle Kontakte innerhalb der bulgarischen Migrant*innenetzwerke und -selbstorganisationen genutzt. Voraussetzung für die Teilnahme der empfohlenen Personen an der Studie war jedoch, dass diese Personen den vorher festgelegten Suchkriterien entsprechen. Auch die Methode der Selbstaktivierung wurde genutzt: Auf die Studie wurde in Internetforen und sozialen Medien hingewiesen; es wurden Anzeigen in den neuen Medien (z. B. in Facebook-Gruppen der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland) generiert. Kriterien für die Teilnahme an der Studie waren: Die interviewten Personen sind Menschen bulgarischer Herkunft, die selbst von Bulgarien nach Deutschland oder zurück migriert sind oder zwischen Bulgarien und Deutschland ‚pendeln‘. Bei der Auswahl wurden Personen mit bulgarischem Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden, nicht berücksichtigt, da die Studie explizit die eigene Migrationserfahrung oder Mobilität fokussiert. Die Untersuchungspersonen wurden in Bulgarien sozialisiert und haben dort mindestens bis zum 16. Lebensjahr gelebt. Die interviewten Personen haben Familienangehörige, die weiterhin in Bulgarien leben – ein Kriterium, das wichtig für die Bewertung der transnationalen Handlungen war. Zum Zeitpunkt der Auswahl haben sich die interviewten Personen bereits mindestens ein Jahr in Deutschland bzw. bei der Rückkehr mindestens ein Jahr in Bulgarien aufgehalten. Die Auswahl der Interviewpersonen erfolgte unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit: Es ist nicht relevant, welche Staatsangehörigkeit die interviewte Person zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie besitzt – die bulgarische, deutsche oder eine doppelte Staatsangehörigkeit. In die Studie wurden explizit Personen aufgenommen, die im Rahmen ihres Berufs zwischen Bulgarien und Deutschland „pendeln“ bzw. mobil sind. Zunächst war geplant, die Studie auf besser qualifizierte Migrant*innen zu beziehen. Im Fokus standen die sogenannten „hoch qualifizierten“ Personen bulgarischer Herkunft. Grund dafür war, dass die Migration gesellschaftlich und politisch viel mehr als ‚Problem‘ und als ‚Risiko‘ und viel weniger als ‚Chance‘ wahrgenommen wird und dass in der Öffentlichkeit eine ‚Blindheit‘ für die erfolgreichen Migrationsbiografien festzustellen ist: Vielmehr fokussiert die öffentliche Aufmerksamkeit die Defizite, die Gefahren und die Misserfolge der Wanderungsbewegungen und der Folgeprozesse. Diese Aufgabe, die Migrationserfolge sichtbar zu machen, kann allerdings nicht durch eine Selektivität der Interviewpersonen im Rahmen einer Studie bewältigt werden. Vielmehr handelt
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es sich dabei um eine gesellschaftliche und politische Herausforderung, die allerdings weniger mit dem Forschungsdesign einer Studie zu tun hat. Ursprünglich sollte sich die Auswahl der Interviewpersonen ausschließlich auf Menschen mit einem Hochschulabschluss beziehen. Nach der Durchführung der Pre-Test-Phase und der ersten Auswertung der Test-Interviews haben sich aus dieser Auswahl einige Problemlagen ergeben: Der Begriff „hochqualifiziert“ ist, auch wenn er im alltäglichen und im medialen Gebrauch ‚selbstverständlich‘ und ‚selbsterklärend‘ erscheint, nicht unproblematisch. Im deutschen Ausländerrecht werden im Allgemeinen als „hochqualifiziert“ die Personen definiert, die als „Wissenschaftler mit besonderen fachlichen Kenntnissen“ oder „Lehrpersonen in herausgehobener Funktion oder wissenschaftliche Mitarbeiter in herausgehobener Funktion“ tätig sind (Bundestag 2004, § 19). Seit dem 01.01.2009 ist das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz (Bundestag 2008) in Kraft getreten. Nach diesem Gesetz wird die Beschäftigung der Qualifizierten nach der Art der Tätigkeit und nach der beruflichen Position ausdifferenziert. Personen, die als Führungskräfte im Bereich der Wissenschaft, Forschung und Entwicklung tätig sind, Journalist*innen, IT-Fachkräfte, leitende Angestellte, Fachkräfte, die im Rahmen des internationalen Personenaustausches arbeiten, gelten als „qualifiziert“ und können nach § 18 des AufenthG (Bundestag 2004) eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Der Begriff „hochqualifiziert“ wird allerdings nach § 19 AufenthG (Bundestag 2004) definiert. Zu dieser Gruppe gehören Wissenschaftler*innen mit besonderen fachlichen Kenntnissen, Lehrpersonen mit herausragenden Funktionen z. B. Lehrstuhlinhaber*innen, Institutsdirektor*innen oder leitende Angestellte. Als hochqualifiziert gelten Personen, die ein Mindestgehalt von ca. 85.500 EUR brutto im Jahr verdienen (ab November 2011 48.000 EUR). Hochqualifizierte Arbeitskräfte können direkt eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhalten. Nach § 20 des AufenthG können seit dem 01.12.2007 Forscher*innen eine befristete Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Voraussetzung ist, dass der/die Forscher*in eine Aufnahmevereinbarung mit einer vom BAMF anerkannten Forschungseinrichtung hat. Nach § 21 des AufenthG (Bundestag 2004) können Selbständige eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit erhalten. Das ist möglich, wenn nachgewiesen wird, dass die Tätigkeit „im besonderen regionalen Bedürfnis“ (§ 21 des AufenthG) (Bundestag 2004) ist und sich positive wirtschaftliche Entwicklungen prognostizieren lassen. Das ist gegeben, wenn die Person mindestens 500.000 EUR investiert und mindestens fünf Arbeitsplätze schafft. In der bulgarischen Gesetzgebung wurde die Definition des Begriffs „hochqualifiziert“ erst im Jahr 2016 verbindlich festgelegt. Das geschah im Gesetz
3.2 Durchführung von leitfadengestützten, biografischen …
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über die Arbeitsmigration und Arbeitsmobilität, das seit dem 21.05.2016 in Kraft ist (vgl. Parlament 2016). Zum Zeitpunkt der Planung der empirischen Feldstudie existierte in der bulgarischen Gesetzgebung keine verbindliche Definition des Begriffs, was die Auswahl von möglichen „hochqualifizierten“ Interviewpartner*innen aus Bulgarien methodisch erschwerte. Nach der seit dem Jahr 2016 gültigen Definition bedeutet eine „hochqualifizierte Beschäftigung“ eine Beschäftigung von Personen, die „die nötige Qualifikation für die konkrete Erwerbstätigkeit besitzen – einen erworbenen Abschluss eines Studiums, das mindestens drei Jahre andauerte und der mit einem Diplom, Zeugnis oder einem anderen Dokument, welches von einer anerkannten Hochschulinstitution ausgestellt wurde, nachgewiesen wird“ (§ 1(1) der Abschlussbestimmungen des Gesetzes). Sowohl die bulgarische als auch die deutsche Definition misst die Qualifikation einer Person am Bildungsabschluss. Es sind aber Branchen, vor allem im Bereich der IT, in denen keine abgeschlossene Bildung für eine Arbeitsaufnahme, sondern die Fähigkeit, Probleme zu lösen, vorausgesetzt wird. Ein weiteres Problem ist mit den Implikationen des Begriffs „hochqualifiziert“ verbunden. Durch die Verwendung dieses Begriffs werden die Migrant*innen aus Sicht der Wirtschaft und Politik in „nützlich“ und „nutzlos“ klassifiziert. Diese Implikation, auch wenn sie wirtschaftlich gezielt und gewinnbringend sein mag, kann nicht als Grundlage für die Auswahl der Interviewpartner*innen in einer wissenschaftlichen Studie dienen. Die ‚hochqualifizierten Migrant*innen‘ sind eine Kategorie, die im Wesentlichen nicht wissenschaftlich, sondern vor allem politisch und wirtschaftlich konstruiert wird. Diese politische und wirtschaftliche Prägung der Definition ist auch darin ersichtlich, dass in den einzelnen Gesellschaften unterschiedliche Definitionen des Begriffs der „Hochqualifizierten“ existieren, die je nach der wirtschaftlichen Konjunktur angepasst werden können. Das erschwert die Auswahl der Gesprächspartner*innen und die Interpretation der gewonnenen Daten. Aus diesen Gründen wurde der Fokus der Studie ausgeweitet. Bulgar*innen wurden unabhängig vom Bildungsabschluss, von Einkommen, vom Alter, von Geschlecht und von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit als Teilnehmer*innen der Studie berücksichtigt. Es wurde auch Abstand davon genommen, mit Begriffen wie „Akademiker*innen“ und „internationale Fachkräfte“ zu arbeiten. Der Begriff „Akademiker*innen“ bezieht sich lediglich auf Personen, die einen akademischen Abschluss haben, sagt aber nichts darüber aus, ob die Person in diesem akademischen Beruf auch tätig ist. Gerade bei Migrant*innen aus Osteuropa ist der Berufswechsel sehr verbreitet. Auch wenn die Bildungsbiografie der interviewten
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3 Methoden
Personen aufgenommen wurde, wird die Anwendung der Bezeichnung „Akademiker*innen“ bewusst vermieden. Der Begriff „internationale Fachkräfte“ ist unpräzise definiert und umfasst Personen mit jeglicher, auch nicht-akademischer Ausbildung. Neben den akademischen Berufen zählen auch Abschlüsse der Kranken- und Altenpfleger*innen, Techniker*innen, Installateur*innen, Monteur*innen etc. dazu. So kann praktisch jeder/e Migrant*in, der/die einen Abschluss hat, als eine „internationale Fachkraft“ bezeichnet werden. Die Öffnung der Auswahlkriterien der interviewten Personen hat sich bewährt: So konnte in der Studie die biografische Erzählung eines Migranten, der im sozialistischen Bulgarien nicht studieren durfte, aber nach der irregulären Einwanderung in die BRD1 eine Ausbildung abgeschlossen hatte und eine erfolgreiche Karriere durchlief, berücksichtigt werden. So konnte auch die Biografie der zwei Studienabbrecher aufgenommen werden, die aus Geldmangel nicht in der Lage waren, in Deutschland ihr Studium zu beenden, nach Bulgarien zurückkehrten und dort eine erfolgreiche Existenz aufgebaut haben. Ebenso konnte die biografische Erfahrung einer IT-Fachkraft mitberücksichtigt werden, die ohne ihr Studium abzuschließen, einen Arbeitsplatz als Softwareentwickler in der Vertretung eines führenden deutschen Unternehmens in Bulgarien erhalten hat. Auch die Biografie des bulgarischen Ingenieurs, der auf einer Baustelle arbeitet, da er trotz seiner Qualifikation keine geeignete Position findet, konnte in die Analyse einfließen. Es handelt sich also um Biografien, die sowohl Erfolg als auch Misserfolg kombinieren und nicht zu den vorher in der Politik und Wirtschaft ausgearbeiteten Kategorien passen. Im Rahmen der Studie wurden 72 Interviews durchgeführt. Sie fanden im Jahr 2016 statt. Die Interviews dauerten im Durchschnitt 1,5 h. Das längste Interview dauerte ca. fünf Stunden. Alle Interviews wurden auf Wunsch der interviewten Personen in bulgarischer Sprache geführt. Diese wurden auf einem mp3-Player aufgezeichnet. Die Räumlichkeiten, in denen die Interviews durchgeführt wurden, waren ruhig und überwiegend frei von Störquellen. Die Personen waren zu einem großen Teil aufgeschlossen und motiviert, an der Studie teilzunehmen. Bei der Terminvereinbarung gab es aber auch Schwierigkeiten organisatorischer Art, z. B. Terminverschiebungen oder Absagen.
1Die Anwendung
der Bezeichnung BRD (Bundesrepublik Deutschland) in der vorliegenden Arbeit entspricht der üblichen, zur damaligen Zeit verwendeten. Damit ist keine ideologische Aufladung verbunden.
Literatur
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Nachdem die Interviews durchgeführt wurden, wurden die aufgenommenen Gespräche für die weitere Bearbeitung verschriftet. Die Transkription ist die Grundlage für die Auswertung der im Interview gewonnenen Informationen. In den einzelnen Transkriptionen wurden Angaben über die interviewte Person, über die Aufnahmenummer, über den Aufnahmetag, über die Uhrzeit und den Interviewort aufgenommen. Ebenso wurde der Transkription eine kurze Charakterisierung der Gesprächsatmosphäre und eine Zusammenfassung des Gesprächsinhalts beigefügt. Besonderheiten des gesprochenen Wortes werden dabei nicht abgebildet, da die Auswertung keine linguistische Analyse zum Ziel hat (vgl. Reinders 2005, S. 247–260; Flick 2016, S. 194 ff.). Da bei der vorliegenden Untersuchung die inhaltlich-thematische Ebene im Vordergrund steht, wurde ein Transkriptionssystem mit folgenden Merkmalen verwendet: • Transkriptionskopf mit Interview-Nummer, Datum, Dauer und Ort des Interviews • Weitere Informationen über den Befragten und die Rahmenbedingungen • Verschriftlichung in Standardorthografie • Keine Verschriftlichung von paraverbalen und außersprachlichen Merkmalen • Pausen wurden verschriftlicht Die Auswertung der Interviews erfolgte computergestützt. Verwendet wurde das Programm MaxQDA. Dies ermöglichte die thematische Auswertung nach vorher gebildeten Themen sowie die Generierung neuer Themenbereiche während der Auswertungsphase. Die Auswertung der Interviews erfolgte unter Berücksichtigung des historischen Kontexts. Alle im Text verwendeten Auszüge der Interviews wurden von mir, der Verfasserin, übersetzt. Dabei wurden offensichtliche grammatikalische Fehler im Bulgarischen nicht ins Deutsche transferiert.
Literatur Bundestag (2004). AufenthG. Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) vom 30.7.2004. Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162). Bundestag (2008). Gesetz zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqualifizierter und zur Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen (Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz) vom 20.12.2008. Bekanntmachung vom 24. Dezember 2008 (BHBI I). Parlament (2016). Zakon za trudovata migracija i trudivata mobilnost [Gesetz über die Arbeitsmigration und Arbeitsmobilität]. Darzaven vestnik [Staatsblatt] 33 vom 26.04.2016.
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3 Methoden
Flick, U. (2008). Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick. In U. Flick, E. v. Kardorff, & I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Orig.-Ausg., 6., durchges. und aktualisierte Aufl. (S. 13–29). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. Flick, U. (2016). Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. (7. Auflage). Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. Lamnek, S. (1995). Methoden und Techniken. 3., korrigierte Aufl. Weinheim: Beltz. Lamnek, S., & Krell, C. (2010). Qualitative Sozialforschung. Mit Online-Materialien. 5., überarbeitete Auflage. Weinheim, Basel: Beltz. Mayring, P. (2002). Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. 5., überarbeitete und neu ausgestattete Auflage. Weinheim, Basel: Beltz. Reinders, H. (2005). Qualitative Interviews mit Jugendlichen führen. Ein Leitfaden. München, Wien: R. Oldenbourg Verlag.
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Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus (1945–1989)
Zusammenfassung
Im Kap. 4 werden Migration und Mobilität in der Zeit des Sozialismus (1945–1989) analysiert. Es wird auf die Besonderheiten der sozialistischen Gesellschaftsformen eingegangen. Die historische Perspektive der Analyse ermöglicht die Darstellung der Veränderungen der Migrationspolitik des sozialistischen Staates. Anhand von Analysen von Archivdokumenten wird die offizielle Linie des bulgarischen sozialistischen Staates geschildert. Die Alltagspraxis der sozialen Akteure wird anhand von Interviews rekonstruiert und einer Analyse unterzogen. Es wird auf die existierenden sozialen Ungleichheiten im Sozialismus eingegangen. Schlüsselwörter
Migration · Mobilität · Sozialismus · Kalter Krieg · Einschränkungen der Migration · Ungleichheit
Die Analyse der Migrationsbewegungen in der sozialistischen Periode der Geschichte Bulgariens (1945–1989) soll die Unterschiede zwischen Ideologie und sozialer Praxis im Alltag verdeutlichen. Der bulgarische Soziologe Georgi Fotev bezeichnet in seiner Studie „Der andere Ethnos“ (1994) die sozialistische Gesellschaft als „verhüllte Gesellschaft“, als eine Gesellschaft, deren Fassade das zeigt, was nach den Parteiideologen gesehen werden soll und das verhüllt, was fern vom Beobachter gehalten werden soll (Fotev 1994, S. 64 ff.). Eine wichtige Besonderheit der sozialistischen Gesellschaft ist diese Trennung zwischen Ideologie, die die „Anleitung“ liefert, wie die Gesellschaft sein soll und der sozialen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_4
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
Praxis, die verdeutlicht, wie die sozialen Akteure auf der Alltagsebene leben. Wie bezieht sich diese strukturelle Besonderheit der sozialistischen Gesellschaft auf die Problematik der Migration?
4.1 Besonderheiten der sozialistischen Gesellschaftsform in Bulgarien: Strukturelle Merkmale Die sozialistische Periode in der Entwicklung Bulgariens begann am 09.09.1944 mit der Machtübernahme durch die von der sowjetischen Armee unterstützten Vaterlandsfront („Otečestven Front“) und endete am 10.11.1989 mit dem Sturz des Parteivorsitzenden der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) Todor Źiwkow. Bei einer detaillierteren Analyse dieser Periode sollte man die Entwicklung Bulgariens im Zusammenhang mit der Entwicklung der Länder der sog. „Sozialistischen Gemeinschaft“ betrachten. Dabei ist festzustellen, dass es zwischen den einzelnen sozialistischen Ländern große kulturelle, historische und wirtschaftliche Unterschiede während der ganzen sozialistischen Periode gab. So gesehen sind sie nur aus einer ideologischen Perspektive als eine homogene Gemeinschaft zu betrachten. Da aber dieser Punkt wenig mit der Migrationsthematik zu tun hat, werde ich meine Analyse nicht hierauf konzentrieren, sondern diesen nur dort aufgreifen, wo sich eine themenrelevante Verbindung feststellen lässt. Bei der Analyse der sozialistischen Gesellschaft und deren strukturellen Einwirkungen auf die Migrationspolitik sollte streng zwischen der sozialistischen Ideologie und der Praxis der sozialistischen Herrschaftsform unterschieden werden. Nach der sozialistischen Ideologie sollte der Sozialismus ethnische, religiöse, politische und wirtschaftliche Ungleichheiten abschaffen. Dieses ideologische Postulat lehnte sich an die Idee der sozialen Gleichheit an. Die Menschen sind nach der sozialistischen Ideologie gleich. Diese Ideologie führte zum Zwang, die Gleichheit äußerlich sichtbar zu machen: Die Menschen sollten gleich aussehen, gleich viel verdienen, gleich denken. Die Produktionsgüter privater Unternehmer wurden zu Staatseigentum gemacht. Meinungsunterschiede sowie kulturelle, ethnische, religiöse etc. Differenzen wurden als Abweichungen angesehen und sanktioniert. Es war nur eine „wahre Meinung“ vorhanden, die von der Partei auszusprechen war. Öffentlich artikulierte Meinungen waren der Ideologie ständig untergeordnet (Boundjoulov 1995, S. 93). Im Sozialismus wird die Individualität dem Kollektivismus nachgestellt.
4.1 Besonderheiten der sozialistischen Gesellschaftsform …
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In seinem Kern ist das sozialistische System eine Einparteiendiktatur, die auf der Ideologie der ‚Herrschaft der Arbeiterklasse‘ beruht. Obwohl formell ein parlamentarisches System existiert und Parlamentswahlen stattfinden, ist de facto die Kommunistische Partei die regierende Institution im Land. Ihre Herrschaft ist auch in der Verfassung verankert. Konkurrierende Parteien werden nicht oder nur pro forma zugelassen. Die Zentralisierung der Wirtschaftssteuerung beim Staatseigentum führte zur Herausbildung eines bürokratischen Steuerungsapparates, der sich allmählich in eine privilegierte Schicht umwandelte – die Parteinomenklatura1. Die Gleichmäßigkeit der Gehälter und der gesicherte Arbeitsplatz (im Sozialismus gab es offiziell keine Arbeitslosigkeit) führten zu einer Demotivierung der Arbeitenden und zur Abnahme des Innovationspotenzials.2 Eine wirtschaftliche Folge hiervon war der zunehmende Gütermangel, der den Lebensalltag prägte und die Unterschiede zwischen Parteielite und Bürger*innen noch größer machte. Dies war einer der wichtigsten strukturellen Gründe für den Zusammenbruch des sozialistischen Systems3. Die große Kluft zwischen ideologischem Anspruch und sozialer Praxis war eines der Merkmale des sozialistischen Systems. Wie wird trotz diesem Widerspruch diese Gesellschaftsform reproduziert und welche Auswirkungen hat dies auf die Wanderungsbewegungen? Bei der Reproduktion der sozialistischen Gesellschaftsform hatte die Ideologie eine große Wirkung. Durch die Ideologie und durch die Propaganda, durch die bewusste und gezielte Manipulation der Informationen und der Geschichtsinterpretationen wurde die Realität ‚verhüllt‘. Der Alltag wurde als Vorbereitung auf die ‚leuchtende kommunistische Zukunft‘ präsentiert. Die Misserfolge und Mängel im Alltag würden in der Zukunft beseitigt werden, hieß es. Indem das Leben im Alltag als ein ständiger Aufbau der Zukunft dargestellt wurde, konnten die Defizite legitimiert werden.
1Die
soziale Praxis führte zur Herausbildung einer privilegierten Elite. Dies war eine der Paradoxien des Sozialismus: der Sozialismus sollte eine „klassenlose Gesellschaft“ sein, die aber zu einer Gesellschaft der „neuen Klasse“ (vgl. Djilas 1963) wurde. Diese „neue Klasse“ hatte Zugang zu allen knappen Ressourcen. 2Der Grund dafür war, dass die knappen Ressourcen nicht nach der Leistung, sondern nach der Parteizugehörigkeit, nach der Zugehörigkeit zu dieser privilegierten Schicht – der Parteinomenklatura – verteilt wurden. 3Vgl. zu diesem Problem Dimitrov 1995.
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
Die sozialistische Gesellschaft ließ sich auch durch Repressionen reproduzieren. Der sozialistische Staat verfügte über einen großen Repressionsapparat, der die Artikulation von Unzufriedenheit unterband. Eine wichtige Bedeutung für die Reproduktion des Sozialismus hatte das System des „Sekundären Netzwerkes“4. Das „sekundäre Netzwerk“ im Sozialismus bezeichnet die Praxis, offizielle Regeln und Mechanismen der Verteilung von Ressourcen und Machtpositionen zu blockieren und auf einer spezifischen Weise zu ergänzen. Das sekundäre Netzwerk ist eine Parallelstruktur. Die knappen Ressourcen wurden de facto abhängig von der Position des Einzelnen in der gesellschaftlichen Hierarchie verteilt. Ihre Verteilung verlief nicht durch das „offizielle“, das „primäre Netzwerk“, z. B. durch Geld, sondern erfolgte in Abhängigkeit von der Position des Einzelnen im sogenannten „sekundären Netzwerk“ (ebenda). Das wichtigste „Kapital“ der Individuen im „sekundären Netzwerk“ war die Parteimitgliedschaft. Die Ideologie der Gleichheit und die soziale Praxis der Elite-Herausbildung sind zwei wichtige strukturelle Besonderheiten des Sozialismus, die sich direkt auf die Praxis der Migration auswirken. Obwohl die sozialistische Gesellschaft ideologisch als eine Gesellschaft sozialer Gleichheit beschrieben wurde (die Menschen wären gleich, es existierten keine Privilegien), war in der sozialen Praxis die soziale Ungleichheit prägend für das sozialistische System. Auch wenn die Einkommens- und Eigentumsunterschiede relativ gering waren, bildeten sich mit der Zeit neue, alternative Formen der sozialen Ungleichheit heraus. Wichtige Ressourcen waren die Stellung einer Person in der Parteihierarchie sowie Bekanntschaften und Verwandtschaften oder Nachbarschaften mit Menschen, die eine gute Stellung in der Parteihierarchie hatten. Diese Ressourcen, und nicht das Geld, hatten eine besondere ‚Kaufkraft‘, um Mangelwaren, Dienstleistungen oder Privilegien (wie z. B. das Recht zu reisen) zu erwerben. Ideologisch wurde die sozialistische Gesellschaft auch als „eine neue Gesellschaft“ beschrieben, die den westlichen kapitalistischen Gesellschaften überlegen wäre. Diese Überlegenheit wurde nicht als Ergebnis der subjektiven Wahrnehmung der sozialen Akteure, sondern als eine objektive „historische Notwendigkeit“ dargestellt. Die sozialistische Gesellschaft wurde in diversen Parteidokumenten als eine „gerechtere“ und „vollkommene(re)“ Gesellschaft definiert (Vgl. BKP 1956, S. 7, vgl. auch Brunnbauer 2007).
4Zum Begriff „Sekundäres Netzwerk“ vgl. Deyanov (1992, S. 121 ff.), Raychev (1992, S. 113 ff.).
4.1 Besonderheiten der sozialistischen Gesellschaftsform …
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Die soziale Praxis war allerdings weit von der suggerierten Perfektion entfernt. Die Bürger*innen sahen in ihrem Alltagsleben die Nachteile dieser Praxis: Defizite in der Güterversorgung, veraltete Infrastruktur, gebremste Unternehmensinitiative, Diebstahl staatlichen Eigentums, blockierte Innovation u. a. Sämtlichen Versuchen, öffentliche Systemkritik zu üben, wurden mit Repressionen begegnet. Eine der wichtigsten Einschränkungen war die Unmöglichkeit Osteuropa zu verlassen. Jede Ausreise unterlag strikten Genehmigungen. Die sozialistische Gesellschaftsform zeichnete sich durch ihre Geschlossenheit, durch ihre Abschottung vom Westen und durch die politische, ideologische und wirtschaftliche Auseinandersetzung mit den nicht zur ‚Gemeinschaft‘ gehörenden Ländern aus. Dementsprechend unterschied sich die Migrationspolitik in Hinblick auf den Wanderungsort: Reisen aller Art in den Westen waren so gut wie ausgeschlossen oder standen nur der höchsten Parteielite zu; hingegen waren Reisen in andere osteuropäische Staaten oder längere Dienstreisen in die ‚brüderlichen‘ Länder Asiens, Latein-Amerikas oder Afrikas erwünscht und staatlich durch Verträge gefördert und veranstaltet. Selbst diese Reisen hatten in der Regel keinen individuellen Charakter, sondern waren in den meisten Fällen zentralistisch organisiert. Die totalitäre Kontrolle umfasste nicht nur das Abhören aller Kommunikationskanäle, das Lesen von Korrespondenz, die Sanktionen der anders Denkenden, die Verbreitung von Angst, sondern auch die totale Schließung staatlicher Grenzen. Einerseits wurde diese Schließung dadurch legitimiert, die Überlegenheit des Sozialismus praktisch begründen zu müssen. Letztendlich würde das freiwillige Verlassen der sozialistischen Staaten, insbesondere, wenn es sich um ein massenhaftes Phänomen handeln würde, auf das Gegenteil deuten (Kiryakov 2013; Krasetva 2014). Andererseits kann auch eine temporäre Wanderung nicht ohne Einschränkung zugelassen werden: Aufgrund der wirtschaftlichen Lage der osteuropäischen Staaten herrscht ein ständiges Währungsdefizit. Der offizielle staatliche Wechselkurs kann nicht allen angeboten werden, die Geld umtauschen würden, um als Touristen auszureisen (Kiryakov 2013). So wird die Möglichkeit, das Land zu verlassen, zu einem ganz besonderen Privileg, das nur wenigen eingeräumt wird. Die Personen, die aus Bulgarien nach 1945 ohne die Zustimmung der offiziellen Behörden emigrierten, wurden als Feinde des Systems stigmatisiert (im offiziellen Diskurs wurde über „feindliche Emigration“ gesprochen; vgl. Kiryakov 2013). Das reguläre Überqueren der staatlichen Grenzen war nur für diejenigen Bulgar*innen möglich, die als ‚parteinah‘ galten und von denen die Behörden annahmen, dass sie zurückkehren werden. Die Berliner Mauer war möglicherweise das wichtigste Symbol der blockierten Mobilität im Sozialismus: Sie
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
wurde nicht zum Zwecke des Abwehrens einer Immigration, sondern zur Verhinderung der Emigration gebaut. In der Alltagssprache der Osteuropäer wurde die Migration als „in den Westen abhauen“ bezeichnet. Man hat nicht einmal angenommen, dass es möglich wäre, in den Osten zu migrieren: Obwohl es migrierende Personen gab, war die subjektive Bedeutung dieser Migrationsbewegung gering. ‚Richtig‘ zu migrieren bedeutete ‚in den Westen‘ zu migrieren. Eine massenhafte Ausreise aus einer sozialistischen Gesellschaft wäre ein Beleg dafür, dass die Menschen nicht in einem sozialistischen Land leben möchten. Aus diesem Grund werden sowohl die Auswanderung als auch die bloße kurzfristige Ausreise grundsätzlich eingeschränkt und in vielen Fällen gar nicht gestattet. Dieses Phänomen ist in Hinblick auf die DDR, Tschechoslowakei, Polen und Ungarn bekannt und gut beschrieben (vgl. Zolberg 1989, S. 413 ff.). Im deutschsprachigen Raum sind jedoch Analysen, die sich auf Bulgarien beziehen, rar (vgl. z. B. Höpken 1986, 1992; Brunnbauer 2007): Sie befassen sich vor allem mit den Besonderheiten der sozialistischen Gesellschaft und berücksichtigen die Wanderungsaspekte nicht. Das Phänomen der Wanderungsbewegungen im Sozialismus wird überwiegend von bulgarischsprachigen Wissenschaftler*innen thematisiert. Wie die bulgarische Politikwissenschaftlerin Anna Krasteva (2014, S. 362) betont: „Als ein typischer sozialistischer Staat verbindet Bulgarien die Souveränität mit der Geschlossenheit: Der Staat kontrolliert strikt die Ein- und Auswanderungsbewegungen. Die sog. „No-exit-policy“ stellt in der Tat eine strukturelle Notwendigkeit dar. Die Auswanderungsgenehmigung („изходна виза“) und der stark eingeschränkte Zugang zu ihr steht im Zentrum der sozialistischen Migrationspolitik“ (Krasteva 2014, S. 363). Nach Krasteva ist die sozialistische Migrationspolitik durch eine „Geschlossenheit als Priorität“ und durch eine „Offenheit als Ausnahme“ gekennzeichnet. Sie werden durch eine „totale Politisierung und starke Selektivität“ begründet (Krasteva 2014, S. 375). Sie betont, dass die bulgarischen Staatsbürger*innen in der Zeit von 1945–1989 über keine Papiere verfügten, die ihnen eine internationale Reise ermöglichen können. Die Möglichkeit, das Land zu verlassen, war stark eingeschränkt. Auch die Binnenmigration, die Möglichkeit, seinen Geburtsort zu verlassen, unterlag einer Sondergenehmigung („System der Wohnsitzauflage“, жителство). Die Möglichkeit, das eigene Land zu bereisen, war ebenso stark eingeschränkt: Um sich Zugang zu den Grenzregionen des Landes, die aus Sicherheitsgründen besonders bewacht wurden, zu verschaffen, benötigte man ein sog. „offenes Blatt“ („открит лист“), das vom Innenministerium ausgestellt wurde. „Die Mobilität ist kein Recht, sondern ein Privileg. Die Attribute der Mobilität, wie der Reisepass, sind keine Gegebenheit, ihre Ausstellung kann verneint werden, wenn die Reise und der Aufenthalt
4.2 Politische, ideologische und rechtliche Regelungen …
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im Ausland nicht den staatlichen Interessen entsprechen“ (Krasteva 2014, S. 375; vgl. auch Parlament 1969). Die Staatsgrenze wurde nicht nur von invasiven Praktiken von außen geschützt, sondern auch, um der eigenen Bevölkerung die freie Ausreise zu erschweren oder unmöglich zu machen.5 Krasteva liefert in ihrer Analyse eine umfangreiche Beschreibung der Problemlage, sie bietet eine Momentaufnahme der sozialistischen Gesellschaft an, allerdings analysiert sie nicht die Ursachen für diese bestimmte Entwicklung der Migrationspolitik im sozialistischen Bulgarien. Im Folgenden soll diese Forschungslücke geschlossen werden. In der vorliegenden Analyse wird die Frage nach dem gesellschaftlichen Makrorahmen gestellt, d. h. nach den ideologischen Begründungen, Wanderungsbewegungen in der bulgarischen sozialistischen Gesellschaft einzuschränken. Es wird gezeigt, inwieweit diese Begründungen historisch konsistent bzw. wandelbar sind. Der Schwerpunkt wird die Außenmigration sein, obwohl auch die Binnenmigration in der Zeit des Sozialismus Einschränkungen unterliegt und an sich ein wichtiges Forschungsthema sein kann.6 Im nächsten Kapitel wird die soziale Praxis der Auswanderung mit besonderem Augenmerk auf die Art und Weise, mit welcher die sozialen Akteure die strukturellen Zwänge lockern und Strategien zur Überwindung der Einschränkungen entwickeln, analysiert.
4.2 Politische, ideologische und rechtliche Regelungen der Wanderungsbewegungen im sozialistischen Bulgarien Aufgrund der Besonderheiten des sozialistischen Systems, die unter anderem auf der Ein-Parteien-Herrschaft beruhten, werden in der Analyse der normativen Regelungen der Wanderungsbewegungen nicht nur staatliche Unterlagen, sondern auch Dokumente, die im Rahmen verschiedener Foren der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) verabschiedet wurden, berücksichtigt. Die Kommunistische Partei hat eine „führende Rolle“ in der Gesellschaft; diese führende Rolle wurde sogar im Art. 1 (2) der Verfassung der Volksrepublik
5Diesbezüglich
ist nach 1989 eine Veränderung festzustellen, die auch von der New York Times treffend verzeichnet wurde. Vgl. Lymann (2015). 6Die Wanderung von kleineren Dörfern und Städten in größere Städte und in die Hauptstadt wird wie die Außenmigration kontrolliert und ist nur nach Sondergenehmigungen möglich.
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
Bulgarien (VRB) vom Jahr 1971 festgeschrieben (Parlament 1971). Die Beschlüsse der Parteiforen (Kongresse, Parteitage, Konferenzen) haben aus diesem Grund nicht nur einen parteiinternen Charakter, sondern bilden die Grundlage der staatlichen Politik. Im Folgenden werden die migrationsrelevanten Beschlüsse sowohl der Bulgarischen Kommunistischen Partei, als auch der staatlichen Institutionen dargestellt und kommentiert. An erster Stelle ist zu betonen, dass die sozialistische Zeit, historisch gesehen, heterogen ist; diese Heterogenität wirkt sich auch auf die Migrationspolitik aus. Bei der normativen Regelung der Wanderungsbewegungen sind Unterschiede in Hinblick auf das Subjekt (wer migriert?), auf die Zeit (in welchem Jahr bzw. in welchem Kontext wird migriert?) und auf das Wanderungsziel (wohin wird migriert?) festzustellen. Die 1950er und 1960er Jahre sind im Allgemeinen restriktiv bezüglich der Migration. In den späten 1970er und in den 1980er Jahren, insbesondere in der Zeit der Perestroika, ist eine relative und andauernde Öffnung festzustellen, die mit der Aufhebung der Ausreiseeinschränkungen im Jahr 1989 ihren Höhepunkt erreicht.
4.2.1 Einschränkungen der Migrationsbewegungen nach 1945 Einer der ersten Beschlüsse der sozialistischen Regierung, der nach der Machtübernahme am 09.09.1944 erfolgte, ist die vollständige und systematische Einschränkung der Reisefreiheit für bulgarische Staatsbürger*innen. Waren die Reisemöglichkeiten der Menschen vor dem 09.09.1944 von dem individuellen oder familiären Einkommen abhängig, wurden sie nach dem 09.09.1944 schnell politisch eingeschränkt. Im Kontext der Neuregelung der Wanderungsbewegungen wurde im Politbüro des Zentralkomitees der Bulgarischen Kommunistischen Partei die Frage diskutiert, wie die Grenzschutzarmee besser ausgerüstet und aufgestockt werden kann (Kiryakov 2011, S. 75–76). Die sog. „nicht zuverlässigen“ Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit wurden von den Grenzregionen ins Landesinnere umgesiedelt (Kiryakov 2013, S. 195). Es wurden Maßnahmen zur Zwangsrückkehr von Bulgar*innen, die das Land kurz vor und kurz nach dem 09.09.1944 verlassen haben, verabschiedet (Kiryakov 2013, S. 195–196). In Wien wurden Mitarbeiter der bulgarischen Staatssicherheit aktiv, um Informationen über bulgarische Emigrant*innen vor Ort zu sammeln (vgl. MVnR o. J.). Diese Politik wurde auch durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der bulgarischen Staatsangehörigkeit unterstützt. Die Parlamentsdebatten zu diesem Gesetzentwurf wurden am 15.10.1947 durchgeführt
4.2 Politische, ideologische und rechtliche Regelungen …
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(vgl. Parlament 1947). In ihnen wurde erwähnt, dass mit dem Erlass Nr. 33 vom 13.06.1947 (vgl. Regierung 1947) 43 Personen die bulgarische Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Es handelte sich um „Personen, die in der Vergangenheit in den bulgarischen Botschaften im Ausland beschäftigt wurden und die mit ihren Handlungen den bulgarischen Staat schlecht darstellen und die, obwohl sie aufgefordert wurden, nach Bulgarien zurückzukehren, sich geweigert haben dies zu tun“ (Parlament 1947, S. 573). In der Argumentation der Gesetzesänderung wird betont: „Es ist angebracht, dass das Eigentum dieser Personen und ihrer Eheleute, das sich im Inland befindet, verstaatlicht wird“ (ebenda). Weitere Änderungen, die im Gesetz vorgesehen sind, sind mit der Ausbürgerung von Bulgar*innen verbunden, „die das Land gesetzeswidrig verlassen“. Das Eigentum dieser Menschen kann ebenso verstaatlicht werden. Die Analyse des Gesetzes verdeutlicht die Willkür der Regierenden – die Regierung kann nach eigenem Ermessen entscheiden, wer das Land „gesetzeswidrig“ verlassen hat und wer „den bulgarischen Staat schlecht“ darstellt. Diese Vorschläge werden endgültig im am 06.03.1948 verabschiedeten Gesetz über die bulgarische Staatsangehörigkeit verankert (Parlament 1948a). In ihm werden die Voraussetzungen für den Erwerb und für den Verlust der bulgarischen Staatsangehörigkeit geregelt. Voraussetzung für den Erwerb der bulgarischen Staatsangehörigkeit ist mindestens ein Elternteil, das die bulgarische Nationalität besitzt (Art. 1). Diese Regelung entspricht dem Zeitgeist: Zu dieser Zeit wird auch in den meisten europäischen Ländern die biologische Herkunft als der entscheidende Faktor für den Erwerb einer Staatsangehörigkeit angesehen. Als progressiv ist die Regelung zu werten, nach der ohne Bedeutung ist, wer das Elternteil ist – Vater oder Mutter. Üblich zu dieser Zeit ist, dass das Kind die Staatsangehörigkeit des Vaters annimmt, wenn der Vater und die Mutter unterschiedliche Staatsangehörigkeiten besitzen. Die im Ausland geborenen Kinder bulgarischer Staatsbürger*innen bekommen die bulgarische Staatsangehörigkeit nur dann, wenn sie nicht aufgrund des Geburtsortsprinzips eine andere Staatsangehörigkeit erwerben (Art. 5). Diese Regelung verdeutlicht, dass es keine spezifische Integrationspolitik durchgeführt werden soll, sondern eher eine Abgrenzung zu den im Ausland lebenden Bulgar*innen angestrebt wird. Die Entlassung aus der bulgarischen Staatsangehörigkeit erfolgt mit der speziellen Genehmigung des bulgarischen Staates (Art. 6, 7). Eine Person, die die bulgarische Staatsangehörigkeit verloren hat bzw. eine Person, der die bulgarische Staatsangehörigkeit entzogen wurde, kann verpflichtet werden, das Eigentum in Bulgarien zu verkaufen (Art. 7). Im Gesetz wird auch die Lage der nicht nach Bulgarien zurückgekehrten bulgarischen Staatsbürger*innen geregelt. In diesem Fall ist eine gezwungene Entlassung aus der bulgarischen Staatsangehörigkeit vorgesehen und zwar dann, wenn der
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„im Ausland lebende bulgarische Staatsbürger ohne triftigen Grund nicht nach Bulgarien zurückkehrt, nachdem er aufgefordert wurde, dies zu tun“ (Art. 8, 1). Von dieser Regelung sind die Personen betroffen, die ohne Genehmigung das Land verlassen haben, die ihren Wehrdienst nicht abgeleistet haben, die „den guten Ruf“ des bulgarischen Staates verletzt haben, die im öffentlichen Dienst oder im Sicherheitsdienst anderer Länder tätig sind oder den Wehrdienst für ein anderes Land geleistet haben. Der Entzug der bulgarischen Staatsangehörigkeit ist eine individuelle Sanktion: sie betrifft nicht die Kinder oder Eheleute der jeweiligen Person, die zu bestrafen ist. „Das Eigentum der Personen, denen die bulgarische Staatsangehörigkeit entzogen wird, wird verstaatlicht. Diese Regelung bezieht sich auch auf das Eigentum, das die Personen ggf. nach dem Entzug der bulgarischen Staatsangehörigkeit erwerben werden. Das Führen einer doppelten Staatsangehörigkeit wird nicht zugelassen“ (Art. 24). Der Entzug der Staatsangehörigkeit und des Eigentums bezieht sich nicht nur auf Personen, die das Land ohne Genehmigung verlassen haben, sondern auch auf Personen, denen die Ausreise genehmigt wurde, die aber nicht „fristgerecht“ ins Land zurückgekehrt sind (vgl. Kiryakov 2013, S. 197; Krasteva 2014, S. 362). Diese Regelungen sind nicht nur restriktiv und willkürlich, sondern sie verdeutlichen auch den diktatorischen und menschenrechtsverletzenden Charakter des Systems. Am 02.03.1948 wurde im Parlament der Gesetzentwurf über die Pässe und die polizeiliche Kontrolle der Ausländer (vgl. Parlament 1948b) eingereicht und als Gesetz verabschiedet. In diesem wird reglementiert, dass die bulgarischen Staatsbürger*innen beim Verlassen des Landes verpflichtet sind, einen Pass und ein Ausreisevisum zu besitzen (Art. 2). Mit diesem Gesetz wird zum ersten Mal eine zweistufige Kontrolle auf die Möglichkeit, Bulgarien zu verlassen, eingeführt: Zum einen soll die Ausstellung des Reisepasses und zum anderen die des Ausreisevisums beantragt werden. Diese zweistufige Kontrolle ist im Art. 20 geregelt: „Ein bulgarischer Staatsbürger, der einen Pass besitzt, kann das Land nicht ohne Ausreisevisum verlassen“. Im Art. 3 wird geregelt, dass bulgarische Staatsbürger*innen, die ins Ausland fahren, verpflichtet sind, sich unverzüglich bei den bulgarischen diplomatischen Vertretungen in der jeweiligen Stadt anzumelden7. Die Strafe bei nicht erfolgter Anmeldung betrifft 10.000 Lewa. Die Pässe werden in der Regel für fünf Jahre ausgestellt, wobei in diesen stets vermerkt wird, für welche Länder sie gültig sind. Die Gültigkeit des Reisepasses ist
7Im
Parlament wurde diskutiert, dass dies an vielen Orten, an denen Bulgarien keine diplomatische Vertretung hatte, technisch gar nicht möglich war und deshalb die schriftliche Anmeldung anstelle der persönlichen zugelassen werden sollte.
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damit zeitlich und räumlich eingeschränkt (Art. 10). In Art. 17 (3) wird die Ausstellung von Reisedokumenten an „Staatsbürger, deren Reise schädlich oder nutzlos für das Land wäre“ ausgeschlossen. Es wird allerdings nicht geregelt, nach welchen Kriterien eine Reise als „schädlich“ oder „nutzlos“ einzustufen wäre. Diese Formulierungen liefern die juristische Grundlage der institutionalisierten staatlichen und polizeilichen Willkür im sozialistischen Bulgarien. Denn in jedem konkreten Fall entscheidet die passausstellende polizeiliche Behörde, was „schädlich“ und „nutzlos“ ist und kann dementsprechend Druck auf die reisewilligen Personen ausüben. Nach der Regelung im Art. 19 kann ein bereits ausgestellter Pass eines bulgarischen Staatsbürgers/einer bulgarischen Staatsbürgerin, der/die sich im Ausland befindet, als nichtig erklärt werden. Praktisch bedeutet dies, dass einem bulgarischen Staatsbürger/einer bulgarischen Staatsbürgerin gleichzeitig Pass und Staatsangehörigkeit entzogen werden kann, wenn er/sie in irgendeiner Weise für den Staat politisch unbequem wird. Nach der Rückkehr sind die Reisenden verpflichtet, ihre Reisepässe an die zuständige Polizeibehörde abzugeben. Personen, die ihre Pässe nicht zurückgeben, droht eine Strafe in Höhe von 50.000 Lewa. Bei Gruppenreisen, für die ein Gruppenpass ausgestellt wird, ist der Gruppenleiter dafür zuständig, dass der Gruppenpass zurückgegeben wird. Sollte ein Gruppenmitglied nicht mit der Gruppe zurückkehren, droht dem Gruppenleiter eine Strafe in Höhe von 50.000 Lewa. Diese Regelung fördert das Misstrauen sowie die ständige gegenseitige Kontrolle der Reisenden. In seiner Rede anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes betont der Abgeordnete Georgi Michailov Georgiev: „Es ist eine strikte Wachsamkeit notwendig […], so dass wir nicht zulassen, dass bulgarische Staatsbürger im Ausland und Ausländer in Bulgarien dunkle Pläne gegen die Interessen unseres Volkes und seiner Volksdemokratie schmieden“ (Parlamet 1948c, S. 127). Seit 1951 ist im Falle eines nicht genehmigten Verlassens des Staates eine Freiheitsstrafe vorgesehen (vgl. Vassileva 1999). Am 13.02.1953 werden in den Parlamentarischen Mitteilungen (Parlament 1953), die vom Parlament verabschiedeten Änderungen im bulgarischen Strafgesetz veröffentlicht. Nach diesen (§ 72 a) sollen bulgarische Staatsbürger*innen, die das Land illegal verlassen haben sowie Wehrdienstleistende und Personen, die zwar legal ausgereist sind aber nicht fristgerecht zurückgekehrt sind, als Verräter behandelt werden.
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Ihnen droht die Todesstrafe.8 In § 72 b des bulgarischen Strafgesetzes ist eine Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren und eine Geldstrafe bis 10.000 Lewa vorgesehen und zwar für alle Personen, z. B. auch Verwandte oder Bekannte des Täters, die von den Plänen des Täters wussten und die zuständigen Behörden nicht rechtzeitig darüber informierten. Die älteren Familienmitglieder können enteignet und in Arbeitslagern interniert bzw. zwangsweise umgesiedelt werden. Die in Bulgarien verbliebenen Verwandten des Täters sind verpflichtet, Auskunft über die Adresse ihres Angehörigen im Ausland zu geben. Wenn sie diese nicht angeben, droht ihnen eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Seit 1952 wird das nicht-reglementierte Verlassen des Staates mit der Todesstrafe sanktioniert. Die Mindeststrafe für diese Straftat wäre bei „mildernden Umständen“ 15 Jahre Haft und eine Geldstrafe von 20.000 Lewa (BKP 1952, S. 2). Am 21.11.1953 beschließt das Politbüro der BKP „Maßnahmen zur Verbesserung der ausländischen Tätigkeit“ (BKP 1953). Die Botschaften sollen Listen mit den Adressen von Bulgar*innen, die im Ausland leben, vorbereiten. Die Mitarbeiter der diplomatischen Vertretungen sollen versuchen, Kontakte mit den Bulgar*innen herzustellen, die aufgrund der politischen Verfolgung im Heimatland Asyl im Ausland beantragt haben. Ihr Ziel ist dabei, sie zu überzeugen nach Bulgarien zurückzukehren. Es werden sowohl Listen von denjenigen vorbereitet, die nach Bulgarien zurückkehren, als auch von denjenigen, die darauf verzichten (Kiryakov 2013, S. 201). In den Jahren 1950, 1953, 1954, 1956 werden Personen, die das Land nicht reglementiert verlassen haben, amnestiert (Vgl. Vassileva 1999, S. 6–7; Gadzev 2006, S. 122–126). Die Voraussetzung für die Amnestie ist, dass die Person nach Bulgarien zurückkehrt. Im Nachhinein wird die Amnestie allerdings als Misserfolg bewertet, da die Personen, die zurückkehren, „nach ihrer Rückkehr antisozialistische Propaganda“ [betrieben haben, Hervorh. ML], indem sie das Geld ausgaben, über das sie verfügten und das deutlich das durchschnittliche Einkommen im Land überstieg. Darüber hinaus haben sie Kleidung getragen, die sich deutlich von der der meisten Menschen in Bulgarien unterschied. Einige von ihnen haben auch ihre im Ausland erworbenen PKWs nach Bulgarien importiert. Diese Gegenstände haben ihren Wohlstand sichtbar gemacht – eine Tatsache, die von den sozialistischen Regierenden als negativ bewertet wurde (vgl. Kiryakov 2013, S. 204).
8Darüber
wird auch in Briefen ausländischer Diplomaten berichtet. Vgl. dazu die Daten aus dem Open Society Archive in Budapest: Open Society Archive (o. J.a).
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Neben der Verabschiedung mehrerer restriktiver rechtlicher Regelungen, die das Auswandern maximal eingeschränkt haben, übten die staatlichen Institutionen eine zusätzliche Kontrolle auf alle möglichen Formen der Migration aus. Dies entsprach der Besonderheit des totalitären Systems, in dem alle Sphären des privaten und des öffentlichen Lebens streng kontrolliert wurden. In den Quellen ist ein deutlicher Hinweis zu finden, dass die bulgarische Staatssicherheit systematisch die Korrespondenz zwischen den Emigrant*innen und ihren in Bulgarien verbliebenen Verwandten mitgelesen und sogar verfälscht hat (Innenministerium 1977). Diese ständige Kontrolle erreichte eine Dimension, in der auch Korrespondenz von parteitreuen Mitarbeitern, die im Ausland tätig waren, gelesen wurde. In einem Erlass des Innenministers vom 19.02.1957 wurde vermerkt: „Die Überprüfung der gesamten Korrespondenz, Pakete und Briefsendungen von und in die kapitalistischen Länder wird in Sofia durchgeführt. Anmerkung: Es wird kategorisch verboten, dass die führenden Persönlichkeiten der Partei, des Staates und der Gesellschaft der Maßnahme 9 unterliegen“ (Innenministerium 1957, S. 1). Durch diese Verordnung wurden die sog. „führenden Persönlichkeiten der Partei von dieser ‚Maßnahme‘ ausgenommen, denn sie gehörten aufgrund ihrer Partei- und Regimetreue nicht zur Zielgruppe der Observationsaktivitäten“. Die staatlichen Institutionen führten auch eine aktive Desinformationspolitik durch. Nach Dokumenten, die im Archiv des Senders Radio Free Europe zu finden sind, unterbreiteten die bulgarischen Behörden im Jahr 1951 gezielt die Information, dass die in die Türkei ausgewanderten Bulgaren als Soldaten der türkischen Armee im Korea-Krieg eingesetzt werden (Open Society Archive o. J.b). Mit solchen Behauptungen versuchten die Behörden die Attraktivität der Emigration in der öffentlichen Wahrnehmung einzuschränken und die Anzahl der Ausreisewilligen zusätzlich zu reduzieren. Neben der offiziellen Politik Auswanderung zu verbieten und zu verhindern, existierte die soziale Praxis, ältere Menschen auswandern zu lassen, die Verwandte im Ausland hatten. Diese Praxis kann als eine Art ‚Gnadenakt‘ verstanden werden. Die Erteilung von Sondergenehmigungen beruhte auf den Ermessensentscheidungen der zuständigen Mitarbeiter im Innenministerium und wurde de facto zu einer Quelle der Korruption. In mündlichen Überlieferungen wird deutlich, inwieweit dieses System verbreitet war (Open Society Archive o. J.c). Die Möglichkeiten, Bulgarien zu verlassen, beruhten auf einer institutionell fundierten Willkür. Die oben erläuterten gesetzlichen Rahmen waren relativ flexibel; sie erlaubten viele Interpretationen und konnten je nach konkretem Fall unterschiedlich ausgelegt werden. Im Dokument ist zu lesen: „It is not possible to understand the criteria of police in granting passports. In order to avoid the
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suspicion that only non-Communists are refused passports, police also reject the applications of some people who would undoubtedly be able to emigrate. For example, they might refuse to issue a passport to an 80-year-old men, whose whole family is already in Israel […] It is obvious that this is a trick of police to lead astray the rumours, which are circulating with regard to emigration from Bulgaria.“ (Open Society Archive o. J.d, S. 2). Die allumfassende Kontrolle bezieht sich auf die Zeit vor, während und nach der Emigration. „Die Politik hat das Ziel, die Mobilen noch vor dem Vollzug der geplanten Mobilität zu ertappen; sie hat sogar das Ziel die möglichen Gedanken nach einer Auswanderung zu verhindern. Die Behörden erstellen Listen der ‚potenziellen Emigrant*innen‘ […] Für jede Kategorie ist eine konkrete Institution zuständig“ (Krasteva 2014, S. 363). „Es ist eine klare Arbeitsaufteilung festzustellen: Mit den potenziellen Emigranten befasst sich die Gendarmerie, mit den de facto Emigrierenden die Grenzpolizei und mit den Ausgewanderten das Agenturnetzwerk der Staatssicherheit, die im Ausland operativ tätig ist“ (Kiryakov 2013, S. 198). Die Politik zu den ins Ausland emigrierten Bulgar*innen war sehr spezifisch. Im Ausland wurden von den diplomatischen Vertretungen „Listen der Emigranten“ erstellt; in diesen wurde das Leben der Emigrant*innen sehr detailliert vermerkt (Krasteva 2014, S. 364; vgl. auch Comdos o. J.). Die Migrant*innenorganisationen wurden von den bulgarischen Sicherheitsbehörden intensiv beobachtet. In den Berichten der zuständigen Institutionen wurden sie auch nach ihrer Tätigkeit und Struktur typologisiert. Besonders intensiv wurden die Migrant*innenorganisationen in München beobachtet, da zu diesem Zeitpunkt München als Zentrum der bulgarischen Migration in Deutschland galt. Eine wichtige Folge dieser Aktivitäten war die endgültige Entfremdung der bulgarischen Emigrant*innen vom bulgarischen Staat, das Gefühl ständig verfolgt zu werden, das manchmal auch „paranoide Züge“ annahm. Die traumatische Angststörung ist bei vielen Migrant*innen festzustellen (vgl. Krasteva 2014, S. 364). In den parteilichen und staatlichen Dokumenten, die zu dieser Zeit verfasst wurden, wurden die Emigrant*innen typologisiert: • Zum einen wird die Gruppe der sog. „feindlichen Emigranten“ gebildet. „Der Begriff bezieht sich auf die Personen, die Mitglieder an politischen Organisationen sind, die sich gegen das System in Bulgarien aussprechen und die gegen das damalige Regime in Bulgarien aktiv sind“ (Comdos o. J., S. 8).
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• Eine eigenständige Kategorie bilden die sog. „wirtschaftlichen Migranten“. Laut Typologie der bulgarischen Institutionen sind das „Personen, die vor dem 9. September 1944 das Land verlassen haben; über sie existiert keine Information, dass sie aktiv gegen das System der Volksrepublik Bulgarien agieren. Es wird angenommen, dass sie nach besseren Bedingungen für sich und ihre Familien suchen. Zu dieser Gruppe werden auch die Emigrant*innen gezählt, die einen ausländischen Staatsbürger geheiratet haben“ (Comdos o. J., S. 8). • In Bulgarien erfolgte nach 1945 nicht nur eine massive Restriktion der physischen Wanderung, eingeschränkt wurde auch die ‚geistige‘ Migration: der Austausch von Wissen und Ideen. Die privaten und staatlichen fremdsprachigen Schulen, Kindergärten und andere Bildungsinstitutionen, die vor dem 09.09.1944 im Land eröffnet wurden, wurden am 01.09.1948 geschlossen. Dies erfolgte auf der Grundlage des am 03.08.1948 verabschiedeten Erlasses zur Schließung der fremdsprachlichen Bildungseinrichtungen. Die fremdsprachliche Bildung wird als Teil der staatlichen Politik angesehen. Als Folge der neuen politischen Konstellation wurde das Erlernen der russischen Sprache als einzige Fremdsprache in den Schulen Bulgariens obligatorisch. Zwei Jahre nach der Schließung der fremdsprachlichen Bildungseinrichtungen im Jahr 1948 erfolgte die Neugründung fremdsprachlicher Schulen. Diese waren in staatlicher Hand. Der Zugang zu ihnen war sehr eingeschränkt: nur Kinder besonders regimetreuer Personen durften eine Fremdsprache erlernen. Das Ziel war ein Wechsel der Bildungseliten im Lande und die Etablierung neuer, parteitreuer Eliten, die das Land auch international – diplomatisch wie wirtschaftlich – vertreten können. Am 15.02.1950 wurde das fremdsprachliche Gymnasium in der Stadt Lovetsch eröffnet (Stadt Lovetsch 2016). Es ist das erste und älteste fremdsprachliche Gymnasium im Land. In diesem waren drei Sprachabteilungen vorhanden: die französische (seit 1958 nach Warna umgezogen), die deutsche und die englische (seit 1956 nach Sofia umgezogen). Durch diese Neuregelung der fremdsprachlichen Bildung wurden die Möglichkeiten, eine Fremdsprache zu erlernen neu bestimmt und de facto die Zielgruppe geändert. Es handelt sich um eine subtile Kontrolle der Migration, nämlich um eine Kontrolle der Möglichkeiten, Kontakte mit ausländischen Staatsbürger*innen zu pflegen, Informationen über das Leben im Ausland zu erhalten, zu kommunizieren, Probleme anzusprechen, zu migrieren und sich im Ausland zurecht zu finden.
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4.2.2 Schrittweise Öffnung des Migrationsregimes im Kontext des Helsinki Agreement Die Veränderungen in der Migrationspolitik des bulgarischen Staates in Richtung einer Öffnung des Grenzregimes waren innenpolitisch durch den Wechsel an der Parteispitze beim Plenum im April 1956 begründet. Seit 1956 wurde allmählich der stalinistische Kurs der Bulgarischen Kommunistischen Partei und damit auch der bulgarischen staatlichen Institutionen revidiert. Eine neue Verfassung wurde in den 1960er Jahren vorbereitet und 1971 verabschiedet (Parlament 1971). Diese Änderungen waren allerdings nicht nur innenpolitisch motiviert. Im Kontext des Kalten Krieges begann in Europa der 1960er Jahre ein Prozess der politischen Deeskalation und der Etablierung der politischen Doktrin „peaceful coexistence“ (Kulski 1959). Im Jahr 1972 fand in der finnischen Hauptstadt Helsinki das erste Treffen der Regierungschefs der europäischen Staaten, USA, Kanada und der UdSSR statt. Nach mehreren Arbeitstreffen, die in der Geschichte als der „Helsinki-Prozess“ eingehen, wurde am 01.08.1975 von den Vertretern von 35 Staaten das Helsinki-Agreement unterzeichnet, in dem die Deeskalation und die außenpolitische Entspannung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geregelt wurde. Die Ergebnisse der Gespräche in Helsinki sind in drei Bereiche zusammenzufassen: • Überwindung der möglichen zunehmenden Konfrontation der beiden Militärbündnisse; • Möglichkeiten der wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit; • Kultureller Austausch und die Verpflichtung, Menschenrechte zu beachten. In diesem außenpolitischen Kontext sollen die Veränderungen in der Migrationspolitik in Bulgarien in den 1960er bis 1980er Jahre interpretiert werden. Ein wichtiges Dokument, in dem die Veränderungen in der Migrationspolitik deutlich werden, ist der „Beschluss Nr. B 15 des Politbüros des ZK der BKP vom 27.12.1966 zur Reduzierung der Möglichkeiten der kapitalistischen Geheimdienste subversive Maßnahmen gegen unser Land durch die Ausnutzung der feindlichen Emigration durchzuführen“ (BKP 1966, S. 2). In diesem Dokument wird die Praxis abgelehnt, „Maßnahmen zur Rückkehr der Heimatverräter in unser Land“ zu ergreifen. Allerdings wird auch betont, dass „in Ausnahmefällen, wenn es zielführend ist, […] die Zwangsrückkehr von einzelnen Verrätern genehmigt werden“ kann (BKP 1966, S. 1). Mit diesem Beschluss wird
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dokumentiert, dass bis 1966 de facto die Praxis der Zwangsrückführung von emigrierten Bulgar*innen existiert hat. Im Dokument ist auch zu lesen, dass „der Staatssicherheitsdienst, das Innenministerium, die Gerichtsorgane und die Staatsanwaltschaft mit den zurückgekehrten Verrätern nach den gesetzlichen Regelungen umgehen sollen“ (ebenda). Es stellt sich die Frage, ob man sie bis dato nicht nach den gesetzlichen Regelungen behandelt hat. Nach 1968, im Zuge des Prager Frühlings und der 1968er-Bewegung, war eine deutliche Anspannung der außenpolitischen Lage zu kennzeichnen. Das führte zu einem neuen Höhepunkt der Einschränkungen bezüglich der Emigrant*innen. In einem Dokument aus dem Jahr 1973 „Zur Arbeit der Nachrichtendienste beim Innenministerium“ (Innenministerium 1973) wird vermerkt, dass die „Nachrichtendienste dabei sind, operative Maßnahmen auf dem Territorium der kapitalistischen Länder zu planen, vorzubereiten und durchzuführen“ (Innenministerium 1973, S. 6). Am 21.11.1972 wurde im Parlament der Gesetzentwurf über den Aufenthalt der Ausländer in der Volksrepublik Bulgarien diskutiert (Parlament 1972). In der Begründung betonte der amtierende Innenminister, General Angel Tzanev: „In den letzten zehn Jahren hat unser Land die Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern deutlich ausgebaut. Es haben gegenseitige Besuche unterschiedlicher staatlicher und politischer Delegationen aus den verschiedenen europäischen Ländern stattgefunden“ (Parlament 1972, S. 29). Dazu zählten allerdings nicht nur die mit den europäischen, sozialistischen und kapitalistischen Ländern, sondern auch die mit den „Volksbefreiungsbewegungen und mit den befreiten Staaten Asiens, Afrikas und Latein-Amerikas“ (ebenda). „Die Verwirklichung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit soll zu neueren effektiveren Methoden und Mitteln zur Kontaktknüpfung [führen], die von gegenseitigem Interesse sind, z. B. mit Touristen, Wissenschaftlern, Vertretern der Wirtschaft, Fachleuten, Sportlern und anderen“ (ebenda, S. 30). Weiterhin betonte Tzanev: „Hatte Bulgarien vor dem Krieg diplomatische Beziehungen mit 32 Staaten gepflegt, hat es jetzt diplomatische Beziehungen zu 94 Staaten und Handelsbeziehungen zu 113 Staaten. In 74 Staaten hat Bulgarien diplomatische Vertretungen und in 82 Handelsvertretungen. […] Eine sich ständig erhöhende Anzahl von fremden Vertretern besucht Bulgarien, um an Symposien, Kongressen, Konferenzen, Festspielen, Messen und Ausstellungen teilzunehmen“ (ebenda, S. 31). In den Argumentationen von Minister Tzanev wird die Bedeutung der kulturellen und touristischen Beziehungen deutlich vermerkt. „1960 haben 200.600 ausländische Staatsbürger*innen Bulgarien besucht, 1965 – 1.080.000, 1970 – 2.537.000, 1971 – 2.700.000“ (ebenda, S. 32). Es wird auch die Bedeutung des Abkommens von Helsinki betont: „Wir haben das neue Gesetz zum Aufenthalt der Ausländer in der
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Volksrepublik Bulgarien vor den zwischenstaatlichen Konsultierungsgesprächen in Helsinki verabschiedet“ (ebenda). Die Argumentation zur Verabschiedung dieses Gesetzes deutet auf ein allmähliches Öffnen und auf eine stufenweise Zulassung bestimmter Migrationsbewegungen hin. Neben der Öffnung, die sich im Parlament zeigt, wird in den parteilichen Programmdokumenten die Linie fortgesetzt, Möglichkeiten auszuwandern oder das Land zu verlassen, einzuschränken. Die bulgarische Emigration ist nicht nur Objekt ständiger Beobachtung und Verfolgung, sondern auch parteipolitischer Kritik und Sanktionen. Im „Beschluss B Nr. 17 vom 27.06.1977 über die Vervollkommnung der Maßnahmen zur Einschränkung und Bekämpfung der Tätigkeit der bulgarischen feindlichen Emigration und zur Verbesserung der Auswahl und der Vorbereitung der bulgarischen Staatsbürger, die ins Ausland reisen“ (BKP 1977, S. 1), der eine Fortsetzung des Beschlusses B Nr. 15 vom 27.12.1966 ist (BKP 1966), wird das Ziel folgenderweise definiert: „effektive Maßnahmen zur Unterbrechung der Kanäle, durch die sich ihre Zahl erhöht, zur Minimierung der Flucht über die Staatsgrenzen und die Fälle des Nicht-Zurückkehrens bulgarischer Staatsbürger“ (BKP 1977, S. 2). Das Ziel ist auch „die unkontrollierte Etablierung von kriminellen Beziehungen zwischen den Emigranten und den Personen, die im Inland wohnen, zu unterbinden“ (ebenda, S. 3). „Die zuständigen staatlichen und gesellschaftlichen Organe und Organisationen sollen Maßnahmen zum Verderb und zur Isolation der feindlichen Emigration ergreifen: Entlassung aus der bulgarischen Staatsangehörigkeit der aktiv gegen die VRB tätigen Geflüchteten und Rückkehrverweigerer („невъзвращенци“) mit allen daraus folgenden Konsequenzen; die Einschränkung und Trennung von Verbindungen der Personen, die zur feindlichen Emigration zählen, zu deren Verwandten und Bekannten im Inland, die durch Besuche, Geldüberweisungen, Paketsendungen oder Briefsendungen erfolgen“ (ebenda, S. 4). In den 1970er Jahren waren auch politische Morde unter den bulgarischen Emigrant*innen festzustellen (Kiryakov 2013, S. 207). Besonders prominent war der politische Mord am BBC-Journalisten Georgi Markov am 11.09.1978, der für die bulgarische Redaktion in London tätig war und in der englischen Hauptstadt von Mitarbeitern der bulgarischen Geheimdienste ermordet wurde (Brill 2010). Neben den Sanktionen der sog. „feindlichen Emigration“, ist ein neuer Aspekt in der Politik gegenüber (den) Emigrant*innen festzustellen. Im Beschluss vom Jahr 1977 wurde offiziell zugelassen und dokumentiert, dass auch eine andere, „nicht feindliche Emigration“ existiert. Zu dieser Kategorie der „nicht feindlichen Emigranten“ zählten die befristet im Ausland lebenden Mitarbeiter*innen der bulgarischen diplomatischen Handelsvertretungen, der Staatssicherheit und des
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Militärs, die als „temporär im Ausland lebende bulgarische Staatsbürger, die als aktiver Faktor zur Verwirklichung der parteilichen Politik im Ausland“ bezeichnet wurden (BKP 1977, S. 2). Andererseits gehörten zu dieser Gruppe auch die „nicht in kriminelle Tätigkeiten gegen das Land involvierten bulgarischen Emigranten“ (ebenda, S. 5), d. h., die Wirtschaftsmigrant*innen. Nach der parteiinternen ideologischen Typologie wurden die „Wirtschaftsmigrant*innen“ von den „feindlichen“ Emigrant*innen unterschieden; noch mehr – die „Wirtschaftsmigrant*innen“ sollten die „feindlichen Emigranten“ bei ihrer Rückkehr in die Heimat unterstützen. Die „Wirtschaftsmigrant*innen“ wurden in einer quasi Brückenfunktion gesehen. Den „nicht feindlichen Emigranten“ wurden bestimmte „Rechte“ eingeräumt, die den „feindlichen Emigranten“ nicht zustanden. Das Ziel war es, „das loyale Verhältnis dieser Migrantengruppe zur VRB zu stützen“ (ebenda). Die Zugehörigen dieser Migrant*innengruppe sollten ohne „ernsthafte Gründe“ nicht aus der bulgarischen Staatsangehörigkeit entlassen werden; die zuständigen Institutionen sollten gegenseitige Besuche zwischen den „wirtschaftlichen Emigranten“ und ihren Angehörigen genehmigen; ihnen sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihre Kinder oder Eltern, die in Bulgarien leben, materiell zu unterstützen; zusätzlich sollten diejenigen von ihnen beeinflusst werden, die „moralisch unbedenklich und beruflich etabliert sind“, sodass sie freiwillig nach Bulgarien zurückkehren (ebenda, S. 6). Die Veränderung in der Politik ist deutlich in einem Dokument zu erkennen, in dem die Tätigkeit des sog. „Slawischen Komitees“ für die Jahre 1974/1975 geregelt wurde. Als Ziel wurde in diesem Dokument „die Herstellung von Kontakten in der unmittelbaren Zukunft mit den Vertretern der zweiten und der dritten Generation der bulgarischen Emigration“ definiert (BKP 1974, S. 82). Auch die Bulgarische Orthodoxe Kirche war in diese Aufgabe involviert: Von ihr wurden Sonntagsschulen gegründet, in denen christlich-orthodoxer Unterricht angeboten wurde. Eine unübliche Vorgehensweise, wenn man bedenkt, dass das sozialistische System offiziell eine atheistische Politik befürwortete und die Vertreter der Kirche sowie die der anderen Religionsgemeinschaften verfolgte und einschüchterte (Vgl. BKP 1959). In diesen Sonntagsschulen sollte den Vertretern der zweiten und dritten Emigrant*innengeneration die Möglichkeit gegeben werden, die bulgarische Sprache zu erlernen. Im Vortrag des amtierenden Innenministers Dimitar Stojanov, der am 30.05.1977 vor dem Politbüro des ZK der BKP (Innenministerium 1977) gehalten wurde, ist zu lesen: „Erfolgreich zur Rückkehr ins Land gebracht und verurteilt wurde einer der aktivsten Leiter der Emigrant*innen. Die Tätigkeit der Mitarbeiter der bulgarischen Redaktion des Senders ‚Radio Free Europe‘ wurde für
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eine bestimmte Zeit entlarvt und gestört“ (Innenministerium 1977, S. 2). Weiter ist zu lesen: „Der Gegner strebt an, Emigranten mit höheren intellektuellen Gaben, Beziehungen und Einfluss im Land zu ideologischen und subversiven Tätigkeiten heranzuziehen. Diese Personen findet er [der Gegner, Hervorh. ML] unter den neuen Emigranten, Geflüchteten und Rückkehrverweigerern. Einige von ihnen, die einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit den Radiosendern der USA in der BRD haben, sind Verräter, Provokateure und Renegaten […] und haben einen schlechten und gefährlichen Einfluss“ (ebenda, S. 3). In diesem Vortrag wird die Anzahl der irregulär emigrierten Bulgar*innen genannt – im Durchschnitt handelt es sich um ca. 300–500 Personen jährlich (ebenda, S. 5). „In der Mehrheit der Fälle handelt es sich um politisch oder moralisch verdorbene Bürger mit Hang zu Karriere und materiellem Wohlstand“ (ebenda). Am 14.03.1978 wurde eine streng geheime Verordnung des Innenministers General Dimiter Stojanov über die „Organisation der Spionageabwehr beim Staatssicherheitsdienst gegen die feindlichen Emigranten und gegen die in der subversiven Tätigkeit engagierten bulgarischen Emigranten und die ins Land zurückgekehrten Geflüchteten und Nichtrückkehrer“ herausgegeben (DS 1978). In dieser Verordnung wird der Unterschied zwischen dem „feindlichen Emigranten“ und dem „Emigranten, der loyal zur Staatsmacht steht“ weiterhin erwähnt und ideologisch ausgebaut. Zu den „loyalen Emigranten“ zählten, nach der Verordnung von Stojanov, die vor dem 09.09.1944 emigrierten Personen, die „in ihrer Mehrheit ihr nationales Bewusstsein und die Liebe zur Heimat erhalten haben“ (ebenda). Wichtig in diesem Dokument ist die Anerkennung der Tatsache, dass „die bulgarische Emigration in den kapitalistischen Ländern aus unterschiedlichen Bulgar*innen, die aus unterschiedlichen Gründen zu unterschiedlicher Zeit emigriert sind, besteht. Sie kennzeichnet sich durch ihre soziale und politische Heterogenität“ (ebenda). In dieser Verordnung wird noch einmal die Anzahl der irregulär emigrierten Personen genannt – sie betrifft ca. 300–400 Personen jährlich, „vor allem junge Menschen“ (ebenda). Es wird über die Notwendigkeit gesprochen, die „feindlichen Emigranten“ (ebenda) zu isolieren. Zum ersten Mal wird auch der Begriff „feindlicher Emigrant“ näher definiert: Das ist „jeder Migrant“, der „subversive Tätigkeit gegen die Politik der Volksrepublik Bulgarien (VRB), der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder durchführt“ oder „mittlerweile keine subversive Tätigkeit mehr durchführt, aber weiterhin feindliche Perspektiven und Meinungen vertritt“, oder „irregulär emigriert ist, damit er anderen Staaten oder Organisationen dient und zwar im Schaden der VRB“ oder „bis zum Zeitpunkt der Emigration Zugang zu wichtigen militärischen und staatlichen Geheimnissen hatte“ (ebenda). Damit wird deutlich, dass die „feindliche Emigration“, auch im Rahmen dieser relativ
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weiten Definition, nur ein Teil der Emigrant*innen und nicht, wie in den ersten Jahren der sozialistischen Periode, alle Emigrant*innen umfasst. Eine Änderung, die sowohl wirtschaftlich, als auch politisch motiviert ist und auch als Zeichen der Hilfslosigkeit zu deuten ist – den bulgarischen Geheimdiensten gelingt es nicht, die „feindlichen Emigranten“ zur Rückkehr zu zwingen oder ihre „subversive Tätigkeit“ nachhaltig zu stören (ebenda). Die Geheimdienste können nichts Anderes unternehmen, als die „feindliche Emigration“ zu überwachen. In Folge dieser Verordnung wird die nächste Arbeitsgruppe zur Beobachtung der „feindlichen Emigration“ und zu ihrer „operativen Überwachung“ gegründet. Hier, so wie im auch im vorherigen Dokument, wird erneut zwischen der „feindlichen“ und der „nicht-feindlichen“ Emigration unterschieden. Es wird betont: „Die bulgarischen Staatsbürger, die regulär oder irregulär in die kapitalistischen Länder und in die Entwicklungsländer emigriert sind und die keine subversive Tätigkeit gegen die VRB, UdSSR und die anderen sozialistischen Länder durchführen oder ihre subversive Tätigkeit beendet haben und ein loyales Verhältnis zu ihnen haben (sie verhalten sich loyal, integer und gewissenhaft zu ihrer Heimat und zu den in ihr etablierten gesellschaftlichen Verhältnissen), sollen nicht als feindliche Emigranten betrachtet werden“ (ebenda). Im Jahr 1980 wird das „Langfristige Programm für die Arbeit mit bulgarischen Communities in den nichtsozialistischen Ländern für die Zeit 1981–1990“ (BKP 1980) verabschiedet. In diesem wird die Politik zu 13 Staaten: Österreich, Australien, Großbritannien, Argentinien, Belgien, Italien, Kanada, den USA, der Türkei, der BRD, Frankreich, der Schweiz und Schweden vorgestellt. Zum ersten Mal werden in diesem Dokument die bulgarischen „anti-kommunistischen“ Organisationen im Ausland systematisch aufgelistet (Kiryakov 2013, S. 208). Am 29.05.1981 wurde der Beschluss des Sekretariats des ZK der BKP „Über die Arbeit mit den bulgarischen Emigranten im Ausland“ (BKP 1981) verabschiedet. In diesem wurde die Gründung einer staatlichen Kommission zur Arbeit mit den Bulgar*innen, die in den nicht-sozialistischen Ländern leben, vorgesehen. Es wird auch die Vorbereitung neuer Fachleute für die Arbeit mit den bulgarischen Emigrant*innen geplant. In diesem Dokument wird behauptet, dass die Anzahl der bulgarischen Emigrant*innen weltweit ca. 300.000 Personen betrifft, dass diejenigen, die das Land irregulär verlassen haben ca. 11.000 sind und diejenigen, die eine „subversive Tätigkeit“ (ebenda) gegen die VRB ausüben, ca. 600 zählen. In diesem Dokument ist die offizielle politische Linie zur Migration, der Bulgarien bis 1989 folgte, deutlich zu erkennen. Zum einen wurde in ihm die „feindliche Emigration“ stigmatisiert, obwohl die Politik der Zwangsrückführung abgestellt wurde. Die „nicht-feindliche Emigration“ wurde von der „feindlichen“ deutlich unterschieden. Die Handelsbeziehungen und der kulturelle
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Austausch mit anderen, nicht sozialistischen, Ländern wurden ausgeweitet. Ein besonderes Augenmerk im Kontext vom Helsinki Agreement lag auf den Verhältnissen zu den westeuropäischen Staaten. Ein Zentrum für Demografieforschung wurde gegründet und dem Präsidium der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften (BAW) unterstellt. In diesem sollten unter anderem auch die „Probleme der bulgarischen Diaspora“ (ebenda) erforscht werden. Das „Slawische Komitee“ wurde zum „Komitee über die Bulgar*innen im Ausland“ umbenannt (Kiryakov 2013, S. 210). Zwei Neuigkeiten sind deutlich zu vermerken: Zum einen, die Anbindung der Migration an die Problematik der Demografie und zum anderen das Ziel, die Bulgar*innen im Ausland intensiv, auch außerhalb der Aufgaben der Geheimdienste, zu kontaktieren. Im Laufe der 1980er Jahre beeinflussten diese Änderungen die staatliche Politik sowohl zu den im Ausland lebenden Bulgar*innen, als auch zu den ethnischen Gemeinschaften in Bulgarien. Daraus resultiert die Zunahme der Spannungen im Land.
4.2.3 Exkurs: Die Politik bezüglich der ethnischen Gruppen in Bulgarien in der sozialistischen Zeit und ihre Auswirkung auf die Migration Seit der Gründung des modernen bulgarischen Staates im Jahr 1878, stellten die Türk*innen nach den Bulgar*innen die größte Bevölkerungsgruppe bzw. die größte ethnische Minderheit des Landes dar. Obwohl ihre Präsenz in Südosteuropa Jahrhunderte zurückreicht, werden sie auch in der Gegenwart von der quantitativ dominierenden Gruppe, den Bulgar*innen, als ‚fremd‘ wahrgenommen. Als Türk*innen werden sie von der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung als ethnisch fremd rezipiert. Als Muslime werden sie von den christlich-orthodox geprägten Bulgar*innen als religiös fremd empfunden. Gleichzeitig sind die in Bulgarien lebenden Türk*innen bulgarische Staatsangehörige, also im politischen Sinne Bulgar*innen und genießen alle Bürgerrechte wie das aktive und passive Wahlrecht. Aufgrund ihrer quantitativen Stärke sind sie ein wichtiger politischer und wirtschaftlicher Faktor im Land, insbesondere in den Regionen, in denen sie einen größeren Anteil der Bevölkerung stellen. Die türkische Minderheit in Bulgarien ist ein exemplarisches Beispiel für die ethnische und religiöse Heterogenität der Bevölkerungszusammensetzung in den verschiedenen Balkanstaaten. Versuche, sie zu assimilieren bzw. zu diskriminieren, wurden auch vor der Zeit des Sozialismus unternommen, so z. B. in
4.2 Politische, ideologische und rechtliche Regelungen …
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der Zeit der Balkankriege (1912–1913), in der Bulgarien und die Türkei gegeneinander gekämpft haben (Mutafchieva 1994, S. 24) oder in der Zeit 1930– 1940, in der es zu Gewalttaten, Plünderungen und Schlägereien kam und viele Türk*innen daraufhin Bulgarien verlassen haben (Stojanov 1994, S. 250). In der Zeit des Sozialismus, und zwar zwischen 1984–1989, erreichte die Politik der Assimilierung in der erzwungenen Namensänderung bei den Türk*innen (der sogenannte „Wiedergeburtsprozess“) ihren Höhepunkt. Die Entscheidung für diese Maßnahme wurde am 19. Juni 1984 vom Politbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei getroffen (Demokrazija 1999, S. 7). • Die muslimischen Namen der türkischen Bevölkerung wurden durch slawische Namen ersetzt. Die Namensänderung erfolgte nicht freiwillig, wie es von der Propaganda dargestellt wurde; die freiwillige Änderung des Namens mag bei Einzelnen der Fall gewesen sein. • Die Verwendung der türkischen Sprache im Alltag wurde verboten; bei Zuwiderhandlung wurden Geldstrafen erteilt. • Die Ausübung der religiösen Bräuche und Sitten der türkischen muslimischen Bevölkerung wurde verboten. • Das Begräbnis der Toten durfte nicht nach dem islamischen Ritus vollzogen werden und musste fortan auf bulgarischen Friedhöfen durchgeführt werden. • Es sind auch Fälle der Namensänderung bei schon begrabenen Personen bekannt. • Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Türk*innen. • Ein verstärktes Polizei- und Militäraufgebot wurde in den Gebieten der türkischen Bevölkerung registriert. • Die türkische Bevölkerung im Norden (in den Dörfern Pristoe, Kaolinivo, Todor Ikonomovo) und im Süden (in der Stadt Dźebel) leistete Widerstand. Am 30. Juli 1984 wurde im Wartesaal des Hauptbahnhofs in Plovdiv eine Bombe gezündet und am 9. März 1985 wurde ein Wagon des Schnellzugs 326 auf der Strecke Burgas – Sofia gesprengt (vgl. Demokrazija 1999). • Es wurden illegale Organisationen gegründet (nach Informationen der bulgarischen Staatssicherheit, veröffentlicht in Demokrazija 1999, betrug die Zahl der türkischen Organisationen 28, die ihrer Mitglieder 367). • Ca. 1400 Türk*innen wurden verhaftet (ebenda). Die Repressionen führten nicht zur Assimilierung der türkischen Bevölkerung, sondern zu ihrer Absonderung und zur Verfestigung des Community-Bewusstseins. Die internationale Kritik, die „politische Isolation des Landes“ (Höpken 1992, S. 370) sowie die Unlösbarkeit des Konflikts, führte 1989
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
zur Entscheidung der Partei, die Türk*innen auswandern zu lassen. Der Anfang dieses Prozesses war die „Vertreibung oppositioneller Türken ins Ausland“ (Riedel 1993, S. 101). Den Türk*innen wurde mitgeteilt, dass alle, die wollten, das Land verlassen durften, und diese Möglichkeit später nicht mehr gegeben sei. Dadurch entstand eine „Auswanderungspsychose“, wie Höpken (1992, S. 371) es nennt. Die Erlaubnis, das Land zu verlassen, war die „letzte Chance vor einer neuerlich zu erwartenden Grenzschließung Bulgarien den Rücken zu kehren“ (Höpken 1992, S. 371). Infolge dessen verließen in kurzer Zeit ca. 320.000 Türk*innen (Demokrazija 1999) das Land. Höpken (1992, S. 370) zufolge kehrte die Hälfte später zurück. In der bulgarischen Öffentlichkeit wurde die Auswanderung der Türk*innen nicht als Auswanderung, sondern als „Exkursion“ bezeichnet. Da es offenkundig war, dass es sich um keine Exkursion handelte, wurde die Auswanderung von der Öffentlichkeit mit dem sarkastischen Ausdruck „die große Exkursion“ („Goljamata exkursija“) umschrieben, welcher auch heute noch verwendet wird. Die Auswanderung der Türk*innen hatte negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Bevor sie das Land verließen, hoben die Türk*innen ihre Ersparnisse von ihren Bankkonten ab (ca. 4 Mrd. Lewa, vgl. Mutafchieva 1994, S. 32). Dadurch wurde die Finanzbalance des Landes negativ beeinflusst. Da die Türk*innen überwiegend in zwei Regionen des Landes (im Nordosten und im Südosten) gelebt hatten und bestimmte Berufe ausübten (vgl. Höpken 1986, S. 447), kam es infolge der Auswanderung zur Unterbesetzung der Arbeitsplätze, zu großen wirtschaftlichen Verlusten und zur Erhöhung des Warenmangels. Die Regierung hatte versucht, diese Verluste dadurch zu kompensieren, dass sie Bulgar*innen aus anderen Regionen in diese Gebiete als Arbeitskräfte schickte. Betroffen davon waren sogar Schüler, die über 16 Jahre alt waren und in den Ferien in diesen Regionen arbeiten mussten. Dadurch war quasi jede bulgarische Familie von den Folgen der Auswanderung betroffen. Die Idee, die Namen der türkischen Bevölkerung zu ändern, hat ihren Ursprung in der Interpretation der Geschichte. Nach der damaligen offiziellen bulgarischen Interpretation waren die in Bulgarien lebenden Türk*innen keine Türk*innen, sondern ethnische Bulgar*innen, die im Laufe der „gewaltsamen Islamisierung und Türkisierung“ während der osmanischen Herrschaft den Islam und die islamischen Namen angenommen hatten (Ivanova 2002, S. 128 ff.). Das Ziel war dementsprechend, diese „Bulgar*innen“ zu ihrer wahren Identität zurückzuführen und sie mit dieser „wiederauferstehen“ zu lassen (deswegen wurde die Namensänderung offiziell „Wiedergeburtsprozess“ genannt). Als Zeichen dieser „Wiedergeburt“ waren die „slawischen Namen dieser islamisierten Bulgar*innen zu rekonstruieren“ (Riedel 1993, S. 101).
4.2 Politische, ideologische und rechtliche Regelungen …
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Den Hintergrund dieser Idee bildete die von den bulgarischen Dichtern und Intellektuellen reproduzierte historische Erzählung über die „gewaltsame Islamisierung“9 der Bulgar*innen während des „türkischen Jochs“. Diese Deutung wurde durch die Lehrbücher im 20. Jahrhundert offiziell gemacht und ist nach der bulgarischen Wissenschaftlerin A. Zhelyaskova der Grund für die „pseudowissenschaftlichen Theorien über die bulgarische Herkunft der Türken in Bulgarien“ (Zhelyaskova 1999, o. S.). Wegen der Verbesserung der Lebensbedingungen im Sozialismus, die sich insbesondere auf die Lebenssituation der türkischen Bevölkerung positiv auswirkte, war bei den Türk*innen eine erhöhte Geburtenrate zu verzeichnen. Die allgemeine Steigerung der Lebensqualität betraf die Türk*innen stärker als die Bulgar*innen, da sie in den Grenzregionen lebten und statusniedrige Berufe ausübten, die jedoch bis zu 30 % höher bezahlt wurden (vgl. Mutafchieva 1994, S. 32). Da die türkische Bevölkerung überwiegend in zwei Regionen des Landes angesiedelt war, wurde diese Wachstumsrate insofern als Gefahr angesehen, als dass die Türk*innen in diesen Regionen allmählich die quantitative Mehrheit bildeten und eventuell Autonomieansprüche stellen könnten, was wiederum die nationale Sicherheit Bulgariens gefährden könnte. Ein wichtiger Grund für die Durchführung des „Wiedergeburtsprozesses“ war der Wunsch der Regierenden, die Aufmerksamkeit der bulgarischen Bevölkerung von der Wirtschaftskrise abzubringen. Mitte der 1980er Jahre waren die ersten Symptome des sich nähernden Zusammenbruchs des sozialistischen Systems deutlich geworden. Für die Wirtschaftsexperten war längst offenkundig, dass die wirtschaftlichen Planvorgaben nur auf dem Papier erfüllt wurden. Die wirtschaftliche Parteinomenklatura strebte nach einer Erweiterung der wirtschaftlichen Freiheiten und einer Öffnung des Außenhandels. Die ökonomische Krise aber bekam in der Mitte der 1980er Jahre eine völlig neue Dimension – durch Engpässe in der Stromversorgung und der Erhöhung des Warenmangels war auch für die einfachen Menschen immer deutlicher erkennbar, dass sich der Sozialismus nicht unbedingt auf eine „strahlende Zukunft“ zubewegte. Um sich trotz der wirtschaftlichen Misere weiterhin an der Macht halten zu können, brauchte die Parteiführung einen Erfolg, den sie dem Volk präsentieren konnte. Ein solcher „Erfolg“ sollte die „Wiedergeburt“ der Türk*innen sein. Da dieser „Erfolg“ jedoch ausblieb, wurden die Türk*innen nunmehr als „Sündenbock“ für die
9Die Zahl der Muslime auf dem Balkan in der Periode vom 14.–19. Jh. vermehrte sich allerdings nicht nur durch Islamisierung, sondern auch durch Einwanderung und Ansiedlung von Muslimen aus Anatolien (vgl. Zhelyaskova 1999; Mutafchieva 1994).
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
angespannte wirtschaftliche Lage im Land präsentiert. Die Türk*innen verübten Sabotagen, sie wären eine Waffe in den Händen der westlichen Imperialisten, sie verließen uns, deswegen ist es zu dieser Krise gekommen, hieß es in der offiziellen Propaganda der Parteiführung. In diesem Kontext wurde am 09.05.1989 die Politik der Einschränkung der Reisefreiheit de facto revidiert. Durch die Öffnung der Grenzen verfolgten die Regierenden das Ziel, dass die ethnischen Türk*innen, die in Bulgarien lebten, das Land verlassen. In der Praxis ging es darum, ihre massenhafte Aussiedlung schnell zu organisieren (Büchsenschütz 2000, S. 176–183; Gruev und Kalyonski 2008, S. 176–193). In diesem Zusammenhang betonte die Justizministerin Svetla Daskalova, die den Entwurf zur Änderung des Gesetzes über das Passwesen vor dem Parlament vorstellte, dass für diese Veränderungen das Treffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien von Bedeutung war (Parlament 1989, S. 6–14). Aufgrund der Namensänderungen der ethnischen Türk*innen wurde Bulgarien außenpolitisch stark kritisiert. Das Land bekam keine Unterstützung für seine Assimilationspolitik, weder von den osteuropäischen Verbündeten, noch von den westeuropäischen Staaten. Dementsprechend suchten die Regierenden nach einem Ausweg aus den innen- und außenpolitischen Spannungen und fanden ihn in der Öffnung der Grenzen für die Ausreisewilligen. Ministerin Daskalova plädierte in ihrer Rede für die Möglichkeit, Mehrstaatlichkeit einzuführen und zweifelte „das Prinzip der Einstaatlichkeit“ an (ebenda, S. 8). Der Entzug der Staatsangehörigkeit sollte nur aufgrund eines Urteils möglich sein (ebenda, S. 10). Es waren Veränderungen im Strafgesetzbuch, im Gesetz über die bulgarische Staatsangehörigkeit, im Gesetz über die Reisepässe und im Gesetz über die Amnestie vorgesehen. „Erstens, das Recht, eine Auslandsreise nicht zu genehmigen, kann nur aufgrund der Richtlinien, die im Gesetz vorgesehen sind, erfolgen; zweitens, diese Richtlinien werden auf ein Minimum eingeschränkt; drittens, die Gründe zur Absage, die in der neuen Fassung des Art. 7 aufgezählt werden, sind nicht endgültig. Den passausstellenden Behörden wird das Recht eingeräumt, auch bei einer Absage den Fall abzuwägen und den Pass auszustellen; wenn die Gründe für die Absage nicht mehr vorliegen, muss ein Pass ausgestellt werden. Die passausstellenden Behörden müssen schriftlich begründen, auf welcher gesetzlichen Grundlage eine Absage für die Ausstellung eines Reisepasses oder eines Ausreisevisums erfolgt“ (ebenda, S. 11).
Neben diesen Änderungen schlug der Justizminister auch Änderungen im Strafgesetzbuch in Art. 280 und Art. 281 vor. Nach Art. 280 wurden die bulgarischen Staatsbürger*innen, die ohne triftige Gründe länger als drei Monate nicht ins
4.3 Überblick
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Land zurückkehren, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zu einer Geldstrafe bis zu 2000 Lewa bestraft. „Durch die Änderungen im Strafgesetzbuch wird die „Rückkehrverweigerung“, wie wir sie genannt haben, nicht mehr als Straftat angesehen. Sie wird weiterhin als eine Verletzung der administrativen Regelungen angesehen, die nur mit Geldbuße zu ahnden ist“ (ebenda, S. 12). „Die Personen, die wegen dieses Verbrechens bereits verurteilt wurden, können ohne Angst zurück nach Bulgarien kommen“ (ebenda, S. 12). Der Innenminister Georgi Tanev betonte in seiner Rede: „Jedem bulgarischen Staatsbürger werden bei Wunsch die notwendigen Unterlagen – Pass und Visum – ausgestellt. So wird jeder in der Lage sein, von seinem Recht Gebrauch zu machen“ (Parlament 1989, S. 14). „Ein Ergebnis dieser Änderungen wird sein, dass die bulgarischen Staatsbürger ihre Kenntnisse steigern werden, um eine effektive wissenschaftliche und wirtschaftliche Qualifizierung zu erwerben, sich zu spezialisieren, einen unmittelbaren Kontakt aufzubauen, die kulturellen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und anderen Errungenschaften der anderen Völker dieser Welt zu nutzen und gleichzeitig zu ihnen beitragen“ (ebenda, S. 15). Der Außenminister Peter Mladenov betonte, dass die Änderungen ein Zeichen der Spezifik der außenpolitischen Situation waren, die sich durch „die gemeinsame friedliche Existenz zwischen den Staaten unterschiedlichen gesellschaftlichen Systems, die sich nicht mehr im ideologischen Klassenkampf, sondern in einer aktiven Koexistenz und Partnerschaft bei Beachtung der menschlichen Interessen und Werte befinden“, auszeichnete (Parlament 1989, S. 21). Der Abgeordnete Vassil Kolarov thematisierte ein wichtiges Problem – die Möglichkeit frei zu reisen könne nicht verwirklicht werden, bis die bulgarische Zentralbank ausreichend Währungsmittel erworben hätte, die die Bulgar*innen frei umtauschen könnten (Parlament 1989, S. 43).
4.3 Überblick Die Analyse der Archivdokumente markiert deutlich die Tendenz eines Übergangs von einer geschlossenen Gesellschaft, die Wanderungsbewegungen strikt einschränkt, zu einer Gesellschaft, deren Grenzen aufgrund der veränderten innen- und außenpolitischen Umstände durchlässiger werden. Diese Öffnung der Grenzen erfolgt langsam und selektiv und ist streng kontrolliert vom Staat. Sie ist weder als Ergebnis einer individuellen Leistung, noch einer gezielten, organisierten, massenhaften Resistenz anzusehen. Vielmehr resultiert sie aus der internationalen Entwicklung: Eine Rolle spielen sowohl der Helsinki Prozess
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und insbesondere der internationale Druck auf Bulgarien, der im Zuge des sog. „Wiedergeburtsprozesses“ aufgebaut wurde, als auch das Ende des Kalten Krieges. Die Politik der Einschränkung der Wanderungsbewegungen hat eine andauernde Auswirkung auf die aktuelle Stellung der Migration in der heutigen bulgarischen Gesellschaft. Sie wird immer noch, und zwar ca. 30 Jahre nach dem Ende der Einschränkungen, als etwas Besonderes, als ein Privileg, eine Ressource und ein Zugang zu einer neuen Welt angesehen. Das Reisen, die Migration und die Mobilität haben einen sehr hohen Stellenwert in der heutigen bulgarischen Gesellschaft. Auf diese Besonderheiten wird in den nächsten Kapiteln eingegangen. Die Genehmigung zu Reisen war im Sozialismus als eine besondere Ressource angesehen. Personen, die gut positioniert waren und über ein breites Netzwerk von Bekannten und Verwandten verfügten, die Parteimitglieder waren, bekamen einen einfachen Zugang zur Möglichkeit, das Land zu verlassen. Die Ausstellung von Reisedokumenten unterlag keinen klaren Regelungen und erlaubte dadurch willkürliche Interpretationen. Diese gezielte Willkür öffnete die Tür zum Amtsmissbrauch. Durch die Sondergenehmigungen im Sozialismus wurde eine systemtreue Elite geschaffen und unterstützt. Sie bekam Privilegien, die den „einfachen“ Menschen nicht zustanden, z. B. private Reisen, Studium oder Dienstreisen ins Ausland. Diese Elite war bereit, das System und ihre Privilegien zu schützen. Um die wandernde Elite zu schützen, änderte der Staat den offiziellen Diskurs und begann systematisch zwischen „feindlicher“ und „nicht-feindlicher“ Migration zu unterscheiden. Die Besonderheiten der sozialistischen Gesellschaft führten zu einer Art „Nationalisierung“ der Migrationsbewegungen. Sie unterlagen einer strengen ideologischen Rahmung und praktischer Kontrolle vom Staat. Die Personen, die nicht reglementiert Bulgarien verlassen haben, unterlagen Sanktionen: Sie konnten zur Rückkehr gezwungen werden, ihre schriftliche Korrespondenz konnte gelesen, die Telefonate abgehört werden. Ihre Familienmitglieder, die im Land geblieben waren, konnten bestraft werden. Zum einen erfüllte das Schließen der Grenze die ideologische Notwendigkeit, die Überlegenheit des sozialistischen Systems nach innen zu demonstrieren. Zum anderen beschränkte das System die finanziellen Ressourcen, die notwendig wären, um die Reisen der Staatsbürger*innen zu ermöglichen. Die Analyse verdeutlicht, dass unterschiedliche Kategorien bulgarischer Staatsbürger*innen existierten – Personen, die das Land verlassen und Personen, die das Land regulär nie verlassen durften. Nicht die Staatsangehörigkeit, sondern
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien …
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die Parteizugehörigkeit und die Stellung innerhalb der Parteinomenklatura waren das Kapital, mit dem man den Zugang zur Migration bekommen konnte. Die Personen, die das Land verlassen haben, wurden kategorisiert: Diese Kategorisierung unterlag historischen Veränderungen. In den ersten Jahren nach 1944 wurden alle, die aus Bulgarien ausgewandert sind, als „feindliche Emigranten“ bezeichnet. Es wurden Maßnahmen zur Zwangsrückführung der emigrierten Bulgar*innen ergriffen. Die bulgarischen Bürger*innen, die im Ausland lebten, wurden aktiv von den Staatssicherheitsdiensten überwacht. In den 1960er und 1970er wurden in den Parteidokumenten die „feindlichen“ von den „wirtschaftlichen“ („nicht-feindlichen“) Emigrant*innen unterschieden. Die Sanktionen beim Verlassen des Landes wurden milder. In den 1980er Jahren wurden Strategien verabschiedet und Institutionen gegründet, die die gezielte Arbeit mit den Bulgar*innen im Ausland zur Aufgabe hatten. Eine wichtige Rolle für diese Veränderungen hatte die internationale Entwicklung: zum einen der sog. „Helsinki-Prozess“ und zum anderen das Ende des Kalten Krieges.
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien: Alltagspraxis Wie ist man im Sozialismus migriert? Waren Migrationsbewegungen überhaupt möglich? Welche praktischen Dimensionen nahmen die Wanderungen an? Eine Antwort auf diese Fragen geben die Erinnerungen und die persönlichen Erzählungen der migrierten Bulgar*innen. Die Narrative, die im Rahmen der durchgeführten Interviews gewonnen wurden, werte ich aus und suche dadurch eine Antwort auf die Frage, ob die Migrationsbewegungen in der damaligen Zeit als „Migration“ oder als „Mobilität“ typologisiert werden können. Es wird auch analysiert, inwieweit der Aufbau transnationaler Verbindungen zwischen Bulgarien und der DDR ebenso wie zwischen Bulgarien und der BRD möglich war. Die historisch-biografischen Rekonstruktionen, die durch die Interviews ermöglicht werden, sollen der Ausgangspunkt der Analyse der bulgarischen Migration nach Deutschland nach 1989 sein. Insgesamt wurden 15 biografische Interviews mit Menschen durchgeführt, die in Bulgarien in der Zeit des Sozialismus gelebt haben. Drei der interviewten Personen haben die Möglichkeit gehabt, dienstlich oder privat Bulgarien zu verlassen und danach nach Bulgarien zurückzukehren. Sieben Personen haben Bulgarien verlassen und sind nicht zurückgekehrt. Vier von ihnen sind in die damalige DDR als Arbeits- oder Heiratsmigrant*innen migriert, drei sind ohne
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Genehmigung der bulgarischen Behörden in die BRD eingewandert. Zwei Personen wurden daran gehindert, Bulgarien zu verlassen. Ihre Bedeutung für die Studie ergibt sich aus ihrer Erfahrung mit den zur damaligen Zeit existierenden Migrationseinschränkungen. Die biografischen Erzählungen sind einmalig in ihrer Spezifik und in ihren Details. Unabhängig von den unterschiedlichen Erlebnissen und sozialen Erfahrungen erkennen die Interviewten an, dass die Möglichkeiten, Bulgarien zu verlassen während der Zeit des Sozialismus stark eingeschränkt waren. Die Einschränkung war dabei nicht so sehr finanzieller, sondern eher politischer und ideologischer Art. In allen Interviews wird betont, dass es für die meisten bulgarischen Staatsbürger*innen, und zwar unabhängig vom sozialen Status und der hierarchischen Stellung in der sozialistischen Gesellschaft, mit hohen bürokratischen Hindernissen verbunden war, eine Genehmigung, d. h. einen Reisepass und ein Ausreisevisum, zu erwerben, um Bulgarien auch nur temporär zu verlassen. In vielen Fällen wurde keine Genehmigung erteilt. Gleichzeitig wird durch die Erzählungen die verbreitete Vorstellung in der bulgarischen Öffentlichkeit revidiert, dass die Migrationsbewegungen im Sozialismus komplett ausgeschlossen oder unmöglich gewesen sind. Die Möglichkeiten zur Verwirklichung bestimmter Migrationsbewegungen waren allerdings staatlich kontrolliert, organisiert, strikt beobachtet, sprich – vom Staat „nationalisiert“ oder „verstaatlicht“. Der Zugang zu den Migrationsmöglichkeiten ist mit einem bestimmten Kapital verbunden. Im Sozialismus war nicht das ökonomische, sondern das soziale Kapital der Akteure entscheidend (vgl. die Ausführung über das „sekundäre Netzwerk“ in Kap. 2, vgl. auch Deyanov 1992; Raychev 1992). Das soziale Kapital wurde durch die individuelle Parteizugehörigkeit und/oder durch die Zugehörigkeit zu einer „guten“, d. h. parteitreuen Familie, erhöht. Bei den im Sozialismus verwirklichten Wanderungsbewegungen werden die individuellen Präferenzen, Pläne, Wünsche bei der Bestimmung der Reiseroute, der Zeit oder überhaupt der Möglichkeit Bulgarien zu verlassen, kaum oder gar nicht berücksichtigt. Die Ausreisemöglichkeiten sind streng reguliert und nicht allgemein zugänglich. Diese Unzugänglichkeit wird ideologisch legitimiert.
4.4.1 Klassifizierung der Möglichkeiten zur Ausreise aus der Volksrepublik Bulgarien (1945–1989) Stark eingeschränkt, doch immerhin seit den 1970er Jahren einigermaßen zugänglich, war die Möglichkeit Bulgarien als Tourist zu verlassen. Diese Möglichkeit war staatlich kontrolliert und organisiert. Verantwortlich für die
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Organisation und Durchführung touristischer Reisen waren die Mitarbeiter des staatlichen Unternehmens „Balkantourist“, das im Jahr 1948 mit einem Beschluss des Zentralkomitees der Bulgarischen Kommunistischen Partei (ZK der BKP) gegründet wurde (vgl. BRP (k) 1948). Zur damaligen Zeit spielte „Balkantourist“ vor allem eine Rolle für die Organisation von Reisen ausländischer Staatsbürger*innen nach Bulgarien (vgl. Ivanova 2018). Das Ziel dieser Reisen war, dass der Staat einen Zugang zu internationalen Währungen erhält und dadurch die finanzielle Stabilität sichert. Diese Politik wurde bis zum Ende der sozialistischen Periode (1989) verfolgt. Ein Dokument aus dem Jahr 1960 wies die Bedeutung des internationalen Tourismus für die Wirtschaft Bulgariens nach (vgl. BKP 1960). In den 1970er Jahren wurde beschlossen, dass touristische Reisen für Bulgar*innen ins Ausland organisiert und angeboten werden sollen. „[…] es sollen Kommissionen zur Genehmigung dienstlicher und organisierter touristischer Reisen im Ausland gegründet werden. Eine Reise ins Ausland soll den Menschen genehmigt werden, die ihre politische und moralische Stabilität bewiesen haben, treue Patrioten sind und durch ihr persönliches Beispiel in der Arbeit, in der Sitte und durch ihre Überzeugungen in der Lage sind, Freunde des Sozialismus zu gewinnen; dadurch werden sie zu aktiven Faktoren, die von der Partei durchgeführte Politik etablieren“ (BKP 1977, S. 7). Die üblichen Reisemöglichkeiten wurden auf die osteuropäischen Länder eingeschränkt. Es handelt sich in der Regel um Pauschalreisen, die vom staatlichen Monopolisten „Balkantourist“ organisiert und angeboten wurden. „Warum sind wir mit dem Zug gefahren? Das wurde uns angeboten. Es gab keine Flugzeugreisen. Die ersten Flugzeugreisen wurden kurz vor dem Jahr 1980 angeboten – vor den Olympischen Spielen in Moskau. Und wir haben teilgenommen, wir waren da. Aber das war auch eine Pauschalreise“ (I 5).
Diese Reisen waren allerdings nicht allgemeinzugänglich. Zunächst war die Ausstellung eines Reisepasses mit einem Ausreisevisum notwendig. Das Ausreisen musste genehmigt werden. Interviewerin „Haben Sie zu Hause Reisepässe gehabt?“ Interviewte Person „Nein, natürlich nicht. Man hatte nur den Personalausweis und man musste mit dem Personalausweis zur Polizei und dort einen Antrag stellen. Du bringst den blauen Ausweis zur Polizei und sie entscheiden.“ Interviewerin „Also, man kann nicht einfach aufstehen und ausreisen?“
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Interviewte Person „Neeee. Auf keinen Fall. Mindestens einen Monat früher muss man das Visum beantragen. Und sie schreiben rein: ‚Es wird Ihnen eine Reise nach Deutschland genehmigt‘. Und du gehst erst dann ins Reisebüro und kaufst dir das Ticket. […] Und mit diesem Pass kannst du nur in Osteuropa reisen“ (I 20) Die Einschränkungen bezogen sich nicht nur auf die Ausreisen, sondern auch auf die Modalitäten des Aufenthaltes im Ausland. Die DDR wurde als „Füllhorn“ („рогът на изобилието“) angesehen und die touristischen Reisen verkamen oft zu „Einkaufsreisen“ mit dem Ziel, Mangelwaren zu erwerben „Doch sie geben einem nicht das nötige Geld, um Sachen zu kaufen. Man darf ja nur 30 Lewa umtauschen. Und du fährst in die DDR, du gibst deinen Reisepass, um das Geld zu wechseln und du bekommst die Mark. Aber das wird im Pass vermerkt und du kannst nicht mehr Geld wechseln. […] ja, es gab auch die Möglichkeit, dass sie es nicht vermerkt haben. Man durfte aber nicht mehr als 30 Lewa mitnehmen. Man hat mehr Geld quasi illegal mitgenommen und man hat es versteckt. Überall versteckt – in der Thermoskanne, im BH, in den Schuhen, in der Wäsche. Überall […] und wenn du ins Geschäft gehst, in Berlin gab es […] wie hieß es […] das Centrum Warenhaus am Alexanderplatz – und sie geben dir drei Stunden. Aber du kannst ja gar nichts kaufen, da du nur 30 Lewa hast. Was kannst du kaufen? Socken? Unterhosen? Und wenn du was Besseres kaufst, dann musst du es verstecken, damit die anderen das gar nicht sehen, denn sie würden sich ja fragen woher ich das Geld habe“ (I 7). Neben der illegalen Mitnahme von Geld hat man versucht, auch Mangelwaren aus Bulgarien einzuführen und sie irregulär zu verkaufen. „Meine erste Reise ins Ausland war im Jahr 1961. Wir fuhren in die DDR und hatten einen Gruppenpass. Du weißt, im Sozialismus hat man kaum Geld wechseln können und wir haben Zigaretten und Alkohol (Rakia, Liköre), Lederwaren (Lederhandschuhe), mitgenommen […] und am ersten Abend, an dem wir in Erfurt waren, haben wir versucht, die Sachen auf der Straße zu verkaufen. Damit wir ein paar Mark dazuverdienen. Es war so erniedrigend. Sehr erniedrigend. Du stehst auf der Straße und sprichst die Leute an“ (I 5).
Die Reisen sind streng von den staatlichen Institutionen kontrolliert. In den Reisegruppen fährt immer ein(e) Mitarbeiter*in der Staatssicherheit mit, der die Reisenden zu beobachten hat. Er/sie versucht in der Regel zu verhindern, dass Personen im Ausland verbleiben und dauerhaft migrieren.
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„In der Gruppe war immer ein Stasi-Mitarbeiter dabei, der uns verfolgt hat. […] Trotzdem sind die Leute geflohen. Wir haben gesehen, wie Leute abgehauen sind. Sie sind einfach nicht zum Frühstück gekommen. Sie waren weg“ (I 6).
Nach der Einschätzung der Interviewten sind die Reisen finanziell erschwinglich gewesen. „Jeder, der gearbeitet hat, konnte sich so etwas leisten“ (I 20). Neben den organisierten Gruppenreisen existierten auch individuelle Optionen, bei denen man nicht in einer Gruppe verreist, sondern individuell die Reise plante und organisierte. „Ich bin immer so gefahren. Ich habe einen Antrag gestellt, z.B. für eine Reise in die DDR. Und sie genehmigen ihn. Dann bin ich mit dem genehmigten Antrag zum ‚Rila‘-Reisebüro und dort habe ich Zugtickets gekauft. […] Man hatte keine Reservierung. Man ist vor Ort ins Hotel gegangen und hat gefragt, ob noch Plätze frei sind“ (I 1).
Die Möglichkeit, eine individuelle Reise zu organisieren, steht im Zusammenhang mit den individuellen Fremdsprachenkenntnissen. Allerdings war im sozialistischen Bulgarien das Erlernen von Fremdsprachen, abgesehen von der russischen Sprache, die obligatorisch in den Schulen erlernt wurde, mit Hindernissen verbunden. Der Zugang zu den Sprachschulen war sehr restriktiv – dieser war erst nach der 7. Schulklasse und nach Aufnahmeprüfungen möglich. Die Plätze in den Weiterbildungskursen für Erwachsene, z. B. im Fremdsprachenzentrum „Aliance Sofia“ oder in den kommunalen Sprachschulen, waren nur in einem geringen Umfang vorhanden. Eine weitere Möglichkeit, ins Ausland zu fahren, war der Besuch von osteuropäischen Bekannten oder Freunden. „Auf dem Campingplatz ‚Süd‘ an der Schwarzmeerküste haben wir Menschen aus Ungarn kennengelernt. Wir haben eine super Zeit gehabt. Nächsten Sommer haben wir sie in Budapest besucht, bei denen übernachtet. Dann sind sie zu uns nach Sofia gekommen. Und so… […] Auch in die Tschechoslowakei sind wir so gefahren – um eine tschechische Freundin zu besuchen, die in Sofia studiert hat“ (I 5). Diese nicht organisierten Reisen kamen oft mit dem eigenen PKW zustande. Als Hindernis wurde allerdings erwähnt, dass man das eigene Auto nicht nach Bedarf tanken konnte. Man konnte nur 30 Lewa pro Durchreiseland umtauschen. Diese Mittel waren nicht ausreichend, um die Reise komplett zu finanzieren. Aus diesem Grund nahmen die reisenden Personen Essen mit, man habe keine Souvenirs gekauft und man habe auch die Restaurants gemieden. Es war üblich Benzinkanister mitzunehmen, um das Tanken im Ausland, soweit es geht, zu vermeiden.
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Im Rahmen dieser Reisen werden den Reisenden die Unterschiede zwischen den einzelnen Ostblockländern deutlich. Von den Interviewten wird betont, dass die Bulgar*innen „ab und zu“ verreisen konnten, hingegen die Ostdeutschen „jedes Jahr“ nach Bulgarien kommen konnten. „In Leipzig, Dresden und Berlin hat man das Füllhorn gesehen. Die DDR war ein Schaufenster des Ostblocks – man hat dort alles gefunden, was man sonst nicht hatte“ (I 6). „Ein Großteil unserer Reisen nach Deutschland [gemeint ist die DDR, Hervorh. ML] hatten das Ziel, dass wir etwas kaufen. Oder damit wir einfach etwas sehen. Draußen konnten wir gar nicht essen, man hat sich Essen aus Bulgarien mitgenommen. Wir haben in privaten Wohnungen gewohnt, du machst dir am Morgen einen Kaffee und ein Sandwich und du läufst den ganzen Tag herum. […] Und mit diesem Geld kannst du nicht alles sehen – entweder Berlin oder Dresden. Beides geht nicht“ (I 5). „In Dresden haben wir in einem Heim übernachtet. In einer wohltätigen Organisation. Irgendein Kreuz oder Herz oder so etwas. Es ist heute für Ihre Generation sicherlich unwürdig so was zu machen. Aber wir haben es gemacht. Denn es war etwas Besonderes zu reisen“ (I 7).
Trotz der Einschränkungen, die aus der politischen Teilung Europas und aus der restriktiven Politik der osteuropäischen Länder resultierten, sind auch Reisen nach Westeuropa möglich gewesen. Als noch größer empfinden die Interviewten die Unterschiede in den nicht sozialistischen Ländern. „In Italien haben wir uns wirklich arm gefühlt. Wir haben gesehen, wie wir gelebt haben und wie sie gelebt haben. Was für Geschäfte sie hatten. Mit so schönen Klamotten. Und bei uns gab es gar nichts. […] Und wenn du zurück bist, hast du das Gefühl, dass du nicht in einem normalen Land lebst. Du fühlst dich betrogen“ (I 6). Aus diesem Interview wird deutlich, warum das Reisen in die westeuropäischen Staaten grundsätzlich eine Ausnahme sein sollte. Offensichtlich ist die Befürchtung der Regierenden berechtigt gewesen, dass der Kontrast zwischen Ost und West zu Unzufriedenheit und Spannungen führen könnte. Grundsätzlich waren in der Zeit des Sozialismus touristische Reisen nach West-Europa nicht gestattet. Interviewerin „Was würde passieren, wenn man einen Antrag stellt, um in den Westen zu verreisen?“ Interviewte Person „Du musst verrückt sein, um das zu machen. Das kommt dir überhaupt nicht in den Sinn. Du weißt, dass das nicht zugelassen wird. So wie es nicht möglich ist, dass das Huhn zum Hahn wird. Es ist schlicht und einfach nicht möglich“ (I 1)
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Trotz dieser Einschätzung, die auf subjektiver Erfahrung beruht, wurden auch touristische Reisen in den Westen durchgeführt. Eine 79-jährige interviewte Krankenschwester, erzählt von einer Schifffahrt nach Wien in den frühen 1970er Jahren. Die Reise wurde von Freundinnen organisiert, die zur Parteinomenklatura gehörten. „Ihre Ehemänner hatten hohe Positionen in der Partei inne. Und sie haben mich eingeladen, dass ich mitfahre. Ich war einmal mit ihnen und dann nie wieder. Sie haben es aber oft gemacht“ (I 7).
Für die Parteielite waren Reisen in den Westen nicht unmöglich. Dabei verlief auch das gesamte Verfahren der Beantragung des Reisepasses schnell und unkompliziert. „Ich habe keinen Antrag gestellt. Sie haben für mich den Pass beantragt und sie haben mich mitgenommen. Wie ein Baby. Nur Geld habe ich ihnen gegeben, damit sie die Reise für mich bezahlen“ (I 7).
Von bulgarischen Reiseagenturen wurden auch Pauschalreisen in den Westen angeboten, doch die Möglichkeit mitzufahren war strikt kontrolliert und eingeschränkt. Lediglich durch gute Beziehungen konnte man einen Platz bekommen. „Ich habe jemanden gefunden – der Freund meiner Freundin, der im Innenministerium gearbeitet hat. Und er hat für mich die Reise reserviert. Ohne ihn wäre ich nicht gefahren. Er musste eine Garantie unterzeichnen, dass ich zurückkomme. […] Trotzdem sind zwei Personen nicht zurückgekommen“ (I 20). Im Unterschied zu den Reisen nach Osteuropa, werden die Reisen in den Westen als „sehr teuer“ bewertet. „Im Jahr 1969 hat es 640 Lewa gekostet. Und mein Monatsgehalt war 100 Lewa. Es war sehr teuer. Ich musste mir Geld leihen, um mitfahren zu können. Aber so etwas macht man ja einmal im Leben. Dann leiht man sich auch das Geld, wenn einem so eine Reise genehmigt wird“ (I 55). Nicht alle nicht sozialistischen Ländern sind unzugänglich. Reisen nach Österreich, Griechenland, oder in die Türkei sind eher möglich, als Reisen nach Italien oder Frankreich. „In Plovdiv habe ich eine Anzeige gesehen für eine Reise nach Wien in einem Büro von „Balkantourist“. Und ich habe mich angemeldet. Da habe ich keine Beziehungen benötigt. Auch nach Istanbul oder in Athen war ich ohne Unterstützung. Aber nach Italien musste ich jemanden finden. Nach Paris bin ich gar nicht gefahren“ (I 7). Eine andere Möglichkeit in den Westen zu reisen war mit dem bulgarischen Autoclub „Touring Club“ verbunden. Als Mitglied dieses Clubs bekam man Tankgutscheine. Eine Genehmigung wurde allerdings auch durch Beziehungen
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
und Bekanntschaften erteilt: „Er war Arzt und er hat mich mitgenommen, denn er hatte ja kein Auto. Wir sind zu viert gefahren, er hatte Freunde bei der Polizei und sie haben uns die Genehmigung gegeben. Und ich bin mit dem Auto gefahren. Mit meinem Auto. Aber ohne ihn hätte ich nicht fahren können“ (I 20). Die Netzwerke und die Position, die man in ihnen einnimmt, sind entscheidend, um den Zugang zu bestimmten Ressourcen zu bekommen. Da die Genehmigung sehr schwierig zu erhalten war, war es sehr unüblich auf die Ausreise zu verzichten, sobald man eine Genehmigung bekommen hatte. „Mir wurde eine Reise genehmigt, ich habe aber im letzten Augenblick verzichtet mitzufahren. Ich wollte nicht ohne meine Freundin fahren und sie durfte nicht mit. Und sie haben mich bei der Polizei eingeladen und gefragt, warum ich nicht fahren will. Weil es für sie so unglaublich war, dass man nicht fahren will. Sie wollten doch sehen, ob ich alle Tassen im Schrank habe“ (I 5).
Grundsätzlich wurde das Reisen im Sozialismus vierfach eingeschränkt: Erstens ideologisch, zweitens finanziell, drittens durch das soziale Kapital („wenn ich Freunde hätte, die im Touring Club gearbeitet hätten, wäre ich jedes Jahr gefahren“ (I 20)) und viertens durch das kulturelle Kapital („Sehr wenige Leute haben Fremdsprachen gesprochen. […] Es gab viel zu wenig Kurse und sie waren auch nicht gut. Und man hatte auch keine Möglichkeit, die Sprache zu praktizieren. Es gab keine fremdsprachlichen Zeitungen oder Fernsehen“ (I 20)). Zwei dieser Einschränkungen – das ökonomische und das kulturelle Kapital – bleiben auch nach der Wende bestehen. Eine andere interviewte Person, 83 Jahre alt, Krankenpflegerin aus Sofia berichtet: „Alles war möglich. Man musste nur die richtigen Menschen kennen. 1986 bin ich nach Marokko gefahren, da ich den marokkanischen Botschafter in Bulgarien persönlich gekannt habe. 1988 war ich in Tunesien, organisiert von ‚Balkantourist‘, 1989 war ich in Frankreich für sechs Monate“ (I 20).
In einigen Fällen werden auch Verbote ausgesprochen. „Die Schwester meiner Ehefrau hat ihre Doktorarbeit in der Tschechoslowakei verteidigt. Wir waren eingeladen. Meine Frau durfte fahren, ich aber nicht. Sie haben mir keinen Pass gegeben. Wir durften nicht zu zweit fahren, zumal ich aus einer „schlechten“, aus einer „bürgerlichen“ Familie stamme“ (I 55). Die offiziellen Angaben der bulgarischen Statistik belegen, dass die Besucherreisen bzw. die touristischen Reisen von und nach Bulgarien auch in der sozialistischen Zeit möglich waren. Jedoch erhöhte sich die Anzahl der Ausreisen
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien …
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Tab. 4.1 Einreisen ausländischer Staatsbürger*innen und Ausreisen bulgarischer Staatsbürger*innen (1965–2008). (Quelle: Copyright Nacionalen Statisticheski Institut (2009a, S. 129) godini balgarska statistika [129 Jahre bulgarische Statistik]. Sofia: NSI, S. 47) Jahr
Einreisen ausländischer Staatsbürger*innen
Ausreisen bulgarischer Staatsbürger*innen
1965
1.083.935
207.912
1970
2.537.018
305.809
1975
4.049.348
675.228
1980
5.485.787
756.631
1985
7.295.244
533.367
1990
10.329.537
2.394.873
1995
8.004.584
3.524.039
2000
4.922.118
2.336.738
2005
7.282.455
4.234.866
2006
7.499.117
4.180.357
2007
7.725.747
4.514.547
2008
8.532.971
5.726.767
nach 1990 beträchtlich. Dieser statistische Vergleich belegt die Wahrnehmung der sozialen Akteur*innen, dass die Ausreise aus Bulgarien in der Zeit vor 1989 Restriktionen unterlag. Tab. 4.1 zeigt die Einreisen ausländischer Staatsbürger*innen und Ausreisen bulgarischer Staatsbürger*innen (1965–2008). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kurzfristigen touristischen Reisen einer strengen Kontrolle unterlagen und nicht allgemein zugänglich waren. Die Erinnerungen der sozialen Akteure ergänzen das im ersten Teil dargestellte Makrobild – das Reisen ins Ausland war eingeschränkt und unterlag einer besonderen Kontrolle. Zu reisen war nicht allgemein zugänglich, aber dennoch möglich. Die Erzählungen verdeutlichen und untermauern die These, die auch im ersten Teil entwickelt wurde: Es sind Veränderungen in der Ausreise- und Auswanderungspolitik festzustellen; die Periode 1945–1989 ist auch diesbezüglich nicht homogen. In den ersten Jahren und Jahrzehnten sind die Reise- und Wanderungseinschränkungen viel größer als in den 1980er Jahren, welche als die Zeit von „Perestroika“ und „Glasnost“ bekannt geworden sind und für eine größere politische und wirtschaftliche Öffnung der Ostblockstaaten stehen. Diese Besonderheiten galten in einem bestimmten Sinne auch für die anderen Formen der Wanderung ins Ausland.
82
4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
Eine weitere Wanderungsform war das Studium im Ausland. Heutzutage ist das Studieren an einer ausländischen Universität weit verbreitet. Nach Hochrechnung des bulgarischen Bildungsministeriums strebten im Jahr 2015 ca. 12 % der Abiturient*innen einen ausländischen Studienplatz an (vgl. Prochaskova 2015). In der Zeit 1945–1989 war das nicht der Fall. Die Möglichkeit, Bulgarien als Student*in zu verlassen, war äußerst eingeschränkt. Das Studium im Ausland war in einem Gesetz über die Hochschulbildung (vgl. Parlament 1948c) verankert, welches am 03.09.1948 verabschiedet wurde. Im Art. 40 ist zu lesen: „Die bulgarischen Bürger können nur an einer ausländischen Hochschule studieren, wenn sie die Genehmigung des Komitees für Wissenschaft, Kunst und Kultur bekommen und wenn sie die Aufnahmeprüfung im gleichen Studienfach an einer bulgarischen Hochschule bestanden haben. Die zweite Voraussetzung gilt nicht für bulgarische Staatsbürger, die permanent in Bulgarien wohnen“. Die Zulassung zum Studium im Ausland wurde offensichtlich nicht nur durch die akademische Leistung (bestandene Aufnahmeprüfung), sondern vor allem durch die „richtige“ Herkunft gewährleistet. Im Art. 40 ist zu lesen: „Als Studenten können keine Personen aufgenommen werden, die faschistische Betätigungen und Bestrebungen, die gegen das Volk gerichtet sind, aufweisen“. Dieser Text legitimiert die politische Willkür bei der Bestimmung des Zugangs zu einer Hochschule sowohl in Bulgarien als auch im Ausland. Die Zulassung zum Studium hängt auch von der Spezifik des aufnehmenden Landes ab. Eine Zulassung zum Studium in einem osteuropäischen Land wird einfacher ausgestellt als eine Zulassung zum Studium in einem westeuropäischen Land. Am 29.03.1983 verabschiedete das Politbüro des Zentralkomitees der Bulgarischen Kommunistischen Partei einen Beschluss zur Absendung Studierender, Doktoranden und Spezialisten zur Bildung und Spezialisierung in kapitalistischen Ländern (vgl. BKP 1983). Nach den Daten, die im Rahmen der Diskussionen vorgestellt werden, studierten in der Zeit 1970–1975 ca. 20.000 Bulgar*innen im Ausland, und zwar überwiegend in der UdSSR (BKP 1983, S. 1). Im Beschluss wurde betont: „unser Land sendet eine bestimmte Anzahl bulgarischer Bürger zur Bildung und Spezialisierung in einige gut entwickelte kapitalistische Staaten“ (ebenda). Es wird auch die Zahl genannt – 274 längerfristige und 1055 kurzfristige Spezialisierungen für die Zeit 1976–1980. Es wird allerdings betont, dass „gleichzeitig die Möglichkeiten zur Vorbereitung von Fachleuten in den entwickelten kapitalistischen Ländern in den begehrtesten Fachrichtungen und bei weltweit anerkannten Wissenschaftler*innen nicht komplett ausgenutzt werden. Die Anzahl der abgeordneten Student*innen und Doktorand*innen sei „ungenügend“. Aus diesem Grund wurde vorgeschlagen:
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien …
83
„Eine regelmäßige Absendung bulgarischer Student*innen, Doktorand*innen und Spezialist*innen zur Bildung und Spezialisierung in prioritären und viel versprechenden Disziplinen im Bereich der MINT (Physik, Chemie, Technologie, Mikroelektronik, Materialwissenschaften, Maschinenbau, Biotechnologie, Elektronik und Mikroelektronik, Robotik, elektronische Rechentechnik, Automatisierung der Produktion, Marketing, Organisation und Produktionsmanagement u. a.) in einigen kapitalistischen Ländern, in deren Universitäten, Hochschulen und Institute das Studium dieser Fachrichtungen auf einem hohen Niveau“ anzustreben (ebenda, S. 2). Es wurde eine Initiative zur Vorbereitung „bilateraler Abkommen und Pläne zum wissenschaftlichen und kulturellen Austausch“ und zur „direkten Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Hochschulen, Ministerien und Institutionen auf der Grundlage der Generalabkommen zur industriellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit“ gegründet. Es wurde vorgeschlagen, dass auch die internationalen Kontakte der Stiftung „Ljudmila Zivkova“ genutzt werden. Auch die Unterstützung bulgarischstämmiger Wissenschaftler*innen, die in den kapitalistischen Ländern arbeiten, sollte gewährleistet werden (ebenda, S. 3). Dieses Dokument war im Wesentlichen ein Beschluss zur Liberalisierung des Zugangs der bulgarischen Staatsbürger*innen zu ausländischen, nicht-sozialistischen Hochschulen. Ein Zugang hat auch vor der Verabschiedung des Dokuments bestanden – dies wird auch durch die im Dokument vorgestellten Daten deutlich. Wahrscheinlich sind es Kinder der hohen Parteinomenklaturaelite, der Diplomaten oder der ausländischen Handelsvertreter gewesen, die diese Privilegien genutzt haben. Der Zugang war allerdings nirgendwo reglementiert und erfolgte nicht öffentlich. Es handelte sich um eine administrative Willkür und um die Vergabe von Privilegien, die das System zusätzlich stützen. Die Aussagen der Interviewten untermauern diese These: „Studieren im Westen? Nur die Großen haben das gemacht. Wir wussten, dass es sowas gab, aber wir wussten nicht wie. Normalerweise in Osteuropa, in der UdSSR, ja, aber manche haben auch im Westen studiert“ (I 20).
Die Interviewten haben nie den Versuch unternommen, sich über die Studienbedingungen im Westen zu informieren, so unmöglich schien das damals. „Ich kenne nur Leute, die vor dem 09.09.1944 im Westen studiert haben, aber nicht danach. Danach kenne ich nur Menschen, die in der UdSSR, in Moskau studiert haben und sie haben die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen“ (I 20).
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus … „Sie haben uns nicht einmal die Möglichkeit gegeben in Bulgarien zu studieren, ganz zu schweigen vom Ausland“ (I 7).10 „Im Ausland zu studieren – da musst du parteitreu sein, musst du Kommunist sein […] I. hat im Ausland studiert, aber sein Vater ist Parteimitglied gewesen“ (I 6).
50 Jahre nach diesen Ereignissen und 25 Jahre nach der Wende deuten die Erzählungen immer noch auf die mangelnde Transparenz hin: Das Studium im Ausland war eher eine Ausnahme, die sehr restriktiv als eine Art Privileg vergeben wurde. Die Auswahl der Student*innen erfolgte nicht öffentlich, es handelte sich um Einzelfälle. Drei der interviewten Personen haben im Ausland studiert: Zwei von ihnen in der DDR und eine in der ehemaligen Tschechoslowakei. [I 56] begann sein Studium im Alter von 20 Jahren in Berlin, nachdem er das Gymnasium mit Auszeichnung abgeschlossen, den Wehrdienst in Bulgarien abgeleistet und erfolgreich die Aufnahmeprüfungen an der Technischen Universität (damals VMEI) Sofia bestanden hat. Als Student*in wurde er zugelassen, obwohl er aus einer „nicht vertrauenswürdigen Familie“ stammte. Das geschah aufgrund der „sehr guten Leistung“ (das wurde mehrmals betont im Interview). Auch ein Lehrer setzte sich für ihn ein. Trotzdem bekam er kein staatliches Stipendium, die Familie musste ihn während des Studiums finanziell unterstützen. I 56 erinnert sich: „Wenn du siehst, was für Leute ein staatliches Stipendium bekommen haben… Kinder der Parteinomenklatura. Den ganzen Tag haben sie Karten in der Cafete gespielt. Einige der Frauen sind auch nach dem ersten Semester schwanger geworden. Sie waren nur unter sich. Haben schlechtes Deutsch gesprochen. Unfähige Muttersöhnchen“ (I 56). Aufgrund der Dokumentenanalyse und der durchgeführten biografischen Interviews, lassen sich die folgenden Unterschiede festhalten: • Unterschiede bezogen auf den Ort des Studiums: in Ost- bzw. in Westeuropa. Wie Anna Krasteva vermerkt: „Die zweiten und die unteren Nomenklaturagrade hatten die Privilegien ihre Kinder zum Studium in die UdSSR zu schicken. Die Kinder der Top-Nomenklatura-Elite hatten die Möglichkeit, auch im Westen zu studieren“ (Krasteva 2014, S. 375).
10Die
Erinnerungen der interviewten Personen beziehen sich auf Art. 40 des Gesetzes für hohe Bildung. In diesem ist zu lesen: „Als Studenten werden Personen nicht immatrikuliert, die faschistische Aktivitäten oder andere Aktivitäten, die gegen das Volk gerichtet sind, ausüben“ (Parlament 1948a, S. 84).
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien …
85
• Unterschiede bezogen auf die Finanzierung: durch ein staatliches Stipendium bzw. durch die Unterstützung der eigenen Herkunftsfamilie; • Unterschiede bezogen auf die Kontakte am Studienort: mit Einheimischen, mit internationalen Studierenden vs. mit Studierenden der eigenen ethnischen Gruppe; • Unterschiede bezogen auf die Studienleistung: Student*innen, die einen erfolgreichen Abschluss erreicht haben bzw. Student*innen, die ihr Studium nicht abgeschlossen haben; • Unterschiede bezogen auf die „biografische Arbeit“, auf die Überarbeitung der Erzählung über das eigene Leben: Student*innen, deren Eltern zur Nomenklatura gehörten und die behaupteten, dass sie im Ausland studiert haben, da sie besser waren als andere Gleichaltrige, die wiederum betonten, dass die Auswahl nicht transparent gewesen ist, dass sie nicht zum Studium zugelassen wurden, dass man die Zulassung zum Studium im Ausland nur oder überwiegend aufgrund der Parteizugehörigkeit der Eltern erhalten hat. In allen Interviews dominiert der Stolz auf die erreichten Erfolge und auf die Überwindung der Schwierigkeiten und Entbehrungen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet nur bei denjenigen statt, die keine direkte Verbindung zur Parteinomenklatura hatten. Aber auch bei diesen Personen ist das Verhältnis zum bulgarischen Staatssicherheitsdienst kompliziert. Es wurden keine Angaben gemacht, aber es ist anzunehmen, dass in vielen, wenn nicht in allen Fällen eine Mitarbeit, insbesondere bei denjenigen, die nicht zur Nomenklatura-Elite gehörten, eine Voraussetzung für die Zulassung zum Studium war. Auf diese Frage wird, trotz des Nachfragens der Interviewerin, von den Interviewten nicht eingegangen. Die Interviewten können sich entweder nicht erinnern, möchten, dass das Gespräch nicht aufgezeichnet wird oder wechseln das Thema. Typische „Ausredestrategien“ sind: • Der allgemeine Zeitgeist und die Unmöglichkeit des Einzelnen, daran etwas zu ändern: „so waren halt die Zeiten“, „es ist üblich gewesen“, „man konnte gar nichts machen“; • Der Zwang: „man hat uns gezwungen“, „ansonsten hätte ich gar nicht studieren dürfen“; • Das Unwissen als eine Art „Aufarbeitung“ (man glaubt, es nicht gewusst zu haben): „man hat uns etwas zu unterzeichnen gegeben, ich weiß nicht genau was“, „ich kann mich nicht genau erinnern, es waren so viele Unterlagen bei der Zulassung“, „ich weiß nicht, ich kann mich nicht genau erinnern“;
86
4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
• Man hätte niemanden geschadet: „Ja, aber wir haben nichts gemacht, nur etwas unterzeichnet“, „Ich habe niemanden verraten“; • Man hätte etwas „für die Heimat“ gemacht: „Wir haben gedient“, „Ich habe für unser Land gearbeitet“; • Die Bedeutung dieser Zusammenarbeit wird heruntergespielt: „mit oder ohne diese Erklärung, wir waren trotzdem die Besten; sie haben nur die Besten ins Ausland geschickt“, „Das war alles pro forma […] war nicht so ernst“; • Die Eigeninitiative wird infrage gestellt. Man hat das Studium nicht selbst organisiert, man wurde „geschickt“: „ich wurde ins Ausland geschickt“. Eine weitere Möglichkeit, sich regulär im Ausland aufzuhalten, ist mit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verbunden11. In der Zeit 1945–1989 war die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten, sehr eingeschränkt. Als Teil des Ostblocks hat Bulgarien keine Verträge zur Anwerbung von Arbeitskräften mit den westeuropäischen Ländern geschlossen. Dementsprechend konnten die Bulgar*innen nicht als „Gastarbeiter“ das Land verlassen und in Deutschland oder den anderen westeuropäischen Ländern tätig sein. In den Einzelfällen, in denen Bulgar*innen im Ausland arbeiteten, handelte es sich entweder um Personen, die das Land irregulär verlassen haben und ohne Genehmigung der bulgarischen Behörden im Ausland lebten oder um Personen, die von der Partei ins Ausland abgesandt wurden, um dort für den bulgarischen Staat zu arbeiten. Im zweiten Fall ist umstritten, inwieweit es sich um ein Arbeitsverhältnis im Ausland im engeren Sinne handelt. Im klassischen Arbeitsmodell wird ein Arbeitsvertrag zwischen dem/der Arbeitnehmer*in und dem/der Arbeitgeber*in ausgehandelt und abgeschlossen. Im Fall der abgesandten Arbeitnehmer*innen aus Bulgarien wurde sowohl die Bezahlung, als auch die Dauer der Beschäftigung und der Arbeitsort vom Staat vorgegeben. Der Staat agierte als Mittler zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen und bestimmte die Arbeitsbedingungen mit. Die Erwerbstätigkeit der Bulgar*innen im Ausland kann typologisiert werden: Zum einen können die regelmäßigen Auslandsdienstreisen von Personen erwähnt werden, die in internationalen Speditions- oder in Transportunternehmen beschäftigt waren. Zu diesen Unternehmen zählen z. B. die nationale Fluggesellschaft „BGA Balkan“, die Bulgarische Eisenbahn (BDZ), die internationalen
11Über
die Erfahrungen der Migrant*innen und der Vertragsarbeiter*innen in der DDR vgl. Zwengel (2011, 2017).
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien …
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Logistikunternehmen (TIR) und die Schiffstransportunternehmen („Okeanski ribolov“, „Bulgarsko rechno plavane“). Zum Zweiten sind die kurzfristigen und unregelmäßigen Dienstreisen, z. B. Künstler*innen-Tourneen, Erfahrungsaustauschreisen, Kongresse, Konferenzen etc., zu nennen. Zum Dritten kann analytisch die Gruppe der Bulgar*innen genannt werden, die im Rahmen der sozialistischen Entwicklungszusammenarbeit in Ländern wie Angola, Syrien, Irak, Libyen, Kuba etc. beschäftigt waren. Viertens wurden Bulgar*innen als Mitarbeiter in diplomatische und Handelsvertretungen des Landes entsandt und sowohl in den Ländern des Ostblocks als auch in anderen Ländern mittel- oder längerfristig beschäftigt. Im Folgenden werden die einzelnen Gruppen analytisch dargestellt. A) regelmäßige Auslandsdienstreisen (Mitarbeiter*innen von Transport-, Logistik-, und Speditionsunternehmen) Diese Tätigkeiten waren aufgrund der Möglichkeit, Bulgarien regelmäßig zu verlassen, sehr begehrt. Die Beschäftigung an solchen Unternehmen war, nach Angaben der interviewten Personen, mit einer Prüfung der Loyalität zum System und ggf. mit der Mitarbeit für den Staatssicherheitsdienst verbunden. Dennoch war der Andrang groß und die Aufnahmevoraussetzungen hoch. Ein ehemaliger Flugbegleiter, der bei der bulgarischen nationalen Fluggesellschaft beschäftigt war, erzählt: Interviewte Person „Ja, ich war Steward bei ‚Balkan‘12. Die Bedingungen sind wie jetzt – physische Ausdauer, kein hoher Blutdruck, starke Belastungsfähigkeit, jung und schön sein (lacht).“ Interviewerin „Warst du Parteimitglied?“ Interviewte Person „Ja, natürlich. Das war aber […] ohne das ging es ja gar nicht. Nur, viele waren Parteimitglieder und es hat trotzdem nicht bei jedem geklappt […] Ich habe es geliebt zu reisen. […] sonst wäre es nicht gegangen. Ich hätte auch abhauen können. Ich bin jede Woche in Frankfurt gelandet. Habe ich aber nicht gemacht. Ich habe mich so wohl gefühlt“ (I 59).
12BGA
ML).
„Balkan“ ist der Name der bulgarischen staatlichen Fluggesellschaft (Hervorh.
88
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In einem anderen Interview wird über eine Person im Freundeskreis berichtet, die im staatlichen Schiffsunternehmen „Okeanski ribolov“ gearbeitet hat. „Er hat im Schiff gearbeitet, in „Okeanski ribolov“. Er war in San Francisco, noch in den 1980er Jahren. Er hätte dortbleiben können. Das hat er aber nicht gemacht“ (I 57).
Diese Erzählungen verdeutlichen, dass längst nicht jeder, der die Möglichkeit hatte auszureisen, auch bereit war, Bulgarien für immer zu verlassen und irregulär im Ausland zu bleiben. Dieser Befund bestätigt die Annahme der klassischen Migrationstheorien, nach der die Entscheidung zu migrieren, letztendlich das Ergebnis einer individuellen Berechnung der positiven und negativen Seiten der Wanderung ist. Gerade bei Menschen, die Privilegien in einem sozialen System genießen, ist nicht zu erwarten, dass sie auf diese Privilegien verzichten und sich für das unsichere Leben der irregulären Migrant*innen entscheiden. B) kurzfristige Dienstreisen (Gastspielreisen von Künstler*innen, Erfahrungsaustausch, Kongresse, Konferenzen, etc.) Diese Möglichkeiten wurden Wissenschaftler*innen, Musiker*innen, Künstler*innen, Ingenieur*innen, Ärzt*innen etc. angeboten. Die Anzahl der Personen, die Gebrauch von diesen Möglichkeiten machen wollten, war viel höher als die zur Verfügung stehenden Plätze. Die Auswahlbedingungen waren kompliziert – neben den professionellen Eigenschaften, musste man eine Reihe informeller Voraussetzungen erfüllen, z. B. die Parteimitgliedschaft, eine „gute“, d. h. zum Staat loyale Herkunft, Bereitschaft zur Kooperation mit den Staatssicherheitsdiensten, ggf. Bürgschaft vonseiten einer Person, die „parteitreu“ oder „loyal zum Staat“ war. In den meisten Fällen konnten die Familienmitglieder bei diesen kurzfristigen Dienstreisen nicht mitgenommen werden. Die folgenden Interviewabschnitte verdeutlichen diese Thesen: „Ich habe bei der Oper gearbeitet. Es steht eine Gastspielreise in Griechenland bevor. Sie ist fest eingeplant. Jeder will hin. Mein Chef hat mich ausgewählt und hat mir gesagt, dass ich dabei bin. Die Liste wurde herausgegeben und … ich bin doch nicht dabei. Ich habe gefragt und dann hat man mir geantwortet, dass ich nicht da bin, da ich ein Sohn eines ‚Feindes des Volkes‘ bin. Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Zwei Tage später klingelte das Telefon. Er hat mich zu sich gerufen. Bin ich ins Kabinett reingegangen. Und da saß ein Typ, offensichtlich ein Stasi-Mitarbeiter. Und der Direktor sagte ihm: ‚Schau mal, das ist der Genosse. Er muss mitfahren. Ich garantiere für ihn‘. Zwei Tage später habe ich den Reisepass
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von der Personalabteilung erhalten. Das war die erste Tournee. Danach hatte ich nie Probleme – ich bin dreimal nach Italien, fünfmal nach Spanien, einmal sogar nach Ägypten mitgefahren. Damals war das wie eine Goldgrube“ (I 57).
Die Arbeitsmöglichkeiten im Ausland waren allerdings überwiegend kurzfristig. Eine längerfristige Beschäftigung in einem westeuropäischen Land war eine absolute Ausnahme. Interviewerin „Gab es im Sozialismus die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten?“ Interviewte Person „Absurd! Ich war nur bei einem Erfahrungsaustausch in der DDR.“ Interviewerin „Was bedeutet ‚Erfahrungsaustausch‘?“ Interviewte Person „Fünf Arbeiter aus Bulgarien fahren in die DDR und verbringen eine Woche in einem Betrieb. Oder zwei Wochen. Je nachdem. Und dann kommen fünf Arbeiter aus der DDR nach Bulgarien. Das wars.“ Interviewerin „Und wie wurden sie gewählt?“ Interviewte Person „Das weiß keiner. Der Chef hat es entschieden“ (I 58) Bei kurzfristigen Reisen ins Ausland war die Auswahl der Mitarbeiter, die mitfahren dürfen, nicht transparent. „Der Chef entscheidet“ – die Formel, nach der die Auswahl erfolgte, und die in den Interviews genannt wird. Es gab jedoch keine Kriterien, keine Ausschreibungen, kein öffentlicher und transparenter Wettbewerb. Die Information über eine bevorstehende Reise war nicht einmal allgemein zugänglich: „Grundsätzlich bist du nicht informiert, dass es so etwas gibt. Es ist nicht öffentlich. Keiner weiß es. Der Chef kommt und sagt es dir. Und keiner darf es erfahren. Es herrschte Misstrauen. Entweder sagt man erst im letzten Moment vor der Abreise, dass man fahren wird oder man sagt es niemanden. Ich habe es niemandem gesagt. Nur meiner Frau. Und wenn man mich anruft, dann sagt sie, ich sei auf Dienstreise. Aber sie sagt nicht wo. Damit man dich nicht beneidet. Denn wir hatten einen Kollegen, er musste nach Algerien. Und sie haben ihn im Flugzeug verhaftet. Und er konnte nicht fliegen, obwohl es ihm gestattet wurde, mitzufliegen. Denn er hätte gesagt, er würde nie zurückkommen, wenn er nach Algerien fliegen würde. Und sie haben nicht zugelassen, dass er hinfliegt. Sie haben ihn vom Flieger aussteigen lassen“ (I 58).
C) Entsendung von Vertragsarbeiter*innen im Rahmen der sozialistischen Entwicklungszusammenarbeit
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
Eine weitere Möglichkeit, als Erwerbstätige Bulgarien zu verlassen, war mit einer Beschäftigung im Rahmen der sozialistischen Entwicklungszusammenarbeit verbunden. Schon in den 1950er Jahren wurde in verschiedenen parteiinternen Gremien der Bulgarischen Kommunistischen Partei die Möglichkeit diskutiert, dass bulgarische Unternehmen und Experten in den Ländern des Nahen und des Mittleren Ostens tätig werden sollten. Zum einen sollten sie den politischen und ideologischen Einfluss Bulgariens, und damit des Ostblocks, in diesen Ländern13 festigen. Zum anderen hätte diese Mitarbeit dazu beitragen, die Staatskassen mit konvertierbarer Währung zu füllen. Die Verträge wurden nicht individuell zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber abgeschlossen, sondern der bulgarische Staat agierte als Mittler. Es wurden Verträge zwischen Bulgarien und dem jeweiligen Entwicklungsland abgeschlossen. Bulgarien wählte die Mitarbeiter*innen aus, schloss Verträge mit ihnen ab und entsandte sie ins Ausland. Dabei behielt das Land einen Teil der einzelnen Gehälter und profitierte nicht nur ideologisch und außenpolitisch, sondern auch finanziell von dieser „Entwicklungszusammenarbeit“. Für die Fachleute, die sich für diese Tätigkeit entschieden haben, war der Vertrag trotzdem lukrativ, da er der jeweiligen Person und ihrer Familie einen ein- bis dreijährigen Aufenthalt im Ausland sicherte. Mit dem Gehalt ließ es sich vor Ort gut auskommen und mit Ersparnissen nach Bulgarien zurückkehren. Im Jahr 1958 wurde parteiintern über die ersten Verträge diskutiert: „Wir haben angeboten, dass wir aktiv als Lieferanten und beim Bau kompletter Unternehmen für die schwach entwickelten kapitalistischen Länder, insbesondere aus dem Mittleren und Nahen Osten, herangezogen werden“ (BKP 1958, S. 85). Die ersten Planungsarbeiten sowie die geologischen und baulichen Tätigkeiten, die von bulgarischen Ingenieurunternehmen übernommen wurden, erfolgten im Jahr 1956 (BKP 1972, S. 9). Im Dokument wird vermerkt: „Bulgarische Ingenieure, Architekten, Ärzte, Zahnärzte, Agrarfachleute und andere Fachleute unterstützen aktiv eine Reihe arabischer Länder […] Auch mit dem Austausch wissenschaftlicher Mitarbeiter wurde begonnen“ (ebenda, S. 10). Die Analyse des Dokuments deutet auf den großen Maßstab der geplanten Zusammenarbeit mit den einzelnen arabischen Ländern hin: Syrien, Irak, Ägypten, Algerien, Libyen und Tunesien. In der Verwirklichung dieser Planung waren bulgarische Angestellte involviert, die für eine bestimmte Zeit – zwei, drei oder vier Jahre – abgeordnet wurden und im jeweiligen Land arbeiten sollten.
13Es
handelt sich um Länder wie Tunesien, Libyen, Algerien, Irak, Syrien, Angola und Kuba.
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Nach Daten, die im Parlament vom damaligen Parteivorsitzenden und Präsidenten des Landes Todor Zivkov vorgestellt wurden, erreichte die Anzahl der in arabischen Ländern arbeitenden Bulgar*innen bis zum 27.04.1979 ca. 4500 Personen (Parlament 1979, S. 80). Diese Quasi-Gastarbeit war nicht transparent organisiert. Bei der Auswahl wurden Menschen bevorzugt, die verheiratet oder älter waren. So sollte verhindert werden, dass die jeweiligen Menschen irregulär länger im Ausland verbleiben oder nicht nach Bulgarien zurückkehren. „Es wurden Leute ausgewählt, die verheiratet sind. Manchmal wurde nicht zugelassen, dass die ganze Familie mitfährt, sondern nur der Vater. Oder auch ältere Menschen. Wenn man alt ist, will man nicht abhauen. Was wird er denn machen? Die jüngeren wollen weg. Die älteren eher nicht. Und sie schicken die älteren, die nach dem Ende des Vertrags nach Bulgarien zurückgehen. Denn die wollen ja zurück“ (I 58).
In der Tat kamen die meisten dieser Quasi-Gastarbeiter zurück. Dies untermauert die These, dass die Wanderung ein Ergebnis einer rationalen Entscheidung ist und es sich für Menschen, die privilegiert sind, nicht lohnt, das System zu verlassen und den unsicheren Weg eines klassischen Migrant*innen zu wählen. In der Erzählung eines Interviewten wird darüber berichtet, dass die Mitarbeiter ins Ausland „geschickt“ wurden, als wären sie keine Subjekte, die über ihr Leben entscheiden. „Es gab Abkommen zwischen den Staaten. Und sie schicken dich für zwei – drei Jahre“ (I 67).
In den Interviews werden die Arbeitsbedingungen aus der heutigen Perspektive kritisiert. Damals wurden sie dennoch als sehr attraktiv empfunden – die Bezahlung ist viel besser als jene in Bulgarien. Man konnte Geld sparen und nach der Rückkehr Mangelwaren oder sogar Immobilien erwerben. Auch die Erfahrung im Ausland gelebt und gearbeitet zu haben, war in einem Land mit sehr stark eingeschränkten Reisemöglichkeiten wie Bulgarien, symbolisch sehr hoch bewertet. Aus heutiger Perspektive behaupten die Interviewten, die diese Erfahrung gemacht haben, dass ihr Aufenthalt im Ausland „eine Ausbeutung“ war. „Wenn ein Pole 2000 Dollar erhalten hat, haben wir lediglich 500 Dollar bekommen. Die anderen 1500 Dollar hat der Staat kassiert. […] Es war aber trotzdem sehr
92
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viel – mit diesem Geld konnte man ein Auto von „Corecom“14 kaufen. Oder eine Wohnung oder Jeans oder eine Stereo-Anlage, die damals keiner hatte“ (I 67). Die interviewten Personen sahen sich nicht in der Lage, Eigeninitiative zu ergreifen. Es ist nicht möglich gewesen, selbstständig zu agieren und sich selbstbestimmt eine Stelle zu suchen. „Es ist nicht möglich gewesen, dass ich allein nach Arbeit suche und zu sagen, ich würde in Polen arbeiten. Oder in der DDR. Theoretisch hätte es sein können, dass es doch möglich gewesen ist. Aber das System war so, dass man gar nicht auf die Idee gekommen ist, zu fragen. Ich kenne niemanden, der selbst nach Arbeit im Ausland gesucht hat und selbst einen Vertrag unterzeichnet hat […] Vielleicht hat uns das System so passiv gemacht. So unterdrückt. Mir ist nie in den Sinn gekommen, es zu versuchen. Man hat uns nicht einmal erlaubt, die Tomaten am Markt auszusuchen. Sie bieten dir nur eine Sorte Fleisch, eine Sorte Oliven. Wenn es die überhaupt gibt. Und du diskutierst nicht. Du fragst nicht. Du nimmst das, was es gibt. Sowohl auf dem Markt, als auch im Leben“ (I 57). „Alles ist staatlich. Der Staat diktiert. Du überlegst gar nicht. Er gibt vor. Du bist wie ein Roboter. Es kommt nicht darauf an, dich als Persönlichkeit zu verwirklichen, Initiative zu ergreifen. Deswegen machst du nichts. Du wartest. Und so vergeht das Leben“ (I 56).
Interviewte Person „Du brauchst immer ein Empfehlungsschreiben von dem Arbeitgeber. Wer würde dir so ein Schreiben geben, wenn du ins Ausland gehen willst? Keiner.“ Interviewerin „Haben Sie es versucht?“ Interviewte Person „Neee. Man … es macht keinen Sinn überhaupt zu überlegen, ob es sich lohnt, das zu versuchen. Der Direktor entscheidet. Er bestimmt, wer gehen würde, wenn überhaupt Möglichkeiten da sind“ (I 58). Diese kritischen Aussagen verdecken allerdings die Tatsache, dass es in der damaligen Zeit wahrscheinlich technisch nicht möglich gewesen ist, im Ausland nach Stellen zu suchen. Man interpretiert die Möglichkeiten, die man damals hatte, aus der Perspektive der heutigen Zeit. Allerdings erreichte die
14Eine
bulgarische Handelskette, die Waren aus dem Westen nach Bulgarien importierte und gegen US-Dollar in Bulgarien verkaufte. Da der Zugang zu konvertierbaren Währungen in Bulgarien sehr eingeschränkt war, galt es als besonderes Privileg, bei dieser Handelskette etwas kaufen zu können.
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien …
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kommunikative Verbundenheit in den 1960er, 1970er oder 1980er Jahren selbst in den offenen Gesellschaften nicht den heutigen Stand. Hinzu kommt die relative sprachliche Geschlossenheit zur damaligen Zeit. Für einen Bulgaren/für eine Bulgarin ist wahrscheinlich auch aus diesem Grund undenkbar gewesen, nach Stellen in Rumänien, in der Tschechoslowakei, in Polen oder in Ungarn zu suchen. D) Eheschließungen mit ausländischen Staatsbürger*innen Eine andere Möglichkeit, Bulgarien reglementiert zu verlassen, sind die Eheschließungen mit ausländischen Staatsbürger*innen. Relativ verbreitet in der sozialistischen Zeit waren die Eheschließungen mit Bürger*innen anderer osteuropäischer Staaten. Die Eheschließungen mit Staatsbürger*innen aus den nicht sozialistischen Ländern wurden allerdings einer besonderen Kontrolle unterzogen. Kontakte mit ausländischen Bürger*innen, besonders aus westeuropäischen Ländern, zu knüpfen, war relativ schwierig – zum einen aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse, zum anderen wegen der Gefahr, angeklagt zu werden, mit ‚Feinden‘ zu kommunizieren. Immerhin gelang es mehreren Tausend Bulgar*innen, eine Ehe zu schließen und auf diese Weise Bulgarien zu verlassen (vgl. Nacionalen Statisticheski Institut 2009a). Zum Teil ist das Schließen einer Bekanntschaft, die zur Ehe führen könnte, ein Ergebnis strategischer Planung. „Eine Kollegin von mir hat Deutsch gelernt und hat jeden Sommer am „Sonnenstrand“ („Slanchev Brjag“, ein Kurort an der bulgarischen Schwarzmeerküste, Hervorh. ML) verbracht. Sie wollte unbedingt einen westdeutschen Mann finden und heiraten. Sie hat Urlaub genommen und war jeden Sommer da. Und hat jemanden aus Stuttgart geheiratet. Und ist nach Deutschland gezogen. Später hat sie sich scheiden lassen“ (I 58).
E) Irreguläre Auswanderung Neben den regulären Auswanderungsformen existierten auch irreguläre. Darunter wurden sowohl die regulären Wanderungen ohne (rechtzeitige) Rückkehr als auch die Auswanderung ohne Genehmigung statistisch erfasst. Bei der irregulären Auswanderung wurden die Landesgrenzen und auch die Seegrenzen genutzt. „Er war auf einer Reise, mit dem Schiff. Und während eines Haltepunktes auf dem Mittelmeer ist er ausgestiegen, irgendwo in der Türkei und hat wohl dort irgendwie eine Möglichkeit bekommen, nach Deutschland zu fliegen. […] Deswegen war es so schwierig, dass man reisen darf. Sie hatten Angst, dass die Leute nicht zurückkommen“ (I 57).
94
4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus … „Der Bruder von X hat den Grenzbaum gebrochen. Mit seinem Auto. An der Grenze zwischen Jugoslawien und Bulgarien. Er hat alles riskiert. Aber er hat es geschafft“ (I 67). „Der Bruder von Y ist in einer Kiste versteckt gewesen, in einem LKW“ (I 56). „Ich kenne zwei Brüder, sie sind über die Grenze geflohen und sind nach München gezogen“ (I 55).
4.4.2 Systematische Typologie der Ergebnisse Für viele Menschen, die im Sozialismus geboren und aufgewachsen sind, war die sozialistische Zeit eine Gegebenheit, die nicht zu hinterfragen war: „Im Sozialismus weißt du es – so wie du als Mann oder Frau geboren wurdest und du dein Geschlecht nicht ändern kannst, so kannst du dieses Regime nicht ändern und nicht stürzen“ (I 56).
Dementsprechend groß war die Bereitschaft, sich mit dem System zu arrangieren, seinen Platz zu finden und die Möglichkeiten, die einem angeboten wurden, anzunehmen. Im Sozialismus wurde das Soziale und das Politische quasi naturalisiert. Zusammenfassend kann ich die bulgarischen Staatsbürger*innen nach ihren Möglichkeiten bzw. nach den Einschränkungen, das Land zu verlassen, typologisieren, um die versteckte Hierarchie, die hinter den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zur Ressource ‚Wanderung‘ steht, sichtbar zu machen. Aus der durchgeführten Analyse entwickle ich die folgende Typologie: Die erste Kategorie bilden die Nicht-Mobilen. Das sind Menschen, die das Land regulär gar nicht verlassen durften. Zu dieser Gruppe gehörten die sog. ‚Feinde des Volkes‘, ‚Kinder der Feinde des Volkes‘, ‚Verwandte feindlicher Emigrant*innen‘. Die zu dieser Kategorie zählenden Personen konnten das Land nie verlassen, obwohl ihnen das de jure nicht ausdrücklich verboten war. Dennoch waren die juristischen Regelungen der Wanderung so schwammig verfasst worden, dass sie stets einer Auslegung bedurften. Und die Auslegung erfolgte bei Menschen, die als ‚Feinde des Systems‘ galten, nicht im Sinne der Antragssteller*innen. In den ersten Jahren nach 1945 sind die Einschränkungen viel strenger als in den späteren Jahren gewesen. In den 1980er Jahren konnten auch Personen, die zu der Gruppe der ‚Feinde des Volkes‘ zählten, unter Umständen die Genehmigung erhalten, das Land zu verlassen. Dazu mussten sie allerdings andere Ressourcen aktivieren, z. B. Bekanntschaften, Freundschaften, Geld, etc. oder sich als besonders ‚treu‘ und ‚loyal‘ gegenüber dem System erweisen.
4.4 Migration und Mobilität im sozialistischen Bulgarien …
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Zu den Nicht-Mobilen gehörten aber auch Personen, die sehr nah an der Macht waren, z. B. Menschen, die bei der Armee gearbeitet haben, Personen, die zum Staatssicherheitsapparat gehörten sowie ihre Verwandten. Aufgrund ihres Berufs durften sie das Land nicht verlassen, damit keine geheimen Informationen verraten wurden. Dieser Gruppe standen aber Privilegien zu, die die fehlende Mobilität zumindest teilweise kompensierten. Zur zweiten Kategorie gehörten die teilweise Mobilen. Das sind Personen, die temporär, aufgrund von touristischen oder dienstlichen Reisen oder zu Bildungszwecken das Land verlassen durften. Dazu gehörten die Bulgar*innen, die nach vorheriger Genehmigung, gelegentlich ausreisen durften. Grundsätzlich kann man zwischen den Personen, die in Osteuropa gereist sind und Personen, die in die sog. „kapitalistischen Länder“ fahren durften, unterscheiden. Auch die Stufe der Organisation der Reisen ist zu unterscheiden. Bei den touristischen Reisen sind bspw. Pauschaltouristen und privat reisende Personen, zu trennen. Nach der Dauer des Aufenthalts kann ebenso unterschieden werden. Längerfristig konnten die Tätigkeiten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, der diplomatischen Arbeit sowie Studienaufenthalte sein. Zu den kurzfristigen Reisen zählten Dienstreisen und touristische Reisen. Vollständig mobile Menschen existierten im Rahmen des sozialistischen Systems nicht. Selbst die Reisen der mobilsten Menschen, die zur Parteielite und zur Parteinomenklatura gehörten, unterlagen Genehmigungen und sind an die Position des jeweiligen Menschen gekoppelt. Verlor die Person die jeweilige Position in der Hierarchie, gingen auch die Privilegien verloren. Eine selbstständige und selbstbestimmte Mobilität, bei der die mobile Person frei über alle Aspekte (Zeit, Dauer, Ort, Art) der Mobilität entscheiden konnte, war im Sozialismus nicht vorhanden und nicht vorgesehen. Es ist grundsätzlich fragwürdig, inwieweit die freie Mobilität auch in anderen Gesellschaftssystemen existiert(e). Die Mobilität unterlag und unterliegt, historisch gesehen, immer strukturellen Rahmungen, z. B. die geografische Entfernung, die nicht zu überwinden ist, da die Transportmittel fehlen, die finanzielle Unzugänglichkeit, die das Reisen unmöglich macht, die Grenzregime, die die Wanderungsbewegungen aller Art einschränken oder erschweren. Trotzdem hatten die Wanderungseinschränkungen im Sozialismus ihre Spezifik – es handelte sich um Einschränkungen, die systemisch waren. Das System brauchte diese Einschränkungen, um seine Existenz zu sichern. Eine Öffnung der Grenzen hätte die Existenz des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems infrage gestellt. Eine allgemeine Zulässigkeit der Ressource Wanderung hätte die Logik und die Funktion des sog. „sekundären Netzwerks“ (vgl. Deyanov 1992; Raychev 1992) infrage gestellt. Es handelte sich um Einschränkungen der eigenen Bevölkerung.
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4 Emigrationsbewegungen aus Bulgarien in der Zeit des Sozialismus …
Die Einschränkungen anderer gesellschaftlicher Systeme sind zum größten Teil nach außen gerichtet, sie exkludieren die ‚Fremden‘, die ‚nicht Zugehörigen‘, die nicht einreisen dürfen oder keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Sozialsystem, zur gesundheitlichen Versorgung oder zu bestimmten Positionen haben, die Staatsbürger*innen vorenthalten sind. Der Sozialismus klassifizierte die eigenen Staatsbürger*innen und schränkte den Zugang derselben zu Ressourcen ein. Das machte er nicht nach festen und öffentlich bekannten Spielregeln (z. B. Geld verdienen, sich einbürgern lassen, etc.), sondern intransparent. In der ganzen Zeit von 1945–1989 fehlte es an allgemeingültigen, öffentlichen Vorgaben, nach denen sowohl die kurzfristige Ausreise als auch die langfristige Auswanderung aus Bulgarien zugelassen wurden. Die sozialistische Zeit war durch eine besondere Netzwerkabhängigkeit der sozialen Akteure und durch eine Willkür als Regulationsmechanismus gekennzeichnet. Diese gesteuerte Intransparenz, auch in Bezug auf die Migration, stellte eine enorme Machtressource dar. Historisch gesehen war die sozialistische Gesellschaft nicht homogen. Die Möglichkeiten, Bulgarien zu verlassen, nahmen mit der Zeit zu und erreichten in den 1980er Jahren einen Höhepunkt in der sozialistischen Periode. In den Interviews wurde deutlich, dass in den späten 1980er Jahren sogar Menschen, die als ‚feindlich‘ eingeordnet wurden, die Möglichkeit erhalten haben, Bulgarien zu verlassen. Historisch gesehen ist eine allmähliche Öffnung Richtung Westen festzustellen: es wurden Sprachschulen gegründet, es wurde darauf verzichtet, die Emigration als ‚feindlich‘ zu bezeichnen, die Versuche die ‚feindlichen‘ Emigrant*innen zur Rückkehr zu zwingen, wurden beendet, einer Elite wurde die Bildung im Ausland ermöglicht. Die Analyse zeigt dennoch, wie kontrolliert und eingeschränkt die Möglichkeit, zu migrieren in dieser Zeit war. Es waren zwar Optionen vorhanden, das Land zu verlassen, diese unterlagen aber sowohl ideologisch als auch praktisch einer Kontrolle. Der Zugang zur Migration war netzwerkgebunden: er stand ‚parteitreuen‘ und ‚loyalen‘ Menschen zu. Ein Massenzugang war nicht möglich. Zum einen hatte der Staat keine finanziellen Ressourcen, um das Reisen breiter Bevölkerungsschichten zu ermöglichen, indem er den Reisewilligen die Währung nach dem offiziell gültigen Wechselkurs angeboten hat und zum anderen konnte der Staat bei einem möglichen Vergleich mit den westlichen Ländern seine Existenz nicht begründen. Die Migration war nicht nur ein Ergebnis des ökonomischen und kulturellen Kapitals, sondern auch ein Ergebnis des sozialen Kapitals. Im Sozialismus existierte kein Recht auf Migration oder Mobilität. Im Sozialismus wurde die Migration „verstaatlicht“ (Krasteva 2014, S. 375) – der Staat bestimmte wer, zu welchen Bedingungen, wann, für wie lange ausreisen oder migrieren konnte. Es war nahezu unmöglich, selbstständig die Bedingungen
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zu bestimmen oder vertraglich zu regeln. Im Sozialismus waren die Menschen keine Individuen mit eigenen Migrationsprojekten, sondern verschlossen in der Zelle der staatlichen Regulationen und der willkürlichen Durchlässigkeit der Grenzen. Auch die verschiedenen Migrationstypen waren nicht durchlässig und unterlagen staatlichen Sondergenehmigungen. Der Übergang zwischen den verschiedenen Migrationstypen war kaum möglich: ein Arbeitsmigrant/eine Arbeitsmigrantin konnte kaum zum Bildungsmigrant/zur Bildungsmigrantin werden. Ebenso schwierig oder gar unmöglich wäre zu erwarten, dass ein Bildungsmigrant/eine Bildungsmigrantin zum Arbeitsmigrant/zur Arbeitsmigrantin wurde. Von wichtiger theoretischer Bedeutung ist die Frage, ob die Wanderungsbewegungen im Sozialismus als „Migration“ oder als „Mobilität“ typologisiert werden können. Wenn die klassische Definition der Migration als „räumliche Versetzung des Lebensmittelpunktes“ (Oswald 2007, S. 13), die von relativer Dauer (vgl. Nauck 1989) ist, genutzt wird, ist festzustellen, dass im Sozialismus kaum Migrationsbewegungen existierten. Eine komplette Verlagerung des Lebensmittelpunktes kann man nur bei den Heiratsmigrant*innen (Ausländer*innen, die nach Bulgarien kommen oder Bulgar*innen, die einen ausländischen Staatsbürger*innen heirateten und ins Ausland migrierten) feststellen. Eine teilweise Verlagerung kann man bei den Personen, die im Ausland studierten oder aufgrund eines Vertrags im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tätig waren, feststellen, obwohl der größte Teil der Student*innen oder der Erwerbstätigen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit nach dem Ende des Studiums bzw. der Beschäftigung, nach Bulgarien zurückkehrte. In diesem Sinne handelt es sich um eine temporäre Quasi-Verlagerung des Lebensmittelpunktes. Das Endziel der Migration war in diesem Fall vorgegeben – die Rückkehr. Bei den anderen Wanderungstypen, z. B. Tourismus oder Dienstreisen, kann man von keiner Verlagerung des Lebensmittelpunktes sprechen, d. h. auch von keiner Migration im klassischen Sinne. Bei einer Migration müssten nach den klassischen Definitionen die Dauerhaftigkeit und das Endziel der Migrationsbewegung sowie der freie Wille der migrierenden Person vorhanden sein. In den sozialistischen Migrationsbewegungen fehlen diese Kategorien. Die Migrant*innen waren keine Subjekte der Wanderungsbewegung, ihre Motive, Ziele, Pläne wurden „verstaatlicht“. Sie agierten in festen, vorgegebenen Rahmen und Verträgen. Es ist vor der Migration bestimmt worden, dass die wandernde Person zurückkehren muss. Die einzige Ausnahme waren die Heiratsmigrant*innen und die irregulären Migrant*innen, welche man als Migrant*innen im klassischen Sinne bezeichnen kann.
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Sind die Wanderungsbewegungen im Sozialismus in der Kategorie „Mobilität“ zu verorten? Mobilität umfasst eben nicht ein Endziel der Migrationsbewegung, sondern setzt eine freie Bewegung voraus, ohne die Absicht, dauerhaft in einer Gesellschaft zu bleiben. John Urry (Urry 2007, S. 17) definiert Mobilität als „role that the movement of people, ideas, objects and information plays in social life“. Touristische Reisen und Dienstreisen kann man durchaus als „Mobilität“ bezeichnen. Waren diese Reisen in der sozialistischen Zeit eine Mobilität im engeren Sinne? Mobilität setzt eine viel größere Entscheidungsfreiheit der mobilen Person voraus. Wenn man von einer Dienstreise zurückkehrte, war der Erhalt einer erneuten Ausreisegenehmigung nicht sicher. Außerdem wurde bei Dienstreisen und touristischen Reisen das Endziel, nämlich die Rückkehr nach Bulgarien, vorgegeben. Die Entscheidungsfreiheit war in der sozialistischen Gesellschaft nicht vorhanden oder sehr stark eingeschränkt. Vor allem wurde der Austausch von Ideen und Informationen sehr begrenzt und unterlag ideologischen Restriktionen. In diesem Sinne existierte im Sozialismus eine eingeschränkte, kontrollierte und ungleich verteilte Pseudo-Mobilität, die ich eine „Mobilität in Ketten“ nennen möchte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wanderungsbewegungen im Sozialismus weder als Migration noch als Mobilität zu bezeichnen sind. Im Sozialismus existierten eine temporäre Quasi-Migration und eine kontrollierte Quasi-Mobilität, die nicht transparent und nicht allgemein zugänglich waren.
4.5 Migration und Transnationalität vor dem Jahr 1989: Möglichkeiten und Einschränkungen Sind die Personen im Sozialismus, die ihr Land als irreguläre Emigrant*innen, als Arbeitsmigrant*innen oder als Heiratsmigrant*innen verlassen haben, transnational aktiv? Inwieweit existieren Formen der Transnationalität15 im Sozialismus? Sind Kontakte und Kommunikation mit den Verwandten, die weiterhin in Bulgarien leben, möglich gewesen? Wie weitreichend waren diese Kontakte? Eine pauschale Antwort auf diese Fragen ist nicht möglich. Grundsätzlich kann man feststellen, dass eine transnationale Bindung dann existiert, wenn die Migrant*innen eine persönliche Motivation haben, Kontakte in der Herkunftsgesellschaft zu pflegen. Diese Motivation kann unterschiedlicher Art sein:
15Der
Begriff wird im Sinne der in Kap. 2 vorgestellten Definitionen verwendet.
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beruflich, privat, wirtschaftlich, bezogen auf das Eigentum oder auf ein eigenes gegründetes Unternehmen, steuerlich, gesundheitlich oder politisch. Eine transnationale Bindung kann aber nur dann existieren, wenn die Gesellschaften, d. h. konkret die Staaten, sie ermöglichen oder zumindest nicht behindern. In der Zeit des Kalten Krieges war eine transnationale Migration zwischen einem ost- und einem westeuropäischen Staat nur bedingt möglich. Im Weiteren wird anhand konkreter Beispiele verdeutlicht, wann sie im Falle der bulgarischen Migration nach Deutschland möglich und unter welchen Umständen sie ausgeschlossen war. Die vor dem Jahr 1989 emigrierten Bulgar*innen können analytisch in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden: • Personen, die dauerhaft emigriert sind vs. Personen, die temporär das Land verlassen haben • Personen, die mit einer Genehmigung der bulgarischen Behörden das Land verlassen haben vs. Personen, die ohne Genehmigung ausgewandert waren • Aufgrund der politischen Teilung Deutschlands kann man auch zwischen den aus Bulgarien stammenden Personen, die in die DDR eingewandert waren und Personen, die in die BRD eingewandert waren, unterscheiden
4.5.1 Die exklusive Migration: Die bulgarischen Migrant*innen in der DDR Die in die DDR eingewanderten Bulgar*innen haben ihren Aufenthalt mit der Tatsache begründet, dass sie dort studierten, verheiratet waren oder arbeiteten. In diesen drei Fällen ist die Ausreise aus Bulgarien durch die bulgarischen Behörden genehmigt worden. Die Student*innen hatten einen temporären Aufenthaltsstatus, konnten aber nach Beendigung des Studiums mit einer Sondergenehmigung der ostdeutschen und der bulgarischen Behörden als Erwerbstätige in Ostdeutschland bleiben, vorausgesetzt, sie haben ein Stellenangebot in der DDR erhalten. Wenn eine Bleibeperspektive realistisch war, konnten die Student*innen analytisch als ‚Bildungsmigrant*innen‘ bezeichnet werden. Wenn die Bleibeperspektive von vornherein ausgeschlossen war und die Personen nach dem Ende des Studiums nach Bulgarien zurückkehrten, sind die Student*innen idealtypisch im Rahmen der „Bildungsmobilität“ zu begreifen. Die Personen, die eine(n) ausländische(n) Staatsbürger*in geheiratet haben und aus diesem Grund im Ausland, konkret in der DDR, lebten, hatten einen dauerhaften Aufenthaltsstatus. Sie konnten als ‚Heiratsmigrant*innen‘ bezeichnet werden.
100
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Komplizierter ist die Klassifizierung der Personen, die erwerbstätig waren. Unter ihnen sind sowohl Individuen, die temporär, im Sinne eines kurzfristigen Erfahrungsaustausches vom bulgarischen Staat als Diplomaten, Handelsvertreter oder auf Dienstreisen entsandt wurden, als auch Personen, die nach dem Studium oder aufgrund ihres Aufenthaltsstatus als Ehepartner*in eines DDR-Bürgers, bzw. einer DDR-Bürgerin sich längerfristig in der DDR aufhielten und dort einen Arbeitsplatz hatten. Die erste Gruppe, die der kurzfristig entsandten Personen, ist idealtypisch in der Kategorie der „Mobilität“ und die zweite in der Kategorie der „Migration“ zu begreifen. In all diesen Fällen war die Aufrechterhaltung transnationaler Beziehungen zwischen den Zugewanderten und ihrer Herkunftsgesellschaft möglich, von den sozialen Akteuren erwünscht und von beiden Staaten zugelassen. Die Student*innen erwarteten, dass sie in der Regel nach dem Ende des Studiums nach Bulgarien zurückkehrten und pflegten die Beziehungen mit ihren Verwandten. Sie hatten intensiven Kontakte mit Gleichaltrigen aus Bulgarien. Man fuhr mindestens einmal im Jahr nach Bulgarien und/oder bekam Besuch, in der Regel von den Verwandten aus Bulgarien. Die Erwerbstätigen agierten ebenso transnational: Sie schickten Briefe, Pakete, fuhren nach Bulgarien, empfangen Besuch, informierten sich über die Prozesse in Bulgarien. Eine Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes, insbesondere bei denen, die längerfristig in der DDR blieben, wurde vollzogen. Eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes ist besonders bei den Personen festzustellen, die als Heiratsmigrant*innen in der DDR geblieben sind. Dennoch waren sie in einigen Bereichen transnational: Reisen in die Heimat, Telefonate, Besuche, Geschenke, Pakete, Briefe. Ausgesprochen transnational agierten Vertreter*innen bestimmter Berufsgruppen, z. B. die Medienkorrespondent*innen, Vertreter*innen der Botschaft und Mitarbeiter*innen von Handelsvertretungen sowie Personen, die auf kurzfristigen Dienstreisen waren. Ihre Handlungen waren auf Transnationalität ausgelegt. Ein Beispiel verdeutlicht, dass in einigen gesellschaftlichen Teilbereichen, z. B. im Bereich der Kultur, transnationale Aktivitäten institutionell, im sozialistischen System genannt staatlich, unterstützt wurden: „Ich habe Gesangsunterricht gehabt und habe mich auf die Aufnahmeprüfungen im Konservatorium vorbereitet und meine Lehrerin hat zu meiner Mutter gesagt: „Nein, nein, nein, B. hat eine seltene Begabung, sie wird auf Europas Bühnen singen und es wäre schade, dass sie ihre Zeit mit Bildung verliert“. Sie hat mir einen Termin bei G. [einer Musikfirma, Hervorh. ML] gemacht. Es war mit einem Mann, der die
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Position eines stellvertretenden Ministers in Deutschland hatte und der Sängerinnen für Deutschland aussuchte. Das alles geschah im Jahr 1970. […] und ich habe einen Vertrag mit der Oper in Dresden erhalten. Im Alter von 19 Jahre habe ich meinen ersten Vertrag unterzeichnet. Ich bin nach Deutschland nicht aus ökonomischen Gründen gekommen. So waren halt die Umstände“ (I 8).
Diese Erzählung verdeutlicht, dass Aspekte der Transnationalität zwischen der DDR und Bulgarien durchaus möglich waren. Sie waren allerdings unüblich: Eine Vermittlung dieser Art hatte Seltenheitscharakter. Der Bericht ist besonders aufschlussreich, da eine Umschreibung oder -interpretation der eigenen Biografie durch die sozialen Akteure deutlich wird. Es ist die Rede von „Deutschland“ und nicht von der „DDR“. Die Vergangenheit wird ‚normalisiert‘. Die Besonderheiten des gesellschaftlichen Systems werden im Interview nicht thematisiert – als gäbe es keine Diktatur, keine Veränderungen im Jahr 1989, als wäre es nichts Besonderes gewesen, in der damaligen Zeit in der Oper von Dresden zu arbeiten. In diesem Fall einer sehr privilegierten und besonders qualifizierten Arbeitsmigrant*in findet eine spezifische Reflexion der eigenen Biografie statt. Sie wird als erfolgreich und problemlos dargestellt, da sie nicht in Relation zum besonderen sozial-historischen Kontext interpretiert wird. In der sozialistischen Zeit (1945–1989) gab es auch DDR-Bürger*innen, die bulgarische Ehepartner*innen haben und in Bulgarien leben. Sie arbeiteten in den deutschen Schulen, bei der Botschaft oder in Außenhandelsorganisationen der DDR in Bulgarien. Eine Form der Transnationalität ist in der kulturellen Zusammenarbeit und in der Bildungskooperation zu finden. In Bulgarien wurden in den 1960er Jahren fremdsprachige Schulen gegründet. In Zusammenarbeit mit der DDR wurden sog. „Deutsche Gymnasien“ in verschiedenen Städten eröffnet. Das bekannteste ist das ‚Erste Deutsche Gymnasium‘ in Sofia, damals offiziell als Gymnasium Nr. 91 „Karl Liebknecht“ bezeichnet. In diesem Gymnasium wurden die Schüler*innen mit Prüfungen nach der 7. Klasse aufgenommen. Die Lehrer*innen in der deutschen Abteilung kamen aus der DDR, in der Regel waren sie verheiratet mit bulgarischen Ehepartner*innen. Die Bildung erfolgte in deutscher Sprache. Die Lehrbücher für deutsche Sprache und Literatur wurden vom Herder-Institut in Leipzig verfasst. Die Schulbücher für Geschichte, Biologie, Chemie, Geografie wurden vom bulgarischen Verlag „Prosveta“ herausgegeben und ins Deutsche übersetzt. Es werden deutsche Feiertage und Feste, u. a. traditionelle Feste wie Fasching sowie ideologisch geprägte Feiertage, wie die Jahrestage von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg etc., gefeiert. Es wurden Vortragsabende mit der Beteiligung von Teilnehmer*innen und Redner*innen aus der DDR veranstaltet. Es wurden Klassenfahrten in die DDR organisiert, in einer Zeit, in der es relativ kompliziert war, Bulgarien zu verlassen.
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Die bulgarischen Migrant*innen in der DDR und die ostdeutschen Migrant*innen aus Bulgarien hatten keinen Grund, den Kontakt mit den Bekannten und Verwandten in Bulgarien bzw. in der DDR abzubrechen – er war weiterhin vorhanden. Es wurde davon ausgegangen, dass die Personen irgendwann zurückkehren oder ihr Herkunftsland regelmäßig besuchen werden. Das Eigentum in der Herkunftsgesellschaft blieb in der Regel erhalten. Diese Beispiele verdeutlichen, dass in der sozialistischen Zeit durchaus eine Form der Transnationalität existierte, allerdings eine, die staatlich verordnet und kontrolliert war. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass im Rahmen der Gemeinschaft sozialistischer Staaten eine Transnationalität vorhanden war. Sie konnte allerdings aus der Perspektive der sozialen Akteure nicht komplett frei und individuell gestaltet werden. Inwieweit sind transnationale Praktiken zwischen Bulgarien und der BRD in der Zeit 1945–1989 möglich gewesen?
4.5.2 „Kein Weg zurück“ – die in die BRD emigrierten Bulgar*innen vor dem Jahr 1989 Unter den in die BRD eingewanderten Bulgar*innen kann man zwischen den folgenden Typen unterscheiden: • Personen, die regulär, mit der Genehmigung der bulgarischen Behörden eingewandert waren, z. B. Heiratsmigrant*innen (Personen, die westdeutsche Ehepartner*innen haben), Arbeitsmigrant*innen (Diplomat*innen, Handelsvertreter*innen, Personen, die auf Dienstreisen sind) und, was sehr selten vorkam, Bildungsmigrant*innen (Student*innen, Doktorand*innen, Spezialist*innen), Besucher*innen und Tourist*innen. Die einzige Gruppe, deren Aufenthalt längerfristig ausgelegt ist, waren die Heiratsmigrant*innen. Bei den Personen, die kurzfristig in die BRD eingewanderten und zwar mit der Genehmigung der bulgarischen Behörden, war die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation mit den in Bulgarien gebliebenen Verwandten sehr groß. Bei Personen, die als Heiratsmigrant*innen in die BRD migrierten, war auch ein relativ intensiver Kontakt mit Bulgarien festzustellen, auch wenn er mit der Zeit nachgelassen hat. In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass Transnationalität gegeben war, obwohl die Kontakte zwischen den Personen, die in die BRD als Heiratsmigrant*innen eingewandert waren und ihren in Bulgarien verbliebenen Verwandten, nicht immer unproblematisch waren: Briefe wurden von
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den Geheimdiensten mitgelesen, Pakete wurden geöffnet oder gingen verloren, Besuche wurden teilweise nicht gestattet. • Personen, die irregulär aus Bulgarien ausgewandert waren und ohne Genehmigung der bulgarischen Behörden in die BRD eingewanderten, hatten entweder Bulgarien ohne Genehmigung oder mit einer Genehmigung, die sich auf ein anderes Land bezog, verlassen. Einige von ihnen waren aus der DDR nach einem dort abgeschlossenen oder abgebrochenen Studium in die BRD eingereist. Andere haben nach einer Tätigkeit im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in Ländern wie Libyen, Algerien, Marokko oder Syrien auf dem Rückweg nach Bulgarien an den Flughäfen Frankfurt am Main oder München Asyl in der BRD beantragt. Überwiegend handelte es sich um Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen oder Ingenieur*innen. Ein Beispiel: „Ich hatte keine Absicht, ich war nicht so… ich wollte nicht über die Grenze fliehen. Sie hätten mich erwischt, verhaftet und so was… ich habe versucht ins Ausland zu fahren. Ich durfte nicht in den Westen fahren, aber wir durften nach Libyen. Und von dort haben wir den Flieger nach Bulgarien gebucht über Paris. Und in Paris haben wir den ‚falschen Flug‘ genommen – nach Deutschland. Nicht nach Bulgarien. So kamen wir an und am Flughafen in Frankfurt haben wir die Polizei kontaktiert […] und sie haben uns aufgenommen und Asyl gegeben, da wir aus Osteuropa kamen. Osteuropa war ja Kommunismus. Diktatur“ (I 5).
Die Motivation, Bulgarien zu verlassen, war oft politisch: „Ich habe mein ganzes Leben lang die Kommunisten gehasst. Ich bin von denen geflohen. Leider regieren sie immer noch in Bulgarien. Mein Großvater wurde in einem kommunistischen KZ ermordet. […] Mein Vater hat in Deutschland studiert und ist nach dem Ende des Studiums im Jahr 1933 nach Bulgarien zurückgekehrt. Und da er in Deutschland studiert hat, wurde er von den Kommunisten verfolgt. Bis zum Ende seines Lebens wurde er als ‚Faschist‘ stigmatisiert. Da er kein Parteimitglied gewesen ist, wollte man ihn aus Sofia verbannen […] Deswegen bin ich gegangen“ (I 55).
Diese irregulären Migrant*innen erhielten zunächst einen Platz in den westdeutschen Asylbewerberunterkünften, denn sie mussten Asyl beantragen. Dabei versuchten die bulgarischen Behörden, Kontakt mit ihnen aufzunehmen und sie zur Rückkehr zu überzeugen. Diese Personen hatten in der Regel, zumindest bis sie eingebürgert wurden, keinen Kontakt mit den bulgarischen Verwandten.
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„Sie durften nicht einmal wissen, wo ich wohne. Nicht einmal, wie die Stadt heißt und wo sie ist. Ich habe manchmal angerufen – von einer Telefonkabine in einer benachbarten Stadt […] Ich wollte keine Bulgaren um mich herum sehen. Es war so gefährlich“ (I 55).
Die Personen, die irregulär in die BRD eingewandert sind, erlebten einen dramatischen Abbruch der Verhältnisse zu den Verwandten und Freunden, die in Bulgarien geblieben sind. Aufgrund der irregulären Ausreise aus Bulgarien und des nicht genehmigten Aufenthalts im Ausland, erhielten sie das Stigma der „feindlichen Emigrant*innen“ („вражески емигранти“) oder „Rückkehrverweiger*innen“ („невъзвращенци“). Sie konnten Bulgarien jahrelang nicht besuchen. Sie vermieden den Kontakt mit anderen Bulgar*innen, die sich in der BRD aufgehalten haben, da sie befürchteten, diese hätten Mitarbeiter*innen der bulgarischen Geheimdienste sein können.16 Das gegenseitige Misstrauen unter den in der BRD lebenden Bulgar*innen war deutlich ausgeprägt: „Mit Bulgaren will ich gar nichts zu tun haben. Die Bulgaren im Ausland hassen sich. Keiner würde sich freuen, dich kennenzulernen. Sie werden den Kontakt mit dir auch vermeiden. Und wir haben gelernt das auch so zu tun“ (I 5).
In diesem Sinne wurde keine bulgarische Diaspora17 in der BRD gebildet. Die neu Zugewanderten pflegten absichtlich keinen oder einen sehr eingeschränkten Kontakt mit den anderen Bulgar*innen. Eine, allerdings kleine, Diasporabildung ist lediglich unter den „alten“ politischen Emigrant*innen festzustellen, die unmittelbar nach dem Jahr 1945 das Land verlassen und Asyl in der BRD gesucht haben. Zu diesen können die Mitarbeiter*innen des politischen Radiosenders „Radio Free Europe“ (München) und der Bulgarischen Redaktion der „Deutschen Welle“ (Köln) gezählt werden. Gerade diese Gruppen wurden allerdings von den bulgarischen Behörden beobachtet. Nach der Wende im Jahr 1989 stellte sich bei einigen Journalist*innen dieser Radiosender heraus, dass sie
16Diese
Wahrnehmung ist weit verbreitet, auch unter Bulgar*innen, die in den USA leben. Ein bulgarischer Emigrant in den USA erzählt: „Deutschland und in Österreich war voll mit bulgarischen Bullen. Überall. Deswegen haben wir beschlossen, von Deutschland in die USA zu gehen. Wir wussten, dass wir nie wieder nach Europa kommen werden, aber wenigstens war es hier, in Amerika, ruhig. Keiner hat dich verfolgt. Die waren schlicht und einfach nicht da“ (I 67). 17Im Sinne des in Kap. 2 definierten Begriffs.
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als Mitarbeiter*innen der bulgarischen Geheimdienste tätig waren. Ein Beispiel ist Vladimir Kostow, der bei „Radio Free Europe“ in München gearbeitet hat (vgl. Bakalov 2008). Insgesamt waren die Kontakte zwischen den Bulgar*innen, die in dieser Zeit in der BRD lebten, sporadisch, oberflächlich und mit Skepsis verbunden. Der Abbruch der Kontakte hatte eine Auswirkung auf die Einstellungen der Migrant*innen zu Bulgarien. Der Verlust der Familie und Freunde, die in Bulgarien geblieben sind, wurde relativiert, indem man sowohl die Vergangenheit, als auch die gegenwärtige Entwicklung Bulgariens als besonders dramatisch beschrieben hat und beschreibt („es war furchtbar in Bulgarien“ bzw. „es ist immer noch sehr schlecht in Bulgarien“, „In Bulgarien wird sich die Lage nie verbessern“ „България няма да се оправи никога“). Über Bulgarien wurde und wird in dramatischen Tönen berichtet. Dabei wird meist im gleichen Zuge die Freude zum Ausdruck gebracht, dass man es geschafft hat zu emigrieren. Selbst die Veränderungen nach 1989 werden nicht ausschließlich positiv interpretiert. Dadurch wird die eigene biografische Wahl, Bulgarien zu verlassen, zusätzlich gestärkt. Diese rhetorische Dramatisierung ist eine post factum Begründung der verlorenen Kontakte, eine Verarbeitung des Verlusts. „Obwohl es jetzt Demokratie ist. Das ist allerdings eine Lüge, denn die Schutzgelderpressung ist unglaublich in jeder Hinsicht und wenn man ein wenig erfolgreicher ist als die anderen, werden sie dich sofort schlagen oder bedrohen“ (I 5). „Ich habe Freunde und ich glaube, dass es dort eine Art Abzockerei ist. Die kleinen Firmen werden schikaniert. Die Menschen werden nicht unterstützt, sie werden gehindert. […] Dort gibt es eine Clique, zu der höchstens 10 % der Bulgaren gehören. Wenn sie es können, werden sie sich auch alles holen. Dem normalen Menschen wird keine Möglichkeit gegeben, sich zu entwickeln. Hier fühle ich mich sicherer“ (I 7). „Die sind alle Kommunisten in Bulgarien … wir haben unsere Nerven kaputt gemacht. Mit der Korruption, mit dem Diebstahl. Die Rechtsprechung ist die unterste Schublade. […] Und wenn wir aufgehört haben, bulgarisches Fernsehen zu schauen, haben wir uns beruhigt“ (I 5).
Der Ausweg aus dieser „Apokalypse“ (I 5) ist, den Kontakt abzubrechen. Im konkreten Fall heißt das, das bulgarische Fernsehen auszuschalten. Nach der Wende wird von den Vertreter*innen dieser Gruppe bewusst auf Transnationalität verzichtet, auch wenn sie technisch möglich und politisch ungehindert ist. Die traumatische Trennung von Bulgarien, die vor ca. 40 Jahren erfolgte, wirft immer noch ihren Schatten auf die Wahrnehmung und Beurteilung der Prozesse. Nach der Wende haben die Vertreter*innen dieser Gruppe weiterhin nur sporadische Kontakte mit Bulgarien. Einige kehren zurück, sie haben Eigentumswohnungen
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geerbt und leben dort ein oder zwei Monate im Jahr. Andere haben kein Eigentum oder gar keine Verwandten mehr – sie haben auch keinen Grund nach Bulgarien zurückzufahren. Umstritten ist, ob es sich lohnt, nach der Wende neue Berufskontakte in Bulgarien zu knüpfen. „Ich will keine Berufskontakte haben. Ja, es gibt auch gute Leute, aber die Erfahrung, die ich mit Bulgaren hatte, die ich ständig treffe […] Ich sehe, sie interessieren sich für den schnellen Gewinn (‚dalavera‘). Ich will mit solchen Menschen nichts zu tun haben“ (I 5).
Diese Gruppe agierte, zumindest in der Zeit bis 1989, nicht transnational. Die Personen, die zu dieser Gruppe gehörten, können als „klassische Migrant*innen“ definiert werden. Es sind Menschen, die nach Deutschland eingewanderten, um zu bleiben. Für sie gab es keinen Weg zurück in die alte Heimat. Sie hatten keine Möglichkeit, intensive Verbindungen zu den Bekannten oder Verwandten zu pflegen; wenn überhaupt möglich, wurden Briefe oder Pakete verschickt, Geschenke gemacht, Geld überwiesen. Besuche waren kaum möglich, da sie oft nicht genehmigt wurden. Die Entscheidung, Bulgarien zu verlassen, wird als „endgültig“ bezeichnet. Keiner erwartete, dass sich das System ändern wird. Bei der Ausreise konnten nicht einmal persönliche Gegenstände mitgenommen werden. „Ich habe beschlossen, mit allem zu brechen, wenn ich hierherkomme. Wenn ich angefangen hätte so zu denken, wie sie: ‚meine Vase, mein Teller, die zu Hause geblieben waren‘, hätte ich zurückkehren müssen und zwar sofort. Ich habe aber beschlossen, sofort auf alles zu verzichten und von Null an zu starten. Denn wir sind mit der Sommerkleidung aus Libyen angekommen. Wir hatten wirklich nichts. Nicht einmal unsere Erinnerung hatten wir“ (I 56).
Die Personen, die zu dieser Gruppe gehörten, waren bemüht, eine neue Heimat zu finden und Kontakte in dieser aufzubauen. Inwieweit ist das gelungen? Aus heutiger Perspektive kann festgestellt werden, dass die Vertreter*innen dieser Gruppe beruflich sehr gut in der deutschen Gesellschaft etabliert sind. Deutschland wird allerdings nicht als „Heimat“ bezeichnet. Obwohl diese Bulgar*innen ein distanziertes Verhältnis zu anderen Bulgar*innen pflegen, da die Befürchtung einer Nähe zu den Geheimdiensten besteht, dominiert das Gefühl, dass die Bulgar*innen die ‚besseren Freunde‘ sind. Die Kontakte zu Deutschen werden als nicht so intensiv erlebt.
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„Weder die Sprache, noch die Mentalität der Deutschen. Ich empfand sie als distanziert und verärgert, später habe ich gelernt, dass sie einfach seriös sind. Mein Problem mit ihnen ist, dass sie eine andere Empfindlichkeit haben, eine andere Einstellung. Sie sind nicht emotional, sie haben keine Phantasie und das wirkt sich auf die Kommunikation mit ihnen aus“ (I 6). „Ich habe kapiert, dass die Deutschen eben nicht so sind, wie die Bulgaren – sie rufen dich nicht so oft an, um einfach zu fragen, wie es dir geht. Ich vermisse es, dass ich keine Nachbarin habe. Ich wohne seit 13 Jahre mit den gleichen Menschen in diesem Wohnblock und wir sagen uns nur ‚Guten Tag‘ und ‚Auf Wiedersehen‘. Sonst nichts. In dieser ganzen Zeit hat mich keiner um ein Ei gebeten. Deswegen kann ich auch nicht an die Tür der Nachbarin klingeln und sie um ein Ei bitten, wenn mir eins fehlt und das Geschäft zu hat“ (I 6).
Die Bulgar*innen dieser älteren Migrantengeneration fühlen sich nicht willkommen. „Am Anfang, als die Ausländer wirklich selten waren in Deutschland, haben nicht alle ein gutes Verhältnis zu uns gehabt. Wir waren nicht eingeladen. Wir waren nicht die Gastarbeiter, die die Drecksarbeit verrichteten, Straßen bauten, am Fließband gearbeitet haben. Wir waren nicht so. Wir hatten ja unseren Beruf und wollten ihn ausüben. Aber wir waren halt nicht eingeladen“ (I 56).
Hinzu kommt, dass die in dieser Periode migrierten Personen nicht gut auf die Migration vorbereitet waren. Sie hatten keine Informationen über das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben in der BRD. In der Regel sprachen sie kein Deutsch. Es war schwierig die deutsche Sprache zu erlernen, da neben der Arbeit keine Zeit blieb, um kostenpflichtige Sprachkurse zu besuchen. „In dieser Zeit hatte man in Bulgarien keine Information über die Lage in Europa. Es gab kein Internet. Man war nicht vorbereitet. Heutzutage ist es viel einfacher, sich vorzubereiten. […] Ich habe nicht erwartet, dass das Leben sehr viel anders ist als in Bulgarien“ (I 57).
Die berufliche Etablierung war auch mit Schwierigkeiten verbunden: Zunächst wurden die Diplome nicht anerkannt. Nicht alle konnten Erfolg im Beruf erreichen: „Beruflich habe ich alles verloren, was ich hatte. Das bedauere ich sehr, aber ich kann sagen, dass das Leben hier besser ist – es ist ausgewogen und sicher“ (I 6).
Eine Rolle für die schwierige Lage der bulgarischen Migrant*innen spielte die spezifische Entwicklung der deutschen Gesellschaft. In den 1970er und 1980er
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Jahren war sie relativ verschlossen, es mangelte an Programmen zur Integration von Zugewanderten. Die politische Vision reichte nicht weiter als die Steuerung der Gastarbeitermigration und die Einschränkung der Migration durch eine Politik der Rückkehrförderung. Grundsätzlich war die Annahme etabliert, dass man Deutscher nicht werden kann (vgl. Treibel 2015). Die bulgarischen Migrant*innen, die zu dieser Zeit eingewandert sind, blieben ‚fremd‘ in Deutschland. Zur gleichen Zeit konnte auch Bulgarien nicht mehr als ‚Heimat‘ angesehen werden, da die Verbindungen zwangsweise abgebrochen wurden. Diese Generation bulgarischer Migrant*innen hat ihre Heimat verloren und keine neue gefunden. Ihr Verhältnis zu Bulgarien und zu Deutschland ist immer noch ambivalent – das Verhältnis zu Bulgarien ist durch Nostalgie, aber auch durch die Verarbeitung des traumatischen Abbruchs der Kommunikation geprägt. Das Verhältnis zu Deutschland ist durch den Wunsch bestimmt, ein neues Zuhause aufzubauen und zugleich durch die Unmöglichkeit, als ‚einheimisch‘ anerkannt zu werden. Das Ergebnis ist etwas, was ich als „doppelte Heimatlosigkeit“ bezeichne. Es bleibt das Gefühl bestehen, dass sich diese Personen nur auf sich selbst verlassen können. „Es gab Momente, wir hatten wirklich keine Bleibe. Wir wussten nicht wohin. Wir hatten keine Wohnung. Nichts. Wir hatten eine Wohnung gefunden, ein Appartement, das keine Heizung hatte, nur einen Kamin. Total leer, keine Möbel, nichts. Wir haben ein Bett von Bekannten erhalten und wir haben zu dritt in einem Bett geschlafen. Monatelang. Ich bin den ganzen Tag arbeiten gewesen und ich hatte keine Möglichkeit, mich darum zu kümmern. Ich hatte auch kein Geld. Wir haben Plastikbecher vom Imbiss gegenüber bekommen. So ist das Leben der Emigrant*innen halt. Ich wollte von niemandem was […] Wir haben es allein geschafft“ (I 5).
Sind diese Schwierigkeiten überwunden, prägte sich das Gefühl aus, dass man etwas Großes erreicht hat. Die Vertreter*innen dieser Gruppe bezeichnen sich selbst und ihr Emigrant*innenleben als besonders erfolgreich. Sie sind stolz auf das Erreichte. Sie haben ein neues Leben begonnen, eine Familie gegründet, Kinder großgezogen, sie haben sich im Beruf etabliert, eine neue Sprache erlernt. Die Emigrationsroute Osteuropa – Afrika/Naher Osten – Westeuropa gab ihnen auch eine besondere Lebenserfahrung. In der Regel sind das Personen, die einen Beruf in Bulgarien hatten und es geschafft haben, nach Anerkennungen und Prüfungen, auch in Deutschland in ihrem Beruf zu arbeiten. Bei Personen, die weniger qualifiziert Bulgarien verlassen und dementsprechend in weniger qualifizierten Berufen gearbeitet haben, ist das Gefühl der beruflichen Erfüllung
4.6 Zusammenfassung
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weniger vorhanden. Sie haben allerdings das Gefühl, dass sie ‚ein gutes Leben‘ haben, da sie es ‚geschafft‘ haben, von der kommunistischen Diktatur zu fliehen. Bei der Gruppe der beruflich Etablierten ist das Gefühl vorhanden, dass sie ihr Lebensprojekt nicht vollendet haben, da die Zeit nicht ausgereicht hat. Personen, die im Alter von 30–35 Jahre Bulgarien verlassen haben, haben es schwierig in der BRD Fuß zu fassen und sich im Beruf zu etablieren. Es ist kompliziert alle Ziele zu erreichen, wenn man bei null anfangen muss „Die Zeit hat nicht gereicht. Ich bin mittlerweile 65, werde in den Ruhestand gehen. Aber ich kann nicht vollständig zufrieden sein. Die Zeit hat nicht gereicht, ansonsten hätte ich viel mehr erreicht. Obwohl ich auch jetzt auf einem mittleren Niveau, sogar über dem mittleren Niveau in Deutschland bin“ (I 5).
Auch im Nachhinein, aus der Perspektive der heutigen Generation, wird die sozialistische Zeit als eine Zeit der Einschränkung und Immobilität bewertet: „Im Sozialismus hatten wir das Gefühl, dass wir Menschen zweiter Klasse waren. Dass wir nicht mal von den guten Sachen träumen durften. Ich wollte als Kind nach Amerika, das ist mein Kindheitstraum gewesen, aber ich habe das nicht mal laut aussprechen können“ (I 9). „Es ist unglaublich traurig, dass meine Mutter keine Möglichkeit hatte, im Ausland zu studieren oder ein Stipendium dafür zu bekommen. Oder sich an wissenschaftlichen Konferenzen im Ausland zu beteiligen“ (I 30).
4.6 Zusammenfassung Im Sozialismus existieren unterschiedliche Kategorien von Wanderungsbewegungen. Die Zeit der verhinderten oder eingeschränkten Mobilität schafft unterschiedliche idealtypische Kategorien von Wanderern: die Quasi-Mobilen (Student*innen, Dienstreisende, Entsandten), Quasi-Migrant*innen (Personen, die im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tätig waren), Migrant*innen (irregulär in die BRD Migrierte, Heiratsmigrant*innen in der BRD oder DDR). Die klassischen Definitionen des Begriffs „Migration“ sind mit der Einmaligkeit und der Dauerhaftigkeit der Wanderungsbewegung verbunden. Die Kontakte zur Herkunftsgesellschaft werden dabei nicht berücksichtigt. Die Definition kann den großen Teil der nicht reglementierten Wanderungsbewegungen in der sozialistischen Zeit, die zwischen einem sozialistischen und einem kapitalistischen Land stattgefunden haben, konkret zwischen Bulgarien und der BRD, gut beschreiben. Selbst bei diesen, nicht reglementierten, Wanderungen
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ist der Kontakt zwischen den Personen, die in Bulgarien und in der BRD leben, nicht komplett abgebrochen. Eine Transmigration im Sinne des Austauschs von Ideen oder Waren findet allerdings in der Regel nicht statt. Sie ist zum größten Teil blockiert, auch nach der Wende (1989) wird sie vermieden. Aspekte transnationaler Migration sind auch in den geschlossenen Gesellschaften möglich. Ein transnationaler Raum kann allerdings in den stark eingeschränkten und staatlich kontrollierten Wanderungsbewegungen im Sozialismus zwischen Bulgarien und der BRD nicht entstehen. Die Analyse der durchgeführten Interviews verdeutlicht, dass die reguläre Wanderung aus Bulgarien zum größten Teil nicht als „Migration“ im klassischen Sinne definiert werden kann. Aufgrund der Besonderheiten des Sozialismus ist bei reglementierten Wanderungen die Rückkehr vorgegeben. Eine freie Entscheidung der Individuen unbestimmt lange im Ausland zu bleiben, ist nur bedingt möglich (Heiratsmigration, Übergang Studium – Beruf in der DDR). Eine klassische Migration kann bei den nicht regulären Migrant*innen in die BRD und bei den Heiratsmigrant*innen in der DDR und in der BRD festgestellt werden. Transmigration ist bei den Personen, die in der DDR geblieben sind, möglich gewesen. Hierbei handelt es sich um eine staatlich gebilligte, regulierte und sogar geförderte Transmigration. In all diesen Fällen kann der Migrationsstatus als eine besondere Ressource genutzt werden. Insbesondere in einer Gesellschaft der eingeschränkten Mobilität, wie die sozialistische, wird die Gelegenheit, kurz- oder langfristig das Land zu verlassen, als ein besonderes Privileg angesehen. Bei allen Kategorien von Emigrant*innen, die Bulgarien verlassen haben, kann das von Boris Nieswand herausgearbeitete „Status-Paradox“18 (Nieswand 2011, S. 124 ff.) bestätigt werden. In der sozialistischen Zeit wurden die Personen besonders anerkannt, die Bulgarien verlassen haben, obwohl sie in der Hierarchie der Aufnahmegesellschaft nicht immer adäquat platziert sind. Auch wenn sie als Diplomat*innen, Handelsvertreter*innen, Flugbegleiter*innen, Mitarbeiter*innen in der Entwicklungs-zusammenarbeit weniger verdient haben als ihre Kolleg*innen
18Unter
„Status-Paradox“ versteht Nieswand (2011) die Tatsache, dass Migrant*innen einerseits aufgrund der Bildung und des Einkommens in ihrer Herkunftsgesellschaft zu einer bestimmten sozialen Schicht gehören. Andererseits sind sie in der Aufnahmegesellschaft, aufgrund der Unterschiede in der sozialen Schichtung und aufgrund der mangelnden transnationalen Anerkennung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Kapitalformen, einer anderen Schicht zugehörig.
Literatur
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aus den jeweiligen Aufnahmeländern, wurden sie in Bulgarien als „etwas Besonderes“ angesehen. Die Möglichkeiten, Anerkennung in Bulgarien zu erhalten, waren allerdings für irregulär in der BRD Eingewanderte nicht oder sehr eingeschränkt gegeben, da der Kontakt zu Bulgarien zwangsweise abgebrochen wurde. Die Kommunikation mit den Verwandten in Bulgarien sowie der Vergleich mit den in Bulgarien gebliebenen Bekannten und Freunden konnten nicht oder nur bedingt und nicht regelmäßig stattfinden. In diesem Fall greift das Status-Paradox von Nieswand gar nicht oder nur bedingt.
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Ausnutzung der feindlichen Emigration durchzuführen]. In ZDA, F. 1B, op. 64, a.e. 359, S. 1. BKP (1972). Protokol Nr. 557 na Politbüro na ZK na BKP otnosno priemane na Programa za razvitie na otnoshenijata na NRB s arabskite strani ot 11.07.1972 [Protokoll Nr. 557 des Politbüros der BKP über das Programm zur Entwicklung der Beziehungen der VRB zu den arabischen Ländern vom 11.07.1972]. In ZDA, F. 1, op. 35, a.e. 3304. http:// lib.sudigital.org/record/363/files/SUDGTL-BGCW-2010-209.pdf. Zugegriffen: 31. Oktober 2018. BKP (1974). Nasoki za dejnostta na Slawjanskija komitet [Richtlinien über die Tätigkeit des Slawischen Komitees]. In ZDA, F. 141, op. 10, a.e. 44, S. 82, 86, 87. BKP (1977). Reshenie Nr. B 17 na Politbüro na ZK na BKP ot 27.06.1977 otnosno usavarshensvane na rabotata za ogranichavane i obezvredjavane dejnostta na bulgarskata vrazeska emigracija i za podobrjavane podbora i podgotovkata na bulgarskite grazdani, zaminavasti zad granica [Beschluss Nr. B 17 des Politbüros des ZK der BKP vom 27.06.1977 über die Verbesserung der Arbeit und über die Einschränkung und Verhinderung der Tätigkeit der bulgarischen feindlichen Emigranten und zur Verbesserung der Auswahl und der Vorbereitung der bulgarischen Staatsbürger, die ins Ausland reisen]. In ZDA, F. 1B, op.64, a.e. 427, S. 6. http://desebg.com/2011-0113-09-23-35/1406-2013-08-26-07-52-55. Zugegriffen: 31. Oktober 2018. BKP (1952). Reshenie na Politbüro na BKP ot 16.12.1952 [Beschluss des Politbüros der BKP vom 16.12.1952]. In ZDA, F.1, op. 6, a.e. 1707, S. 1–3. BKP (1980). Dulgosrochna programa za rabota s bulgarskite kolonii v nesozialisticheskite strani za perioda 1981–1990 [Langfristiges Programm für die Arbeit mit bulgarischen Communities in den nicht-sozialistischen Ländern für die Zeit 1981–1990]. In ZDA, f. 141, op.11, a.e. 32. BKP (1981). Reshenie na sekretariata na ZK na BKP za rabota s bulgarskite emigranti v chuzbina [Beschluss des Sekretariats des ZK der BKP über die Arbeit mit den bulgarischen Emigranten im Ausland]. In ZDA, F. 1 B, op. 66, a.e. 2433, S. 28–33. BKP (1983). Reshenie A 289 na PB na ZK na BKP ot 29.3.1983 [Beschluss A 289 des Politbüros des ZKs der BKP vom 29.3.1983]. BKP. http://politburo.archives.bg/ bg/2013-04-24-11-12-48/dokumenti/1980-1989/3995—254–15–18–1983-. Zugegriffen: 31. Oktober 2018. Boundjoulov, A. (1995). Heterotopii [Heterotopien]. Sofia: KX. Brill, K. (2010). Gift direkt vom Diktator. Süddeutsche Zeitung. SZ. https://www. sueddeutsche.de/politik/mysterioeser-regenschirmmord-aufgeklaert-gift-direkt-vomdiktator-1.587790. Zugegriffen: 31. Oktober 2018. BRP (k) (1948). Reshenie Nr. 111 na Politbüro na BRP (k) ot 2.6.1948 [Beschluss Nr. 111 des Politbüros der BRP (k)]. In ZDA, F. 1 B, op. 6, a.e. 500, BKP. http://politburo. archives.bg/bg/2013-04-24-11-12-48/dokumenti/1944-1949/314—111–2–1948–. Zugegriffen: 31. Oktober 2018. Brunnbauer, U. (2007). Die sozialistische Lebensweise. Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien (1944–1989). Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag. Büchsenschütz, U. (2000). Malcinstvenata politika v Balgaria. Politijata na BKP kum evrei, romi, pomaci i turci 1944–1989 [Minderheitenpolitik in Bulgarien. Die Politik der Bulgarischen Kommunistischen Partei gegenüber den Juden, Roma, Pomaken und Türken 1944 bis 1989]. Sofia: IMIR.
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5
Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
Zusammenfassung
Im Kap. 5 werden die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen nach der Wende im Jahr 1989 thematisiert. Es wird auf ihren Einfluss auf die Gesellschaft, Politik und Migration in Bulgarien eingegangen. Die soziale Konstruktion des Migrationsbegriffs in der bulgarischen Gesellschaft wird einer Analyse unterzogen. Eine Inhaltsanalyse der Parlamentsdebatten und der Positionen relevanter gesellschaftlicher Akteure zum Thema Migration und Mobilität ermöglicht eine Rekonstruktion des sozialen Kontextes der bulgarischen Gesellschaft. Diese dient als Grundlage und motiviert die Ausund Rückwanderungsbewegungen von und nach Bulgarien. Schlüsselwörter
Migration · Mobilität · Postsozialismus · Diskurse über Migration
Die politische Wende in Bulgarien, die am 10.11.1989 einsetzte, war eine Folge der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Wie bereits erwähnt, hatte sich im sozialistischen Bulgarien eine Nomenklatura-Elite herausgebildet, die Vorteile aus ihrer gesellschaftlichen Stellung zog. Da die wirtschaftlichen Regeln des Sozialismus (zentralgesteuerte Wirtschaft, Staatseigentum, geringe Möglichkeiten für individuelle Bereicherung, etc.) diese Elite ‚erstickten‘, sollten sie beseitigt werden. Innerhalb der bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) entstand ein Kreis, der sich für eine Liberalisierung einsetzte. Die geplante Liberalisierung beschränkte sich jedoch nur auf den wirtschaftlichen Bereich. Politische Reformen waren zunächst nicht geplant. Am 10.11.1989 gelang es diesem © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_5
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5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
Kreis von Reformern den damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Todor Źiwkow zu stürzen und die Regierung des Landes zu übernehmen (Spassov 1999)1. Die Machtübernahme ist auch und vor allem im Kontext der europapolitischen Veränderungen der damaligen Zeit zu interpretieren, z. B. der „Perestroika“ und „Glasnost“-Politik, die vom Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michail Gorbatschow in der UdSSR und in den Ostblock-Staaten durchgeführt wurde. Symbolisch für diese Politik war die politische Doktrin „Sinatra“2, nach der die UdSSR sich aus Osteuropa zurückziehen sollte und den osteuropäischen Staaten auch de facto das Recht geben sollte, ihre Angelegenheiten selbstständig zu regeln. Eine Bedeutung für diese weitreichenden Veränderungen in Bulgarien hatten auch die Öffnung der innerdeutschen Grenze sowie die Wende in der DDR. Wegen der ökonomischen Krise, die sich Ende der 1980er Jahre abzeichnete und auch wegen der wirtschaftlichen Interessen der bulgarischen Elite, mussten die Beziehungen zu den westlichen Ländern intensiviert werden. Die wirtschaftliche Hilfe des Westens war aber an die Bedingung der politischen Demokratisierung des Landes und an Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte geknüpft. Aus diesem Grund war die politische Demokratisierung und Liberalisierung des Lebens eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Regierenden. Am 15.01.1990 wurde die in der Verfassung verankerte Führungsrolle der Bulgarischen Kommunistischen Partei abgeschafft. Seitdem ist auch die offizielle Gründung politischer Parteien in Bulgarien möglich. Als das wichtigste menschenrechtliche Problem wurde, sowohl von der Opposition als auch von den internationalen Institutionen, die Behandlung der Minderheiten und insbesondere der Türk*innen angesehen, die in Bulgarien seit der Zeit des Osmanischen Reichs lebten und die größte ethnische Gemeinschaft im Lande nach den ethnischen Bulgar*innen bildeten. Der ausgeübte Druck führte zur Einschätzung, dass die Politik gegenüber den Türk*innen in der Periode 1984–1989, die als „Wiedergeburtsprozess“ bekannt wurde, falsch
1In
diesem Artikel wird der Parteitag am 10. November 1989 als ein von Moskau abgesegneter, innerparteilicher Putsch betrachtet: „Plenumut na 10 noemvri 1989: dvorzov prevrat, blagosloven i organisiran ot Moskva“ [„Der Parteitag am 10. November – innerparteilicher Putsch, abgesegnet und organisiert von Moskau“]. 2„You know the Frank Sinatra’s song ‚I Did It My Way‘? Poland and Hungary are now doing it their way. I think the ‚Brezhnev Doctrine‘ is dead“ (Worte von Genadi Gerassimow, der außenpolitische Sprecher von Michail Gorbatschow, zit. nach Jones 2009, S. 257).
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
119
gewesen war. Durch einen Erlass des bulgarischen Parlaments vom 15.01.1990 wurden den Türk*innen die vorherigen muslimischen Namen zurückgegeben (Parlament 1990a, b). Infolge der Demokratisierungstendenzen wurden die de facto3 missachteten bürgerlichen Rechte (Meinungsfreiheit, Religionsausübung, Informationsfreiheit, Unantastbarkeit des Privateigentums und der Korrespondenz usw.) aller bulgarischen Staatsbürger*innen unter Schutz gestellt. Darüber hinaus wurde das Recht aller ethnischen Gruppen (Türk*innen, Juden, Armenier*innen, etc.) verankert, ihre Muttersprache in der Schule zu erlernen (vgl. Regierung 1994). Seit dem 13.11.1998 ist im neuen Radio- und Fernsehgesetz (vgl. Parlament 1998d, Art. 7, § 2 und Art. 12) das Recht aller ethnischen Gruppen in Bulgarien festgeschrieben, im staatlichen Radio- und Fernsehprogramm Sendungen in der eigenen Sprache auszustrahlen. Nach der Wende wurde im wirtschaftlichen Bereich eine Tendenz deutlich: Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Staates erwies sich die Subventionierung der staatlichen Betriebe als nicht rentabel. Viele Betriebe wurden zur Privatisierung angeboten oder geschlossen. Das führte zur Entstehung der Arbeitslosigkeit, die bis Anfang der 1990er Jahre ein unbekanntes Problem in Bulgarien war, da es nach der sozialistischen Doktrin eine Vollbeschäftigung geben sollte. Der Staat war verpflichtet, allen Bürger*innen eine Erwerbstätigkeit zuzuweisen. Im September 1991 wurden jedoch 8,3 % der bulgarischen Staatsbürger*innen ohne Arbeit gemeldet (Beleva 1994, S. 72), im Jahre 1992 erhöhte sich dieser Anteil auf 15 % (Riedel 1993, S. 117). Die Arbeitslosigkeit traf insbesondere die kleinen Städte und Dörfer sehr stark. Bei einem Landesdurchschnitt von 8 % (1991) hatte die Arbeitslosigkeit in manchen Orten im Süden, Südosten und Nordosten die „40 %-Marke überschritten“ (ebenda). Infolge der wirtschaftlichen Veränderungen erhöhten sich die Differenzen zwischen gut und schlecht verdienenden Menschen. In einer Gesellschaft, die bis vor 10 Jahren auf die Werte der Egalität gegründet war, werden die Einkommensunterschiede als ein großes Problem erlebt. In der Zeit nach 1989 haben die Veränderungen in der Wirtschaft und Politik die Entstehung einer Schattenwirtschaft4 begünstigt. Nach der offiziellen
3De
jure waren die bürgerlichen Rechte auch in den beiden sozialistischen Verfassungen gewährleistet, de facto aber wurden sie missachtet. Vgl. hierzu die Verfassungen der Volksrepublik Bulgarien von 1947 (Parlament 1947) und 1971 (Parlament 1971). 4Unter „Schattenwirtschaft“ versteht man die offiziell nicht registrierten Formen wirtschaftlicher Betätigungen.
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bulgarischen Statistik beträgt der Anteil der Schattenwirtschaft in manchen Wirtschaftszweigen, z. B. im Handel, bis zu 80 %. Der Anteil der Schattenwirtschaft an der Gesamtwirtschaft lag Schätzungen von Experten zufolge 1996 bei 28 % und 1997 bei 31 % (vgl. Nacionalen Statisticheski Institut 1998). Nach Angaben der Zeitung Trud betrug der Anteil der Schattenwirtschaft an dem Bruttoinlandsprodukt im Jahre 1999 23 % (Trud 2000, S. 7). Diese offiziell nicht registrierten Erwerbstätigkeiten verringern de facto die Zahl der Arbeitslosen und erhöhen das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung. Nach der Wende hat sich die Regierung die Aufgabe gestellt, das im Jahre 1948 verstaatlichte Eigentum den ehemaligen Besitzer*innen bzw. deren Erben zurückzugeben. Auf diese Art und Weise etablierte sich eine neue Schicht von Personen in der bulgarischen Gesellschaft, die ihr Eigentum vermieten konnten und ihre Arbeitskraft nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen mussten. Infolge der politischen Veränderungen im Jahre 1989, ist es zu einer Veränderung der strukturellen Bedingungen in Bulgarien gekommen. Es ist eine deutliche Tendenz der Demokratisierung des politischen Lebens festzustellen. Die politischen Reformen haben zu einer de facto Rückgabe der missachteten bürgerlichen Rechte aller bulgarischen Staatsangehörigen geführt. Hierzu gehört die Reisefreiheit, d. h. das Recht, Bulgarien ohne Einschränkung zu verlassen (Außenmigration) sowie das Recht, seinen Wohnort innerhalb Bulgariens frei zu wählen (Binnenmigration). Die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Bulgarien bilden den strukturellen Makro-Rahmen für die Migrationspolitik und für die Migrationspraxis. Zum einen lässt sich durch die wirtschaftliche Entwicklung und durch die politischen Veränderungen erklären, warum die Bulgar*innen nach dem Jahr 1989 massenweise das Land verlassen haben. Zum anderen kann durch die Analyse dieses Makro-Rahmens verdeutlicht werden, wie die Stellung der Migrant*innen in der bulgarischen Gesellschaft ist und wie über die Migration öffentlich debattiert wird. Der gesellschaftliche Makro-Rahmen allein kann aber das Verhältnis der Bulgar*innen zu den Migrant*innen nicht ausreichend erklären. Die Stellung der einzelnen Gesellschaftsgruppen wird nicht nur durch die sozialen Strukturen, sondern durch die Art und Weise beeinflusst, wie diese Strukturen durch die Akteure erlebt und interpretiert werden. Die Interpretationen bilden eine mentale Struktur, die sich aus Bildern, Vorstellungen und Ängste der sozialen Akteure zusammensetzt und ihrerseits die Behandlung bzw. die Stellung einer Gruppe in der Gesellschaft entscheidend beeinflussen. Um die Stellung der Migrant*innen (Emigrant*innen, Immigrant*innen, Transmigrant*innen, Rückwanderer*innen, Mobilen) in der bulgarischen Gesellschaft zu analysieren, sind die Vorstellungen über Migration, die in verschiedenen Perioden der bulgarischen
5.1 Migrationspolitik und Migrationspraxis in Bulgarien nach 1989
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Geschichte öffentlich artikuliert und politisch instrumentalisiert wurden, zu analysieren. Seit Beginn der 1990er Jahre bestehen in Bulgarien grundsätzlich neue Rahmenbedingungen, die mehr Chancen für Meinungsvielfalt bieten. Diese Chancen bestehen nicht nur in der gesetzlichen Verankerung der Rechte auf politische Partizipation, sondern auch in den Möglichkeiten der öffentlichen diskursiven Auseinandersetzung: In der bulgarischen Öffentlichkeit kann eine pluralistische Diskussion unter anderem auch über die bürgerlichen und politischen Rechte und auch über das Recht auf Migration geführt werden. Im Sozialismus war diese Diskussion wegen der Ideologisierung des Parteidiskurses und wegen des ‚einzig wahren Standpunktes‘ nicht möglich. Wie in Kap. 4 gezeigt wurde, wurde der Diskurs über die Migration einseitig von der Bulgarischen Kommunistischen Partei bestimmt. Abweichende Interessen wurden weder diskursiv noch politisch vertreten. Durch die Demokratisierung besteht die Möglichkeit, dass sich eine Pluralität der Interpretationen entwickelt. Durch diese Pluralität entsteht ein symbolischer Kampf zwischen den einzelnen Standpunkten und verschiedenen Interpretationen. Im Folgenden werde ich die Fragen nach den in der bulgarischen Öffentlichkeit, in der Politik und in der Wirtschaft vorherrschenden ‚legitimen‘ und ‚berechtigten‘ Migrationsformen sowie nach den Migrationsformen, die als ‚illegitim‘ und ‚verwerflich‘ abgestempelt werden, stellen.
5.1 Migrationspolitik und Migrationspraxis in Bulgarien nach 1989 Nach 1989 ist durch die Öffnung der Grenzen eine deutliche Veränderung in der demografischen Entwicklung der bulgarischen Gesellschaft festzustellen. Die Wende und die darauffolgende Liberalisierung der Grenzregime haben die Tendenz des Bevölkerungsrückgangs in Bulgarien befestigt. Lebten 1989 mehr als 8 Mio. Personen in Bulgarien, erreichte Ende 2004 die Zahl der Einwohner des Landes 7.761.000 Personen. Nach der aktuellen Bevölkerungszählung vom Jahr 2011 beträgt die Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen, die sich im Land aufhalten bzw. offiziell angemeldet sind, 7.364.570 (Nacionalen Statisticheski Institut 2011, S. 3). Die Außenmigration wird offiziell auf 175.244 Personen berechnet (ebenda). Diese Zahl ist geringer als die tatsächlichen Auswanderungen aus Bulgarien. Grund für diese statistische Ungenauigkeit ist die Tatsache, dass sich viele Personen, die das Land verlassen, behördlich nicht abmelden (Liakova 2014).
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5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
In den ersten Jahren nach 1990 verlassen schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Personen das Land (Kalfin 2009, S. 9). Die Zuwanderung nach Bulgarien ist in dieser Zeit sehr gering. Bis 2007 wird die Anzahl der bulgarischen Student*innen, die einen Hochschulabschluss im Ausland anstreben, auf ca. 54.000 Personen geschätzt (ebenda). Die Anzahl der Bulgar*innen, die zum Zeitpunkt des EU-Beitritts des Landes im Jahr 2007 außerhalb der Staatsgrenzen Bulgariens leben, wird auf drei Mio. geschätzt (Kalfin 2009, S. 5). Hiervon sind eine Mio. ausgewanderte bulgarische Staatsbürger*innen und ca. zwei Mio. ethnische Bulgar*innen, die außerhalb Bulgariens geboren und aufgewachsen sind. Diese ethnischen Bulgar*innen sind im überwiegenden Teil keine Migrant*innen; sie wurden im Ausland geboren. Von den eine Mio. Auswanderern lebten im Jahr 2007 ca. 800.000 Bulgar*innen in Ländern der EU, in den USA und Kanada (ebenda). Bei der Verwendung des Ausdrucks „Bulgar*innen, die im Ausland leben“ unterscheide ich zwischen den: A. Staatsangehörigkeitsbulgar*innen – Ethnische Bulgar*innen, welche die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen und im Ausland leben – Personen anderer ethnischer Gruppen (Armenier*innen, Türk*innen, Roma, Juden), die die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen und im Ausland leben B. Gefühlsbulgar*innen – Ethnische Bulgar*innen, die die bulgarische Staatsangehörigkeit nicht besitzen (verloren haben oder nie besessen haben, da sie eine andere Staatsangehörigkeit besitzen, z. B. des Landes, in dem sie geboren wurden) aber sich dennoch als ethnische Bulgar*innen definieren Aufgrund der Migrationserfahrung unterscheide ich zwischen: • Personen, die selbst migriert sind • Personen, deren Eltern migriert sind und sie selbst im Ausland geboren wurden • Personen, die nie migriert sind, aber aufgrund der Veränderung der Staatsgrenzen sich in einem anderen Land aufhalten und dessen Staatsbürger*innen geworden sind Ethnische Bulgar*innen lebten schon vor der Gründung des bulgarischen Nationalstaates im Jahr 1878 außerhalb der Staatsgrenzen Bulgariens, vor allem
5.1 Migrationspolitik und Migrationspraxis in Bulgarien nach 1989
123
in Moldawien, Rumänien, Albanien, Serbien, Republik Nordmazedonien und in der Ukraine. Es handelt sich um ethnische Bulgar*innen, die Staatsbürger*innen der jeweiligen Staaten sind. Sie sprechen sowohl Bulgarisch als auch die jeweilige Landessprache des Staates, in dem sie schulisch und medial sozialisiert worden sind. Zum größten Teil sind sie christlich-orthodox, einige, z. B. die in Albanien lebenden Bulgar*innen, gehören dem Islam an, die in der Region Banat (Rumänien) lebenden Bulgar*innen sind hingegen meist katholisch. Einige dieser Auslandsbulgar*innen migrierten nach der Wende im Jahr 1989 nach Bulgarien. In den letzten zehn Jahren seit 2007 ist eine deutliche Tendenz der Zunahme der vom bulgarischen Staat ausgestellten Nachweise der bulgarischen Herkunft festzustellen. So stieg die Anzahl der ausgestellten Nachweise an Personen, die aus der Republik Nordmazedonien stammen, von 11.778 im Jahr 2004 auf 15.759 im Jahr 2006 und erreichte 2018 eine Anzahl von 30.000 (Mediapool 2018). Das Ziel der Personen, die die Ausstellung dieser Nachweise beantragen, ist es, perspektivisch die bulgarische Staatsangehörigkeit zu erhalten. Eine dauerhafte Migration nach Bulgarien findet allerdings nicht statt. Diese Nachweise, und später die bulgarische Staatsangehörigkeit, werden de facto genutzt, um die Migration in ein anderes EU-Land, vor allem nach Deutschland, Großbritannien und Spanien, zu ermöglichen.
5.1.1 Institutionalisierung der bulgarischen Migrationspolitik Zu Beginn der 1990er Jahre erfolgte keine gezielte Steuerung der Migration von und nach Bulgarien durch den bulgarischen Staat. Die Einreisekontrollmechanismen, die in der Zeit des Sozialismus existiert haben, haben ihre Gültigkeit zunächst bis auf Weiteres beibehalten. Die Steuerung der Ausreise bulgarischer Staatsbürger*innen wurde im Vergleich zur vorherigen Periode gelockert und deideologisiert. Sie wird lediglich durch die Ausstellung der Reisepässe und durch Kontrollen an der Staatsgrenze ausgeübt. Der Abschied von der Ideologisierung bei der Begründung der Migrationspolitik in Bulgarien in den 1990er Jahre ist eine wichtige Änderung im Vergleich zur vorherigen Periode. Die staatliche Politik gegenüber den Bulgar*innen im Ausland5 wird von verschiedenen Institutionen gestaltet, die unterschiedliche Kompetenzen haben:
5Unter
diese Kategorie werden alle Gruppen der Bulgar*innen und der bulgarischen Staatsbürger*innen gefasst, die oben genannt wurden.
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die Regierung Bulgariens, das Außenministerium, das Innenministerium, die Staatliche Agentur für die Bulgar*innen im Ausland, das Bildungsministerium, das Justizministerium, das Arbeits- und Sozialministerium. So kontrolliert und gestaltet das bulgarische Bildungsministerium die staatliche Politik zur Bildung der im Ausland lebenden Bulgar*innen (Regierung 1993). Diese Tätigkeit umfasst die Leitung der drei bulgarischen Schulen in Prag, Budapest und Bratislava sowie die Koordinierung der Zusammenarbeit mit den von den migrierten Bulgar*innen gegründeten Schulen. Die Notwendigkeit zur Koordinierung der Tätigkeiten dieser Institutionen führte zur Gründung der Staatlichen Agentur für die Bulgar*innen im Ausland am 01.10.1992 (Regierung 1992). Bis 2004 ist sie direkt der Regierung untergeordnet. Seit 2005 wurde sie in das bulgarische Innenministerium integriert. In den verschiedenen Ministerien werden Abteilungen zur Steuerung der Migration gegründet. Im Ministerium für Arbeit und Soziales wurde die Abteilung „Freie Bewegung von Menschen, Migration und Integration“ geschaffen. Ihre Zuständigkeiten umfassen das Gebiet der Arbeitsmigration. Neben den Botschaften der Republik Bulgarien im Ausland werden Abteilungen für Arbeits- und Sozialfragen gegründet. Sie sind für die Visumerteilung an ausländische Staatsbürger*innen und für die Kommunikation mit den Auslandsbulgar*innen vor Ort zuständig. Im Innenministerium wird die Abteilung „Migration“ gegründet, die die ‚Zuwanderungsströme‘ nach Bulgarien kontrollieren soll. Die Arbeitsagentur, die Teil des Arbeitsministeriums ist, erteilt die Arbeitsgenehmigungen an ausländische Arbeitnehmer*innen und registriert die innerhalb der EU Arbeit suchenden EU-Migrant*innen. Im Justizministerium sind der Rat für Staatsbürgerschaft, die Abteilung Bulgarische Staatsbürgerschaft sowie die Nationale Kommission zur Bekämpfung des Menschenhandels für die Migrationsaspekte zuständig. Eine Besonderheit der bulgarischen Migrationspolitik ist ihre späte Institutionalisierung. Die Staatliche Agentur für die Geflüchteten nahm 1992 ihre Tätigkeit auf. Die Direktion „Migration“, die zum Innenministerium gehört, wurde allerdings erst 2004 gegründet. In der ersten Regierung von Boyko Borissov (2009–2013) gab es die Position eines Ministers für die Angelegenheiten der Bulgaren im Ausland. Die Regierung von Plamen Orescharski (2013–2014) verlegte die Direktion „Migration“ vom Innenministerium zur Grenzschutzpolizei – eine Veränderung, die einen symbolischen Charakter für die zunehmende Absicherung der Migrationspolitik in Bulgarien hat. Die Gründung dieser Institutionen verdeutlicht, dass sich eine voranschreitende Institutionalisierung der Steuerung der Migrationsprozesse bemerkbar macht. Allerdings mangelt es an einer koordinierenden Institution, einer
5.1 Migrationspolitik und Migrationspraxis in Bulgarien nach 1989
125
effektiven Vorgehensweise, einer umfassenden Konzeption, die den Migrationsbedarf zum einen und die Migrationsabsichten zum anderen analysiert und dementsprechend berücksichtigt. Es ist keine klare und gezielte staatliche Politik im Bereich der Migration zu erkennen. Die oben genannten Institutionen fördern unterschiedliche Initiativen, Messen, Meet-Ups und Veranstaltungen zum Thema Migration im In- und Ausland. Sie bleiben jedoch sowohl in der Wirkung als auch im Umfang eingeschränkt. Wie Anna Krasteva (2014, S. 618) treffend vermerkt: Im Sozialismus „gab es keine Migration, aber es gab Migrationspolitik“; nach der sozialistischen Zeit „existiert eine zunehmende Migration, aber es gibt keine Migrationspolitik“. Die Migration gehöre nach Krasteva nicht zu den „strategischen Zielen der neuen politischen Eliten“ (ebenda).
5.1.2 Migration und Bildung: Die Schulen der Auslandsbulgar*innen Die staatlichen bulgarischen Schulen in Ungarn und in der Tschechoslowakei wurde vor 1989 gegründet. Sie dienten den Mitarbeiter*innen der bulgarischen Botschaften und der Handelsvertretungen in den beiden Ländern. Nach der Wende 1989 ist mit der Erhöhung der Anzahl der bulgarischen Migrant*innen und mit der Verfestigung ihres Aufenthaltes im Ausland, die Notwendigkeit entstanden, Bildungsmöglichkeiten für den Nachwuchs zu eröffnen, in denen die bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte gelehrt werden. Eine Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Staat ist aufgrund der in vielen Fällen angestrebten Anerkennung der Abschlüsse notwendig. Die Bildungstätigkeit des bulgarischen Staates im Ausland wird in der Verordnung 103/1993 geregelt (vgl. Regierung 1993). Es gibt verschiedene Kategorien von Bildungsinstitutionen, die im Ausland für die dort lebenden Bulgar*innen Bildung in bulgarischer Sprache und in bulgarischer Geschichte anbieten. Die staatlichen bulgarischen Schulen in Ungarn, Tschechien und der Slowakei werden vom bulgarischen Staat finanziert und durch Abordnung bulgarischer Lehrer*innen personell unterstützt. Die Tendenz ist, nach Angaben der bulgarischen Regierung (Kalfin 2009, S. 17), dass die Anzahl der Schüler*innen in diesen Einrichtungen abnimmt. Der Grund dafür ist, dass diese Schulen, die eine komplette Ausbildung nach dem in Bulgarien gültigen Lehrplan anbieten, von den lokalen Behörden in Ungarn und Tschechien nicht als gleichwertig anerkannt werden. Nur die Schule in Bratislava (Slowakei) wird von den slowakischen Behörden als gleichwertig anerkannt.
126
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
Insgesamt 20 Schulen für die Botschaften und Konsularvertretungen der Republik Bulgarien sind vom Bildungsministerium lizenziert. Sie befinden sich in 15 Ländern. In diesen Schulen wird nach dem in Bulgarien gültigen Bildungsplan gelehrt, allerdings ist das Erreichen der für die Anerkennung des Abschlusses notwendigen Anzahl der Unterrichtseinheiten mit Schwierigkeiten verbunden. So können diese Schulen keine komplette Ausbildung anbieten. Die Schulen des jeweiligen Landes, in denen die bulgarische Sprache erlernt werden kann, sind 125. Sie befinden sich überwiegend in Ländern, in denen die bulgarischen Gemeinschaften den Status einer nationalen Minderheit haben, z. B. in der Ukraine, Moldawien, Rumänien oder Serbien. In diesen Schulen wird nach dem im jeweiligen Land gültigen Lehrplan gelehrt. Die bulgarischstämmigen Schüler*innen bekommen die Möglichkeit, die bulgarische Sprache im Rahmen der dafür vorgesehenen Unterrichtseinheiten zu erlernen. Die Samstags- und Sonntagsschulen werden überwiegend in Einwanderungsgesellschaften in Westeuropa, USA, Kanada und Australien gegründet. Sie haben einen fakultativen und ergänzenden Charakter. Der bulgarische Staat hat die Möglichkeit die Schulen finanziell und mit Lehrmaterialien zu unterstützen. Die meisten Schulen beantragen jedoch keine Unterstützung, sondern regeln die Bildung, vor allem im Fach „Bulgarisch“, nach ihren Möglichkeiten.
5.1.3 Die gesetzliche Verankerung der Migrationsproblematik Seit Anfang der 1990er Jahre wurden in Bulgarien die gesetzlichen Grundlagen geändert, die die Ein- und Auswanderungen regeln. Neue Gesetze wurden verabschiedet und die bereits existierende normative Basis wurde angepasst. Am 31.12.1993 wurde im bulgarischen Parlament der Gesetzentwurf zur Ratifizierung des Vertrags mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) beraten. Verabschiedet wurde dieser Vertrag am 16.03.1994 (vgl. IOM Bulgaria o. J.). IOM eröffnete ein Büro in Sofia im Jahr 2000. Am 31.05.1993 wurde die Regierungsverordnung N 103/31.05.1993 zur Bildungstätigkeit der im Ausland lebenden Bulgaren beschlossen (vgl. Regierung 1993). Im Jahr 1992 wurde die Agentur für die Bulgaren im Ausland gegründet (Kalfin 2009, S. 7). Diese wurde dann 1994 in „Staatliche Agentur für die Bulgaren im Ausland“ umbenannt. Am 04.12.1997 wurde mit der Verordnung Nr. 449 der Nationale Rat für ethnische und demografische Angelegenheiten gegründet (vgl. Regierung 1997a). Nach dem Gründungskonzept sollte der Nationale Rat eine Institution
5.1 Migrationspolitik und Migrationspraxis in Bulgarien nach 1989
127
sein, die Beratung und Koordinierung zwischen der Regierung und den Nichtregierungsorganisationen (NGOs), welche im Bereich der ethnischen und demografischen Angelegenheiten tätig sind, anbietet. Das Ziel dieser Beratung ist die Etablierung einer nationalen Politik im Bereich der ethnischen, demografischen und migrationsspezifischen Fragen. Der Rat untersteht direkt dem Vizepremierminister. In diesem Rat sollen auch Vertreter*innen der unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die in Bulgarien leben, beteiligt sein. 1997 wurde im Rahmen der Regierungsverordnung 228/20.05.1997 geregelt, wie die Aufnahme der mazedonischen Staatsbürger*innen als Studierende an bulgarischen Hochschulen zu erfolgen hat (vgl. Regierung 1997b). Am 01.04.1998 wurde im Parlament der Gesetzentwurf über die Bulgaren im Ausland beraten und im Jahr 2000 verabschiedet (Parlament 2000c). Im Jahr 1998 wurde das Gesetz über das Passwesen verabschiedet (Parlament 1998a). Am 18.06.1998 wurden der Gesetzentwurf über die Ausländer in Bulgarien (Parlament 1998b) und der Gesetzentwurf über die bulgarische Staatsangehörigkeit debattiert und verabschiedet (Parlament 1998c). 1999 wurde im Rahmen des Gesetzes über die bürgerliche Anmeldung geregelt (Parlament 1999a), wie das Anmeldewesen in Bulgarien zu erfolgen hat. Am 12.04.2001 wurden die Gesetzentwürfe zur Ratifizierung der UNO-Konvention und der Ergänzungsprotokolle gegen die transnational organisierte Kriminalität und den illegalen Menschenhandel, verabschiedet (Parlament 2001). Am 03.10.2003 wurde die Direktion „Migration“ im Innenministerium gegründet (Parlament 2003). Ein weiterer Meilenstein bei der Regulierung der Migration von und nach Bulgarien ist die Nationale Strategie zur Steuerung der Migration 2008–2015 (Regierung 2007). Es ist das erste Dokument, in dem deutlich wird, wie der bulgarische Staat die Migration definiert. In dieser Strategie sind die Zielsetzungen der politischen Institutionen im Bereich der Migration sichtbar. Zwei Ziele werden im Dokument bestimmt: 1. Gezielte Anwerbung von Personen mit bulgarischer Staatsangehörigkeit, die in anderen Ländern leben und Personen bulgarischer Herkunft, die andere Staatsangehörigkeiten besitzen und in anderen Ländern leben, um ihre dauerhafte Ein- oder Zurückwanderung nach Bulgarien zu ermöglichen. 2. Detaillierte Ausarbeitung einer Politik zur Aufnahme und Integration von ausländischen Staatsbürger*innen in Bulgarien. Die Grundlage der Strategie bildet ein ethnisch, mono-sprachlich und mono-kulturell geprägtes Verständnis des ‚Bulgarentums‘. Als Zielgruppe der Strategie werden die ethnischen Bulgar*innen, die außerhalb Bulgariens leben,
128
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
definiert. Von geringer Bedeutung ist das Thema der Migration und Integration ausländischer Staatsbürger*innen. Die Integration der Auslandsbulgar*innen und vor allem der Vertreter*innen der historisch gewachsenen bulgarischen Diaspora werden als unproblematisch und als fraglos gegeben angesehen. Es wird angenommen, dass die Herkunftsidentität der Auslandsbulgar*innen so stark ist, dass sie in die ‚alte Heimat‘ zurückkehren möchten und werden. In der Tat sind aber die Motive dieser Gruppe ganz pragmatischer Art. Die ethnischen Bulgar*innen, die im Ausland leben und keine Staatsbürgerschaft besitzen, kehren nach Bulgarien zurück, beantragen bulgarische Staatsangehörigkeit und migrieren nach West-Europa. Die bulgarischen Pässe werden nicht aus sentimentalen Gründen beantragt, führend sind die pragmatischen Einstellungen, z. B. Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt, Recht auf Freizügigkeit und visumsfreie Einreise. Durch den ethnisch dominierenden Tenor in der Strategie wird deutlich, dass die bulgarischen Aussiedler*innen aus Moldawien von der Politik des bulgarischen Staates privilegiert werden, der arabischstämmige Arzt hingegen als ‚Ausländer‘ verstanden wird. Eine besondere Aufmerksamkeit wird der Strategie der wirtschaftlichen Migration gewidmet. Sie ist allerdings im Kontext der internationalen Investitionen begriffen. Als eine besondere Gruppe im Rahmen des strategischen Dokuments werden die in Bulgarien graduierten ausländischen Studierenden behandelt. Die Strategie befasst sich nicht mit dem Thema kulturelle Vielfalt. Sie betont die sprachlichen und kulturellen Grundlagen der Integration und definiert die Integration monokulturell. Der Strategie liegt die Erwartung zugrunde, dass die Integrationsabsichten und -möglichkeiten bei den Vertreter*innen der bulgarischen Minderheiten, die im Ausland leben, per se vorhanden sind. Das ist die Gruppe, die in diesem staatlichen Dokument am meisten Aufmerksamkeit erhält. Hingegen fehlt in der Strategie das Thema (Re)Integration der bulgarischen Rückwander*innen. Es finden sich keine konkreten Maßnahmen zur (Re) Integration von hoch qualifizierten Migrant*innen. Es wird angenommen, dass sie entweder gar keine (Re)Integrationsförderung benötigen oder, dass sie gar nicht nach Bulgarien zurückwandern. Die zweite Nationale Strategie 2015–2020 (Regierung 2014) wurde nur drei Jahre nach der ersten verabschiedet. Sie unterscheidet sich in ihrem Kern stark vom ersten Dokument für die Jahre 2008–2015. Die Hauptthemen sind nicht die Stimulierung bestimmter Zuwanderungsformen und die Gestaltung der Integrationsprozesse im Land, wie es bei der ersten Strategie der Fall ist, sondern
5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“
129
die Prävention, die Begrenzung und Steuerung der Migration nach Bulgarien. Das Ziel der zweiten Strategie ist, die Einwanderung einzuschränken. Als Leitmotiv wird das Thema der irregulären Zuwanderung erörtert. In der ersten Strategie ist keine Einschränkung von Zuwanderung beschrieben. Sie definiert ihre Zielgruppen in den bulgarischen Diaspora in Europa sowie in der möglichen Rückkehrmigration der im Ausland lebenden Bulgar*innen. Hingegen ist das Ziel der zweiten Strategie nicht so sehr die Inklusion dieser, sondern die Exklusion der Migrant*innen. Die Erwartung, die in der zweiten Strategie impliziert wird, ist, dass die irreguläre Migration zunehmen wird. Das Ziel ist, Bürger*innen aus Drittstaaten, Personen ohne Staatsangehörigkeit und irreguläre Migrant*innen fern zu halten und ihre Einreise zu erschweren. In der zweiten Strategie ist die Fokussierung auf das Thema Sicherheit besonders ausgeprägt. Demgegenüber verliert die Verbindung zwischen Migration und Wirtschaft im zweiten Dokument an Bedeutung. Offiziell ist die zweite Strategie seit 2011 in Kraft, praktisch wird sie jedoch nicht umgesetzt. Der letzte Bericht über die Maßnahmen, die nach dem Strategieplan zu implementieren sind, bezieht sich auf das Jahr 2012. Für das Jahr 2013 ist ein Arbeitsprogramm verabschiedet worden, es ist jedoch kein Jahresbericht vorhanden. Für das Jahr 2014 wurde kein Arbeitsprogramm verabschiedet. Grund dafür ist die angespannte innenpolitische Situation im Jahr 2013, die durch eine Regierungskrise und durch die längsten Proteste in der neuesten Geschichte Bulgariens gekennzeichnet ist. In der Migrationspolitik der letzten Jahre ist eine mangelnde Kontinuität festzustellen. Wie Anna Krasteva (2014, S. 629) vermerkt, ist „die Unfähigkeit der postkommunistischen Eliten, die politische Kurzsichtigkeit der politischen Mandate zu überwinden und national verantwortlich handelnd Ziele zu formulieren, die über eine Regierungsperiode hinausgehen“ von Bedeutung für diese Entwicklung. Die Migrationspolitik zeichnet sich durch Diskontinuität und durch die fehlenden Zielsetzungen der verantwortlichen Akteur*innen aus.
5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“ Im Folgenden werden zunächst die bulgarischen Parlamentsdebatten im Zeitraum 1990–2015 sowie die Positionen unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure zu den Themen Migration und Mobilität analysiert. Das Ziel der Analyse ist es, den gesamtgesellschaftlichen Kontext, in dem die Ein- und Auswanderungsbewegungen stattfinden, zu rekonstruieren.
130
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
5.2.1 Die Parlamentsdebatten 1990–2015 Um den politischen Diskurs zum Thema Migration in Bulgarien zu analysieren, werden die Parlamentsdebatten in der Zeit 1990–2015 herangezogen und einer Inhaltsanalyse unterzogen. Analysiert werden die Protokolle aller Debatten im bulgarischen Parlament, in denen die Begriffe „Migration“, „Emigration“, „Immigration“, „Migrant*in“, „Emigrant*in“, „Immigrant*in“, „Mobilität“, „mobil“ und „Ausländer“ wenigstens einmal vorhanden sind. Es handelt sich um eine themenzentrierte Inhaltsanalyse, die das Ziel hat, die einzelnen Diskursstränge zu identifizieren und dabei zu verdeutlichen, wie in der bulgarischen politischen Öffentlichkeit eine Vorstellung der legitimen und der nicht legitimen Migration etabliert wird. Die Analyse der Debatten im bulgarischen Parlament zeigt, dass zu Beginn der 1990er Jahre das Thema Migration nicht intensiv rezipiert und öffentlich diskutiert wird. Im Jahr 1990 wird das Thema parlamentarisch gar nicht berücksichtigt. Im Jahr 1991 wird insgesamt vier Mal über das Thema Ausländer und einmal über das Thema Mobilität diskutiert. Diese werden aber im Kontext verschiedener Infrastrukturplanungen erörtert. 1992 wird in neun Plenarsitzungen des bulgarischen Parlaments über Migration gesprochen. Die Anzahl aller Sitzungen bis zum Jahr 2015, die das Thema Migration behandeln, beläuft sich auf 358. Über das Thema Emigration wird im Jahr 1992 in 7 (von 118) Sitzungen debattiert. Das Thema Immigration steht im Jahr 1992 lediglich in einer Sitzung zur Debatte. Bis zum Jahr 2015 wird das Thema in 31 Sitzungen besprochen. Im Jahr 1993 wird in 10 Sitzungen das Thema Migration diskutiert. In sechs Sitzungen geht es um das Thema Emigration und in einer um Immigration. In der beigefügten Tab. 5.1 wird deutlich, wie sich die Diskussionen über das Thema Migration im bulgarischen Parlament mit der Zeit entwickelt haben. Es ist eine Zunahme der Intensität der Diskussionen festzustellen. Tab. 5.1 zeigt die Häufigkeit der Verwendung der Begriffe im Rahmen der Debatten im bulgarischen Parlament (1990–2015). Über Migration wird im bulgarischen Parlament relativ wenig diskutiert. Die Intensität der Debatten nimmt allerdings mit der Zeit zu. Die Migrationsthematik wird überwiegend als „Emigration“ verstanden. Die „Immigration“ steht vergleichsweise deutlich weniger im Mittelpunkt. Die Nennung von „Emigrant*in“ kommt in 152 Debatten und von „Immigrant*in“ nur in 66 Debatten vor. In den Debatten ist das Thema „Immigration“ stark von einer Ablehnung geprägt. Gesprochen wird über „Ausländer*in“ (das Wort wird in der Singularform in 223 Debatten und in der Pluralform in 649 Debatten verwendet), über „Flüchtling“ (in 87 Debatten) und „Flüchtlinge“ (in 389 Debatten).
5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“ Tab. 5.1 Häufigkeit der Verwendung der Begriffe im Rahmen der Debatten im bulgarischen Parlament (1990–2015). (Quelle: Copyright Parlament der Republik Bulgarien; eigene Berechnung)
131
Jahr
Migration
Emigration
Immigration
1990
–
–
–
1991
–
–
–
1992
9
7
1
1993
10
6
1
1994
4
–
–
1995
–
–
–
1996
10
9
1
1997
6
2
–
1998
10
5
2
1999
13
4
1
2000
14
6
4
2001
8
3
–
2002
15
9
1
2003
11
2
–
2004
9
5
1
2005
8
3
–
2006
18
4
–
2007
17
8
3
2008
21
5
2
2009
19
4
2
2010
21
5
1
2011
18
5
2
2012
20
4
1
2013
20
4
2
2014
25
5
2
2015
52
13
4
Gesamt
358
118
31
In den Parlamentsprotokollen sind die Motive der politischen Akteure deutlich festzustellen, die sich seit dem Beginn der 1990er Jahre wiederholen. Ein Thema, das über Jahre hinweg im bulgarischen Parlament angesprochen wird, ist die Binnenmigration in Bulgarien. In der Zeit des Sozialismus unterliegt die
132
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
Binnenmigration strengen Regelungen. Man kann zwar den Ort, an dem man geboren wurde, für kurzfristige Reisen verlassen, eine längerfristige Umsiedlung unterliegt jedoch einer speziellen Genehmigung. Diese Regelung wird nach der Wende gelockert: Die Binnenmigration unterliegt nicht mehr politischer, sondern viel mehr wirtschaftlicher Kontrolle. Jede*r, der oder die sich es leisten kann, kann ohne Weiteres ihren oder seinen Geburtsort verlassen. Diese politisch unkontrollierten Umsiedlungen werden parlamentarisch debattiert, denn sie führen zur Veränderung der demografischen Situation, insbesondere in den kleineren Städten und Dörfern des Landes. Die Migration wird sowohl im Kontext von Binnen-, als auch im Kontext von Außenmigration als Zeichen von Armut interpretiert. Die Menschen migrieren, weil sie sozial schwach sind, so der Tenor. Als Teilproblem der unkontrollierten Wanderungen wird auch die hypothetische Möglichkeit der unkontrollierten Zuwanderung bulgarischstämmiger Personen, die als Minderheiten in anderen Ländern leben, z. B. in Rumänien, Moldawien oder Russland, genannt. Dabei könnte sich eine Zuwanderung dieser Art auf die bilateralen Beziehungen zwischen Bulgarien und dem jeweiligen Land auswirken. „Die Stimulierung oder Öffnung eines Emigrantenstroms Richtung Bulgarien wird die bilateralen Beziehungen mit den Staaten beeinflussen, in denen jetzt bulgarische Minderheiten leben. Außerdem muss berücksichtigt werden, ob dieser Prozess für unseren Staat nützlich ist und ob er momentan wirtschaftlich in der Lage ist, das zu stemmen“ (Parlament 1993, o. S).
Ein weiteres dominierendes Thema in den Parlamentsdebatten sind die Reiseeinschränkungen, mit denen die bulgarischen Staatsbürger*innen aufgrund der Visumspolitik unterschiedlicher europäischer Länder konfrontiert werden. Bulgarien ist auf eine Negativliste der europäischen Länder gesetzt worden, sodass die visumfreie Fortbewegung bulgarischer Staatsbürger*innen in Europa nach 1989 nicht möglich ist. Die bulgarischen Regierungen und das Parlament versuchen Voraussetzungen zu schaffen, dass Bulgarien von dieser Negativliste genommen wird. Eine Voraussetzung hierfür ist die Einschränkung der irregulären (Transit)Migration bulgarischer Staatsbürger*innen nach Europa und anderer Staatsbürger*innen über das bulgarische Staatsgebiet nach Europa. Die Diskussionen, wie Bulgarien aus dieser Liste herausgenommen werden kann, bilden den Kern der bulgarischen migrationspolitischen Debatten der 1990er Jahre. Das symbolisiert auch die Richtung der bulgarischen Migrationspolitik – sie ist in dieser Zeit vor allem als Emigrationspolitik zu verstehen. Das
5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“
133
Ziel der staatlichen Institutionen ist, möglichst vielen Bulgar*innen zu ermöglichen, das Land ungehindert zu verlassen. Zum anderen schafft die Emigration Probleme. Da die Einreise in das europäische Ausland ohne Visum nicht möglich ist, machen sich die bulgarischen Staatsbürger*innen oft strafbar, indem sie manchmal ohne Visum in die europäischen Länder einreisen oder diese Länder nicht rechtzeitig verlassen (sog. „overstayer“6). In diesem Kontext wird die Emigration nicht nur als Chance und Recht, sondern auch als Problem definiert. Im Jahr 1996 wird zum ersten Mal das Thema über die sozialen Folgen der Arbeitsmigration von ausländischen Bürger*innen in Bulgarien im Parlament diskutiert. Ein Abgeordneter der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) stellt fest, S. „Für das Land ist das Immigrationsproblem mit seinen schwierigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Dimensionen relativ neu und es ist keine Statistik vorhanden, in der man seinen Umfang prüfen könnte. Zum größten Teil sind die angemeldeten Unternehmen der Bürger*innen arabischer, afrikanischer und asiatischer Staaten eine verdeckte Form der Wirtschafts- und teilweise der Arbeitsmigration. […] es wird die Notwendigkeit zunehmen, dass eine klare und faktisch noch konkretere Reglementierung des Rechts auf Arbeit der Ausländer in der Republik Bulgarien unternommen wird“. Das Ziel dieser Reglementierung soll die „Nicht-Zulassung von Dumping der bulgarischen Arbeitskraft“ sein (Parlament 1996, o. S.). Die Abwanderung von Jugendlichen ist ein Thema, das in der ganzen Periode thematisiert wird. Diese wird als Verlust und als ein wichtiges gesellschaftliches Problem dargestellt (vgl. Parlament 2015c). Das Thema der Immigration beschäftigt die Abgeordneten auch im Jahr 1997; diesmal stehen die irreguläre Migration und Kriminalität sowie ihre Bekämpfung im Fokus. Mit der Zeit wird deutlicher, dass sich das Parlament zunehmend mit dem Thema Sicherung der Außengrenzen beschäftigt und diverse Verordnungen zur Kontrolle der Migration verabschiedet. Das Ziel ist, die Außengrenzen Bulgariens besser zu kontrollieren, dadurch die Einwanderung einzuschränken und sich als loyaler Partner der westeuropäischen Staaten zu zeigen. Dadurch soll die Abschaffung der Einreiseeinschränkungen für bulgarische Staatsbürger*innen, die die europäischen Staaten verabschieden sollen, erreicht werden. In einer Rede der bulgarischen Außenministerin Nadeschda Michajlowa heißt es, S. „Im letzten
6„Overstayer
is a person who illegally remains in a country after the period of the permitted visit has expired.“ (vgl. hierzu Collins Dictionary (o. J). Vgl. auch Oswald (2007, S. 168 ff.)).
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5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
Vortrag der Internationalen Organisation für Migration wird betont, dass dank der verabschiedeten Maßnahmen Bulgarien nicht mehr eine Gefahr als Transitland darstellt, durch welches Bürger aus Drittländern auf ihrem Weg in die EU migrieren“ (Parlament 1998e, o. S.). Der Ministerpräsident Iwan Kostow betont: „Wir hoffen, dass die Mitgliedsländer die Entscheidung treffen, Bulgarien aus den Negativlisten zu streichen und den bulgarischen Bürgern die Möglichkeit geben, ohne Visum im Schengen-Raum zu reisen“ (ebenda). Praktisch ist die Migrationspolitik Bulgariens in dieser Periode darauf fokussiert, die Visumfreiheit für die bulgarischen Staatsbürger*innen zu erreichen, indem die Voraussetzungen, die von den europäischen Staaten gestellt wurden, erfüllt werden. Die Reisefreiheit wird auch von der politischen Elite als Chance definiert. Die Risiken dieser Reisefreiheit werden, zumindest bis sie im Jahr 2001 eingeführt wird, nicht thematisiert. Nach 2001, auch im Kontext der geänderten weltpolitischen Lage, wird die Migration zunehmend auch als Gefahr verstanden. Der Abgeordnete Janaki Stoilov betont in einer Rede: „Die Welt in der Ära nach dem Kalten Krieg wird immer unbeständiger. Die regionalen und lokalen Militärkonflikte, der Terrorismus und die Migration nehmen zu. Die Risiken, dass sich der Krieg in Jugoslawien verbreitet und sich die Flüchtlingswelle aus Kosovo auf die gesamte Halbinsel ausbreitet, nehmen zu“ (Parlament 1999b, o. S.). Seit 2001 werden auch die Themen Migrationsdruck und Migrationsgefahr im parlamentarischen Diskurs dominierend. Die Auseinandersetzung mit irregulärer Migration und Menschenhandel ist weiterhin ein führendes Diskussionsthema im bulgarischen Parlament, obwohl die Reisefreiheit seit 2001 gewährleistet wurde. Der Innenminister (2005–2008) Rumen Petkov spricht über die „illegale Migration“. Im Parlamentsausschuss für Nationale Sicherheit wird ebenso über „illegale Migration“ und über „Risikomigration“ (Hervorh. ML) debattiert. Der Begriff „Risikomigration“ wird zum ersten Mal von Borislav Balgarinov, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Nationale Sicherheit, am 28.06.2006 verwendet (Parlament 1996, o. S.). Mit diesem Begriff meint er die Migration, die als Bedrohung für den Nationalstaat gilt. Im Kontext der Migration wird über die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, des Menschenhandels und des Terrorismus gesprochen. Ein neues Thema, das zum ersten Mal im Jahr 1999, also 10 Jahre nach der Wende eingeführt wird, ist die Abwanderung aus bestimmten Regionen Bulgariens und die schwerwiegenden Folgen. So betont die Abgeordnete aus der Region Smolyan: „Die Gastarbeit („гурбетчийството“) und die ständige Arbeitsmigration, die Wanderung von Menschen aufgrund des mangelnden Auskommens
5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“
135
vor Ort, die Desintegration der Gesellschaft und die fehlende Perspektive können analysiert werden, Lösungen werden aber nicht gefunden“ (Parlament 1999c, o. S.). Dieses Thema dominiert die Parlamentsdebatten auch in den folgenden Jahren und dauert an bis zum Ende der analysierten Periode (Parlament 2015c). Man redet offiziell von einer „demografischen Krise“, die durch die Emigration verursacht wird. Diese Krise wird auch als „eine Quelle nationaler Unsicherheit“ bezeichnet. Sie hat „wirtschaftliche“ und „nicht ideologische“ Ursachen, betont Georgi Parvanov, damals Abgeordneter der Sozialistischen Partei (BSP). Die Emigration beeinflusst die demografische Entwicklung und dadurch auch die nationale Sicherheit, so der Tenor (Parlament 2000a, o. S.). Auf den Punkt bringt es der Abgeordnete Alexander Tomov: „Viele Menschen verlassen dieses Land wegen der außerordentlich großen Differenzierung der Einkommen hier, in den Nachbarländern und in Europa“. Bei Einführung der visumfreien Reise besteht nach Tomov die Gefahr, dass „alle, die jung und fähig sind, das Land verlassen werden“ (Parlament 2000b, o. S.). Die Auswanderung wird zunehmend als Gefahr für die Entwicklung des Landes wahrgenommen. In einer Situation verstärkter Migration kann das positive Beispiel Bulgariens im Bereich der ethnischen Toleranz genutzt werden. Der Abgeordnete Krassimir Velchev (GERB) betont: „Bulgaren, Türken, Roma, Armenier, Juden, Griechen und andere haben in Bulgarien lange Zeit in Frieden und Verständigung gelebt. Zwischen den unterschiedlichen Glaubensrichtungen existiert Respekt und Akzeptanz […] wir müssen vereint gegen den Extremismus, Xenophobie und Rassismus stehen“ (Parlament 2015a, o. S.). Seit 2013 nimmt die Anzahl der geflüchteten Personen, die nach Bulgarien migrieren, zu. Das Thema wird zentral auch in Diskussionen im bulgarischen Parlament. Der Begriff „Migrationsdruck“ dominiert die Debatte. Es ist eine zunehmende „Versicherheitlichung“7 im Diskurs und im Handeln der Politiker und der Institutionen festzustellen. Es werden Maßnahmen besprochen, die Bulgarien zu treffen hat, um die Staatsgrenze, die zugleich eine Außengrenze der EU ist, zu schützen (vgl. Parlament 2015b). Sind Unterschiede zwischen den einzelnen politischen Parteien in Hinblick auf die Sichtweise zur Steuerung der Migration festzustellen?
7Die
„Versicherheitlichung“ in der internationalen Politik und in den Migrationsdebatten ist ein Thema, das intensiv analysiert wird. Vgl. Baumann (2006); Buzan et al. (1998).
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5.2.2 Die politischen Parteien und ihre Stellung zur Migration In der Zeit 1945–1989 existierte in Bulgarien das sog. „Einparteiensystem“ mit der in der Verfassung verankerten „führenden Rolle der Kommunistischen Partei“ (Parlament 1971). Infolge der Demokratisierung des politischen Lebens nach 1989 kam es zur Entstehung zahlreicher Parteien und politischer Bewegungen. Die einflussreichste Partei in den ersten Jahren nach 1989 war, trotz der Einschränkung ihrer „führenden Rolle“, die Bulgarische Kommunistische Partei (BKP). Sie versteht sich als Nachfolgerin der im Jahr 1891 gegründeten Bulgarischen Sozialdemokratischen Partei. Am 03.04.1990 wurde sie in Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) umbenannt. Die Partei bekennt sich zu den Ideen des Sozialismus. Sie ist Mitglied in der sozialistischen Internationale und in der Partei der europäischen Sozialisten (PES). Eine Analyse der Dokumente der Partei verdeutlicht, dass keine kontinuierliche Position in Bezug auf die Migration zu erkennen ist. Vielmehr nimmt die Partei Stellung zu verschiedenen tagesaktuellen Problemen mit Migrationsbezug. Die Position zur Migration ist eine ambivalente. Im Parteiprogramm vom 22.–23.11.2008 (vgl. BSP 2008) beklagt die BSP die demografische Krise der bulgarischen Gesellschaft, die „dauerhaft“ ist und das Potenzial hat, „zu einer Katastrophe zu werden“ (BSP 2008, S. 18). Nach diesem Parteidokument ist die „Massenemigration nach 1989“ (ebenda) die Ursache für die schwierige demografische Lage Bulgariens. Notwendig sei eine komplett neue Vorgehensweise, um dieses Problem zu lösen. Welche sie sein soll, wird im Programm nicht bestimmt. Im gleichen Programm stellen sich die Sozialisten selbst als eine „patriotische Partei“ vor. „Unsere erste Aufgabe ist, die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit des bulgarischen Staates zu bewahren, die Aufbewahrung und die Popularisierung des bulgarischen kultur-historischen Erbes und die Etablierung und Entwicklung der bulgarischen Identität zu gewährleisten“ (BSP 2008, S. 5). In einer Erklärung vor dem Parlament, die am 04.12.2015 gemacht wurde, betont der Parteivorsitzende Michail Mikov, dass Bulgarien in den letzten Jahren „jährlich um 40.000 Personen kleiner wird“ (Parlament 2015b, o. S.). Besorgniserregend sei die Tatsache, dass die Bevölkerung Bulgariens in 10 Jahren 6,6 Mio. Personen erreichen wird. Die Migration wird in diesem Kontext als Verlust wahrgenommen. Zur gleichen Zeit erklärt die Partei in ihrem Programm zu den Europawahlen 2014 (vgl. BSP 2014), dass es ein besonderes Anliegen der EU sein soll, eine
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neue Strategie aufzunehmen, die gute Lebensbedingungen für Immigrant*innen, die ein besseres Leben suchen, gewährleistet. „Es ist notwendig, dass mit europäischen Ressourcen diejenigen Mitgliedsländer unterstützt werden, die dem direkten Migrationsdruck ausgesetzt sind, der ein gesamteuropäisches Problem darstellt“ (BSP 2014, S. 9). In einem Positionspapier der BSP zur Flüchtlingskrise aus dem Jahr 2013 ist zu lesen: „Der bulgarische Staat soll im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen weiterhin Schutz anbieten, die aus dem Militärkonflikt in Syrien fliehen. Solange sich diese Menschen auf unserem Boden aufhalten, dürfen sie nicht Opfer von Diskriminierung und anderer inhumaner Behandlung werden. Gleichzeitig sind die Aufnahmekapazitäten Bulgariens eingeschränkt; die Maßnahmen der Regierung zum Eindämmen des Flüchtlingsdrucks sollen unterstützt werden“ (BSP 2013, S. 2). Weiterhin fordert die BSP in diesem Positionspapier den besonderen Schutz der Flüchtlingskinder und die Gewährleistung guter Lebensbedingungen in den Aufnahmezentren. Als wichtigste Ziele werden der Frieden in Syrien sowie die Möglichkeit der Geflüchteten, zurückzukehren, definiert (ebenda). Die BSP unterstützt die Integration der Flüchtlinge in die bulgarische Gesellschaft, sieht aber die Verantwortung dafür bei den geflüchteten Personen: „Die Flüchtlinge, die Schutz und Asyl in unserem Land gefunden haben, haben die existierende Rechtsordnung zu respektieren und sich um die Integration in die Gesellschaft zu bemühen. Zunächst sollen sie Bulgarisch lernen“ (ebenda). In der offiziellen Parteizeitung Duma wird über die Geflüchteten berichtet. In ihr werden Informationsnotizen veröffentlicht. Die Ereignisse werden aus einer Distanzperspektive betrachtet. Es wird über „Geflüchtete, die untergebracht worden sind“ („настанени бежанци“) (Duma 2013a) und „aufgenommene Flüchtlinge“ („приети бежанци“) (Duma 2013b) berichtet. Es werden Berichte über die Proteste bulgarischer Staatsbürger*innen gegen die Geflüchteten veröffentlicht, ohne dass sie kommentiert werden (Duma 2013c). Auch der mangelhafte Zustand der Asylunterkünfte wird beschrieben (Duma 2013d). Im bürgerlichen Spektrum hat sich in den letzten Jahren die Partei „Bürger für europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB) als die einflussreichste Kraft etabliert. Praktisch hat sie Parteien wie die Union der Demokratischen Kräfte (SDS) und die sog. „authentischen Rechten“ der Demokraten für ein starkes Bulgarien (DSB), die sich nach 1989 im rechten Spektrum positioniert haben, verdrängt und marginalisiert. Die Partei wurde im Jahr 2006 in Sofia gegründet. Seit 2009 ist sie stets die stärkste Partei bei den Parlamentswahlen in Bulgarien. Teilweise hatte sie auch die meisten Stimmen bei den Regionalwahlen erhalten und den Präsidenten des Landes (2012–2017) gestellt.
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Eine vollständige Politik im Bereich der Migration hat die Partei dennoch nicht. So wird im politischen Leitrahmen (Political Frame) der Partei (GERB o. J.) Migration als „Problem“ definiert und in einer Reihe mit anderen globalen Herausforderungen wie die „Weltwirtschaftskrise, ökonomische Rezession in der Eurozone, die globalen Klimaveränderungen, die Arbeitslosigkeit […] und die demografische Krise“ (ebenda) genannt. Als Ziel im politischen Programm der Partei (GERB 2013) wird die Unterstützung der bulgarischen Diaspora im Ausland definiert. Ferner heißt es im Kapitel „Zielgerichtete Politik zur Stützung der bulgarischen Identität, Sprache und Kultur in den traditionellen und neuen bulgarischen Gemeinschaften im Ausland“ (GERB 2013, S. 179), dass die „Unterstützung und die Entwicklung der Integration der bulgarischen Gemeinschaften im Ausland […] eine der Grundprioritäten der GERB-Partei“ ist (ebenda). Als Aufgabe wird die „aktive Zusammenarbeit mit den traditionellen Gemeinschaften“ und mit der „bulgarischen Diaspora, die infolge der Arbeitsmigration entsteht“ bestimmt (ebenda). Das soll durch die „Bildung der Kinder“, z. B. durch die staatliche Finanzierung des Bildungsprogramms „Muttersprache“ („Родна реч“), durch eine staatliche Förderung und durch Stipendienprogramme für Studierende und zur Unterstützung der bulgarischen Gemeinschaften in Serbien, Rumänien, Moldawien und in der Ukraine gewährleistet werden (ebenda). GERB erklärt sich explizit für die Unterstützung der ausländischen Investoren (ebenda, S. 3). Eine Ausführung der Thematik der Wirtschafts- und Arbeitsmigration findet sich dennoch nicht. In einer gesonderten Erklärung (GERB 2015a) verurteilt GERB die Terrorangriffe in Paris. „In der Zeit, in der die europäischen Staaten und die europäischen Bürger*innen hunderte Geflüchtete und Migrant*innen aufnehmen und Sorge dafür tragen, die entstehenden Schwierigkeiten zu überwinden, haben einige junge Menschen, denen alle Möglichkeiten der Zivilisation zur Verfügung stehen, ihren Landsleuten das Leben genommen“. Die Verantwortung für den Anschlag wird nicht einseitig auf die Migrant*innen abgeschoben, sondern in Europa und in der Verantwortung der europäischen Institutionen für die „Bildung und Integration dieser Menschen“ gesucht, „für die wir ernsthaft denken und arbeiten müssen“ (ebenda, S. 1). Die Lösung der Flüchtlingskrise sieht GERB in der Zusammenarbeit mit der EU und mit der aktiven Unterstützung der EU (GERB 2015b). Das Ziel ist, durch die „Offenheit der Flüchtlingsdebatten“ die Einstellungen der Bürger*innen zu ändern und sie „toleranter“ und „humaner“ zu machen. 2014 befindet sich GERB in der Opposition. In dieser Rolle kritisiert die Partei die damalige Situation der Flüchtlinge in Bulgarien und die Politik der
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Regierung. Insbesondere der Vorfall im Dorf Rosovo in Zentralbulgarien, in dem eine syrische Familie von den Dorfbewohnern aus ihrem legal gemieteten Haus verjagt wurde, wurde scharf kritisiert. Die Flüchtlingspolitik der Regierung wird als „Misserfolg“ bezeichnet (GERB 2014). Dominierende Themen in den Positionspapieren im Bereich Migration sind die Sicherheit, die Kontrolle der Staatsgrenzen und der Schutz vor Menschenhandel. Besonders aktiv in diesem Bereich ist die Abgeordnete Maria Gabriel. Sie setzt sich für die Bekämpfung des Menschenhandels und des Menschenschmuggels ein (Gabriel 2015a). Sie unterstützt zudem auch das Frauenempowerment im Bereich der Migration (Gabriel 2015b). In den Jahren nach 1989 gewinnt die Partei Bewegung für Rechte und Freiheiten (BRF, bulgarisch: Dvizenie za prava i svobodi, DPS) eine besondere Bedeutung. Die Bewegung wurde 1990 gegründet. Sie ist die Nachfolgeorganisation der 1985 von Ahmed Dogan (damals Medi Doganov) gegründeten „Türkischen Volksbefreiungsbewegung in Bulgarien“, die im Zuge des sog. „Wiedergeburtsprozess“ entstand. Nach der Gründung der Bewegung am 04.01.1990 kam es zu heftigen Protesten von Bulgar*innen. 1991 hatte die Partei juristische Probleme, da vermutet wurde, es handle sich um eine ethnische Partei der bulgarischen Türk*innen (vgl. Riedel 1993, S. 108). Die DPS wurde als „türkische Partei“, als „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ und als „Verräter der Demokratischen Kräfte“ bezeichnet (vgl. Grekova et al. 1997). Ethnische Parteien sind in Bulgarien nicht gestattet. Die Bewegung für Rechte und Freiheiten war de jure keine türkische Partei, de facto war sie aber die Partei der bulgarischen Türk*innen. Die Wähler türkischer Herkunft haben bei den ersten Parlamentswahlen im Jahre 1990 und 1991 nahezu geschlossen die DPS gewählt. In der bulgarischen Politik übernahm die Bewegung oft nach den Worten von Sabine Riedel (1993, S. 111) „die Rolle des entscheidenden Dritten“, des „Züngleins an der Waage“. Die Bewegung erreichte bei den im Jahr 2005 durchgeführten Parlamentswahlen 14 % der abgegebenen Stimmen. Das war ein Rekordergebnis, mit dem nur wenige Meinungsforschungsinstitute gerechnet hatten. Das Ergebnis war mit der relativ hohen Wahlbeteiligung der türkischstämmigen Bulgar*innen und mit der niedrigen Wahlbeteiligung der Wähler des konservativen Parteispektrums zu erklären. Auch die Tatsache, dass die Wahl in der Türkei durch die Eröffnung von Wahllokalen ermöglicht wurde, spielte eine Rolle für die hohe Wahlbeteiligung der türkischstämmigen Migrant*innen aus Bulgar*innen, die sich in der Türkei aufhalten. Aufgrund dieser Wahlergebnisse bekam die DPS 31 Sitze im neuen Parlament; 25 von den DPS-Abgeordneten waren türkischer Abstammung (davon zwei Frauen). In den letzten zehn Jahren entwickelte sich die Bewegung als eine
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„Partei der Oligarchie“ (Offnews 2016) in Bulgarien. Der Abgeordnete Delyan Peevski wurde 2013 zum Leiter der bulgarischen Geheimdienste vorgeschlagen. Dieser Vorschlag hat heftige Proteste in Sofia hervorgerufen. Tausende Bulgar*innen protestierten täglich über ein Jahr lang gegen die Regierung, die diesen Vorschlag gemacht hat. 2014 trat die Regierung von Plamen Orescharski, die Peevski für diese Position nominiert hatte, zurück. Die Bewegung ist Mitglied der Alliance of Liberals and Democrats of Europe (ALDE) im Europäischen Parlament. In ihren Positionen kritisieren die Vertreter*innen der Bewegung die restriktive Politik gegenüber den Flüchtlingen sowie die sog. „Hassrede“ („Hate Speech“)8, die in der bulgarischen Öffentlichkeit verbreitet wird (Kircaliev 2014). Die Bewegung setzt sich gegen den Bau von Grenzmauern an der bulgarisch-türkischen Grenze ein (DPS 2014). Diese Thesen haben allerdings nur einen deklarativen Charakter. Als Teil der Regierungskoalition (2013–2014) änderte die DPS nicht die Praxis, eine Schutzmauer an der bulgarisch-türkischen Grenze aufzubauen. Als eine liberale Partei setzt sich die DPS für die Gewährleistung der Rechte der Migrant*innen und der Flüchtlinge in Bulgarien ein. Sie ist gegen die Positionen der Rechtsextremen, die fordern, die Flüchtlinge sollen mit Waffengewalt zum Verlassen des Landes gezwungen werden. DPS bezieht hier Stellung: „Wir können der menschlichen Tragödie nicht mit Waffen begegnen“ (DPS 2015, S. 1). In einer Stellungnahme spricht sich die DSP gegen die Xenophobie in der bulgarischen Gesellschaft aus (vgl. DPS 2013). Die DPS verfolgt eine aktive Migrationspolitik, da sie die Türk*innen aus Bulgarien, die in der Türkei leben, unterstützt. Aufgrund des politischen Drucks der Bewegung ist die Eröffnung von Wahllokalen in der Türkei bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Bulgarien eine gängige Praxis geworden, obwohl sie von den anderen politischen Parteien in Bulgarien als ‚Einmischung in die bulgarische Politik‘ kritisiert wurde. Die Bewegung organisierte mehrmals Bustransporte am Wahltag, um ihre Wähler*innen von der Türkei nach Bulgarien und zurück zu transportieren und sie bei der Ausübung des Wahlrechts zu unterstützen. Diese Praxis wurde in der Öffentlichkeit als „Wahlmanipulation“ kritisiert, war juristisch allerdings nicht anzufechten. Im Jahr 2015 hat sich die Bewegung für Rechte und Freiheiten ebenso gespalten. Eine neue Partei, die DOST, wurde gegründet. Seit 2015 setzt sich die DOST-Partei für die Interessen der bulgarischen Türk*innen in der Türkei ein. Sie gilt als Erdoğan nah. Die Interessen der Türk*innen in Bulgarien vertritt weiterhin die DPS; allerdings
8Zum
Begriff vgl. Butler (2006).
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spricht sie sich für eine enge Kooperation mit Russland und mit Putin aus. Nach der Teilung der Partei im Jahr 2015 spricht sich die DPS gegen die Eröffnung von Wahllokalen im Ausland und insbesondere in der Türkei aus, da sie befürchtet, die Stimmen aus der Türkei würden die DOST-Partei erhalten. Die radikale Partei Ataka wurde 2005 gegründet. Die Partei ist populistisch und pro-russisch. Sie kritisiert scharf die Mitgliedschaft Bulgariens in der EU und die ausländischen Investitionen in Bulgarien (Ataka 2013a, S. 11); Bulgarien wäre zu einem Kolonialstaat degradiert (Ataka 2013a, S. 121). Es ist umstritten, inwieweit die Partei im rechten politischen Spektrum einzuordnen ist, da sie sich für die Verstaatlichung des Eigentums und für die Revision der ‚ungerechten‘ Privatisierung im Lande erklärt. 2016 ist die Partei Ataka eine Koalition mit zwei anderen nationalistischen Formationen, die VMRO und die NFSB, eingegangen. Als „Vereinigte Patrioten“ sind die drei Parteien seit 2017 an der Regierungskoalition beteiligt. Die Partei ist auch im Europaparlament vertreten. Die Einstellung der Partei zur Migration ist grundsätzlich ablehnend. Schon im Jahr 2011 bezeichnet die Partei Ataka das Thema der Migration als Bedrohung. Bulgarien würde von einer aus der Türkei kommenden Zuwanderungswelle überschwemmt werden. In den Artikeln, die in der Zeitung Ataka veröffentlicht wurden, werden die Flüchtlinge als Schuldige für die Entstehung unterschiedlicher Konfliktsituationen, z. B. Schlägereien, und nicht als Opfer einer geo-politischen Konstellation dargestellt. „In den Immigrantenzentren brechen oft Schlägereien zwischen den Einwohnern aus, insbesondere zwischen den Afrikanern und den Arabern, die sich als weißer als die Schwarzen betrachten, sagte eine Quelle der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge, die anonym bleiben wollte“ (Ataka 2013b). Die Asylsuchenden werden in einem negativen Licht dargestellt – wie Menschen, die das staatliche Eigentum beschädigen: „Die ‚Flüchtlinge‘ haben die Waschbecken kaputt gemacht und haben insgesamt Schäden für 4000 Lewa verursacht. Sie schlafen und essen am Boden“ (Ataka 2013c). Typisch für diese Sichtweise ist die Betrachtung aller Andersartigkeiten als abweichend, als deviant. In einem Artikel vom 04.11.2013 wird der Angriff eines ausländischen Bürgers auf eine Bulgarin in Sofia diskutiert. „Der Angreifer von Viktoria, der Algerier Salahaddin bin Aladin, hat auf seinen Asylbescheid gewartet. Der Immigrant hat die 20-jährige Studentin mit 10 Messerstichen verletzt, außerdem hat er außerhalb des Aufnahmezentrums gelebt und mit einem Transvestiten zusammengewohnt“ (Ataka 2013f, o. S.). Es ist nicht klar, inwieweit die Information, dass der Asylsuchende mit einem Transvestiten zusammengewohnt hat, zutrifft; auf jeden Fall ist sie nicht relevant für das Verbrechen und den Asylantrag. Durch diese Information wird allerdings die These
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des abweichenden Charakters des Asylsuchenden untermauert. Der Tenor ist, der Fremde verletze bulgarische Frauen und sei kein ‚richtiger Mann‘. Eine andere These des populistisch-nationalistischen Diskurses ist mit der Behauptung verbunden, dass der bulgarische Staat die Bulgar*innen nicht unterstützt, aber den Geflüchteten hilft: „Es gibt wohnungslose Menschen in Bulgarien, die Wohnungen benötigen. Es gibt Menschen, denen wir von ATAKA helfen, da sie seit Monaten ihren Strom nicht gezahlt haben und ihre Wohnungen mit Kerzen beleuchten. Helfen Sie diesen Menschen!“ (Ataka 2013d). Diese Strategie der Ethnisierung der Armut und des Leidens wird oft von den Sprechern dieser Diskurslinie verwendet. Diese Kritik bezieht sich nicht nur auf Flüchtlinge, sondern auch auf die ethnischen Minderheiten, z. B. auf Roma, die Sozialleistungen beziehen. Die Verpflichtungen zur Aufnahme von Flüchtlingen, die Bulgarien aufgrund der Unterzeichnung internationaler Verträge hat, werden zur Grundlage die europäische Orientierung des Landes infrage zu stellen. In seinem Kern trägt der national-populistische Diskurs anti-europäische Einstellungen: „Die europäischen Staaten werden wieder das gleiche Theater veranstalten, wie sie es mit der Tragödie in Kosovo gemacht haben. Aus Kosovo haben sie nur die Gebildeten aufgenommen und dann haben sie sich geweigert (weitere Migrant*innen aufzunehmen, Hervorh. ML). Jetzt schützen sie sich davor, dass diese Bevölkerung nach West-Europa gelassen wird und wollen, dass wir die ganze Verantwortung tragen für alles, was sie gemacht haben. Denn es ist ohne Zweifel, dass all diese „Arabische Revolutionen“ ein Produkt des Westens, der anglo-sächsischen Welt sind“ (Ataka 2013e). „Ataka“ ist grundsätzlich kritisch zu Europa und zur EU eingestellt. Die Bezeichnungen als „Europoiden“ („европоиди“), „Liberasten“ („либерасти“), „Tolerasten“ („толерасти“), „Euro-Päderasten“ („европедерасти“) zeigen die prinzipielle Ablehnung der europäischen Werte und der Kultur der Vielfalt. Der Akzent wird auf das „heimische“, „orthodoxe“ und „pro-russische“ („Russland hat uns befreit, nicht Europa“) gelegt. Ein Beispiel für diese Diskurslinie ist das Interview der Gründer einer neuen nationalistischen Partei, Simeon Kostadinow aus Blagoevgrad, der in einem Interview vor der Zeitung Struma vom 17.02.2014 betont: „Bulgarien wird zu einem multikulturellen Sumpf werden, wenn das Land die NATO und die EU nicht verlässt. Es wird von den Interessen der neuen Metropolen Brüssel und Washington übernommen werden“ (Struma 2014). Die Demokratie als Regierungsform wird abgelehnt. Exemplarisch können die Worte eines Abgeordneten von der politischen Partei „Ataka“ in der Sendung des Bulgarischen Nationalen Fernsehen „Tasi Nedelja“ vom 24.11.2013 genannt werden. In dieser Sendung nennt er die Demokratie einen „Tumor“.
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Insgesamt ist im politischen Diskurs in Bulgarien eine deutliche Veränderung festzustellen. In den 1990er Jahren wird die Migration als ein allgemeines Recht angesehen, das den Bulgar*innen nicht in vollem Umfang zusteht. Alle Institutionen bemühen sich, die Einschränkungen der europäischen Staaten zu lockern. Die Migration, verstanden in dieser Zeit vor allem als Emigration, wird als etwas Positives definiert. Die legitime Migration in dieser Zeit ist eindeutig die Emigration. Immigration oder Rückkehrmigration existieren praktisch nicht. Im 2001 wird das Recht auf die visumfreie Reisen in Europa für die Zeit von bis zu drei Monaten für bulgarische Staatsbürger*innen eingeführt. Das politische Ziel der Öffnung der Staatsgrenzen ist erreicht. Zugleich nimmt infolge der Ereignisse am 11. September 2001 eine neue Diskurslinie an Bedeutung zu, die die Migration mit den Themen „Gefahr“, „Islam“, „Kontrolle“ und „Sicherheit“ in Verbindung bringt. Zum 01.01.2007 wird Bulgarien EU-Mitglied. Das verändert die Stellung der bulgarischen Staatsbürger*innen in Europa. Nicht nur die kurzfristige Migration, sondern auch die längerfristigen Rechte, die aus der EU-Freizügigkeit resultieren, sind die Folge. Bulgarien wird hiermit eine Außengrenze der EU. Die Sicherung dieser Grenze wird zum zentralen Thema in den politischen Debatten. Infolge der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 erhöht sich die Anzahl der bulgarischen Rückwander*innen, vor allem aus Ländern wie Spanien und Griechenland. Das Thema über ihre Reintegration findet jedoch keinen Zugang zum politischen Diskurs. Eine gesonderte Politik des bulgarischen Staates zu dieser Migrant*innengruppe ist nicht festzustellen. Im Zuge der Freizügigkeit erhöht sich die Anzahl der EU-Ausländer, die in Bulgarien leben, arbeiten oder Eigentum erwerben. Diese Gruppe wird politisch ebenso ignoriert. Das Jahr 2013 ist ein Meilenstein in der bulgarischen Migrationspolitik. Zum einen wird erwartet, dass viele Bulgar*innen das Land Richtung EU verlassen werden, da ab 2014 bulgarische Staatsbürger*innen ohne zusätzliche Genehmigung Arbeit in der EU aufnehmen können. Dieser Auswanderung wird in der westeuropäischen und vor allem in der britischen Öffentlichkeit mit Skepsis begegnet. Veröffentlichungen der britischen Boulevardzeitung Sun verdeutlichen, dass die Bulgar*innen doch nicht überall willkommen sind. Zum anderen fokussiert die Debatte zunehmend auf die Lage der Geflüchteten, die nach Bulgarien kommen. Eine steigende politische Ablehnung der Migration ist die Folge, die mit der scharfen Kritik an der deutschen Politik zur Aufnahme der Geflüchteten im Jahr 2015 einhergeht.
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5.2.3 Die Gewerkschaften und ihre Positionen zur Migration Die Gewerkschaftsbewegung entstand in Bulgarien nach der Gründung des unabhängigen bulgarischen Nationalstaates im Jahr 1878. Sie war in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zersplittert – es gab mehrere Organisationen, aber keinen Dachverband. Nach 1945 wurde die Gewerkschaftsbewegung zentralisiert. Es gab nur eine Gewerkschaftsorganisation in Bulgarien – die Bulgarische Gewerkschaftsunion (BPS). Sie hatte Vertretungen bei jedem Arbeitgeber und war eng mit der einzigen regierenden Partei, der Bulgarischen Kommunistischen Partei, verbunden. Die Gewerkschaftsbewegung war de facto nicht unabhängig, vielmehr wurde sie zu einem Instrument der regierenden Bulgarischen Kommunistischen Partei. Nach offiziellen Angaben waren in der Zeit 1950–1989 ca. 90 % der erwerbstätigen Bulgar*innen Gewerkschaftsmitglieder (vgl. KNSB 2004). Nach der Wende (1989) sind zwei große gewerkschaftlichen Dachorganisationen, die Konföderation der unabhängigen Syndikate Bulgariens (KNSB) und die Arbeitskonföderation „Podkrepa“, aktiv. Sie koordinieren die Tätigkeiten mehrerer einzelner Gewerkschaften. Die KNSB ist Nachfolgerin der im Jahr 1945 gegründeten Allgemeinen Arbeitergewerkschaften, die später zur Bulgarischen Gewerkschaftsunion umbenannt wurden. Sie hat nach offiziellen Angaben über 275.000 Mitglieder. Die Arbeitskonföderation „Podkrepa“ wurde im Februar 1989 gegründet und hatte bis 1990 keinen offiziell anerkannten Status. Nach eigenen Angaben hat die Gewerkschaft 150.000 Mitglieder (vgl. KNSB 2004). In der neuesten Geschichte Bulgariens nehmen die beiden Dachorganisationen Stellung zu verschiedenen tagespolitischen Themen: zur Situation der Arbeitnehmer*innen, zur Bezahlung, zur Ausbeutung am Arbeitsmarkt, zur Problematik der nicht reglementierten Beschäftigungsformen etc. In der Zeit nach 2013 wird das Thema Migration auch ein aktuelles Thema für die Gewerkschaften. In welchen Kontexten wird das Thema beleuchtet? Grundsätzlich sprechen sich die Gewerkschaften für die Einschränkung des Zugangs ausländischer Arbeitskräfte zum bulgarischen Arbeitsmarkt aus (KNSB 2009). Diese Einstellung führt zu Spannungen mit den Arbeitgeber*innen. Grund dafür ist, dass die Gewerkschaften die Rechte der ‚nationalen‘ Arbeitskräfte vertreten sollen. Diese prinzipielle Einstellung ist typisch für die Gewerkschaftsbewegung in Europa in den 1990er Jahren, die die Herausforderungen der Globalisierung noch nicht erkannt hat. Mit der Zeit nehmen die transnationalen gewerkschaftlichen Aktivitäten jedoch zu.
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Die Immigration wird als Bedrohung für den bulgarischen Arbeitsmarkt angesehen. „Zur gleichen Zeit werden das Land und der Arbeitsmarkt unausweichlich mit den Möglichkeiten der Arbeitsmigration aus den Nachbarländern und aus schwächer entwickelten Ländern konfrontiert. Selbst wenn Einschränkungen vorhanden sind, ist eine solche Immigration in die Schattenwirtschaft möglich“, steht es in einem Positionspapier der KNSB (KNSB 2010c, o. S.). Auch die Emigration wird negativ beurteilt, nämlich als Symptom der Armutsverhältnisse und als Ursache einer Abwanderung und Fachkräftemangel in bestimmten Regionen. Die Emigration wird als Verlust gedeutet (vgl. KNSB 2015a). Die Migrant*innen und die Geflüchteten werden in den gewerkschaftlichen Dokumenten als Opfer angesehen. „Migrant*innen/Flüchtlinge, die in die informelle Wirtschaft aufgrund des Mangels an guten und würdigen Arbeitsplätzen und an sozialer Sicherung (d. h. als eine Überlebensstrategie) gehen […] So bleiben sie isoliert von der Wirkung der Arbeitsgesetzgebung und werden vom Schutz der fundamentalen Prinzipien, Arbeitsplatzrechte und der internationalen Standards ausgeschlossen. Die informell Beschäftigten sind am häufigsten diejenigen, die einen niedrigen oder gar keinen Lohn für ihre Arbeit erhalten“ (KNSB 2016). Nach 2013 werden die Gewerkschaften im Rahmen der öffentlichen Debatten über die Flüchtlingsproblematik aktiv. So verabschiedet die KNSB am 19.05.2015 eine Erklärung zur Flüchtlingskrise, die eine eindeutig humanitäre Position einnimmt: „Die tragischen Fälle mit Immigranten im Mittelmeer, bei denen seit Beginn des Jahres nach Angaben der IOM über 1750 Personen verstorben sind, weckt in uns Mitgefühl […] Es ist an der Zeit, dass wir alle uns bemühen, sodass der Schmerz und der Tod, die aus solchen Tragödien resultieren, aufhören. Die Migrant*innen und die Personen, die Asyl suchen, haben das Recht auf Leben, Arbeit, Sicherheit, Gleichheit, Solidarität und soziale Inklusion“ (KNSB 2015b, S. 1). In einer weiteren Erklärung zur Flüchtlingskrise vom 25.09.2015 ist zu lesen: „Bulgarien ist von der großen Wanderungswelle, die die Welt überschwemmt hat, nicht unbeeinflusst geblieben“. Die Rede ist auch von der „Erhöhung des Flüchtlingsdrucks“ (KNSB 2015b, S. 1). Seit 2015 wären nach Bulgarien „16.000 illegale Ausländer eingewandert“ (ebenda). In der zweiten Erklärung (KNSB 2015c) ändert sich diese Rhetorik, die nicht unbedingt als besonders ausländerfreundlich zu bewerten ist. In ihr spricht sich die Gewerkschaft KNSB für die „Überwindung des negativen Einflusses der Flüchtlingswelle jetzt und in der Zukunft auf dem Arbeitsmarkt in Bulgarien“ (ebenda) aus. In dieser Erklärung
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formuliert die Gewerkschaft Forderungen an die Regierung. Sie soll ein Jahresarbeitsprogramm für die Nationale Strategie im Bereich der Migration, des Asyls und der Integration (2015–2020), die am 17.06.2015 von der Regierung verabschiedet wird, aufnehmen. Die Regierung soll eine Institution zur Steuerung der Migrationsprozesse gründen, die die unter vielen Institutionen zerstreuten Funktionen im Bereich der Migrationssteuerung koordiniert. Die Regierung soll Gesetzesentwürfe zur Verhinderung des Menschenhandels vorbereiten und die Menschenschmuggler*innen auf das Härteste bestrafen. Sie soll ein Zuwanderungsgesetz vorbereiten, in welchem die einzelnen Verordnungen im Bereich der Migration zusammengefasst werden. Das Dubliner Abkommen, das als „ungerecht“ und „unsolidarisch“ (ebenda) bezeichnet wird, soll suspendiert werden. Bulgarien soll als Land an der EU-Außengrenze, Unterstützung, Fachleute und Technik zur Überwachung der Grenze erhalten. Die Gewerkschaft spricht sich auch gegen die Quotenregelung zur Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU aus. Diese Änderung der Rhetorik verändert nicht die Praxis der humanitären Unterstützung, zu der sich die Gewerkschaft bekennt. Die KNSB beteiligt sich z. B. an einer englischen Spendeninitiative für die Flüchtlinge in der Türkei (vgl. KNSB 2015d). Bei der Analyse der gewerkschaftlichen Diskurse ist eine deutliche Veränderung in Richtung Transnationalisierung der Aktivitäten festzustellen. Eine Rolle dafür spielt die Aufnahme Bulgariens in die EU 2007 sowie das Recht auf den vollen Zugang bulgarischer Arbeitnehmer*innen zum europäischen Arbeitsmarkt im Jahr 2014. So wird in einigen gewerkschaftlichen Unterlagen über die Rechte der Arbeitsmigrant*innen in Katar berichtet. Auch die Situation der bulgarischen und rumänischen Migrant*innen in Deutschland steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die KNSB arbeitet zusammen mit der Arbeitskonföderation „Podkrepa“ und mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) am Projekt „Gerechte Mobilität“. In diesem wird die Bedeutung der bulgarischen und rumänischen Migrant*innen für den deutschen Arbeitsmarkt analysiert. Im Rahmen des Projekts sollten bis zum Jahr 2013 sechs Beratungszentren für bulgarische Arbeitnehmer*innen in Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, München, Dortmund und Stuttgart eröffnet werden, in denen auch deutschsprachige Bulgar*innen eingestellt werden sollen. Die Vertreter*innen der Gewerkschaft nehmen an verschiedenen internationalen Konferenzen zu Arbeitsmobilität und Arbeitsrechten in der EU teil. Mit den rumänischen Gewerkschaften wird im Bereich der grenzüberschreitenden Migration und Mobilität kooperiert. Es wird ein Partnerschaftsvertrag mit den zypriotischen Gewerkschaften zur Unterstützung der bulgarischen Arbeitnehmer*innen in Zypern abgeschlossen.
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Die bulgarische Gewerkschaft KNSB beteiligt sich auch an Gesprächen mit den niederländischen Gewerkschaften zur Situation der bulgarischen Migrant*innen in den Niederlanden. Die KNSB verbreitet Informationen, die relevant für die in England arbeitenden Bulgar*innen sein können. Es werden auch Treffen mit den Gewerkschaften aus anderen osteuropäischen Ländern, die EU-Mitglied sind, organisiert. Seit 2014 wird von der KNSB verstärkt auch das Thema Mobilität behandelt. Die KNSB gründet ein Beratungszentrum für faire Mobilität im Rahmen eines EU-Projekts mit Partner*innen aus Bulgarien, Polen, Deutschland, Rumänien, Slowenien und Kroatien (KNSB 2014a). Symptomatisch für die zunehmende Bedeutung der gewerkschaftlichen Transnationalität ist auch die Beteiligung von KNSB-Vertreter*innen am 2. Kongress der Internationalen Konföderation der Gewerkschaften in Vancouver (Kanada). In diesem werden unter anderem Themen wie Migration, Arbeit und Gleichstellung behandelt. Insgesamt ist die Position der Gewerkschaft KNSB zur Migration zwiespältig. Einerseits spricht sich die Gewerkschaft, z. B. beim 6. Kongress der KNSB in der Resolution Nr. 13 (vgl. KNSB 2010d), für die Etablierung gleicher Möglichkeiten für die Zugewanderten und die Einheimischen, für Verhinderung der Diskriminierung, für aktive Arbeit mit Migrant*innen, Emigrant*innen und EU-Mobilen aus. Hierfür soll eine spezielle Strategie ausgearbeitet werden. Zum anderen wird allerdings die „Verteidigung der kulturellen Identität“ (KNSB 2010a) als eine der größten Herausforderungen Europas genannt, eine These, die die Gewerkschaften sehr nah am konservativen Spektrum positioniert: „Europa hat seine Probleme – die demografische Alterung, die Migration, den Terror, die Verteidigung der kulturellen Identität durch Druck seitens der anderen Kulturen. Eine große Herausforderung ist die Verteidigung des europäischen Sozialmodells in der Zeit des globalen Wettbewerbs“ (KNSB 2010a, o. S.). Ambivalent ist die KNSB-Position zur Emigration. In einem Strategiepapier wird das Ziel bestimmt (KNSB 2015e), die jungen Menschen vor der Auswanderung zu schützen und zu motivieren, in Bulgarien zu bleiben. Die Arbeitsmobilität wird teilweise auch als Bedrohung angesehen – sie führe dazu, dass qualifizierte Arbeiter*innen das Land verlassen (KNSB 2014b). Gleichzeitig wird die Bildungsmobilität als Chance angesehen. In einem Positionspapier heißt es: „Die aktive Politik des Arbeitsmarktes soll auf die Förderung der geografischen und professionellen Mobilität der Arbeitskraft ausgerichtet sein“ (KNSB 2011, S. 1). Insgesamt bewertet die KNSB die Möglichkeiten der EU-Mobilität zwar positiv, aber nimmt mit Besorgnis die Veränderungen im „sozialen, ethnischen, religiösen und kulturellen Profil der Arbeitsressourcen in Bulgarien“ wahr (KNSB 2010b, S. 1).
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5.2.4 Die Religionsgemeinschaften und ihre Stellungnahmen zur Migration In Bulgarien lebten laut der Volkszählung aus dem Jahr 2001 6.552.751 Angehörige des orthodoxen Christentums, 43.811 Angehörige des katholischen Christentums, 42.308 Angehörige des evangelischen Christentums und 966.978 Angehörige des Islam (vgl. Nacionalen Statisticheski Institut 2011). In der neuesten Volkszählung aus dem Jahr 2011 änderte sich das demografische Bild wie folgt: 4.374.135 orthodoxe Christen, 48.945 katholische Christen, 64.476 evangelische Christen, 546.004 sunnitische Muslime, 27.407 schiitische Muslime, 3.728 Personen, die zu einer anderen Richtung des Islam gehören (ebenda). Abgesehen von den wenigen Zugewanderten aus Afghanistan und den arabischen Ländern, sind die in Bulgarien lebenden muslimischen Personen bulgarische Staatsangehörige. Ethnisch ist die muslimische Gemeinschaft in Bulgarien jedoch heterogen. Der überwiegende Anteil der Muslime gehört ethnisch der türkischen Gemeinschaft an. 2 % der Muslime sind ethnische Bulgar*innen (die sog. „Pomaken“), die im Osmanischen Reich (14.–19. Jahrhundert) den Islam übernommen haben.9 Auch ein Teil der in Bulgarien lebenden Roma gehören zum Islam. Eine in Bulgarien durchgeführte soziologische Studie aus dem Jahr 1994 (Mitev 1994) belegte, dass sich die Bevölkerung Bulgariens nie durch eine hohe Religiosität ausgezeichnet hat. Formell gesehen bezeichneten sich ca. 86 % der bulgarischen Staatsangehörigen als orthodoxe Christen und ca. 13 % als Muslime. Die Angehörigen beider Religionsgemeinschaften (Christen und Muslime) praktizierten allerdings in ihrem Alltag kaum die religiösen Riten und Bräuche wie das Gebet und das Lesen der Heiligen Schrift (ebenda, S. 172). Die Riten und Bräuche wurden von den beiden Gemeinschaften in der Regel nur bei den religiösen Feiertagen ausgeübt. Die Angehörigen beider Religionsgemeinschaften zeigten eine relative Toleranz gegenüber dem Atheismus. Nur ein Fünftel der Christen und ein Drittel der Muslime meinten, dass der Atheismus verwerflich sei (ebenda, S. 173). Nur 3–5 % der muslimischen Personen in Bulgarien ließen eine intolerante Haltung gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften
9Die
Pomaken werden, trotz ihrer Zugehörigkeit zum bulgarischen Ethos, von den Bulgar*innen als „Verräter“ stigmatisiert. Aufgrund dessen tendieren sie verstärkt dazu, eine eigene ethnische Identität herauszubilden. Es herrscht im wissenschaftlichen Diskurs keine Einigkeit darüber, ob die Pomaken als „bulgarische“ oder als „slawische“ Muslime zu bezeichnen sind (vgl. Mutafchieva 1994).
5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“
149
erkennen. Die Zahl der christlichen Personen, die sich intolerant äußerten, war zwar höher, jedoch erreichte ihr Anteil kaum die 10 %-Marke (ebenda). Die relative religiöse Toleranz hat der Studie Mitevs zufolge zwei Erklärungen: Zum einen seien die Bulgar*innen nie besonders religiös gewesen. Zum zweiten habe die atheistische Politik, die während des Sozialismus praktiziert wurde, große Auswirkungen auf die religiöse Praxis aller Glaubensgemeinschaften gehabt. Da Religion im Sozialismus grundsätzlich als „rückständig“ stigmatisiert wurde, wurde offiziell angestrebt, alle religiösen Einflüsse zu verringern. So wurde z. B. den Parteimitgliedern der BKP verboten, sich an der Ausübung religiöser Riten zu beteiligen. Da im Sozialismus die Mitgliedschaft in der BKP ein schwerwiegendes Kriterium für Möglichkeiten sozialer Teilhabe des einzelnen Individuums war, wurde dieses Verbot befolgt. Wie oben erwähnt, bekennen sich in Bulgarien die meisten Staatsbürger*innen des Landes zum orthodoxen Christentum. Das Christentum ist nach der Verfassung, Art. 13 (vgl. Parlament 1991), dennoch keine Staatsreligion; es wird lediglich als „die traditionelle Religion in Bulgarien“ bezeichnet. Die größte Kirchengemeinde im Land ist die bulgarische orthodoxe Kirche. Sie ist unabhängig von den anderen orthodoxen Kirchen und wird von einem Patriarchen angeführt. Gegründet wurde die erste orthodoxe Gemeinde im Jahr 919. Im Jahr 927 wurde sie als unabhängig10 anerkannt. Nach der Gründung des modernen bulgarischen Staates im Jahr 1878 wird die Gleichstellung aller bulgarischen Staatsbürger*innen vor dem Gesetz und die freie Ausübung der Religionen in der Verfassung vom Jahr 1879 (Parlament 1879, Art. 40 und 42) verankert. In der Verfassung von Tarnovo (1879) wurde die Selbstverwaltung der religiösen Gemeinschaften festgeschrieben. Zur gleichen Zeit aber wird in der Verfassung festgelegt, dass „der in Bulgarien herrschende Glaube das orthodoxe Christentum“ (ebenda, Art. 37) ist. Aufgrund der Orthodoxie ist die Kirche philosophisch-abstrakt und nicht aktiv mit den „weltlichen“ Problemen beschäftigt – sie hält sich fern von der Politik. Einrichtungen wie Caritas oder Diakonie existieren in der orthodoxen Kirche nicht. Die orthodoxe Kirche erhebt keine Kirchensteuer. Die orthodoxe Kirche hat keine ausgeprägte Position zum Thema Migration. Aktiv wurde die Kirche zu diesem Thema lediglich im Zuge der Flüchtlings-
10Im
orthodoxen Christentum wird diese Unabhängigkeit der einzelnen Kirchen als „Autokephalie“ bezeichnet.
150
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
krise seit 2013. Einzelne Klöster erklärten sich bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Gläubige sammelten Spenden, Kleider und Geld. Eine offizielle Position des Patriarchen zur Flüchtlingskrise erfolgte erst im Jahr 2016 (Orthodoxe Kirche 2016). In dieser Position ist ein ambivalentes Verhältnis zur Migration festzustellen. Zum einen soll den Bedürftigen, auch im Kontext der christlichen Gebote der Menschenliebe, geholfen werden. Zum anderen soll aber verhindert werden, dass die „ethnische Balance“ in Bulgarien geändert wird. „Die Situation […] stellt im Prinzip Fragen nach der Stabilität und nach der Existenz des bulgarischen Staates. Ebenso die Frage, in welchem geistigen Kontext und in welcher Umgebung das orthodoxe bulgarische Volk leben wird, wenn dieser Strom andauern sollte und dazu führen sollte, dass die existierende ethnische Balance auf dem Territorium unserer Heimat Bulgarien, das Gott bestimmt hat, von unserem Volk bewohnt zu werden, geändert wird. In den letzten Monaten sind wir Zeugen einer Welle der Zuwandernden aus den durch den Krieg zerstörten Ländern des Nahen Osten und Nord-Afrikas geworden […] eine Welle, die alle Merkmale einer Invasion trägt. […] Die orthodoxe Kirche empfindet Mitgefühl und appelliert zur Solidarität mit all diesen Menschen, die schon bei uns angekommen sind und tatsächlich und nicht nur angeblich materielle Unterstützung nach unseren Möglichkeiten benötigen. Es soll aber klar sein, dass die Orthodoxe Kirche sich kategorisch gegen den Krieg, der die Ursache für dieses menschliche Unglück ist, erklärt. […] Wir sind der Meinung, dass unsere Regierung auf keinen Fall mehr Flüchtlinge ins Land lassen darf. Wir sind verpflichtet uns um diejenigen zu kümmern, die schon hier sind, solange wir können, mehr aber nicht“ (ebenda, S. 1).
In dieser Erklärung, die an Ambivalenz nicht zu übertreffen ist, wird auch die Frage nach der „religiösen Säuberung vom Christentum in diesen Gebieten“ (im Nahen Osten und in Afrika, Hervorh. ML) gestellt (ebenda). Die Kirche diskutiert die Frage nach der „religiösen Toleranz“ und nach der Stellung der Christen in Ländern wie Ägypten, Syrien und Irak. Abgesehen von dieser Erklärung, ist keine Positionierung der orthodoxen Kirche zum Thema Migration festzustellen. Die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Bulgarien ist der Islam. Ca. 13 % aller bulgarischen Staatsbürger*innen sind muslimischen Glaubens. Die größte muslimische Gemeinschaft in Bulgarien sind die Sunniten. In Bulgarien ist eine Dachorganisation der Muslime vorhanden – die „Grand Mufti“. Sie vertritt die Muslime und tritt als offizielle Partnerin des bulgarischen Staates auf. Die Grand Mufti setzt sich für die Verteidigung der Rechte der Muslime in Bulgarien ein. Historisch wurden die Rechte der muslimischen Büger*innen in Bulgarien geschützt. Nach der Gründung des modernen bulgarischen Nationalstaates (1878), in der Zeit 1885–1945, haben sie das Recht erhalten, private Schulen
5.2 Die öffentlichen Debatten über „Migration“
151
zu gründen. 1885 wurde ein Gesetz zur Bildungsautonomie der ethnischen und religiösen Gemeinschaften im Land verabschiedet. Nach diesem finanziert der Staat die Gehälter der 12 muslimischen Geistigen (Muftis) und übt auf diese Weise Kontrolle über die Ausübung ihrer Aufgaben aus (vgl. Mutafchieva 1994, S. 23). Abgeordnete muslimischen Glaubens sind in diesem Zeitraum in den bulgarischen Parlamenten ständig vertreten. Es wird die aus dem Osmanischen Reich stammende Praxis fortgesetzt, die normative Ausübung der Eheschließungen, Scheidungen und Eigentumsstreitigkeiten den islamischen geistigen Institutionen zu übertragen. Dazu wurden im Jahr 1938 die muslimischen geistigen Gerichte den anderen geistigen Gerichten im Land gleichgestellt. Als restriktiv kann man jedoch die Reglementierung bewerten, nach der die christlich-religiösen Feiertage als offizielle Feiertage in Bulgarien gelten. 1882 wurde die entsprechende Regelung verabschiedet. Jedoch wurde sie im Jahr 1911 gelockert: In einer Neuauflage des Gesetzes über die Feiertage, Art. 10, wurden die Restriktionen bezüglich der Öffnungszeiten der Geschäfte und der Restaurants in der Woche vor Ostern für die muslimischen Staatsbürger*innen aufgehoben, d. h. die Geschäfte und die Restaurants in den von muslimischen Personen bewohnten Gebieten durften an diesen Feiertagen öffnen (Parlament 1911). Im Jahr 1918 wurde die Staatliche Pädagogische Schule gegründet, in der Lehrer muslimischen Glaubens ausgebildet wurden. Die Verfassung von 1947 gewährleistete zumindest formell die Gleichheit der Bürger*innen vor dem Gesetz, die Gleichstellung aufgrund der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie die Freiheit der Religionsausübung. Die Bürger*innen aller Glaubensgemeinschaften hatten nach Art. 78 Religionsfreiheiten. De facto wurden diese Freiheiten eingeschränkt. Ein noch größeres Problem stellt die herrschende Vorstellung über den Islam und der muslimischen Bürger*innen in Bulgarien dar. Der Islam war die dominierende Religion im Osmanischen Reich. Aufgrund der osmanischen Eroberung des mittelalterlichen bulgarischen Staates (1396), wurden die osmanischen Türk*innen als Eroberer und der Islam als die ‚Religion der Feinde‘ wahrgenommen. In den historisch überlieferten Erzählungen, Dokumenten, Reden, Briefen, Memoiren etc. symbolisiert der Islam das Rückständige, das Grausame, das Fremde (Liakova 2001). Die Bulgar*innen sehen sich als Opfer des Islams, der Islamisierung, der muslimischen Eroberer, der Türk*innen. Die Bulgar*innen begreifen sich in den historischen Überlieferungen als Helden, die alles überstanden haben und es aber geschafft haben, sich und Europa vor der Islamisierung zu retten (Dimitrova 1997, S. 352). Diese überlieferten Vorstellungen haben einen Einfluss auf das Verhältnis zu den Muslimen und auf die mangelnde Akzeptanz der muslimischen Emigrant*innen und Flüchtlinge.
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5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
Die Institution der Muslime, der Grand Mufti, erklärt sich gegen die Ablehnung von Flüchtlingen und kritisiert die islamfeindlichen Einstellungen im Land (Grand Mufti o. J.a). Die Organisation bezieht Position gegen den Angriff auf einen muslimischen Geistlichen in Bulgarien (Grand Mufti 2017). Das Thema Migration ist für die Organisation nicht zentral. Die Emigration wird lediglich im Kontext der bulgarischen Emigrant*innen in der Türkei besprochen (Grand Mufti o. J.b). Die Organisation unterstützt die bulgarischen muslimischen Emigrant*innen bei ihren praktischen Anliegen. Es wird über Gespräche mit den bulgarischen Muslimen in Belgien (Grand Mufti o. J.c) und mit den bulgarischen Muslimen in Schweden (Grand Mufti o. J.d) berichtet.
5.2.5 Die Wirtschaftsorganisationen und die Migration Die bulgarische Industrie- und Handelskammer (BTPP) ist die größte Wirtschaftsorganisation im Land. Gegründet wurde sie im Jahr 1895. Sie hat aktuell nach eigenen Angaben ca. 53.000 Mitglieder*innen. Die größte regionale Organisation befindet sich in Sofia und hat ca. 22.000 Mitglieder*innen (BTTP 2015). Die Positionen zur Migration, die in den Dokumenten der Organisation vertreten werden, deuten auf eine grundsätzlich positive Einstellung hin. Die Emigration wird als Zugewinn bewertet – die Emigrant*innen sind von Nutzen für die Wirtschaft und für die Gesellschaft, da sie ihre Verwandten in Bulgarien finanziell unterstützen und dadurch zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Land beitragen (BTPP 2014a). Auch die Immigration wird positiv beurteilt: Die Immigrant*innen schaffen Arbeitsplätze in Bulgarien (BTPP 2013). In diesem Kontext setzt sich die Organisation für die Erleichterung des Zugangs ausländischer Arbeitnehmer*innen in Bulgarien ein (BTPP 2017a). Allerdings sei die nicht regulierte Immigration mit der Gefahr verbunden, dass die Immigrant*innen irregulär beschäftigt würden (BTPP 2014b). Vertreter*innen der Organisation nehmen am Runden Tisch zum Thema „Hochqualifizierte Migration“ teil. Im Rahmen dieses Forums wird die Möglichkeit der Rückkehr hochqualifizierter Bulgar*innen, die im Ausland leben, besprochen (BTPP 2017b). Grundsätzlich wird die Migration als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen und daher positiv bewertet. Selbst in der Fluchtmigration wird der wirtschaftliche Nutzen gesucht. Deshalb werden Informationen für Arbeitgeber*innen, die Flüchtlinge einstellen möchten, veröffentlicht (BTPP 2016).
5.3 Die öffentlichen Debatten über Migration: Zusammenfassung
153
5.3 Die öffentlichen Debatten über Migration: Zusammenfassung Die öffentlichen Debatten geben eine Antwort auf die Frage, welche Migration als legitim und berechtigt angesehen wird und welche Migrationsformen als illegitim zu definieren und als solche einzuschränken sind. Im Unterschied zum Sozialismus, in dem nur die Partei vorgegeben hat, welche Wanderungsbewegungen legitim waren, ist in der postsozialistischen Zeit eine Pluralisierung der Sichtweisen und der Interpretationen festzustellen. Aus unterschiedlichen Perspektiven werden verschiedene Thesen zur Legitimierung der Wanderungsbewegungen zum Ausdruck gebracht. Wie werden in der bulgarischen Öffentlichkeit11 die Themen „Mobilität“, „Migration“ und „Transmigration“ besprochen? Welche diskursiven Auseinandersetzungen werden geführt, um die legitimen, bzw. nicht legitimen Bilder der Migrant*innen und der Ausländer*innen in der Öffentlichkeit zu bestimmen? Wie wird die Frage beantwortet, wer und nach welchem Prinzip den Zugang zum bulgarischen Territorium bekommen soll?12 Auf diese Fragen gehe ich im Folgenden ein.
5.3.1 Immigration In den ersten Jahren nach 1989 wird das Thema „Immigration“ in der bulgarischen Öffentlichkeit marginal thematisiert.13 Insofern über „Ausländer*innen“ und „Immigrant*innen“ diskutiert wird, werden sie als eine
11„Der
bulgarische öffentliche Raum“ ist ein Raum, der zum einen durch die nationalstaatlichen und sprachlichen Grenzen und zum anderen durch den gesetzlichen Rahmen, der die Migrationsbewegungen klassifiziert, definiert wird. 12Die Ergebnisse beruhen auf einer themenzentrierten Diskursanalyse der medialen und politischen Diskurse in Bulgarien in der Zeit 1990–2016. Der Fokus wird dabei besonders auf die Zeit der sog. ‚Flüchtlingskrise‘ (2013–2015) gelegt. Die Analyse ist nicht quantifizierend und zielt nicht darauf ab, die Intensität der einzelnen diskursiven Linien zu messen. Ebenso wird die Wirkung der diskursiven Linien auf das Publikum nicht untersucht. In der Analyse sollen die Grundzüge der Diskurse über die „Migrant*innen“ in der bulgarischen Öffentlichkeit festgehalten werden. 13Ein Grund dafür kann die relative geringe Anzahl der ausländischen Bürger*innen, die sich in Bulgarien aufhalten, sein.
154
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
„exotische Ausnahme“ dargestellt. In den öffentlichen Diskursen geht es vor allem um die Tourist*innen aus dem Ausland, die das Land besuchen. Diese Gruppe Ausländer*innen kann man allerdings nicht als Immigrant*innen definieren; sie können auch nicht als „Fremde“ im Sinne von Georg Simmel, d. h. als Personen die gekommen sind, „um zu bleiben“ (Simmel 2013), beschrieben werden. Ein weiteres Diskussionsthema in der bulgarischen Öffentlichkeit in der Zeit 1990–2016 ist der Erwerb von Eigentum vonseiten der Migrant*innen in Bulgarien.14 In der bulgarischen Öffentlichkeit wird der Erwerb von Eigentum weder als Zeichen der Integration der Zugewanderten noch als Zeichen einer wirtschaftlichen Entwicklung und Wiederbelebung bestimmter Regionen interpretiert. Vielmehr wird er in den Zusammenhang mit der Nationalität des Käufers gestellt. Den britischen Staatsbürger*innen, die Eigentum in Bulgarien erwerben, wird mit Ironie und Humor begegnet (vgl. der humoristische Roman von Michail Weschim „Der englische Nachbar“, Weschim 2012). Hingegen wird den russischen Staatsbürger*innen, die Eigentum erwerben, mit Skepsis begegnet, die mit dem wirtschaftlichen und politischen Einfluss Russlands in Bulgarien und mit der geo-politischen Orientierung Bulgariens und der gesamten Region in Zusammenhang steht (Blog von Ivo Indzev 2012). In der Öffentlichkeit werden die Rolle der Immigrant*innen für die bulgarische Wirtschaft und ihre Bedeutung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze thematisiert (Darik News 2014). Dabei werden sowohl die Investitionen an sich, aber auch die bürokratischen Hindernisse, mit denen die Investor*innen konfrontiert werden, diskutiert. In einzelnen Veröffentlichungen wird über die Lage der ausländischen Bürger*innen berichtet, die Opfer von Menschenhandel geworden sind (Varna 24 2009).
14Der
Erwerb von Eigentum von ausländischen Staatsbürger*innen in Bulgarien ist im Art. 22 der Verfassung der Republik Bulgarien juristisch geregelt (vgl. Parlament 1991): „(1) Die Ausländer und die ausländischen juristischen Subjekte haben kein Recht, den Boden zu erwerben. Ausgenommen sind die Fälle, in denen das Eigentum vererbt wird. In diesem Fall werden sie verpflichtet, das Eigentum zu verkaufen oder zu übertragen. (2) Bei bestimmten, durch ein Gesetz geregelten Voraussetzungen, können die Ausländer und die ausländischen juristischen Subjekte das Recht auf Nutzung, auf Bebauung und andere Rechte erwerben.“
5.3 Die öffentlichen Debatten über Migration: Zusammenfassung
155
In diesem Kontext wird seit Ende 2012 die bulgarische Öffentlichkeit mit einer besonderen Dimension der Immigration, der ‚Flüchtlingskrise‘, konfrontiert. Ihren Höhepunkt erreicht sie im Jahr 2013. Im Zuge des Bürgerkrieges in Syrien15 suchen viele Bürger*innen Syriens Schutz in Bulgarien. Auch Bürger*innen anderer Staaten wandern ein und stellen einen Asylantrag. Nach Angaben der UNHCR waren vom 01.01.2013 bis zum 18.11.2013 insgesamt 12.176 Personen aus Nicht-EU-Ländern ohne Visum nach Bulgarien eingereist (UNHCR 2014). Diese Tatsache wird zu einem Politikum und fokussiert die öffentliche Wahrnehmung. Eine interessante Besonderheit der bulgarischen Debatte über die Geflüchteten ist, dass sie pauschal als ‚Flüchtlinge‘ bezeichnet werden, auch wenn sie noch keinen Flüchtlingsstatus erhalten haben. Dem Erwerb des Flüchtlingsstatus geht allerdings der erfolgreiche Abschluss eines Verfahrens voraus. Die Analyse der öffentlichen Diskurse zum Thema Immigration ermöglicht eine Klassifizierung der einzelnen diskursiven Thesen. Idealtypisch lassen sich die folgenden Kategorien bilden: die humanitäre, die wert-liberale, die wirtschafts-liberale, die sozial-protektionistische, die linke und die nationalistische. Die humanitäre Position wird vor allem von sozial engagierten Bürger*innen, informellen Gruppen und Nicht-Regierungsorganisationen zum Ausdruck gebracht. Teilweise wird sie auch von religiösen Gemeinschaften (christlich wie muslimisch) artikuliert. Die Besonderheit dieser Position ist, dass die Hilfsbedürftigkeit der Migrant*innen betont wird, und zwar ohne Bedeutung der Herkunft, Alter, Geschlecht und Religion.16 Die Debatten in den informellen
15Die
Proteste in Syrien gegen die Regierung von Assad beginnen im Januar 2011. Sie nehmen an Intensität zu und werden zu einem Bürgerkrieg, der im Jahr 2018 noch immer andauert. 16Ein Beispiel für diese diskursive Linie ist folgende Veröffentlichung „Das LopuschanKloster kann Flüchtlinge beherbergen“, die aus dem orthodoxen Internetportal dveri.bg vom 19.09.2013 entnommen wurde: „Zwei Klöster in der Region Widin – in Lopuschan und in Tschiprovci – sind vorbereitet, Migrant*innen aus Syrien aufzunehmen. Das hat in einem Brief an die Agentur für Flüchtlinge Pfarrer Sionij, Regional- und Klosterleiter, betont. Zu Beginn können 25 Menschen Unterkunft und Verpflegung in den kirchlichen Anwesen finden; bei Bedarf kann ihre Anzahl bis zu 100 erhöht werden. Die bulgarische Kirche kann nicht passiv das Schicksal dieser Menschen beobachten, begründet Pfarrer Sionij seinen Vorschlag“ (vgl. Dveri 2013, o. S.). Die humanitären Aktionen der bulgarischen orthodoxen Kirche werden allerdings aufgrund ihres sporadischen und nicht gut organisierten Charakters kritisiert: „Für mich hatte die bulgarische orthodoxe Kirche eine schwache Rolle. Sie hat in diesen Prozessen kaum geholfen. (…) Als Christin hatte ich das Gefühl, dass etwas passieren wird, dass unsere Kirche etwas unternehmen wird […] Es gab christliche Flüchtlinge, aber keiner hat sich um sie gekümmert“ (Marginalia 2014).
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5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
Bürger*innenorganisationen fokussieren sich auf konkrete juristische oder logistische Fälle und auf die Frage, wie man den Bedürftigen praktisch helfen kann. Spendenaktionen und Bildungsinitiativen der Nichtregierungsorganisationen17 und der informellen Gruppen werden im sozialen Netzwerk Facebook18 vorbereitet. Die Diskursanalyse zeigt, dass die humanitäre Sichtweise überparteilich ist. In den westeuropäischen Kontexten wird sie überwiegend von den linken politischen Parteien verkörpert. In Bulgarien ist sie parteilich und institutionell nicht verankert. Die bulgarischen Grünen oder Linken beziehen keine Position zur Flüchtlingsproblematik. Auch im offiziellen Blog der Partei „Grüne Freunde“ („Зелените приятели“) fehlt es an Diskussionen.19 Die wertliberale Position wird teilweise von Vertreter*innen der Nichtregierungsorganisationen artikuliert, z. B. von der größten und einflussreichsten Menschenrechtsorganisation im Land, dem Bulgarian Helsinki Committee (BHC). Im Kern ist diese Position der humanitären Perspektive sehr ähnlich, allerdings ist sie juristisch fundierter. Das BHC begründet die Notwendigkeit der Aufnahme von Geflüchteten mit den internationalen Vereinbarungen, die Bulgarien unterzeichnet hat, z. B. mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Ein weiteres, wichtiges Argument ist die prinzipielle Position der Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte (BHK o. J.). Einzelne Veröffentlichungen des Centers for Study of Democracy (Centers for Study of Democracy 2012) thematisieren die Problematik der Integration der geflüchteten Kinder in den Ländern der EU. Parteipolitisch wird diese Position von der Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) verkörpert.
17Die
aktivste Organisation ist das Bulgarische Rote Kreuz. Humanitäre Aktionen organisiert auch das „Open Society“ (vgl. Open Society Institute 2013). 18Solche Gruppen sind z. B. „Freunde der Flüchtlinge“ http://priyateli.org (27.10.2018), „Dozierende in Unterstützung der Flüchtlingskinder“ https://www.facebook.com/grou ps/1389266844653894/?fref=ts (27.10.2018), „Humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge in Bulgarien“ https://www.facebook.com/humanitarian.aid.bg?fref=ts (27.10.2018) u. A. 19Die einzige Position der Grünen bezüglich der Situation in Syrien bezieht sich auf die geo-politische Bedeutung der Problematik, allerdings nicht auf die Situation der Flüchtlinge: „Die Gewalt ist kein Mittel zur Lösung der Krise in Syrien“, (vgl. Zelenite 2013).
5.3 Die öffentlichen Debatten über Migration: Zusammenfassung
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Die wirtschaftsliberale Position behandelt das Thema der Fluchtmigration relativ marginal. Typisch für diese Sichtweise ist die Suche nach wirtschaftlicher Raison und nach dem Nutzen durch die Migrationsbewegungen. Das macht die wirtschaftsliberale Sichtweise nicht besonders empfindlich für die Probleme der Fluchtmigration und der Gewährung von Asyl, da bei der Aufnahme der Geflüchteten die Wirtschaftslogik nicht führend sein kann. Exemplarisch für diese Sichtweise ist die Rede der damaligen bulgarischen EU-Kommissarin Kristalina Georgieva: „Unsere Nation altert, Sie kennen die demografische Entwicklung Bulgariens. Wir haben Schwierigkeiten die Wirtschaftskrise zu überwinden […]. Auch wenn morgen ein Friedensabkommen abgeschlossen werden würde, werden die Geflüchteten, die Syrien verlassen haben, mindestens noch zwei – drei Jahre nicht zurückkehren können, denn dort ist alles zerstört. Diese Menschen werden hier sein und wir können sie nutzen, so dass sie vom Nutzen für unsere Wirtschaft sind“ (Mediapool 2013a, o. S.). Diese These wird allerdings infrage gestellt: Einerseits beanstanden linke Milieus ein reines Nutzendenken. Andererseits wird sie auch aus der Perspektive des konservativen politischen Spektrums kritisiert, da die Möglichkeit, geflüchtete Personen aus einem „fremden Kulturkreis“ aufzunehmen, nicht ausgeklammert wird. In der bulgarischen Öffentlichkeit fällt die fehlende Artikulation der sozial-protektionistischen Position auf. Sie sollte die Problematik der Immigration im Kontext der Steuerung der Arbeitsmarktprozesse thematisieren. In anderen europäischen Ländern wird diese Position von den Vertreter*innen der Gewerkschaften zum Ausdruck gebracht. Parteipolitisch wird sie von den sozialdemokratischen Parteien verkörpert. Vor dem Hintergrund des Protektionismus äußern sich in Bulgarien die Gewerkschaften relativ selten. Mit zunehmender Intensität wird die Position der bedingungslosen Öffnung der Grenzen artikuliert. Sie wird vor allem von den Bewegungen der „Neuen Linken“ verkörpert. Es finden Debatten über die Situation der Asylsuchenden und über die Stellung der Immigrant*innen in der bulgarischen Gesellschaft statt. Einzelne Diskussionen über die Probleme der Migration finden sich auf der Internetseite der „Neue Linke Perspektiven“ (Novi Levi Perspektivi 2014). Obwohl die These der bedingungslosen Öffnung der Grenzen auf theoretischer Ebene zum Ausdruck gebracht wird, wird sie auf einer praktischen Ebene nicht vertreten. Vielmehr werden Aktionen durchgeführt, die als humanitär zu bezeichnen sind: In den sozialen Zentren „Adelante“ und „Haspel“ werden beispielsweise Spenden gesammelt; den geflüchteten Menschen werden Wohnungen zur Verfügung gestellt. Die letzten beiden Positionen haben keinen parteipolitischen Träger. Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) begreift sich zwar als eine sozialdemo-
158
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kratische Partei20 und sollte eine protektionistische Politik unterstützen sowie als linke Partei eine protektionistische Politik, z. B. die Position der bedingungslosen Öffnung der Grenzen, vertreten. In der Praxis unterstützt die BSP, in der Zeit, in der sie an der Regierung beteiligt ist, eine restriktive staatliche Politik gegenüber den Geflüchteten. Sie unterstützt die bedingungslose Aufnahme von Immigrant*innen nicht auf die Art, die für die westeuropäischen, linken Parteien typisch wäre. Am stärksten ist in der Öffentlichkeit der populistisch-nationalistische Diskurs vertreten. Politischer Träger dieses Diskurses ist die Partei „Ataka“21. Neben „Ataka“ vertreten auch andere politische Akteure nationalistische Sichtweisen – die Parteien des rechten Spektrums NFSB und VMRO sowie auch Bewegungen, die nationalistische Ideen teilen. Eine wichtige Besonderheit dieser Diskurslinie ist der Gebrauch von bewertenden Nennungen. Über die ‚Geflüchteten‘ wird nicht einfach berichtet, sondern sie werden beurteilt. Der Begriff ‚Geflüchtete‘ wird in Anführungszeichen gesetzt, als würde sich der Autor des Artikels davon distanzieren wollen, diese Menschen als tatsächlich geflüchtet anzusehen und anzuerkennen. Die Asylsuchenden werden auch als „Aliens“ („пришълци“) bezeichnet (Ataka 2013b). Die offizielle Position des bulgarischen Staates wird von den Vertreter*innen der staatlichen Institutionen, die für die Steuerung der Migration und für die Arbeit mit Geflüchteten zuständig sind, zum Ausdruck gebracht – beispielsweise von der Staatlichen Agentur für die Geflüchteten (ДАБ). Der Regierungsdiskurs ist ‚zuwanderungseinschränkend‘. Die Steuerung und die Einschränkung der „Flüchtlingsströme“ wird begründet durch die Errichtung einer Mauer an der bulgarisch-türkischen Grenze (Mediapool 2013b). Exemplarisch für die restriktive, staatliche Politik sind die Stellungnahmen des damaligen Vorsitzenden der Agentur für Flüchtlinge, Nikolay Tschirpanliev (Tschirpanliev 2013). Solange eine Integration der Geflüchteten im bulgarischen
20Die
BSP kann nur bedingt als sozialdemokratische und linke Partei betrachtet werden. Eine Analyse zur Problematik der Genese des „linken“ und des „rechten“ Spektrums in Bulgarien findet sich in Vatsov 2013. 21Nach den Parlamentswahlen im Mai 2013 wird die Ataka-Partei das Zünglein an der Waage im bulgarischen Parlament. Die Teilnahme ihrer Abgeordneten an den Sitzungen ist entscheidend für das parlamentarische Quorum und für die Möglichkeit, dass die Parlamentsitzungen stattfinden. Praktisch ist die Ataka-Partei ein Koalitionspartner im Schatten. Diese Position verleiht eine zusätzliche Legitimität der Parteipositionen: Es handelt sich nicht nur ‚um die Meinung einiger Nationalisten‘.
5.3 Die öffentlichen Debatten über Migration: Zusammenfassung
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Arbeitsmarkt als Zielperspektive vorgesehen ist, soll sie nach Tschirpanliev wie folgt aussehen: „Sie werden aufräumen und sie werden (die Straßen – Hervorh. ML) fegen. Die Agentur für Arbeit und die Agentur für soziale Unterstützung am Arbeitsministerium werden ihnen eine einfache und nicht-qualifizierte Tätigkeit zuweisen. Sie sollen Schweres heben und aufräumen, solange sie Bulgarisch gelernt haben und andere Berufe erlernen. Auf alle Fälle werden wir nicht zulassen, dass sie in den Aufnahmezentren sitzen bleiben“ (ebenda). Die Integration soll durch „nicht-qualifizierte Arbeit“ erfolgen. Diese Vorgehensweise ist allein deswegen problematisch, da sie die Geflüchteten generell als „nicht-qualifiziert“ abstempelt. Wegen ihres kritischen Berichts über die Lage der Geflüchteten in Bulgarien sind die Vertreter*innen der internationalen Menschenrechtsorganisation, „Human Rights Watch“, von Tschirpanliev als „Lügner und Betrüger“ bezeichnet worden (Tschirpanliev 2014, S. o. S.). Diese Aussagen stehen exemplarisch für die fehlende staatliche Politik zur Immigration und zu den Formen der Aufnahme von Geflüchteten und Asylsuchende in Bulgarien. ‚Die Lösung‘ des „Flüchtlingsproblems“ (ebenda) bedeutet offensichtlich, die Geflüchteten nicht aufzunehmen. Im Kontext der Immigrationsdebatten dominiert das Sprechen über die Geflüchteten. Dagegen wird in der bulgarischen Öffentlichkeit relativ selten die Perspektive der Geflüchteten zum Ausdruck gebracht. Eine Ursache hierfür kann die Sprachbarriere sein – die Geflüchteten sprechen nicht Bulgarisch und können nur mühsam ihre Position artikulieren. Zudem kann die mangelnde Sensibilität der medialen Gatekeeper zur Stellung der Fremden in der bulgarischen Gesellschaft als weitere Erklärung genannt werden. Demgegenüber steht die Menschenrechtsseite Marginalia. In der Veröffentlichung „Fünf syrische Geflüchtete in Sofia“ (Marginalia 2014) werden die Lebenslagen und Schicksale der geflüchteten Personen dargestellt – ein Perspektivwechsel, der äußerst selten in der bulgarischen Öffentlichkeit anzutreffen ist.
5.3.2 Emigration In den ersten Jahren nach der Wende, mit der Möglichkeit Bulgarien uneingeschränkt verlassen zu können, erhöhte sich die Anzahl der Bulgar*innen, die das Land verlassen haben. Nur wenige haben in den ersten Jahren nach der Wende die Entscheidung getroffen, zurückzukehren. Ebenso gering war die Anzahl der Personen, die in dieser Zeit nach Bulgarien zugewandert sind. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik beträgt die Anzahl der nach Bulgarien zugewanderten Personen in der Zeit 1992–2001 ca. 19.000 Personen
160
5 Die gesellschaftliche und politische Wende nach dem Jahr 1989
(Nacionalen statisticheski institut 2011).22 Bulgarien hat sich in den ersten Jahren nach 1989 als ein Auswanderungsland entwickelt. Die Auswanderung hatte einen hohen Stellenwert in der bulgarischen Gesellschaft. 75 % der befragten Auswander*innen sind der Meinung, die vor der Migration bestimmten Ziele im Einwanderungsland erreichen zu können (Markov 2006). Private Firmen nahmen ihre Tätigkeit auf, um die Ausreise und die Auswanderung der ‚ausreisewilligen‘ Bulgar*innen vorzubereiten und die Emigrant*innen zu beraten. Private Sprachschulen boomten, Reiseunternehmen, insbesondere diejenigen, die günstige Busreisen organisierten, machten einen hohen Umsatz. Wie wirkten sich diese Veränderungen auf die Emigrationsdiskurse aus? Im Folgenden sollen die führenden diskursiven Linien über die Auswanderung aus Bulgarien zusammengefasst werden. Im Unterschied zur Immigration wird die Problematik der Emigration in der bulgarischen Öffentlichkeit schon seit Beginn der 1990er Jahre intensiv diskutiert. In den Parlamentsdebatten werden die Öffnung der Grenzen und die Möglichkeit, Bulgarien zu verlassen, thematisiert. Die ersten Diskussionen zum Thema sind durch eine positive Stimmung gekennzeichnet. Mitte der 1990er Jahre werden die ersten Probleme und Schwierigkeiten, die die Auswanderung mit sich bringt, thematisiert. Vor allem sind die Visarestriktionen der westeuropäischen Länder ein Problem. Diese werden von vielen Osteuropäer*innen in der Praxis umgangen. In diesem Kontext entstehen organisierte irreguläre Netzwerke, die die Migration nach Westeuropa ermöglichen sollen. Phänomene wie die Zwangsprostitution und der Asylmissbrauch treten auf. Ebenso ist die Problematik der langen Wartezeiten vor den westeuropäischen Botschaften in Osteuropa als Folge zu nennen. Westeuropa ist in dieser Zeit kein touristisches Ziel, sondern ein wirtschaftliches Ziel; ein Ort, an dem man Geld verdienen kann, um Autos oder Waren zu erwerben, die nach Bulgarien importiert werden. Der Kleinwarenimport wird euphemistisch als ‚Kofferhandel‘ (‚куфарна търговия‘) bezeichnet. Im Jahr 2001 wurden die Grenzen der EU-Länder für Bulgar*innen durchlässiger. So durften sich die bulgarischen Staatsbürger*innen in den Ländern
22Eine
genaue Zahl der Personen, die aus Bulgarien ausgewandert sind, kann nicht ermittelt werden. Selbst in der Nationalen Strategie wird diese Tatsache vermerkt (Regierung 2014, S. 5). In diesem Regierungspapier wird von einer Millionen Menschen mit bulgarischer Staatsangehörigkeit, die „ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben“, gesprochen (ebenda). Die Anzahl der Personen, die nach Bulgarien zurückgekehrt sind, wird nicht genannt.
5.3 Die öffentlichen Debatten über Migration: Zusammenfassung
161
des Schengen-Raums bis zu drei Monate ohne Visum aufhalten (vgl. Rat der Europäischen Union 2001). Die Schlangen vor den westeuropäischen Botschaften in Sofia gehörten damit der Vergangenheit an. Die Anzahl der Personen, die aus Bulgarien nach Westeuropa einreisten, nahm zu. Viele Bulgar*innen beschlossen, die Frist von drei Monaten zu überschreiten, in Deutschland zu bleiben und dort irregulär zu arbeiten. Die Aufhebung der Visum-Restriktionen im 2001 bedeutete keine Aufhebung der Einschränkungen der Arbeitsaufnahme. Eine Möglichkeit, sich regulär in Westeuropa aufzuhalten, war ein Studium aufzunehmen. Diese Möglichkeit wurde von vielen bulgarischen Familien für ihre Kinder gewählt. Die Vorbereitung und Organisation des Studiums im Ausland wurde immer aktueller, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Insgesamt war in der Periode von 2001–2007 ein starkes Bemühen der bulgarischen öffentlichen Institutionen, sich den EU-Normen anzupassen, zu konstatieren. Im Zuge der Osterweiterung der EU und der sog. Beitrittsverhandlungen wurden die bulgarischen Gesetze an europäische Standards angepasst. Gesetzestexte wurden im Parlament verabschiedet, Debatten allerdings kaum geführt. Das nationale Ziel, dass Bulgarien möglichst schnell ein EU-Mitglied werden soll, wurde von keiner politischen Fraktion hinterfragt. Seitdem Bulgarien Mitglied der EU ist (2007), dominiert im bulgarischen öffentlichen Raum das Thema der Freizügigkeit; die Möglichkeit, sich frei in der EU aufzuhalten, Geschäfte zu machen, Arbeit und Bildung zu beginnen. Das Thema Emigration wird durch das Thema Freizügigkeit ergänzt. In der untersuchten Periode (1990–2016) wird in der bulgarischen Öffentlichkeit mit unterschiedlicher Intensität über die bulgarischen Minderheiten im Ausland, in der Ukraine, Rumänien, in der Republik Nordmazedonien, Serbien, Albanien und Moldawien debattiert. Diese Debatten beziehen sich sowohl auf die schwierige Situation dieser Gruppen als auch auf die Möglichkeit, Vertreter*innen dieser Gruppen nach Bulgarien einwandern bzw. zurückwandern zu lassen, um sie auf diese Art als Ressource zur Lösung der demografischen Krise im Land zu nutzen und zugleich zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beizutragen. In der Zeit 1990–2016 ändern sich nicht nur die Formen der Wanderung, sondern auch der Tenor der öffentlichen Debatten über die Migration aus und nach Bulgarien. Das Thema Emigration wird häufig diskutiert, wohingegen das Thema Immigration, zumindest in den ersten Jahren der Periode, relativ marginal debattiert wird. In den öffentlichen Diskursen über Migration in der Zeit von 1990–2016 sind die folgenden Änderungen festzuhalten:
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• Zu Beginn der 1990er Jahre wird die Emigration als etwas Positives begriffen – als Zeichen der Freiheit und der Verwirklichung des bulgarischen Traums, frei reisen zu dürfen. • Seit Mitte der 1990er Jahren wird die Emigration zunehmend als Problem definiert. Sie führt zur Abwanderung aus bestimmten Regionen des Landes, zu Fachkräftemangel und zu „Brain Drain“. Sie verursacht Probleme (genannt werden in den öffentlichen Debatten die illegale Migration, die Prostitution und die organisierte Kriminalität). Bulgar*innen, die ihr Recht auf Migration missbrauchen, verschlechtern das Image Bulgariens und schaden dem Land, so der Tenor. • In den Debatten wird die Immigration seltener als Ressource, sondern mehr als ein Problem angesehen. • In den Debatten geht es darum, die Vorgaben der EU zu erfüllen und die Grenzen des Landes zu sichern, damit Bulgarien aus der Negativliste genommen wird und die Bulgar*innen frei in der EU reisen können. Eine Folge dieser Vorgaben ist die zunehmende Versicherheitlichung der Migrationsdebatten und der Migrationspolitik: Es werden Maßnahmen zur Einschränkung der illegalen Migration, zur Sicherung der Staatsgrenzen, zur Abschiebung sich irregulär aufhaltender Ausländer und zur Wiederaufnahme krimineller Bulgar*innen, die sich in der EU aufhalten, verabschiedet. • Die Rückkehrwanderung ist bis 2001 kein Thema in der bulgarischen Öffentlichkeit. Im Jahr 2001 beteiligen sich Vertreter*innen der neu gegründeten Bewegung „Bulgarskijat Velikden“ („Das Bulgarische Ostern“) innerhalb der Regierung von Simeon Sakskoburggotski. Ihre Erfahrung soll dazu beitragen, Bulgarien auf den Weg in die EU zu führen. Die Ergebnisse sind mit Blick auf die erhoffte Demokratisierung eher ernüchternd. • Mit der Zeit führt die zunehmende Vielfalt der Emigration zu einer Heterogenität der Debatten über Emigration. In den öffentlichen Diskursen können die unterschiedlichen Positionen idealtypisch folgenden Kategorien zugeordnet werden: humanitär, wert-liberal, wirtschafts-liberal, protektionistisch, links und die nationalistisch. Die wirtschaftsliberale Position akzentuiert den ‚Fachkräftemangel‘ und den Einfluss dieses Problems auf die bulgarische Wirtschaft. Insofern sie liberal ist, werden keine Einschränkungen der Migration gefordert. Insofern sie wirtschaftsorientiert ist, vertritt sie die Interessen bestimmter Wirtschaftsorganisationen und übt diskursiv einen Druck auf die Politik zur Stimulierung der Rückkehrwanderung und zur Immigration von Fachkräften unterschiedlicher Länder aus.
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Die Emigration wird aus dieser Position heraus als „Brain Drain“ definiert – der Fachkräftemangel wird als ernsthaftes Problem wahrgenommen. Diese Position ist z. B. in den Stellungsnahmen der Bulgarischen Wirtschaftskammer (БСК) zu finden (BSK 2014). Die bulgarischen Emigrant*innen werden grundsätzlich als positiv bewertet – sie erwerben fachliches Wissen und Können. Die Auswanderung hilft zudem, dass die Arbeitslosigkeit im Land sinkt. „Wenn es für sie [für die bulgarischen Emigrant*innen, Hervorh. ML] und ihre Familie besser ist, im Ausland zu sein, mit allen Risiken, mit denen das verbunden ist, ist dieses Szenario wahrscheinlich besser für unsere Gesellschaft. Denn es ist besser, dass jemand im Ausland etwas arbeitet, was befriedigend für ihn ist und nicht hier zu sein und arbeitslos zu bleiben, bzw. Sozialhilfe zu beziehen“, erklärt der Wirtschaftsexperte Ganev vor der Tageszeitung Dnevnik (Dnevnik 2014, o. S.). Bei ihrer möglichen Rückkehr können die Rückwanderer neue Ideen und Investitionen mitbringen. Positiv wird die Unterstützung bewertet, die die bulgarischen Emigrant*innen für ihre in Bulgarien lebenden Familien leisten. Die Geldüberweisungen spiele eine wichtige Rolle auch für die bulgarische Wirtschaft (Deutsche Welle 2014) „Je leichter es ist für das Menschenkapital sich zu bewegen, je besser ist es für alle Länder – für diejenigen, die Arbeiter*innen aussenden und für diejenigen, die Arbeiter*innen aufnehmen“, kommentiert der Wirtschaftswissenschaftler Krassen Stantschev. „Unsere Beobachtungen verdeutlichen das gleiche – die bulgarischen Bürger*innen, die im Ausland arbeiten, sind ein sehr wichtiger Teil unserer Wirtschaft“ (Capital 2011a, o. S.).
Die bulgarischen Emigrant*innen werden in ihrer Brückenfunktion wahrgenommen. Sie werden als eine ‚nationale Ressource‘ gesehen, die für die Verbreitung bulgarischer Waren, Ideen, Kultur und Investitionen werben können. Die Emigration führt nicht zu Verlust, so der Tenor. „In einem strategischen Plan ist die Binnenwanderung in der EU ein Prozess, von dem beide Seiten profitieren“ (Dnevnik 2014, S. o. S.). Die Migration wird nicht als eine einmalige Entscheidung der wandernden Personen definiert. „Außerdem ist diese Ressource im großen Umfang dynamisch. Einige gehen und kommen zurück, andere gehen und kommen nie wieder. So ist die endgültige Öffnung der Arbeitsmärkte in der EU kein Drama“, sagt der Kommentator Petar Ganev (ebenda). Die wirtschaftsliberale Sichtweise unterstützt die freien Migrationsbewegungen von Kapital, Dienstleistungen, Ideen, Waren und Menschen. Die Migrationsbewegungen der Bulgar*innen werden nicht als Verlust für die nationale Wirtschaft, sondern als Gewinn angesehen.
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Die humanitäre Sichtweise wird von Nichtregierungsorganisationen artikuliert, die sich für die Rechte und für die Gleichstellung der Migrant*innen einsetzen. Sie werden aktiv, wenn die ins Ausland migrierten Bulgar*innen Opfer von Menschenhandel oder Menschenschmuggel, von Zwangsprostitution oder Entführung im Zusammenhang mit dem Organhandel werden. Sie decken Fälle auf, in denen wenig qualifizierte Arbeiter*innen, die im Ausland irregulär beschäftigt sind, nicht bezahlt werden oder unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben. In diesem Kontext ist die Stiftung „Animus“ sehr aktiv. Sie wurde 1994 gegründet (Fondacia Animus o. J.). In ihrem Förderungsprogramm „La Strada“, das in Bulgarien seit 1998 aktiv ist, werden Projekte zur Prävention des Menschenhandels in Zentral- und Osteuropa sowie gegen Gewalt durchgeführt. Ihre Position fokussiert sich auf die Rechte der Opfer. „Wir gehörten zu den ersten, die über den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung in Bezug auf die bulgarischen Frauen gesprochen haben. Wir haben uns an der Ausarbeitung des Gesetzes gegen den Menschenhandel beteiligt. Wir haben Institutionen zur Unterstützung der Opfer aufgebaut. Unsere Strategie fußt auf der Annahme, dass der Menschenhandel ein grausames Verbrechen mit ernsthaften physischen und psychischen Folgen für die Opfer ist. Für ihre Überwindung hat der Staat eine Verantwortung. Unsere Vorgehensweise setzt sich für die Menschenrechte der Personen ein, die Opfer dieses Handels geworden sind“ (ebenda).
Die protektionistische Denkweise wird von den Gewerkschaften zum Ausdruck gebracht. Im bulgarischen Kontext ist diese Sichtweise, die sich für die Verteidigung der Rechte der nationalen Arbeitskräfte einsetzt, relativ schwach vertreten. Die Emigration wird unterstützt soweit sie die Probleme der hohen Arbeitslosigkeit bestimmter Regionen löst. Sie wird allerdings auch als „Brain Drain“ definiert. „Leider gibt es momentan ein Defizit sowohl von Arbeitsplätzen, als auch von Fachkräften“, so der Vorsitzende der Gewerkschaft „Podkrepa“ (24 chasa 2012, S. o. S.). Die bulgarischen Gewerkschaften, die zu Beginn der 1990er Jahre stark den nationalen Arbeitsmarkt als Handlungsfeld definieren, öffnen sich zunehmend für die Herausforderung der Transnationalität und kooperieren mit Gewerkschaftsorganisationen aus anderen europäischen Ländern. Die bedingungslose Öffnung der Grenzen wird von linken Organisationen vertreten: Sie setzen sich für eine Welt ohne Grenzen ein. Die Migration von Bulgar*innen ins Ausland ist ein Thema, das in seiner Bedeutung nicht wichtiger ist als die Problematik der Immigration nach Bulgarien. Auf die Problematik der Emigration wird dann fokussiert, wenn die Bulgar*innen im Ausland Opfer von
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Fremdenfeindlichkeit werden. Wichtiger als die Situation der Bulgar*innen im Ausland ist die Lage der Geflüchteten bzw. die Lage der ‚Fremden‘, die im Ausland leben. Die bulgarischen Ausländer*innen werden aufgrund ihrer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit nicht priorisiert. Die linke Sichtweise ist gegen eine ‚Fachkräfteemigration‘. Die niedrig- oder unqualifizierten Migrant*innen dürfen nicht schlechter gestellt werden als die hochqualifizierten, so der moralische Tenor dieser Position. Unabhängig von der Qualifizierung sollen die Migrant*innen als gleichwertig und gleichberechtigt angesehen werden. In ihrem Kern beinhaltet die linke Sichtweise eine Vorstellung, die die Spannungen, die z. B. aus der unterschiedlichen Stellung von Frauen in den verschiedenen Gesellschaften, resultieren, ausblendet und die wirtschaftlichen Interessen der sozialen Akteure, sowohl der Arbeitgeber*innen, als auch der Arbeitnehmer*innen, ignoriert. Die konservative Sichtweise betrachtet die Emigration der Bulgar*innen als einen Verlust für die bulgarische Nation. Sie führt zum Abbruch der Bindungen mit der bulgarischen Tradition, mit der bulgarischen Kultur und Sprache. Die Emigration kann auf Dauer zu einem ‚Aussterben‘ der bulgarischen Nation führen: Die Bevölkerung altert und die ethnische Zusammensetzung in den Grenzen der Nationalstaaten verschiebt sich zugunsten der kinderreichen Minderheiten, vor allem der Roma-Minderheit. Wenn die jungen Menschen auswandern, kann sich keiner um die alten Menschen, die im Land bleiben, kümmern: „Das Alter braucht Hilfe. Diese Menschen, deren Söhne und Töchter in der weiten Ferne leben, können keine Hilfe erhalten. Sie hinken vor sich hin, sie versuchen klar zu kommen, und die Kleinigkeiten des Alltags zu erledigen. Den Sommer abzuwarten, den Urlaub, die Zeit, in der die Kinder vielleicht zurückkehren werden“ (Dnevnik 2015, o. S.). Diese Sichtweise strebt die Aktivierung der Kontakte mit den im Ausland lebenden Bulgar*innen an. Das Ziel ist, die bulgarische Sprache, Literatur und Kultur im Ausland zu fördern (vgl. Universität Sofia 2014). Die Vertreter*innen der nationalistischen Position stellen sich sowohl gegen die Immigration, als auch gegen die Emigration. Die Emigration führt zum Verlust des ‚Bulgarentums‘ und zur Alterung der Bevölkerung. Die Thesen der nationalistischen Position stehen damit den konservativen Positionen sehr nahe. Die Migration wird grundsätzlich als eine Bedrohung für die nationale Identität wahrgenommen. Die emigrierten Bulgar*innen, insbesondere diejenigen, die eine andere Staatsangehörigkeit angenommen haben, werden als ‚Verräter*innen‘ abgestempelt.
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Wichtige Themen für die nationalistische Position sind: • Bulgarien wird kleiner, die Bevölkerung schrumpft (vgl. Vestnik Ataka 2014a): die Vertreter*innen der ethnischen und religiösen Minderheiten (Roma, Türk*innen, Muslime, Immigrant*innen, Flüchtlinge) werden immer mehr, sie werden die Bulgar*innen „überschwemmen“ und „auslöschen“ (Vestnik Ataka 2013) • Bulgarien kann das Problem der Emigration lösen, wenn das Land den Lebensstandard anheben kann. (vgl. Vestnik Ataka 2014b) • Die Loyalität der Staatsbürger*innen ist essenziell wichtig für die nationale Sicherheit. Die ‚natürliche‘ Loyalität ist die ethnische Loyalität. Personen, die zwei Staatsangehörigkeiten besitzen, können nicht loyal sein. • Die politische Partizipation soll dementsprechend nur ethnischen Bulgar*innen zustehen. Bulgarische Staatsbürger*innen, die zu anderen ethnischen Gruppen gehören, sollen nicht wählen dürfen. Insgesamt soll es den Bulgar*innen, die sich im Ausland aufhalten, erschwert werden, ihr Wahlrecht auszuüben, denn sie würden die Probleme der Menschen im Land nicht kennen und sich stattdessen für ein ‚schönes‘ und ‚problemloses‘ Leben im Ausland entscheiden. Die politische Partizipation soll nur für die Bulgar*innen, die in einem EU-Land leben, möglich sein. Mit dieser Regelung soll den bulgarischen Türk*innen, die in der Türkei leben, das Wahlrecht de facto entzogen werden (vgl. Vestnik Ataka 2010). • Die Emigration führt zur Abwanderung und zu Verlusten für Regionen und Gemeinden. Schuld für diese Entwicklung tragen die Emigrant*innen, die keine Patriot*innen sind. • Im Fokus stehen die bulgarisch ethnischen Minderheiten im Ausland, z. B. in Serbien, in der Republik Nordmazedonien, Albanien, Rumänien und Moldawien. Ihre Lage soll verbessert werden, denn sie leben unter schlechten Bedingungen und sind Opfer von unwürdiger Behandlung in den fremden Ländern (vgl. Vestnik Ataka 2012). Insgesamt sprechen sich die Nationalisten für bessere Arbeitsbedingungen aus. Die schlechten Arbeitsbedingungen werden als Ursache für die Abwanderung angesehen. „Wir, die Nationalisten, wollen, dass es eine besser bezahlte Arbeit für alle Bulgaren angeboten wird, sodass sie nicht ins Ausland fliehen, um dort erniedrigt zu werden“ (Politische Partei Ataka 2012, S. 26).
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5.3.3 Typologisierung der diskursiven Stränge In jeder der oben dargestellten Stellungsnahmen ist explizit oder implizit ein Legitimierungs- und Deutungsmuster der Migrationsbewegungen vorhanden. In jeder Position wird zum einen die Frage beantwortet, welches die zulässige Migration (Emigration, Immigration, Fluchtmigration etc.) ist und zum anderen, welche Migrationsbewegung verhindert werden soll. Durch die in den einzelnen Stellungsnahmen vorhandenen Legitimationsmuster der Berechtigung zur Einreise und zum Aufenthalt, können die einzelnen, oben genannten Diskurse, in drei diskursiven Strängen zusammengefasst werden: der Strang der bedingungslosen Unterstützung der Migrationsbewegungen, der Strang der Unterstützung bei bestimmten Voraussetzungen und der Strang der strikten Ablehnung. Diese drei Stränge haben, bei allen Unterschiedlichkeit, eine Ähnlichkeit – die Migrationsbewegungen werden ‚klassisch‘ definiert; sie drücken das klassische Verständnis der „Migration“ als eine einmalige Bewegung, als eine Lebensentscheidung, als eine Einbahnstraße aus. Ein Mensch, der migriert, kommt in der Aufnahmegesellschaft an, wird ansässig und soll sich integrieren bzw. assimilieren oder aber das Land verlassen. Der diskursive Strang der bedingungslosen Unterstützung der Migrationsbewegungen wird von den Neuen Linken vertreten. Ebenso unterstützend sind die Vertreter*innen des klassischen Wert-Liberalismus. In ihren Wertvorstellungen nehmen die Gleichstellung der Menschen und der Schutz der Menschenrechte einen wichtigen Platz ein. Die praktische Dimension dieser Position ist in der humanitären Sichtweise erkennbar – im Kontext der Zunahme der Anzahl der asylsuchenden syrischen Bürger*innen wurden diverse humanitäre Aktionen durchgeführt. Die Unterstützung dieser Aktionen reicht weit über das linke und das liberale Spektrum hinaus – die Idee der bedingungslosen Unterstützung ist nicht parteigebunden. Sie wird überwiegend von Nichtregierungsorganisationen sowie von einzelnen Aktivist*innen und Bürger*innenbewegungen („Freunde der Flüchtlinge“, „Soziales Zentrum Adelante“, „Soziales Zentrum Haspel“) vertreten. Sie ist zudem in einzelnen humanitären Aktionen der Religionsgemeinschaften wie der bulgarischen orthodoxen Kirche, der muslimischen Glaubensgemeinschaft, der katholischen und evangelischen Gemeinschaften, im Land sichtbar. Der diskursive Strang der bedingten Unterstützung der Migrationsbewegungen wird von den Vertreter*innen des Wirtschaftsliberalismus, des Protektionismus und der konservativen Denkrichtungen zum Ausdruck gebracht. Die Unterstützung ist gering, da nur ein Teil der Migrationsbewegungen als
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‚legitim‘, ‚begründet‘ und ‚akzeptabel‘ gilt; andere Bewegungen werden abgelehnt. Die Position des Wirtschaftsliberalismus wird in vielen Medien mit Wirtschaftsbezug wie der Wochenzeitung Kapital, der Tageszeitung Dnevnik, der Online-Site dnevnik.bg, in einzelnen Analysen bestimmter NGOs (z. B. des Instituts für Marktwirtschaft) (vgl. BTPP 2013), in Positionspapieren der Union der Arbeitgeber*innen und Industrievertreter*innen (z. B. der Bulgarischen Industrie- und Handelskammer, vgl. BTPP 2014c) artikuliert. Im Rahmen des Nationalen Rats für Arbeitsmigration, der an die Regierung angegliedert ist, werden die wirtschaftlichen Folgen der Migrationsprozesse nach und von Bulgarien diskutiert (vgl. Nacionalen savet po trudova migracija o. J.). Das Recht auf Migration wird an den Nutzen, den die Migrant*innen für die Wirtschaft erbringen können, angekoppelt. Betont wird das Schaffen neuer Arbeitsplätze. Die Rolle der internationalen Investoren in Bulgarien steht in diesem Zusammenhang. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, wie beispielsweise Großbritannien oder Deutschland, ist die Artikulation der wirtschaftsliberalen Position relativ schwach vertreten. Vor allem von Politikern des rechten politischen Spektrums (z. B. GERB) wird diese Position aufgegriffen. Eine der möglichen Ursachen dafür ist die hohe Arbeitslosigkeit im Land, die keinen Druck auf den Diskurs zur Formulierung von konkreter Politik zum ‚Import von Arbeitskräften‘ entstehen lässt. Mit der Zunahme des Fachkräftemangels in Bulgarien kann erwartet werden, dass diese Diskurslinie an Bedeutung gewinnen wird. Die konservative Position zielt auf die Aufrechterhaltung der Einigkeit der Nation, die als eine ethnisch und kulturell homogene Gemeinschaft dargestellt wird. Als eine wichtige Aufgabe sehen die Vertreter*innen dieser Position die aktive staatliche Unterstützung der externen nationalen Minderheiten, d. h. der bulgarischen Gemeinschaften, die aus historischen Gründen außerhalb der Grenzen des bulgarischen Nationalstaates verblieben sind (Deutsche Welle 2010). In ihrem Kern befürwortet diese Position die Aufnahme von Immigrant*innen, aber nur dann, wenn sie ethnisch, kulturell, religiös und sprachlich ‚nah‘ oder ‚verwandt‘ mit der bulgarischen Bevölkerung sind. Sie begrüßt die Aufnahme der Remigrant*innen, wobei sie der Emigration, die als ‚Verlust‘ gedeutet werden kann, kritisch gegenübersteht. Die konservative Position wird in der bulgarischen Öffentlichkeit schwach artikuliert. Sie steht der nationalistischen Position nahe. Die protektionistische Position ist in der bulgarischen Öffentlichkeit am schwächsten vertreten. Sie akzentuiert die Verteidigung der nationalen Arbeitskraft und den eingeschränkten Zugang von Migrant*innen zum Arbeitsmarkt.
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In Bulgarien sollen nur die Migrant*innen aufgenommen werden, die keine ‚Konkurrenz‘ um Arbeitsplätze evozieren könnten. Diese These wird von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien zum Ausdruck gebracht. Allerdings wird dieses Thema aufgrund der Entwicklungen am bulgarischen Arbeitsmarkt kaum öffentlich artikuliert. Der Strang der bedingungslosen Ablehnung der Migrationsbewegungen wird von den Vertreter*innen der nationalistischen Sichtweise zum Ausdruck gebracht. Sie begründen ihre Ablehnung völkisch, d. h. mit dem nur ethnischen Bulgar*innen zukommenden Aufenthaltsrecht. Diese Position verneint grundsätzlich die Existenzberechtigung jedes ethnischen, religiösen, kulturellen, sprachlichen u. a. Unterschieds. Das Hauptmotiv dieser Linie ist die ethnische, nationale und religiöse ‚Reinheit‘ sowie die Homogenität der Nation. Diese Sichtweise hinterfragt grundsätzlich das Recht auf freie Bewegung und zwar nicht nur von ausländischen Bürger*innen, sondern auch von bulgarischen Bürger*innen ins Ausland. Die Bulgar*innen, die die doppelte Staatsangehörigkeit besitzen, werden als „Verräter“ bezeichnet (Dnevnik 2012); sie sollen vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Die Vertreter*innen dieser Position erklären sich gegen Europa als eine Gemeinschaft unterschiedlicher Kulturen, Ethnien, Nationen und stehen deshalb auch der EU als einer Meta-Institution, die auf die Regierung Bulgariens eine Wirkung hat, kritisch gegenüber. Trotz der diskursiven Fixierung auf Migration, werden in der bulgarischen Öffentlichkeit die Figuren der Immigrant*innen und der Emigrant*innen nur marginal gezeichnet. Es wird nicht zwischen asylsuchenden Menschen, anerkannten Flüchtlingen, Arbeitsmigrant*innen, Bildungsmigrant*innen etc. unterschieden. Unsichtbar bleiben Migrant*innenfamilien, Kinder aus den sog. ‚mixed marriages‘, die Bildungsmigrant*innen, die mobilen Experten. Die akademische Migration und die Wanderung der Hochqualifizierten werden kaum rezipiert. Die Transmigration und die Mobilität werden in den öffentlichen Diskursen nicht dargestellt. Sie werden lediglich in verschiedenen wissenschaftlichen Analysen thematisiert (Kabakchieva 2014). In den medialen und politischen Diskursen wird vor allem über die ‚Problemmigrant*innen‘, über die ‚Flüchtlinge‘, berichtet. Ihre Fremdheit wird akzentuiert und als Bedrohung betrachtet. Die Migrationsbewegungen werden weniger als Entwicklungspotenzial, sondern als Risiko und Bedrohung angesehen. Das ist eine deutliche Veränderung im Vergleich zu den 1990er Jahren. In dieser Zeit wurde die Migration, damals überwiegend als Emigration verstanden, vor allem als Chance und als Recht wahrgenommen. In der sozialistischen Zeit war die Migrationspolitik verstaatlicht. In den ersten Jahren des Postsozialismus ist eine deutliche Tendenz der ‚Privatisierung‘ der
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Migrationspolitik festzustellen. Sie wird von den sozialen Akteuren praktiziert und gelebt. Der Staat zieht sich maximal aus der Regulierung zurück. Durch den Druck der europäischen Partner*innen, der im Zuge der Osterweiterung der EU ausgeübt wird, übernimmt der Staat zunehmend die Kontrolle über die Migrationsprozesse. Diese Kontrolle wird vor allem auf die Immigration ausgeübt: Kontrolle der Staatsgrenzen, Ausweisung, Inhaftierung, Akkommodation der Immigrierten. Eine Integrationspolitik sowie eine Steuerung und Gestaltung der Emigration oder der Rückwanderung finden praktisch nicht statt. Migration erhält erst sehr spät politische Priorität bei den bulgarischen Eliten. Der bulgarische Staat hat keine strategische Vision im Hinblick auf eine Migrationspolitik. Die politischen Parteien haben keine ideologisch begründeten Positionen zu den Problemen der Migration. Ihre Stellungnahmen sind konjunkturell bedingt. Die erste Nationale Strategie wird erst 2008, d. h. ca. 20 Jahren nach der Wende, erarbeitet und veröffentlicht. Der Prozess der Priorisierung der Migrationsthematik wird vor allem aufgrund der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen in den letzten Jahren beschleunigt. Der Mangel an klar markierten politischen und ideologischen Positionen begründet das Aufkommen des Populismus, der mit Fremdenfeindlichkeit, Ablehnung Europas und der Demokratie als Regierungsform die Interpretation der Migrationsbewegungen von und nach Bulgarien dominiert.
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6
Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde und biografische Reflexionen
Zusammenfassung
Im Kap. 6 wird zunächst auf die Spezifik der Migrationsforschung im Kontext der deutschen Gesellschaft eingegangen. Dabei wird die gesellschaftliche und migrationspolitische Entwicklung der Bundesrepublik skizziert. Diese wird zur Grundlage der empirischen Analyse der Besonderheiten der bulgarischen Migration nach Deutschland. In der Analyse wird eine Typologie der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland ausgearbeitet. Anhand von Interviews mit Migrant*innen wird auf die Spezifik der bulgarischen Migration nach Deutschland in der postsozialistischen Zeit (1989–2007) eingegangen. Schlüsselwörter
Migration · Mobilität · Postsozialismus · Typologie der bulgarischen Migrant*innen
Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Spezifik der Migrationsbewegungen von Bulgarien nach Deutschland in der Zeit von 1990–2007 herauszuarbeiten. Die Analyse bewegt sich auf einer Mikroebene und beruht auf biografischen Erzählungen der sozialen Akteure. Durch diese soll eine Typologisierung der Migrationsverläufe von Bulgarien nach Deutschland in der Zeit von 1990–2007 ermöglicht werden. Es soll herausgefunden werden, welche nach dem Verständnis der sozialen Akteure die ‚legitimen‘ und ‚guten‘ Migrationspfade sind, welche Migrationsgeschichten verschwiegen oder gar tabuisiert werden und welche Biografien als ‚erfolgreich‘ bzw. als ‚erfolglos‘ gelten. Welche Bedeutung
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_6
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hat die Transnationalität für die Selbst- und Fremdwahrnehmung des eigenen Migrationsprojekts? Die Migration aus Bulgarien nach Deutschland vollzieht sich in einem konkreten historischen und gesellschaftlich politischen Kontext – der wiedervereinten Bundesrepublik Deutschland nach 1989. Dementsprechend werden die Migrationsbewegungen durch die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Deutschlands determiniert. Um diesen Einfluss analytisch herauszuarbeiten, werde ich zunächst, in Anlehnung an die zahlreichen Studien zu diesem Thema, den zeithistorischen Horizont rekonstruieren.
6.1 Migration und Migrationspolitik als Gegenstand der Wissenschaft Die migrationspolitischen Entwicklungen der Bundesrepublik sind Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Abhandlungen. Neben migrationshistorischen Perspektiven (Bade 1992, 2011, 2017; Bade und Oltmer 2004; Hoerder et al. 2007; Liebig 2016, 2017) sind auch migrationssoziologische (Esser 1980, 2006; Pries 1997, 2010, 2013; Treibel 2008a, b, 2009, 2017; Faist 2013; Oswald 2007; Zwengel 2018), politologische (Thränhardt 2014, 2015) und geografische (Hillmann 1996) Sichtweisen deutlich erkennbar. Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Richtungen der Migrationsforschung in Deutschland, die sich insbesondere in den vergangenen zehn Jahren etabliert hat, ist die These der Heterogenität der Migration. Hatte man in den Sozialwissenschaften der 1970er und 1980er Jahre über ‚Ausländer‘ und ‚Gastarbeiter‘ (und dabei überwiegend über ‚die männlichen türkischen Gastarbeiter‘) berichtet und sich dabei wissenschaftlich auf ihre spezifischen Lebenslagen fokussiert, beschäftigt man sich seit den späten 1990er Jahren mit den ‚Migrant*innen‘, ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ und ‚Personen mit Zuwanderungsgeschichte‘ (und dabei nicht ausschließlich mit türkeistämmigen Männern aus der Arbeiterschicht). In der neueren Zeit kommen die „neuen Deutschen“ (vgl. Treibel 2015; Aydin und Straubhaar 2013; Becker 2014) und die Realität der „post-migrantischen Gesellschaft“ (Foroutan 2010, 2013) in den Blick. Symptomatisch für die Veränderung der wissenschaftlichen Rezeption ist der Gebrauch der einzelnen Fachbegriffe „Migrant*innen“, „Ausländer“, „Menschen mit Migrationshintergrund“, „Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“, „Neue Deutsche“. Die Verwendung differenzierender Definitionen weist auf die wissenschaftliche Etablierung der Erkenntnis der zunehmenden Migrant*innenheterogenität und generell auf die Gesellschaftsheterogenität in Deutschland hin. Diese Erkenntnis bedeutet, dass es
6.1 Migration und Migrationspolitik als Gegenstand der Wissenschaft
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eine Figur des „typischen Migranten“, bzw. der „typischen Migrantin“ zumindest im wissenschaftlichen Diskurs nicht (mehr) gibt. Es gibt unterschiedliche Migrant*innengruppen: ethnisch, religiös, kulturell aber auch sozial-strukturell, demografisch und genderspezifisch. Dazu ist in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung der letzten Jahre und insbesondere nach dem 11. September 2001 zunehmend die Tendenz festzustellen, dass die kulturellen Determinanten intensiver als Erklärungsmuster der Lebenssituation und der Integrationserfolge bzw. -defizite der „Menschen mit Migrationshintergrund“ einbezogen werden. Das Augenmerk wird nicht besonders auf die ethnische, sondern viel mehr auf die religiöse Dimension und insbesondere auf den Islam fokussiert.
6.1.1 „Migration“ im wissenschaftlichen Diskurs der 1980er Jahre Die Migrationsforschung1 der 1980er Jahren in Deutschland, damals „Ausländerforschung“ genannt, fokussierte überwiegend auf die spezifischen Lebenslagen der männlichen „Ausländer“ und der „türkischen Gastarbeiter“ und zwar im Kontext der „Ausländerbeschäftigung und der sozio-ökonomischen Situation“ (Üçüncü 1980). Generell wurde die Lebenslage der Ausländer in Deutschland in den 1980er Jahre aus der Perspektive der kommunalen Sozialarbeit (Pasero 1985), Berufsbildung (Sellach 1987), Gesundheitsförderung (Baymak-Schuldt et al. 1982), Ausländerberatung (Huth-Hildebrandt 1981; Schmidt-Koddenberg 1984), Sprachförderung (Fischer 1983; Gürkan et al. 1984) etc. erläutert. Ebenso war die ausländerrechtliche Stellung ein Themenschwerpunkt (Bagana 1987). Eine Besonderheit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den „Ausländern“ in Deutschland zu der damaligen Zeit ist die Einbettung ihrer Lebenslagen in die „Ausländerfamilie“ (Aguirre 1982) und insbesondere der Frauen. Die ausländischen Frauen wurden in den 1970er und 1980er Jahren zum Thema von sozialwissenschaftlichen Studien. Einerseits wurden sie als Opfer der fremden Gesellschaft und andererseits als Opfer der eigenen, patriarchal-familiären Ordnung dargestellt. Der Begriff „Migration“ wurde
1Es kann generell diskutiert werden, inwieweit in den 1980er Jahre in Deutschland überhaupt eine Migrationsforschung existierte; die Selbstbezeichnung war „Ausländerforschung“. An dieser Stelle kann aufgrund der thematischen Ausrichtung der vorliegenden Arbeit diese Frage allerdings nicht vertieft erörtert werden.
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in Bezug auf die ausländischen Frauen in der mittlerweile als „Klassiker“ rezipierten Studie von Morokvasic (Morokvasic 1987) verwendet. In der Fachliteratur der 1970er und 1980er Jahre wurden die Veränderungen im Leben der Frauen analysiert. Dabei werden die Frauen als Objekte der Veränderung und nicht als aktiv handelnde Subjekte dargestellt (hierzu vgl. auch Treibel 1988). Auch im wissenschaftlichen Diskurs der 1980er Jahre wurde überwiegend der Begriff „Ausländer“ (und nicht „Migrant“) verwendet; nur vereinzelt wurde der Begriff „Migrant“ genutzt (Bagana 1987). Aber auch in diesen Einzelfällen wird der „Migrant“ überwiegend als Objekt und nicht als selbständiges Subjekt der Veränderungen dargestellt (Firat 1987).
6.1.2 Wendepunkte im wissenschaftlichen Migrationsdiskurs der 1990er Jahre Eine Wende im wissenschaftlichen Diskurs bringen die 1990er Jahre. Sie stehen in engem Zusammenhang mit der veränderten gesellschaftlichen Realität: Zum einen wird zunehmend deutlicher, dass sich die ehemaligen „Gastarbeiter*innen“, insbesondere die türkeistämmigen, in Deutschland dauerhaft niederlassen und Familien gründen. Dadurch wird ihre Perspektive für die Migrationsforschung wichtig: Es ist von Bedeutung zu zeigen, wie die Migrant*innen ihre Umwelt aktiv gestalten. Zum anderen entfällt durch das Ende des „Kalten Krieges“ und die Öffnung des ehemaligen „Ostblocks“ eine wichtige Einwanderungshürde. Die 1990er Jahre werden durch die zunehmende Einwanderung der aus Osteuropa stammenden Menschen nach Deutschland markiert: Sie wandern als Spätaussiedler*innen, Arbeitsmigrant*innen, Student*innen, Asylbewerber*innen, Bürgerkriegsflüchtlinge, Au-Pairs oder aber als Irreguläre ein. De facto handelt es sich in den meisten Fällen um eine verdeckte Arbeitsmigration, die aufgrund der restriktiven Rechtslage der westeuropäischen Aufnahmeländer rechtlich und sozial unterschiedliche Formen annimmt. Diese Besonderheiten der Einwanderungsströme nach Deutschland wirken sich auf die wissenschaftliche Rezeption aus. Die statistische Realität wird zunächst zur wissenschaftlichen und Ende der 1990er Jahre zur politischen Realität. Obwohl die Politik bei der These bleibt, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, erkennt die Wissenschaft die Tatsache der Einwanderung an,
6.1 Migration und Migrationspolitik als Gegenstand der Wissenschaft
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was sowohl in zahlreichen Publikationen, als auch in der veränderten Begrifflichkeit2 festzustellen ist. Waren die Migrationsströme der 1960er und 1970er Jahre durch die temporäre Einwanderung von relativ niedrig qualifizierten Männern geprägt3, charakterisierte sich die Migration der 1990er Jahre durch die Heterogenität der Zuwander*innen. Nach Deutschland wanderten nun Hoch- und Niedrigqualifizierte, Männer und Frauen und Menschen ein, die dauerhaft wie temporär bleiben wollten. Die Gradlinigkeit der Migrationsprozesse nach Deutschland, die typisch für die 1960er, 1970er und zum Teil auch für die 1980er Jahre war, ändert sich in den 1990er Jahren: Die Rückkehrmigration und die erneute Einwanderung nach Deutschland waren keine Einzelfälle. Für diese Pluralisierung der Migrationsströme war die Bedeutung der in den 1990er Jahren aus Osteuropa zugewanderten Menschen nicht unerheblich. Diese Tatsache markierte einen Wendepunkt, sowohl in der Entwicklung Deutschlands als Einwanderungsland, als auch in der wissenschaftlichen Rezeption. Denn die Osteuropäer unterschieden sich, trotz aller möglichen Differenzierungen bezüglich Nationalität, Bildungsstand, Familienstand, etc., grundsätzlich von den nach Deutschland Zugewanderten aus Südeuropa (z. B. Türkei, Griechenland, Süditalien). Die zum Teil zwangsweise durchgeführte Modernisierungs- und Emanzipationspolitik in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert einen gesellschaftlichen ‚Common Sense‘ über die Rolle und gesellschaftliche Stellung der Individuen und insbesondere von Frauen, die sich im Wesentlichen vom ‚Common Sense‘ der ruralen, traditionsgebundenen, südeuropäischen Gesellschaften unterscheidet. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Besonderheiten setzte in den 1990er Jahren ein und wurde in den 2000er Jahren fortgesetzt. Ein Grund für die Öffnung der Migrationsforschung der 1990er Jahre für die spezifische Lage der Frauen ist der Einfluss der Gender Studien. Die Sozialwissenschaften in Deutschland in den 1980er und 1990er Jahren wurden von den Themen der Geschlechtergleichstellung beeinflusst und im akademischen Alltag etablierte sich das Gender-Mainstreaming. Die intensive wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik der Gleichstellung in genderspezifischen Kontexten führte zur Fokussierung auf Genderaspekte – auch in der Migrationsforschung. Die Besonderheiten der Frauenmigration wurden zu
2In
den 1990er Jahren werden zunehmend die Begriffe „Migration“ und „Migrant*in“ verwendet. Es wird allmählich davon abgesehen, über „Ausländer in Deutschland“ zu sprechen. 3Zum Frauenanteil unter den frühen Gastarbeiter*innen vgl. Treibel (2008b).
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6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Themen unterschiedlicher Studien (Pachali 1991; Neumann 1994). Die beiden Themenkomplexe Migration und Emanzipation (Zentrum für Türkeistudien 1995) wurden verbunden und in ihrer gegenseitigen Bedingtheit analysiert. Generell wurde die Migrationsforschung der 1990er Jahre offener für die Thematisierung der Stellung von Frauen als Migrantinnen, wobei eine Art Diversifizierung der Rezeption der Migrantinnen und ihrer spezifischen Lebenslagen einsetzte. In den 1990er Jahren richtete sich das Augenmerk zunehmend auf die unterschiedlichen Migrationshintergründe. Neben den türkischstämmigen Frauen wurden von der Forschung auch Frauen anderer Nationalitäten verstärkt berücksichtigt (Neumann 1994). In diesem Kontext war die Studie von Felicitas Hillmann „Jenseits der Kontinente: Migrationsstrategien von Frauen nach Europa“ besonders bedeutend (Hillmann 1996). Wichtige Themen waren die unterschiedlichen rechtlichen Stellungen (z. B. der Flüchtlinge, Illegale, Prostituierte etc.) (Howe 1999), die sich differenzierenden Lebenslagen (Schöttes und Treibel 1997) und generell die Pluralisierung der Lebensstille der ausländischen Frauen (Granato 1999), die im Übrigen zunehmend als „Migrantinnen“ bezeichnet wurden. Die Forschung fokussierte auf die spezifischen Lebenslagen der Frauen wie beispielsweise die Gesundheit der Migrantinnen (Grottian 1991). Das Thema Integration wurde – im Gegensatz zu der wissenschaftlichen Behandlung in den 1980er Jahren – aus der Perspektive der möglichen Integrationshindernisse der deutschen Gesellschaft erläutert (Granato und Meissner 1994). Die Integrationsschwierigkeiten lassen sich nur teilweise durch die Besonderheiten der Migration erklären, vielmehr bedarf es eine Analyse der gesamtgesellschaftlichen Kontexte und der Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, unterschiedliche Kulturen als gleichwertig anzuerkennen. Diese Sichtweise korrespondiert mit dem in den 1990er Jahren besonders einflussreichen Paradigma der Anerkennung (Taylor et al. 2009; Fraser et al. 2003). Das Thema der gesellschaftlichen Anerkennung der Menschen unterschiedlicher Kulturen – und die in diesem Kontext beleuchtete Problematik der Diskriminierung (Nauck 1993) – gewann an Bedeutung. In den 2000er Jahren entfaltete sich dieses Thema auf eine besonders intensive Art und Weise.
6.1.3 „Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“ in der Migrationsforschung der 2000er Jahre Triebfeder dieser Veränderung war die gesellschaftliche Rezeption der Ereignisse vom 11. September 2001 und die dadurch entfachten ‚Islam-Debatten‘. Wurden die „Ausländer*innen“ und die „Migrant*innen“ in den 1980er und 1990er
6.1 Migration und Migrationspolitik als Gegenstand der Wissenschaft
189
Jahren in ihrer nationalen bzw. ethnischen Fremdheit rezipiert, wurde in den Diskursen der 2000 Jahren die religiöse Differenz betont. Auch gegenwärtig ist eine Kulturalisierung der Migrations- und Integrationsdebatten in Deutschland festzustellen. In den letzten zwanzig Jahren intensiviert sich diese Auseinandersetzung sichtbar an der Stellung der Muslime. Auf der einen Seite wird verfassungsrechtlich und gesellschaftspolitisch die Bedeutung der kulturellen Selbstbestimmung (d. h. das Recht, sich frei für eine Religionsausübung zu entscheiden) betont. Auf der anderen Seite werden die kulturellen Praktiken bestimmter Religionsformen (z. B. Kopftuchtragen, Burka) als Unterdrückung der Frau und sogar als politisches Symbol des Islamismus indiziert. So bezeichnet Alice Schwarzer das Kopftuch als „die Flagge des Islamismus“, als „Zeichen, das die Frauen zu den anderen, zu Menschen zweiter Klasse macht“ (Schwarzer 2006). Von Autorinnen wie Necla Kelek (Kelek 2005) und Seyran Ates (Ates 2007) wird die Kompatibilität von Islam und Emanzipation und generell von Islam und westlichen Werten infrage gestellt. Die Fokussierung des Islam im wissenschaftlichen Diskurs ist im Kontext der allgemeinen Pluralisierung der Migrationsforschung der letzten Jahre zu sehen. Die ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ werden zu einem wichtigen Thema im Migrationsdiskurs der 2000er Jahre, was symptomatisch für die veränderte gesellschaftlich-politische Konzipierung der Migrationsproblematik ist. Intensiv werden die Bildungssituation und die wirtschaftliche Lage der Migrant*innen und der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte belichtet (Castro Varela und Clayton 2003). Die Forschung fokussiert sich weiterhin auf den erschwerten Übergang von Schule zu Beruf für Migrant*innen und generell auf Menschen in schwierigen Lebenslagen (Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerinnen, Hausfrauen, irreguläre Migrant*innen etc.) (vgl. Howe 2008). Parallel dazu wird das sozialwissenschaftliche Augenmerk auf „erfolgreiche“ Menschen mit Migrationshintergrund oder auf Migrant*innen in Führungspositionen gelegt (Hummrich 2009). Im Zuge der Etablierung der Transnationalisierungsproblematik in der Migrationsforschung werden zunehmend Studien zu Migrantinnennetzwerken und zur Transnationalisierung der Migrantinnenorganisationen durchgeführt (Metz-Göckel et al. 2010; Hess 2009). Ein wichtiger Aspekt dieser Entwicklung ist die Transnationalisierung des kulturellen Kapitals und insbesondere die Problematik der Anerkennung von Bildungsabschlüssen. In den letzten Jahren etabliert sich zunehmend auch der Begriff „Neue Deutsche“ (Treibel 2015). Generell ist in den letzten zehn Jahren festzustellen, dass sich ein vielschichtiges und heterogenes Bild der Migrant*innen, der Menschen mit Migrationshintergrund, bzw. der „Neuen Deutschen“ in der deutschen Migrationsforschung etabliert. Es werden die differenzierten Herkunftsmilieus,
190
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Einwanderungsmotive, Lebenslagen und Altersgruppen der Migrant*innen analysiert. Neben den spezifischen Lebenslagen der Heiratsmigrant*innen werden die Lebenssituation der Student*innen, Arbeitsmigrant*innen, Flüchtlingen und der irregulären Migrant*innen thematisiert. Auch unterschiedlichen Nationalitäten wird Rechnung getragen: türkischstämmigen Migrant*innen, Aussiedler*innen und Menschen aus Osteuropa sowie aus dem Nahen und dem Fernen Osten.
6.2 Die migrationspolitische Entwicklung der Bundesrepublik in der Zeit nach 1945 Die Veränderungen im wissenschaftlichen Diskurs zum Thema „Migration“ spiegeln die veränderte gesellschaftliche und migrationspolitische Realität in Deutschland wieder. Die Zeit nach 1945 war durch Fluchteinwanderung und Zwangsmigration von Vertriebenen geprägt. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges sind etwa 14 Mio. Menschen aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa in Richtung Westen geflüchtet, wurden vertrieben bzw. sind deportiert worden. 1950 wurden 12,5 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene in der Bundesrepublik und der DDR gezählt. In der Bundesrepublik betrug der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Bevölkerung 16,5 %. Die größte Herausforderung bei der gesellschaftlichen Integration der Vertriebenen bestand zunächst in der Versorgung mit Wohnraum und Lebensmitteln. Der wirtschaftliche Aufschwung der 1950er und 1960er Jahre erleichterte jedoch die wirtschaftliche und soziale Lage der neu Zugewanderten (vgl. Bade und Oltmer 2004, S. 52–64 sowie Bade 2011, S. 157–159). Das ‚Wirtschaftswunder‘ der 1950er und 1960er Jahre führte zur Notwendigkeit, Arbeitskräfte im Ausland anzuwerben. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten wanderten im Zeitraum von 1949–1961 etwa 3,1 Mio. Menschen von der DDR in die Bundesrepublik und deckten auf dieser Weise den wachsenden Bedarf des westdeutschen Arbeitsmarktes. Mit dem Bau der Berliner Mauer konnte diese Zuwanderung nicht fortgesetzt werden (Bade und Oltmer 2004, S. 71). Vor diesem Hintergrund entschloss sich die Bundesrepublik, Arbeitsmigrant*innen aus dem Ausland aktiv anzuwerben. 1955 wurde das erste Anwerbeabkommen4 mit Italien abgeschlossen. 1960 folgten die Vereinbarungen
4Vgl.
Bundesregierung (1956). Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema findet sich bei Knortz (2008).
6.2 Die migrationspolitische Entwicklung der Bundesrepublik …
191
mit Spanien und Griechenland. Zwischen den 1950er Jahren und dem Anwerbestopp im Jahr 1973 kamen etwa 14 Mio. ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, von denen 11 Mio. zurückkehrten; die anderen blieben und ließen sich dauerhaft in Deutschland nieder (vgl. Bade 1992, 2011). Ab Mitte der 1980er Jahre stieg die Zahl der Asylanträge an, was aus der veränderten weltpolitischen Lage resultierte. 1986 lag die Zahl der Asylbewerberanträge bei 67.429, wohingegen sie im Jahr 1989 auf 121.318 anstieg. Dies führte zu einer Erweiterung der protektionistischen Steuerungsmaßnahmen vonseiten der deutschen Politik. Das Ende des Kalten Krieges und die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ motivierte viele Osteuropäer*innen, ihre Länder zu verlassen und nach Westeuropa zu wandern. Da in den westeuropäischen Ländern eine Einwanderung politisch nicht erwünscht und wirtschaftlich nicht zwingend notwendig war, etablierte sich eine restriktive Einwanderungspolitik, die die Migration als Ausnahme definierte. Zu den staatlich vorgegebenen Ausnahmen, die eine dauerhafte Zuwanderung ermöglicht haben, gehörten die Eheschließung mit einem deutschen Staatsbürger/mit einer deutschen Staatsbürgerin, die Asylmigration und die befristete, konjunkturabhängige Bildungsund Arbeitsmigration. So waren die Osteuropäer*innen, die Anfang der 1990 nach Deutschland migrieren wollten, de facto gezwungen, Asyl in Deutschland zu beantragen, obwohl sie in ihren Ländern nach 1989 in der Regel nicht verfolgt wurden und damit keinen Asylgrund hatten. Kamen 1986 noch rund 74,8 % der Asylsuchenden aus den nicht-europäischen Ländern, stammten 1993 72,1 % aus Europa, vor allem aus Ost- und Südosteuropa. Aus diesem Grund wurde das deutsche Asylrecht 1993 grundlegend geändert. Im sogenannten „Asylkompromiss“ wurde festgelegt, dass Personen, die aus einem „sicheren“ Land stammen oder über ein „sicheres Drittland“ nach Deutschland einreisen, nicht asylberechtigt sind (vgl. Bade und Oltmer 2007, S. 164). Als Folge der Asylrechtsreform sank die Zahl der Asylanträge kontinuierlich und erreichte 2007 die bis dato niedrigste Zahl (19.146) (vgl. BAMF 2008, S. 109). Ende der 1980 und Anfang der 1990 Jahre stieg die Zahl der Aussiedler*innen an, die nach Deutschland migrierten. Die Aussiedler*innenzuwanderung wird von der Politik als eine „Rückwanderung über Generationen hinweg“ (Bade und Oltmer 2007, S. 167) angesehen, da die Vorfahren der Aussiedler*innen zum Teil vor Generationen aus Deutschland ausgewandert sind (vgl. Bade und Oltmer 2004, S. 88; Bade und Oltmer 2007, S. 165–166). Insgesamt reisten etwa 4,5 Mio. Aussiedler*innen zwischen 1950 und 2006 in die Bundesrepublik ein. Die Anzahl der gestellten Aufnahmeanträge im Zeitraum 1990–2015 betrug 2.523.961 (BAMF 2016a, S. 120).
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6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Nach Angaben des BAMF (BAMF 2016a, S. 159) lebten in Deutschland im Jahr 2015 etwa 17,1 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund (ca. 21 % der Gesamtbevölkerung). Davon waren 7,8 Mio. Ausländer*innen (BAMF 2016a, S. 160). Ende 2017 erhöhte sich die Anzahl der in Deutschland behördlich angemeldeten ausländischen Staatsbürger*innen auf 10,6 Mio. (vgl. Zeit Online 2018). Die Migrationsbewegungen nach Deutschland können im Hinblick auf die Motivation der Zugewanderten typologisiert werden z. B. in Bildungsmigration, Heiratsmigration, Arbeitsmigration, irreguläre Migration, Pendlermigration, grenzüberschreitende Mobilität und Rückkehrmigration. Die Menschen mit eigener Migrationserfahrung leben in einer Gesellschaft mit den Vertreter*innen der sogenannten „zweiten“ und „dritten“ Migrant*innengeneration zusammen – mit den Kindern und Enkelkindern der eingewanderten Asylbewerber*innen, Gastarbeiter*innen, Arbeitsmigrant*innen oder Aussiedler*innen. Im Zuge der Fluchtmigration im Jahr 2015 wurden 476.620 geflüchtete Personen aus dem Nahem Osten und Afrika nach Deutschland als Asylsuchende registriert (BAMF 2016b, S. 10). Zunehmend etabliert sich die These, dass Deutschland zu einem „Einwanderungsland wider Willen“5 (Bade 2007, S. 34) geworden ist. Der veränderten gesellschaftlichen Realität wird allerdings im politischen Diskurs der Bundesrepublik nicht immer Rechnung getragen. Die Migrationspolitik Deutschlands steht der systematischen Einwanderung grundsätzlich ablehnend gegenüber. Die etablierte Politik und die daraus resultierenden Entscheidungen sind Ergebnis symbolischer Auseinandersetzungen im politischen Feld6, S. In diesem werden partikulare Interessen als für das Allgemeinwohl ‚notwendige Lösungen‘ dargestellt und im Rahmen eines komplizierten demokratischen Verfahrens zur offiziellen Politik erklärt. In den migrationspolitischen Debatten in Deutschland können sehr differenzierte Sichtweisen in Bezug auf die Migrationsprozesse festgestellt werden. Die unterschiedlichen sozialen Akteure geben typologisch differenzierte Antworten auf die Frage, wer Recht auf Migration nach Deutschland haben soll und nach welchen Kriterien die Zuwanderung zu erfolgen hat. Aufgrund der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands, die aus der Geschichte des 20. Jahrhundert resultiert, ist die humanitäre Verpflichtung bei der Bestimmung der Migrationspolitik Deutschlands in der Nachkriegszeit führend. Sie wird vor allem von den politischen Vertreter*innen der wertliberalen
5Der 6Der
Begriff wurde von Klaus Bade eingeführt. Vgl. auch Treibel (2017, S. 145). Begriff wurde von Bourdieu (1992, S. 126) geprägt.
6.2 Die migrationspolitische Entwicklung der Bundesrepublik …
193
Ideen und der christlichen Kirchen – im Bereich des Kirchenasyls – öffentlich artikuliert. Nach den Vertreter*innen der humanitären Position soll die Migration nach Deutschland grundsätzlich für alle, die Schutz bedürfen, die politisch verfolgt sind, die Opfer von Bürgerkriegen und Diskriminierung sind, ermöglicht werden. Bezüglich der Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte besteht ein gesellschaftlicher Konsens – das Recht auf Asyl aufgrund politischer Verfolgung ist im Grundgesetz § 16 verankert. Parteipolitische Unterschiede sind in Bezug auf die Schutzbedürftigkeit festzumachen, wenn keine politische, sondern eine ethnische, religiöse oder soziale Verfolgung festzustellen ist. Strittige Fragen sind beispielsweise: Sollen die Opfer von geschlechtsspezifischer oder nicht-staatlicher Verfolgung bei der Gewährung von Asyl berücksichtigt werden und Schutz in Deutschland erhalten? Sollen die Schützbedürftigen aufgrund der geografischen Entfernung, z. B. nach dem Prinzip des ‚sicheren Drittlandes‘, ausgewählt werden? Sollen Personen, die kein Recht auf Asyl haben, sich aber in Deutschland befinden, geduldet werden oder ‚konsequent abgeschoben‘ werden? Die beiden extremen Positionen werden durch die politischen Thesen ‚Kein Mensch ist illegal‘ vs. ‚Wir können nicht alle Bedürftigen aufnehmen‘ markiert. Besonders prägend in der deutschen Öffentlichkeit ist die konservative Sichtweise auf die Migration. Ihre Grundlagen sind im Verständnis der Nation als ‚Herkunftsgemeinschaft‘ und ‚Blutgemeinschaft‘ zu finden. Diese Sichtweise definiert die Migrant*innen grundsätzlich als ‚fremd‘ und ‚nicht zugehörig‘ zur Nation. Als Ausnahme werden die Aussiedler*innen, bzw. die Vertriebenen angesehen – sie werden nicht als ‚Migrant*innen‘, sondern als ‚Rückkehrende‘ aufgefasst und aufgrund der ethnischen, sprachlichen und kulturellen Nähe als ‚zur Nation Zugehörige‘ aufgenommen. Als Ausdruck der Zugehörigkeit zur Nation werden die ‚nationale Kultur‘, die Sprache, die Religion und die Tradition gezählt. Diese Sichtweise bevorzugt die Aussiedlermigration und die Migration von Christ*innen, lehnt allerdings die Migration aus ‚fremden Kulturkreisen‘ grundsätzlich ab. Die Migration ist aus dieser Perspektive heraus als ein vorübergehendes, zeitlich beschränktes Phänomen zu verstehen; sie ist eine Ausnahme und soll zu keiner dauerhaften Umsiedlung führen. Grundsätzlich soll die Einwanderung vermieden werden. Sollte sie z. B. aufgrund der wirtschaftlichen Interessen oder der humanitären Verpflichtungen nicht umgangen werden können, soll die ethnische, sprachliche und kulturelle Nähe bei der Auswahl der potenziellen Migrant*innen führend sein. Diese Sichtweise spiegelt die These „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ wieder. Politisch wird diese Perspektive von der CDU/CSU verkörpert; neuerdings vertritt die AfD eine extreme Variante dieser grundsätzlich ablehnenden Position. Die nationalistische Position der AfD und der Parteien des rechtsextremen Spektrums erklärt sich
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grundsätzlich gegen die Migration und insbesondere gegen die ‚kulturell fremde‘ Migration (vgl. AfD 2018). Sie wird als Überfremdung verstanden. Die nationale, ethnische, religiöse und kulturelle Zugehörigkeit wird als angeboren angesehen. Die Möglichkeit der individuellen Wahl des Lebensmittelpunktes außerhalb des eigenen Nationalstaates soll stark eingeschränkt werden. Bei der Artikulation dieser Thesen wird in der Regel der klassische Begriff der „Migration“ verwendet. Hingegen werden Begriffe wie „Mobilität“ und „Transmigration“ nicht berücksichtigt. Im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung der 1990 Jahre, der Einschränkung des Sozialstaates und der globalen Öffnung der Märkte – die Entwicklungen, die mit den Begriffen „Globalisierung“, „Neo-Liberalisierung“, „Ende der Geschichte“ in der Fachliteratur umschrieben worden sind – findet eine wirtschaftliche Wende in der Migrationspolitik Deutschlands statt. Die wirtschaftsnahe Position erhält eine besondere Bedeutung in der deutschen Öffentlichkeit. Nach den Vertreter*innen dieser Position sollen die Migrationsbewegungen abhängig von den individuellen Fähigkeiten und den erbrachten Leistungen der migrierenden Personen erfolgen. Demzufolge dürfen Personen, die ‚nützlich für die Wirtschaft und Gesellschaft‘ sind sowie diejenigen, die die Gesellschaft nicht ‚sozial belasten‘, grundsätzlich einwandern. Hingegen sind die Migrationsströme, die ‚wirtschaftlich irrelevant‘ und ‚sozial belastend‘ sind, einzuschränken. Nach dieser wirtschaftsnahen Position sollen Menschen mit besonders bedeutenden Qualifikationen für die Wirtschaft, d. h. hoch wie niedrig Qualifizierte, nach einem Punktesystem ausgewählt werden. Für sie soll der restriktive Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt gelockert werden. Ein Beispiel für die Organisation und Durchführung dieser wirtschaftsnahen Migration ist die Green-Card Regelung7, die im Jahr 2000 in Kraft getreten ist. Nach dieser Regelung durften IT-Fachleute in der Zeit 2000–2005 eine Sondergenehmigung für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten, um ein Angebot deutscher Arbeitgeber*innen anzunehmen. Nach der wirtschaftsnahen Position soll das gesellschaftliche Interesse an der Erteilung von Genehmigungen für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. So sollen Menschen mit besonderen Qualifikationen, z. B. Sportler*innen, Musiker*innen, Künstler*innen, die einen besonderen Beitrag für die deutsche Gesellschaft leisten, nach Deutschland einwandern und sogar schnell eingebürgert werden dürfen. Diese Position berücksichtigt nicht nur die „klassischen Migrationsverläufe“,
7Vgl. Bundesregierung (2000, S. 1176). Nach dieser Verordnung sollen innerhalb von fünf Jahren jeweils 20.000 Experten pro Jahr aus nicht-EU-Staaten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten.
6.2 Die migrationspolitische Entwicklung der Bundesrepublik …
195
sondern sie fokussiert sich auch auf die unterschiedlichen Typen von Migrationsbewegungen wie auf die Mobilität und die Transmigration. Parteipolitisch wird die Position vor allem von der FDP und auch von unterschiedlichen wirtschaftsnahen Organisationen vertreten. Kritisiert wird diese Position vor allem dadurch, dass sie keine überzeugende Antwort auf die Frage gibt, inwieweit sich die Migrationspolitik ändern soll, wenn sich die Interessen und Bedürfnisse der Wirtschaft ändern.8 Einen großen Einfluss auf die Migrationspolitik in Deutschland hat die protektionistische Position. Im Kern handelt es sich um eine sozial-politische Perspektive, bei der die einheimische Arbeitskraft vor dem „Lohndumping“ aus dem Ausland geschützt werden soll. Diese Position wird von den Vertretern des staatlichen Protektionismus und der sozialdemokratischen Akteure (SPD, Gewerkschaften, Arbeitnehmerverbände) zum Ausdruck gebracht. Ihr politisches Ziel, möglichst hohe Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer*innen durchzusetzen, motiviert die Politik zur Schließung des deutschen Arbeitsmarktes für ausländische Arbeitskräfte. Die Politik der relativen Abriegelung der Arbeitsmärkte, die insbesondere nach dem Anwerbestopp im Jahr 1973 durchgesetzt wurde, wird in den letzten 10 Jahren allmählich zu einer Politik der kontrollierten Öffnung modifiziert. Der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt bleibt dennoch für Menschen anderer Nationalitäten restriktiv und unterliegt einer speziellen Genehmigung. Das Recht, Arbeitskräfte einzustellen, wird nicht dem Markt und dem Willen der Arbeitgeber*innen bzw. Arbeitnehmer*innen überlassen, sondern unterliegt speziellen Genehmigungen, die von den staatlichen Behörden wie der Ausländerbehörde oder der Agentur für Arbeit erteilt werden. Die Arbeitnehmer*innen werden aufgrund ihrer Herkunft unterschiedlich behandelt: Wenn Arbeitgeber*innen eine Arbeitskraft aus dem Ausland einstellen möchte, müssen sie bei der Agentur für Arbeit nachweisen, dass sie nicht in der Lage sind, Arbeitnehmer*innen, die bereits dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, einzustellen, da diese nicht die Qualifikationen mitbringen, die benötigt werden. Nach dem sogenannten „Vorrangprinzip“ werden zuerst deutsche Staatsbürger*innen, dann Bürger*innen eines EU-Staates, dann ausländische Staatsbürger*innen, die bereits eine Daueraufenthaltsgenehmigung in Deutschland besitzen, berücksichtigt, bevor ein ausländischer Arbeitnehmer bzw. eine ausländische Arbeitnehmerin eingestellt werden kann. In der Praxis
8Kritische Auseinandersetzungen mit der sog. „Green Card-Regelung“ findet sich in Kolb (2003, S. 231–235); Hermann und Hunger (2003, S. 81–98); Bericht des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration (2004); Hunger und Kolb (2003).
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können nur spezifische Tätigkeiten die Erteilung einer Sondergenehmigung begründen und die Arbeitsmigration ermöglichen. Auf diese Art und Weise wird der sozialdemokratische und der gewerkschaftsnahe Schutz der Arbeitskraft, allerdings als Sorge für die einheimische Arbeitskraft verstanden, zu einer Begründung der restriktiven Migrationspolitik. Es handelt sich um einen Arbeitsmarktnationalismus, der in seiner Konsequenz die ‚Nicht-Deutschen‘ hierarchisiert und anders behandelt. Obwohl die Sozialdemokrat*innen und die Gewerkschaften sich sehr intensiv für die Integration der Migrant*innen, gegen Rassismus einsetzen und die Entstehung der Willkommenskultur in Deutschland geprägt haben, agieren sie, indem sie diese protektionistische Politik unterstützen, de facto migrationshindernd oder zumindest einschränkend. In den letzten Jahren ist allerdings eine Öffnung bzw. Internationalisierung der Gewerkschaftsarbeit, besonders im Rahmen der EU, festzustellen. Eine Position in der deutschen Öffentlichkeit spricht sich für die bedingungslose Öffnung der Grenzen aus.9 Es handelt sich um eine Minderheitenstellung. Sie wird in der Regel von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte und für das Recht auf Asyl einsetzen, sowie von Teilen der Parteien des linken politischen Spektrums vertreten. Ihre These ist, dass jede Person das Recht auf freie Bewegung hat und das Aufenthaltsrecht von der Staatsangehörigkeit nicht abhängig sein darf; es soll nicht eingeschränkt werden. Das politische Leitmotiv dieser Position ist: „Kein Mensch ist illegal“. Die Vertreter*innen dieser These berücksichtigen alle Migrationsformen und betonen, dass der Wert des Menschen viel mehr beträgt als seine wirtschaftlichen Bedeutsamkeit. So sollen die Arbeitsmigration und hoch qualifizierte Migrant*innen nicht bevorzugt behandelt werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen: In der Zeit nach 1945 und insbesondere direkt nach 1990 ist ein restriktives Verständnis in Bezug auf die Migration der Tenor in der deutschen Politik. Die konservative Vorstellung der Zugehörigkeit zur deutschen Nation dominiert die öffentliche und politische Debatte und wird zur Grundlage des Migrationsrechts, der Staatsbürgerschaftsregelungen und der Migrationspolitik (Gosewinkel 2016). Die ‚ethnisch fremde‘ Zuwanderung wird grundsätzlich abgelehnt oder restriktiv behandelt. Sie soll temporär und eingeschränkt bleiben, den konkreten wirtschaftlichen Bedürfnissen der deutschen Industrie dienen, den Arbeitsmarkt nicht belasten und sozial verträglich sein. Hingegen soll die Zuwanderung von Menschen, die als ethnisch
9Vgl.
hierzu auch die Website der Noborder Network: http://www.noborder.org (27.10.2018).
6.3 Auswirkungen der Migrationspolitik …
197
deutsch bestimmt werden, z. B. die Zuwanderung von Aussiedler*innen, bevorzugt werden. Aus dieser Politik lässt sich das Prinzip „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ ableiten. Durch die Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Situation, durch die Liberalisierung der globalen Märkte und die Osterweiterung der EU ändert sich die deutsche Migrationspolitik. Sie rückt von den Prinzipien der ethnischen Schließung ab und öffnet sich, auch wenn zögerlich, für eine gezielte Aquise internationaler Arbeitskräfte. Symptomatisch für diese Veränderung ist die Einführung der sog. „Green-Card-Regelung“ durch die Regierung von Schröder im Jahr 2000 und die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2004 (vgl. Bundestag 2004a, S. 1950 ff.). Nach diesem Gesetz wird die Aquise von Migrant*innen mit besonderen Qualifikationen sowie von Akademiker*innen, die ihre Abschlüsse in Deutschland erhalten haben, erleichtert. Dennoch bleibt jede Form der Migration auch nach den Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes weiterhin mit Hindernissen bürokratischer Art verbunden. Diese Entwicklungen der gesellschaftlichen und migrationsspezifischen Makrobedingungen in Deutschland, die an dieser Stelle nur kurz skizziert wurden, bilden den Hintergrund der bulgarischen Migration nach Deutschland in der Zeit 1990–2017.
6.3 Auswirkungen der Migrationspolitik Deutschlands auf die Migration bulgarischstämmiger Personen in der Zeit 1990– 2017 Die Zeit 1990–2017 ist mit vielen migrationsrelevanten Veränderungen in Deutschland verbunden. Bis 2001 können die Staatsbürger*innen Bulgariens nicht ohne Einreisevisum in Deutschland einreisen; in dieser Zeit werden Besuche oder der Tourismus stark eingeschränkt, was der Genehmigung der deutschen Behörden unterliegt. In der Zeit 2001–2007 ist eine Einreise nach Deutschland für bis zu drei Monate ohne Visum möglich. Das verändert das migrationsspezifische Verhalten der Bulgar*innen in Bezug auf Deutschland. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens am 01.01.2007 ist der Aufenthalt bulgarischer Staatsbürger*innen in Deutschland grundsätzlich uneingeschränkt möglich; einer Genehmigung unterliegt allerdings die Aufnahme unselbstständiger Erwerbstätigkeit. Nach dem 01.01.2014 ist nicht nur die Migration aus Bulgarien nach Deutschland uneingeschränkt möglich; auch die Aufnahme einer nicht selbstständigen Erwerbstätigkeit unterliegt keiner Genehmigung durch deutsche Behörden. Nach 2014 beginnt die Zeit der uneingeschränkten Freizügigkeit, die
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als binneneuropäische Mobilität verstanden wird. Diese makropolitische und -soziale Veränderungen bestimmen den Rahmen, in dem die sozialen Akteure ihre Migrations- und Mobilitätspläne und -absichten aktiv gestalten. Die folgende Analyse wird diesen Makrorahmen miteinbeziehen; die biografische Analyse wird unter Berücksichtigung dieser kontextuellen Gegebenheiten durchgeführt. In der deutschsprachigen Migrationsforschung wurde und wird die Problematik über die Migration aus Bulgarien nach Deutschland vergleichsweise wenig thematisiert. Die Fragen nach dem sozial-strukturellen Profil der in Deutschland lebenden Bulgar*innen, nach den Migrationsabsichten, nach der sozialen Teilhabe, nach der Gemeinschafts-, bzw. Diasporabildung, Heterogenität und Individualisierung sind weitestgehend nicht beantwortet. Einzelne Beiträge widmen sich der Situation der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland: Sonja Haug erörtert aus einer Makroperspektive die Problematik der Migrationsabsichten und die Migrationsneigung der Bulgar*innen (Haug 2005). Die Emigrationspotenziale der Bulgar*innen sind ebenfalls für die Abhandlung von Matilda Jordanova-Duda (2003) zentral. Guentcheva et al. fokussieren die saisonale Migration (Guentcheva et al. 2003). Die Migration von und nach Bulgarien aus historischer Perspektive analysieren Kassabova (2011) und Bobeva und Telbizova-Sack (2000). Die Bildungsmigration aus Bulgarien fokussiert die Studie von Tchavdarova (2009). Liakova (2008) zeichnet die Gestaltung der Lebenswelt der bulgarischen Studierenden in Deutschland nach. Die Arbeitsmigration der türkischstämmigen Bulgar*innen analysiert Mancheva (2008). Neuere Studien richten den Blick auf die sogenannte „Armutsmigration“ aus Bulgarien (Brücker et al. 2013, 2014, 2015; Montag-Stiftung Urbane Räume 2012; Wagner 2018; Götz 2014). Fingarova analysiert die Übertragbarkeit sozialer Leistungen zwischen Bulgarien und Deutschland (Fingarova 2019). Allerdings wird in diesen Studien die Frage nach der sozialen und demografischen Typologisierung der bulgarischen Migration nach Deutschland nicht hinreichend beantwortet. Sie befassen sich vor allem mit den ‚Problemlagen‘ der Migrant*innen. Migrationssoziologische Studien weisen eine zunehmende Heterogenität der Migrant*innen, die in Deutschland leben, nach (Berlin-Institut 2009; Sinus Sociovision 2009). Neben den „klassischen“ Segmentierungen nach Bildung, Einkommen und Beschäftigung nehmen milieu- und genderspezifische Schichtungen an Bedeutung zu. Inwieweit sind diese Befunde der Migrationssoziologie in Hinblick auf die bulgarischen Migrant*innen relevant? Um diese Fragen zu beantworten und eine sozialwissenschaftliche Typologisierung der bulgarischen Migration zu ermöglichen, sollen zunächst die vorhandenen statistischen Daten analysiert werden.
6.4 Methodik und Datenlage
199
Ein erster Schritt der Analyse ist die Frage, wie viele Personen mit bulgarischer Staatsangehörigkeit in der Zeit nach 1989 nach Deutschland migrierten. Diese simple Frage ist nicht einfach zu beantworten, denn nicht jede Bewegung im Raum ist eine „Migration“ im soziologischen Sinne. An zweiter Stelle soll erläutert werden, wie die statistischen und demografischen Daten in Deutschland die Realität der Migration abbilden bzw. inwieweit sie für die bulgarische Migration nach Deutschland aussagekräftig sind.
6.4 Methodik und Datenlage Eine Schwierigkeit der Analyse der bulgarischen Migration nach Deutschland in der Zeit nach 1989 ist die Unvollständigkeit der Datenlage. Um die Lebenssituation der Ausländer*innen in Deutschland auszuwerten, sind Wissenschaftler*innen auf die Daten des Ausländerzentralregisters (AZR) angewiesen.10 Die statistischen Daten über bulgarische Staatsbürger*innen, die über das AZR gesammelt und sekundär ausgewertet werden können, werden seit 2001 zunehmend unvollständiger und unpräziser. Seit 2001 unterliegen die bulgarischen Staatsbürger*innen, wie oben bereits vermerkt, nicht mehr der allgemeinen Visumpflicht: Sie benötigen kein Visum für die Einreise nach Deutschland zu touristischen Zwecken und können sich bis zu 90 Tage visumfrei in Deutschland aufhalten.11 Aus diesem Grund wird es schwieriger, präzise zu erfassen, wie viele Bulgar*innen nach 2001 nach Deutschland tatsächlich einreisen und ggf. irregulär länger als 90 Tage im Jahr im Land bleiben. Es kann lediglich die Anzahl der bei den Ausländerbehörden angemeldeten Personen ermittelt werden, die allerdings nicht unbedingt deckungsgleich mit der Anzahl
10Das
AZR ist eine Datenbank mit Sitz in Köln, in der Daten über alle ausländische Staatsbürger*innen, die sich in Deutschland regulär aufhalten und behördlich angemeldet wurden, gesammelt werden. Die Daten beziehen sich allerdings ausschließlich auf die ausländischen Staatsbürger*innen und werden dem AZR von den einzelnen Ausländerbehörden zur Verfügung gestellt. Mit der Zunahme der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer und der Einbürgerungen der Migrant*innen, wird die Möglichkeit, über das AZR Auskunft über eine Migrantendiaspora zu bekommen, geringer. Es kommt erschwerend hinzu, dass die Daten, die im AZR gesammelt werden, keine Auskunft über die Einstellungen der angemeldeten Personen geben; diese Einstellungen können nicht mit statistischen, sondern mit soziologischen Methoden, z. B. Befragungen oder Interviews, analysiert werden. 11Diese Regelung wurde seit dem 01.01.2007, dem Tag des EU-Beitritts Bulgariens, durch die Freizügigkeitsregelung ersetzt. Nach der Freizügigkeitsregelung genießen die EUBürger*innen das uneingeschränkte Niederlassungsrecht in der gesamten EU.
200
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der bulgarischen Staatsbürger*innen ist, die sich tatsächlich in Deutschland aufhalten. In diesem Fall kann die Anzahl der Personen, die sich unter drei Monate in Deutschland aufhalten, aber auch die Anzahl derjenigen, die als Tourist*innen einreisen und unangemeldet länger als drei Monate in Deutschland bleiben und z. B. bei Bekannten, Verwandten und Freunden wohnen, nicht erfasst werden. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 ist die Datenlage noch komplexer geworden. Aufgrund der EU-Freizügigkeit12 bedürfen die EUBürger*innen keiner Genehmigung, sich in einem EU-Land aufzuhalten, wobei die Dauer des Aufenthalts unerheblich ist. In den ersten sieben Jahren nach dem EU-Beitritt besteht für die Staatsbürger*innen der Beitrittsländer lediglich ein eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt der alten EU-Länder.13 Es ist anzunehmen, dass ein Teil der Bulgar*innen, die nach 2007 nach Deutschland eingereist sind, behördlich nicht angemeldet sind. Wie hoch der Anteil der nicht angemeldeten Personen ist, kann nicht ermittelt werden.14 Besonders hoch dürfte die Anzahl der behördlich nicht-angemeldeten bulgarischen Staatsbürger*innen nach dem Jahr 2007 sein. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens werden weiterhin Passkontrollen bei der Einreise in Schengen-Raum durchgeführt,
12Die
EU-Freizügigkeit beinhaltet die freie Wahl des Wohnortes innerhalb der Grenzen der EU für alle EU-Bürger*innen. Nähere Erläuterung des Begriffs und der damit verbundenen ökonomischen und sozialen Rechte und Pflichten der EU-Bürger*innen finden sich in EU Commission (o. J.). 13Es handelt sich um eine Übergangsregelung, die den freien Zugang zum EU-Arbeitsmarkt der Staatsbürger*innen der Beitrittsländer für mindestens zwei und höchstens sieben Jahre einschränkt. Der freie Zugang bzw. die Einschränkung zum Arbeitsmarkt wird national, im Hinblick auf die konkreten Bedürfnisse der Arbeitsmärkte der jeweiligen Aufnahmeländer, und nicht EU-weit geregelt. 14Es gibt verschiedene Gründe, warum sich die bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland behördlich nicht immer anmelden. Zum einen hat die regelmäßige An-, Ab-, oder Ummeldung bei den Stadtverwaltungen in Bulgarien nach 1989 massiv abgenommen. Die reguläre behördliche Anmeldung wurde als „totalitär“ empfunden und de facto nicht mehr strikt praktiziert, obwohl sie gesetzlich vorgesehen ist. Zum anderen ist die Anmeldebereitschaft der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland nicht immer vorhanden, da zumindest ein Teil der Einwanderer nicht in der Lage ist, in Deutschland eigenständig Wohnungen anzumieten und deshalb bei Bekannten wohnt. Zum Teil ist die reale Möglichkeit mancher Migrant*innen, in Deutschland längerfristig zu bleiben, selbst von ihnen nicht immer präzise einzuschätzen. Die mangelnde Bereitschaft der eigenen Informationspflicht nachzugehen oder aber die Scheu vor Kontakt mit Behörden können als weitere Ursachen angesehen werden. Eine ausführliche Darstellung dieser Problematik findet sich in Liakova (2014).
6.4 Methodik und Datenlage
201
allerdings wenn die Ersteinreise in einem anderen EU-Land stattfindet, z. B. in Österreich, wird die Person dort und nicht in Deutschland als Einreisende(r) erfasst. Es kann aber im Nachhinein nicht ermittelt werden, in welchem Land und wie lange sich diese Person im Schengen-Raum15 aufgehalten hat. Durch die Regelung, dass Bulgarien ein EU-Mitglied ist, jedoch die Bulgar*innen den vollen Zugang zum deutschen Arbeits- und Sozialmarkt erst nach 2014 erhalten, entsteht ein Vakuum: Man darf in Deutschland einreisen und sich in Deutschland aufhalten, kann dort aber nicht regulär arbeiten. Dementsprechend ist anzunehmen, dass in dieser Zeit die irreguläre Beschäftigung und die selbstständige Beschäftigung zunehmen. Unter diesen Umständen ist die Motivation, sich behördlich anzumelden, nicht besonders ausgeprägt. Nach 2014 soll dagegen die Anzahl der nicht angemeldeten Personen gesunken sein, denn die behördliche Anmeldung in Deutschland eröffnet die Möglichkeit der sozialen Versicherung, der regulären Beschäftigung, der medizinischen Versorgung und des Bezugs der Sozialleistungen, die einem EU-Bürger, bzw. einer EU-Bürgerin, der/die sich regulär in Deutschland aufhält, zustehen. Diese Möglichkeiten waren vor dem EU-Beitritt des Landes im Jahr 2007 grundsätzlich nicht gegeben und wurde in der Zeit von 2007–2014 regulär beschäftigten oder sich regulär aufhaltenden Personen gewährt. Es ist anzunehmen, dass die Anzahl der nicht angemeldeten Bulgar*innen, die sich in Deutschland aufhalten, seit 2001 angestiegen ist, in der Zeit 2007–2014 einen Höhepunkt erreichte und nach 2014 kontinuierlich sank. Die Daten für das Jahr 2017 dürften eine realistische Vorstellung über die Größenordnung der bulgarischen Migration nach Deutschland geben (s. Abb. 6.1). Noch schwieriger ist das Phänomen der Rückkehrmigration zu erfassen. Ein Teil der ausländischen Staatsbürger*innen, die behördlich angemeldet wurden und Deutschland verlassen, melden sich bei Abreise nicht ab. Die Motivation, die Abmeldung nicht durchzuführen, ist diffus: Einerseits handelt es sich um fehlende Information über die Bedeutung einer Abmeldung, andererseits um Mangel an Zeit bei der Abreise. In einzelnen Fällen kann auch ein laufender Kredit in Deutschland oder aber die Entscheidung, ein Bankkonto bei einer Bank in Deutschland zu unterstützen, als Motive für die Nicht-Abmeldung genannt werden. Das Phänomen der Nicht-Abmeldung ist sowohl bei Studienabsolvent*innen, als auch bei temporären Beschäftigten bekannt. Über seine Größenordnung können keine zuverlässigen Daten gefunden werden.
15Zur
Definition des Begriffs „Schengen-Raum“ vgl. Schengen-Abkommen (1985).
202
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
400000 350000 300000 250000 200000 150000 100000 50000 0 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019
Abb. 6.1 Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland (1991–2019). (Quelle: Copyright Statistisches Bundesamt 2020)
Die Datenlage verkompliziert sich zusätzlich, wenn die sog. ‚zyklischen Wanderungen‘, die ‚saisonale Migration‘16, aber auch die ‚Wanderungen der Wohlhabenden‘17 mitberücksichtigt werden. Das Phänomen der zyklischen Wanderungen wirft nicht nur statistische, sondern auch methodologische Fragen auf: Die Migration wird soziologisch als Verlagerung des Lebensmittelpunktes (Treibel 2008a, S. 19) definiert; in diesen Fällen ist allerdings schwierig zu ermitteln, wo der Lebensmittelpunkt ist und ob es sich um den einzigen Lebensmittelpunkt handelt. Ist der sog. ‚Lebensmittelpunkt‘ dort, wo die Familie lebt,
16Die
saisonale Migration ist eine Wanderungsbewegung, die in einer bestimmten Jahreszeit stattfindet. Die Auswahl der Jahreszeit steht im Zusammenhang mit der Beschäftigung in einer Branche, die typisch für eine Jahreszeit ist. Beispielsweise können im Sommer u. U. Bauarbeiter*innen und Erntehelfer*innen und im Winter Skilehrer*innen gesucht werden. 17In dieser Hinsicht bemerkenswert ist der Artikel von Zornitza Markova „Novite emigranti“ („Die neuen Emigranten“), der in der Wochenzeitung „Capital“ vom 23.12.2011 veröffentlicht wurde (vgl. Capital 2011). Wohlhabende Bulgar*innen leben mit ihren Familien in Wien oder in einer anderen westeuropäischen Metropole. Ihr Geschäftsleben findet allerdings in Bulgarien statt. Eine Pendelmigration zwischen zwei Ländern mit zwei Lebensmittelpunkten entsteht. Das Phänomen ist statistisch schwierig zu erfassen.
6.5 Zur Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland
203
die versorgt wird (der Ort der subjektiven Relevanz), oder ist der ‚Lebensmittelpunkt‘ dort, wo die migrierende Person mindestens 183 Tage im Jahr verbleibt (der Ort der Steuerrelevanz und insgesamt der bürokratischen Relevanz)? Das Phänomen der Transnationalisierung der Migration nimmt generell an Bedeutung zu (Pries 2010, 2011). Das erschwert die statistische Erfassung, die oft in den Fesseln des sog. „methodologischen Nationalismus“18 gefangen bleibt. Eine weitere mögliche Quelle der statistischen Erfassung der in Deutschland lebenden Migrant*innen ist der Mikrozensus – eine repräsentative Befragung, die jedes Jahr durchgeführt wird und 1 % der Haushalte in Deutschland umfasst. Im Jahr 2005 wurden im Rahmen dieser Befragung zum ersten Mal Daten über Menschen mit Migrationshintergrund erhoben. In dieser Befragung können nicht nur statistische Daten, sondern Informationen über die Einstellungen der befragten Personen erhoben werden. Aufgrund der geringen Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen und Menschen mit bulgarischer Herkunft, die in Deutschland leben, können die Daten des Mikrozensus allerdings keine Auskunft über deren Lebenssituation geben.
6.5 Zur Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland Als wichtiger Grund für die kontinuierliche Erhöhung der Anzahl der bulgarischen Staatsangehörigen in Deutschland können die Erleichterungen der Reise- und Aufenthaltsbestimmungen im Zuge des EU-Beitritts des Landes genannt werden.19 Zum anderen spielen endogene Faktoren eine Rolle z. B.
18Unter
diesem Begriff wird die Praxis der statistischen Erfassung in nationalstaatlichen Kategorien verstanden. Bei zunehmender Transnationalisierung braucht die moderne Statistik und Demografie aber auch die moderne Verwaltung neue Erfassungsinstrumente, die die neuen Identitäten erfassen können. Weitere Ausführungen und Definition dieses Begriffs finden sich in Weiß, Berger (Weiß und Berger 2008). 19Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 1991 32.627 Bulgar*innen in Deutschland angemeldet. Ihre Anzahl erhöhte sich im Jahr 1992 auf 59.094. Nach dem „Asylkompromiss“ im Jahr 1993 verzeichnete man im Jahr 1995 eine geringere Anzahl der sich in Deutschland aufhaltenden Bulgar*innen (38.847). Diese Zahl blieb in den folgenden Jahren relativ konstant und erhöhte sich im Jahr 2002 auf 42.419. Im Jahr 2007 stieg durch den EU-Beitritt Bulgariens die Anzahl der Bulgar*innen auf 46.818. Seitdem erhöht sich die Anzahl kontinuierlich. Im Jahr 2008 erreichte sie 53.984, im Jahr 2009 61.854. Im Jahr 2010 waren 74.869 bulgarische Staatsbürger*innen in Deutschland behördlich angemeldet. Die Tendenz der zunehmenden Zuwanderung aus
204
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
die durch Krisen geprägte wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die zunehmende Zahl der Arbeitslosen20. Abb. 6.1 zeigt die Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland in der Zeit 1991–2017. Die regionale Verteilung der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland ist ungleichmäßig: Die Bulgar*innen leben überwiegend in den Großstädten der Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg, Bayern sowie in Berlin. Die Migration bulgarischer Staatsangehöriger nach Deutschland ist, verglichen mit der Migration der Bulgar*innen in andere EU-Staaten, von höherer Intensität. Deutschland ist das wichtigste Aufnahmeland der bulgarischen Migrant*innen im Rahmen der EU (vgl. Haug 2005). Ebenfalls von Bedeutung wie die Bestimmung der Größe der bulgarischen Migrant*innendiaspora in Deutschland, ist die Frage danach, wer migriert. Die bulgarische Migration nach Deutschland kann chronologisch und typologisch ausdifferenziert werden. In unterschiedlichen Perioden in der Zeit 1990–2017 migrieren typologisch verschiedene Personengruppen, die bei der Einwanderung nach Aufenthaltsstatus ausdifferenziert werden können.
Bulgarien nach Deutschland wird auch in den folgenden Jahren sichtbar. Was die Zuzüge bulgarischer Staatsangehörige im Jahr 2010 betrifft (24.491), ist Bulgarien das drittstärkste Land nach Polen und Rumänien. Im Jahr 2010 waren mehr Zuzüge bulgarischer Staatsangehörigen als aus Ländern wie Türkei, China oder Russland zu verzeichnen. Die Anzahl der angemeldeten bulgarischen Staatsbürger*innen im Jahr 2011 erreichte 93.889 – eine Netto-Erhöhung (Zuwanderungen minus Abwanderungen) der Anzahl um 19.020 Personen, die überdurchschnittlich hoch ist. Im Jahr 2012 erreichte die Anzahl der behördlich angemeldeten Bulgar*innen in Deutschland 118.759. 2013 stieg die Anzahl auf 146.828. Zum 31.12.2014 lebten 159.367 Bulgar*innen in Deutschland. Im Jahr 2015 waren 226.926 Menschen aus Bulgarien in Deutschland registriert. Die Anzahl der Bulgar*innen in Deutschland erreichte 2016 die Zahl von 263.320 (Statistisches Bundesamt 2018). 20In der Zeit seit 2008 steigt die Arbeitslosigkeit in Bulgarien nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik kontinuierlich von ca. 9 % auf ca. 13 % (vgl. Nacionalen Statisticheski Institut 2009b).
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
205
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration nach Deutschland 6.6.1 Chronologische Typologisierung Chronologisch gesehen migrieren in der Zeit 1990–1993 Personen, die die vergleichsweise günstige Asylregelung in Deutschland21 nutzten und einen Asylantrag stellten. Zum größten Teil wurden sie nicht als Asylberechtigte anerkannt und mussten Deutschland verlassen. Bis Gerichtsverfahren vollzogen wurden, blieben sie ca. ein bis drei Jahre in Deutschland und hatten in dieser Zeit einen regulären oder nicht regulären Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. 1989 wurden 429 Asylanträge von bulgarischen Staatsbürger*innen gestellt. 1990 hat die Anzahl der Asylanträge bulgarischer Staatsangehöriger (8341) rapide zugenommen. Im Jahr 1991 haben 12.056 Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit Asyl in BRD beantragt. In 1992 erhöhte sich die Anzahl der Asylsuchenden aus Bulgarien auf 31.540, während im Jahr 1993 22.547 Bulgar*innen Asyl in Deutschland beantragt haben (BAMF 1994, S. 1, eigene Anfrage). Seit Januar 1993 traten die Regelungen der „Asylrechtsreform“ in Kraft22. Durch die Etablierung dieser restriktiven Politik nahm die Anzahl der Asylsuchenden aus Bulgarien ab und erreichte im Jahr 1994 3367 (BAMF 1995, S. 1, eigene Anfrage). Trotz der verschärften Asylregelung wurde von bulgarischen Staatsbürger*innen auch in den nächsten Jahren in Deutschland Asyl beantragt, allerdings in einem viel geringeren Umfang. Während 1997 noch 761 Personen Asyl beantragten, sank die Zahl in den folgenden Jahren 1998 (172), 1999 (90), 2000 (72) und 2001 (66) kontinuierlich (BAMF 2002, S. 1, eigene Anfrage). In der Zeit 1993–2001 verringerte sich die Anzahl der bulgarischen Staatsangehörigen, die dauerhaft, länger als ein Jahr, in Deutschland lebten. Der Grund dafür ist, dass es zu dieser Zeit wenige legale Möglichkeiten gab, z. B. als Bildungsmigrant*in, als Arbeitsmigrant*in oder als Heiratsmigrant*in, nach
21Nach Art. 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland genießen politisch verfolgte Personen ausländischer Staatsangehörigkeit das Asylrecht als individuell einklagbaren Rechtsanspruch. 22Nach den neuen Regelungen durften Personen, die aus einem „sicheren Drittland“ oder aus einem „sicheren Herkunftsland“ nach Deutschland einwandern, nicht mehr Asyl in Deutschland beantragen. Sie wurden direkt an der Grenze („Flughafenregelung“) abgefangen und ausgewiesen. Dadurch wurde die Gelegenheit, einen Asylantrag in Deutschland zu stellen, stark reduziert (vgl. BAMF 2010).
206
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Deutschland einzuwandern. In dieser Zeit intensivierten sich allerdings die kurzfristigen Wanderungen bulgarischer Staatsbürger*innen nach Deutschland: (Auto) händler*innen, die oft als ‚Tourist*innen‘, mit einem Touristenvisum ausgestattet, nach Deutschland einreisten; Au-Pair-Mädchen; temporär Beschäftigte. Nach der im zweiten Kapitel dieser Arbeit zitierten Definition der Migration (Treibel 2008a, S. 21) können sie nicht als Migrant*innen bestimmt werden, da ihr Aufenthalt nicht als dauerhaft gewertet werden kann. Soziologisch gesehen sind sie trotzdem eine wichtige Kategorie, da sie das Migrant*innenbild der Bulgar*innen in der deutschen Öffentlichkeit zu dieser Zeit prägen und die transnationale Migration indizieren. In der Zeit 1990–2001 kommen statistisch gesehen die meisten Bulgar*innen mit einem Tourist*innen- bzw. Besucher*innenvisum nach Deutschland. Abgesehen von der Statistik sind sie keine Tourist*innen bzw. Besucher*innen. Das Ziel der meisten Besucher*innen ist es, ein Auto zu kaufen, Arbeit im irregulären Marktsegment zu finden, sich auf ein Studium in Deutschland vorzubereiten oder irregulär in Deutschland zu bleiben. Nur Wenige, die ein Tourist*innenvisum besitzen, reisen nach Deutschland mit der Absicht, die Sehenswürdigkeiten des Landes zu besichtigen. Um ein Tourist*innenvisum zu erwerben, muss man ein bestimmtes Einkommen nachweisen, das die meisten Bulgar*innen zum damaligen Zeitpunkt nicht nachweisen können. Dementsprechend schwierig oder praktisch unmöglich gestaltet sich die Ausstellung eines Tourist*innenvisums. Dieses bekommen vor allem Bulgar*innen, die Bekannte oder Verwandte in Deutschland haben, die wiederum die Verpflichtungserklärung unterschreiben und sich damit bereit erklären, die Verantwortung, auch im finanziellen Sinne, für die eingeladene Person zu übernehmen. In diesem Sinne spielt das soziale Kapital eine entscheidende Rolle für die Möglichkeit ein Tourismus- bzw. ein Besuchervisum zu erhalten. Diese Voraussetzungen begründen die Entstehung eines eigenen Wirtschaftszweigs: Dieser befasst sich mit der Begleitung und Betreuung von einreisewilligen Bulgar*innen, die keine Verwandten oder Bekannten in Deutschland haben aber bereit sind zu zahlen, um nach Deutschland einzuwandern. Diese Firmen stellen Kontakte zu deutschen Staatsbürger*innen her, die gegen Geld eine Verpflichtungserklärung unterzeichnen. Für Menschen, die in Deutschland Sozialleistungen beziehen, wäre das ein zusätzliches, auch wenn irreguläres, Einkommen. Man ‚kapitalisiert‘ seine Staatsangehörigkeit. Weiterhin existiert die Möglichkeit nach Deutschland als Dienstreisende*r einzureisen. Wie in der vorherigen Periode (1945–1989) sind Bulgar*innen in international agierenden Unternehmen beschäftigt und fahren als Mitarbeiter*innen von Transport,- Logistik-, oder Speditionsunternehmen regelmäßig
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
207
nach Deutschland. Auch zu kurzfristigen Dienstreisen beispielsweise im Rahmen von Gastspielreisen von Künstler*innen, für den Erfahrungsaustausch im akademischen Bereich oder zur Teilnahme an Kongressen oder Konferenzen werden Bulgar*innen nach Deutschland eingeladen. Dabei ist die Auswahl der Teilnehmenden, im Unterschied zu der vorherigen Periode, nicht mehr politisch motiviert. Die Ausreise aus Bulgarien ist nach 1989 relativ einfach; die Einreise nach Deutschland hingegen wird schwieriger, denn sie wird von den deutschen Behörden streng kontrolliert und muss genehmigt werden. Diese Entwicklung, bei der die kurzfristigen Wanderungsbewegungen dominierten, blieb stabil. Die Anzahl der Bulgar*innen, die nach Deutschland wanderten, erhöhte sich nach dem Jahr 2001, nachdem die Visumpflicht für kurzfristige Reisen abgeschafft wurde. Die erhöhte Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen, die nach Deutschland kamen, kann allerdings, aufgrund der Abschaffung der Visumpflicht, statistisch nicht präzise erfasst werden. Chronologisch gesehen ist in der Zeit von 1990–2001 die Einwanderung als Bildungsmigrant*in und als Heiratsmigrant*in sehr verbreitet, da diese Migrationsformen die einzigen sind, die in der Zeit von 1990–2001 eine reguläre, dauerhafte Migration erlauben. Ab dem 2007 nimmt die Bedeutung dieser Wanderungsformen ab. Nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes (vgl. Bundestag 2004a) im Jahr 2005 und dem EU-Beitritt Bulgariens in 2007 änderten sich die Art der bulgarischen Migration nach Deutschland. Es eröffneten sich Möglichkeiten für Fachkräfte, als Arbeitsmigrant*innen einzureisen.23 Den Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes folgend24, bekamen Hochschulabsolvent*innen die Möglichkeit, nach dem Studienabschluss in Deutschland zu bleiben und Arbeit zu suchen.25 Das Prinzip der Freizügigkeit erleichterte zudem den bulgarischen Staatsbürger*innen die Möglichkeit, sich längerfristig26 legal in Deutschland aufzuhalten und nach regulären oder irregulären Erwerbstätigkeiten zu suchen.
23Bundestag
(2004a) § 18 und § 19. (2004a) § 16, Abs. 4. 25Der Unterschied zu den gesetzlichen Regelungen aus der Zeit vor 2005 war groß. Nach der herkömmlichen juristischen Lage mussten Studienabsolventen Deutschland verlassen, auch wenn sie ein Arbeitsangebot von deutschen Unternehmen hatten (vgl. Bundestag 1990, § 28, Abs. 4). Nur in besonderen Fällen, in denen begründetes öffentliches Interesse an einer Beschäftigung bestand, war eine Ausnahme gesetzlich vorgesehen. 26Länger als drei Monate. 24Bundestag
208
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Zudem nutzen viele Bulgar*innen seit dem EU-Beitritt des Landes die Möglichkeiten der Mobilität. Besonders Menschen, die als Freiberufler*innen tätig sind wie z. B. Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Selbstständige oder Handwerker*innen und Autohändler*innen arbeiten sowohl in Bulgarien als auch in Deutschland. Durch die Zunahme des Angebots der Low-Cost-Fluggesellschaften ist die Distanz zwischen Bulgarien und Deutschland schneller und einfacher zu überwinden. Neue Kommunikationsmedien machen den schnellen Austausch zwischen Menschen über Staatsgrenzen hinweg möglich. Damit ist chronologisch gesehen eine klare Entwicklung von einer temporären Wanderungsbewegung zu einer dauerhaften Bildungs- und Arbeitsmigration mit zunehmender Mobilität und Transnationalität zu beobachten. Parallel zur Festigung der klassischen Migration ist eine Tendenz zur Zunahme der sog. „temporären, zyklischen Wanderungen“ (saisonalen Migration, Au-Pair-Migration) im Rahmen der EUBinnenmigration festzustellen. Typologisch können die bulgarischen Migrant*innen nach Deutschland in der Zeit 1990–2017 aufgrund ihres primären Aufenthaltszwecks ausdifferenziert werden.27 „Arbeitsmigrant*innen“ sind die Personen, die zum primären Zweck der Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach Deutschland einreisen. Zu dieser Gruppe gehören sowohl abhängig Beschäftigte, als auch Selbstständige und Studienabsolvent*innen, die ihr Studium in Bulgarien oder in einem anderen Land abgeschlossen haben. Eine Einwanderung als Arbeitsmigrant*in ist ebenfalls für die in Bulgarien ausgebildeten Bauarbeiter*innen, Krankenpfleger*innen und Beschäftigte in der Hotel- und Gastronomiegewerbe typisch. Ungelernte Arbeitsmigrant*innen kommen zudem mit der Absicht nach Deutschland, einen Arbeitsplatz in schlecht bezahlten oder irregulären Arbeitsmarktsegmenten zu finden. Zu Arbeitsmigrant*innen können Personen werden, die ihr primäres Einwanderungsziel ändern. Meist werden deutsche Hochschulabsolvent*innen der Fächer IT, Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften zu Arbeitsmigrant*innen und nehmen nach dem Abschluss ihres Studiums eine Erwerbstätigkeit auf.
27Diese
Ausdifferenzierung ist im Sinne der Bildung von Idealtypen möglich und ist lediglich für den Zeitpunkt der Einwanderung aussagekräftig. Sie kann eine Momentaufnahme anbieten, scheitert aber bei dem Versuch, die Prozesse in ihrer Dynamik und ständiger Entwicklung abzubilden. Denn die sog. „primären Wanderungsmotive“ können sich im Laufe der Zeit verändern. Eine Arbeitsmigrantin kann heiraten, ein Heiratsmigrant kann Arbeit aufnehmen oder sich zum Studium immatrikulieren. Aus diesem Grund ist es schwierig, unter Berücksichtigung dieser Variablen, die relative Größe dieser ‚von außen‘ konstruierten Gruppen zu bestimmen.
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
209
Die Anzahl der Arbeitsmigrant*innen aus Bulgarien kann bis zum Ende des Jahres 2013 durch die Angaben der von der Agentur für Arbeit ausgestellten Arbeitsgenehmigungen relativ präzise ermittelt werden.28 Seit dem 01.01.2014 kann die Anzahl der Arbeitsmigrant*innen aus Bulgarien nur geschätzt oder durch Befragungen ermittelt werden, da vor der Arbeitsaufnahme keine Arbeitsgenehmigung beantragt werden muss. Dementsprechend kann angenommen werden, dass die meisten Bulgar*innen, die im erwerbsfähigen Alter nach Deutschland kommen, in einem weiteren Sinne Arbeitsmigrant*innen sind. Es kann allerdings auch angenommen werden, dass zumindest ein Teil von ihnen primär als Bildungsmigrant*in oder als Heiratsmigrant*in nach Deutschland kommt. In den letzten zehn Jahren vor 2014 wurden über 62.000 Arbeitsgenehmigungen an bulgarische Arbeitnehmer*innen ausgestellt, knapp über
28Im
Jahr 1999 wurden 4493 Arbeitsgenehmigungen an bulgarische Arbeitnehmer*innen erteilt. Im Jahr 2000 waren es 5397, im Jahr 2001 6180 Genehmigungen. Für das Jahr 2002 erhielten 2562 Bulgar*innen eine Arbeitsgenehmigung von der Agentur für Arbeit, während im Jahr 2003 2161 Bulgar*innen die Erlaubnis hatten, in Deutschland zu arbeiten (Angaben der Bundesagentur für Arbeit, zit. nach Rühl 2005, S. 157). Im Jahr 2006 wurden 1517 Arbeitsgenehmigungen erteilt. Dazu wurden 731 Bulgar*innen im Jahr 2006 Werkverträge angeboten, von denen die meisten (553) in der Baubranche abgeschlossen wurden. Im Jahr 2007 stieg die Anzahl der erteilten Genehmigungen auf 3147, dazu kommen 1182 saisonale Aushilfen in der Hotel- und Gaststättengewerbe und 687 Werkvertragsnehmer (Bundesagentur für Arbeit 2008). Im Jahr 2008 erhöhte sich die Anzahl der Bulgar*innen, die eine Arbeitsgenehmigung erhielten auf 4670. 2865 saisonale Arbeitskräfte aus Bulgarien wurden in diesem Jahr zusätzlich in Deutschland beschäftigt, davon 1973 in der Landwirtschaft. Die Anzahl der Werkvertragsnehmer*innen aus Bulgarien betrug im Jahr 2008 363 (Bundesagentur für Arbeit 2011). Im Jahr 2009 stieg die Anzahl der regulär beschäftigten Bulgar*innen auf 5154. 3045 bulgarische Staatsbürger*innen führten saisonale Tätigkeiten aus (davon waren 766 in der Hotel- und Gastronomiegewerbe, 2279 in der Landwirtschaft und 86 als Haushaltshilfen beschäftigt). Im Jahr 2010 wurden 7093 Arbeitsgenehmigungen an bulgarische Staatsangehörige erteilt. 3520 Saisonarbeitnehmer*innen aus Bulgarien waren in diesem Jahr beschäftigt, davon 2665 in der Landwirtschaft, 855 in der Hotelgewerbe und 145 als Haushaltshilfen (Bundesagentur für Arbeit 2011). Im Jahr 2011 wurden 13.259 Arbeitsgenehmigungen an bulgarischen Staatsangehörigen vergeben, während im Jahr 2011 6895 Saisonarbeitnehmer*inneren in Deutschland beschäftigt waren und 331 Personen aus Bulgarien Werkverträge erhielten (Bundesagentur für Arbeit 2012). Im Jahr 2012 wurden 12.697 Arbeitsgenehmigungen an bulgarische Staatsbürger*innen erteilt; die Zahl der Arbeitsgenehmigungen stieg im Jahr 2013 auf 13.973.
210
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
10.000 Werkverträge abgeschlossen; ca. 25.000 Personen kamen als Saisonarbeitskräfte aus Bulgarien nach Deutschland. Diese Daten verdeutlichen eine kontinuierlich steigende Anzahl der bulgarischen Arbeitsmigrant*innen in Deutschland. Besonders ab dem Jahr 2007 und nach dem 01.01.2014 ist die Tendenz der Erhöhung der Anzahl der Beschäftigten aus Bulgarien deutlich zu erkennen. Neben den abhängig Beschäftigten stellen die selbstständigen Migrant*innen eine wichtige Subgruppe der Arbeitsmigrant*innen dar. Die Anzahl der bulgarischen Selbstständigen, die Rechtsanwält*innen, Existenzgründer*innen in der Gastronomie, in der Reisebranche, im Handwerk, im Einzelhandel sowie Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen erfasst, ist in Deutschland relativ gering29. Allerdings ist eine Tendenz der Erhöhung der Anzahl der ausländischen Selbstständigen in Deutschland festzustellen – sie ist typisch für die meisten EUBeitrittsländer. Dabei handelt es sich um eine Quasi-‚Scheinselbstständigkeit‘. Seit 2004 bzw. in Bulgarien seit 2007 dürfen sich die Staatsbürger*innen der EU-Beitrittsländer in den Staaten der EU frei niederlassen. Sie haben allerdings keinen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt dieser Länder. Eine Anmeldung einer selbstständigen Tätigkeit eröffnet aber den Zugang zum Wirtschaftsraum der EU-Staaten: Ein Arbeitsverhältnis in abhängiger Beschäftigung darf nicht ausgeübt werden, hingegen darf man als Selbstständiger/Selbstständige seine Dienstleistungen anbieten. Es ist anzunehmen, dass diese Tendenz sich auch auf die Anzahl der bulgarischen Existenzgründer*innen auswirkt. Durch die Entsenderichtlinie der EU (Europäisches Parlament 1996, S. 1–6) ist eine weitere Gruppe zu berücksichtigen – die Gruppe der mobilen qualifizierten Facharbeiter*innen. Bulgarische Bauarbeiter*innen werden von ihrem oder ihrer bulgarischen Arbeitgeber*in abgeordnet, um eine konkrete Bautätigkeit in Deutschland zu erledigen. Diese kann einige Wochen bis einige Monate dauern. Sie werden nach dem bulgarischen Tarif bezahlt und sozialversichert, arbeiten aber in Deutschland. Eine Absicht dauerhaft nach Deutschland zu migrieren, haben die meisten von ihnen nicht. Die Arbeitslosigkeit ist unter den bulgarischen Migrant*innen, die nach Deutschland nach 2014 eingewandert sind, weit verbreitet. Im Oktober 2013
29Eine
genaue Zahl kann nicht ermittelt werden, da es keine zentrale bundesweite Anmeldestelle für die selbstständig Beschäftigten gibt. Wenn wir die übliche Quote der Selbstständigkeit bei den Personen mit Migrationshintergrund (10,0 %) als Ausgangspunkt einer Schätzung nehmen, sollte im Jahr 2010 die Anzahl der selbstständigen Unternehmen mit einem bulgarischen Inhaber in Deutschland ca. 7000 betragen (BAMF 2011, S. 41).
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
211
betraf sie 15,1 % der bulgarischen Migrant*innen. Im Dezember 2013 erreichte sie 16,6 %, während sie im Oktober 2014 bei 15,0 % lag. Im Vergleich dazu liegt die Arbeitslosigkeit von rumänischen Migrant*innen bei 6,9 % (Brücker et al. 2014, S. 9; ebenda, S. 12). Die Arbeitslosenquote der bulgarischen Migrant*innen sank im Jahr 2015 auf 9.2 % und erreichte im Jahr 2016 7,6 %. Im Jahr 2017 lag sie bei 6,2 % (Bundesagentur für Arbeit 2018, S. 21). Das Recht auf Freizügigkeit geht mit der Berechtigung Sozialleistungen zu beziehen einher. Nach 2014 dürfen sich die Bulgar*innen nicht nur eingeschränkt in Deutschland aufhalten, sondern auch bei Bedarf und bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) beantragen. Der Anteil der bulgarischen Migrant*innen, die Sozialleistungen (SGB II) beziehen, lag im Dezember 2013 bei 16,7 %; im September 2014 erreichte er 22,9 %. Im Juli 2017 stieg der Anteil der bulgarischen SGB II-Bezieher*innen auf 30,4 %, während er im Juli 2018 auf 27,1 % sank (Bundesagentur für Arbeit 2018, S. 20). Die soziale Heterogenität der bulgarischen Arbeitsmigrant*innen ist erheblich: Sie kommen aus verschiedenen sozialen Schichten und Bildungsschichten. Zu den selbstständigen Migrant*innen aus Bulgarien gehören nicht oder wenig ausgebildete Personen z. B. Bauarbeiter*innen, aber auch Personen, die eine Ausbildung abgeschlossen haben wie beispielsweise Maler*innen, Lackierer*innen oder Krankenpfleger*innen. Auch hoch qualifizierte Personen, wie Ingenieur*innen, Ärzt*innen oder Wissenschaftler*innen, gehören zu den Arbeitsmigrant*innen aus Bulgarien. Eine weitere Gruppe bildeten die „Heiratsmigrant*innen“. Die Definition des Begriffs „Heiratsmigrant*in“ ist nicht eindeutig. Als Heiratsmigrant*in gilt eine Person, die im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland einreist. Schwierigkeiten für die statistische Erfassung des Phänomens bilden die möglichen Veränderungen in den Absichten der eingewanderten Person: Eine Person, die aus anderen Gründen nach Deutschland kommt z. B. wegen des Studiums oder wegen der Ausübung einer Beschäftigung und dann in Deutschland heiratet, wird von der Statistik als Bildungsmigrant*in bzw. als Arbeitsmigrant*in und nicht als Heiratsmigrant*in erfasst. Hingegen werden Personen, die im Sinne der Ehegattenzusammenführung nach Deutschland einreisen, auch dann als „Heiratsmigrant*in“ angesehen, wenn sie einen anderen Aufenthaltsgrund aufweisen z. B. den der Berufsausübung. Aus diesem Grund ist die genaue Anzahl der Heiratsmigrant*innen schwierig zu ermitteln. Besonders interessant für die Migrationsforschung sind die sogenannten „mixed mariages“ d. h. Eheschließungen zwischen deutschen und bulgarischen Staatsbürger*innen. Klassischerweise werden diese „bikulturellen Ehen“ in der
212
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Migrationsforschung als Indikator einer gelungenen sozialen Integration gesehen (Berlin-Institut 2009, S. 49 ff.). Aufgrund der Tatsache, dass die Einbürgerungszahlen30 bulgarischer Staatsangehöriger bis 2006 relativ gering ausfallen, kann angenommen werden, dass es sich in den meisten dieser Fälle um interethnische Ehen31 handelt. Nach 2007 steigen die Einbürgerungszahlen aufgrund der Regelung, die die doppelte Staatsangehörigkeit für EU-Bürger*innen erlaubt. Aus diesem Grund kann man davon ausgehen, dass ein Teil der Ehen, die von der Statistik als Ehen zwischen Deutschen und Bulgar*innen ausgewiesen werden, intraethnische Ehen zwischen zwei bulgarischstämmigen Personen sind. Es ist zu erwarten, dass die Anzahl der interethnischen Ehen abnehmen wird. Die Anzahl der verheirateten Bulgar*innen, die sich in Deutschland aufhalten, betrug im Jahr 2009 23.774. Davon waren 4962 Bulgar*innen mit einem deutschen Partner/einer deutschen Partnerin verheiratet. Dabei kommen bulgarische Frauen, die einen deutschen Mann heiraten, häufiger vor (3811), als deutsche Frauen, die einen bulgarischen Mann heiraten (1151) (Statistisches Bundesamt 2010, S. 47, 53). Im Jahr 2015 waren 3910 Bulgar*innen mit einem deutschen Partner/mit einer deutschen Partnerin verheiratet, darunter waren 963 bulgarische Männer mit einer deutschen Frau und 2947 bulgarische Frauen mit einem deutschen Mann verheiratet. Abb. 6.2 zeigt die Anzahl der Eheschließungen zwischen bulgarischen Staatsbürgerinnen und deutschen Staatsbürgern (1991–2015). Abb. 6.3 zeigt die Anzahl der Eheschließungen zwischen deutschen Staatsbürgerinnen und bulgarischen Staatsbürgern (1991–2015). Die beiden Grafiken verdeutlichen, dass die Anzahl der Eheschließungen zwischen Bulgar*innen und Deutschen nach 2007 abnimmt. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass ein Teil der Eheschließungen zwischen deutschen
30Im
Jahr 1999 wurden 303 Bulgar*innen eingebürgert. Im Jahr 2000 stieg die Anzahl der eingebürgerten Bulgar*innen auf 614; im Jahr 2001 betrug die Anzahl der eingebürgerten Bulgar*innen 615. Iim Jahr 2002 betrug sie 649 und im Jahr 2003 579. Im Jahr 2004 wurden 404 Bulgar*innen deutsche Staatsbürger*innen, im Jahr 2005 wurden 400 Personen eingebürgert; die Zahl der Eingebürgerten im Jahr 2006 betrug 409. 268 Bulgar*innen wurden 2007 eingebürgert, die Zahl der Eingebürgerten im 2008 betrug 802, im Jahr 2009 1029 und im Jahr 2010 1447. Die Einbürgerungsquote lag von 2003 bis 2006 zwischen 1 und 1,3 und war, bei einer Gesamtquote von 1,8 aller Ausländergruppen, unterdurchschnittlich. Nach 2007 ist die Einbürgerungsquote überdurchschnittlich. Grund dafür sind die Einbürgerungserleichterungen für die Staatsbürger*innen der EU, u. A. die Tatsache, dass die Staatsbürger*innen der EU bei der Einbürgerung ihre bisherige Staatsangehörigkeit beibehalten dürfen. 31Ehen zwischen Personen, die zu verschiedenen ethnischen Gruppen gehören.
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
213
800 700 600 500 400 300 200 100 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
0
Abb. 6.2 Anzahl der Eheschließungen zwischen bulgarischen Staatsbürgerinnen und deutschen Staatsbürgern (1991–2015). (Quelle: Copyright Statistisches Bundesamt 2016)
und bulgarischen Staatsbürger*innen vor 2007 als „Einwanderungstickets“ genutzt wurden32. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 ist die „Notwendigkeit“, einen Deutschen/eine Deutsche zu heiraten, um sich regulär in Deutschland aufzuhalten, nicht mehr gegeben. Eine weitere Erklärung für das veränderte „Eheschließungsverhalten“ könnte daran liegen, dass nach dem EUBeitritt Bulgariens die Voraussetzungen für die Einbürgerung der Bulgar*innen erleichtert wurden. Bei der Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit muss der EU-Bürger/die EU-Bürgerin seine/ihre bisherige Staatsangehörigkeit nicht aufgeben. So kann eine Ehe zwischen zwei ethnischen Bulgar*innen, die eingebürgert wurden, von der Statistik als Ehe zwischen Deutschen erfasst werden. Hingegen wird eine Ehe zwischen einem ethnischen Bulgaren, der nicht eingebürgert wurde, und einer eingebürgerten bulgarischen Frau von der Statistik als „bikulturelle Ehe“ erfasst. Eine wichtige Gruppe der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland, insbesondere für die Zeit vor 2007, sind die irregulären Migrant*innen. In der
32Der
ausländische Ehepartner bzw. die ausländische Ehepartnerin eines/r deutschen Staatsbürger*in genießt das uneingeschränkte Aufenthaltsrecht und erhält Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.
214
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
300 250 200 150 100 50
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
0
Abb. 6.3 Anzahl der Eheschließungen zwischen deutschen Staatsbürgerinnen und bulgarischen Staatsbürgern (1991–2015). (Quelle: Copyright Statistisches Bundesamt 2016)
Forschung wird zwischen den Menschen, die regulär einreisen, aber länger als erlaubt bleiben (sog. „overstayers“) und Menschen, die irregulär einreisen, unterschieden (vgl. Oswald 2007, S. 168 ff.). Letztere Gruppe setzt sich aus Menschen, die mit falschen Unterlagen einreisen, Menschen, die ohne Unterlagen einreisen und Menschen, die wider Willen einreisen z. B. entführt wurden und als irreguläre Arbeitnehmer und Prostituierte sowie im Bereich der Drogenkriminalität arbeiten, zusammen. Unter den interviewten Personen ist ein Mann, der als „overstayer“ einen „schwarzen Stempel“ im Pass bekommen hat und nach Deutschland nicht einreisen durfte, bis Bulgarien EU-Mitglied wurde. Zurzeit wohnt er in Frankfurt am Main, ist mit einer Bulgarin verheiratet und arbeitet regulär in Deutschland. Wegen der vereinfachten Einreisebestimmungen nach 2001 und insbesondere nach 2007 nimmt die Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen ohne einen regulären Arbeitsplatz und behördliche Anmeldung in Deutschland zu. Die Anzahl der irregulären Migrant*innen aus Bulgarien wurde im Jahr 2010 auf mindestens 5000 Personen geschätzt.33 Nach Angaben der
33Aufgrund
der Freizügigkeitsregelung bezieht sich die irreguläre Migration nicht auf den irregulären Aufenthalt, sondern auf die irreguläre Ausübung einer Beschäftigung und auf den nicht angemeldeten Aufenthalt.
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
215
lokalen Polizeibehörden leben in Dortmund ca. 1500 und in Duisburg ca. 3000 bulgarische Staatsbürger*innen, die laut Polizei- und Medienberichten zum Teil in Prostitution, Menschenhandel und nicht regulierten Gelegenheitsarbeitsverhältnissen beschäftigt sind (FAZ 2013). Medienberichten zufolge handelt es sich um ethnische Roma aus dem Wohnviertel Stolipinovo der bulgarischen Stadt Plovdiv, die im Zuge einer „Verpflanzung der Gemeinschaft“ (Heckmann 1992) mit ihren Familien nach Dortmund oder Duisburg einwandern (Westfälische Rundschau 2012; SZ 2011). Im Zuge der Transnationalisierung der organisierten Kriminalität nehmen diese Phänomene zu. Eine wichtige Untergruppe im Rahmen der bulgarischen Migration nach Deutschland bilden die „Bildungsmigrant*innen“. Darunter zählen Studierende und Doktorand*innen. Die bulgarische Bildungsmigration nach Deutschland hat eine relativ lange Tradition (Endler 2006). Dennoch war die Anzahl der bulgarischen Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland vor 1990 relativ gering; eine Entwicklung, die mit Sicherheit mit der Ost-West-Teilung Europas in der Zeit des Kalten Krieges in Zusammenhang steht. Im Jahr 1975 studierten 81 bulgarische Staatsbürger*innen an westdeutschen Hochschulen. Die Anzahl der bulgarischen Studierenden in der Bundesrepublik stieg im Jahr 1980 auf 121. Im Jahr 1985 waren 115 Bulgar*innen an westdeutschen Hochschulen immatrikuliert. 1990 erhöhte sich die Anzahl auf 183. In der Zeit 1990–2000 stieg die Anzahl der bulgarischen Studierenden langsam aber stetig. In der Zeit 2000–2005 erhöhte sich die Anzahl relativ schnell und erreichte im Studienjahr 2004–2005 die bisherige Rekordzahl von 12.848 Studierenden. Im Studienjahr 2004–2005 studieren von insgesamt 186.656 bildungsausländischen34 Student*innen, die an deutschen Hochschulen immatrikuliert sind, 12.456 Bulgar*innen, die in Bulgarien ihre Hochschulzugangsberechtigung erhalten haben. In diesem Studienjahr erreichen die bulgarischen Student*innen nach den Student*innen aus China (25.987) den zweiten Platz unter den „Bildungsausländer*innen“. Unter allen ausländischen Studierenden in Deutschland, d. h. Bildungsausländer*innen und Bildungsinländer*innen, nehmen die BulgarInnen mit 12.848 StudentInnen im Studienjahr 2004–2005 den vierten Platz nach China (29.129), Türkei (22.553) und Polen (14.896) (Statistisches Bundesamt 2005) ein. Allerdings sind die Zahlen seit 2005 rückläufig. Im Studienjahr 2010–2011
34In
der deutschen Statistik wird zwischen den ‚Bildungsinländer*innen‘ – den ausländischen Staatsbürger*innen, die dauerhaft in Deutschland leben und ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben haben – und den ‚Bildungsausländer*innen‘ – ausländischen Staatsbürger*innen, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben – unterschieden.
216
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
waren 7997 bulgarische Studierende an deutschen Hochschulen immatrikuliert (Statistisches Bundesamt 2012). Im Studienjahr 2011–2012 erreichte die Zahl der immatrikulierten Student*innen 7486, während sie im Jahr 2012–2013 auf 7226 sank. Im Studienjahr 2013–2014 blieb sie konstant bei 7223, im Studienjahr 2014–2015 erreichte sie 7231. Im Jahr 2015–2016 studierten 7325 Student*innen aus Bulgarien an deutschen Hochschulen; im Jahr 2016–2017 betrug ihre Anzahl 7311 (Statistisches Bundesamt 2017). Abb. 6.4 zeigt die Anzahl der bulgarischen Studierenden in Deutschland (1991–2016). Nach offiziellen Angaben aus dem Jahr 2005 studieren ca 54.000 Bulgar*innen im Ausland (Petrova 2006). Die Gesamtanzahl der an bulgarischen Hochschulen immatrikulierten Personen im Studienjahr 2005–2006 beträgt 243.500 (ebenda), was bedeutet, das jeder vierte bulgarische Student/jede vierte bulgarische Studentin im Studienjahr 2004/2005 im Ausland studierte. Ein Großteil der bulgarischen Studierenden, die im Ausland einen Hochschulabschluss anstreben, studiert in Deutschland. Die Motivation der bulgarischen Student*innen für ein Studium in Deutschland ist vielseitig. Das positive Image von Deutschland als Studienland spielt hierfür eine Rolle, besonders im Kontext der nicht immer positiven Erfahrungen, die die Studierenden an bulgarischen Hochschulen machen (Liakova 2008, S. 47–50). Dadurch, dass bis 2001 generell keine Studiengebühren an deutschen Hochschulen zu entrichten waren, war das Studium in Deutschland, verglichen
14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000
SS 2019
SS 2018
SS 2017
WS 2016/ 2017
WS 2014/2015
WS 2015/ 2016
WS 2013/2014
WS 2012/2013
WS 2011/2012
WS 2010/2011
WS 2009/2010
WS 2008/2009
WS 2007/2008
WS 2006/2007
WS 2005/2006
WS 2004/2005
WS 2003/2004
WS 2002/2003
WS 2001/2002
WS 2000/2001
WS 1998/99
WS 1999/2000
WS 1997/98
WS 1996/97
WS 1995/96
WS 1994/95
WS 1993/94
WS 1992/93
0
Abb. 6.4 Anzahl der bulgarischen Studierenden in Deutschland (1991–2019). (Quelle: Copyright Statistisches Budnesamt)
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
217
mit den Bildungsmöglichkeiten in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden oder den USA, relativ günstig. Zudem spielt die geografische Nähe zu Bulgarien eine Rolle für die Wahl Deutschlands als Studienort, sowie die relative Popularität der deutschen Sprache35. Im Rahmen der durchgeführten Interviews wurden Personen befragt, die ihr Studium in Deutschland abgeschlossen und Erfahrungen sowohl mit dem bulgarischen, als auch mit dem deutschen Bildungssystem haben. Die interviewten Personen betonen, dass die nachlassende Qualität der bulgarischen Hochschulbildung eine wichtige Bedeutung für die Entscheidung habe, in Deutschland zu studieren. Nach ihren Erfahrungen bieten die bulgarischen Hochschulen keine vergleichbar gute Qualität wie die ausländischen Hochschulen an. Als gravierende Probleme der bulgarischen Hochschulbildung werden der Mangel an aktueller Fachliteratur, die schlechte Infrastruktur und die an den Hochschulen in Bulgarien behandelten abstrakten Themen, die keine Verbindung mit der Berufspraxis haben, genannt. Auch die Zunahme an Hochschulen und Student*innen führt laut den interviewten Personen in Kombination mit der hohen Auswanderung und der negativen demografischen Entwicklung zur Aufnahme von Studierenden, die nicht die nötigen fachlichen Fähigkeiten mitbringen. Die Korruption im System der bulgarischen Hochschulbildung wird kritisiert, obwohl keiner der interviewten Personen die Erfahrung mit Korruption gemacht hat. Vielmehr kursieren Erzählungen und Berichte über Korruption, über „gekaufte“ Prüfungen und Diplome. Auch wenn diese Erzählungen an dieser Stelle empirisch nicht überprüft werden können, kann festgehalten werden, dass das Thema „Korruption“ bei der Wahl des Studienortes im Ausland als ein Motiv genannt wird. Diese Wahl ist oft eine Entscheidung gegen Bulgarien. Ein wichtiger Grund für die Wahl des Studienortes im Ausland ist das Gefühl der Perspektivlosigkeit. Diese Wahrnehmung36 ist stärker bei den männlichen Interviewten verbreitet – sie verspüren möglicherweise stärker den Druck als Familienväter zu agieren und sich um die materielle Lage der Familien zu kümmern. Dieser Druck führt zur Notwendigkeit, sich einen Zugang zu besser
35Nach
Angaben der Botschaft der BRD in Sofia existieren in Bulgarien 18 deutschsprachige Gymnasien, in denen das Deutsche Sprachdiplom erworben werden kann (Deutsche Botschaft Sofia o. J.a). 36Im konkreten Fall ist die subjektive Wahrnehmung und nicht die makroökonomischen Indikatoren, nach denen Menschen, die einen Hochschulabschluss haben, problemlos einen gut bezahlten Arbeitsplatz finden, wichtig.
218
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
bezahlten Möglichkeiten zu suchen und dementsprechend nach Westeuropa zu migrieren. Die Bereitschaft „alles zu arbeiten, nur wenn das Geld stimmt“ (I 69) ist bei den männlichen Interviewten höher. Die interviewten Personen haben häufig während des Studiums gearbeitet37: Die Frauen arbeiteten in der Regel im Bereich von Gastronomie und Haushalt (Pflege, Au-Pair, Reinigung) und Büro (Aushilfe), die Männer als Fabrik- oder Logistikarbeiter. Das Gefühl der Perspektivlosigkeit ist insbesondere bei den älteren Studierenden38 und sehr stark bei denjenigen ausgeprägt, die bereits ein Studium in Bulgarien abgeschlossen, keinen entsprechenden Arbeitsplatz gefunden haben und nun versuchen, in Deutschland ein Zweitstudium zu absolvieren. Das Studium in Deutschland ist in diesem Fall eine Alternative zur Arbeitslosigkeit und eine Form des verdeckten Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt.39 Allerdings ist auch bei den Jüngeren das Gefühl der Perspektivlosigkeit verbreitet. „In Bulgarien gibt es keinen Job für Leute wie mich […] Das, was wir hier lernen, können wir nicht in Bulgarien einsetzen“ (I 60). Es gäbe keine Technik, kein Know-How, keine Fachleute, mit denen man zusammenarbeiten könnte. Und schließlich: „In Bulgarien kann mir keiner das Geld bezahlen, das ich hier verdiene“ (I 61). Das Gefühl der Perspektivlosigkeit zumindest in dieser Periode ist nicht vom Status der Eltern abhängig: Es wird sowohl von Kindern aus weniger wohlhabenden Verhältnissen, als auch von Kindern von Geschäftsleuten zum Ausdruck gebracht. Die hohe Anzahl der bulgarischen Studierenden in Deutschland deutet auch auf einen bestimmten Trend hin: Der Wunsch der Eltern, dass es die Kinder ‚im Westen schaffen‘. Das, was man selbst nicht erreichen konnte, sollen die Kinder erreichen. Die Generation, die keine oder stark eingeschränkte Möglichkeiten
37Die
finanzielle Belastung ist relativ. Unter den bulgarischen Student*innen wird eine zunehmende Heterogenität festgestellt. In der Regel sind sie jedoch finanziell schlechter als die deutschen Student*innen aufgestellt. Nur wenige besitzen ein Auto, fahren ins Ausland, in den Urlaub oder besuchen einen privaten Sprachkurs. 38Als „älter“ werden hier die Studierenden über 26 Jahre definiert. Ab diesem Alter ist der Studentenstatus in Deutschland nicht mit sozialen Privilegien wie Ermäßigungen verbunden. 39Die Studierenden in Deutschland haben das Recht auf einer Beschäftigung, die nicht über 20 h in der Woche während des Semesters und 40 h in der Woche in der vorlesungsfreien Zeit hinausgeht.
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
219
hatte, zu migrieren, macht alles dafür, dass ihre Kinder migrieren können. Das Studieren im Ausland wird zu einem Statussymbol der bulgarischen Mittelschicht. Insbesondere seit Mitte der 2000er Jahre kommen mehr Studierende nach Deutschland, deren Eltern sie teilweise oder sogar komplett finanziell unterstützen und die Kosten für das Studium tragen.40 Ein eigener Wirtschaftszweig in Bulgarien, der mit der Vorbereitung des Studiums im Ausland verbunden ist, blüht seit Mitte der 1990er Jahre auf: Deutsche Kindergärten, deutsche Schulen und Gymnasien, private Nachhilfemöglichkeiten, Sprachkurse, Firmen, die beraten und die Dokumente der willigen Studienanfänger*innen ausfüllen, Firmen, die für die Einreisewilligen Visa beantragen und die notwendigen Papiere besorgen und seit Anfang der 2010er Jahre auch Firmen, die die Eingliederung der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland betreuen. Kurz: Eine Branche ist entstanden, deren Ziel es ist, die Migration zu ermöglichen und zu erleichtern.41 Ein wichtiger Grund, Deutschland als Land für ein Studium zu wählen, liegt in der Spezifik des deutschen Bildungssystems begründet. Für Bewerber*innen, die einen Hochschulzugang in ihren Ländern erworben haben, ist der Zugang zu deutschen Hochschulen relativ einfach. Es ist keine Aufnahmeprüfung vorgesehen. Es ist lediglich die NC-Einschränkung vorhanden; sie gilt aber für die meisten Fächer nicht. So ist die Abschlussnote im gymnasialen Diplom für den Studienplatzerwerb ausschlaggebend. Hingegen ist in Bulgarien eine Aufnahmeprüfung für den Hochschulzugang vorgesehen, die kompliziert ist und in der Regel eine private Nachhilfe voraussetzt. Die Studiengebühren, wenn sie überhaupt vorhanden sind, sind im internationalen Vergleich niedrig. Bis 2004 ist das Studieren in Deutschland grundsätzlich kostenfrei. Der Semesterbeitrag beträgt ca. 100 EUR42. Seit 2004 zahlen die Studierenden, die die Regelstudienzeit überschritten haben, einen Beitrag in der Höhe von 500 EUR.43 Seit April 2007
40Nach Angaben der deutschen Behörden soll ein/e Student*in mindestens 7200 EUR im Jahr (600 EUR im Monat) zur Verfügung haben. Vgl. Deutsche Botschaft Sofia (o. J.b.). 41Nach Angaben der Deutschen Botschaft in Sofia gibt es in Bulgarien 18 deutschsprachige Gymnasien, in dem das sog. „Deutsche Sprachdiplom“ (DSD) erworben werden kann. Dieses Dipom erleichtert den Zugang zu den deutschen Hochschulen. Vgl. Deutsche Botschaft Sofia (o. J.c). 42Durch diese Gebühr wird auch die ermäßigte Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, der Hochschulmensen und -wohnheime sowie verschiedener Beratunsgangebote etc. ermöglicht. 43Die Regelstudienzeit ist die Zeit, die laut Studienordnung vorgesehen ist, um einen Studienabschluss zu erzielen. In der Regel sind für einen Bachelorabschluss 6 Semester und für einen Masterabschluss weitere 4 Semester festgelegt. Grundsätzlich wird die Regelstudienzeit in der Prüfungsordnung jeder Hochschule festgeschrieben.
220
6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
entscheiden die deutschen Hochschulen selbstständig, ob sie Studiengebühren erheben oder nicht.44 Dadurch dass Bulgarien seit dem 01.01.2007 EU-Mitglied ist, bezieht sich diese mögliche Änderung nicht auf bulgarische Studierende, die den deutschen gleichgestellt werden. Nach dem 01.01.2007 haben bulgarische Studierende auch Anspruch auf BAfÖG. In den 1990er Jahren ist die relative Selbstbestimmung des Studienverlaufs eine Besonderheit des deutschen Bildungssystems. Die Student*innen sind frei, den Studienplan sowie das Tempo, mit dem sie studieren, selbstständig zu bestimmen. So können sie sich auch neben ihrem Studium gesellschaftlich engagieren oder arbeiten. Sie sind nicht verpflichtet, jedes Semester Prüfungen abzulegen oder Klausuren zu schreiben. Diese relativ freizügige Regelung ist für die bulgarischen Studierenden, die pro forma studieren, von Nutzen. Hingegen wird diese Freiheit von den Student*innen, die motiviert sind, schnell ihr Studium abzuschließen, als Nachteil vermerkt. Die Entscheidung das Studium hinauszuzögern ist besonders bei Student*innen, die bis 2005 studiert hatten, deutlich zu vermerken. Diese Entscheidung war dadurch motiviert, dass nach dem zum 01.01.2005 in Kraft getretenen § 28, Abs. 3 Ausländergesetz festgeschrieben war, dass die ausländischen Staatsbürger*innen, die ihr Studium in Deutschland abgeschlossen haben, mindestens ein Jahr nach dem Ende des Studiums außerhalb der BRD verbringen müssen, bevor sie wieder einreisen. Diese Regelung Deutschland verlassen zu müssen und dann nicht mehr einreisen zu können, wurde von Vielen als eine Art ‚Bedrohung‘ wahrgenommen. Im Prozess der „Bologna-Reform“ wurden in Deutschland Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt. Dies führte zur Einschränkung der Wahlmöglichkeiten und stärkeren Festlegung der Studienfristen. Seit dem 15.12.2005 wurden in einigen Bundesländern Studiengebühren für alle Student*innen an deutschen Hochschulen eingeführt.45 Dadurch, dass Bulgarien EU-Mitglied ist, bleiben bei diesen geänderten Bedingungen nur diejenigen Bulgar*innen als Student*innen eingeschrieben, die tatsächlich die Absicht haben, ihr Studium abzuschließen. In den letzten zehn Jahren ist ein Rückgang der Zahl an bulgarischen Studierenden in Deutschland zu verzeichnen. Dieser Rückgang kann endogene und
44In
der Praxis wird eine Gebühr von 500 EUR pro Semester eingeführt, wobei in einigen Fällen aufgrund sozialer Härte die Befreiung von Studiengebühren beantragt werden kann.
45Die
Studiengebühren waren politisch umstritten und wurden schrittweise wieder abgebaut. Zum Wintersemester 2013/2014 hat sie auch Bayern als letztes Bundesland abgeschafft.
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
221
exogene Gründe haben: Endogen wirkt sich die Einführung der Studiengebühren in den meisten Bundesländern aus46; als eine exogene Ursache kann der EU-Beitritt Bulgariens gewertet werden. Nach dem EU-Beitritt und dem Inkrafttreten der Freizügigkeitsregelung mussten sich viele De-jure-Student*innen47 nicht mehr hinter dem Student*innenstatus ‚verbergen‘ und meldeten sich vom Studium ab.48 Eine Analyse der Entwicklung der Anzahl aller Studierenden aus Osteuropa untermauert diese These. Die Anzahl der Studierenden49 aus osteuropäischen EU-Ländern sinkt in den letzten zehn Jahren, die Anzahl der Studierenden aus osteuropäischen NichtEU-Ländern bleibt konstant oder verzeichnet eine leichte Zunahme (BMBF o. J.). Nach den Bestimmungen im Zuwanderungsgesetz im Jahr 2005 haben Personen, die ihr Studium abgeschlossen haben, das Recht, nach dem Ende des Studiums in Deutschland zu bleiben und Arbeit zu suchen. So ist die Motivation, das Studium zu verlangsamen nicht mehr vorhanden. Wenn man das Studium abschließt, hat man die Möglichkeit, einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erhalten. Dementsprechend ändert sich das Verhalten der bulgarischen Student*innen: Nach 2005 und insbesondere nach 2007 studieren sie möglichst schnell und zielstrebig; sie werden immarikuliert, nur wenn sie tatsächlich studieren und das Studium abschließen möchten.
46So wurden seit dem Jahr 2007 Studiengebühren in Höhe von bis zu 500 EUR pro Semester in den meisten Bundesländern eingeführt. Zahlreiche Ausnahmen und abweichende Regelungen machen es kompliziert, an dieser Stelle aufzuzählen, wie in welchem Bundesland die Entrichtung von Studiengebühren erfolgt bzw. wann sie abgeschafft wurden. 47Mit diesem Begriff werden Personen bezeichnet, die sich als Student*innen an einer deutschen Hochschule einschreiben und dadurch das Recht erwerben, sich in Deutschland aufzuhalten und erwerbstätig zu sein. Ihr primäres Ziel ist nicht ein Studium in Deutschland abzuschließen, sondern in Deutschland regulär oder irregulär einer im Vergleich zu ihrem Herkunftsland besser bezahlte Erwerbstätigkeit nachzugehen. 48Der Student*innenstatus in Deutschland war und ist mit zahlreichen sozialen Privilegien (z. B. günstige Semestertickets und Wohngelegenheiten, günstige Eintrittspreise in kulturellen Einrichtungen etc.) verbunden und garantiert den legalen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Ein ausländischer Student/eine ausländische Studentin darf bis zu 90 Tage im Jahr bzw. 180 Halbtage im Jahr während der vorlesungsfreien Zeit erwerbstätig sein. Dazu darf ein Student/eine Studentin bis zu 10 h in der Woche während des Semesters arbeiten. Durch diese Regelung bekam der Student*innenstatus in den 1990er und 2000er Jahren für Migrant*innen aus den osteuropäischen Ländern ein Türöffner zum deutschen Arbeitsmarkt. 49Gemeint sind die sogenannten „Bildungsausländer*innen“ d. h. Personen, die ihre Hochschulzugangsberechtigung außerhalb der BRD erworben haben.
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6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Bei der Wahl Deutschlands als Studienort ist auch eine starke ökonomische Motivation festzustellen. Einerseits kann man während des Studiums arbeiten, andererseits wird nach dem Studium ein beruflicher und finanzieller Erfolg erwartet. Deutschen Diplome sind „überall anerkannt“ (I 69).50 Grundsätzlich ist bei den interviewten Bulgar*innen das materielle Interesse stark ausgeprägt. Es kommt relativ selten vor, dass die bulgarischen Studierenden ein Fach studieren, „was Spaß macht“, „was ich mir immer gewünscht habe“, „was mich interessiert“ (I 63). Vielmehr wählen sie bewusst die Fächer, die ihnen vielleicht auch „Spaß machen“, aber auch eine materielle Prosperität versprechen (Wirtschaftswissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Jura, Psychologie etc.). Die geografische Nähe ist ebenfalls ein wichtiger Faktor für den Wahl des Studienortes – im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA, Kanada oder Australien, ist Deutschland geografisch leichter zu erreichen. Hinzu kommt das gute Image Deutschlands als Studienort. Schon im 19. Jahrhundert studierten viele Bulgar*innen in Deutschland (Endler 2006). Oft wird als Begründung genannt: „Deutschland hat eine gute akademische Tradition, alte und berühmte Universitäten“ (I 62). Neben den Arbeits-, Heirats- und Bildungsmigrant*innen sind auch andere Migrant*innengruppen festzustellen: 2010 lebten ungefähr 1300 Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit im Rentenalter in Deutschland. Die Anzahl der nicht volljährigen Kinder bulgarischer Staatsangehörigkeit betraf im Jahr 2010 ca. 6500. Im Jahr 2016 erhöhte sich die Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen, die das volljährige Alter nicht erreicht haben, auf 57.985. Die Anzahl der Personen mit bulgarischer Staatsangehörigkeit, die das Rentenalter erreicht haben und in Deutschland leben, betrug im Jahr 2016 4071 Personen (Statistisches Bundesamt o. J.).
6.6.2 Soziodemografisches Profil Eine sekundäre Analyse der vom Bundesamt für Statistik erhobenen Daten der bulgarischen Staatsbürger*innen untermauert, zumindest auf den ersten Blick, die These der Feminisierung der bulgarischen Migration nach Deutschland: Die Migration aus Bulgarien nach Deutschland war in den letzten Jahren zu hohen Anteilen eine Frauenmigration. Der Anteil der Frauen lag im Jahr 2006
50Die
bulgarischen Diploma sind de jure auch ‚überall anerkannt‘. Diese Tatsache wird allerdings von den bulgarischen Studierenden in Deutschland nicht berücksichtigt.
6.6 Soziologische Typologisierung der bulgarischen Migration …
223
bei 57,2 %, im Jahr 2007 bei 56 % und im Jahr 2008 bei 54,6 %. Die vertiefte Lektüre der Daten lässt allerdings eine zunehmende Erhöhung des Anteils an männlichen Migranten erkennen. Dieser betrug im Jahr 2009 46,8 %, der der Frauen 53,2 %. Im Jahr 2010 erhöhte sich der Anteil der männlichen Migranten aus Bulgarien auf 49,3 %; der Anteil der weiblichen Migrantinnen betraf 50,7 %. Diese Tendenz festigte sich in den darauffolgenden Jahren: Im Jahr 2011 betraf der Anteil der Migrantinnen aus Bulgarien 48,2 %, im Jahr 2012 sank er auf 46,5 %, im Jahr 2013 auf 45,6 %, im Jahr 2014 auf 45,3 %. Im Jahr 2015 erreichte der Anteil 45,5 %, während er im Jahr 2016 46 % betraf. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob es sich um eine dauerhafte Tendenzänderung des hohen weiblichen Anteils oder um ein temporäres Phänomen der Erhöhung der männlichen Migranten handelt. Zwei mögliche Erklärungsmuster für den hohen Anteil der bulgarischen Migrantinnen, die in Deutschland bis 2010 gelebt haben, können festgestellt werden. Die eine Sichtweise betont die Bedeutung der im Sozialismus staatlich etablierten Emanzipierungspolitik für die relativ hohe räumliche Mobilität der osteuropäischen Frauen. Der relativ hohe Anteil der Frauen ist nicht nur für die bulgarische Migration nach Deutschland typisch. Zum 31.12.2010 war die Zahl an weiblichen Migrantinnen von acht osteuropäischen EU-Beitrittsländern höher als die der männlichen, wobei nur der Anteil der ungarischen Frauen unter 50 % lag (Statistisches Bundesamt o. J.). Die Feminisierung ist besonders im Bereich der Bildungsmigration ersichtlich. Von allen osteuropäischen Studierenden51, die im Jahr 2009 an deutschen Hochschulen immatrikuliert wurden, waren 67 % Frauen. Bei den Studierenden aus Afrika lag der Frauenanteil hingegen bei 24 %, bei denen aus Asien und Amerika bei 40 % (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2010, S. 27). Die Tendenz der Feminisierung der bulgarischen Migration im Bildungsbereich bleibt auch nach 2010 erhalten. Im Studienjahr 2016/2017 beläuft sich der Anteil der weiblichen Studierenden aus Bulgarien an deutschen Hochschulen auf 61,45 %. Ein zweites Erklärungsmuster interpretiert den hohen Anteil der Migrantinnen aus Bulgarien nicht im Kontext der Emanzipationspolitik in Osteuropa, sondern als Bestätigung der vorherrschenden traditionellen Rollenbilder der Frau als Ehefrau und Mutter. Diese These wird von einem höheren Anteil der verheirateten bulgarischen Frauen mit deutschen Männern im Verhältnis zu den verheirateten deutschen Frauen mit bulgarischen Männern gestützt. Sie kann allerdings aufgrund der in Deutschland vorhandenen Datenschutzbestimmungen nicht vollständig
51Gemeint
sind die sogenannten „Bildungsausländer“.
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6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
überprüft werden. Auf der Grundlage der vorhandenen Daten kann nicht ermittelt werden, wie viele bulgarische Frauen und wie viele bulgarische Männer in der Zeit von 1989–2006 einen Antrag auf Familienzusammenführung bei der Deutschen Botschaft in Sofia gestellt haben und dadurch ihrem Ehepartner/ihrer Ehepartnerin gefolgt sind.52 Nach 2007 ist die Notwendigkeit, Familienzusammenführung zu beantragen, aufgrund der EU-Mitgliedschaft des Landes nicht mehr vorhanden. Lediglich die Anzahl der Eheschließungen zwischen deutschen und bulgarischen Staatsbürger*innen kann ermittelt werden. Die bulgarische Migration nach Deutschland ist relativ jung. Dies bezieht sich sowohl auf das Alter der Migrant*innen, als auch auf die Aufenthaltsdauer. Das Durchschnittsalter der in Deutschland lebenden bulgarischen Staatsbürger*innen lag im Jahr 2010 bei 33,2 Jahren (das Durchschnittsalter der Frauen lag bei 32,8 Jahren und das der Männer bei 33,6). Das Durchschnittsalter aller Migrant*innen in Deutschland lag im Jahr 2010 bei 39,6 Jahren. Im Durchschnitt halten sich die bulgarischen Staatsbürger*innen 6 Jahre in Deutschland auf. Im Vergleich dazu liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der in Deutschland lebenden Migrant*innen bei 18,9 Jahren. Wie erzählen die bulgarischen Migrant*innen von ihren eigenen Migrationserfahrungen in der Zeit von 1990–2007? Wie werden sie reflektiert?
6.7 Verdeckte Migration: Die bulgarischen Migrant*innen in Deutschland in der Zeit 1990–2007 Die folgende Analyse bezieht sich auf die Erzählungen der bulgarischen Migrant*innen, die in der Zeit 1990–2007 dauerhaft in Deutschland lebten oder mindestens ein Jahr gelebt haben. Bei der Auswertung werden die Erzählungen der mobilen Bulgar*innen, der Tourist*innen und Besucher*innen, der Personen, die kurzfristig auf Dienstreisen oder in unterschiedlichen Austauschprogrammen einen temporären Aufenthalt in Deutschland hatten, nicht berücksichtigt. Insgesamt wurden 25 Interviews mit bulgarischen Migrant*innen durchgeführt, die sich in dieser Periode länger als ein Jahr ohne Unterbrechung in Deutschland aufgehalten haben. Es wurden Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Frauen wie Männer, Menschen mit und ohne Bildungsabschlüsse, Verheiratete und
52Entsprechende
Anfragen wurden an das Auswärtige Amt Deutschlands verschickt. Eine Antwort der deutschen Botschaft in Sofia liegt vor.
6.7 Verdeckte Migration: Die bulgarischen Migrant*innen …
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Ledige interviewt und Menschen, die einen regulären oder irregulären Aufenthaltsstatus hatten. Durch die breit gestreute Auswahl der Interviewpartner*innen sollte ein möglichst breites Spektrum der Einwanderungsbiografien analysiert werden. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Feldstudie zusammengefasst. Aus der Perspektive der Bulgar*innen war Deutschland in den 1990er Jahren eine sehr attraktive Einwanderungsdestination. Bis 1989 waren die ausreisewilligen Bulgar*innen mit der Unmöglichkeit konfrontiert, ihr Land aufgrund politischer Einschränkungen zu verlassen. Nach 1990 ist die Ausreise aus Bulgarien einfacher geworden, wobei die Einreise nach Deutschland zu einem erheblichen Problem wird. Die Einreiserestriktionen bestehen nicht mehr in Bulgarien, sondern in Deutschland und in den deutschen Institutionen in Bulgarien z. B. bei der Deutschen Botschaft in Sofia. „Dort gab es zwei Gorillas. Zwei Bulgaren. Security-Menschen. Ich werde sie nie vergessen. Boyko und Lyubo. Und Boyko ist jeden Morgen zu uns gekommen. Wir warteten an der Schlange. Und jeden Morgen hat er zu uns geschrien: ‚Gehen Sie hinter das Gitter‘. Wie Tiere hat er uns angeschrien“ (I 69).
Die Anzahl der aus Bulgarien nach Deutschland kommenden Menschen in der Zeit von 1990–2001 ist relativ gering. Die freiwillige Rückwanderung ist praktisch nicht vorhanden: Zurück kehren nur die Personen, die es nicht geschafft haben, Fuß in Deutschland zu fassen – deren Visa nicht verlängert wurden, die keinen Arbeitsplatz gefunden haben oder die die schlechten Arbeitsbedingungen nicht akzeptieren wollten. Eine Mobilität zwischen Deutschland und Bulgarien ist in dieser Zeit nur eingeschränkt möglich und zwar nur für die Menschen, die gültige Einreisepapiere haben. Für die Irregulären gilt: Wenn man einmal Deutschland verlassen hat, weiß man nicht, ob man wieder einreisen darf. Das Visum wird einmal im Jahr verlängert und das ist der Zeithorizont, mit dem die meisten Bulgar*innen leben müssen. Länger als ein Jahr im Voraus kann nicht geplant werden. Durch diese restriktive Einwanderungspolitik bekommt Deutschland ein besonderes Image als ein sehr begehrtes Reiseziel. Diejenigen, die es geschafft haben, irgendwie in Deutschland zu bleiben, gelten per se als ‚erfolgreich‘, unabhängig davon, ob sie eine irreguläre Beschäftigung oder einen hoch angesehenen Beruf ausüben. „Als ich nach dem ersten Jahr für die Sommerferien zurück nach Bulgarien kam, das war im Jahr 1994, haben sie mich als eine Außerirdische angesehen. Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich nach Deutschland rieche, dass meine Kleidung nach Deutschland riecht. […] und es kommen
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6 Die bulgarische Migration nach Deutschland: Empirische Befunde …
Nachbarn und Bekannte zu dir und alle wollen dich berühren. Als wärst du nicht von dieser Welt“ (I 63). Die Schwierigkeit, mit denen die Migration nach Deutschland verbunden ist, begründet die schwierige oder gar unmögliche Rückkehr. Die Personen, die in den 1990er Jahren zurückgekehrt sind, werden als ‚Loser‘ und als Personen, die ‚es nicht geschafft haben‘, abgestempelt. Der Druck zu bleiben ist enorm groß. Symptomatisch sind die Worte, mit denen die Migrant*innen ‚das Bleiben in Deutschland‘ beschreiben: Man muss sich „irgendwie aufhalten“ („да се задържиш някак“), man muss „es aushalten“ („да издържиш“), man muss „die Zähne zusammenbeißen“ („да устискаш“). Man bleibt und hofft auf eine bessere Zukunft. „Du, wenn du hier bleibst und wenn du kämpfst dafür hier zu bleiben, kannst du dir irgendwie gar nicht vorstellen, auch heute nicht, zurückzukehren“ (I 18). Der ‚Kampf‘ um ‚hier zu bleiben‘ wird als das Schicksal bestimmend wahrgenommen und diese Wahrnehmung dauert bis heute an (das Interview wurde im Jahr 2016 durchgeführt). Man kann nicht zurück, denn man hat viele Bürden auf sich genommen, um in Deutschland zu bleiben. Und auch heute, wenn ‚das Bleiben‘ gar nicht mehr so wichtig ist – bei offenen Grenzen hat es an Bedeutung verloren – ist ‚die Rückkehr‘ nicht zu begründen. Sie ist schlicht und einfach nicht möglich. In der Zeit der geschlossenen Grenzen war die Abreise mit einem schwierigen Prozess des Sich-Verabschiedens verbunden. „Ich habe während der gesamten Fahrt nach Deutschland geweint. Damals sind wir mit Fernreisebussen gefahren. Ich kann mich erinnern, dass ich geheult habe bis wir in Österreich waren. Das ist gar nicht wenig“ (I 22).
Trotzdem ist der Verzicht auf die Möglichkeit zu migrieren nicht denkbar: „Ich hätte mich mein ganzes Leben lang gefragt, was passiert wäre, wenn ich doch migriert wäre“ (I 22). Die Motivation in dieser Zeit nach Deutschland zu migrieren ist vor allem materiell: Von allen interviewten Personen, die in den 1990 nach Deutschland gekommen sind, werden die Unterschiede im Lebensstandard zwischen den beiden Ländern betont. Auf dieser Grundlage wird die Bereitschaft, Hindernisse zu überwinden, begründet. „Meine Mutter hat mir bei der Abreise aus Bulgarien gesagt: ‚Dort, wo Du hingehst, leben die Menschen. Hier existieren wir nur‘“ (I 4).
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Die Schwierigkeiten, einzureisen und zu bleiben, erhöhen die Bereitschaft der Migrant*innen, viele Anstrengungen auf sich zu nehmen. So berichtet eine mittlerweile promovierte Ingenieurin, die ein eigenes Haus besitzt, über die Zeit ihres Studiums in Deutschland: „Wir alle haben Toiletten in Deutschland sauber gemacht. Es war sehr schwierig, aber ich habe es geschafft und ich habe keine Angst. Denn ich weiß – ich kann alles arbeiten. Ich habe als Security-Kraft, als Barkeeperin, als Reinigungskraft, als Lagerarbeiterin, als Verkäuferin in einem Handygeschäft und im Call-Center gejobbt. Mal mit und mal ohne Papiere. Auf den Weihnachtsmärkten übrigens auch. Auch als Hilfsarbeiterin auf verschiedenen Baustellen habe ich gearbeitet, aber das ist ja mein Fach […] So sind wir als Persönlichkeiten groß geworden, nicht nur ich, sondern auch die anderen Freunde. Wir sind starke Persönlichkeiten. Wir hatten keine Angst zu studieren und gleichzeitig zu arbeiten. Wir durften das nicht, doch wir haben es gemacht. Irgendwie haben wir es gemacht. Und das bleibt – wir sind starke Menschen. Wir sind eine starke Generation“ (I 19). Die Schwierigkeiten in der Anfangsphase der Einwanderung begründen die Entstehung und Verbreitung des sogenannten „Rückkehrmythos“53: Obwohl man weiß, dass man besser nicht zurückkehren sollte, sagt man sich, dass man ‚jederzeit‘ zurück könne – das verleiht Kraft, gibt das Gefühl einigermaßen unabhängig zu sein und zudem das notwendige Selbstvertrauen, ‚nicht alles mitmachen zu müssen‘ oder ‚immer ja zu sagen‘. „Die Deutschen können nicht zurück, wenn es ihnen nicht gefällt. Wir schon. Das ist ja unser Vorteil – das habe ich mir damals immer gesagt, wenn es knapp wurde.“ „Ich habe gewusst, egal was passiert, egal welche Schritte ich gehe, die Tore Bulgariens sind für mich immer geöffnet. Ich kann immer zurück. Das hat mich in den Jahren gehalten. Hat mir Mut gemacht“ (I 4).
Wie jeder Mythos ist auch dieser mit Widersprüchlichkeiten verbunden. De facto kann man nicht zurück, da man als ‚Loser‘ gelten würde, allerdings glaubt man an die Rückkehr als eine mögliche ‚letzte Rettung‘. „Ich habe mir immer gedacht, auch wenn etwas nicht funktionieren sollte, ich werde zurückkehren. Ich werde zu Hause sein bei meinen Freunden, bei meiner Familie. Es kann nichts schlimmes passieren“ (I 52).
53Zum
Begriff vgl. Bovenkerk (1974) sowie Pagenstecher (1994).
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Zu Beginn der Migration sind die Schwierigkeiten enorm. Aufgrund der Wiedervereinigung Deutschlands findet Anfang der 1990er Jahre auch eine erhebliche innerdeutsche Migrationsbewegung statt: Viele Ostdeutsche wandern nach Westdeutschland. Das verschärft die Wohnsituation in den westdeutschen Städten – die Wohnungssuche für Migrant*innen aus Osteuropa erweist sich als sehr schwierig. „Dieses Problem werde ich nicht vergessen: Am Anfang weiß man nicht, wo man übernachten soll. Und das hat Wochen gedauert. Es war sehr schwierig selbst ein Zimmer zu finden, wenn man kein oder fast kein Geld hat. Und ich habe mich ständig gefragt, wo ich übernachten werde. Am Ende hat alles geklappt. Aber es war sehr schwierig“ (I 15). „Wir wurden nicht mir offenen Händen empfangen. Die Wohnungen waren sehr rar. Aber die Euphorie des ersten Semesters hat dazu beigetragen, das Problem als irgendwie erträglich wahrzunehmen“ (I 19).
Die ersten Schwierigkeiten der neu Zugewanderten resultieren zum Einen aus der Wohnungskrise, die in den 1990er Jahren in Deutschland als Folge der Wiedervereinigung entstanden sind. Zum Anderen spielt auch die relative Geschlossenheit der deutschen Gesellschaft eine Rolle: Da die deutsche Gesellschaft in den 1990er Jahren weit davon entfernt war, sich als ‚Einwanderungsland‘ zu definieren, gab es keine ‚Integrationsprogramme‘ und keine ‚Willkommens-Angebote‘ für die Migrant*innen aus Osteuropa. „In den ersten Tagen war es sehr stressig. Ich wurde von einer Gastfamilie aufgenommen. Bei denen habe ich gelebt und mich um ihre Kinder gekümmert. So habe ich angefangen, die Sprache zu lernen“ (I 4).
Auch die finanzielle Last ist zu Beginn des Aufenthaltes sehr groß. Das liegt vor allem am großen Einkommensunterschied zwischen Bulgarien und Deutschland. „Zu Beginn, als ich angekommen bin, hatte ich kein Recht zu arbeiten. Ich durfte nur studieren. Wir durften 90 Tage im Jahr nebenbei jobben. Das war aber viel zu wenig. Es war extrem schwierig. […] Man lernt mit dem auszukommen, was man zur Verfügung hat“ (I 3).
Die Schwierigkeiten, mit denen die bulgarischen Migrant*innen in den 1990er Jahren konfrontiert werden, können systematisch zusammengefasst werden in: • Schwierigkeiten bei der Erstellung der Visa und bei der Organisation der Abreise aus Bulgarien • Schwierigkeiten bei der Verlängerung der Visa in Deutschland
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• Schwierigkeiten beim Ankommen, z. B. bei der Wohnungssuche • Schwierigkeiten bei der Anerkennung der nicht akademischen oder akademischen Abschlüsse • Schwierigkeiten bei der Organisation des Studiums • Schwierigkeiten bei der Beantragung der Arbeitsgenehmigungen • Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche • Sprachschwierigkeiten • Interkulturelle Konflikte und Missverständnisse; unterschiedliche Kommunikationskultur, Vorstellungen von Distanz und Nähe Aufgrund der Geschlossenheit der osteuropäischen Gesellschaften während des Kalten Krieges haben die meisten Bulgar*innen zu Beginn der 1990er Jahre keine genaue Vorstellung vom Leben in Deutschland. Berichte über die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung in Deutschland waren so gut wie nicht vorhanden. Auch die Erzählungen der in Deutschland lebenden Bulgar*innen waren nicht umfangreich und präzise. In der Regel berichteten sie nicht über die Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert wurden. Dadurch entstand und verbreitete sich ein übertrieben positives Bild des Westens und Deutschlands in der bulgarischen Öffentlichkeit. „Ich kenne bulgarische Immigranten meiner Generation, Freunde von mir, die Deutschland sehr stark anhimmeln. […] in dem Sinne, dass Deutschland als etwas ganz Besonderes wahrgenommen wird, insbesondere im Vergleich zu Bulgarien. […] Diese Einstellung ist prinzipiell sehr falsch, denn Deutschland ist ja sehr unterschiedlich“ (I 15). „Deutschland war für mich ein Land mit einem Kultcharakter“ (I 18). „In Bulgarien existiert die Einstellung, dass hier alles perfekt ist. […] Die Vorstellungen der Menschen in Bulgarien sind ganz komisch. Viele denken, dass wenn man hier ist, hat man automatisch alles: Arbeit, Wohnung und dass alles in Ordnung ist. Viele ahnen gar nicht, was es kostet, dass man als Ausländer überhaupt einen Job bekommt, dass man im Wettbewerb steht mit den Menschen, die hier geboren wurden, hier ihr ganzes Leben lang leben und gelernt haben“ (I 17).
Nicht nur Deutschland wird angehimmelt, auch die Bulgar*innen, die sich länger in Deutschland aufhalten, erhalten in der Wahrnehmung ihrer Freunde und Verwandten in Bulgarien einen besonderen Status – den des ‚erfolgreichen Migranten‘/der ‚erfolgreichen Migrantin‘. Und zwar, unabhängig davon, wie sie leben und was sie in Deutschland machen.
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„Ich habe das Gefühl, dass man uns auf ein Podest setzt, weil wir in Deutschland leben. Obwohl auch hier nicht alles gut funktioniert. Aber in Bulgarien denkt man, dass das Leben im Ausland immer besser ist. Es ist nicht immer so. Aber man denkt so in Bulgarien. Es kommt darauf an, was man aus seinem Leben macht. Es kommt darauf an, wie man sich fühlt. Aber die in Bulgarien – die denken, hier ist alles super“ (I 52).
Mit der Zeit ändert sich allerdings diese Einstellung. Für die Migrant*innen hat Deutschland immer weniger einen ‚Kultcharakter‘. Man wird mit dem Alltag konfrontiert und die erlebten Schwierigkeiten führen zu einer Umformulierung dieser übertrieben positiven Einstellung: „Ich bin mit einer etwas übertrieben positiven Vorstellung nach Deutschland gekommen. Dann wurde ich aber geerdet“ (I 18).
Die Schwierigkeiten bei der Ankunft stehen im direkten Zusammenhang mit dem sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapital der migrierenden Person. Am wenigsten problematisch ist die Lage der Heiratsmigrant*innen – die Ehepartner*innen und die Verwandten dienen als ‚Brückenbauer*innen‘ und ‚Türöffner*innen‘ zum neuen Alltag. Verwandte und Freund*innen, die bereits nach Deutschland migriert sind und in Deutschland leben, ermöglichen einen relativ einfachen Start, indem sie Wohnungsmöglichkeiten vermitteln und eine ‚Lotsenfunktion‘ erfüllen. Migrant*innen, die bereits vor der Einreise über Deutschkenntnisse verfügen, haben einen relativ einfachen Start, da sie sich im Alltag zurechtfinden können. Seit Anfang der 1990er Jahre ist es nicht nur technisch, sondern auch politisch möglich, Satellitenfernsehen in Bulgarien zu empfangen. Allerdings ist eine Satellitenanlage zur damaligen Zeit sehr teuer (damals umgerechnet ca. 1300 DM). Die Möglichkeit, deutsches Fernsehen zu empfangen, stärkt bei den potenziellen Migrant*innen den Grad der Informiertheit. Diese wird auch durch deutschsprachige Printmedien vermittelt. Es sind allerdings nur wenige Bücher in Bulgarien vorhanden, die die Spezifik der deutschen Gesellschaft beschreiben. Diese sind in den Bibliotheken des Goethe-Instituts oder in den Universitäten zu finden und beziehen sich auf eine Zielgruppe, die bereits Deutsch spricht und über das kulturelle Kapital, Bibliotheken zu nutzen, verfügt. Die Startschwierigkeiten sind typisch für die meisten Migrant*innen aus Bulgarien, die in den 1990er Jahre nach Deutschland kommen. Die meisten, die einreisen, haben rudimentäre Deutschkenntnisse und übertriebene positive Informationen über Deutschland; in der Regel haben sie keine Verwandte oder Freund*innen, die in Deutschland leben. Zumal in Deutschland Anfang der
6.7 Verdeckte Migration: Die bulgarischen Migrant*innen …
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1990 keine etablierte bulgarische Community vorhanden ist, die die neuen Migrant*innen hätte unterstützen können. Aufgrund der historischen Vorbelastungen der sozialistischen Zeit meiden die bulgarischen Migrant*innen, die in den 1970er oder 1980er Jahren nach Deutschland gekommen sind, den Kontakt zu den neu Zugewanderten. Anfang der 1990 sind keine Student*innenorganisationen, keine Facebook-Gruppen, keine Netzwerke und keine Firmen in Bulgarien vorhanden, die die Migrant*innen hätten beraten und die Einwanderung begleiten können. Die ersten bulgarischen Migrant*innen, die in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen sind, sind de facto Pionier*innen: Sie entdeckten eine neue Welt, die Wenigen bekannt war. Die Vernetzung dauert sehr lange – erst Mitte der 1990er Jahren entstehen die ersten Student*innen-Netzwerke, die zunächst informell sind und Anfang der 2000 als Vereine institutionalisiert werden. „Damals hatte ich niemanden, der mir sagen konnte, dass die RWTH eine der besten technischen Hochschulen auf der Welt ist. Die Absolventen dort gehören zu den besten Ingenieuren und Maschinenbau-Ingenieuren. Alle technischen Fächer in Aachen sind sehr gut […] es war sehr schwierig, da ich niemanden hatte, mit dem ich darüber sprechen konnte, wohin ich gehen soll, welchen Weg ich einschlagen soll. Jemand, der mir einen Rat gibt oder mir einfach die Hand reicht. Das wäre etwas, was ich gern geändert hätte, wenn ich gekonnt hätte […] Manchmal habe ich mich wie ein sturer Bock gefühlt, der versucht, eine Mauer einzureißen und in eine völlig falsche Richtung geht“ (I 19). „Damals hatte man in Bulgarien absolut keine Information über die Lage in Europa, über die Ereignisse. Es gab kein Internet. Man war nicht vorbereitet. Jetzt ist es etwas ganz anderes. Jetzt ist es wirklich einfach, vorbereitet nach Deutschland zu kommen“ (I 16). „Die Informationen, die wir in Bulgarien hatten, waren definitiv nicht genug“ (I 4). „Ich habe überhaupt keine bulgarischen Studierenden gekannt. Es gab keine. An der ganzen Uni gab es keine. Anfang der 1990er war es so exotisch, ein ausländischer Student in Deutschland zu sein“ (I 15).
Mit der Zeit ändert sich der Grad der Informiertheit und der Vorbereitung der Migration. Die bulgarischen Migrant*innen, die 10 Jahren nach 1989 einreisen, sind besser auf die Migrationshindernisse vorbereitet als diejenigen, die gleich zu Beginn der 1990er Jahren migriert sind. „Ich bin bei einer Freundin untergekommen. Sie war ein Semester früher hier als ich. Und sie hat sich um meine Unterlagen gekümmert, hat den Kontakt mit dem Akademischen Auslandsamt gepflegt. Und sie hat geprüft, ob ich tatsächlich an der Uni aufgenommen wurde. […] Sie hat sich um alles gekümmert, auch um
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ein Zimmer. Und dann hat sie mich zur Bank gebracht, um ein Konto für mich zu eröffnen. Sie hat mich auch begleitet, um zum Bürgeramt zu gehen und mich dort anzumelden. Das war echt eine große Hilfe. […] Und dann hat sie mir auch geholfen, mich auf die Deutschprüfung vorzubereiten“ (I 62).
Am besten vorbereitet sind die Absolvent*innen der deutschsprachigen Schulen in Bulgarien. Zum einen können sie Deutsch, zum anderen haben sie Informationen über das Leben in Deutschland. Allerdings ist der Anteil dieser Gruppe an der gesamten Gruppe der Migrant*innen aus Bulgarien gering. „Ich habe das Deutsche Gymnasium in Sofia besucht. 80 % der Absolventen kamen nach Deutschland. Manche gingen auch nach England oder in die USA. Wir waren sehr gut vorbereitet auf das Studium. So gut vorbereitet, dass wir uns so heimisch gefühlt haben, als hätten wir in Bulgarien studiert“ (I 64).
Eine der größten Herausforderungen, mit denen die bulgarischen Migrant*innen in der Zeit von 1990–2007 konfrontiert werden, ist die Verlängerung ihrer Aufenthaltstitel durch die zuständigen Ausländerbehörden. Das Erlebnis wird als ‚traumatisch‘ beschrieben; die Erfahrung wird als ‚diskriminierend‘ bezeichnet, da man aufgrund der Nationalität ‚anders behandelt‘ wird. Dieses Gefühl hat eine tiefe Prägung hinterlassen. „Dann habe ich Diskriminierung gespürt. Beim Visum. Es war so schwierig. So unangenehm. Ich hatte gute Kontakte. Gut, dass ich sie hatte. Ansonsten hätten sie mich hinausgeschmissen“ (I 18). „Ich habe immer versucht, dieses Gefühl zu unterdrücken und nach vorne zu gehen. Zu kämpfen. Diskriminierung, ja, bei der Erteilung von Unterlagen von der Ausländerbehörde“ (I 4). „In Deutschland habe ich mich nie diskriminiert gefühlt. Die Leute sind ok, die Kolleg*innen bei der Arbeit auch. Aber die Ausländerbehörde… da wurde man wie ein Tier behandelt. Man musste stundenlang warten, man wurde unhöflich empfangen. Wie ein Bittsteller kam ich mir vor. Und man hat jedes Jahr gezittert – vielleicht verlängern sie mein Visum nicht. Ja, das war diskriminierend“ (I 63).
Diese Erfahrungen gehen mit dem Gefühl einher, dass man nicht als gleichwertig behandelt wird. „Ich habe hier eingeschränkte Rechte. Ich kann mich nicht um normale Stellen bewerben. Da ich einen anderen Status habe, da ich Ausländer bin“ (I 15).
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Interviewte Personen, die in einem regulären Beschäftigungsverhältnis sind, berichten über die Erfahrung, dass sie Auseinandersetzungen mit ihren Arbeitgeber*innen gezielt vermeiden, auch wenn sie das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden. Bei der Austragung von Konflikten am Arbeitsplatz oder am Wohnort fühlen sie sich nicht gleichberechtigt. Ihnen fehlt es an Sicherheit. „Aus der heutigen Perspektive würde ich anders handeln, ich würde einen Rechtsanwalt engagieren. Und nicht so… Aber im Nachhinein bin ich froh, dass ich es irgendwie hingekriegt habe, in Deutschland zu bleiben. Ich habe die Kurve gekriegt und damals war das das Wichtigste“ (I 15).
Das Thema Diskriminierung ist sehr komplex; bei der Reflexion ihrer Erfahrungen verwenden die interviewten Personen den Begriff in einem alltäglichen und allgemeinen Sinne; diese Verwendung kann nicht die Komplexität der wissenschaftlichen Definitionen und Abhandlungen zum Thema berücksichtigen. Die Erfahrungen, die die interviewten Personen machen, sind sehr unterschiedlich, je nachdem, in welchem Bereich sie tätig sind. „Im akademischen Feld ist die Diskriminierung sehr selten; sie ist zumindest nicht explizit. Sie ist versteckt, wenn sie überhaupt vorhanden ist“ (I 17).
Die Diskriminierungserfahrungen der sozialen Akteur*innen, die in den durchgeführten Interviews zum Ausdruck gebracht werden, können analytisch in zwei Kategorien aufgeteilt werden: ‚selbst verursachte‘ und ‚fremd verursachte‘. Die ‚selbst verursachte Diskriminierung‘ ist laut den interviewten Personen auf die mangelnden Sprachkenntnisse zurückzuführen: „Ich habe mich zu Beginn diskriminiert gefühlt, wenn ich kein Deutsch gesprochen habe. […] Da wirst du nicht verstanden. Man kann sich nicht ausdrücken. Und die Leute werfen dich in einen Topf zusammen mit den „einfacheren“ („по-прости“) Menschen“ (I 61). „Wenn du nur mit Deutschen zusammenarbeitest und du der Ausländer bist, hast du ja einen Akzent. Und das stört offensichtlich. Das merkst du an den Blicken. Das ist vielleicht keine Diskriminierung, aber das spürt man. […] besonders in Gruppen, wo alle anderen Deutsche sind. Oder in den kleineren Städten, bei den älteren Menschen. Sie zeigen das. Vielleicht machen sie das, ohne es zu wollen, aber manchmal spürt man, dass man ein anderes Verhältnis zu dir hat, da du ja nicht zu denen gehörst“ (I 16).
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Die Ausgrenzung kann auch ‚fremdverursacht‘ sein: Die interviewten Personen machen ‚die Anderen‘, ‚die Deutschen‘ für die empfundene Ungleichbehandlung oder Diskriminierung verantwortlich. „Als ich studiert habe, habe ich mich diskriminiert gefühlt. Ich hatte sehr wenig Kontakt mit den deutschen Studierenden. Jetzt habe ich Kontakt zu nur zwei von denen. Aber seitdem ich im Berufsleben bin, werde ich nicht diskriminiert. […] früher habe ich mir gedacht, sie würden zu mir kommen und mir sagen: ‚Aus welchem Land kommst du? Was machst du? Kann ich dir helfen?‘ Aber keiner hat es gesagt. Keiner hat geholfen. Und ich habe mich sehr isoliert gefühlt. Ich würde sogar nicht ‚diskriminiert‘ sagen, sondern ‚isoliert‘“ (I 19). „Die Patienten sind Deutsche und sie haben ein negatives Verhältnis zu uns“ (I 4). „Bei der Wohnungssuche ist eine große Konkurrenz und Diskriminierung festzustellen […] Besonders wenn man alleine ist und eine Wohnung sucht. Nicht wenn die Firma für dich eine Wohnung sucht. Und wenn du eine besondere Wohnung haben möchtest, was die Lage oder die Größe betrifft. Die Diskriminierung ist nicht direkt, aber man spürt sie“ (I 4). „Bei der Arbeit nicht. Das habe ich immer an Deutschland gemocht – die Menschen werden nach ihren Fähigkeiten geschätzt und nicht danach, wo sie herkommen. Wenigstens dort, wo ich gearbeitet habe, war es so. Aber bei der Wohnungssuche. Und beim Akzent. Besonders wenn man den Akzent als ‚südeuropäisch‘ bestimmen kann. Ich wurde mit Sicherheit aus diesem Grund diskriminiert“ (I 3).
Der unsichere Aufenthaltsstatus festigt das Gefühl der Unplanbarkeit des eigenen Lebens. Aufgrund der restriktiven Visumspolitik Deutschlands ist es für die nicht EU-Migrant*innen praktisch unmöglich längerfristig zu planen und Entscheidungen zu treffen. Am sichersten ist der Status der Familienmigrant*innen: Nachdem sie drei Jahre in Deutschland leben (§ 31 AufenthG, bis 2005 galt die Frist von zwei Jahren; vgl. Bundestag 2004b), ist ihr Aufenthaltsstatus relativ gesichert – sie können ohne Einschränkung in Deutschland leben und arbeiten. Die Arbeitsmigrant*innen hingegen sollen fünf Jahre im Besitz einer Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung sein, bis sie einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten. Studierende sind bis 2005 gesetzlich gezwungen nach dem Ende des Studiums Deutschland zu verlassen; dementsprechend ist die Motivation, das Studium schnell zu beenden, nicht bei allen stark ausgeprägt. Die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen werden in der Regel jedes Jahr verlängert. Sollte man aber „zu lange“ studieren, bekommt man „Stress“ mit der Ausländerbehörde: Seminarscheine werden von den Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde geprüft und es wird nach Begründungen für das länger andauernde Studium gefragt. Diese strukturellen Zwänge untermauern das Gefühl der Unplanbarkeit.
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„Es gab Momente, in denen ich mir die Frage gestellt habe, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, denn alles war so schwierig. Diese Unsicherheit war so deutlich, so klar zu spüren“ (I 18). „Die neu Zugewanderten fragen mich, warum ich mir noch keine Wohnung gekauft habe und noch in Miete wohne, obwohl ich seit 15 Jahren hier bin und seit 10 Jahre arbeite. Wie kann ich ihnen das erklären? Wie kann ich ihnen erklären, dass sie mich jedes Jahr hinausschmeissen konnten und mein Visum nicht verlängern konnten, wenn z.B. der Arbeitgeber Pleite gegangen wäre oder mich entlassen hätte […] wir lebten in einer permanenten Unsicherheit. Die verkraftet nicht jeder“ (I 63). „Mein Visum wurde immer im Februar verlängert. Da findet immer der Kölner Karneval statt. Und jedes Jahr war ich beim Rosenmontagsumzug, Alaaf und so (lacht) und jedes Jahr habe ich mir gesagt – es könnte das letzte mal sein“ (I 16). „Mein Hausrat passte in zwei Koffern. Ich habe wie auf einem Campingplatz gewohnt. Ich habe gespart, ich habe mir kaum was geleistet. Denn ich habe nicht gewusst, wie lange es noch gut geht. Du weißt wirklich nicht, ob du im nächsten Jahr noch hier sein wirst“ (I 22).
Diese Entbehrungen prägen die eigene Mentalität. Dabei ist nicht wichtig, wie realistisch die Möglichkeit gewesen ist, ausgewiesen oder gar abgeschoben zu werden. Objektiv gesehen war sie möglicherweise nicht sehr groß, wobei die Wahrnehmung dieser Lebenssituation von den sozialen Akteuren als eine sehr unsichere, unplanbare und unkontrollierbare weit wichtiger als die objektive Dimension zu gewichten ist. Diese existenzielle Unsicherheit prägte das Leben dieser Generation – ein Leben in Sparsamkeit, Unsicherheit und teilweise in Planlosigkeit. Diese Unsicherheit bedeutet die Unmöglichkeit, die Migration als ein vollendetes Projekt wahrzunehmen und das Leben eines klassischen Migranten/ einer klassischen Migrantin, das sich durch eine mit der Zeit zunehmenden Distanzierung von der Herkunftsgesellschaft kennzeichnet, zu führen. Die empfundene Unsicherheit stärkt die Verbindung mit der Herkunftsgesellschaft. Letztendlich begründet diese Unsicherheit die intensiven transnationalen Einstellungen der bulgarischen Migrant*innen und motiviert sie, nicht nur den Kontakt zu den nächsten Verwandten und engsten Freund*innen zu unterhalten, sondern auch beruflich aktiv zu bleiben, das Studium in Bulgarien parallel zum Studium in Deutschland fortzusetzen und einen möglichst weiten Freundeskreis zu pflegen. In der Zeit des Sozialismus ist die Transnationalität aufgrund der politischen Trennung zwischen Ost und West nur eingeschränkt möglich gewesen. In den Jahren 1990–2007 gewinnt sie an Bedeutung und zwar nicht nur wegen der Öffnung der osteuropäischen Länder, sondern wegen der unsicheren Aufenthaltssituation, die aus der restriktiven Politik der westeuropäischen Länder resultiert.
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„Ich habe in Deutschland angefangen zu studieren, aber parallel dazu habe ich mein Studium in Bulgarien fortgesetzt. Ich habe es nicht abgebrochen. Ich habe das so gelöst, denn hier waren die Sachen ganz unsicher. Ich habe nicht gewusst, ob ich es schaffe mit dem Studium hier. Das waren die Zeiten, in denen ich ständig um die Visumverlängerung gekämpft habe, einen Job haben musste, um alles zu finanzieren. Dazu brauchte ich auch eine Arbeitserlaubnis, die auch jedes Jahr verlängert werden musste. Hätte ich keinen Job, hätte ich kein Geld gehabt. Und dann konnte ich nicht studieren. Und wenn ich meine Prüfungen nicht bestanden hätte, hätte ich ja mein Visum nicht verlängert bekommen. Denn sie (die Ausländerbehörde Hervorh. ML) haben geschaut, ob man voran kommt mit dem Studium. Man bekam Ärger, wenn es zu langsam ging. Es konnte aber nicht schnell gehen, denn ich musste ja arbeiten. Es war ein Teufelskreis. Deswegen habe ich auch in Bulgarien studiert. Als Fernstudentin. Das war meine Lebensversicherung […] und jetzt habe ich zwei Diplome – einmal aus Bulgarien und einmal aus Deutschland“ (I 18).
Mehrere interviewten Personen sichern sich auf dieser Weise ab und beenden ihr Studium mit einem bulgarischen und mit einem deutschen Diplom. Diese doppelte Belastung resultiert teilweise aus der Angst, dass man es in Deutschland nicht schaffen könnte, dass die bürokratischen Hindernisse viel zu hoch sind und dass man sein Studium bzw. die Anerkennungsverfahren nicht beenden kann. Das Ergebnis ist eine erzwungene Transnationalisierung, wie ich es nennen möchte. Aufgrund dieser empfundenen Unsicherheit und aufgrund der wahrgenommenen ‚Bedrohung‘, gezwungenermaßen nach Bulgarien zurückkehren zu müssen, sind die Kontakte mit den Freund*innen und Verwandten, die in Bulgarien leben, viel intensiver als sie sonst gewesen wären. Die Rückkehr nach Bulgarien ist ein ‚Plan B‘, eine mögliche Lösung für den ‚schlimmsten Fall‘; eine Option, die man gern vermeiden möchte, aber sich nicht sicher ist, ob man sie verhindern kann. „Zu Beginn hatte ich gar keine Finanzierung. In den ersten ein bis zwei Jahren. Und das war auch der Grund, häufiger nach Bulgarien zurückzukehren. Und ich habe immer dies und jenes gejobbt, was ich so gefunden habe. Aber es war schwierig etwas zu finden, wegen der Einschränkung, dass wir nur 10 Stunden in der Woche im Semester arbeiten durften. Für mich war nie klar, ob ich länger als 3–4 Monate in Deutschland bleiben kann“ (I 15).
Eine der größten Schwierigkeiten der Zugewanderten in den 1990er Jahren ist mit der Finanzierung des Alltagslebens in Deutschland verbunden. Da das Durchschnittseinkommen in Bulgarien in den 1990er Jahren deutlich niedriger war als das in Deutschland, konnten nur wenige bulgarischen Familien ihre Kinder dabei unterstützen, in Deutschland zu studieren, ohne arbeiten zu müssen. Allerdings war das Recht der bulgarischen Arbeitnehmer*innen, eine unselbstständige
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Erwerbstätigkeit aufzunehmen, stark eingeschränkt. Eine Einschränkung gab es auch für die deutschen Student*innen – sie durften nicht mehr als 20 h in der Woche arbeiten, zumal sie in der Regel von ihren Eltern unterstützt werden konnten. Für die Student*innen aus dem Nicht-EU-Ausland galt die Regelung, dass sie nicht mehr als 10 h in der Woche arbeiten durften – und das bei einer sehr geringen Unterstützung der Eltern. In der Praxis arbeiteten viele bulgarische Migrant*innen in einer Grauzone: „Er meldet mich an, das ich 10 Stunden arbeite. Das ist ja erlaubt. In der Tat arbeite ich 20 oder gar 30 Stunden. Ich kriege einen höheren Stundenlohn auf dem Papier. De facto arbeite ich mehr. So wurde das abgerechnet“ (I 15). „Ich bin hierher mit einem Stipendium gekommen […] das war aber das erste Jahr. Dann war das Stipendium zu Ende und ich hatte kein Geld. Ich musste arbeiten, in den 1990er Jahren brauchten wir aber eine Arbeitsgenehmigung. Auch das mit dem Visum war so schwierig. Du musst nachweisen, dass du Geld hast, damit du ein Visum bekommst. Aber wie verdienst du das Geld, wenn du nicht arbeiten darfst? […] und ich habe angefangen schwarz zu arbeiten. Selbst so einen Job zu finden, war nicht leicht. Ohne Genehmigung, ohne gar nichts. Schlecht bezahlt, ohne Versicherung. […] Dann musst du vor der Ausländerbehörde aber nachweisen, woher du das Geld hast. Ich habe behauptet, dass mir meine Eltern das Geld geben. Das hat aber nicht gestimmt. Wenn man das Einkommen meiner Eltern gesehen hätte, hätte man sofort gemerkt, dass das nicht stimmen konnte“ (I 18).
Eine weitere Herausforderung der in dieser Zeit migrierten Bulgar*innen ist die Anerkennung der Abschlüsse, die in Bulgarien erworben wurden. Dabei sind die bürokratischen Schwierigkeiten groß, unabhängig davon, ob es sich um ein Schul-, Ausbildungs-, oder Hochschuldiplom handelt. Diese Abschlüsse werden in der Regel nicht als gleichwertig angesehen bzw. die Gleichwertigkeit wird nur teilweise anerkannt. Folglich mussten die meisten Migrant*innen eine Festellungs- oder Kenntnisstandprüfung ablegen, bis sie die Genehmigung erhalten haben, ihren bereits in Bulgarien erlernten Beruf ausüben zu dürfen. Insbesondere bei den „reglementierten Berufe“ (z. B. Arzt/Ärztin, Krankenpfleger*in, Rechtsanwält*in, Lehrer*in, Apotheker*in, unterschiedliche Handwerkerberufe) war die Anerkennung mit viel Zeit und hohen Kosten verbunden. In vielen Fällen handelte es sich de facto um ein zweites Studium oder um eine zweite Ausbildung. Die Zeit dieser Anerkennung musste man selbst finanzieren bzw. nach Finanzierungsmöglichkeiten im privaten Bereich suchen. In der Regel arbeiteten die Migrant*innen in Berufen, für die sie überqualifiziert waren. Sie arbeiteten zum Beispiel als diplomierte Ingenieur*innen, Ärzte, Lehrer*innen oder Rechtsanwälte als Handwerkerinnen, Maler, Taxifahrerinnen, Essensauslieferer oder Kellnerinnen. Diese Beschäftigungen führten zu einer Minderung
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des sozialen Status, da die Berufe, die man ausgeübt hat, in der Aufnahmegesellschaft nicht angesehen waren und oft zum sog. „sekundären Segment des Arbeitsmarktes“54 gehörten. Bei den Bekannten, Verwandten und Kolleg*innen, die in Bulgarien lebten, war allerdings die Tatsache, dass sie in Deutschland Fuß gefasst haben und erwerbstätig sind, hoch angesehen. Die Kontakte in der Herkunftsgesellschaft federn die Tatsache der Statusverlust ab und erkennen den materiellen Zugewinn an. Dabei gewinnen diese Kontakte an Bedeutung. Im Vergleich zu ihrem vorherigen Einkommen in Bulgarien, verdienten sie selbst in diesen irregulären und prekären Beschäftigungsformen oft das doppelte und das dreifache. Zusätzlich gewinnen die Migrant*innen durch ihre Geldüberweisungen an Ansehen. Dabei verschweigen sie oft, unter welchen Umständen das Geld verdient wurde. Diese Anerkennung von Außen erweist sich allerdings oft als eine Art Teufelskreis. Man verzögerte den Studienabschluss, erreichte die Anerkennung der Zeugnisse nicht oder viel zu langsam. Dabei erreichten viele Migrant*innen ein Alter, in dem eine gute und erfolgreiche Karriere in ihrem erlernten Beruf nur bedingt möglich war. So waren viele Vertreter*innen dieser Generation sehr gut gebildet, in Bulgarien hoch angesehen, für bulgarische Verhältnisse sehr gut bezahlt, aber in Deutschland unterqualifiziert beschäftigt. Durch diese strukturellen Besonderheiten, die aus der restriktiven deutschen Migrationspolitik resultieren, entsteht das Phänomen der deklassierten Akademiker*innen, wie ich das nennen möchte. Damit sind Akademiker*innen gemeint, die unter ihrem sozialen Status leben, ihren Status teilweise verstecken, die für die Beschäftigungen, die sie ausführen, überqualifiziert sind, die ihre Migrationsabsichten verdecken, indem sie offiziell behaupten, dass sie ‚nur wegen des Studiums‘ in Deutschland leben würden. Sie leben nach ihrem Studienabschluss in Studentenwohnheimen, essen in Universitätsmensen, führen ein bescheidenes Leben und bewegen sich teilweise an den Grenzen der Irregularität. Das alles erfolgt mit dem Ziel ‚das größte Privilegium‘ zu erwerben oder zu behalten – in Deutschland ‚bleiben zu dürfen‘. Diese Lebensstrategie verspricht Erfolg, solange der Zuzug nach Deutschland schwierig ist und besonderen Genehmigungen unterliegt. Nach der Lockerung der Zugangsbestimmungen infolge des EU-Beitritts im Jahr 2007 erweist sich diese Strategie als problematisch. In einem sozialen Kontext, in dem Jeder/Jede nach
54Mit
diesem Begriff werden Arbeitsplätze bezeichnet, deren Arbeitsbedingungen schlecht sind, die Arbeit niedrig entlohnt und schlecht angesehen wird. Vgl. Piore (1979, S. 33 ff.).
6.8 Typologie der Motive der bulgarischen Migrant*innen
239
Deutschland ein- und auswandern kann, in dem die dauerhafte Migration durch die EU-Binnenmobilität ergänzt oder gar ersetzt wird, sinkt das Ansehen dieser Akademiker*innen massiv. Manchen geling es, neue Strategien zu entwickeln, ihre Pläne zu ändern und in ein anderes Land z. B. in die USA zu wandern; andere hingegen kehren nach Bulgarien zurück. Diejenigen, die in Deutschland bleiben, müssen neue Wege gehen. Ihr symbolisches Kapital scheint verbraucht zu sein.
6.8 Typologie der Motive der bulgarischen Migrant*innen In der Migrationsforschung ist die Motivation einer Migrationsbewegung, vor allem aus methodologischen Gründen, relativ schwierig zu analysieren. Die folgende Abhandlung hat einen explorativen und keinen repräsentativen Charakter. In der Migrationsforschung werden unterschiedliche Idealtypen bezüglich der Motivation der Migrant*innen gebildet. Der traditional-verankerte Typ stellt die Familiengründung und -versorgung in den Mittelpunkt seiner/ihrer Lebensplanung. Eine besondere Bedeutung für diesen Migrant*innentyp haben die verwandtschaftlichen Netzwerke. Dabei spielt das Phänomen der „Verpflanzung der Gemeinschaft“ (vgl. Heckmann 1992) eine wichtige Rolle. Der materialistische Typ hingegen stellt die materielle Selbstverwirklichung im Zentrum. Die Karriereplanung und -realisation sowie das materielle Wohlsein sind Kernpunkte der Lebenswirklichkeit. Die Lebensgestaltung des postmaterialistischen Typs zentriert sich auf die Selbstverwirklichung und auf seine/ihre Freiheit. Diese Idealtypen sind auf der Grundlage der vorhandenen Daten statistisch nicht zu verifizieren. Es kann jedoch angenommen werden, dass der materialistische und der traditionell-verankerte Typ häufiger als der postmaterialistische Typ vertreten sind. Auf die Frage, warum die Bulgar*innen nach Deutschland migrieren, scheint die Push-Pull-Theorie als Antwort am besten geeignet zu sein. Die meisten Bulgar*innen wandern nach Deutschland auf der Suche nach mehr und besser bezahlter Arbeit, nach Sicherheit und Lebensqualität und besseren Bildungsmöglichkeiten. Zu Beginn der 1990er Jahre ist die materielle Motivation der nach Deutschland wandernden Bulgar*innen sehr stark ausgeprägt. Auch für die Bulgar*innen, die in der Zeit 1990–2007 nach Deutschland einwandern, ist diese Motivation prägend. Grundsätzlich ist zwischen primären und sekundären
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Motiven zu unterscheiden. Die primären Motive haben die Personen zum Zeitpunkt der Migration. Sekundär sind die Motive, die sich im Zuge des längeren Aufenthaltes in Deutschland entwickeln. Die Bulgar*innen kommen nach Deutschland, um ihre finanzielle Situation zu verbessern und zwar unabhängig von Bildung, Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder Herkunftsort. Diese materielle Einstellung ist auch in der folgenden Periode (nach 2007) bestimmend und bei den Migrant*innen sehr verbreitet; sie wird aber durch nichtmaterielle (postmaterielle) Komponenten ergänzt. Dabei kann man nach 2007 eine zunehmende Diversifizierung nach Alter, Bildung, ethnischer Zugehörigkeit oder Herkunftsort feststellen. Wichtige Motive bei den Migrant*innen, die direkt nach 1990 nach Deutschland einwandern, sind die Möglichkeiten, „gut zu leben“ (I 4), „die Rechnungen bezahlen zu können“ (I 16), „normal zu leben und nicht einfach zu existieren“ oder „sich etwas leisten zu können“ (I 52). Konkret bedeutet das: eine eigene Wohnung im Einwanderungsland zu mieten, die Eigentumswohnung in Bulgarien zu behalten, sich ein Auto leisten zu können, in den Urlaub fahren zu können, ein Handy zu haben und „am Ende des Monats noch genug Geld“ (I 4) übrig zu haben. Die interviewten Personen, die Familien haben, betonen die Bedeutung von finanziellen Mitteln „für die Kinder“ (z. B. für Nachhilfe, für Schulreisen, Kleidung, Spielzeug, etc.). „Du weißt, wie es in den 1990en Jahren in Bulgarien war. Die wirtschaftliche Entwicklung und so. Das waren die schlimmsten Krisenjahre. Deswegen wollte ich nach Deutschland“ (I 16). „Alles hat damit angefangen, dass ich finanziell nicht in der Lage war, mein Studium in Bulgarien zu finanzieren. Ich konnte nicht studieren. Ich habe Architektur studiert an der UASG in Sofia und ich musste zusätzlich jobben. Das war aber nicht möglich, denn das Studium dauerte von morgens um 8 bis abends um 7. Und ich musste mein Studium abbrechen“ (I 52). „Irgendwie überleben. In Bulgarien war das nicht mehr möglich. Hier kann ich, auch wenn ich nur als Putzfrau arbeite, gut leben. Das Essen ist kein Problem. Die Heizung ist kein Problem. Auch ein Auto haben wir. Was will man mehr?“ (I 65).
Von allen interviewten Personen wird die Bedeutung der Geldüberweisungen nach Bulgarien hervorgehoben. Oft wird der Erfolg des Migrationsprojektes an den Summen gemessen, die man den Verwandten zur Verfügung stellen kann. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation in Bulgarien ist die Ausübung des eigenen Berufs beeinträchtigt:
6.8 Typologie der Motive der bulgarischen Migrant*innen
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„Außerdem ist Deutschland ein prosperierendes Land im Vergleich zu Bulgarien. Was kannst du als Arzt in Bulgarien machen? Und was kannst du alles hier machen?“ (I 66).
Auch die Möglichkeit, ein sicheres und ruhiges Leben in Deutschland führen zu können, wird genannt. Im Vergleich dazu biete Bulgarien diese Möglichkeit nicht. „Viele Leute, die nach Deutschland kommen, suchen etwas anderes. Sie suchen Sicherheit, Ruhe, Ordnung, ein besser funktionierendes System als das in Bulgarien“ (I 1).
Neben diesen materiell begründeten Motiven wird insbesondere von den besser gebildeten Migrant*innen und bei den Migrant*innen, die ein höheres Einkommen erzielen, das Ziel genannt, sich in ihrem Beruf weiter zu entwickeln und voranzukommen. Die Möglichkeiten des Berufsaufstiegs und der guten Karriereentwicklung spielen bei der Wahl nach Deutschland zu kommen eine Rolle. Mit der Sicherung des Aufenthaltsstatus und mit der Stabilisierung des materiellen Zustands werden auch sekundäre Motive wie die professionelle Entwicklung genannt: „Mit einem deutschen Diplom hast du eine größere Chance am Arbeitsmarkt als mit einem bulgarischen Diplom“ (I 16). „Die bulgarischen Arbeitnehmer*innen sind immer noch unzureichend bezahlt. Sie leisten das, was man auch hier leistet. Und in Bulgarien gibt es überhaupt keine Entwicklung in der Medizin, seitdem ich das Land verlassen habe. In diesen 15 Jahren ist nichts passiert. Die Medizin in Deutschland – da hat sich einiges geändert, nicht […] Die Kultur der Menschen, das Verhältnis zu den anderen Nationalitäten, das mitmenschliche Umgehen, die Pünktlichkeit der Deutschen und letztendlich das Gefühl, dass wenn du in der Karriere weiterkommen möchtest, Deutschland dir diese Möglichkeit gibt. Hingegen ist es in Bulgarien sehr schwierig, die Ziele zu erreichen, die du dir gesetzt hast“ (I 66). „Grundsätzlich ist das Leben in Deutschland viel besser organisiert als das Leben in Bulgarien. Ich will nicht gegen Bulgarien was sagen, aber wenn man sich professionell etablieren möchte, hat man hier eine viel größere Chance […] wenn ich mit meinen ehemaligen Kolleg*innen spreche und meine professionelle Erfahrung, meine Arbeitsweise, meine ganze Weltanschauung mit ihren vergleiche, ist der Unterschied sehr groß, riesengroß. Es tut mir echt leid, wenn ich Menschen sehe, die zweifelsohne sehr fähig sind, aber sie haben keine richtige Chance, sie haben keine Möglichkeit diese Fähigkeiten in Bulgarien weiter zu entwickeln. Obwohl manche sehr gute Maler*innen und Grafiker*innen sind“ (I 60).
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„Wenn man die Gehälter vergleicht, die eines Informatikers, der hier arbeitet und eines Informatikers, der in Bulgarien arbeitet, sieht man, dass der Unterschied groß sein kann. Die Besteuerung ist anders, die Preise der Dienstleistungen sind anders. In Bulgarien ist vieles günstiger. Wenn man also anders rechnet, kann man feststellen, dass man sogar einen schlechteren Lebensstandard hat als ein Informatiker, der in Bulgarien arbeitet. Wenn man auch die Restaurant- oder die Handwerkerpreise, z.B. Monteure, Wasserleitungstechniker, Gärtner, mitberücksichtigt, dann ist das so. Auf jeden Fall“ (I 1).
Bei Nachfrage erklärt die interviewte Person, dass der Lebensstandard in Deutschland aus seiner Perspektive doch besser ist – „die kommunalen Dienstleistungen, die Parkanlagen, die Schwimmbäder, die Strassen, die Infrastruktur als ganzes“ (I 1) seien besser. Das begründe die Wahl, weiterhin in Deutschland zu leben. Es sind die besseren Verdienstmöglichkeiten, die besseren Entwicklungspotenziale und die Perspektiven, die die Bulgar*innen motivieren, nach Deutschland zu kommen und in Deutschland zu bleiben. Neben den materiellen Motiven werden auch postmaterielle Einstellungen artikuliert. „Ich war hier mit meinem Vater. Wir waren an der Uni. […] dann ist bei mir der Wunsch entstanden eines Tages hier zu studieren. Dann habe ich angefangen mit 16 Deutsch zu lernen. Das war damals mein Traum – die deutsche Kultur, das Lesen deutscher Bücher“ (I 18). „In der Schule haben wir über Ostdeutschland gelernt. Und ich hatte Interesse an der Kultur.“ (I 16). „Der Lifestyle. Das ist es. Das ist das Gefühl frei zu sein, in den Flieger steigen zu können und überall hinfliegen zu können. In den Urlaub“ (I 19).
Auch die Gewohnheiten spielen eine wichtige Rolle für die Entscheidung in Deutschland zu bleiben. „Nach fünf Jahren in Deutschland stellte ich mir die Frage, kann ich zurück oder kann ich nicht zurück? Ich habe gemerkt, dass sich Bulgarien sehr geändert hat und dass ich es verlernt habe, in Bulgarien zu leben. Dass ich wieder lernen muss, dass ich meine Heimatstadt erneut kennenlernen muss. Das war irgendwie schockierend. Der Zufall hat eine Rolle gespielt, ich habe einen Job erhalten, ohne mich zu bewerben. Man hat mich eingeladen und ich habe beschlossen zu bleiben“ (I 69). „Nach acht Jahren habe ich mich daran gewöhnt hier zu leben. Ich hatte Freunde und das ist für mich das wichtigste im Leben. Und ich habe mich nicht so schlecht gefühlt, so dass ich zurückmusste. Es hat mir gereicht, dass ich ein-zweimal im Jahr zurück zu Besuch nach Bulgarien gehe“ („че се прибирам един два пъти в годината на гости“) (I 52).
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Der Satz ist sehr aufschlussreich, denn er verdeutlicht die innere Zerrissenheit der interviewten Person, die aus dem Leben zwischen zwei Welten resultiert. Die Aussage impliziert, dass sie, wenn sie nach Bulgarien fliegt, zurück geht. Das Verb, das genutzt wird, drückt die Rückkehr aus: („прибирам се“ „ich komme nach Hause“). Neben diesem Verb wird auch der Ausdruck „zu Besuch“ verwendet im Sinne, dass man zu Besuch geht („на гости“, „besuchen“). „Ich komme zu Besuch nach Hause“ lautet der Ausdruck, der in dieser Form in der bulgarischen Sprache nicht bekannt ist. Bei dieser Generation der bulgarischen Migrant*innen, die in der Zeit 1990– 2007 nach Deutschland gekommen sind und insbesondere bei denen, die bis 2001 migriert sind, begreift man die Migration als eine Lebensentscheidung. Man spricht, auch wenn die Grenzen zwischen Bugarien und Deutschland zum Zeitpunkt der Durchführung der Interviews im Jahr 2015 offen sind und keine Einschränkungen bestehen, über ‚gehen‘ oder ‚bleiben‘, über ‚hier‘ oder ‚dort‘. Es ist eine Migration, die für die Wahrnehmung der sozialen Akteure klassisch ist. Wenn die Migrant*innen die Wahl gehabt hätten, hätten sie sich, zumindest zum Zeitpunkt ihrer Einreise, für eine klassische Migration d. h. auch für die Perspektive, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, entschieden. Dadurch, dass diese Migrationsstrategie durch die spezifische Migrationspolitik Deutschlands verhindert bzw. erschwert wurde, sind migrationsbezogene Flexibilitäts- und Transnationalitätsformen entstanden, die zur Überwindung der permanenten Unsicherheit des eigenen Migrationsprojekts beigetragen haben. Die Transnationalisierung ist in diesem konkreten Fall eine Absicherungsstrategie und zugleich eine Kompensationsstrategie, durch die die Migrant*innen die fehlende Anerkennung am Zielort der Migration wettmachen. In den durchgeführten Interviews können Migrant*innenbiografien, die charakteristisch für die Zeit von 1990–2007 sind, hervorgehoben werden. Im Folgenden werden sie zusammengefasst. A. Der klassische Migrant bzw. die klassische Migrantin Der klassische Migrant (eingewandert nach Deutschland in der Zeit vor 1989) (I 32) kommt aus Sofia. Nach der Ableistung des Wehrdienstes in Bulgarien, bewirbt er sich um einen Studienplatz an einer bulgarischen Hochschule. Er wird aufgenommen. Zum Zeitpunkt der Bewerbung werden staatliche Stipendien für ein Studium in der DDR ausgeschrieben. Er bewirbt sich, bekommt das staatliche Stipendium nicht und kann aber trotzdem auf Kosten seiner Eltern in der DDR studieren. Die Genehmigung wird aufgrund der guten Beziehungen, die die Familie von I 32 hat, erteilt. Das Leben in der DDR ist schwierig. Zunächst muss I 32 in Leipzig Deutsch lernen. Im Anschluss an den Deutschkurs wird er an der
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TU Dresden immatrikuliert. Während des Studiums wird er von seiner Familie in Bulgarien unterstützt. Nach dem Ende des Studiums bekommt er eine Stelle in Ost-Berlin, heiratet eine westdeutsche Frau, die er in Berlin kennenlernt und zieht nach Westdeutschland um. Dort hat er mehrere Tätigkeiten – alle entsprechen seiner Qualifikation als Ingenieur. Er hat ein Kind, das aber kaum Bulgarisch spricht. Die Kontakte zu seinen Verwandten in Bulgarien sind während des Sozialismus sehr eingeschränkt. Er telefoniert mit seiner Mutter, schickt Briefe und Pakete mit kleinen Geschenken. Allerdings können ihn seine Eltern nicht besuchen und er selbst kann nicht nach Bulgarien einreisen. Nach der Wende kommt er ungefähr einmal jährlich nach Bulgarien, unterstützt die Verwandten mit Geldüberweisungen und hilft seiner Nichte dabei, in Deutschland Fuß zu fassen. Sein Bekanntenkreis ist sehr international, im engen Freundeskreis überwiegen Bulgar*innen. Zu den Bulgar*innen hat er ein ambivalentes Verhältnis – zum einen hilft er vielen Bulgar*innen dabei, in Deutschland anzukommen und sich zu integrieren, zum anderen ist er ihnen gegenüber grundsätzlich vorsichtig und teilweise auch distanziert. Zu den deutschen Bekannten hat er ein gutes, kollegiales aber ebenfalls distanziertes Verhältnis. Nach eigenen Angaben findet er die Deutschen „arrogant“. Er spricht sich deutlich gegen die kommunistische Diktatur in Bulgarien aus, ist aber politisch nicht aktiv – auch nach der Wende nicht. Er besitzt keine bulgarische Staatsangehörigkeit, ist dagegen deutscher Staatsbürger und beteiligt sich am politischen Leben in Deutschland. Wenn er im Ausland, z. B. in Spanien und Italien, ist, bezeichnet er sich bei Nachfragen als „Bulgare“. Mit Erreichen des Rentenalters migriert er nach Spanien, lässt sich dort nieder und hat mit seiner deutschen Rente ein gutes Auskommen. B. Der Bildungsmigrant bzw. die Bildungsmigrantin Die Studentin der 1990er Jahre (eingewandert nach Deutschland im Jahr 1994) (I 33) kommt aus Sofia. Sie hat das deutsche Gymnasium in Sofia abgeschlossen, studierte Wirtschaft an der Wirtschaftsuniversität in Sofia. Der DAAD fördert den Studentenaustausch und unterstützt den Partnerschaftsvertrag zwischen der Wirtschaftsuniversität in Sofia und der Universität einer mittelgroßen westdeutschen Stadt. (I 33) bewirbt sich 1994 erfolgreich für ein Stipendium beim DAAD. 1995 kommt sie nach Deutschland, zunächst für ein Jahr. Sie beschließt, auf eigene Kosten in Deutschland zu bleiben und dort das Studium abzuschließen. Parallel dazu studiert sie weiter als Fernstudentin an der Wirtschaftsuniversität in Sofia. In Deutschland studiert sie insgesamt 11 Jahre, da sie neben dem Studium arbeiten muss und nicht motiviert ist, das Studium schnell zu beenden. Die finanzielle Unterstützung der Eltern ist gering. Einzelne Prüfungen aus Bulgarien werden in Deutschland anerkannt, allerdings kostet
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es viel Zeit, das komplette Studium zu beenden. Das Verhältnis zu den Eltern, die in Bulgarien leben, ist intensiv, (I 33) unterstützt ihren jüngeren Bruder, der nach dem Abschluss des Deutschen Gymnasiums in Sofia nach Deutschland kommt und studiert. (I 33) besitzt seit 2009 die doppelte Staatsangehörigkeit. Politisch ist (I 33) nicht aktiv, allerdings ist sie im Rahmen verschiedener bulgarischen kulturellen Aktivitäten in Deutschland involviert, z. B. verbringt sie ihre Freizeit in einem bulgarischen Tanzverein. Ihr Freundeskreis wird von Bulgar*innen dominiert. Ihr Bekanntenkreis und der Kreis der Arbeitskollegen ist ausgesprochen international. Nach dem Studium bekommt (I 33) zunächst eine Praktikant*innenstelle bei einer großen deutschen Firma in einer westdeutschen Stadt. Daraus ergibt sich eine dauerhafte Arbeitsmöglichkeit. Die Arbeitsgenehmigung erhält (I 33) aufgrund des 2004 verabschiedeten Zuwanderungsgesetzes. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens fallen die Einschränkungen, die sich auf die Aufnahme einer nicht selbstständigen Beschäftigung beziehen, weg. (I 33) lebt in Deutschland, ist mit einem Bulgaren verheiratet und hat zwei Kinder. Der Student der 2000er Jahre (eingewandert nach Deutschland im Jahr 2004) (I 34) kommt im Jahr 2004 nach Deutschland. Er stammt aus einer bulgarischen Großstadt. In Deutschland beginnt er Deutsch zu lernen, legt erfolgreich die DSH-Prüfung55 ab und beginnt an einer westdeutschen Universität Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Während seines Studiums arbeitet er nur wenig, da er von seiner Familie in Bulgarien unterstützt wird. Die Familie besitzt u. a. ein kleines Restaurant und ein Gästehaus an der Schwarzmeerküste und ist für bulgarische Verhältnisse wohlhabend. Er schließt innerhalb von sechs Jahren sein Bachelor- und Masterstudium erfolgreich ab. Während des Studiums reist er nach Asien, um dort bei Messen und Ausstellungen zu arbeiten. In der Freizeit bewegt er sich fast ausschließlich in der bulgarischen Student*innencommunity. Er hat eine bulgarische Freundin, die in Bulgarien studiert. Er fliegt mehrmals im Jahr nach Bulgarien, um sie zu besuchen. Sie besucht ihn wiederum auch regelmäßig in Deutschland. Nach dem Ende des Studiums geht er endgültig nach Bulgarien, wohnt in seiner Geburtsstadt und übernimmt das mittelständische Unternehmen seiner Eltern. Er ist mit einer Bulgarin verheiratet und hat zwei Kinder. Der Arbeitsmigrant auf Studententicket (eingewandert nach Deutschland im Jahr 1999)
55Deutsche
Sprachprüfung für den Hochschulzugang.
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(I 36) stammt aus einer bulgarischen Großstadt. Im Jahr 1999 kommt er nach Deutschland und immatrikuliert sich als Student der Wirtschaftswissenschaften (BWL). In Bulgarien hat er bereits studiert und ein Diplom als Wirtschaftswissenschaftler erworben. Dieses wird aber nur teilweise in Deutschland anerkannt. Mit 27 beginnt er an der deutschen Universität, an der er immatrikuliert war, Deutsch zu lernen. Im ersten Jahr finanziert er sich durch das ersparte Geld aus Bulgarien. Er beginnt ein zweites Studium, das er mit einem „deutschen Diplom“ abschließen will. Dafür beginnt er zu arbeiten und verdient dabei das sieben bis zehnfache davon, was er zuletzt in Bulgarien verdient hatte. Während seines Zweitstudiums wohnt er in einem Studentenwohnheim, später in einer Student*innen-WG. Mit der Zeit ändert sich sein Ziel: Primär geht es nicht mehr darum, das Studium schnell abzuschließen, sondern den Studentenstatus möglichst lange zu behalten, um länger in Deutschland bleiben und arbeiten zu können. Nach der damals bis 2005 gültigen Gesetzeslage wäre er nach dem Ende des Studiums verpflichtet, Deutschland zu verlassen. Er verzögert sein Studium und verlängert seinen Studentenstatus, der ihm den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht. Der Zugang ist zwar eingeschränkt, die Einschränkungen lassen sich allerdings, besonders im Dienstleistungssektor, umgehen. Nach dem Beitritt Bulgariens in die EU im Jahr 2007 exmatrikuliert er sich, da er den Studentenstatus nicht mehr braucht, um seinen Aufenthaltsstatus zu sichern. Das Ziel, das Studium abzuschließen, wird endgültig aufgegeben, da er auch ohne Studium Arbeitsmöglichkeiten und ein gutes Auskommen hat. So bleibt (I 36) als ein Arbeitsmigrant in Deutschland. Er hat keine ständige und dauerhafte Beschäftigung; oft übernimmt er Gelegenheitstätigkeiten: Er kellnert, arbeitet als Lagerist oder im Catering- und Security-Bereich. Nach eigenen Angaben reicht ihm diese Art der Beschäftigung aus. Zurzeit lebt er mit einer Bulgarin zusammen, die jünger ist und in Deutschland studiert. Beruflich ist der Kolleg*innenkreis international. Die engsten Freundschaften pflegt er mit Bulgar*innen. (I 36) hat 2009 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Politisch ist er nicht engagiert. Die Biografie von (I 36) ist aufschlussreich, da er ein klassischer Migrant ist. Er ist mit der Absicht gekommen, dauerhaft in Deutschland bleiben zu können. Da dies nicht realisierbar war, hat er nach Möglichkeiten gesucht. Obwohl er nur im ‚sekundären Arbeitsmarkt‘ beschäftigt ist, kann er dies als ‚Erfolg‘ in Bulgarien verkaufen. Zum einen verdient er mehr als seine gleichaltrigen Freund*innen und Bekannte in Bulgarien, zum anderen wissen die Verwandten nicht genau, welcher Beschäftigung er nachgeht. Er erzählt, dass er „im Büro“ arbeitet – tatsächlich arbeitet er jedoch in Branchen, die nicht hoch angesehen sind. Seine Transnationalität ist nicht stark ausgeprägt, so ist er politisch nicht
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aktiv, obwohl er sich Anfang der 2000er Jahre für bulgarische Politik interessiert hat. Der Vergleich mit Gleichaltrigen aus Bulgarien hilft ihm, sich als ‚erfolgreiche Person‘ zu fühlen. Allerdings fällt der Vergleich mit den deutschen Gleichaltrigen und mit der jüngeren Generation der Bulgar*innen, die nach 2007 nach Deutschland einwandern, negativ aus. Der transnationale Doktorand (eingewandert nach Deutschland im Jahr 2000) (I 37) kommt aus einer bulgarischen Großstadt. Er hat sein Studium in Bulgarien abgeschlossen und kommt als Doktorand nach Deutschland. Im Rahmen seiner Promotion erhält er die Genehmigung der Agentur für Arbeit halbtags am Lehrstuhl seines Doktorvaters zu arbeiten. Die Doktorarbeit schreibt er auf Englisch, wohingegen seine Deutschkenntnisse während des gesamten Aufenthalts in Deutschland marginal bleiben. Während seiner Promotion wohnt (I 37) in einem Student*innenwohnheim und ist einer der wichtigsten Anker für bulgarische Studierende, die wie er in diesem Wohnheim wohnen. Er hat ein intensives Verhältnis zu seinen Eltern und unterstützt sie finanziell. Innerhalb von fünf Jahren schließt er seine Doktorarbeit erfolgreich ab, bleibt nach der Promotion noch zwei Jahre in Deutschland, heiratet seine Freundin aus China, die er in Deutschland kennengelernt hat und beschließt zusammen mit ihr nach Bulgarien zurückzukehren. Nach seiner Rückkehr arbeitet er an der Universität seiner Heimatstadt und unterhält rege Verbindungen mit seinem Doktorvater aus Deutschland: Sie schreiben zusammen wissenschaftliche Artikel und es findet ein Student*innen- und Dozent*innenaustausch zwischen der beiden Universitäten statt. Er kommt im Zuge dieser Austauschprogramme mehrmals für kürzere Aufenthalte nach Deutschland. Die Biografie von (I 37) ist aufschlussreich, da er ein transnationaler Rückkehrmigrant ist. Aus Sicht der klassischen Migrationsforschung wäre er als ‚nicht integriert‘ zu bezeichnen. Er spricht kein Deutsch, kommuniziert fast ausschließlich mit Bulgar*innen und heiratet eine nicht-deutsche Frau. Das Ende des Kalten Krieges und die europäische Integration Bulgariens nach 2007 ermöglichen eine Umgestaltung der Lebenspläne von (I 37). Geändert wird auch die Perspektive der Migrationsforschung, aus der Biografien wie diese interpretiert werden. Die Transnationalitätsforschung eröffnet die Möglichkeit, die Biografie von (I 37) in einem anderen Licht zu sehen: Er ist nicht als ‚nicht integrierter Migrant‘ oder als ‚nicht erfolgreicher Rückkehrmigrant‘ anzusehen, sondern als erfolgreicher Transmigrant. C. Der Arbeitsmigrant bzw. die Arbeitsmigrantin Die examinierte Krankenpflegerin (eingewandert nach Deutschland im Jahr 1999)
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(I 38) stammt aus einer bulgarischen Großstadt. Sie kommt im Jahr 1999 nach Deutschland. Sie hat eine Ausbildung als Krankenpflegerin in Bulgarien abgeschlossen und in ihrem Beruf in einem bekannten Krankenhaus in ihrer Stadt gearbeitet. Ihre Ausbildung wird nicht vollständig anerkannt, sodass sie einen Nachqualifizierungsstudiengang abschließen muss. Sie beginnt erst in Deutschland Deutsch zu lernen. In einem Studienkolleg erwirbt sie die Hochschulzugangsberechtigung. Die medizinische Ausbildung als Krankenpflegerin wird zwei Jahre später im Rahmen einer zusätzlichen Kenntnisstandsprüfung in Deutschland anerkannt. Sie schließt, zusätzlich zur Anerkennung, auch eine Hochschulbildung im Fach Pflegemanagement ab. Parallel dazu arbeitet sie in einem Krankenhaus als Krankenpflegerin und seit 2015 als Lehrbeauftragte an einer Hochschule, wo sie Pflegemanagement lehrt. 2001 heiratet sie einen griechischstämmigen Gastarbeiter. Dadurch lösen sich die akuten finanziellen Probleme während des Studiums und sie bekommt das uneingeschränkte Recht als Ehefrau eines EU-Staatsbürgers in Deutschland zu arbeiten. Aus dieser Ehe stammen zwei Kinder. Die Ehe wird 2015 geschieden. (I 38) kümmert sich in der ganzen Zeit um ihre Eltern, die in Bulgarien wohnen und beherbergt 2016 ihre Nichte, die aus Bulgarien nach Deutschland kommt, um ein Studium zu beginnen. Die Altenpflegerin (eingewandert nach Deutschland im Jahr 2002) (I 39) ist in Sofia geboren. Sie hat einen akademischen Abschluss in Physik und arbeitet als Physikerin in einem Forschungsinstitut in Bulgarien. Ihr Bruder heiratet Ende der 1970er eine Deutsche und zieht nach Hamburg. (I 39) lernt Deutsch, um mit den Verwandten ihres Bruders kommunizieren zu können. Nach der Wende (1989) verliert (I 39) ihre Arbeit, da das Institut geschlossen wird, sodass sie nach anderen Möglichkeiten suchen muss. Da bis 2001 die Einreise nach Deutschland schwierig ist, kann sie lediglich auf Einladung ihres Bruders einreisen. Nach der Aufhebung der Einreiseeinschränkung im Jahr 2002, erfolgt eine „verdeckte Migration“: (I 39) reist Anfang 2002 in Deutschland ein und bleibt ohne Visum in Deutschland. Für die Einreise benötigt sie zwar kein Visum, wobei sie nicht länger als drei Monate bleiben darf. Sie überschreitet diese Frist von drei Monaten. Sie verlässt jahrelang Deutschland nicht, da sie befürchtet, sie würde bei der Ausreise kontrolliert und ggf. ausgewiesen. Sie lebt bei ihrem Bruder und arbeitet als nicht-examinierte Pflegekraft im Bereich der Altenpflege im Haus eines alten Mannes. Sie macht täglich die Grundpflege, kauft ein, reinigt die Wohnung und bekommt dafür Geld. Ihre Wohnung in Sofia behält sie und erzählt in ihrem Bekanntenkreis in Sofia, dass sie in einem Labor arbeite. Nach 2007 legalisiert sie ihren Aufenthalt, mietet eine Wohnung, meldet sich behördlich an, beginnt eine Ausbildung und wird eine examinierte Pflegefachkraft. Sie beginnt regulär in einem Altenpflegeheim zu arbeiten, zahlt Steuern und Beiträge
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zur Sozialversicherung. Sie fährt mindestens zweimal im Jahr nach Bulgarien, renoviert die Wohnung in Sofia und kommt 2016 „für immer“ nach Bulgarien. Seit 2017 bezieht sie deutsche Rente, was ihr ein relativ gutes Auskommen in Bulgarien ermöglicht. D. Der transnationale Migrant bzw. die transnationale Migrantin Der Autohändler (permanent mobil zwischen Bulgarien und Deutschland in der Zeit 1992–2018) (I 48) arbeitet seit 1992 als Autohändler. Jede Woche pendelt er zwischen Bulgarien und Deutschland; die Autos werden von seinen Kund*innen in Bulgarien bestellt, von ihm in Deutschland gekauft und nach Bulgarien transportiert. (I 48) führt die Verhandlungen mit den Händler*innen, pflegt Verbindungen zu bestimmten Autohäusern. Er spricht Deutsch, liest deutsche Zeitungen und recherchiert in neuerer Zeit die Online-Anzeigen der Autohäuser. Seine Geschäftsverbindungen nach Deutschland beginnen in den frühen 1990er Jahren. Er nutzt die Kontakte seiner Tante, die vor 1989 einen Deutschen aus Frankfurt am Main geheiratet hat und dort lebt. Sie unterstützt (I 48) mit einer Summe, die er in den Erwerb des ersten Autos investierte. Auf den Reisen nach Deutschland hat er bei ihr übernachtet und sie hat für ihn die Verpflichtungserklärung unterzeichnet, mit der er ein Einreisevisum erhalten hat. Mit der Zeit nahm die Konkurrenz zu. Nach 2001, nachdem keine Einreisevisa für Deutschland mehr notwendig waren, war es für andere Bulgar*innen, die keine Verwandten in Deutschland hatten, nicht mehr kompliziert, nach Deutschland zu fahren und Autos zu kaufen. Auch größere Firmen, die mit Autotransporter Autos importieren, werden aktiv. Durch die Steigerung des Durchschnittseinkommens in Bulgarien nimmt der Bedarf, Gebrauchtwagen zu importieren, ab. (I 48) orientiert sich deshalb um. Er hat eine besondere Kund*innengruppe. Er importiert die Autos nach vorher vorgegebenen Parameter seiner Kund*innen, was ihn zu einem besonders gefragten Händler macht. Mittlerweile hat er ein umfassendes Netzwerk in Deutschland aufgebaut; es sind Menschen, die auf Honorarbasis für ihn Autos aussuchen und teilweise auch nach Bulgarien fahren. Die Biografie von (I 48) verdeutlicht, dass eine Transnationalität seit den 1990er Jahre möglich ist und praktiziert wird. Die Transnationalität ist nicht unbedingt mit einer dauerhaften Migration verbunden. E. Der Heiratsmigrant bzw. die Heiratsmigrantin Die Hausfrau (eingewandert nach Deutschland im Jahr 1991)
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(I 49) migriert im Jahr 1991 nach Deutschland. Sie heiratet einen Deutschen, den sie 1989 an der bulgarischen Schwarzmeerküste, am Sonnenstrand, kennengelernt hat. Sie hat in Bulgarien das Gymnasium abgeschlossen, hat keine Ausbildung oder Studium absolviert und spricht zum Zeitpunkt der Einreise kaum Deutsch. Mit ihrem Ehemann verständigt sie sich zu Beginn auf Englisch. In Deutschland beginnt (I 49) Deutsch zu lernen. Während ihr Ehemann arbeitet, kümmert sie sich um den Haushalt. Sie schließt eine Ausbildung ab, bekommt zwei Kinder und arbeitet seit Jahren auf 450 EUR (damals 600 DM) Basis bei einer Buchhandlung. Sie übernimmt die Aufgaben einer Hausfrau, ist zufrieden und führt nach eigenen Angaben ein glückliches Familienleben. Sie pflegt Verbindungen zu ihren Geschwistern und zu ihren Eltern nach Bulgarien, die sie regelmäßig besuchen. Sie unterstützt ihre Eltern finanziell; ebenso ihre Neffen, die 2014 nach Deutschland gekommen sind, um zu studieren. Sie hat die deutsche Staatsangehörigkeit, interessiert sich kaum für Politik und verfolgt keine Nachrichten aus Bulgarien. Deutschland ist ihr Lebensmittelpunkt. Ihre Kinder sprechen Bulgarisch, wobei sie die kyrillische Schrift nicht lesen können. Einmal im Jahr oder seltener fahren sie nach Bulgarien. Ein besonderes Interesse zu Bulgarien haben sie nicht; für sie ist Deutschland ihre „Heimat“. Die Biografie von (I 49) verdeutlicht, dass die traditionellen Rollenvorstellungen nicht an Bedeutung verloren haben. (I 49) hat transnationale Verbindungen zu ihren Verwandten in Bulgarien, doch ihr Leben fokussiert sich primär auf Deutschland. (I 49) ist eine klassische Migrantin. Dadurch, dass sie nie Probleme mit dem Aufenthaltsstatus und durch ihre Familie eine sehr starke Anbindung an Deutschland hatte, konnte sie die transnationale Verbindung zu den bulgarischen Verwandten auf den engsten Familienkreis einschränken. Eine transnationale Verbindung außerhalb der familiären Verhältnisse hat sie nicht. F. Der Asylmigrant bzw. die Asylmigrantin Die Asylmigrantin (eingewandert nach Deutschland im Jahr 1994) (I 50) kommt aus Sofia. Sie hat dort deutsche Sprachkurse besucht und wollte Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland migrieren. Da keine anderen Möglichkeiten vorhanden waren (I 50 hatte keine Verwandten in Deutschland und hatte auch keine Mittel, um ein Studium aufzunehmen), migrierte sie als Asylbewerberin nach Deutschland. Sie stellte einen Antrag auf Asyl und lebte 11 Monate in einem Asylaufnahmezentrum. Ihr Antrag wurde geprüft und im Rahmen des Asylkompromisses abgelehnt. In der Antragszeit knüpft (I 50) Kontakte zu Deutschen, beginnt irregulär im Gastronomiebereich zu arbeiten. Dort lernt sie ihren Freund kennen, den sie später heiratet. Für sie ist die Eheschließung die einzige Chance in Deutschland zu bleiben, nachdem ihr
6.9 Zusammenfassung
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Asylantrag abgelehnt wurde. Es handelt sich um eine arrangierte Ehe. Ihr Ehemann profitiert von der Ehe steuerlich. Das Ehepaar bleibt fünf Jahre verheiratet. Sie ist in der gleichen Wohnung angemeldet, wobei (I 50) und ihr Ehemann nicht zusammen wohnen. Nachdem (I 50) die unbefristete Aufenthaltserlaubnis und Arbeitsgenehmigung erhält, lässt sie sich scheiden. Mit ihrem Ehemann bleibt sie gut befreundet.
6.9 Zusammenfassung 1. Die biografischen Wege der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland, die in der Zeit von 1990–2007 migriert sind, unterscheiden sich wesentlich von den Migrationsverläufen der in der Zeit von 1945–1990 migrierten Personen. 2. Diese Unterschiede sind vor allem durch das Ende des Kalten Krieges und durch die daraus resultierende Öffnung des Ostblocks bedingt. Die Möglichkeiten, Bulgarien regulär zu verlassen, nehmen nach 1989 zu. Grundsätzlich hat im Zeitraum von 1990–2007 jeder Bulgare/jede Bulgarin das Recht, das Land zu verlassen. Allerdings steht diese Möglichkeit mit dem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital der Ausreisewilligen im Zusammenhang. De facto kann aufgrund der finanziellen Einschränkungen nicht jede/r das Land verlassen. Auch die Bereitschaft der westeuropäischen Länder, Osteuropäer*innen aufzunehmen, ist eingeschränkt. Die Befürchtung, dass die Zuwanderung bei einer Öffnung der Grenzen erheblich zunehmen wird, ist zu Beginn der 1990 Jahre groß. Insbesondere Deutschland begreift sich nicht als Einwanderungsland. Dementsprechend wird die Ausstellung von Einreisegenehmigungen erschwert und bürokratisiert, Eingliederungsunterstützung nur ‚ethnisch deutschen‘ Aussiedler*innen ermöglicht. Eine Integrationspolitik wird nicht betrieben. 3. Die ausreisewilligen Bulgar*innen haben die Wahl, sich an der US-amerikanischen Greencard-Lotterie zu beteiligen und ggf. dadurch die Genehmigung zu erhalten, in die USA einzureisen oder die Lücken in der Gesetzgebung der westeuropäischen Länder zu nutzen. So begreifen sich die in dieser Zeit nach Deutschland eingewanderten Bulgar*innen nicht als ‚Migrant*innen‘, die dauerhaft nach Deutschland umsiedeln, obwohl dies ihre primäre Absicht ist. Allerdings haben die meisten Bulgar*innen einen befristeten Aufenthaltsstatus – nach Deutschland reisen sie als Asylbewerber*innen, Student*innen, Heiratsmigrant*innen, Mitarbeiter*innen der bulgarischen Botschaft und der Handelsvertretungen und
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in der Ausnahme als Erwerbstätige, die ihren Beruf ausüben. Aufgrund ihrer Motivation lassen sich die meisten Bulgar*innen als Arbeitsmigrant*innen bezeichnen. Da allerdings in dieser Periode eine Arbeitsmigration aus deutscher Sicht nicht erwünscht ist, ‚verpackt‘ man die eigentliche Motivation und sucht nach anderen, legitimen Möglichkeiten, um nach Deutschland einzuwandern. Aus diesem Grund kann in dieser Periode die bulgarische Migration nach Deutschland als eine ‚verpackte‘ oder ‚verdeckte Migration‘ bezeichnet werden: Sie zeigt sich in der Öffentlichkeit nicht als eine dauerhafte Immigration, sondern betont ihren temporären Charakter. Kaum ein/eine bulgarischer Migrant/bulgarische Migrantin wagt zu behaupten, er/sie würde ‚für immer‘ in Deutschland bleiben wollen. So bleibt die bulgarische Migration für die deutsche Öffentlichkeit ‚unsichtbar‘. 4. Dieser strukturelle Makrorahmen verursacht eine Unsicherheit und eine Unmöglichkeit, das eigene Leben zu planen bzw. frei zu gestalten, was für die bulgarischen Migrant*innen, die in dieser Zeit nach Deutschland kommen, typisch ist. Wiederum bedingt diese empfundene Unsicherheit die Notwendigkeit, einen intensiven Kontakt im privaten, sowie im beruflichen Feld, nach Bulgarien zu pflegen. So sind die bulgarischen Migrant*innen strukturell gezwungen, einen hohen Grad an transnationalen Bindungen zu pflegen, obwohl sie, insofern sie mehr Sicherheit gehabt hätten, den Lebensmittelpunkt lieber nach Deutschland verlagert und auf die Transnationalität verzichtet hätten. 5. Die Transnationalität ist aus der Perspektive der sozialen Akteure heraus zwar notwendig; die Pflege transnationaler Kontakten wird allerdings von den deutschen Behörden erschwert. Aufgrund der Einreiseeinschränkungen ist es für die Migrant*innen schwierig, Besuch zu empfangen. Die Besucher*innen benötigen ein Besucher*innenvisum. Bedingungen für den Erhalt des Besucher*innenvisums sind die Nachweise über ein ausreichendes Einkommen, ein ausreichender Wohnraum der einladenden Person und darüber, dass die eingeladenen Personen nicht länger in Deutschland bleibt, als ihr Visum es gestattet. Diese Hindernisse verstärken das Gefühl der Trennung und die klare Markierung von ‚hier‘ und ‚dort‘, ‚kommen‘ und ‚gehen‘, auch wenn zwischen Bulgarien und Deutschland keine unüberwindbare ‚Kluft‘ wie in der vorherigen Periode (1945–1989) vorhanden ist. 6. Die Anzahl der bulgarischen Migrant*innen ist in der Zeit von 1990–2007 relativ gering. Sie erhöht sich trotz der Einschränkungen bei der Einreise ständig. Nur wenige verlassen Deutschland freiwillig und kehren nach Bulgarien zurück oder machen sich auf den Weg in ein anderes Land. Die freiwillige Entscheidung, Deutschland zu verlassen, resultiert in dieser Zeit
6.9 Zusammenfassung
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vor allem aus persönlichen Gründen, z. B. Ehe, Freundschaft oder verwandtschaftliche Verpflichtungen. Eine berufsmotivierte Auswanderung ist sehr selten und kommt vor allem bei Informatiker*innen, die in den USA einen Arbeitsplatz finden, infrage. Die unfreiwillige Entscheidung, Deutschland zu verlassen, resultiert aus dem Misserfolg des eigenen Einwanderungsprojekts: Personen, die keinen Arbeitsplatz finden oder ihren Arbeitsplatz verlieren; Personen, die ihr Studium beenden und nicht in der Lage sind in Deutschland nach dem Studium zu bleiben; Personen, die die Dauer ihres Visums überschritten haben und von den Behörden gezwungen wurden, Deutschland zu verlassen, schlagen diesen Weg ein. 7. Eine Mobilität zwischen Bulgarien und Deutschland ist in dieser Zeit nur eingeschränkt möglich. Sie ist zu teuer, logistisch kaum zu bewältigen und die Möglichkeit der Wiedereinreise, insofern das Visum nicht rechtzeitig verlängert wurde, nicht gegeben. Das gilt insbesondere für die Zeit bis zum Jahr 2001 – die bulgarischen Staatsbürger*innen brauchen zu dieser Zeit auch zu touristischen Zwecken ein Einreisevisum. Die Einwanderung und die Auswanderung werden als ‚Schicksalsentscheidungen betrachtet. Trotzdem sind Formen der Mobilität, auch wenn sie eine Ausnahme sind, vorhanden. Insbesondere im Bereich der Wissenschaft, aber auch bei der saisonellen Arbeit, im Bereich des Autohandels, der Logistik, der Diplomatie oder der Journalistik werden Formen der Mobilität praktiziert. 8. In der Zeit von 2001–2007 ändert sich diese Einstellung zur Rückkehr. Die Überlegung zurückzukehren ist nicht mehr ‚exotisch‘ und fremd. Sie ist auch nicht mehr mit dem Stigma verbunden, dass man es ‚nicht geschafft‘ habe, sondern wird als eine legitime Möglichkeit der Lebensgestaltung sowohl von den Rückkehrer*innen als auch von der bulgarischen Öffentlichkeit empfunden. 9. Da in der Zeit von 1990–2007 der Zugang zu Deutschland und zum ‚Westen‘ eingeschränkt bleibt, bekommen Deutschland und ‚der Westen‘ ein idealisiertes Bild bzw. das Image eines ‚Verheißungslandes‘. Über das Leben in Deutschland berichten die Migrant*innen überwiegend Positives. Da es schwierig ist, in Deutschland zu bleiben, ist es nicht denkbar, sich zu beschweren und über den Misserfolg zu erzählen. Auch wenn das eigene Migrationsprojekt stark von den primären Absichten abweicht, ist es notwendig, dieses als erfolgreich zu ‚verpacken‘ und in Bulgarien als erfolgversprechend darzustellen. Die Anerkennung der Verwandten und Bekannten in Bulgarien haben eine wichtige Bedeutung, besonders für die Migrant*innen, die überqualifiziert sind und in schlecht bezahlten und wenig angesehenen Berufen arbeiten. Die wichtigste Quelle ihrer Anerkennung ist transnational:
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sie kommt aus Bulgarien, denn bei einem direkten Vergleich mit Gleichaltrigen aus Deutschland würden sie schlechter abschneiden. Im Vergleich zur vorherigen Periode ist der Kontakt mit den Verwandten und Freunden, die in Bulgarien leben, möglich und relativ einfach zu pflegen. Dieser Kontakt gibt den Migrant*innen Sicherheit und Anerkennung. Aufgrund der Tatsache, dass man sich in Deutschland aufhält, wird man zu ‚etwas Besonderem‘. Der subjektiv empfundene Status wird erhöht. Mit steigender Anzahl an bulgarischen Migrant*innen, die dauerhaft in Deutschland leben, und mit der Heterogenität der Migrant*innenbiografien werden die Erzählungen über Deutschland realistischer und vielschichtiger. 10. Die Erfolgsvorstellungen der in Deutschland lebenden Bulgar*innen stehen in einem Zusammenhang mit dem Zeitraum der Einreise. Eine Migration wird in der Zeit von 1990–2001 als erfolgreich angesehen, wenn sie zur Festigung des Aufenthaltsstatus führt. Die Heiratsmigration oder die Arbeitsmigration werden in diesem Sinne als erfolgreicher als die irreguläre Migration oder der temporäre Status als Student/Studentin angesehen. Nach 2001 und insbesondere nach 2007 verändern sich die Erfolgsvorstellungen: Die zu dieser Zeit eingewanderten Personen bewerten die Möglichkeiten der Mobilität und der Flexibilität höher als den dauerhaften Aufenthaltsstatus. 11. Aufgrund der Restriktionen bei der Einreise und Gestaltung des Aufenthaltes dominiert bei den bulgarischen Migrant*innen das Gefühl, nicht gleichwertig behandelt zu werden. Dieses Empfinden ist insbesondere in Kontaktsituationen mit Behörden (mit der Ausländerbehörde, mit der Agentur für Arbeit etc.) oder bei der Wohnungssuche stark ausgeprägt. 12. In der Zeit von 1990–2007 ist bei den bulgarischen Migrant*innen in Deutschland eine relativ starke soziale Homogenität festzustellen. In den 1990er Jahren ist die soziale Schichtung in Bulgarien zwar vorhanden, aber immerhin nicht vorherrschend. Diejenigen, die in der Lage sind nach Deutschland zu reisen, gehören zu den jungen, risikofreudigen und/oder besser gebildeten Bulgar*innen. Allerdings sind auch bei ihnen die finanziellen Möglichkeiten eingeschränkt. In der Regel erhalten die Migrant*innen für den Start ihres Migrationsprojekts eine Unterstützung von der Familie; danach müssen sie in der Lage sein, für sich auszukommen und ihre Familie in Bulgarien finanziell zu unterstützen. Diese relative Homogenität der 1990er Jahre ändert sich langsam. Zu Beginn der 2000er Jahre kommen Studierende aus Bulgarien nach Deutschland, deren Eltern in der Lage sind, ihr Studium zum größten Teil oder sogar komplett zu finanzieren. Die ersten Abschlüsse führen zu gut bezahlten Arbeitsverträgen. Parallel migrieren neben den besser gebildeten und einkommensstärkeren
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Bulgar*innen zunehmend auch gering qualifizierte und ärmere Personen. Die bulgarische Migration wird zunehmend heterogener, mobiler und transnationaler.
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7
Die bulgarische Migration nach Deutschland nach 2007: Individualisierung der Motive und Pluralisierung der Community
Zusammenfassung
Im Kap. 7 werden die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Bulgarien nach dem EU-Beitritt des Landes im Jahr 2007 thematisiert. Es wird auf die Besonderheiten und Formen der bulgarischen Migration und auf die Veränderungen in den individuellen Migrationsprojekten der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland eingegangen. Phänomene, wie die Pluralisierung der bulgarischen Community in Deutschland stehen im Mittelpunkt der Analyse. Schlüsselwörter
EU-Beitritt · Migration · Mobilität · Freizügigkeit
Im Folgenden werden zunächst die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Bulgarien nach 2007 skizziert. Im Anschluss werden zentrale Dimensionen der bulgarischen Migration nach Deutschland nach 2007 auf Grundlage der biografischen Reflexionen der interviewten Personen herausgearbeitet.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_7
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7.1 Gesellschaftliche und politische Veränderungen nach 2007 Das Jahr 2007 ist ein Meilenstein in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der modernen bulgarischen Gesellschaft. Zum 01.01.2007 wird Bulgarien zum Mitglied der Europäischen Union (EU). Diese Tatsache hat eine besonders wichtige Bedeutung sowohl für die Entwicklung Bulgariens als auch für die Möglichkeit der freien Fortbewegung, Mobilität und Migration der bulgarischen Staatsbürger*innen. Der EU-Beitritt Bulgariens erfüllt die Idee der europäischen Zugehörigkeit Bulgariens. Europa hat im kollektiven Bewusstsein der Bulgar*innen eine besondere Bedeutung: Es ist ein Teil der bulgarischen identitätsstiftende Mythologie (Liakova 2006; Liakova 2013). Aus der Perspektive des Sozialkonstruktivismus sind die politischen Mythen Diskurse, durch die das „Eigene“ glorifiziert und vom „Fremden“ abgegrenzt wird (Francois und Schulze 1998). Sie haben eine narrative und eine affektive Komponente. Durch diese erhalten die Mythen eine Bedeutung für die „Ordnung, die Integration und Identitätsbildung politischer Gemeinschaften“ (Speth 2000, S. 12). Sie sind „narrative Symbolsysteme“ (ebenda), die „von verschiedenen Deutungseliten benutzt [werden], um Machtpositionen gegen Einwände zu immunisieren oder gewünschte Entwicklungen voranzutreiben“ (ebenda). Sie dienen „der Orientierung des politischen Verbandes in Vergangenheit und Zukunft“ (ebenda). Unter bestimmten Umständen können sich die politischen Mythen verselbstständigen und unabhängig von der Intention der sozialen und politischen Elite agieren (ebenda). Die politischen Mythen sind emotional aufgeladene Bilder, die auf einer Interpretation realer oder fiktiver historischer Ereignisse beruhen; ferner werden diese Bilder politisch instrumentalisiert und in den symbolischen Auseinandersetzungen im politischen Feld1 angewendet. Der Mythos über Europa ist identitätsstiftend – er beantwortet die Fragen: Wer sind wir? Wer sind die Anderen? Wer wollen wir nicht sein? Im Verlauf der „Nationalen Wiedergeburt“ und insbesondere im 19. Jahrhundert wird in der bulgarischen Öffentlichkeit das Bild des „guten“, „christlichen“, „zivilisierten“ Europa etabliert. Die im europäischen Ausland sozialisierte bulgarische Elite begreift sich als Trägerin einer europäischen Kultur, besser gesagt einer Kultur, die zu Europa gehören soll (Mateva 1994). Deswegen wird
1Die
Anwendung des Begriffs „politisches Feld“ erfolgt in Anlehnung an Bourdieu (1992a).
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die Befreiung Bulgariens von der Osmanischen Herrschaft im Jahr 1878 als eine Art Rückkehr zur europäischen Zivilisation begriffen. Allerdings ist das Europa-Bild, das in den bulgarischen öffentlichen Diskursen vermittelt wird, nicht homogen. Eine detailliertere Analyse von Parlamentsprotokollen und Schulbüchern für Geschichte (vgl. Liakova 2001) ergibt, dass in der Periode von 1878–1945 neben dem positiven Bild Europas auch negative Darstellungen zu erkennen sind. Insbesondere wird vonseiten der bulgarischen politischen Elite Kritik an der Politik der Großmächte ausgeübt, da sie Teile Bulgariens dem Osmanischen Reich „geschenkt“ hätten. Kritisch wird Europas Politik in Bezug auf Bulgarien in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg betrachtet. Dabei ist es zu einer Spaltung des Europa-Bildes in den Kriegsjahren (1914–1918 und 1941–1945) gekommen: Die Alliierten Bulgariens (die Achsenmächte) und die Gegner Bulgariens werden vom bulgarischen öffentlichen Diskurs unterschiedlich bewertet. In der sozialistischen Periode (1945–1989) ist das Bild Europas in zwei Subbilder gespalten: die ‚sozialistische Gemeinschaft‘ und die ‚Kapitalisten‘ (das ‚gute‘ und das ‚schlechte‘ Europa). Nach dem Ende des Kalten Krieges wird der Weg Bulgariens als eine ‚Rückkehr nach Europa‘ begriffen. Die Zeit des „Kalten Krieges“ wird von den Kritiker*innen des sozialistischen Systems als eine Zwangsabsonderung von Europa dargestellt. Nach der Wende (1989) wird Europa zunehmend auf West-Europa und die EU reduziert. Die Zugehörigkeit zu Europa erstrebenswert zu sein. Der ‚Weg nach Europa‘ wird als Metapher begriffen, die dem „Übergang“2 Bulgariens Sinn und Zweck verleiht. In den meisten politischen Debatten nach dem Jahr 1989 wird Europa in der Rolle der ‚höchsten Instanz‘ gesehen. Die Regierenden begründen die Verabschiedung vieler Gesetze mit der „Etablierung des Namens Bulgarien als ein würdiges und geehrtes Mitglied der europäischen und der weltweiten Familie“ (Parlament 1989, S. 16). Europa wird als Korrektiv der bulgarischen Innen- und Außenpolitik sowie der Energiepolitik und der Sozialpolitik angesehen. Viele politische Parteien tragen in ihrem Namen das Wort „Europa“ oder die Bezeichnung „europäisch“. Verschiedene Sparmaßnahmen und wirtschaftliche Reformen, deren soziale Last schwierig zu verkraften war, wurden
2Der
Begriff „Übergang“ bezeichnet die Entwicklung Bulgariens und der anderen osteuropäischen Länder von sozialistischen zu kapitalistischen Gesellschaften. Als Beginn des Übergangs wird in der Fachliteratur das Jahr 1989 fixiert; es ist umstritten, ob die Prozesse des Übergangs und die damit verbundenen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Transformationen bereits abgeschlossen sind oder weiterhin andauern (vgl. Primatarova et al. 2017; Raychev und Stoychev 2008).
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durch das Bild Europas legitimiert. In einem Interview für die italienische Tageszeitung „Corriere della Serra“ betont der damalige Präsident Georgi Parvanov: „Europa ist nicht nur ein Markt, sondern eine Wertegemeinschaft, Ansichtsgemeinschaft, Geistesgemeinschaft. Wir haben uns immer als Europäer gesehen; die Bulgar*innen haben in der Vergangenheit mehrmals Europa vor Aggressoren von Außen gerettet. Uns ist ebenso die Verantwortung als Ostgrenze Europas, insbesondere was den Terrorismus betrifft, bewusst“ (Corriere della Serra 2003, o. S.). Nach dem Beitritt Bulgariens in die EU im Jahr 2007, scheint der nationale Traum, zum Club der „wohlhabenden“, „zivilisierten“ Europäern gehören zu wollen, erfüllt zu sein (Alfa Research 2017). Parallel zur breiten Zustimmung bezüglich der Zugehörigkeit zur EU, von der sowohl Bulgarien als Staat als auch die Bulgar*innen als Individuen wirtschaftlich profitiert haben, sind nach 2007 Veränderungen im Bild Europas festzustellen. In der bulgarischen Öffentlichkeit nehmen die europakritischen Haltungen zu. In den letzten fünf Jahren steigt der Einfluss europaskeptischer und kritischer populistischer Parteien in der bulgarischen Öffentlichkeit. Parteien des rechten Spektrums wie Ataka, VMRO und NFSB, die gemeinsam unter der Bezeichnung „Patriotische Front“ seit 2017 an der Regierung beteiligt sind, sowie rechtsextreme Organisationen, tendieren in ihrer Europa-Kritik dazu, eine engere Anbindung des Landes an Russland als eine ernsthafte Alternative für die Entwicklung Bulgariens darzustellen. „Russland hat uns befreit, nicht Europa“, lautete ein Agitationsplakat der rechts-populistischen Partei „Ataka“, das bei einer Demonstration in Sofia am 23.03.2014 in die Öffentlichkeit getragen wurde (24 chasa 2014). Es wird der Versuch unternommen, die Werte der liberalen Demokratie wie Toleranz, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz etc. zu diffamieren und auszuklammern. Die Mitarbeiter der pro-europäischen Nichtregierungsorganisationen werden öffentlich in Medien und in Internetforen als „Euroliberasten“ und „Sorosoiden“3 verspottet. Mit steigender Intensität wird der Austritt Bulgariens aus der EU öffentlich thematisiert. Dieser europaskeptische und populistische Diskurs wirkt sich auf die öffentliche Meinung aus. In einer Studie des bulgarischen Meinungsforschungsinstituts Alfa Research, die im April 2014 durchgeführt wurde,
3Dabei
handelt es sich um eine pejorative Bezeichnung der Personen oder Nichtregierungsorganisationen, die von Georg Soros und von seiner Stiftung „Open Society“ gefördert wird und sich für die Etablierung liberaler und proeuropäischer Werte in der bulgarischen Gesellschaft einsetzen.
7.1 Gesellschaftliche und politische Veränderungen nach 2007
267
wurde die hypothetische Frage gestellt: „Wenn heute ein Referendum durchgeführt wird und Sie zwischen dem Beitritt Bulgariens in die EU und dem Beitritt Bulgariens in die Eurasische Union wählen könnten, was würden Sie wählen?“ 40 % der Befragten gaben die Antwort, sie würden den Beitritt Bulgariens in die EU bestätigen. Allerdings würden 22 % der Befragten für den Beitritt Bulgariens in die Eurasische Union stimmen. 28 % konnten sich nicht entscheiden und 10 % gaben keine Antwort (Dimitrova 2014). In der Studie wird nachgewiesen, dass die Unterstützer*innen der Idee der Eurasischen Union in Bulgarien zwar eine Minderheit sind, allerdings eine aktive und leicht zu mobilisierende. Hingegen sind die Unterstützer*innen der EU (immer noch) eine Mehrheit, die wirtschaftlich durchaus sehr aktiv, politisch gesehen allerdings eher passiv ist. 10 Jahre nach dem Beitritt Bulgariens in die EU wird in der bulgarischen Öffentlichkeit über Europa als ein anderer Ort gesprochen: Europa ist ‚irgendwo dort‘, nicht ‚hier‘ in Bulgarien. Die Zugehörigkeit zu Europa wird öffentlich durch ‚Traditionen‘, historische Narrative oder Artefakte und nicht durch die Teilung eines bestimmten Wertekanons begründet. Die Ursachen für die Veränderung des Europa-Bildes und für die Zunahme der europaskeptischen Einstellungen in Bulgarien sind vielfältig. Human and Social Studies Foundation weist in ihrer Studie „Anti-liberal discourses and propaganda messages in Bulgarian media: dissemination and social perception“ (Human and Social Studies Foundation 2017) auf eine gezielte Strategie der Manipulation der bulgarischen Öffentlichkeit hin. Die anti-europäischen Propagandameldungen nehmen zu. Das Ziel ist, so die Analyse der Human and Social Studies Foundation, die europakritischen Einstellungen zu festigen und eine russlandnahe Einstellung zu begründen. Für die Zunahme der europakritischen Einstellungen spielen die sozialen und die wirtschaftlichen Probleme der bulgarischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Der EU-Beitritt hat die Erwartungen vieler Bulgar*innen, besonders derjenigen, die in kleineren Städten wohnen, an eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung und Anhebung des Lebensstandards nicht erfüllt. Die Armut und die subjektive Wahrnehmung der Verteilung der Lasten und der Dividenden durch die durchgeführten Reformen im Land als „ungerecht“ bleiben weiterhin wichtige Probleme (Institute for Market Economy 2014). Allerdings haben die sozialen Unterschiede bzw. der konkrete soziale Status der befragten Personen eine wichtige Bedeutung, sowohl für die Bewertung der Rolle Europas als auch für die Möglichkeit, das Recht auf Freizügigkeit in Anspruch zu nehmen. Die Personen schwieriger sozialer Lagen sind auch in Bulgarien europaskeptischer. Sie migrieren vergleichsweise seltener und haben keine Erfahrung im Umgang mit Fremdheit.
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Eine wichtigere Bedeutung für die Veränderung der Einstellungen zu Europa haben der EU-Beitritt Bulgariens und insbesondere das Recht auf Freizügigkeit. Durch die Möglichkeit zu migrieren und mobil zu sein ist Europa zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Alltags der Bulgar*innen geworden. Die Zunahme der bulgarischen Migration nach Europa nach 2007 führt zu Veralltäglichung der Erfahrung Europäer*in zu sein. War Europa in der Zeit vor 2007 eine Vision und eine Perspektive, die Sinn und Zielrichtung der sozialen Veränderungen gab und dadurch zu einem stabilisierenden Mythos in der bulgarischen Öffentlichkeit wurde, ist es heute eine Realität. Diese Realität unterscheidet sich von den Erwartungen und von den Erfahrungen der Migrant*innen, die manchmal negativ sind; sie sind mit Diskriminierung, Ablehnung, Missverständnis, Bürokratie etc. verbunden. Durch die praktische, alltägliche Verwirklichung wird eine schrittweise Demystifikation des politischen Mythos „Europa“ vollendet.
7.2 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach 2007: Biografische Reflexionen 7.2.1 Die veränderten Rahmenbedingungen In den ersten Jahren nach 2007 nimmt die Auswanderung aus Bulgarien nach Westeuropa und insbesondere in Länder, die zur EU gehören, kontinuierlich zu (Angelov und Lessenski 2017; Mitev und Kovatcheva 2014, S. 183). Viele Bulgar*innen nutzen ihr Recht auf Freizügigkeit und machen dadurch eigene Erfahrungen mit dem Leben in anderen EU-Ländern. Diese Entscheidung wirkt sich, wie im Weiteren thematisiert wird, auf die Art und Weise, wie Europa in der bulgarischen Öffentlichkeit wahrgenommen wird, aus. Auch die Einwanderung bulgarischer Staatsbürger*innen nach Deutschland nimmt zu (vgl. dazu die statistischen Daten im vorherigen Kapitel). Nach dem EU-Beitritt Bulgariens am 01.01.2007 ist der Aufenthalt bulgarischer Staatsbürger*innen in Deutschland grundsätzlich uneingeschränkt möglich; einer Genehmigung unterliegt allerdings die Aufnahme unselbstständiger Erwerbstätigkeit. Die bulgarischen Staatsbürger*innen, die in Deutschland erwerbstätig sein möchten, müssen sich um eine Arbeitsgenehmigung bemühen. Diese wird nur dann erteilt, wenn ein konkretes Arbeitsangebot vorliegt. Alternativ können sich die bulgarischen Staatsbürger*innen selbstständig machen. Nach dem EU-Beitritt unterliegt die Selbstständigkeit keiner speziellen Genehmigung. Die Figur des/der aus Bulgarien stammenden irregulären Migranten/Migrantin verschwindet nach
7.2 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach 2007 …
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2007: Als EU-Bürger*innen können sich die bulgarischen Migrant*innen nicht irregulär aufhalten. Hingegen nehmen die irregulären Beschäftigungsverhältnisse bulgarischer Staatsbürger*innen zu. Diese These ist statistisch nicht zu belegen, da keine Statistik die irregulären Beschäftigungsverhältnisse dokumentiert. Es ist aber anzunehmen, dass in einer Situation der freien Zuwanderung und des eingeschränkten Zugangs zum Arbeitsmarkt die Anzahl der irregulär Beschäftigten zunimmt. Nach dem 01.01.2014 ist nicht nur die Migration aus Bulgarien nach Deutschland uneingeschränkt möglich; auch die Aufnahme einer nicht-selbstständigen Erwerbstätigkeit unterliegt keiner Genehmigung durch die deutschen Behörden. Nach 2014 beginnt für die bulgarischen Staatsbürger*innen die Zeit der uneingeschränkten Freizügigkeit, die als binneneuropäische Mobilität verstanden wird. Die Anzahl der Bulgar*innen, die sich in Deutschland aufhalten und behördlich angemeldet haben, nimmt nach 2007 zu (vgl. Daten im vorherigen Kapitel). Dabei ist zu vermerken, dass die Anmeldung in der Zeit von 2007–2014 seitens der bulgarischen Staatsbürger*innen nicht immer durchgeführt wird. Da die bulgarischen Staatsbürger*innen in dieser Zeit nur mit einer Arbeitserlaubnis den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten, sind ein Teil der zugewanderten Bulgar*innen in der Grauzone des Arbeitsmarktes beschäftigt. Sie haben keine Arbeitsverträge und werden untertariflich bezahlt. Dadurch sind sie nicht in der Lage, eine Wohnung anzumieten. Zum einen sind die Wohnungen zu teuer für jemanden, der nicht tariflich bezahlt wird, zum anderen bekommt man meist keine Wohnung ohne Arbeitsvertrag bzw. ohne Vorlage einer Gehaltsabrechnung. Oft wohnen Migrant*innen bei Bekannten oder in den sogenannten „Schrottimmobilien“. Die behördliche Anmeldung bringt zudem keinen Zugang zum deutschen Sozialsystem – bis 2014 sind Bulgar*innen nicht berechtigt, bei Bedarf Sozialleistungen z. B. ALG II zu beziehen. Aus diesen Gründen ist die Motivation sich behördlich anzumelden, besonders bei bestimmten sozialen Schichten und Migrationstypen, gering. Dementsprechend sind die Anmeldedaten in der Zeit 2007–2014 nicht präzise, denn sie umfassen nicht die Gesamtanzahl aller in Deutschland ansässigen Bulgar*innen. Dies ändert sich nach dem Jahr 2014. Dadurch, dass die bulgarischen Staatsbürger*innen den uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten, sind sie nicht mehr strukturell gezwungen, Arbeit in der sogenannten „Grauzone“ der Arbeitsmarktes anzunehmen. Dadurch bekommt zumindest ein Teil der bulgarischen Zuwanderer*innen einen Zugang zu regulären und besser bezahlten Stellen, die wiederum die Anmietung einer eigenen Wohnung ermöglichen. Der Bezug von Sozialleistungen ist nach 2014 möglich und wird von
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einem Teil der Personen in Anspruch genommen. Damit man allerdings Sozialleistungen beantragt kann, muss man behördlich angemeldet sein. Dementsprechend verändert sich das Verhalten der bulgarischen Zuwanderer*innen, und die Anzahl der behördlich angemeldeten bulgarischen Staatsbürger*innen nimmt zu. Nach 2014 kann vermutet werden, dass mehr bulgarische Staatsangehörige in Deutschland behördlich angemeldet sind, als tatsächlich in Deutschland leben; wenn eine behördliche Anmeldung durchgeführt wird, können Sozialleistungen beantragt und erhalten werden. In der Zeit der „low-cost“ Flüge und der mobilen Kommunikation ist es schwierig zu kontrollieren, wer sich wann und wie lange de facto in Deutschland aufhält. Es sind Personen, die in Deutschland angemeldet sind, dort Sozialleistungen beziehen aber weiterhin in Bulgarien wohnen oder zumindest längere Zeiten in Bulgarien verbringen, da die Lebenshaltungskosten, besonders in (den) kleineren Städten, vergleichsweise niedrig sind. Die Reduktion der Einreise- und Aufenthaltseinschränkungen führt zu einer zunehmenden Heterogenität der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland. Wenn bis 2007 und besonders bis 2001 nur eine kleine, relativ gut gebildete Minderheit nach Deutschland einwandern konnte, ändert sich die Zugangsvoraussetzungen nach 2007. Insbesondere nach 2014 könnten theoretisch alle bulgarischen Staatsbürger*innen nach Deutschland einwandern, hier sesshaft werden und Arbeit suchen. Dennoch ist die Gestaltung der Einwanderung in der Praxis nicht einfach: Wirtschaftliches, kulturelles und soziales Kapital wird benötigt, damit man den Versuch starten kann, das eigene Migrationsprojekt zu verwirklichen. Diese Kapitalformen sind jedoch im individuellen Fall in unterschiedlichem Ausmaß vorhanden. Die Heterogenität bezüglich der Kapitalausstattung der bulgarischen Migrant*innen nimmt mit der Zeit zu – vor allem aus dem Grund, dass durch den Wegfall der sogenannten „Vorrangprüfung“ der deutsche Arbeitsmarkt nach 2014 auch für schlechter gebildeten Personen aus Bulgarien geöffnet wurde. Bulgar*innen ohne oder mit geringer Qualifizierung konnten dadurch nach Deutschland einwandern und in Berufen arbeiten (z. B. als Reinigungskräfte, Verkäufer*innen, Maler*innen und Lackierer*innen, Bauarbeiter*innen, Lagerarbeiter*innen etc.), zu denen sie vor 2014, aufgrund der Vorrangprüfung, keinen Zugang hatten. Die Einwanderung aus Bulgarien nach 2007 trifft auf eine veränderte gesellschaftliche Realität in Deutschland. Im Jahr 2005 war das Zuwanderungsgesetz (Bundestag 2004) in Kraft getreten, in dem die Möglichkeiten für Arbeitsmigration grundsätzlich verankert sind. Zunehmend mehr Akteure betrachten Deutschland in der Zeit nach 2005 als ein Zuwanderungsland. In der deutschen Öffentlichkeit mehren sich die Stimmen, dass die Zugehörigkeit zur deutschen Nation nicht ausschließlich ethnisch geprägt sein soll: „Deutsch
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kann man werden“ (Treibel 2015, S. 47 ff.). Die Integration wird zunehmend nicht ausschließlich als „Bringschuld“ der Migrant*innen, sondern als ein Zusammenspiel von Migrant*innen und Einheimischen verstanden. Dementsprechend wird als eine Herausforderung vor der Aufnahmegesellschaft definiert, ‚Integrationsangebote‘ für die Migrant*innen z. B. in Form von Sprachkursen, Integrationskursen etc. bereitzustellen. Als Kernaufgabe wird die ‚interkulturelle Sensibilisierung‘ der Behörden, der Institutionen, der privaten Unternehmen und der Einrichtungen in allen gesellschaftlichen Bereichen z. B. Pädagogik, Gesundheit, Sport, Kultur, Verwaltung, Wirtschaft etc. bestimmt. Dementsprechend werden für die Akteur*innen und Institutionen des öffentlichen Lebens ‚interkulturelle Trainings‘ und ‚Vielfalt-Seminare‘ angeboten, die das Ziel haben, die Mehrheitsgesellschaft auf die Realität der Migration vorzubereiten. Diese geänderte gesellschaftliche Realität, die in der Öffentlichkeit als ‚Willkommenskultur‘ bezeichnet wird, wird von Vertretern des rechten politischen Spektrums häufig als ‚Verrat‘ kritisiert. Aus ihrer Perspektive ist die Migration nicht als Normalfall, sondern als Ausnahme zu betrachten. Die Zuwanderung wird als Gefahr wahrgenommen, da sie zur ‚Überfremdung‘ führt (AfD 2018). Kurz vor der uneingeschränkten Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Bulgar*innen zum 01.01.2014 wird die bulgarische Zuwanderung in einigen Medien als Bedrohung für den deutschen Arbeitsmarkt und für die sozialen Systeme der Bundesrepublik dargestellt (Bild 2013). Die bulgarischen Migrant*innen werden als „Armutsmigranten“ (FAZ 2013a, b) bezeichnet und auf diesen Typus reduziert. Die tatsächliche Dimension der von Sozialleistungen abhängigen Migrant*innen wird medial überbewertet (Brücker et al. 2014). Die Veränderungen beziehen sich nicht nur auf die deutsche Gesellschaft. Die neu zugewanderten Bulgar*innen finden auch eine immer größer und aktiver werdende bulgarische Gemeinschaft vor, die bereit ist, ihre Erfahrungen zu teilen und mit den neu Zugewanderten zu besprechen. Diese Gemeinschaft wird organisierter und institutionalisiert. Es werden Clubs der bulgarischen Student*innen, der Absolvent*innen oder Eltern gegründet; bulgarische Schulen und Kulturvereine nehmen ihre Arbeit auf. Die Institutionalisierung wird durch verschiedene staatliche und europäische Programme aus Bulgarien und Deutschland gefördert. Geschäfte mit bulgarischen Waren, Dienstleistungen aller Art – vom bulgarischen Zahnarzt in Köln bis zur bulgarischen Rechtsanwältin in Mannheim, dem bulgarischen Maler oder der Handwerkerin in Hamburg – werden angeboten. Die Informationen über diese Clubs, Vereine, Organisationen oder Dienstleistungen werden durch die nach 2007 aufkommenden sozialen Medien verbreitet. Die neuen Medien, vor allem Facebook und Skype, machen die Kommunikation leichter, schneller und die kommunikative Verbundenheit der bulgarischen Migrant*innen
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7 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach …
besonders intensiv. Die politische Partizipation der bulgarischen Migrant*innen steigt: Die transnationalen politischen Aktivitäten (die Proteste in Bulgarien im Jahr 2013 „DANSwithme“, die Kampagne für das sog. „Wahlrecht online“, die Vorbereitung von Parlamentswahlen, die Proteste für den Naturschutz des PirinGebirges) nehmen an Bedeutung zu. Die Bulgar*innen, die im Ausland leben, werden zu einem politischen Faktor in ihrem Herkunftsland. Besonders auf Facebook sind die Gruppen der Bulgar*innen in Deutschland sehr präsent und aktiv: Jeden Tag werden Informationen und Erfahrungen ausgetauscht, es wird um Rat gebeten, Auskunft gegeben, es werden Formulare heruntergeladen oder Adressen und Öffnungszeiten der deutschen Behörden übermittelt. Es besteht das Risiko, dass die Informationen nicht immer präzise sind. Dennoch ist ein großer Unterschied zu den vorherigen Perioden – vor 2007 und vor 1989 – festzustellen. Nach 2007 nimmt die Intensität der innerethnischen Kontakte zwischen den Bulgar*innen zu. Das beeinflusst auch die Gestaltung der individuellen Migrationsprojekte.
7.2.2 Der Wandel der individuellen Migrationsprojekte Die Analyse der individuellen Migrationsprojekte beruht auf der Auswertung der Erzählungen der bulgarischen Migrant*innen, die in der Zeit nach 2007 dauerhaft in Deutschland leben oder mindestens ein Jahr gelebt haben. Bei der Auswertung werden auch die Erzählungen der Mobilen – der Tourist*innen und Besucher*innen, der Personen, die kurzfristig auf Dienstreisen oder in unterschiedlichen Austauschprogrammen einen temporären Aufenthalt in Deutschland hatten, berücksichtigt. Insgesamt wurden 32 Interviews mit bulgarischen Migrant*innen durchgeführt, die sich in dieser Zeit länger als einem Jahr in Deutschland aufgehalten haben. Es wurden Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Sozialschichten, Frauen wie Männer, Menschen mit und ohne Bildungsabschlüsse, Verheiratete, Verpartnerte, Ledige interviewt sowie Menschen, die einen regulären und einen irregulären Aufenthaltsstatus hatten, interviewt. Durch die breit gestreute Auswahl der Interviewpartner*innen sollte ein möglichst weites Spektrum der Einwanderungsbiografien analysiert werden. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Feldstudie zusammengefasst. Nach 2007 wird die Einreise bulgarischer Staatsbürger*innen nach Deutschland vergleichsweise einfach: Von den Einreisenden werden keine Einreisegenehmigungen (Visa) verlangt; die Aufenthaltsdauer der bulgarischen Staatsbürger*innen wird von den deutschen Behörden nicht mehr kontrolliert. Die bulgarischen Staatsbürger*innen dürfen beliebig lang in Deutschland
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bleiben, eine Wohnung im gesamten Bundesgebiet anmieten und Deutschland als einen ständigen Wohnsitz wählen. Die Organisation und die Durchführung der Migration ist im weitesten Sinne unkompliziert geworden; in einigen Fällen erfolgt sie sehr schnell und ungeplant. „Ich habe lange Zeit bei einer Firma in Bulgarien gearbeitet und allmählich wurde alles zu einer Routine. Ich wollte was Anderes versuchen. Dann habe ich mir gedacht, ich soll mir einen anderen Job in Varna oder in einer anderen bulgarischen Stadt suchen. Aber dann habe ich beschlossen, wenn ich meinen Job wechseln würde, dann soll ich auch die Stadt wechseln und nicht mehr in Varna bleiben. Ich dachte, dann soll ich auch in einem anderen Land suchen, denn es ist egal, wenn ich nicht mehr in Varna wohne, ob ich in Bulgarien bin oder nicht. Ich habe nach einer Jobmöglichkeit in Deutschland gesucht. Ich habe eine Anzeige auf einer Internetseite geschaltet und ich wurde innerhalb von sechs Monaten von verschiedenen Head-Hunters angerufen, also von HR-Agenturen, die mir Angebote machten. Da ich kein Wort Deutsch gesprochen habe, kam ich nicht zum Zug. Und dann kam ein Angebot von einer Firma, die Leute mit Englisch-Kenntnissen gesucht hatte. Und ich habe mir gedacht, dass würde mir passen und ich habe mich beworben. Es hat nicht mal einen Monat gedauert und ich habe den Vertrag unterzeichnet. Alles passierte sehr schnell und ich kam nach Deutschland. […] Ich habe einfach beschlossen, es zu versuchen, nach Deutschland zu kommen und zu sehen, wie sich das entwickelt und ob es klappt“ (I 11, Einreise 2012).
Die Entscheidung, nach Deutschland zu migrieren wird nicht lange geplant: Es dauert ca. sechs Monate bis man die Migrationsabsicht verwirklicht. Zum Vergleich: Allein die Ausstellung einer Aufenthaltsgenehmigung mit der notwendigen Durchführung der Vorrangprüfung dauerte in der Zeit vor 2007 circa drei Monate. Die Migration nach Deutschland wird als unkompliziert wahrgenommen und mit dem Umzug in eine andere bulgarische Stadt verglichen. Im konkreten Fall sind offensichtlich die individuellen fachlichen Kompetenzen und die Zugehörigkeit zu einer hohen sozialen und Bildungsschicht entscheidend. Nur in wenigen Berufen wird der/ die Arbeitsmigrant*in von Head-Hunters umworben und bekommt in wenigen Monaten ein gutes Angebot. Die Person gehört zu den Gewinnern der geänderten Migrationsbedingungen: Mann im mittleren Alter, tätig im IT-Bereich, mobil, ohne Familie, mit guten Englisch-Kenntnissen. Diese Möglichkeiten stehen nicht allen Einreisewilligen offen. Selbst Menschen, die ähnlich gut qualifiziert waren, konnten vor 2007 nach Deutschland nicht oder nur sehr schwierig migrieren. Damals waren die USA die bevorzugte Einwanderungsdestination. In der Reflexion der bulgarischen Migrant*innen ist deutlich zu erkennen, dass sie Deutschland als ‚Verlierer‘ der damaligen Migrationspolitik sehen.
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„Das Problem ist, dass Deutschland bis 2000 sehr verschlossen war für Menschen aus Osteuropa; die klügsten Köpfe sind damals in die USA gegangen“ (I 21).
Durch die geänderten migrationspolitischen Rahmenbedingungen wird auch die Rückkehr nach Bulgarien zu einer denkbaren Möglichkeit. In der bulgarischen Gesellschaft wird sie nach 2007 zunehmend gesellschaftlich akzeptiert. In Bulgarien werden Organisationen ehemaliger Migrant*innen gegründet, die zurückgekehrt sind. Sie haben das Ziel, die Rückkehr anderer Personen mit Migrationserfahrung zu unterstützen. Eine der größten Organisationen ist der Verein „Tuk-Tam“, übersetzt „Hier und Dort“, der 2008 in Sofia gegründet wurde. Zu den Zielen des Vereins gehört, Bulgar*innen in ihrer Entscheidung zurückzukehren zu unterstützen, bulgarische Student*innen, die im Ausland studieren und nach dem Studium nach Bulgarien zurückkehren, mit Stipendien zu fördern. Der Verein „Back2BG“ unterstützt die professionelle Entwicklung von Bulgar*innen, die nach einem Auslandsaufenthalt berufsbedingt nach Bulgarien zurückkehren. Die Organisation veranstaltet in Sofia die jährliche Messe „Karriere in Bulgarien. Warum nicht?“. Der Verein „Bulgarian Carees Fair“ organisiert seit 2013 Absolvent*innentreffen und Karrieremessen in unterschiedlichen europäischen Städten. Ziel ist es, die bulgarischen Absolvent*innen, die im Ausland studiert haben und arbeiten, mit Arbeitgeber*innen aus Bulgarien zu vernetzen. Die Rückkehr nach Bulgarien wird zunehmend zu einer Aufgabe privater Initiativen und staatlicher Politik, öffentlicher Events wie Messen und Seminaren. Sie bestimmt auch die mediale Berichterstattung: Die Zahl der durchgeführten Interviews mit erfolgreichen Bulgar*innen, die zurückgekehrt sind, nimmt zu. Ihr Leben wird als ein positives Beispiel und ihre Rückkehr zunehmend zu einer gesellschaftlich anerkannten Realität dargestellt. Diese veränderte Rezeption der Rückkehr vonseiten der Herkunftsgesellschaft spiegelt auch die Veränderung der Einstellungen der Migrant*innen wider. „Es ist keine Schicksalsentscheidung mehr, ob ich zurückkehre oder nicht. Wenn ich morgen wieder nach Deutschland einreisen möchte, hindert mich nichts daran. Wir werden nicht mehr mit der Problematik der Ausstellung von Visa konfrontiert. Ich muss keine Genehmigung beantragen“ (I 35).
Die Entscheidung, wo man leben möchte, wird von den sozialen Akteur*innen nicht mehr als unwiderruflich empfunden. Die Rückkehr nach Bulgarien, aber auch die Wiedereinreise nach Deutschland, ist jederzeit möglich und realistisch, sodass man mittlerweile nicht mehr von ‚hin‘ und ‚zurück‘ spricht:
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„Es ist nicht mehr hin und zurück. („То не е отиване и връщане“). Wir sind oft dort. Du hast nicht das Gefühl, dass das zwei verschiedene Länder sind. Es ist egal, wo du bist, hier, in Sofia, in Griechenland4 oder in Deutschland“ (I 15).
Die offenen Grenzen und das gute Einkommen gewährleisten eine ähnliche Lebensqualität und zwar unabhängig vom individuellen Aufenthaltsort. Selbstverständlich ist diese These der interviewten Person in einem konkreten biografischen Kontext zu interpretieren. Wenn die nicht über eine bestimmte Bildung und einen bestimmten Beruf verfügt wird, hätte sie das Leben in Bulgarien oder in Griechenland schwieriger als das Leben in Deutschland empfunden. Dies verdeutlicht, dass die Entscheidung zurückzukehren oder zu migrieren primär sehr stark ökonomisch motiviert und von der sozialen Schichtzugehörigkeit der Individuen abhängig ist. Die interviewte Person ist ein W3-Professor in Deutschland, wohnt in München und besitzt eine Wohnung in Griechenland. Aus der Perspektive des materiellen Wohlstandes ist die Darstellung der Rückkehr als eine ‚Erfolgsgeschichte‘ möglich. Wenn ein gutes Einkommen gewährleistet ist, kehren die interviewten Personen nach Bulgarien zurück, da es ihnen in Bulgarien „sehr gut gefällt“: „Mir gefällt Bulgarien sehr gut. Ich weiß, dass noch viel zu tun ist, dass vieles nicht gut funktioniert in sozialer und politischer Hinsicht, auch im Alltag. Trotzdem würde ich zurückkehren“ (I 11). „Viele Mitschüler*innen von mir waren im Ausland und viele sind zurück. Sie arbeiteten bei der Europäischen Kommission, bei diversen europäischen Institutionen. Aber ihnen gefällt Bulgarien gut. Sie wollen einfach etwas im Land bewegen. Sie versuchen etwas zu verändern und ja, es gibt Situationen, in denen sie sagen, sie können nicht mehr, sie schaffen es nicht. […] Aber insgesamt versuchen sie irgendwie in Bulgarien zu bleiben. Sie haben gute Positionen in ihren Berufen. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas Besonderes bin im Vergleich zu ihnen“ (I 31).
In diesem Interview wird deutlich markiert, dass die Rückkehr auch als erfolgreich empfunden werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass man in Bulgarien einen guten Beruf hat und motiviert ist, sich auch unter schwierigen Bedingungen für seine Prinzipien einzusetzen. In den vorherigen Perioden wurde die Rückkehr von den sozialen Akteur*innen häufig als eine unfreiwillige Entscheidung und als eine Strategie der Verlierer*innen empfunden. Nach 2007 ändert sich
4Der
Interviewpartner hat eine Eigentumswohnung an der griechischen Küste erworben.
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grundsätzlich die Einstellung zur Rückkehr sowohl bei den Migrant*innen, als auch in der bulgarischen Gesellschaft: Man kann zurückkehren und erfolgreich sein. Die Migration an sich reicht nach 2007 nicht aus, um als ‚erfolgreich‘ wahrgenommen, anerkannt und angesehen zu werden. Dadurch, dass der Zugang zur Migration nach 2007 einfacher geworden ist und sich viel mehr Menschen erlauben können Bulgarien zu verlassen, verliert der Status Migrant*in an symbolischer Bedeutung. Als Migrant*in ist man nicht immer und automatisch „etwas Besonderes […] im Vergleich“ (I 31) zu den Bulgar*innen, die nicht migriert oder zurückgekehrt sind. Nicht der Status Migrant*in an sich, sondern seine individuelle Gestaltung ist entscheidend für das Gefühl, erfolgreich zu sein bzw. für die Fremdwahrnehmung des eigenen Migrationsprojekts als erfolgreich. Eine weitere wichtige Veränderung im Vergleich zu den vorherigen Perioden ist mit der Digitalisierung der sozialen Kontakte verbunden. Nach 2007 ist die Digitalisierung, die in den späten 1980er Jahren eingesetzt hat, technisch fortgeschritten und umfasst zunehmend auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Aufkommen und die rasante Verbreitung der sozialen Medien, vor allem von Facebook, verändern die Grundsätze der interpersonellen Kommunikation. Die geografische Entfernung beginnt zunehmend eine untergeordnete Rolle zu spielen. Man kann gleichzeitig in zwei oder mehreren Gesellschaften aktiv sein und zwar ohne in einer diesen Gesellschaften physisch anwesend zu sein.5 Es beginnt das Zeitalter der digitalen Migration. Man kann migrieren und sich zugleich an Prozessen beteiligen, die in weiter Ferne stattfinden. Die Vermittlung von Nachrichten und Kommunikationsmitteilungen aus der Ferne ist kein Phänomen der letzten Jahre. Die technischen Möglichkeiten, die die Einführung von Telefon, Telefax, Radio und Fernsehen eröffnet haben, haben die Vermittlung von Nachrichten aus der Distanz ermöglicht. Die Einführung der digitalen Medien hat diese Tendenz zum einen beschleunigt und zum anderen zu einem Massenphänomen gemacht. Durch die digitale Technik verringern sich die zeitlichen und geografischen Abstände: Nachrichten vom anderen Teil des Globus erreichen uns innerhalb von Minuten. Durch die Digitalisierung und durch Plattformen wie Facebook, Twitter oder Instagram wird das Individuum zu einer selbstständigen ‚Nachrichtenagentur‘ – man produziert Nachrichten und verbreitet sie um die Welt. Die Kehrseite ist die rasante Verbreitung von „Fake News“ – Quellen, die nicht zuverlässig und absichtlich manipuliert sind; diese haben in der neuen digitalen Welt die gleiche
5Zu
ähnlichen Erkenntnissen kommt Schwarzenegger (2017).
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Verbreitungsmöglichkeit wie die zuverlässigen und professionellen Nachrichtenagenturen. Die veränderten Kommunikationsmöglichkeiten wirken sich auf die Kontakte innerhalb der Migrant*innenfamilien aus. Die bulgarischen Großeltern, die in Bulgarien wohnen, skypen, chatten und unterhalten sich via What’s App, Viber oder auf Facebook mit ihren Enkelkindern, die im Ausland aufwachsen. In diesem Sinne werden sie zu digitalen Migrant*innen. Sie leben möglicherweise in einem Dorf in Bulgarien, in dem die Infrastruktur nicht einmal dem durchschnittlichen europäischen Niveau entspricht, sind aber virtuell bei ihren Enkel*innen, die in Deutschland, Frankreich, Kanada, in den USA oder in Singapur leben; von der Ferne nehmen sie an ihrem Leben teil. Dementsprechend können viele Migrant*innen, die im Ausland leben und arbeiten, sich durch die digitalen Technologien an Prozessen in ihren Herkunftgesellschaften beteiligen bzw. diese mitgestalten und öffentliche Debatten beeinflussen. In diesem Sinne werden sie zu digitalen Re-Migrant*innen. Sie können die Nachrichten nicht bloß verfolgen, sondern live erleben, kommentieren und produzieren. Tweets von Bulgar*innen, die die Tsunami-Welle in Fukushima (Japan) erlebt haben, haben die offizielle bulgarische Berichterstattung stark beeinflusst. Bulgar*innen, die im Ausland leben, melden sich dazu aktiv. Sie werden als Augenzeug*innen und Expert*innen von den bulgarischen Medien angefragt. Sie werden um Live-Kommentare und Berichte gebeten bzw. live im Fernseh- oder Radioprogramm zugeschaltet. Diese Möglichkeit, die Tagesordnung der Herkunftsgesellschaft zu gestalten, gibt den Migrant*innen eine besondere Ressource und eine besondere Stellung. Bezüglich verschiedener politischer und gesellschaftlicher Fragen z. B. bezüglich der Migrationspolitik oder des Migrationsalltages in Deutschland, der Situation in Deutschland ‚nach Köln‘6 anfang des Jahres 2018, der Parlamentswahlen in Deutschland oder in Bulgarien, des Brexits und dessen Auswirkungen auf die bulgarischen Migrant*innen, die in England leben, der Politik von Trump, ist ihre Meinung gefragt. Auch Themen, die aus einer innenpolitischen Perspektive Bulgariens erfolgen, z. B. das Referendum für das Online-Wahlrecht, die selbstorganisierten Vertretungen der Bulgar*innen in Ausland und ihre Zusammenarbeit mit der staatlichen Agentur für die Bulgar*innen im Ausland, werden von außen beleuchtet. Die digitale Migration und Re-Migration sind Phänomene, die nach 2007 an Bedeutung gewinnen.
6Gemeint
sind die sexuellen Übergriffe vor dem Kölner Hauptbahnhof am 31.12.2015.
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Nach 2007 ändern sich die Einstellungen der Bulgar*innen gegenüber Reisen bzw. das individuelle Reiseverhalten. Durch die Veränderung der makropolitischen Migrationsbedingungen und durch die Anhebung des durchschnittlichen Lebensstandards ändern sich die Einstellungen auch zu den kurzfristigen touristischen Reisen: Im Sozialismus unterliegen sie einer Sondergenehmigung, in der Zeit 1990–2007 sind sie aus finanziellen Gründen kaum möglich. Nach 2007 und insbesondere auch 2014 werden Reisen von zahlreichen Reiseagenturen in Sofia angeboten und auch verkauft, die zu exotischen Destinationen führen z. B. Bali, Indien, Australien, Brasilien, Tansania etc. Das Reisen ist kein besonderes und einmaliges Ereignis, das Sondergenehmigungen unterliegt. Es wird nicht lange geplant, denn es ist kein Visum zu beantragen. „In meiner Kindheit war Mallorca etwas Exotisches für mich: Die Palmen, das Meer. Das erste Mal als ich dort war, war wirklich etwas Besonderes. Das war in den 1990ern. Wir benötigten Visa, die ganze Klasse ist geflogen, es hat Monate gedauert, bis alles organisiert und vorbereitet wurde und wir fliegen konnten. Das zweite Mal, das war letztes Jahr, bin ich einfach spontan aus Deutschland nach Mallorca geflogen. Mein Freund und ich haben eine kurze Auszeit gebraucht, mal im Internet geschaut, was infrage käme und paar Minuten später haben wir es reserviert. Zwei Tage später waren wir da“ (I 30).
Die beschriebenen makrosozialen Veränderungen sowie die juristische Gleichstellung der bulgarischen Migrant*innen mit den EU-Bürger*innen ändern die Einstellung der bulgarischen Migrant*innen zum Leben in Deutschland. Die Bereitschaft viele Hürden auf sich zu nehmen, um in Deutschland ‚irgendwie bleiben‘ zu können, ist nicht mehr so stark ausgeprägt wie in den vorherigen Perioden. Allerdings ist sie weiterhin für die neu Zugewanderten, die zunächst versuchen, Fuß zu fassen und für diejenigen, die zu sozial deprivilegierten Schichten gehören, wenig gebildet sind und einen schwierigen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, kennzeichnend. Bei den Migrant*innen, die sich zum 01.01.2007 schon länger in Deutschland aufhalten und bei höher Qualifizierten, die einen etwas leichteren und unproblematischeren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben, ist die Bereitschaft zur Flexibilität größer: Wenn einem Migranten/einer Migrantin dieser Gruppen die Arbeit nicht zusagt, da die Arbeitsbelastung als viel zu hoch empfunden wird oder die Arbeitsbedingungen nicht den Vorstellungen entsprechen, ist die Bereitschaft, den Arbeitsplatz zu wechseln, vorhanden (I 11). „Ich habe nie meine professionellen Beziehungen mit den Kolleg*innen in Bulgarien unterbrochen. Auch wenn sie mit der Zeit weniger wurden, sind sie immer noch stabil genug, um mir einen Job zu garantieren, der beruflich passend ist.
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Deswegen bin ich auch nicht in Berlin geblieben. Wenn ich die Wahl hätte, in Berlin als Tellerwäscherin und in Bulgarien als Übersetzerin zu arbeiten, ist für mich diese Wahl vorentschieden gewesen. […] Mein Vater ist aus Bulgarien mit der klaren Überzeugung, dass er Tellerwäscher werden wird und in Kanada nie seinen Beruf als Philosoph ausüben wird, ausgewandert. […] Und auch heutzutage macht er das immer noch. So wollte ich aber nicht auswandern“ (I 30).
In den einzelnen biografischen Erzählungen wird über die Entscheidungen berichtet, den Arbeitsplatz zu wechseln, die Stadt, in der man wohnt, zu verlassen, in ein anderes Land einzuwandern etc. Die Bereitschaft zur Mobilität und zu weiter folgenden Migrationsbewegungen nimmt zu. Diese Entscheidungsoptionen sind allerdings stark vom sozialen Status (von der Bildung, vom Beruf und vom Einkommen) abhängig. „Ich habe mich mit dem Programmieren beschäftigt. Und das hat mich sehr enttäuscht, denn die Atmosphäre war unerträglich. […] Für Menschen, die von 9 bis 5 arbeiten wollen, um irgendwie Geld zu kriegen, ohne sich anzustrengen, ist das bestimmt ein guter Job. Ansonsten ist das schrecklich. Sehr unprofessionell“ (I 21).
An dieser Stelle ist die zunehmende Heterogenität bei den bulgarischen Migrant*innen zu betonen. Im Vergleich zu den vorherigen Perioden etabliert sich eine Schicht bulgarischer Migrant*innen, die nicht mehr bereit ist, alles hinzunehmen, um in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Insbesondere bei den Migrant*innen mit einem mittleren und höheren sozialen Status, gemessen an Bildung und Einkommen, ist diese Bereitschaft nicht mehr gegeben. Sie ist möglicherweise weiterhin bei denen vorhanden, die über geringere Bildung und Qualifizierung verfügen und dementsprechend eine eingeschränkte Wahlmöglichkeit bezüglich ihres Arbeitsplatzes, ihrer Wohnung und ihres Einkommens haben. Die Veränderungen der Migrationsrahmenbedingungen, der Beitritt Bulgariens in die EU und die daraus resultierenden Veränderungen in der Stellung der bulgarischen Migrant*innen innerhalb der EU, verändern die Migrationsbiografien der bulgarischen Migrant*innen. Es ist nicht nur die soziale, sondern auch die biografische Heterogenität, die nach 2007 zunimmt. Die Bereitschaft weiter zu migrieren, nach ein paar Jahren in ein anderes Land zu ziehen, nimmt zumindest bei besser verdienenden und gebildeten Migrant*innen zu. Sie bleibt aber kein Phänomen der gebildeten sozialen Schichten. Infolge der wirtschaftlichen Krise in Spanien migrieren viele Bulgar*innen, die vor 2007 in Spanien gelebt und z. B. auf Baustellen, in der Gastronomie oder in der ambulanten Pflege gearbeitet haben, zurück nach Bulgarien oder wandern neu nach Deutschland, England oder Frankreich ein, indem sie Gebrauch von der Freizügigkeitsregelung
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machen. Auch Bulgar*innen, die in Griechenland gelebt und gearbeitet haben, kehren infolge der Wirtschaftskrise nach Bulgarien zurück oder entscheiden sich für zirkuläre bzw. saisonale Migrationsmöglichkeiten (Triandafylliou und Nikolova 2014). Bulgar*innen, die in den USA oder Kanada gelebt haben, aber lieber in Europa leben würden, suchen nach 2007 aktiv nach Arbeitsmöglichkeiten in der EU. „Wir sind nach Deutschland nach einem 11-jährigen Aufenthalt in Montreal gezogen. […] Montreal ist ein besonderer Ort. Für Menschen, die der französischen Sprache nicht mächtig sind, ist das Leben dort nicht ganz einfach. Ich meine, es ist sehr freundlich im Vergleich zu Deutschland, aber wir haben das erst im Nachhinein erfahren. Wir mussten Montreal verlassen. Uns hat vieles nicht mehr gepasst. Auch das schreckliche Wetter nicht. Und mein Mann hat einen Job in Deutschland gefunden und wir haben beschlossen, es zu versuchen. […] Aber München hat uns nicht gefallen. Der Job hat ihm nicht zugesagt und wir sind 10 Monate später nach Karlsruhe gezogen. Er hat den Job gewechselt“ (I 21).
Diese Erzählung ist exemplarisch für das Leben von Familien, die hochgebildet und qualifiziert sind und dementsprechend Wahlmöglichkeiten haben. Man orientiert sich an den vorhandenen Optionen, man erlaubt sich wählerisch zu sein. Man migriert, nicht weil man gezwungen ist, sondern weil man das möchte bzw. weil man das soziale Leben in Europa als besser empfindet. Wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden, migriert man weiter. „Ich habe 7 Jahre in den USA gelebt. Der wichtigste Grund, dass ich nach Deutschland gezogen bin ist, dass Deutschland das Positive aus den USA und aus Bulgarien hat. Ich habe die goldene Mitte gesucht. Das Leben ist balancierter als in den Staaten. In Amerika ist das Leben nicht sozial. Vieles, woran ich gewöhnt war, hat mir gefehlt. Die Menschen in Amerika sind sehr wohlhabend, aber auch sehr isoliert. Es sind keine Menschen auf den Straßen. Alle fahren in ihren Autos. In Europa ist es anders. Das war der Hauptgrund“ (I 23).
Vor 2007 wäre es nicht möglich gewesen, eine Migrationsentscheidung zu treffen, die auf diesen Motiven beruht. Die vorherigen Motivationen (bessere Verdienstmöglichkeiten, höhere Lebensstandards etc.) sind auch nach 2007 festzustellen. Sie werden durch andere Motive und Lebensentwürfe ergänzt. Die Migrant*innen, die nach 2007 nach Deutschland einwandern, finden eine bereits existierende Gemeinschaft der Bulgar*innen vor, die in den vorherigen Perioden nach Deutschland eingewandert waren. Diese Gemeinschaft ist sehr diffus und an manchen Orten sehr aktiv, an anderen kaum präsent – aber sie ist vorhanden. Die Menschen sind aktiv und bereit, ihre Erfahrungen zu teilen und
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die neu Zugewanderten im privaten Rahmen zu beraten. Daraus resultiert ein höherer Grad der Informiertheit über die Herausforderungen des Migrant*innenlebens in Deutschland. Die Vorstellungen über das Leben, über den Alltag, über den Beruf und über das Studium in Deutschland werden mit der Zeit realistischer. „Zu Beginn war ich nicht sicher, wohin ich gehen soll – nach Spanien oder nach Deutschland. Denn unsere Uni hatte ja Erasmus-Kooperationen mit diesen Ländern […] Da aber A., der an der Uni die Kontakte mit Deutschland pflegte, wollte, dass ich nach Deutschland komme, bin ich nach Deutschland gekommen. Der einzige Grund warum ich nach Deutschland gekommen bin, war A. Ich kannte ihn und er sollte mein Betreuer werden“ (I 35).
Es sind die sozialen Netzwerke, die die Migrationsentscheidungen und die Migrationsprojekte der einzelnen Individuen in dieser Periode entscheidend prägen. Die Entscheidung zu migrieren ist nicht immer rational. Oft wird sie durch die vorhandenen Bekanntschaften und Netzwerke beeinflusst (vgl. Treibel 2009; Esser 1980; Esser 2006). „In Deutschland hatte ich viele Bekannten, die mir sagen konnten, wie das Leben hier so ist. […] Ich wollte nach Deutschland und habe angefangen zu chatten und nach Menschen aus Karlsruhe zu suchen, damit ich mehr Infos kriege. Ich habe mit ihnen gemailt und sie haben mich korrigiert, als ich auf Deutsch geschrieben habe. […] Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“ (I 31).
Die Grad der Bekanntschaften in diesen Netzwerken kann variieren: Manchmal handelt es sich um Familienmitglieder, um Freund*innen oder um Mitschüler*innen, in anderen Fällen um Nachbarn oder entfernte Bekannte. Zunehmend wirkt sich auch die Migrationserfahrung der bulgarischen Familien auf die Wanderungsentscheidung und -gestaltung positiv aus. Die Kinder bauen darauf, dass ihre Eltern bereits migriert sind. In vielen Fällen ziehen die Kinder direkt zu ihren Eltern nach: „Da die Eltern vieler Studierenden im Ausland arbeiten, in England zum Beispiel, oder überall in Europa, in Spanien oder in Italien, sind viele Bekannte von mir einfach zu ihren Eltern gefahren“ (I 35).
Sowohl die institutionelle als auch die informelle Hilfe nehmen zu. Auch der Grad der Informiertheit der neu Zugewanderten wird durch die vorhandenen Netzwerke vor Ort erhöht.
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„Da ich viele Verwandte hatte, war ich sehr gut vorbereitet im Vergleich zu den anderen, die hierherkommen und nichts wissen und niemanden kennen. In diesem Sinne hatte ich keine Angst. Ich hatte immer jemanden, der für mich da war“ (I 9).
Selbst wenn man keine Verwandten hat, bekommt man Unterstützung: „Mir hat eine Bulgarin geholfen. Ich musste irgendwo wohnen und sie hat mich bei sich beherbergt. Da bin ich einen Monat geblieben, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Ich habe sie nicht so gut gekannt. Sie war keine Freundin von mir, sie war eine Bekannte“ (I 12). „Mir haben Freunde geholfen. M. und andere, die nach Essen gekommen waren. Sie haben mir beim Umzug geholfen. Das war die größte denkbare Hilfe, die jeder, der neu zuwandert, erhalten kann“ (I 14).
Die Veränderungen zu den vorherigen Perioden sind deutlich zu erkennen. „Ich sehe das jetzt – hier gibt es einen akademischen Verein, der ist vor allem für Studierende vorgesehen. Und sie machen Kurse für neue Student*innen, sie unterstützen die neuen […]. Es ist ein Netzwerk vorhanden. Es ist nicht wie früher. Früher gab es so etwas nicht. Es gab überhaupt keine bulgarischen Studierende. Ich war allein an der Uni, quasi der erste Bulgare an der Uni in Hannover, als ich neu gekommen bin“ (I 15).
Eine weitere Veränderung ist mit der Institutionalisierung der Unterstützung verbunden, die die neu Zugewanderten erhalten. Sowohl staatliche Institutionen und Agenturen als auch private Firmen bieten Informationen und Dienstleistungen, die der Unterstützung der neu Zugewanderten dienen sollen. In besonderen Fällen wird diese Unterstützung direkt von den Arbeitgeber*innen angeboten. Insbesondere gilt das für Migrant*innen, die als Hochqualifizierte einwandern. In Hinblick auf die institutionelle Unterstützung bekommen sie Privilegien, die andere Migrant*innengruppen nicht erhalten. „Mein Mann musste eine Wohnung in München finden, ohne ein Wort Deutsch zu können. Aber die Firma, die ihm den Job angeboten hat, hat ihm, Gott sei Dank, eine Betreuerin zur Verfügung gestellt. Und sie hat uns bei der Wohnungssuche geholfen“ (I 21). „Meine Anpassung an die Lebensverhältnisse in Deutschland war sehr einfach. Ich hatte einen Betreuer, der mir bei allem geholfen hat – bei der behördlichen Anmeldung, beim Autokauf, bei der Wohnungssuche. Die Firma hat mir auch finanziell geholfen. Ich brauchte überhaupt kein Wort Deutsch, denn der Betreuer hat alles übernommen. Alles, was nötig war, hat er gemacht“ (I 23).
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Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich auch die Kultur der deutschen Arbeitgeber*innen geändert hat: Die Anwerbung und die Integration der neuen internationalen Fachkräfte wird zum Teil der Firmenpolitik. Die Firmen kümmern sich um die neu Zugewanderten. „Das war die Verpflichtung meines Arbeitgebers. Sie haben mir eine Agentur empfohlen, die sich um alles gekümmert hat: Von der Kontoeröffnung, bis hin zur Anmeldung bei der Sozialversicherung, bei dem Abschluss der Verträge und bei der Wohnungssuche. Meine Aufgabe war, mich auf die Arbeit zu konzentrieren und mich um nichts anderes zu kümmern. Ich musste nur die Verträge unterschreiben, mehr nicht“ (I 11).
Es ist deutlich zu vermerken, dass nach 2007 die Unterstützung der neu Zugewanderten bei den Vertretern aller Schichten vorhanden ist. Sie unterscheidet sich allerdings darin, dass sie bei den Hochqualifizierten und Gebildeten anonym und institutionell ist (die Firma stellt eine/n unbekannten Berater/unbekannte Beraterin ein, der/die sich um das Notwendige kümmert). Bei den weniger Qualifizierten sind es oft vorher zugewanderte Familienmitglieder, Bekannten und Freund*innen, die diese Erstbetreuung übernehmen, sich um eine Wohnung und einen Arbeitsplatz kümmern, bei der Eröffnung eines Bankkontos und bei der behördlichen Anmeldung Unterstützung leisten. Auch bei den niedrig qualifizierten Migrant*innen nimmt nach 2014 die Tendenz der Institutionalisierung der Unterstützung zu. Es sind Firmen in Bulgarien und in Deutschland aktiv, die Migrant*innen beraten und die notwendigen Unterlagen zur Beantragung von Sozialleistungen (z. B. Leistungen nach SGB II, Wohngeld, Kindergeld) ausfüllen und gegen Bezahlung Unterstützung leisten.
7.2.3 Neuere Grenzziehungen Die Prozesse der institutionellen Etablierung und der Konsolidierung der bulgarischen Gemeinschaft (Community) in Deutschland nach 2007, die in der zunehmenden Kommunikation, Beratung, in den angebotenen intraethnischen Dienstleistungen und Organisationen in allen Bereichen des Alltagslebens sichtbar sind, verlaufen parallel mit einem Prozess der Absonderung, Distanzierung und Fragmentierung in sozialer und ethnischer Hinsicht innerhalb der bulgarischen Migrant*innen. Je größer die bulgarische Gemeinschaft wird, desto heterogener wird sie. Dementsprechend bilden sich Interessengruppen heraus, die nur einen Teil der Community adressieren: Beispielsweise schließen Student*innenclubs apriori Nicht-Student*innen aus, die Organisationen der Eltern schließen
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die Personen aus, die keine Eltern sind, religiöse Organisationen wenden sich an Menschen, für die die Konfession von Relevanz ist. Dieser Ausschluss ist nicht immer formell bzw. wird erst dann formalisiert, wenn die Organisationen einen höheren Grad der Institutionalisierung erreichen z. B. Mitgliedschaftsbeiträge zu erheben beginnen oder die Phase der offiziellen Vereinsgründung erreichen. Wenn diese Phase noch nicht erreicht wurde, ist die Abgrenzung der Organisationen nach außen „informell“: „Sie kommen nicht, da sie hier nichts zu suchen haben“; „Selbstverständlich sind sie eingeladen, aber es ist für sie doch nicht so interessant“ (I 6) etc. Die Absonderung innerhalb der bulgarischen Community verläuft nach verschiedenen Kriterien z. B. Interessen, Bildung, Einkommen, Alter, Aufenthaltsdauer, Geschlecht, Aufenthalts- und Herkunftsort. Zunehmend kann eine Distanzierung der alten von den neu zugewanderten Migrant*innen festgestellt werden. Diese Absonderung ist auch in den vorherigen Perioden, die bereits analysiert wurden, festzustellen: In den 1970–1990er Jahre wurde diese Distanzierung durch die Angst begründet, die neu zugewanderte Person könnte zu den kommunistischen Geheimdiensten gehören und der Kontakt zu ihnen könnte zu Komplikationen führen. Die Distanzierung nach 2007 hat einen anderen Grund: Sie ist sozial und ethnisch motiviert. Man distanziert sich nicht einfach von den ‚Neuen‘, sondern von den ‚Neuen‘, die als „nicht gebildet“, „Zigeuner*innen“, „dumm“ oder „arm“ wahrgenommen und bezeichnet werden. Der Unterschied zwischen ‚uns‘, ‚den Alten‘ und ‚ihnen‘, ‚den Neuen Migrant*innen‘ wird in den Interviews betont. ‚Die Neuen‘ werden als „furchtbar“ bezeichnet. „Jetzt, mit der Osterweiterung der EU, werden die Bulgaren mit den Zigeunern, die betteln, klauen, dreckig sind, identifiziert“ (I 6). „Es ist schlecht, dass so furchtbar viele Roma-Bulgaren hier, in den deutschen Städten, wohnen. Und sie vermitteln den Eindruck, dadurch, dass sie bulgarische Staatsbürger sind, dass alle Bulgaren genauso wie sie sind, d. h., dass wir nicht lesen und schreiben können und auf irgendwelchen Pappen in den Fußgängerzonen hausen, dass wir schlechte Hygiene haben und unsere einzige Aufgabe ist, in den Zügen die Deutschen zu beklauen. […] Man muss unterscheiden zwischen uns, die studieren und denen, die in den Zügen die Deutschen beklauen“ (I 35).
7.2.4 Exkurs: Ethnische Heterogenität in Bulgarien Diese abgrenzende Haltung bezieht sich vor allem auf die bulgarischen Staatsbürger*innen, die Roma, Türk*innen und Muslim*innen sind. Diese Abgrenzung ist nicht in der Migration entstanden; sie hat ihre Grundlage in der Spezifik der
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bulgarischen Gesellschaft. Ethnisch kennzeichnet sich die bulgarische Gesellschaft durch eine historisch entstandene Heterogenität. Die Anfänge des modernen bulgarischen Nationalstaates reichen in das Jahr 1878 zurück. Die Herausbildung des modernen bulgarischen Nationalstaates ist mit dem Prozess der Sezession vom Osmanischen Reich verbunden. Im Nationalstaat Bulgarien leben unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen. Nach den Angaben der letzten demografischen Volkszählung, durchgeführt im Jahr 2011, sind aktuell 84,8 % der Bevölkerung Bulgariens ethnische Bulgar*innen, 8,8 % der Bevölkerung sind ethnische Türk*innen, 4,9 % sind Roma. 76 % der Bevölkerung sind griechischorthodox, 0,8 % katholisch, 1,1 % evangelisch und 10 % der Gesamtbevölkerung Bulgariens sind Muslim*innen (Nacionalen statisticheski institut 1998). Die Türk*innen stellen nach den Bulgar*innen die größte Bevölkerungsgruppe bzw. die größte ethnische Minderheit des Landes dar. Obwohl ihre Präsenz im Land Jahrhunderte zurückreicht, werden sie auch in der Gegenwart von der quantitativ dominierenden Gruppe, den Bulgar*innen, als „fremd“ wahrgenommen. Als Türk*innen werden sie von der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung als ethnisch fremd wahrgenommen. Als Muslim*innen werden sie von den christlich-orthodox geprägten Bulgar*innen als religiös fremd empfunden. Gleichzeitig sind die in Bulgarien lebenden Türk*innen bulgarische Staatsangehörige, also im politischen Sinne Bulgar*innen und genießen alle Bürgerrechte wie das aktive und passive Wahlrecht. Aufgrund ihrer quantitativen Stärke sind sie ein wichtiger politischer und wirtschaftlicher Faktor im Land, insbesondere in den Regionen, in denen sie einen größeren Anteil der Bevölkerung stellen. Die Türk*innen in Bulgarien leben überwiegend in den südöstlichen und nordöstlichen Teilen Bulgariens um die Städte Kardźali und Razgrad. 98 % der Türk*innen sind Muslim*innen, weniger als 2 % der Türk*innen sind Christ*innen. Nach den Angaben des Statistischen Amtes der Republik Bulgarien, die auf die Ergebnisse der letzten Volkszählung beruhen, leben in Bulgarien ca. 588.318 ethnische Türk*innen, die die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzen (Nacionalen statisticheski institut 1998). Nach den Ergebnissen einer im Jahre 1994 durchgeführten repräsentativen Untersuchung, die unter dem Titel „Die ethnokulturelle Situation in Bulgarien“7
7In
deutscher Sprache wurden die Ergebnisse einer Untersuchung im Bericht von Krasimir Kănev unter dem Titel „Interethnische Einstellungen und das Bild vom Anderen“ in vom W. Höpken herausgegebenen Band „Revolution auf Raten, S. Bulgariens Weg zur Demokratie“, München 1996, bereits präsentiert. Deswegen werde ich mich hier nur auf einige Aspekte der Studie beziehen (vgl. Kanev 1996).
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veröffentlicht wurde, verbinden die Bulgar*innen das Wort „Türke“ mit Eigenschaften wie „listig“ (43 % der Befragten), „undankbar“ (34 %), „grausam“ (53 %) und „gierig“ (41 %) (vgl. Georgiev et al. 1992, vgl. auch Grekova 1995, S. 115). Diese durch die Untersuchung gewonnenen Daten zeigen, dass ein deutlich negatives Bild der Türk*innen im Bewusstsein der Bulgar*innen vorhanden ist. In der Studie wird überprüft, inwieweit die negativen Vorurteile8 im Bewusstsein der Bulgar*innen gegenüber den Türk*innen vorhanden sind. Nach dieser Studie behaupten 83,3 % der Bulgar*innen, dass die Türk*innen „religiöse Fanatiker“ seien (Kanev 1996, S. 175). Bei der Messung der sozialen Distanz nach dem Standardtest von Bogardus stellte sich heraus, dass nur 14 % aller Bulgarinnen und Bulgaren eine Türkin bzw. einen Türken heiraten würden (Grekova 1995, S. 122). 80,8 % der Befragten äußerten, dass sie keine Türkin bzw. keinen Türken heiraten würden (Kanev 1996, S. 178). Nur 28,5 % aller Bulgar*innen würden bei Wahlen eine/n Türk*in wählen (Grekova 1995, S. 126). Auch in einer von Juliana Roth im Jahre 1993 unter bulgarischen Student*innen durchgeführten Untersuchung wird ein „dominant negative(s) Bild des bulgarischen Türken“ konstatiert (vgl. Roth 1996, S. 56–57). Zur ethnischen Gruppe der Roma gehören 325.343 Personen (4,9 % der Gesamtbevölkerung). Die Roma sind die am stärksten stigmatisierte und diskriminierte ethnische Gemeinschaft in Bulgarien. Nach Angaben dieser Studie stimmen 56,1 % der Bulgar*innen die Aussage zu, dass die „Zigeuner faul und verantwortungslos“ sind, 68,15 der Bulgar*innen behaupten, dass die „Zigeuner“ zu „kriminellen Handlungen“ tendieren und 61,2 sind mit der These einverstanden, dass man „den Zigeunern nicht glauben kann“. Dementsprechend würde 89 % der befragten Bulgar*innen nie einen „Zigeuner“ heiraten, 64 % würden nie eine Freundschaft mit „Zigeunern“ aufbauen wollen, 62,7 % nicht im selben Wohnbezirk leben, 38,8 % nicht am selben Arbeitsplatz arbeiten und 34,2 % nicht im selben Land leben (Kanev 1996, S. 173 ff.). Wie diese Daten verdeutlichen, ist die ethnische Trennung in der bulgarischen Gesellschaft kein neues und migrationsspezifisches Phänomen. Durch den EU-Beitritt des Landes und durch den leichteren Zugang zur Migration unterschiedlicher Gruppen, wird die bulgarische Migrant*innencommunity in Deutschland auch ethnisch und religiös heterogener. Die im Land vorhandenen ethnischen Spannungen und Differenzierungen „migrieren“ nach Deutschland.
8Ein
Vorurteil ist laut den Autoren dieser Studie, die sich auf Allports Definition stützen, die „Anthipatie, begründet auf fehlerhafter und ausdauernder Verallgemeinerung“ (Allport 1966, S. 9).
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Die Vorurteile werden durch die Migration nicht geringer; sie werden als ein Grund zur Abgrenzung angesehen. Die Trennung im Rahmen der bulgarischen Migrant*innencommunity ist nicht nur ethnisch. Es handelt sich auch um eine generationsspezifische Unterscheidung. ‚Die Alten‘ grenzen sich von ‚den Jungen‘ ab, sie halten die Jungen für ‚nicht erfahren‘, für ‚verzogen‘. Sie hätten alles bekommen und müssten um nichts kämpfen. Das Migrant*innenleben der Alten sei viel schwieriger, die Neuen kennen diese Schwierigkeiten nicht. „Die heutigen Migrant*innen … was soll ich sagen. Die Bedingungen, in denen sie leben, sind ganz anders. Ihre Denkweise ist anders. Sie haben nicht diese Schwierigkeiten erlebt, wie wir früher. Sie erwarten, dass alles leicht und ohne Schwierigkeiten passieren soll und ihnen alles gleich angeboten wird. Deswegen kann ich nicht sagen, dass wir uns gut verstehen. Wir können uns nicht verstehen. Wir können uns gar nicht gegenseitig helfen […] Und die neue Generation, die bulgarische Parties machen … nee … ich habe keinen Bezug zu denen. Es ist total anders. Aber ich habe noch den Kontakt zu meinen Leuten. Mit Kolleg*innen, mit denen wir früher zusammen in den Wohnheimen gewohnt haben, mit denen habe ich noch Kontakt“ (I 4).
Da nach 2007 die Anzahl der Bulgar*innen, die sich in Deutschland aufhalten, zunimmt, reicht die bloße Tatsache, dass man aus Bulgarien stammt nicht mehr aus, um Kontakte zu einer Person aufzubauen oder zu pflegen. „In den 1990er Jahren, wenn man Bulgar*innen gesehen hat, hat man sich gefreut. Und man hat sie sofort nach Hause eingeladen. Man hat sie gesucht. Und jetzt ruft man mich oft aus Bulgarien an und man sagt mir: ‚Hey, eine Freundin von mir, eine Bekannte oder Verwandte ist in deiner Stadt. Hier ist ihre Telefonnummer. Ruf sie an.‘ Ich bin aber nicht mehr motiviert das zu tun. Ich möchte nicht jemanden kontaktieren nur weil er aus Bulgarien kommt. Wenn wir keine gemeinsamen Interessen haben, ist mir egal, ob er/sie aus Bulgarien kommt oder nicht. Es sind echt viele Bulgar*innen hier und es ist so wie in Bulgarien – ich kann nicht alle kennen“ (I 9).
Eine wichtige Veränderung, die nach 2007 und insbesondere nach 2014 festzustellen ist, dass die eigenen Erfahrungen, die die bulgarischen Migrant*innen mit dem Leben in Europa und in Deutschland machen, zu einer gewissen Demystifizierung des Europa-Bildes in der bulgarischen Öffentlichkeit führen. Im Alltag nehmen die Enttäuschungen vieler Zugewanderten zu. Man sieht aus eigener Erfahrung, dass die Europäer „auch nur Menschen sind und genauso ticken wie wir“ (I 35). Man beginnt die Nachteile des Lebens in Deutschland zu sehen und das Erlebte realistischer zu bewerten.
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„Ich habe angefangen, die Nachteile der Stadt zu sehen, in der ich wohne. Stadtgebiete zu finden, in denen nicht alles so gepflegt und ordentlich ist, wie ich mir dachte. Dann sind wir umgezogen und sind nah an die Uni gezogen, wo wir studierten und da gab es Gruppen, die sich versammelt haben, um zu trinken und sie haben auf der Straße die Flaschen zerschlagen und liegen lassen. Da war die Straßenbeleuchtung schlecht und wenn ich nach Hause gekommen bin, bin ich auf diesen Glasscherben gelaufen. Und ich wurde von Menschen aufgehalten, die mich angesprochen haben. […] ich fühlte mich nicht sicher“ (I 35).
Deutschland wird durch die alltäglichen Erfahrungen, die die Migrant*innen machen, teilweise „entzaubert“. „Die Menschen, die in Bulgarien leben, träumen davon, ins Ausland zu gehen und denken sich, dass im Ausland alles perfekt ist. Das ist aber nicht so. Ja, die Gehälter sind höher als in Bulgarien, obwohl ich auch in Bulgarien gutes Geld erhalten habe. […] Im Nachhinein würde ich sagen, ich habe vielleicht nicht mehr geschafft als die, die in Bulgarien geblieben sind, aber ich habe mehr versucht. Und mehr erlebt“ (I 11).
Von einigen, überwiegen hoch qualifizierten und gut bezahlten Migrant*innen wird die Position artikuliert, dass es ihnen in Bulgarien besser als in Deutschland ergangen wäre. Sie vergleichen sich mit ihren bulgarischen Bekannten und kommen zu dem Schluss, dass sie erfolgreicher im Beruf gewesen wären, wenn sie sich für eine Karriere in Bulgarien entschieden hätten. „Wenn ich in Bulgarien geblieben wäre, hätte ich den Masterabschluss viel früher erreicht und wäre bereits auf den guten Weg, einen Doktortitel zu erwerben. Ich hätte bestimmt einen Arbeitsplatz als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni gehabt. Die Stelle wäre nicht gut bezahlt gewesen, das ist ja klar, aber ich hätte eine Sicherheit gehabt. Die habe ich hier nicht“ (I 35).
Teilweise resultiert diese Einschätzung aus der Unmöglichkeit, das eigene Leben in einem breiteren sozialen Kontext zu sehen. Das Leben bei den Eltern in Bulgarien ist nur schwer mit dem selbstständigen Leben in Deutschland zu vergleichen. Allerdings wird dieser Vergleich von der interviewten Person angestellt; sie kommt zum Schluss: „Mein Leben in Bulgarien war viel besser als mein Leben hier. Hier musste ich, in der Zeit, in der ich studiert habe, mit fünf Euro das ganze Wochenende leben, erst dann kam das Geld von meinen Eltern. Fünf Euro für drei Tage. Das war nicht lustig. Dann habe ich mir eine Wassermelone gekauft und drei Tage Wassermelone gegessen. Und am Montag habe ich die alten Pfandflaschen zurückgebracht und
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habe mir etwas zum Essen gekauft. Sowas ist mir in Bulgarien nie passiert. Sicherlich hat es in Bulgarien auch Krisen gegeben, man konnte gar nichts kaufen und so. Aber ich kenne diese Zeiten nicht. Ich war viel zu jung. Jetzt ist das Leben dort viel besser als das Leben hier. Und es sind Sachen, die ich dort gern mache, z. B. reiten. Das kann ich mir hier gar nicht leisten“ (I 35).
Der Auszug aus diesem Interview ist symptomatisch für etwas anderes – in Bulgarien etabliert sich in den letzten zehn Jahren eine Mittelschicht, die zunehmend wohlhabender ist. Ihre Kinder haben einen hohen Lebensstandard in Bulgarien, der allerdings nicht immer „migrieren“ kann: die Möglichkeiten der Eltern reichen nicht immer aus, um in der Einwanderungsgesellschaft in die gleiche soziale Schicht zu migrieren. Diese Interviewauszüge sind symptomatisch für ein Phänomen – in der vorherigen Periode (1990–2007) wandern die bulgarischen Migrant*innen in der Regel im sozialen Sinne „nach unten“. In der Einwanderungsgesellschaft arbeiten sie in Berufen, für die sie, gemessen an ihrer Bildung, überqualifiziert sind. Habituell sind sie nicht immer adäquat an die neue Umgebung angepasst. Man zieht sich besser an, man trägt eine Damentasche und keinen Rucksack, man würde lieber ein Pferd reiten und nicht ein Fußballspiel im Stadion sehen. Man wird als „hochnäsig“ angesehen: „Sie haben getratscht, dass ich nicht wie eine einfache Arbeiterin aussehe, denn ich habe eine Damentasche getragen und keinen Rucksack, da ich mich schminke und so […] Ich war aber keine Arbeiterin, ich habe immer im Büro gearbeitet, nur hier habe ich angefangen, in der Fabrik zu arbeiten, aber nur bis ich die Anerkennung bekommen habe“ (I 35).
Nach 2007 ist festzustellen, dass bulgarische Migrant*innen sozial-strukturell auch ‚nach oben‘ migrieren. Sie arbeiten in Berufen, für die sie qualifiziert sind, verdienen viel besser, als sie in Bulgarien verdient hätten, kommunizieren aber mit Menschen, die noch besser bezahlt und wohlhabender sind und die andere Interessen und Gewohnheiten haben. Auch in diesem Fall ist ein habituelles Missmatching festzustellen. „Sie haben mich eingeladen, mit ihnen am Wochenende segeln zu gehen. Und wir sind nach Holland gefahren und sind in Scheveningen, am Yachthafen, in die Yacht gestiegen. […] Kannst du dir vorstellen, er hat eine Yacht. Eine private Yacht. Wenn ich eine private Yacht hätte, würde ich gar nicht arbeiten gehen. […] Und am Montag musste ich mit ihm im gleichen Büro sitzen. Ich weiß, egal was ich mache, werde ich nie eine Yacht haben. Egal, wie gut ich bin, egal, wie viel ich arbeite. Und nach diesem Wochenende habe ich mich echt arm gefühlt. Danach war mir auch egal, dass ich besser als 99 % der Bulgaren verdiene, dass ich es im Vergleich zu meinen Schulfreunden geschafft habe“ (I 36).
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Der faktische Aufstieg – man verdient besser als in Bulgarien, man hat eine der Bildung entsprechenden Beschäftigung, die gut finanziert ist – fühlt sich teilweise wie ein Abstieg an. Objektiv ist man wohlhabender, allerdings nimmt man sich als weniger wohlhabend wahr, da man im Vergleich zu den deutschen Kolleg*innen über weniger Ressourcen verfügt. Insgesamt ist bei den Vertreter*innen der nach 2007 zugewanderten Bulgar*innen eine positivere, aber dennoch kritische Einstellung zum Leben in Bulgarien festzustellen. „Wir waren eine besondere Generation – die Generation der Wende. Die Wende hat uns großartige Möglichkeiten angeboten. Wir konnten experimentieren. Wir konnten Neues beginnen, was man vorher gar nicht gemacht hat. Ich habe viele Freunde in Bulgarien, die bekannte Persönlichkeiten sind und ich bin nur ein Schatten ihres Erfolgs. Andererseits ist das Leben in Bulgarien wirklich harsch. Wenn ich sehe, wie meine Freunde aussehen, ja, es mag sein, dass sie reich und wohlhabend sind und sich dementsprechend modisch anziehen, aber sie sehen alt aus, viel älter als sie sind, viel älter als ich“ (I 9).
Entscheidend für diese dennoch kritische Einstellung ist die Tatsache, dass man sich nicht nur mit den Gleichaltrigen in Bulgarien, sondern auch mit den Menschen, die in Deutschland leben, vergleicht. Dabei ändert sich das Gefühl der Ungleichbehandlung trotz der makropolitischen Veränderungen nicht. Sie bleibt erhalten und nimmt sogar zu: Man möchte als gleichberechtigt wahrgenommen werden. Auch wenn die de jure festgesetzten Einschränkungen für bulgarische Staatsbürger*innen weggefallen sind, hat man das Gefühl, dass man in der Gesellschaft bzw. in den täglichen Interaktionen nicht als gleichberechtigt wahrgenommen wird. Weiterhin kann die Tendenz festgestellt werden, dass die Migrant*innen die Gründe für die erlebte Diskriminierung in der eigenen Person und nicht in der Aufnahmegesellschaft suchen: Man spricht nicht oder nur schlecht Deutsch, man hat ein „türkisches“ Aussehen. „In den Geschäften, da wir in Ost-Berlin sind, sind diese Einstellungen öfter festzustellen. Obwohl man auch in West-Berlin manchmal hört: „Hier sind wir in Deutschland und hier wird Deutsch gesprochen“. Außerdem habe ich ein sehr „türkisches“ Aussehen – schwarze Haare, dunklere Haut, dunklere Augen. Die Menschen reagieren deswegen so auf mich […] aber grundsätzlich kann ich mich nicht beschweren“ (I 9). „Ich habe so etwas nicht erwartet. Das kam wie ein Schlag für mich, dass ich so beurteilt wurde, da ich aus Osteuropa kam und mit meinem osteuropäischen Akzent hatten sie wohl auch Probleme. Sie dachten, ich käme aus Russland. […] Und
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dann hatte ich lange Zeit Angst zu sagen, dass ich aus Bulgarien komme. Ich habe beschlossen, ich werde meinen Abschluss machen und dann auswandern. Ich wollte nicht hier leben. Denn ich musste ja jeden Tag beweisen, dass ich gleichberechtigt bin, dass ich gute Eigenschaften habe, dass ich auch ein Mensch bin“ (I 35). „Zu Beginn hat man ein schlechtes Selbstwertgefühl, da man permanent hört, man ist ja Ausländer und man wird als ein Fremder wahrgenommen“ (I 31). „Ich habe zu Beginn sehr schlecht Deutsch gesprochen und wenn ich zu den verschiedenen Institutionen gegangen bin, haben sich die Mitarbeiter mir gegenüber sehr schlecht, sehr unfreundlich und grob verhalten […] Speziell beim Arbeitsamt. Ich habe 2009 noch eine Arbeitsgenehmigung benötigt. Der Mitarbeiter hat die Formulare auf den Tisch geschmissen und hat gesagt, wenn ich Arbeit finde, soll ich die Formulare ausfüllen und mitbringen. Und ich habe mich gewundert, wenn ich so einfach einen Job finde, wozu brauche ich denn das Arbeitsamt […] Und er hat einen furchtbaren Dialekt gesprochen und das hat mich auch irritiert“ (I 29).
Das Gefühl der Diskriminierung bezieht sich in der Zeit nach 2007 und insbesondere nach 2014 allerdings auf die interpersonelle und nicht auf die institutionelle Ebene. Man hat nicht mehr das Gefühl von den Behörden als nicht gleichwertig behandelt zu werden, da man in den meisten Anliegen als EU-Bürger*in den deutschen Staatsbürger*innen gleichgestellt ist. Allerdings hat man oft falsche Erwartungen, weiß nicht wie das System funktioniert und erwartet, dass einem das Arbeitsamt eine Stelle anbietet. Nach 2007 nimmt bei vielen interviewten Personen das Gefühl mit einer unüberbrückbaren Fremdheit konfrontiert zu sein, zu. „Ein Immigrant wird für immer fremd bleiben, wenn er nicht in diesem Land geboren wurde. In den USA habe ich mich im vierten Jahr meines Aufenthalts heimisch gefühlt […] In Deutschland habe ich das noch nicht erreicht – ich habe mich noch nicht richtig heimisch gefühlt. Vielleicht dauert es hier auch vier Jahre, bis ich dieses Gefühl entwickele. Aber immer, egal wie gut man aufgenommen wird, und in Amerika wurde ich echt gut aufgenommen, bleibt man fremd. Du kannst dich gut integrieren und die Leute nehmen dich gut auf. Für dich ist alles normal und es funktioniert. Und trotzdem ist ein Unterschied da zwischen den Menschen, die hier geboren wurden und dir, denn du hast nicht alles erlebt wie sie. Du bist nicht hier aufgewachsen, du hast keine Schulfreunde hier, die du anrufen kannst und fragen kannst, ob sie mit dir Kaffee trinken möchten. Egal wie gering dieser Unterschied ist, du spürst ihn“ (I 23).
Dem Zugehörigkeitsgefühl sind Grenzen gesetzt. Die Migrant*innen – auch diejenigen mit guter Qualifikation – werden mit einer Fremdheit konfrontiert, die nicht überwunden werden kann. Man empfindet sie in den kleinen, alltäglichen
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Unterschieden und vor allem in der Kommunikation. Häufig wird die Ablehnung dahin gehend interpretiert, dass man als Bulgare nicht aufgenommen werde, da die Bulgar*innen als Osteuropäer*innen ein negativeres Bild in der deutschen Öffentlichkeit haben. Würde man einer anderen Nation angehören, würde man besser behandelt werden. „Es hat mich beeindruckt, wenn wir mit jemandem Englisch sprachen und sagten, wir kommen aus Kanada, dann reagierten die Menschen euphorisch. Aber, wenn wir sagten, dass wir eigentlich aus Bulgarien kommen, verging die Euphorie sehr schnell“ (I 21).
7.2.5 Einwanderungsland als Bezugsgröße Nach 2007 und insbesondere nach 2014 verändern sich die Einstellungen der bulgarischen Migrant*innen zu ihrem Leben in Deutschland. Allmählich beginnen sie sich als Migrant*innen wahrzunehmen. Ihre Lebensplanung wird fester, man weiß, dass die Entscheidung in Deutschland zu bleiben in den eigenen Händen liegt. Man ist nicht mehr der empfundenen Willkür der Behörden ausgesetzt. Man plant sein Leben und bangt nicht, ob man bleiben darf oder nicht. Nach 2007 sind viele Veränderungen festzustellen: Die bulgarischen Migrant*innen beginnen, Familien zu gründen, Eigentum zu erwerben, Wohnungen und Häuser zu kaufen, Autos in Deutschland anzumelden und zu versichern oder Aktien zu erheben. In Deutschland werden bulgarische Schulen gegründet, in denen der eigene Nachwuchs die bulgarische Sprache und Geschichte lernen kann. Dies sind Indikatoren, die auf eine feste Bleibeabsicht der bulgarischen Migrant*innen hinweisen. Das ständige Gefühl der Unplanbarkeit des eigenen Lebens und die Befürchtung, ausgewiesen werden zu können, sind deutlich weniger vorhanden. In diesem Kontext wird die transnationale Verbundenheit mit den bekannten Kolleg*innen oder Verwandten in Bulgarien nicht mehr aus Unsicherheit, sondern aus dem Bedarf den im Herkunftsland gebliebenen Familienmitglieder zu helfen, sich beruflich oder politisch einzubringen oder wirtschaftlich Profite zu erzielen, gepflegt. Es nimmt auch eine andere Transnationalität zu, die ich als „reversive finanzielle Transnationalität“ bezeichne – bulgarische Familien helfen ihren migrierenden Familienmitgliedern Fuß an einem neuen Ort zu fassen, sie unterstützen deren Kinder, die in Deutschland studieren, sie helfen bei dem Erwerb einer Eigentumswohnung in Deutschland, indem sie diese mitfinanzieren. Transnational agiert man auch aus professionellen Motiven: Viele Personen,
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die nach Bulgarien zurückkehren, nehmen eine Tätigkeit als Vertreter*in verschiedener deutscher Unternehmen auf. Auf diese transnationalen Verbindungen wird im Kap. 10 detailliert eingegangen. An dieser Stelle ist zu vermerken, dass sich nach 2007 die Motive der transnationalen Verbundenheit der bulgarischen Migrant*innen geändert haben. Diese sind nicht mehr als Reaktion einer unsicheren Bleibeperspektive, sondern viel mehr als eigene proaktive Gestaltung des Migrant*innenlebens zu interpretieren. Ein Grund dafür ist die Veränderung des Migrant*innenstatus. In der Zeit bis 2007, als es sehr schwierig war, Bulgarien zu verlassen, garantierte die bloße Tatsache, dass man sich als Migrant*in „im Westen“ aufhält, eine besondere Anerkennung in Bulgarien. Sobald man den bedürftigen Verwandten Geld schickte und im Ausland lebte, war die Anerkennung sicher und zwar unabhängig vom ausgeübten Beruf. Durch die Etablierung der EU-Freizügigkeit nach 2007 und durch die daraus resultierenden Möglichkeit, sich frei in Europa zu bewegen und frei den Wohnort zu wählen, verlor Europa und konkret Deutschland an Anziehungskraft. Andere Länder z. B. die USA, Kanada, Vereinigten Arabischen Emiraten, Singapur, China, Südafrika erhielten den Status der schwierig zugänglichen Migrant*innenziele. Sich dort aufzuhalten ist aktuell mit einer besonderen Anerkennung verbunden, die allerdings durch die Entfernung und das nicht immer günstige Klima relativiert wird. Europa und der Aufenthalt in einem EU-Land werden seit 2007 hingegen demystifiziert. Die Migrant*innen, die sich nach 2007 in Europa aufhalten, müssen nach anderen Anerkennungsmodellen suchen. Der bloße Aufenthalt im Westen des alten Kontinents liefert keine Anerkennung mehr. Man muss sich durch etwas anderes auszeichnen, damit die eigene Biografie weiterhin als „erfolgreich“ gilt – durch einen besseren Beruf, besseres Einkommen, exotische Reisen etc. oder durch eine geistig geprägte Einstellung zum Leben, die vom Streben nach Ruhe, Zufriedenheit, Liebe oder Familie geprägt wird. Die häufige Nennung dieser Themen von den interviewten Personen verdeutlicht, dass nach 2007 die materiellen Bedürfnisse vieler Migrant*innen nicht mehr als den wichtigsten Antrieb für die Migration gelten, sondern diese durch postmaterielle ergänzt werden. Es ist eine zunehmende Individualisierung9 sowohl bei der Gestaltung des eigenen Migrationsprojektes, als auch bei den Migrationsmotiven festzustellen.
9Zur
soziologischen Verwendung des Begriffs „Individualisierung“ vgl. Beck (1983); Krings (2016); Reckwitz (2017); Beck und Beck-Gernsheim (1994).
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7.2.6 Postmaterialismus und Individualisierung Der Erfolg des eigenen Migrationsprojektes wird ganz unterschiedlich je nach Lebensphase und sozialem Status bestimmt. So kann von einer Person, die zum Zwecke des Studiums nach Deutschland einwandert, der erfolgreiche Studienabschluss als Erfolg des eigenen Migrationsprojektes angesehen werden. Für eine(n) Heiratsmigrant*in kann das erfolgreiche Migrationsprojekt darin bestehen, die Familienzusammenführung zu erreichen. Ein(e) Arbeitsmigrant*in findet den Erfolg des eigenen Migrationsprojektes in der Vollendung einer erfolgreichen Karriere. Menschen, die aus sozial prekären Situationen heraus migrieren, sehen den Erfolg in der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. In allen Fällen wird der Erfolg allerdings nicht mehr darin gemessen, sich um jeden Preis in Deutschland aufzuhalten. Darin besteht der wesentliche Unterschied in den Einstellungen der bulgarischen Migrant*innen, die sich in den vorherigen Perioden in Deutschland aufgehalten haben. Vielmehr werden die Migrant*innenbiografien heterogener, die Migrationsprojekte und die Erfolgsvorstellungen individueller und vielfältiger. Weiterhin ist der materielle Erfolg für die Bewertung des eigenen Migrationsprojekts als erfolgreich sehr wichtig. Man vergleicht sich immer noch mit seinen Gleichaltrigen, die in Bulgarien leben. „Als ich hierhergekommen bin, war der Unterschied im Lebensstandard extrem groß. Dieser Unterschied hat mich dazu bewogen, materiellen Erfolg zu suchen. Denn ich habe gesehen, wenn ich gut arbeite, so wie ich immer gearbeitet habe, kann ich finanziellen Erfolg haben. Und ich konnte alles haben, was ich mir gewünscht habe. Denn ich habe echt viel gearbeitet. So viel, dass ich das Studium vernachlässigt habe. Und da mir einiges gefehlt hat in meiner Kindheit oder während des Studiums in Bulgarien, bin ich euphorisch geworden. Man hat alles […] Materiell kann man sich ein normales Leben leisten. Im Moment haben wir keine Sorgen. Das war in Bulgarien anders, denn man kann sich nicht wohl fühlen, wenn man finanzielle Nöte hat“ (I 2).
Auch wenn weiterhin der materielle Erfolg wichtig ist – der gute Verdienst und die Möglichkeit, Geld nach Bulgarien zu schicken – spielen die ideellen Werte, zumindest bei den besser Verdienenden und Gebildeten, eine immer größer werdende Rolle für die positive Bewertung der Migrationsentscheidung. „Meinen Traum von einem erfolgreichen und guten Leben habe ich immer damit verbunden, viele gute Freunde um mich herum zu haben […] und ein ruhiges Leben. Ich habe immer gewollt, ein ruhiges Leben zu haben. Aber in Bulgarien ist es sehr schwierig, ein ruhiges Leben zu haben […] Für mich ist sehr wichtig in einer angenehmen Atmosphäre zu arbeiten“ (I 2).
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Schlüsselbegriffe, in denen der Erfolg zusammengefasst wird, sind: „gute Freunde“, „ruhiges Leben“, „arbeiten in einer angenehmen Atmosphäre“. Auch das Familienleben spielt eine wesentliche Rolle: „Meine Familie, mein Haus, die Kinder, mein Hund, die Reisen, die kulturellen Events, Theater, lange Spaziergänge – das ist das erfolgreiche Leben. Teilweise habe ich das und teilweise nicht. Aber das, was ich habe, habe ich nur, weil ich hierher gekommen bin. Ich hätte das ohne die Migration nach Deutschland nicht gehabt“ (I 16). „Meinen Kindern das beizubringen, was ich gelernt habe. Das ist der Erfolg“ (I 4).
Weitere Begriffe mit denen der Erfolg umschrieben und bestimmt wird, sind: „Freiheit“, „Spaß“, eigene „Ideen“ verwirklichen, „Einfluss“ ausüben. „Ich mag meine Freiheit. Ich will die Möglichkeit haben, meine Sachen selbst zu konzipieren, mich nicht anpassen zu müssen. Diese Freiheit habe ich bei der Arbeit in Deutschland. In Bulgarien ist alles sehr hierarchisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dort so frei sein zu können“ (I 18). „Für mich ist der Erfolg frei zu sein. Frei handeln zu können. Das muss man sich erkämpfen. Und das habe ich geschafft. Sozusagen bei den Kolleg*innen Vertrauen zu schaffen, dass alles erledigt sein wird“ (I 1). „Ich habe Spaß. Das ist der Erfolg. Deswegen hat sich alles gelohnt. Spaß – das ist die Idee, etwas zu machen, was dich interessiert, was du magst. Das ist etwas, was spannend ist“ (I 18).
Der Erfolg wird auch als Möglichkeit gesehen, die eigenen Ziele und Ideen zu verwirklichen bzw. Einfluss auf die nächste Umgebung sowie auf die Gesellschaft ausüben zu können. Der Erfolg wird von den Migrant*innen, die vor 2007 eingewandert sind, vielmehr in den materiellen Komponenten z. B. Einkommen, Autos oder Wohlstand begriffen. Von den Migrant*innen nach 2007 und insbesondere von den höher qualifizierten und gebildeten wird der Erfolg vielmehr darin gesehen, über Macht zu verfügen, das eigene Leben selbstbestimmt zu leben, die eigenen Ideen und Ziele zu verwirklichen, an sich zu arbeiten, sich weiter zu qualifizieren und möglichst frei von strukturellen Zwängen den Alltag zu gestalten. „Ich habe meine eigenen Ziele und Ideen und ich mag nicht an einem Ort fest zu kleben. Deswegen meine ich, dass ich viel mehr erreicht habe, als ich in Bulgarien erreicht hätte. Rein professionell gesehen. Ja, ich habe das Gefühl, ich habe es geschafft. […] Ich habe einen Punkt erreicht, in dem ich sagen kann, ich stehe fest
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auf dem Boden und ich fühle mich zufrieden. Ich bin Bauingenieurin geworden, ich spreche zwei Fremdsprachen und es werden definitiv mehr werden. Ich habe eine gute Familie, einen Sohn. Das einzige, was ich noch will ist, die Welt besser kennen zu lernen“ (I 19). „Beruflich fühle ich mich erfolgreich. Ich habe eine leitende Position, einen guten, sicheren und gut bezahlten Job, die Möglichkeit Einfluss ausüben zu können und mich am Arbeitsplatz gut zu fühlen. In diesem Sinne fühle ich mich erfolgreich“ (I 15).
Der Erfolg wird im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft bestimmt. Dabei spielen die empfundenen Schwierigkeiten eine Rolle für die Wahrnehmung der eigenen Biografie als eine erfolgreiche. „Ich kann sagen, die Ziele, die ich mir gestellt habe, habe ich erreicht. […] Das Ziel war, hier das Studium abzuschließen und einen normalen Status zu haben […] Ich bin zufrieden mit allem, was ich erreicht habe. […] Ein Traum von mir war Bulgarien zu verlassen und mehr zu erreichen. […] Wir müssen glücklich sein und stolz darauf sein, was wir erreicht haben, denn in Bulgarien hätten wir so etwas nicht erreicht, was wir hier erreicht haben“ (I 4). „Nur ich weiß, wie schwierig es war, wie oft ich geweint habe, bis ich das erreicht habe. Es war nicht einfach. Aber ich habe es geschafft“ (I 22).
Dennoch ist festzustellen, dass die bulgarischen Migrant*innen beim Versuch, den Erfolg zu definieren, sich zunehmend mit den Deutschen und mit den Menschen, die in Deutschland leben, vergleichen. Dies zeigt eine neue Bestimmung der Referenzgruppe. Die Anerkennung in Bulgarien verliert an Bedeutung; die Zugewanderten möchten nicht nur in ihrem Herkunftsland, sondern auch in der Einwanderungsgesellschaft anerkannt werden. „Ich vergleiche mich mit den Menschen hier. Ich lebe hier“ (I 18). „Ich habe nicht mehr als meine Mutter oder als mein Vater erreicht. Mein Vater hat früher als ich promoviert, hat in meinem Alter viel mehr erreicht. Meine Mutter hat in meinem Alter zwei Kinder gehabt. Ich bin im Vergleich zu meinen Eltern schlechter dran. […] Aber ich vergleiche mich nicht mit ihnen. Denn das Leben hier und jetzt ist halt anders. Früher habe ich gedacht, ich werde mit 30 arbeiten und zwei Kinder haben. Aber mein Leben ist nun mal anders. Das Leben in Deutschland ist anders. Meine Eltern können keinen Maßstab für mich sein (I 18).
7.2 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach 2007 …
297
Die bulgarischen Migrant*innen und besonders diejenigen, die einen höheren Status haben, vergleichen sich zunehmend mit den Deutschen und suchen nach Anerkennung in Deutschland. Sie sind immer weniger bereit, sich zurückzunehmen, nur weil sie es ‚irgendwie geschafft haben, in Deutschland zu bleiben‘. Menschen mit einem sicheren Aufenthaltsstatus und mit einer daraus resultierenden guten Position im Beruf sind weniger dazu bereit, Überstunden zu leisten oder auf Konflikte zu verzichten. Sie beginnen sich zunehmend ‚wie die Deutschen‘ zu verhalten: Ansprüche zu erheben, sich durchsetzen zu wollen und darauf zu bestehen, genauso behandelt zu werden wie die Einheimischen. Es handelt sich um eine bedeutende Veränderung in der Einstellung, um eine ‚Normalisierung‘ des Migrant*innendaseins, um eine Balancierung der eigenen Biografie, die nicht ausschließlich aus der Perspektive des Herkunftslandes bewertet wird. Es handelt sich um den Punkt, an dem sich die Migrant*innen selbst und nicht nur im Vergleich zur Herkunftsgesellschaft, sondern auch im Vergleich zur Aufnahmegesellschaft als ‚erfolgreich‘ sehen. Dieser Punkt in der Biografie markiert, dass man ‚erfolgreich angekommen‘ ist. Eine wichtige Änderung in der Wahrnehmung der eigenen Migrationsbiografie ist mit der Bewertung der Migration verbunden. Diese wird besonders bei den nach 2007 und 2014 Zugewanderten nicht mehr als eine besonders wertvolle Ausnahme, sondern als ‚nichts Besonderes‘, als eine Möglichkeit von vielen, als eine Option im Leben rezipiert. In Bulgarien wächst eine Generation heran, die nicht migrieren muss, damit sie sich selbst als erfolgreich wahrnimmt und wahrgenommen wird. Das ist eine Generation, die jederzeit auswandern, zurückwandern, mobil sein oder bewusst auf Mobilität verzichten kann. Die Migration wird in der Erfahrung der jüngeren sozialen Akteure, der sogenannten „Millennials“10, normalisiert. Sie wird nicht mehr als ‚die letzte Rettung‘ angesehen. Dabei wird die Migration viel realistischer bewertet. In den durchgeführten Interviews werden deutlich die Nachteile der Migration hervorgehoben. Insbesondere die jüngeren Migrant*innen, die nach 2007 eingewandert sind, haben einen kritischeren Blick auf die Möglichkeiten und Hindernisse ihrer eigenen Migrant*innenbiografien. Besonders negativ wird der Verlust der Kontakte in der Herkunftsgesellschaft bewertet.
10Der
Begriff wurde zum ersten Mal von Neil Howe und William Strauss (2000) verwendet und bezeichnet die Generation, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurde.
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„Ich habe die besten Freundschaften aufrechterhalten. Das war aber nicht einfach. Wenn du weg gehst, dann kannst du deine Freunde nicht oft genug sehen. Man kann natürlich die Kommunikation aufrechterhalten, aber man muss das wollen. Und was dafür tun. Und manchmal ist man so müde, dass man es einfach nicht will. Dennoch glaube ich, dass die besten Freundschaften weiterhin bestehen. […] Aber man verpasst viel – die Hochzeit meiner besten Freundin, die Hochzeit meines Cousins, den Abiball meiner Schwester, die Geburt meiner Nichte – das alles habe ich verpasst. Ich war nicht da. Ich konnte nicht hinfahren. Jetzt ist meine beste Freundin schwanger. Und ich kann nicht dabei sein. Ich kann sie nicht unterstützen. Wenn sie sich mit ihrem Mann streitet, bin ich nicht in ihrer Nähe. Und es ist total komisch – sie geht zu meiner Mutter und spricht mit ihr. Meine Mutter ist wie meine Stellvertreterin geworden“ (I 35).
Die Migration hat Nachteile, da man den Kontakt zu den Menschen, mit denen man verbunden ist, abbricht oder man den Kontakt nicht in der gewünschten Intensität pflegen kann. Obwohl die neuen Kommunikationsmöglichkeiten Wege eröffnen, Kontakte in der Herkunftsgesellschaft zu pflegen, wird diese Kommunikation als defizitär empfunden. Nach 2007 und insbesondere nach 2014 ändern sich nicht nur die Einstellungen zur Migration, sondern auch die Motive der bulgarischen Migrant*innen, die nach Deutschland einwandern, um dort bleiben. Die Motive der meisten bulgarischen Migrant*innen, auch nach 2007, sind weiterhin überwiegend materiell. Als wichtige Gründe werden z. B. die bessere Finanzierung des eigenen Lebens, eine bessere Lebensqualität, bessere Karrieremöglichkeiten und eine umfassendere Versorgung der Kinder genannt. Die Möglichkeiten, die Deutschland in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens anbietet, werden als besser eingeschätzt. In vielen Fällen ist diese subjektive Einschätzung, sowie das weiterhin vorhandene positive Image Deutschlands in der bulgarischen Öffentlichkeit der Grund, warum die meisten bulgarischen Migrant*innen Deutschland als Einwanderungsland wählen. „Keiner hat Bulgarien verlassen, weil es ihm gut ergangen ist. Jede/r, der/ die im Ausland lebt, wurde mehr oder weniger gezwungen, das zu tun. In der kommunistischen Zeit sind die Menschen wegen ihrer Freiheit ausgewandert. Nach der Wende sind die Menschen ausgewandert, da sie ein besseres materielles Leben und Wohlstand haben wollten. Nur wenige Menschen migrieren, da sie die Welt erkunden möchten, da sie experimentieren möchten und andere Kulturen kennenlernen möchten. Die Emigrant*innen haben es nicht leicht. Für mich sind die Emigrant*innen Kämpfer. Sie kämpfen mit allem, was anders ist – mit der sozialen Umgebung, mit dem Alltag, mit der Wirtschaft, mit der Politik. Sie kämpfen tagtäglich“ (I 11).
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Die Überzeugung, dass man migriert, weil es einem in der Herkunftsgesellschaft nicht gut (oder nicht gut genug) geht, ist weiterhin stark verbreitet. Allerdings werden nach 2007 andere Beweggründe genannt z. B. die Karriere und die potenzielle professionelle Entwicklung. Sie spielen eine wichtige Rolle für die Entscheidung zu migrieren. In der vorherigen Perioden hatten sie eine untergeordnete Bedeutung. „In Bulgarien ist Sofia der einzige Ort. Aber ich glaube nicht, dass sie (die Kolleg*innen aus Bulgarien, m. Anm. M.L.) etwas Besonderes in wissenschaftlicher Hinsicht machen, besonders in unserer Fachrichtung. […] In der Theorie hat man die Studierenden gut vorbereitet, allerdings für die praktische Tätigkeit – sie sind gar nicht vorbereitet. Sie sind nicht wettbewerbsfähig […] Sie haben keine praktische Erfahrung. Selbst die Magister und die Doktoranden haben keine praktische Erfahrung, z. B. in Laboruntersuchungen oder bei der Suche nach Informationen“ (I 35).
Bei den Student*innen sind es weiterhin oft die Eltern, die die Migrationsentscheidung treffen – es handelt sich nicht immer um ein selbstbestimmtes oder geplantes Migrationsprojekt, nach Deutschland zu kommen. „Meine Eltern haben mich motiviert, hierher zu kommen. Sie haben sich dafür ausgesprochen, dass ich mich mit Computerwissenschaften beschäftigen soll und das studieren soll. Insbesondere mein Vater. Da man eben viel Geld damit verdient. Gutes Geld. […] Mehr oder weniger haben sie die Entscheidung getroffen, was ich studieren soll. […] Und dann wollte meine damalige Freundin auch nach Deutschland migrieren. Ihr war egal, was ich studiere, aber sie wollte nach Deutschland. Und so sind wir gekommen“ (I 14).
Bezüglich der Migration der Student*innen ist nach 2007 eine wichtige Änderung festzustellen. Dadurch, dass die Migration weniger Kontrollen und Genehmigungen von den deutschen Behörden unterliegt, wird die Entscheidung zu migrieren weniger durchdacht und geplant; sie kann revidiert werden. Es sind Student*innen, die auch ohne Deutschkenntnisse einwandern und die Sprache in Deutschland lernen. Es sind Student*innen, die beginnen, ein Fach zu studieren und dann beschließen, dass es doch nicht das Richtige ist und deshalb ihr Studium abbrechen oder ein anderes Fach wählen. Solche Entscheidungen sind in den vorherigen Perioden aus finanziellen, aber auch aus visumtechnischen Gründen, nicht möglich oder nur sehr schwierig gewesen. Nach 2007 nehmen auch die postmateriellen Motivationen zu. Die interviewten Personen erwähnen häufiger das Streben nach Selbstverwirklichung
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und einem emanzipierten Leben als Motiv für die Einwanderung nach Deutschland. Dies sind Motive, die in den vorherigen Perioden nicht genannt wurden und zumindest nicht explizit vorhanden waren. Als Motivation in Deutschland zu leben, werden, neben den materiellen Indikatoren, auch Begriffe wie Freiheit genannt. „Eine erfolgreiche Frau kann sich viel leisten. Sie hat die finanzielle Möglichkeit das zu machen. Das Geld gibt uns mehr Freiheit das zu tun, was wir wollen. Und ich will so eine erfolgreiche Frau sein, ich strebe danach“ (I 12).
Auch das Streben, an sich zu arbeiten und sich zu entwickeln, seinen Charakter zu stärken, kann als postmaterielle Motivation festgestellt werden. „Ich hätte meinen Charakter nicht so gestärkt, wenn ich in Bulgarien geblieben wäre. Hierher zu kommen war eine Herausforderung. Ich bin das, was ich geworden bin, da ich die ganze Zeit hier gelebt habe“ (I 8).
Das Gefühl, den eigenen Horizont zu erweitern und eine offene Denkweise zu entwickeln, spielt auch eine wichtige Rolle: „Wenn ich mich mit Freunden und Bekannten vergleiche, die in Bulgarien geblieben sind, bin ich sehr viel nach vorne gekommen. Und ich meine nicht finanziell, sondern bezogen auf die Art und Weise, wie ich das Leben wahrnehme. Ich meine auch meine Denkweise, das, wonach ich strebe, was ich suche. Auch die Möglichkeiten zu reisen, mich zu verwirklichen. Und sie sind genau dort, wo sie waren, als ich gegangen bin. Wie eingefroren. In manchen Fällen hat sich die Lage verschlechtert. […] Und meine Weltanschauung, meine Flexibilität, meine Fähigkeit, mich anzupassen, schnell zu reagieren, auch wenn ich mit Sachen zu tun habe, die für mich unbekannt sind. Hier fallen einem neue Ideen ein“ (I 29).
Als weitere postmaterielle Motive können in den durchgeführten Interviews der Wunsch nach etwas Neuem, das Streben danach, ein neues Zuhause zu schaffen, die Zeit der Jugend aufgrund der im Schnitt längeren Studienzeit in Deutschland zu verlängern, identifiziert werden. „Ich bin nach Deutschland gekommen, da ich den Wunsch verspürt habe, wieder eine neue Welt für mich zu entdecken und ein neues Zuhause aufzubauen. Auch der Wunsch, dass das Studentenleben nie endet, motiviert mich immer wieder zu wandern“ (I 30).
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Als eine wichtige postmaterielle Motivation wird die Neugierde, in einem fremden Land zu leben, genannt. „Ich bin auch aus Neugierde nach Deutschland gekommen. Ich wollte wissen, was mir ein fremdes Land anbieten kann. Welche Möglichkeiten es hier gibt, mich zu behaupten“ (I 14).
Es wird nicht nur die Neugierde, sondern auch der Ehrgeiz, sich in einem neuen Land zu ‚behaupten‘, genannt. Bei den interviewten Personen wird auch der Wunsch geäußert, etwas Neues zu lernen z. B. eine neue Sprache. Mehr „Zeit für sich“ (I 12) zu haben und nicht „die ganze Zeit arbeiten zu müssen“ (I 12) werden als Wünsche ebenfalls hervorgehoben. „Hier entwickelt sich alles viel schneller. In den letzten vier Jahren, in denen ich in Deutschland gelebt habe, hatte ich mehr Möglichkeiten nach vorne zu kommen, mich weiter zu entwickeln, an mir zu arbeiten. Ich habe eine neue Sprache gelernt, mein Gehalt hat sich verbessert. Und auch noch: Ich muss nicht 10 Stunden arbeiten, um dieses Geld zu kriegen. Ich habe mehr Zeit für mich selbst. Ich habe mehr Zeit, um an mich zu denken, Zeit für die Freunde, für die Familie. In Bulgarien hatte ich diese Zeit nicht, da ich extrem viel arbeiten musste“ (I 12).
Häufig wird auch der Respekt, den man im eigenen Beruf erfährt, thematisiert und als Motivation nach Deutschland einzuwandern genannt. „In Bulgarien werden die Architekt*innen wie Ingenieur*innen behandelt. Wenn die Besitzer*innen die Wohnung beziehen, bauen sie alles um. Sie zerstören, was du dir überlegt hast. Sie vernichten deine Arbeit. Dein Konzept ist für den Müll. In Deutschland hat man hingegen Respekt für deine Arbeit. Als Architekt*in genießt man Vertrauen“ (I 31).
Insgesamt unterscheiden sich die Motive der bulgarischen Migrant*innen vor und nach 2007 deutlich. Nach 2007 werden besonders bei den Jüngeren, besser gebildeten und qualifizierten Migrant*innen unter anderem postmaterielle Motive für die Entscheidung nach Deutschland einzuwandern genannt. Diese Motive ersetzen die materiellen Motive nicht – sie bleiben bestehen und sind weiterhin dominierend sowohl bei den älteren Migrant*innen als auch bei den neu Zugewanderten, die weniger qualifiziert sind und Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz in Deutschland zu finden. Nach 2007 ist die Gestaltung der individuellen Migrationsvorhaben viel einfacher geworden. Sie ist weiterhin stark abhängig vom sozialen Status und
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individuell sehr unterschiedlich. Dennoch unterscheiden sich die Schwierigkeiten, mit denen die Migrant*innen vor und nach 2007 konfrontiert werden, in einigen Aspekten. Durch den Wegfall der aufenthaltsrechtlichen Einschränkungen werden die bulgarischen Migrant*innen nach 2007 nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert, ein Visum zu beantragen. Die vollständige Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für bulgarische Staatsbürger*innen führt zu einem leichteren Zugang der bulgarischen Arbeitnehmer*innen zum deutschen Arbeitsmarkt. Trotzdem werden auch die Migrant*innen, die nach 2007 eingewandert sind, mit Schwierigkeiten konfrontiert. Sie können systematisch zusammengefasst werden: • Schwierigkeiten bei der behördlichen Anmeldung nach der Ankunft, die vor allem aus der Unkenntnis des vorhandenen Systems und aus den mangelnden Sprachkenntnissen resultieren • Schwierigkeiten bei der Organisation der Abreise aus Bulgarien • Schwierigkeiten beim Ankommen z. B. bei der Wohnungssuche • Schwierigkeiten bei der Anerkennung der nicht-akademischen oder akademischen Abschlüsse • Schwierigkeiten bei der Organisation des Studiums • Schwierigkeiten bei der Beantragung der Arbeitsgenehmigungen bis 2014 • Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche • Sprachschwierigkeiten • Interkulturelle Konflikte und Missverständnisse; unterschiedliche Kommuni kationskultur, Vorstellungen von Distanz und Nähe Grundsätzlich bleiben viele Schwierigkeiten, die auch in den vorherigen Perioden von den Migrant*innen thematisiert wurden, erhalten. Diese Schwierigkeiten sind mit dem Migrant*innenstatus an sich und nicht ausschließlich mit der rechtlichen Gleichstellung der Migrant*innen als EU-Bürger*innen verbunden.
7.2.7 Pluralisierung der bulgarischen Community in Deutschland Informelle Organisationen der Bulgar*innen, die in Deutschland leben, hat es schon Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben. Es handelte sich um Selbstorganisationen von Studierenden (Endler 2006). Unmittelbar nach 1945 gründeten die im Exil lebenden Bulgar*innen politische Organisationen, die das Ziel hatten, Widerstand gegen das kommunistische Regime in Bulgarien zu leisten. In den 1960–1980 Jahren hatten die beiden Radiosender „Deutsche
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Welle“ (Köln) und „Radio Free Europe“ (München) eine wichtige Bedeutung für die in der BRD lebenden Bulgar*innen: Sie waren gegenüber der damaligen bulgarischen Regierung kritisch eingestellt. Die Radiosender wurden zudem zu einem Treffpunkt der kritisch eingestellten Emigrant*innen aus Bulgarien. In der Zeit vor 1989 war die Anzahl der bulgarischen Migrant*innenorganisationen in Deutschland gering. Zum einen lebten vergleichsweise wenig Bulgar*innen in der BRD, zum anderen waren sie aufgrund der Befürchtung, dass sie von den bulgarischen Geheimdiensten observiert werden könnten, gegenüber dem Kontakt zu anderen Bulgar*innen sehr skeptisch eingestellt. In der DDR hingegen waren die formellen und informellen Kontakte innerhalb der bulgarischen Gemeinschaft relativ intensiv. In den 1990er Jahren bzw. nach der Wende änderte sich allmählich die Einstellung der Bulgar*innen zu den Migrant*innenorganisationen. Seit den 1990er Jahren werden aktiv Student*innenorganisationen gegründet. Zunächst haben sie einen informellen Charakter, seit Ende der 1990 werden die Organisationen institutionalisiert. Sie bieten Unterstützung beim Lernen, bei Prüfungen, bei der Arbeitssuche, der Wohnungssuche und bei der Freizeitgestaltung an. Zu den größten Organisationen gehören die bulgarischen Student*innenvereine „Saedinenie“ (Frankfurt am Main), „Bay Ganyo“ (Mannheim), „Aleko“ (München), „Haschove“ (Berlin) und „Buditeli“ (Köln). Aus den Student*innenorganisationen heraus entwickeln sich die Organisationen der Absolvent*innen: Alumni-Organisationen, Familienorganisationen, Bildungsorganisationen etc. Unabhängig davon werden Kulturvereine, Religionsgemeinschaften und Organisationen, die Alltagsunterstützung anbieten, gegründet. In den 2000er Jahren nehmen die Organisationen, die sich mit Kinderbetreuung, z. B. privaten Kindergärten, Schulen, Freizeitvereinen etc. befassen, ihre Arbeit auf. Eine deutliche Veränderung in der Gestaltung und in der Heterogenität der Organisationen der bulgarischen Migrant*innen erfolgt erst nach 2000 und insbesondere nach 2007. Zum damaligen Zeitpunkt sind junge Bulgar*innen, die studieren oder ihr Studium abschließen, nach Deutschland eingewandert. Nach dem Jahr 2007 festigen sie ihren Aufenthaltsstatus und haben Zeit und Möglichkeit, ihre Landsleute zu treffen bzw. Organisationen zu gründen. Besonders nach 2007, nach dem Beitritt Bulgariens in die EU, wird die bulgarische Gemeinschaft in Deutschland zunehmend diverser. Es werden mehr Organisationen gegründet, die den neuen Bedürfnissen der neu Zugewanderten entsprechen. Nach 2007 ändert sich zudem die Einstellung zur eigenen Migrationsbiografie: Der überwiegende Teil der bulgarischen Migrant*innen bleibt dauerhaft in Deutschland. Nach 2007 können sie ihr Leben relativ frei gestalten, die Zukunft planen und an verschiedene Optionen
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der Freizeitgestaltung denken. Aus diesen Gründen ist die zahlreiche Gründung bulgarischer Migrant*innenorganisationen ein relativ neues Phänomen. Aus den zwischenmenschlichen Kontakten und Bekanntschaften, die in den 1990er Jahren entstanden sind, entstehen Gruppen, die die heterogenen Interessen ihrer Mitglieder*innen vertreten. Dadurch, dass sich nach 2007 mehr Bulgar*innen im mittleren Lebensalter in Deutschland aufhalten, werden Organisationen gegründet, die die Unterstützung dieser Zielgruppe anbieten. Auch politische Organisationen der in Deutschland lebenden Bulgar*innen werden gegründet; diese sind allerdings sporadisch und vor allem bei bevorstehenden politischen Ereignissen, z. B. bei der Vorbereitung unterschiedlicher Volksentscheide, bei der Organisation und Durchführung von Parlamentswahlen sowie im Rahmen der Protestbewegung „DANSwithme“ im Jahr 2013–2014 aktiv. Anhand der durchgeführten Feldforschung können die bulgarischen Migrant*innenorganisationen in Deutschland typologisiert werden: 1. Nach ihrer Struktur kann zwischen Organisationen, die einen hohen Grad an Verbindlichkeit, Strukturiertheit und Organisiertheit aufweisen und Organisationen, die unverbindlich, informell, offen, weniger organisiert und strukturiert sind, unterschieden werden. In diesem Kontext kann weiterhin zwischen Organisationen, die offiziell als Vereine angemeldet sind, eine Geschäftsordnung haben und Mitgliedschaftsbeiträge erheben und Organisationen, die informell sind, unterschieden werden. 2. Die Organisationen können auch nach der geografischen Verteilung in Deutschland typologisiert werden. Nach diesem Kriterium überwiegen die bulgarischen Organisationen, die in den deutschen Großstädten und überwiegend in Westdeutschland gegründet wurden. 3. Nach der Altersstruktur der beteiligten Personen kann zwischen Organisationen den älteren Migrant*innen, Organisationen der bulgarischen Student*innen im Alter von bis zu 30 Jahren und Organisationen der Bulgar*innen mittleren Alters unterschieden werden. 4. Die Organisationen der bulgarischen Migrant*innen unterscheiden sich auch nach den Interessen der beteiligten Personen. Sehr stark vertreten sind die Organisationen der bulgarischen Mütter, die in Deutschland leben („BG Mamma in Deutschland“, „BG Mamma mit Kinder in schulpflichtigem Alter“). Ebenso aktiv sind die unterschiedlichen politischen Organisationen z. B. der Deutsch-Bulgarische Geschichtsverein „Pamet“. Zunehmend gründeten nach 2007 bulgarische Staatsbürger*innen Wirtschaftsunternehmen in Deutschland und wurden selbstständig. Die Anzahl der bulgarischen
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Wirtschaftsorganisationen nimmt kontinuierlich zu – unterschiedliche Vertreter*innen des sogenannten „ethnic business“ bieten bulgarische Waren, vor allem Lebensmittel an. Bekannt ist die Lebensmittelkette „Malincho“. Bulgarische Restaurants (z. B. die „Bingelstube“ in Frankfurt am Main) nehmen ihre Arbeit auf. Handwerkerinnen und Techniker aus Bulgarien bringen Satellitenschüsseln an, um den Bulgar*innen bulgarisches Fernsehen zu ermöglichen. Es sind auch bulgarische Makler*innen, die Wohnungen an Bulgar*innen vermieten (z. B. Zoya Weinreich in Offenbach). Bulgarische Autowerkstätte, logistische Unternehmen und Transportfirmen bieten ihre Dienstleistungen für Personen an, die Gepäck, Waren oder Autos von oder nach Bulgarien transportieren möchten. Bauarbeiter*innen, Handwerker*innen, Reinigungs- und Pflegekräfte aus Bulgarien sind wirtschaftlich aktiv und eng untereinander vernetzt. Viele dieser Wirtschaftsorganisationen sind informell; es handelt sich um Netzwerke – man benachrichtigt sich über Gesetzesänderungen, über Bestellungen, man tauscht sich aus. 5. Die bulgarischen Organisationen können auch nach der Präsenz ihrer Mitglieder unterschieden werden. Die reale Präsenz ist im Rahmen von Versammlungen, Aktivitäten, Stammtisch-Treffen, kulturellen Abenden, Konzerte, Wettbewerbe etc. festzustellen. Die meisten Organisationen nutzen auch die virtuelle Kommunikation zwischen den Mitgliedern. Die rapide Ausweitung der neuen Medien führt dazu, dass das Internet und die elektronische Übermittlung von Daten zum selbstverständlichen Bestandteil der Kommunikation gehören. Diese werden auch von den bulgarischen Migrant*innen geschätzt und genutzt. Vor allem werden Facebook-Plattformen und virtuelle Gruppen verwendet, in denen sich die Teilnehmer*innen aktiv austauschen. 6. Auch nach den Einstellungen und Werten können die bulgarischen Organisationen unterschieden werden. Die Organisationen der älteren Migrant*innen sind in der Regel kritisch zum totalitären System eingestellt. In den neueren Organisationen wird zum Teil offen der Nationalstolz gelebt; auch wenn sie nicht als nationalistisch bezeichnet werden können, fokussieren sie sich auf die Vorzüge der bulgarischen Kultur und Religion. Vor allem sind die Organisationen der bulgarischen Migrant*innen durch eine Nostalgie geprägt. Die meisten Organisationen sind apolitisch und nicht ideologisch und dienen dem Informationsaustausch im Alltag, insbesondere für die Bereiche Arbeit, Studium, Gesundheit, Wohnung, Rechte und Pflichten, Logistik, Gepäck, Autos und Transport. Die politischen Aktivitäten nehmen in Zeiten von Parlaments- oder Europawahlen zu. Über Facebookgruppen werden Nachrichten über Wahlmöglichkeiten ausgetauscht, wobei ein Online-Wahlkampf allerdings in der Regel nicht ausgetragen wird.
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Sehr aktiv sind die Organisationen auf lokaler Ebene. Sie werden von Personen gegründet, die in Deutschland in der gleichen Stadt oder Region wohnen und haben das Ziel, sowohl Informationen über Wohnungssuche, Beschäftigungsmöglichkeiten als auch über bulgarischsprachige Ärzt*innen, Rechtsanwält*innen, Steuerberater*innen, Computerfachangestellte, Handwerker*innen und Au-Pairs etc. auszutauschen. Besonders beliebt sind die unterschiedlichen Tanztruppen, die sich in verschiedenen Städten organisieren. So werden Kurse für bulgarischen Volkstanz angeboten. Diese Organisationen sind in verschiedenen deutschen Städten aktiv z. B. „Gayda“ (Frankfurt am Main), „Ludo-mlado“ (Heidelberg), „Folkloristische Fabrik“ (Mannheim), „Lazarka“ (München), „SamoDivi“ (Nürnberg), „Schipka“ und „Madina“ (Leipzig), „Bulgarische Rose“ und „Ludo-mlado“ (Magdeburg), „Zdravets“ (Hamburg), „Sborenka“ (Berlin) u. a. Sehr beliebt bei den jungen bulgarischen Migrant*innen sind die bulgarischen Fußballmannschaften, die in den großen deutschen Städten organisiert werden und regelmäßig trainieren. Seit 2004 findet einmal im Jahr in Bonn-Niederkassel der sogenannte „BG Cup“ statt: Ein zweitägiger Fußballwettbewerb, an dem bulgarische Fuβballmannschaften aus ganz Deutschland, in den letzten drei Jahren auch aus anderen europäischen Ländern, teilnehmen. Die Mannschaften sind unterschiedlich regional verteilt. Aus Köln nahmen z. B. vier Mannschaften teil. Der Wettbewerb findet im Juli unter der Schirmherrschaft von Moneygram statt. Seit 2017 findet in Köln auch ein Hallenwettbewerb im Winter statt. In Deutschland wurden auch zahlreiche bulgarisch-orthodoxe Kirchen gegründet. In der Regel werden die Gottesdienste in angemieteten Räumlichkeiten der lokalen evangelischen oder katholischen Kirchen durchgeführt. So nutzt die Kirche „König Boris I“11 in Frankfurt am Main die Räume einer lokalen Kirche. Sehr aktiv sind die kirchlichen orthodoxen Gemeinden wie „St. Kliment Ochridski“12 in München, „St. Kyrill und Method“13 in Stuttgart, „St. Theodossi Tarnovski14“ in Nürnberg oder „St. König Boris I“ in Frankfurt am Main. Sehr intensiv ist die Arbeit der unterschiedlichen Bildungsorganisationen, die sich vor allem für die Gründung bulgarischer Schulen in Deutschland einsetzen. Diese Schulen haben in der Regel einen komplementären Charakter – sie
11Benannt
nach dem bulgarischen König Boris I (852–889). nach dem bulgarischen mittelalterlichen Geistlichen Hl. Kliment von Ochrid. 13Benannt nach den Gelehrten Kyril und Method, die das kyrillischen Alphabet geschaffen haben. 14Benannt nach dem bulgarischen Geistlichen Theodossi von Tarnowo. 12Benannt
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ergänzen das deutsche Bildungssystem und ersetzen es nicht. In diesen privat organisierten Schulen wird neben der Geschichte und Geografie Bulgariens auch Bulgarisch angeboten. Initiator*innen sind in der Regel die Eltern, die privat Geld sammeln, um Räumlichkeiten zu mieten und private Lehrer*innen zu bezahlen. Die Lehrkräfte sind Pädagog*innen aus Bulgarien, die sich in Deutschland aufhalten und freiwillig erklären, an diesen Schulen gegen ein geringes Honorar zu lehren. Der bulgarische Staat unterstützt die Schulen mit Lehrbüchern. Wenn die Schulen staatlichen Zuschuss aus Bulgarien erhalten möchten, müssen sie ihren Lehrplan an bestimmte Normen anpassen. In manchen Fällen wird dies angestrebt; die meisten Schulen haben allerdings nicht das Ziel, diese Förderung zu beantragen. Sehr aktiv ist beispielsweise die bulgarische Schule „Vasil Levski“15 (Frankfurt am Main), der bulgarische Schulverein „Balgartsche“ (Heidelberg), „Dr. Petar Beron“16 (Mannheim), „Jan Bibian“ (Karlsruhe), „Wir, die Spatzen“ (Stuttgart), „Dora Gabe“ (München). Bulgarische Schulen sind auch in Ostdeutschland gegründet worden z. B. in Leipzig, Magdeburg und Berlin. In den letzten Jahren wird eine Dachorganisation der bulgarischen Bildungseinrichtungen im Ausland etabliert – die Vereinigung der bulgarischen Schulen im Ausland (vgl. Asociacija na bulgarskite ucilista o. J.). Bulgarische Kulturvereine widmen ihre Tätigkeit nicht ausschließlich der Bildung, sondern im weitesten Sinne der kulturellen Zusammenarbeit. Sehr aktiv ist die Organisation „Zlaten vek“ (Nürnberg) sowie die Deutsch-bulgarische soziokulturelle Vereinigung in Magdeburg. In einzelnen deutschen Medien werden Programme in bulgarischer Sprache angeboten, so z. B. in der Deutschen Welle oder im Programm „Grenzenlos“ des Radiosenders „Querfunk“ in Karlsruhe. In Berlin können das bulgarische Radio und Fernsehen „BG-RTV Berlin“ sowie „Radio Bulgaria“ empfangen werden. Mit der Zunahme der Internettechnologien ist das Empfangen bulgarischer Radiound Fernsehsender in Deutschland einfacher, kostengünstiger und technisch unkomplizierter geworden. Die Bulgar*innen greifen auch auf die Internetpräsenz der Agentur für Bulgar*innen im Ausland zu (vgl. Durzavna agencija za bulgarite v chuzbina o. J.). Nach offiziellen Informationen der staatlichen Agentur für Bulgar*innen im Ausland mit dem Sitz in Bulgarien (die Information wurde auf freiwilliger Basis
15Benannt
nach dem Ideologen der bulgarischen Freiheitsbewegung gegen das Osmanische Reich Vasil Levski. 16Benannt nach dem bulgarischen Arzt und Wissenschaftler Petar Beron.
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von den Vereinigungen zur Verfügung gestellt) wurden in Deutschland offiziell 63 Migrant*innenselbstorganisationen von bulgarischen Staatsbürger*innen angemeldet. Davon sind 27 kulturell, 13 kirchlich, 5 studentisch, 2 medial und 16 bildungsorientiert (vgl. Ethnologisches Institut zur BAW 2014).
7.3 Typische Migrant*innenfiguren In den durchgeführten Interviews können Migrant*innenbiografien, die typisch für die Zeit nach 2007 sind, hervorgehoben werden. Im Folgenden werden sie zusammengefasst. Die Migrant*innenbiografien, die für die vorherige Periode (1990–2007) im Rahmen der Analyse als typisch identifiziert wurden, können teilweise auch nach 2007 festgestellt werden. Weiterhin präsent ist die Figur des bulgarischen Studenten/der bulgarischen Studentin in Deutschland. Ein Teil der Student*innen stammt wie in der vorherigen Periode aus Familien, die ihnen keine finanzielle Unterstützung anbieten können; nach 2007 nimmt allerdings die Anzahl der Student*innen, die zumindest teilweise von ihren Eltern unterstützt werden können, zu. Diese Veränderung resultiert aus der Steigerung des Durchschnittseinkommens in Bulgarien infolge des EU-Beitritts des Landes und der zahlreichen internationalen Wirtschaftsinvestitionen. Das Phänomen des Scheinstudiums ist nach 2007 nicht mehr festzustellen: Es ist nicht mehr notwendig, als Student*in immatrikuliert zu sein, damit man das Recht auf einen Aufenthalt in Deutschland hat. Nach 2007 wird die Arbeitsmigration die wichtigste Form der Migration von Bulgarien nach Deutschland. Der/die bulgarische Arbeitsmigrant*in ist dabei nicht mehr verdeckt: Er/Sie wandert ein, um seinen/ihren Beruf auszuüben und über ein besseres Einkommen zu verfügen. Arbeitsmigrant*innen werden in dieser Zeit jedoch heterogener: Es wandern sowohl hoch-, als auch niedrigqualifizierte Migrant*innen, Selbstständige sowie abhängig Beschäftigte, Männer wie Frauen, Personen, die in allen Bereichen der Wirtschaft – von Computerfachleuten bis hin zu Pflege- und Reinigungskräften – tätig sind. Weiterhin verbreitet ist auch die Heiratsmigration. Die pro-FormaHeiratsmigration, die den Aufenthaltsstatus sichert und einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt gewährleistet, verliert an Bedeutung. Die Heiratsmigrant*innen sind nach 2007 nicht nur de jure, sondern auch de facto Personen, die aufgrund einer bestehenden oder zu schließenden Ehe nach Deutschland migrieren. Neu ist die Tendenz der Zunahme der intraethnischen Ehen d. h. der
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Ehen zwischen ethnischen Bulgar*innen. Da die Statistik die Staatsangehörigkeit und nicht die ethnische Zugehörigkeit feststellt, bleibt allerdings der intraethnische Charakter der geschlossenen Ehen oft verdeckt. Die Ehen zwischen zwei ethnischen Bulgar*innen, die deutsche Staatsbürger*innen sind, werden von der Statistik als Ehen zwischen Deutschen erfasst. Eine neue Entwicklung ist mit der Zunahme der „Beziehungsmigration“ verbunden: Menschen, die nicht verheiratet oder verpartnert sind folgen aufgrund der informellen Beziehung dem Partner bzw. der Partnerin. Diese Entwicklung resultiert aus der Freizügigkeit im Rahmen der EU. Nicht mehr vorhanden sind die Figuren der irregulären (illegalen) Migrant*innen und des Asylbewerbers. Als EU-Bürger*innen können sich die Bulgar*innen nicht irregulär in Deutschland aufhalten. Sie haben auch nicht das Recht einen Antrag auf Asyl zu stellen. Allerdings etabliert sich in der Zeit 2007– 2014 die Figur der irregulär Beschäftigten. Nach 2007 können neue Migrantentypen z. B. der/die Online-Migrant*in analytisch festgestellt werden. Zu ihnen gehören Personen, die mit unterschiedlicher Intensität die neuen Medien nutzen, um mit ihren Familien und Freunden in den Herkunftsgesellschaften kommunizieren zu können. De facto gehört der Großteil der bulgarischen Migrant*innen zu den Online-Migrant*innen. Zu ihnen gehören aber auch Personen, die ihr Herkunftsland nie verlassen haben. Sie „migrieren“ durch die neuen Kommunikationstechnologien, indem sie mit Menschen, die sich außerhalb ihres Wohnortes aufhalten, kommunizieren, ihnen Rat geben, ihnen helfen, zusammen mit ihnen Pläne schmieden, gemeinsam Projekte bearbeiten, etc. Die Online-Migrant*innen nutzen die Kommunikationsressourcen nicht nur um sich zu informieren, sondern auch um sich zu beteiligen; die Kommunikationstechnologien werden z. B. zum Zweck der politischen Partizipation verwendet. Ebenso werden virtuelle Sprachkurse, Übersetzungen, Unterstützungsmöglichkeiten beim Lernen oder bei Prüfungen angeboten. Unter den neuen Migrant*innen, die nach 2007 nach Deutschland eingewandert sind, etabliert sich die sogenannte „zweite Generation“ – Kinder der migrierten Bulgar*innen, die in Deutschland aufwachsen, deutsche Kindergärten und Schulen und bulgarische Kurse oder Schulen komplementär besuchen. Es handelt sich dabei nicht um ein vollständig neues Phänomen – auch in den vorherigen Perioden sind Kinder bulgarischer Eltern in Deutschland aufgewachsen. Neu ist, dass die Anzahl der Personen, die zur zweiten Generation gehören, nach 2007 steigt. Verändert haben sich auch die Bedingungen, unter denen diese Generation aufwächst: In einer bulgarischen Gemeinschaft und in den von den Eltern gegründeten Einrichtungen wie Vereine, Schulen etc. In den vorherigen Perioden sind Kinder bulgarischer Herkunft vor allem, wenn auch nicht
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ausschließlich, mit ihren deutschen Gleichaltrigen aufgewachsen. So stand ihre bulgarische Zugehörigkeit nicht im Vordergrund ihrer Sozialisation. Die Tatsache, dass mehr Kinder bulgarischer Herkunft in Deutschland aufwachsen, deutet auf die relative Stabilisierung des Aufenthaltsstatus der Eltern und auf die Festigung ihrer Migrationspläne hin. Es ist noch nicht einzuschätzen, inwieweit die zweite Generation mit Schwierigkeiten konfrontiert sein und sich in ihrer Entwicklung an die zweite Generation der türkeistämmigen oder der GUS-stämmigen Jugendlichen annähern bzw. davon unterscheiden wird. Nach 2007 ist eine weitere Subgruppe der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland festzustellen: Personen, die neu zugewandert sind. Die meisten neu Zugewanderten, die nach 2007 nach Deutschland kommen, wandern direkt aus Bulgarien ein. Zu ihnen gehören überwiegend Personen mit einer geringen Qualifikation und ohne deutsche Sprachkenntnisse, die in Bulgarien unter Armutsbedingungen gelebt haben. In der deutschen Öffentlichkeit wurden sie mit dem Sammelbegriff „Armutsmigrant*innen“ bezeichnet, wobei diese Bezeichnung stigmatisierend und nicht präzise ist. Es handelt sich um eine niedrig qualifizierte, teilweise auch ethnische Migration, die als „Kettenmigration“ oder „Verpflanzung der Gemeinschaft“ im Sinne von Friedrich Heckmann (Heckmann 1992, S. 66) verstanden werden kann. Bei dieser Gruppe ist der Anteil der irregulär Beschäftigten hoch. Es handelt sich bei den neu zugewanderten bulgarischen Migrant*innen um Personen, die vorher in einem anderen EU-Land z. B. in Spanien oder in Griechenland oder in einem außereuropäischen Land z. B. in den USA oder Kanada gelebt haben. Besonders die Migrant*innen, die vorher in den USA oder Kanada gelebt haben, haben einen höheren Bildungs- und Einkommensstatus. Hingegen haben die meisten bulgarischen Migrant*innen, die aus Spanien oder Griechenland nach Deutschland einwandern, eine geringere Qualifikation. Die Migration unterschiedlicher Gruppen neu Zugewanderter ist symptomatisch für die Vielfalt der Migrant*innenbiografien; sie hebt die zunehmende Heterogenität der bulgarischen Migration in Deutschland hervor. In der Regel kommen Personen aus Spanien und Griechenland infolge der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 nach Deutschland. Hingegen kommen aus den USA oder Kanada Personen mit höheren Qualifikation, die aufgrund ihrer privaten Lebensplanung oder Präferenzen in Europa leben möchten. Als Argumente werden daneben die geografische Nähe an Bulgarien und die Ähnlichkeiten bezüglich der europäischen Lebensart hervorgehoben. Unter den bulgarischen Migrant*innen etabliert sich zunehmend ein neuer Typos – der der Rentner*innen. Bulgarische Staatsbürger*innen im Rentenalter wandern nach 2007 nach Deutschland ein, mieten oder kaufen eine Wohnung
7.3 Typische Migrant*innenfiguren
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und verbringen ihr Lebensalter in Deutschland. Es handelt sich um Personen, die materiell wohlhabend sind. Aufgrund der Rückgabe des im Jahr 1945 verstaatlichten Eigentums, besitzen sie in Bulgarien Wohnungen, die sie vermieten oder Agrarland, das sie verpachten können. Von den Erträgen können sie gut leben, obwohl ihre staatlichen Renten niedrig sind. Es handelt sich bei den bulgarischen Rentner*innen allerdings um eine statistisch sehr geringe Gruppe. Häufiger wandern Rentner*innen nach Deutschland ein, deren Kinder in Deutschland leben und arbeiten. Sie helfen bei der Erziehung der Enkelkinder und wohnen bei ihren Kindern oder in speziell angemieteten Wohnungen. Letzteres berechtigt sie, Wohngeld oder Sozialrente zu beziehen. Nach 2007 etabliert sich die Figur des/der mobilen Migrant*in – Menschen, die permanent in Bewegung sind, keinen Lebensmittelpunkt haben, in ein neues Land einwandern und zwar nicht, um dort zu bleiben und Wurzeln zu schlagen, sondern um wieder zu gehen bzw. um weiter zu ziehen. Sie kommen und gehen, wechseln die Arbeitsstelle und Städte, pendeln zwischen Ländern oder führen transnationale oder gar transkontinentale Fernbeziehungen. Im Unterschied zum/ zur klassischen Migrant*in, der/die mit dem klaren Ziel und mit der Perspektive zu bleiben und sesshaft zu werden einwandert, wandert der/die Mobile mit der Intention ein, nicht lange an einem Ort bleiben zu wollen. Die Bewegung ist geplant bzw. „vorprogrammiert“ und bietet die Möglichkeiten, die die Sesshaftigkeit nicht bieten kann. Die Mobilen können typologisiert werden. Analytisch kann bezogen auf die soziale Struktur die Gruppe der hochqualifizierten Mobilen hervorgehoben werden, die ein hohes Einkommen erzielen und mobil sind, um bessere Verdienstmöglichkeiten zu finden bzw. die besten Angebote der Head-Hunters anzunehmen. Anna Krasteva bezeichnet sie in Anlehnung an Favell als “Eurostars“ (vgl. Krasteva 2014, S. 259, Favell 2008) und fasst darunter die Menschen, die nach dem Abschluss eines fremdsprachigen Gymnasiums in Bulgarien durch ein Studium in den USA oder in Westeuropa eine gute Qualifikation erworben haben und nach dem Studienabschluss Praktika, Stipendien, Post-Doc-Stellen, Volontariate etc. annehmen. In der Regel sind sie durch die finanzielle Unterstützung ihrer Familien abgesichert. Sie sind hoch qualifiziert, gut bezahlt, oft jung, gebildet, unverheiratet, ohne Kinder und suchen den Anschluss an die sogenannte “global business class“. Sie unterscheiden sich von den mobilen Pendler*innen – von Personen, die beruflich zwischen Bulgarien und Deutschland pendeln z. B. von Personen, die in Deutschland Autos kaufen und sie in Bulgarien verkaufen, Mitarbeiter*innen von Logistikunternehmen oder Fluggesellschaften, internationale Bahnmitarbeiter*innen, entsandte Arbeiter*innen auf Baustellen oder im Handwerk,
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Saisonarbeiter*innen etc. Diese Personen sind zwar mobil, ihre Mobilität kennzeichnet sich allerdings strukturell durch die Zugehörigkeit zu einer anderen Schicht. Diese Mobilität ist kein Ausdruck einer individuellen Präferenz, eine Befreiung oder Unabhängigkeit von strukturellen Zwängen, sondern ein Ausdruck eines Zwangs: Damit man einen bestimmten Lebensstandard hat, muss man mobil sein; man muss die Familie verlassen, um wochen- oder monatelang in einem fremden und nie zum Eigen werdenden Land zu arbeiten. Diese Mobilität ist der Gegenteil davon, was heute in einigen Studien als “befreiende Mobilität“ stilisiert wird (vgl. Krasteva 2014, Terkessidis und Holert 2006). Oft werden die Mobilen bzw. die Expats17 als die “Königsklasse“ der Migrant*innen beschrieben. Dabei blendet man die Formen der Mobilität aus, die nachweisen, dass auch in der Mobilität strukturelle Zwänge vorhanden sind und die Mobilität an sich nicht befreiender als die Migration ist. Die soziale Schichtung beeinflusst die Mobilität genauso wie sie die Migration beeinflusst. Mobile Menschen wie beispielsweise Handwerkerinnen, Mitarbeiter von Transportunternehmen, Diplomatinnen, Expats, Handelsvertreterinnen, ProfiFuβballspieler*innen hat es schon in der Geschichte der Migration gegeben. Durch die Öffnung der Grenzen infolge der Osterweiterung der EU erreicht die Mobilität ein neues Ausmaß. Durch den EU-Beitritt Bulgariens, durch die Internetkommunikation und durch die günstigen Transportmöglichkeiten öffnet sich die Mobilität zunehmend auch für bulgarische Staatsbürger*innen. Es sind die Veränderungen in den sozialen Strukturen (beispielsweise Erasmus-Programme und Firmen, die weltweit agieren und Mitarbeiter*innen entsenden) und in den Mentalitäten (es ist “cool“ mobil zu sein, sesshaft zu sein gilt hingegen als altmodisch und unflexibel), die die Mobilität auf Mikroebene beschleunigen. Die Figur des/der mobilen Bulgar*in existierte in allen Perioden, doch vor 2007 ist sie als eine Ausnahme zu betrachten. Denn ausgerechnet die Mobilität – die freie Bewegung und der freie Aufenthalt – waren in der sozialistischen Periode (1945–1989) nicht gestattet. Die Bewegung unterlag damals einer strengen staatlichen Kontrolle. In der Zeit nach der Wende und vor dem EU-Beitritt Bulgariens (1990–2007) ist die Mobilität durch die Migrations bestimmungen der westeuropäischen Staaten eingeschränkt. In den beiden Perioden wird die Figur des Mobilen von Menschen verkörpert, die bei den diplomatischen Vertretungen, bei den Handelsvertretungen, bei Logistikunternehmen (bei der Logistikfirma TIR, bei der staatlichen Bahngesellschaft,
17Expatriate
sind Fachkräfte, die von internationalen Unternehmen, in denen sie eingestellt wurden, an eine ausländische Niederlassung entsandt werden.
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bei der staatlichen Fluggesellschaft), bzw. als Wissenschaftler*innen und Korrespondent*innen tätig gewesen sind. Nach 2007 nimmt die Mobilität nicht nur an Intensität zu, sondern sie wird auch für soziale Schichten zugänglich, für die sie vorher nicht möglich gewesen ist. Die Möglichkeit, mobil zu sein, steht nach 2007, zumindest theoretisch, jedem zu. De facto stehen die Mobilitätsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem individuellen sozialen Status, dem ausgeübten Beruf, der konkreten Partizipation in sozialen Netzwerken, den Sprachkenntnissen, der Risikobereitschaft und der Fähigkeit der sozialen Akteur*innen, sich in einer neuen Umgebung zurecht zu finden. Verglichen mit den Hürden, die in den vorherigen Perioden existierten, sind das überwindbare Schranken, da sie auf einer Mikroebene liegen und durch die Individuen stärker beeinflusst werden können. Nach 2007 nimmt bei insgesamt steigendem Lebensstandard auch die soziale Schichtung der bulgarischen Gesellschaft zu: Nicht nur (angehende) Akademikerinnen, sondern vor allem Handwerker*innen, Pfleger*innen und Autohändler*innen, die aus Bulgarien stammen, wandern aus und/oder werden mobiler. Die mobilen Bulgar*innen werden heterogener: Zu ihnen gehören sowohl Wissenschaftler, als auch Handwerkerinnen, Pfleger*innen, Selbstständige, Anwält*innen, Steuerberater*innen, Journalist*innen, NROMitarbeiter*innen etc. Was ist typisch für die Gruppe der Mobilen? Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie sich im Unterschied zu den Migrant*innen nicht bewegen, um an einem neuen Ort anzukommen und zu bleiben, sondern um ihre materiellen (Finanzen) oder immaterielles (Bildung) Kapital zu erhöhen. Die Bewegung, die Mobilität, ist der Kern ihrer Existenz. Wie wird dieser Kern von den mobilen Bulgar*innen erlebt? An erster Stelle wird von den interviewten Personen die Gewöhnung an die ständige Bewegung genannt. So wird der Umzug in eine neue Stadt oder in ein neues Land zur Gewohnheit und nicht mehr emotional erlebt. Es ist eine Gewöhnung an die ständige Änderung und Bewegung und zwar nicht nur im geografischen, sondern auch im kulturellen, sozialen und sprachlichen Raum festzustellen: „Ich bin daran gewöhnt zu reisen. In meinem ganzen Leben bin ich gereist. Das ist nichts Neues. Es ist keine Emotion mehr da […] Seit meinem vierten Lebensjahr reise ich um die Welt. Ich lebe zwei-drei Jahre in verschiedenen Ländern, kehre zurück nach Bulgarien, reise wieder aus und wieder zurück. Das ist ein Zyklus, der bei mir zum Lebenszyklus geworden ist […] ich habe ständig im Ausland gelebt, ich habe sogar zweimal jeweils drei Jahre eine deutsche Schule besucht […] Ich bin in meinem ganzen Leben zwischen den Kulturen gewesen. Deswegen kann ich keinen kulturellen Schock erleben. […] Ich habe immer nach diesem Rotationsprinzip gelebt und mich kann nichts erschrecken, nichts kann mir fremd genug sein“ (I 13).
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Die Person stammt aus einer Diplomat*innenfamilie, die schon in der Zeit des Sozialismus außerhalb von Bulgarien gelebt hat. Der Lebensstil eines mobilen Menschen ist ihr seit ihrem Kindesalter bekannt. Dieser wird auch positiv bewertet: „Ich bin dankbar, dass ich diese Chance hatte, im Ausland zu leben, die mir meine Mutter und mein Vater gegeben haben. Ich schätze sehr, dass ich die Chance hatte, weltoffener aufzuwachsen als der/die durchschnittliche Bulgar*in. Ich hatte Freiheiten, die die anderen in Bulgarien gar nicht hatten. Ich hatte Kontakt zu verschiedenen Kulturen. Und das kann mir keiner nehmen“ (I 13).
Die Mobilität wird von einem Teil der interviewten Personen als Chance, das eigene Leben frei zu gestalten, nach Möglichkeiten zu suchen, das Beste für sich zu wählen, auf Optionen verzichten zu können, nicht abhängig zu werden, wahrgenommen. Diese positive Einstellung zur Mobilität ist eng mit dem sozialen Status der jeweiligen Personen verbunden. „Wir wandern jetzt wieder aus. Wir waren in Kanada, in Montreal, jetzt sind wir in Deutschland – wir waren in München, dann in Karlsruhe und nächsten Monat geht es ab in die USA. Ich war nie dort, aber man sagt, dass der Ort, wo wir hinfahren, einer der schönsten Orten auf der Welt ist. Wir ziehen in die Bay Area, direkt bei San Francisco. Mal schauen wie lange wir dortbleiben“ (I 21).
Als Beispiel für diese positive Einstellung zur Mobilität kann die Biografie einer Bulgarin, die 1972 geboren wurde, genannt werden. Ihre Mutter ist polnischstämmig, ihr Vater kommt aus Bulgarien. Die beiden studieren in der DDR, wo sie sich kennenlernen. Nach dem Ende des Studiums ziehen die beiden nach Bulgarien. Die Tochter wird in Bulgarien geboren und wächst dort auf. Ihre Muttersprachen sind Polnisch und Bulgarisch. Nach 1989 nimmt sie ihr Studium in Polen auf. Während des Studiums in Polen hat sie einen einjährigen Studienaufenthalt in Belgien. Nach dem Abschluss bewirbt sie sich um einen Studienplatz in den USA, sie bekommt ein Stipendium für ein Masterstudium an einer US-amerikanischen Universität, das sie abschließt. Im Anschluss daran beginnt sie mit ihrer Promotion, die sie erfolgreich in der USA abschließt. Während ihres USA-Studiums hat sie einen Aufenthalt in Frankreich. Nach 2007 beginnt sie nach Erwerbsmöglichkeiten in der EU zu suchen. 2008 bekommt sie eine Stelle in Berlin, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Zum Zeitpunkt der Durchführung des Interviews scheint die Mobilität in eine dauerhafte Migration zu münden. Ein weiteres Beispiel ist das Leben einer bulgarischen Wissenschaftlerin, geboren im Jahr 1979. 1997 absolviert sie das Englische Gymnasium in Sofia.
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Danach studiert sie an der Universität in Sofia Philosophie. Nach dem Ende des Studiums bewirbt sie sich um ein Stipendium für ein Masterstudium an der Central-European University in Budapest. Dort schließt sie schließlich ihr Studium in Geschichte ab und kehrt danach für ca. 6 Monate nach Bulgarien zurück und bewirbt sich für ein Doktorandenstipendium in Berlin. Sie bekommt kein volles Stipendium, sodass eine erzwungene Pendelmigration zwischen Bulgarien und Deutschland beginnt. Prekäre Beschäftigungen auf Honorarbasis und Zeiten guter Finanzierung wechseln sich ab. Die Promotion dauert ca. 7 Jahre. Nach dem erfolgreichen Promotionsabschluss beginnt die P ost-Doc-Phase mit Forschungsaufenthalten in Budapest, Wien, Jena, Konstanz, Helsinki und Florenz. Diese Forschungsaufenthalte enden in der Regel mit kürzeren oder längeren Phasen der Rückkehr nach Sofia, wo das nächste Stipendium abgewartet wird. Die Zeiten der hohen Motivation und „Euphorie“ (eigene Bezeichnung) reihen sich in Zeiten der Enttäuschung und Resignation. „Mein Freund kam nach Bulgarien […] Dann sind wir nach Budapest für einen Monat gezogen, dann sind wir weiter nach Berlin, wo meine Disputation stattgefunden hat. Dann sind wir wieder kurz in Sofia gewesen, dort sind wir zwei Monate geblieben. Dann fuhren wir nach Helsinki, wo wir drei Monate an einem Projekt gearbeitet haben. Dann waren wir wieder in Sofia und drei Monate später habe ich das Stipendium erhalten, um ein Jahr in Konstanz zu forschen. Mein Freund ist mitgekommen. Jetzt ist er in Jena, wo er auch ein Stipendium hat“ (I 30).
Die Option an einem Ort fest zu bleiben wird zum einen als nicht realistisch eingeschätzt – die Möglichkeit sich um Post-Doc-Stipendien an Forschungsinstituten zu bewerben ist (gefühlt) nur aus einer Mobilität heraus gegeben. Zum anderen wird die Sesshaftigkeit als negativ und nicht erstrebenswert eingeschätzt; sie wird als „langweilig“, „engstirnig“ und „einschränkend“ (I 30) bezeichnet. Von der interviewten Person wird zwischen den ‚erfolgreichen‘ und ‚weltoffenen‘ Mobilen und den ‚langweiligen‘ und ‚engstirnigen‘ Sesshaften unterschieden. Sie nimmt damit eine Einteilung vor, die die eigene Position untermauert und den eigenen Lebenslauf als ‚erfolgreiche Lebensstrategie‘ bewertet. Laut der interviewten Person bietet die Mobilität mehr Chancen, Optionen und Freiheiten als die Sesshaftigkeit: „Ich bin keine Migrantin. Ich will nicht auswandern und irgendwo einwandern. Aber Bulgarien ist für mich nie ein Ort gewesen, wo ich mein ganzes Leben verbringen kann […] Sofia hat mich erstickt und emotional eingeengt. Auch der Freundeskreis. Immer die gleichen Leute, die gleichen Kneipen, die gleichen Gespräche […] und all diese Erwartungen im Freundeskreis. So musste ich weg. Und so muss ich immer wieder weg“ (I 30).
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Auch in der Mobilität ist die soziale Schichtung deutlich zu erkennen, was die Geschichte einer Bulgarin verdeutlicht. Sie (I 10) stammt aus der zweitgrößten bulgarischen Stadt Plovidv, hat einen Hauptschulabschluss und danach lediglich Gelegenheitstätigkeiten angenommen. Sie spricht kein Deutsch, als sie 2008 nach Dortmund kommt, um dort Arbeit bzw. ein besseres Auskommen zu suchen. Sie wohnt zunächst bei ihrem Cousin, der ein Jahr früher nach Dortmund migriert ist; ihre Kinder bleiben in Bulgarien. Sie beginnt irregulär zu arbeiten, wobei ihre Erwerbstätigkeiten Gelegenheitscharakter haben. Nach Möglichkeit schickt sie Geld zu ihren Verwandten, die in Bulgarien leben und fährt regelmäßig nach Plovdiv, um ihre Kinder wiederzusehen. A. erlebt die Mobilität als eine schwere Belastung. Sie wünscht sich, dass ihre Kinder zu ihr nach Dortmund kommen können und sie nicht mehr als einmal im Jahr nach Plovidv fliegen muss. 2015 ist das Ende der erzwungenen Mobilität sichtbar und wird als Erleichterung angesehen – ihre Kinder kommen nach Dortmund. Von Menschen, die niedrigere Bildungsabschlüsse und Einkommen haben, wird die Mobilität nicht als befreiend, sondern als erzwungen und unerwünscht erlebt. Ein neues Phänomen sind die sogenannten „mobilen Entsandten“. Nach der EU-Richtlinie Nr. 96/71/ EG (Europäisches Parlament 1996) dürfen Arbeitnehmer*innen nach den Arbeitsbedingungen eines EU-Mitgliedsstaates kurzfristig in einem anderen Mitgliedsstaat beschäftigt werden. In der Praxis werden bulgarische Arbeitnehmer*innen in Bulgarien eingestellt und in bulgarischen Subunternehmen in Deutschland beschäftigt. Die Arbeitsbedingungen sind oft prekär – die Arbeitnehmer*innen haben keine Mittel, sich dagegen zu wehren, da sie weder die Sprache noch die Rechte der Aufnahmegesellschaft kennen. Die entsandten Arbeiter*innen wohnen in zu diesem Zweck angemieteten Sammelunterkünften und arbeiten in der Regel bei Bauunternehmen, Paketzulieferern, Fleischereien oder in der ambulanten Pflege. Eine Integration ist weder von ihnen, noch von den Unternehmen, die sie engagiert haben, erwünscht und oft nicht möglich, da die Arbeitnehmer*innen nur kurzfristig bzw. einige Monate in Deutschland bleiben. Dann wandern sie bis zum nächsten Auftrag aus. Mit dem Geld, das sie verdienen, können sie ihr Leben in der Herkunftsgesellschaft finanzieren. Da sie keine Alternative haben, sind sie dazu gezwungen, immer wieder neue Aufträge anzunehmen, auch wenn sie prekär und schlecht bezahlt sind: Die Mobilität, die sie befreien und Möglichkeiten bieten soll, wird für diese Gruppe zu einer „Mobilitätsfalle“ (Wiley 1967, S. 147). Oft sind entsandte Arbeiter*innen niedrig qualifiziert, obwohl sich diese Beschäftigungsform nicht ausschließlich auf niedrig Qualifizierte bezieht. Bei den höher Qualifizierten besteht häufiger die Möglichkeit, dass sie einen besser
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bezahlten Arbeitsplatz finden. Je höher die Qualifikation, desto besser die Sprachkenntnisse und dementsprechend besser die Chancen, die Mobilität nicht als eine Mobilitätsfalle zu erfahren. Bei den höher qualifizierten Mobilen ist sowohl die Ausreise als auch die Rückkehr mit Möglichkeiten und Chancen verbunden. Nach einem kurzfristigen Aufenthalt im Ausland zurück nach Bulgarien zu kommen bedeutet nicht ‚das Ende der Reise‘, sondern eine temporäre Auszeit, eine Vorbereitung auf die nächste Reise bzw. das nächste mobile Projekt. „Meine Rückkehr nach Sofia – ich hatte nie die Idee, ich gehe zurück und das war es. Für mich war in diesem Lebensabschnitt das Reisen, das Leben in neuen Städten, insbesondere in Zentraleuropa … das war nicht nur meine Lebensart, sondern das ist ein Teil von mir geworden. Ich würde nie darauf verzichten. Das war eine Schwierigkeit, die ich in der Kommunikation mit meinen bulgarischen Freunden hatte – sie haben gefragt, ob ich für immer zurückkehre oder in Deutschland bleiben würde. Und es war furchtbar schwierig für mich zu erklären, dass für mich keine der beiden Optionen wirklich attraktiv ist. In meinem Leben ist kein Endziel, kein Ziel der Reise, das ich jemals erreiche. Ich kann nicht mein Leben in einer Stadt denken, ich meine … in einer Stadt, in der ich ständig lebe und bis zum Ende meines Lebens bleiben werde“ (I 30).
Die Mobilen grenzen sich verbal von den Nicht-Mobilen ab. Die fehlende Mobilität wird als Defizit, als etwas, das unverständlich ist, bewertet. Aus der Perspektive der Mobilen ist die Mobilität und nicht die Sesshaftigkeit der ‚Normalfall‘. „Die wichtigsten Unterschiede sind nicht zwischen den Menschen in Deutschland und den Menschen in Bulgarien. Ich unterscheide zwischen den Menschen, die eine ähnliche Lebensart haben wie meine und den Menschen, die in ihrem Herkunftsland sesshaft geworden sind. […] Der Unterschied ist zwischen den Menschen, die bereit sind, den Koffer zu packen und für ein Jahr oder länger ins Ausland zu fahren, dort zu studieren, zu arbeiten. Und das gehört eben zu den normalen, täglichen Entscheidungen, die sie treffen […] Der Gegenpol sind die Menschen, die sich nicht vorstellen können im Ausland zu leben, sondern, wenn überhaupt, mal ne Urlaubsreise ins Ausland zu machen. Das sind Menschen, die keine Ahnung haben von den kleinen und großen Schwierigkeiten, die mit dem Umzug ins Ausland verbunden sind […] Ich kann z. B. keine Beziehung mit jemandem haben, der nie außerhalb Bulgariens gelebt hat […] Die Menschen, die nur an einem Ort gelebt haben … sie bewerten ihre Probleme dramatischer. In ihrer Welt ist kein Platz für die Sorgen der anderen. Für die Sorgen z. B. einer afrikanischen Frau […] Das Leben dieser Menschen finde ich schrecklich. Ich würde ihnen das nicht sagen, aber so empfinde ich es“ (I 30).
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Von den interviewten Personen, die besser qualifiziert sind und eine positive Sichtweise auf die Mobilität teilen, wird sowohl die Migration als auch die Mobilität als Bereicherung angesehen. „Das ist das Beste in der Welt, in der wir leben – dass sich die Menschen bewegen. Wenn du migrierst, siehst du nicht nur die lokale Kultur, sondern auch andere Menschen, die migrieren, die aus verschiedenen Ländern kommen – aus Indien, aus China, aus Afrika, aus Südamerika. Ich arbeite mit Portugiesen, mit Australiern, mit Indern, mit Chinesen, mit Russen, mit Österreichern, mit Amerikanern. Und es ist sehr spannend. Du lernst verdammt viel. Du änderst dich. Die Mobilität ändert dich. Du wirst zu einem neuen Menschen“ (I 23).
Die Mobilität übt aus Sicht dieser Personen eine positive Wirkung auf die Entwicklung der Persönlichkeit aus. Als positiv aufgeladene Begriffe, mit denen die Mobilität konnotiert wird, werden „Freiheit“, „Weltoffenheit“ und „Selbstvertrauen“ (z. B. in I 23 und I 30) genannt. „Dein Geschmack ändert sich, die Interessen ändern sich. Und das ist sehr seltsam. Ich habe erfahren, wie Avocado und Basilikum schmecken. Davon hat kein Mensch in Bulgarien gehört. Mein Vater wollte das nicht einmal probieren“ (I 9). „Das ist das Selbstvertrauen, egal wo du bist, dass du immer wieder einen neuen Ort zu deinem Zuhause machen kannst. Auch wenn es für eine kurze Zeit ist. Das ist das Gefühl der inneren Freiheit. Das Gefühl, dass du es schaffen wirst, selbstständig zu sein und alle Probleme zu lösen und vor allem aus jedem neuen Ort deine Stadt und dein Zuhause zu machen […] Als hättest du eine neue Seite aufgeschlagen. Du triffst neue Menschen und sie sind so interessant. Das Gespräch läuft gut, ich habe immer wieder diese Leidenschaft, die eigenen Gedanken zu formulieren und etwas Neues zu hören, was unerwartet ist“ (I 30). „Die Mobilität ist etwas Schwieriges, aber auch etwas Schönes. Sie bereichert dich. Du entwickelst ein komplett neues Wertesystem, denn du verstehst, dass unterschiedliche Werte auf der Welt existieren. Du wirst zu einem weltoffenen Menschen“ (I 23).
Das Wichtigste dabei ist nicht der materielle Erfolg, sondern das Gefühl ein „interessantes Leben“ zu haben. „Ich fühle mich wie ein Mensch, der sehr intensiv und vollwertig gelebt hat, der eine vielschichtige Erfahrung gesammelt hat und der selbstständig geworden ist und in der Lage ist, alle Situationen zu meistern. Ja, in diesem Sinne fühle ich mich erfolgreich. Ich habe nichts versäumt. Materiell bin ich wahrscheinlich nicht so erfolgreich. Ich weiß nicht, was das bedeutet, erfolgreich zu sein. Aber ich habe einen guten CV [Lebenslauf, ML]. Man kann mich nach meinem CV erkennen, an den Stationen, wo ich war. Das sind renommierte Institute. Man kennt mich nicht
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persönlich, so wie man sich an den bulgarischen Hochschulen kennt. Mann erkennt mich durch meinen CV – das ist eine anonyme und distanzierte Art, meinen Erfolg zu sehen“ (I 30).
Andererseits wird die Mobilität als eine Bürde wahrgenommen. Diese Wahrnehmung ist besonders stark bei den Personen, die weniger qualifiziert sind und bei denen die Mobilität zu einer Falle wird. Sie ist aber auf keinen Fall nur bei ihnen vorhanden: Selbst bei den besser Qualifizierten, bei den Interviewten, die die Mobilität grundsätzlich als etwas Positives bewerten, sind auch kritische Anmerkungen festzustellen: Das Gefühl, nirgendwo dazu zu gehören, kein Zuhause zu haben, immer auf dem Weg zu sein, keine Freundschaften pflegen zu können. Neben der Wahrnehmung der Mobilität als Bereicherung ist auch eine kritische Einstellung zu konstatieren, die die Mobilität als eine ‚Ausnutzung‘ oder ‚Ausbeutung‘ bestimmt bzw. die die Mobilität nicht aus den Bedürfnissen der sozialen Akteure, sondern aus den geänderten Strukturen in der Wirtschaft und Gesellschaft resultierend begreift. Die neoliberalen Beschäftigungsverhältnisse, die der zunehmenden Mobilität zugrunde liegen, werden besonders kritisch angesehen: Es gibt kaum feste Verträge und unbefristete Einstellungen; es wird vorausgesetzt, dass man mobil ist, um multilokal eingesetzt zu werden – dort, wo man gerade gebraucht wird. Der Beschluss nach Deutschland einzuwandern ist in solchen Fällen nicht geplant: „Die Entscheidung nach Deutschland zu kommen, ist absolut zufällig. Es hätte ein anderes Land sein können“ (I 30).
Man hat keine Zeit, sich vorzubereiten, sich auf das Neue einzustellen. Man lernt in der Praxis, im Alltag d. h. am neuen Ort. Es ist ein permanentes Lernen und Verlernen: „Ich habe vorher in den USA gelebt. Danach ist das Leben in Europa sehr gewöhnungsbedürftig gewesen. Ich musste vieles neu lernen“ (I 9).
Dabei hat man nicht das Ziel, in einer Gesellschaft zu bleiben, etwas mehr über diese Gesellschaft zu erfahren, sich zu ‚integrieren‘ und Kontakte aufzubauen, denn man weiß oft nicht, wie lange man am neuen Ort bleiben wird: „Ich habe bulgarische Freunde, die seit Jahren hier leben. Sie wollen integriert werden. Sie wollen zu einem Teil dieser Gesellschaft werden. Ich habe solche Ziele nicht. Ich versuche mich nicht zu integrieren, ich strebe nicht danach, denn ich bin ja bald wieder weg“ (I 11).
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Einerseits kann der fehlende Integrationszwang als Vorteil gewertet werden, andererseits wird er als Nachteil empfunden. Obwohl die ‚Integration‘ nicht als Ziel definiert wird, wird von den sozialen Akteur*innen die Notwendigkeit verspürt, die lokale Sprache zu lernen. „Wenn man die Sprache nicht spricht, unabhängig davon wie erfolgreich man fachlich und beruflich ist, ob man bei der NASA arbeitet oder in den Weltraum fliegt, das hat absolut keine Bedeutung, wenn man nicht in der Lage ist, ein normales Gespräch auf der Straße zu führen. Man hat mich mal auf der Straße nach irgendeiner Kleinigkeit gefragt, wahrscheinlich nach der Richtung. Und konnte nur sagen: ‚ich nicht verstehe, nicht verstehe‘. Das ist total doof gewesen“ (I 11).
Das Gefühl, dass man ‚wegfährt‘ und ‚zurückkehrt‘, geht bei den Mobilen verloren, da sie permanent in Bewegung sind. Die Rückkehr wird nicht mehr als ‚etwas Besonderes‘ empfunden. Mit der Zeit wird sie banalisiert. „Jedes Mal, wenn du zurückkehrst, fühlst du, dass es mehr und mehr zu einer Routine wird. Es ist nicht mehr so festlich. […] Zu Beginn waren die Rückkehrreisen nach Sofia immer was Besonderes. Das Gefühl einer Fiesta. Meine engsten Freunde haben gesagt: ‚Für uns ist jetzt eine besondere Zeit, wir werden nicht schlafen, wir müssen zwar morgen zu Arbeit, aber wir feiern, dass du zurück bist, denn du bleibst ja nur kurz hier‘. Und mit der Zeit geht dieses Gefühl verloren“ (I 30).
Man kehrt nicht richtig zurück, da man nicht lange bleiben kann. Aber man geht auch nicht richtig weg, da man regelmäßig zurückkehrt. Dieses Gefühl, permanent unterwegs zu sein, führt nach den Angaben der interviewten Personen zu einer physischen und geistigen Erschöpfung. „ich werde immer müde von all diesen Veränderungen. Erschöpft werde ich. Wenn ich jetzt in die USA muss, wird es schon schwierig werden. Aber der Job ist ja entscheidend“ (I 9). „Dieser entwurzelte Zustand … ich weiß nicht, ob ich will, dass er ewig dauert. Im Moment gefällt es mir, die Orte zu wechseln und neue Menschen zu treffen. Aber mit dem Alter ändert sich diese Einstellung. Und der Status der Menschen ändert sich. Das Verhältnis zwischen den Vor- und den Nachteilen verschiebt sich: Die Nachteile werden mit der Zeit mehr. Die Erwartungen der Menschen werden anders. Die Menschen sind in unterschiedlichen Lebensphasen, nicht wie im Studium, weißt du […] meine Freunde können meine Lebensart gar nicht verstehen. Sie verstehen nicht, was ich daran mag“ (I 30).
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Auch die finanzielle Ungewissheit ebenso die Unmöglichkeit, das berufliche und das private Leben zu planen werden als nachteilig empfunden. „Nach so einem Forschungsaufenthalt im Ausland kommt die Dürrezeit. Du kehrst nach Bulgarien zurück und hast erstmal kein Einkommen. Und du lebst vom Ersparten. Und du siehst, wie das Ersparte weniger wird. Und du weißt, dass die Krise kommt, die Schulden kommen, dass du eine unbestimmte Zeit so leben wirst und auf den nächsten Auftrag warten musst“ (I 30). „Ich bin Juniorprofessor. Für mich ist diese Unsicherheit sehr extrem. Ich muss Vollprofessor werden, damit ich sicher bin, dass ich weiterhin in diesem Beruf bleiben kann … Und die Frage ist, ob die Hochschule weiter existieren wird, denn wir suchen jetzt nach Sponsoren“ (I 9). „Die Unsicherheit zwischen zwei Stipendien ist bedrückend. Mit 35 bei den Eltern zu wohnen ist schon anders als mit 25. Oder die Eltern um Geld zu bitten, bis man den nächsten Auftrag erhalten hat“ (I 30).
Als Nachteil der Mobilität wird vermerkt, dass die Beziehungen zu Freund*innen distanzierter werden: „Ich habe Kontakte aber … na, ja … du weißt, wie es ist mit der Distanz. Die Freunde in Bulgarien – da geht vieles verloren. Mit denen habe ich kaum Kontakte“ (I 9).
„Die Erwartungen meiner Freunde in Bulgarien sind komisch. Wenn ich gehe und sie bleiben, denken sie, dass das Leben stillsteht. Aber es steht nicht still. Ich habe neue Leute getroffen […] Und diesen Spagat zwischen alten und neuen Freundschaften zu schaffen, ist für mich sehr schwierig“ (I 30). Allerdings wird auch das Aufbauen neuer Kontakte als schwierig bewertet, da man auch am neuen Ort nicht lange genug bleibt, um Freundschaften zu schließen. „Ich habe gute Kollegen, mit denen ich mich gut verstehe und ich freue mich, wenn ich sie sehe und so. Aber außerhalb der Arbeit sehe ich sie nicht. Ich habe keinen Kontakt mit ihnen außerhalb der Arbeit“ (I 11).
Eine der größten Herausforderungen der Mobilität ist das permanente (Kennen-) Lernen von neuen Menschen, Umgebungen, Regeln etc. Diese Herausforderung ist auch den klassischen Migrant*innen bekannt; solange es sich aber bei der klassischen Migration um eine einmalige Verlagerung des Lebensmittelpunktes
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handelt, ist die Anstrengung, die mit dem Kennenlernen einer neuen Umgebung verbunden ist, bei klassischen Migrant*innen geringer. „Ich erinnere mich daran, es war sehr schwierig im ersten Monat zurechtzukommen. Es ging um ganz praktische Sachen – (z. B.) ein Konto zu eröffnen. Da ich kein Deutsch gesprochen habe, war das schon schwierig. Und alles war so unterschiedlich – ich habe vorher in den Staaten gelebt und Europa war so anders. Ich musste alles neu lernen“ (I 9).
Die ständige Mobilität ist auch bei Familien, die Kinder haben, sehr kompliziert. Es müssen Entscheidungen für die sprachliche Erziehung der Kinder getroffen werden. Besonders dann, wenn das Kind in verschiedenen Ländern aufwächst, sind diese Entscheidungen sehr komplex. „Es war sehr interessant, denn als sie geboren wurde, wusste ich gar nicht, welche Sprache ich mit ihr sprechen soll. Ich konnte das gar nicht beschließen. […] Aber ich habe beschlossen, dass es doch wichtiger für mich ist, dass sie Bulgarisch spricht. Jede Sprache ist von Vorteil. Englisch und Deutsch wird sie sowieso lernen. Aber Bulgarisch kann sie nur lernen, wenn ich mit ihr Bulgarisch spreche“ (I 9).
Die Mobilität eröffnet zwar Möglichkeiten, verfestigt aber das Gefühl, keinen Lebensmittelpunkt und keine Heimat zu haben. „Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich zurückkehren kann. Auch wenn ich physisch zurückkehre, das wird keine Rückkehr mehr sein. Das wird nicht mehr das sein, was es früher war“ (I 9). „Ich kann nicht mein Leben in einer Stadt so konzipieren, dass ich dort permanent wohnen würde, dass ich mein ganzes Leben dort verbringen würde und arbeiten würde. Jeder Ort ist vergänglich, jeder Ort ist zeitlich befristet“ (I 30). „Die Nachrichten aus Deutschland interessieren mich nicht richtig. Ich kriege keine Informationen aus Deutschland. Ich informiere mich über Deutschland aus der bulgarischen oder aus der englischen Presse“ (I 35).
In der Zeit nach 2007 verändern sich die Möglichkeiten zu migrieren und mobil zu sein. Die Mobilität verspricht Chancen und Zugänge zu Ressourcen, die das Bleiben an einem Ort weniger attraktiv macht. Die Mobilen sind allerdings nicht unbedingt die erfolgreichsten unter den Migrant*innen in der Zeit nach 2007. Die Mobilität bietet zwar Chancen an, verlangt aber sehr viel Energie und so kommt mit der Zeit das Gefühl auf, dass man doch nicht mehr mobil sein und irgendwo
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ein Zuhause haben möchte. Die Mobilen sind teilweise Gewinner*innen der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen, wenn sie sich erstens schnell anpassen und auf Einiges wie Familie, Kinder und Lebensmittelpunkt verzichten können, wenn sie zweitens schnell lernen, sich in unbekannten Situationen zurechtzufinden und drittens emotional in der Lage sind, die ständigen Veränderungen, wie die Trennungen von Menschen zu verkraften. Die Mobilität ist die Essenz der neuen Zeit, die Verkörperung eines Zeitgeistes der ständigen, entschleunigten Bewegung; das sich der Wirtschaft und der Gesellschaft zur Verfügung stellen und die eigene Profitmaximierung. Der Mensch soll in der Utopie genauso mobil sein wie das Kapital. Die Realität zeigt, dass die Mobilität nur bedingt zum Gefühl führt, es ‚geschafft‘ zu haben. Vor allem deswegen, da in der Mobilität die ‚Referenzgruppe‘, die einem die Anerkennung erfolgreich zu sein gibt, verloren geht. Und man hat nicht die Zeit, eine neue Referenzgruppe aufzubauen. Man schafft sich virtuelle Communities und ersetzt die Anerkennung, die sich durch Nähe, Mitgefühl, Empathie und Miterleben auszeichnet, durch Facebook-‚Likes‘. Man ist ja mobil und dadurch in der Lage, schöne Bilder aus der ganzen Welt in Facebook hochzuladen. Das Gefühl, anerkannt und erfolgreich zu sein, lässt sich dadurch aber kaum verstärken. Nach 2007 wird das Gefühl, erfolgreich in der Migration zu sein, durch die Möglichkeit bestimmt, ein vollständiges Migrationsprojekt zu verwirklichen, sich dauerhaft im neuen Land zu etablieren, einen guten Beruf zu haben und ggf. eine Familie zu gründen. Die Mobilität wird zwar geschätzt – besonders in früheren Lebensphasen kann sie als eine erfolgreiche Karrierestrategie bezeichnet werden – wobei die Sesshaftigkeit in der Migration allerdings längerfristig gesehen wird bzw. höher belohnt und anerkannt ist. Allerdings garantiert die Sesshaftigkeit nicht den Erfolg. Besonders die Migrant*innen, darunter auch Akademiker*innen, die vor 2007 eingewandert sind und dadurch Anerkennung erhalten haben, dass sie sich ‚irgendwie‘ in Deutschland aufgehalten haben, sind die großen Verlierer*innen der vermehrten Optionen für die Migration. Das Gefühl der Exklusivität ihrer Migration geht durch die Öffnung der Grenzen verloren. Da ihr Status nicht auf besonderen Fähigkeiten oder auf einem guten und sicheren Einkommen beruht, verliert er an Wert. Erfolgreich sind diejenigen von ihnen, die unter diesen neuen Bedingungen die Entscheidung treffen, nach Bulgarien zurückzukehren und dort mit dem symbolischen Kapital der ‚Erfahrung im Ausland‘ ein neues, mit Sicherheit kein einfaches, Leben zu beginnen. In vielen Fällen ist diese Entscheidung aber nicht möglich: Vor allem erweist sich die Familiengründung als ein Hindernis für diese Strategie.
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7 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach …
Das Gefühl im eigenen Migrationsprojekt verloren zu sein, nimmt auch unter Akademiker*innen zu. Der Lebensweg vieler Migrant*innen und Mobilen ist nicht geradlinig. Eine Schlüsselerfahrung der Migration ist das Leben mit Fremdheiten und Ungewissheiten. Diese werden auch von den Migrant*innen als Bedrohung empfunden. Das Gefühl, dass die eigene Zugehörigkeit verloren geht, ist auch bei den bulgarischen Migrant*innen ausgeprägt. Es sind Migrant*innen, die in der Vielfalt der Optionen, die ihnen das eigene Migrationsprojekt anbietet, verloren gehen. Dabei geht es nicht darum, dass diese Personen finanzielle Schwierigkeiten haben; es geht vor allem darum, dass sie selbst kein klares Ziel ihres Migrationsprojekts erkennen. „Ich habe ein Problem – ich bin sehr verwirrt. Ich kann mir vorstellen vieles zu machen, an vielen Orten. Ich konnte mir früher vorstellen als Journalist oder als Psychologe zu arbeiten, dann später habe ich davon geträumt in der Gastronomie Fuß zu fassen. Ich habe in vielen Einrichtungen gearbeitet: in Restaurants, in Cafes, in Hotels, in Kneipen. In der Küche, an der Bar, als Bedienung, als Tellerwäscher, als Schichtleiter. Oder ich kann was im IT-Bereich arbeiten – das wäre auch eine Möglichkeit“ (I 14).
Die biografische Erzählung von (I 14) verdeutlicht diese These. Er kommt als Erasmus-Student im Alter von 21 nach Deutschland. Er folgt seiner Freundin, die vor ihm nach Deutschland gezogen ist. Nach zwei Jahren trennt sich von seiner Freundin. Parallel zu seinem Informatik-Studium an einer deutschen Universität beginnt er als Kellner zu arbeiten. In der Zwischenzeit findet er eine neue Freundin, zieht wegen ihr nach Bulgarien zurück, wo er zwei Jahre bleibt. Allerdings kann er dort nicht Fuß fassen, sodass er sich von seiner Freundin trennt und wieder nach Deutschland kommt. Er beginnt erneut zu kellnern aber er fühlt sich unwohl. Nach dem Abschluss einer Weiterbildung im Bereich Kosmetik kehrt er nach Bulgarien zurück und beginnt in einer bulgarischen Großstadt im Kosmetikstudio seiner Mutter zu arbeiten. Die Kontakte nach Deutschland sind weiterhin intensiv – (I 14) besucht Fachmessen für Kosmetik und vertritt eine deutsche Kosmetikfirma in Bulgarien.
7.4 Zusammenfassung 1. Zum 01.01.2007 wird Bulgarien Mitglied der Europäischen Union (EU). Daraus resultieren viele Veränderungen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Art, die zum einen die bulgarischen Staatsbürger*innen betreffen und zum anderen durch sie gestaltet werden. Die wichtigste Veränderung
7.4 Zusammenfassung
325
folgt aus dem Recht auf Freizügigkeit der bulgarischen Staatsbürger*innen, also dem Recht der freien Fortbewegung und Sesshaftigkeit in der EU. 2. Infolge der Mitgliedschaft in der EU ist für die bulgarische Wirtschaft ein Wachstum (vgl. Primatarova et al. 2017, S. 5 ff und 23–50) zu konstatieren. Daraus resultiert eine allmähliche Steigerung des Lebensstandards in Bulgarien. Dieser ist allerdings ungleichmäßig verteilt und führt zu einer weiteren Erhöhung der existierenden sozialen Unterschiede. Nach 2007 ist eine zunehmende soziale Schichtung in der bulgarischen Gesellschaft festzustellen, die sich auf die Migration auswirkt: Zum einen steigt die Tendenz, die nach 1990 begonnen hat, Privatschulen und -universitäten zu gründen. Ihre Absolvent*innen studieren oft im Ausland. Bulgarische Eltern sind häufiger in der Lage, das Studium ihrer Kinder komplett zu bezahlen; es besteht weniger der Bedarf, dass die Kinder, die im Ausland studieren oder arbeiten, Geld an ihre Eltern überweisen. Zum anderen ist die Anzahl der Bulgar*innen, die in Bulgarien in Armut leben, gestiegen. Die soziale Ungleichheit in der bulgarischen Gesellschaft nimmt zu. 3. Diese sozialen Unterschiede werden in Migration und durch die Migration gefestigt. Die Personen und Familien, die migrieren, erwerben durch die Migration einen besseren sozialen Status, der sich wiederum auf weitere Migrationsoptionen auswirkt. Die sozialen Unterschiede beeinflussen auch das bulgarische Migrant*innenleben in Deutschland. In den 1990er und 2000er Jahren ist die bulgarische Migrant*innengemeinschaft in Deutschland im sozialen Sinne relativ homogen. Nach dem Jahr 2007 werden die Startvoraussetzungen der Migrant*innen aus Bulgarien sehr unterschiedlich: Es wandern sowohl wohlhabende als auch sozial bedürftige Menschen aus. Unter den interviewten Personen sind Menschen, deren Eltern Privatfirmen in Bulgarien haben (z. B. ein Familienhotel an der Küste, eine Zahnarztpraxis in der zweitgrößten Stadt Bulgariens, Lebensmittelgeschäfte, Makleragenturen) oder bei renommierten internationalen Arbeitgeber*innen tätig sind. Zu den Interviewten gehören aber auch Personen, die in Bulgarien kein Eigentum besitzen, eine Hauptschule abgeschlossen, aber keine Ausbildung durchlaufen haben. Die wohlhabenden Migrant*innen können das eigene Migrationsprojekt und die Mobilität freier gestalten. Die neu entstandene Mittelschicht in Bulgarien finanziert die Migrationsprojekte ihrer Kinder: Sie verabschiedet sie nicht nur ins Ausland, sondern sie fördert sie und ist in der Lage, die plötzlichen Veränderungen in den Migrationsvorhaben zu unterstützen. Sie ist auch finanziell in der Lage zu akzeptieren, dass die Kinder einen neuen Migrationsort wählen. Diese Eltern, die selbst Erfahrungen
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7 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach …
mit Migration gemacht haben, wissen, dass die Migration keinen geradlinigen Verlauf hat und können die Wiederauswanderung oder die Rückkehr finanzieren und emotional unterstützen. Vor allem sind die finanziellen Kosten solcher geänderten Migrationsprojekte hoch – die Finanzierung der Wohnungsaufgabe, die Monate ohne Einkommen, die Einrichtung einer neuen Wohnung, die Flugtickets etc. Es handelt sich um eine kleine Schicht der 40–65-Jährigen, die überwiegend in Sofia oder in den großen bulgarischen Städten leben. Auch wenn diese soziale Schicht klein und nicht repräsentativ für die Gesamtgesellschaft ist, wirkt sich ihre Etablierung auf die Art und Weise, wie Bulgar*innen migrieren, aus. Der überwiegende Teil der bulgarischen Staatsbürger*innen, die in Deutschland leben, hat allerdings einen deutlich niedrigeren Lebensstandard. Dementsprechend eingeschränkt sind die Migrations- und Mobilitätsoptionen, über die sie verfügen. 4. Aus den Veränderungen der makropolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen resultieren viele Veränderungen auf Meso- und Mikroebene, die aus einer analytischen Perspektive als Veränderungen in der Konzeption und Durchführung der individuellen Migrationsvorhaben bzw. als Verstärkung der Mobilität und der Rückkehrbereitschaft zusammengefasst werden können. Die Typologie der bulgarischen Staatsbürger*innen, die sich in Deutschland aufhalten, ändert sich nach 2007: Neben den in Deutschland lebenden Eheleuten deutscher Staatsbürger*innen, Student*innen, Arbeitsmigrant*innen, die in der Zeit bis 2007 bzw. bis 2014 eine Sondergenehmigung erhalten haben, erhöht sich die Anzahl der bulgarischen Selbstständigen, Rentner*innen, Privatiers und Arbeitsmigrant*innen, die ohne einen konkreten Arbeitsplatz nach Deutschland einwandern und vor Ort nach Arbeitsmöglichkeiten suchen. Neue Gruppen unter den bulgarischen Migrant*innen etablieren sich: die Mobilen, die Online-Migrant*innen, die Vertreter*innen der zweiten Generation, die neu Zugewanderten, die sog. „Armutsmigrant*innen“. 5. Die Anzahl der bulgarischen Migrant*innen nimmt nach 2007 kontinuierlich zu. Mit der Steigerung ihrer Anzahl erhöht sich die soziale, ethnische und religiöse Heterogenität der bulgarischen Migrant*innengemeinschaft in Deutschland. Während bis 2007 vor allem besser gebildete Personen nach Deutschland einwanderten, nimmt nach 2007 die Anzahl der sozial schwächeren Migrant*innen aus Bulgarien zu. Wanderten bis 2007 überwiegend ethnische Bulgar*innen ein, wurde die Migration nach 2007 und insbesondere nach 2014 auch von Vertreter*innen anderer ethnischen
7.4 Zusammenfassung
327
Gruppen, die bulgarische Staatsbürger*innen sind, z. B. Roma und ethnische Türk*innen, in Erwägung gezogen und als Option gewählt. 6. Mit der zunehmenden Heterogenität werden auch die Lebenserfahrungen und Migrant*innenbiografien vielfältiger. Durch die soziale, ethnische und religiöse Vielfalt der bulgarischen Migrant*innen werden die Erfahrungen im Umgang mit Deutschland auf Mikroebene unterschiedlicher. Dementsprechend werden die Erzählungen über Deutschland realistischer und kritischer – sowohl positive als auch negative Berichte bekommen Zugang zur bulgarischen Öffentlichkeit. Das wirkt sich auf das Bild Deutschlands und Europas in der bulgarischen Öffentlichkeit aus, für das auch negative Charakteristika festzustellen sind. 7. Nach 2007 verliert die administrative Festigung des Aufenthaltsstatus an Bedeutung. Der Aufenthalt in Deutschland ist de jure für alle bulgarischen Staatsbürger*innen möglich. Dementsprechend ändert sich das Ansehen des Aufenthalts bulgarischer Staatsbürger*innen in Deutschland in der bulgarischen Öffentlichkeit. Allein sich in Deutschland aufzuhalten, wird nicht mehr als eine besondere Leistung anerkannt. Damit ein Migrationsprojekt als erfolgreich bewertet wird, soll es der materiellen Absicherung der migrierenden Person und ihrer Familie dienen (materiellen Motivation) und eventuell zur Persönlichkeitsentfaltung (postmaterielle Motivation) der migrierenden Person beitragen. Der Erfolg des individuellen Migrationsprojektes wird, zumindest bis 2007, stark am Empfinden der bulgarischen Gesellschaft bzw. der Referenzpersonen des jeweiligen Individuums gemessen. Nach 2007 beginnt eine neue Generation der gut ausgebildeten und qualifizierten Zugewanderten sich mit den Deutschen und mit den anderen EU-Europäer*innen zu messen, zu vergleichen bzw. ihre Erfolgskriterien als relevant zu beachten. Dementsprechend verliert das Ziel ‚in Deutschland zu bleiben‘ für diese Gruppe der neu Zugewanderten an Bedeutung. Die Strategie, sich in Deutschland auf jeden Preis aufzuhalten wird materiell, aber vor allem symbolisch, nicht immer als erfolgreich angesehen. Da jeder/jede nach Deutschland einwandern kann, ist allein der Aufenthalt in Deutschland nicht genug, das eigene Migrationsprojekt als erfolgreich zu betrachten und für dieses Anerkennung von außen zu bekommen. Die EU-Freizügigkeit für bulgarische Staatsbürger*innen führt dazu, dass das sogenannte „Statusparadox“ (Nieswand 2011) – dass man trotz einer Verschlechterung des individuellen sozialen Status den Aufenthalt im Ausland als erfolgreich in der Herkunftsgesellschaft darstellen und dafür
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7 Die bulgarische Migration nach Deutschland nach …
Anerkennung bekommen kann – nicht mehr oder nur eingeschränkt gegeben ist. In einigen Berufen verdient man nach Abzug der geringeren Lebenshaltungskosten in Bulgarien besser. Bulgarien ist besonders für Familien mit kleineren Kindern attraktiver, da die Familien mehr Unterstützung von den Großeltern erhalten können; in Deutschland wäre dies nicht der Fall. 8. Eine weitere Veränderung ist damit verbunden, dass die bulgarischen Migrant*innen, die nach 2007 bzw. 2014 Bulgarien verlassen, nicht mehr zur ersten Migrant*innengeneration gehören. Oft folgen sie bei ihren individuellen Migrationsprojekten ihren Eltern oder Verwandten, die schon ausgewandert sind und Erfahrung mit Migration oder Mobilität haben. Die nach 2007 Migrierenden sind oft Kinder der ersten Migrant*innengeneration. Sie bauen ihre Migrations- und Mobilitätsprojekte auf Netzwerke, Erfahrungen, Kenntnisse, positive oder negative Beispiele und auf das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Kapital ihrer Eltern. Zugleich hoffen sie auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern. Sie finden am Ort ihrer Migration eine mehr oder weniger organisierte bulgarische Gemeinschaft vor, die ihnen Ratschläge, Ideen, Freundschaften oder Bekanntschaften, Versorgung mit Waren, Medien, Berater*innen aller Art und Arbeitsmöglichkeiten anbietet. 9. Die bulgarische Migration nach Deutschland nach 2007 wird auch durch die Besonderheiten der deutschen Gesellschaft, die zunehmend offener für Migrant*innen wird, beeinflusst. Ein Meilenstein der migrationspolitischen Entwicklung Deutschlands ist die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2004 (in Kraft seit dem 01.01.2005). In diesem wird unter bestimmten Bedingungen die Arbeitsmigration und Migration von Hochqualifizierten ermöglicht. Das Thema Integration wird zunehmend als ein bedeutendes Anliegen der Aufnahmegesellschaft angesehen (vgl. Bundesregierung 2007). Ein Beispiel für die migrationspolitische Öffnung der deutschen Gesellschaft ist unter anderem auch die Öffnung der deutschen Universitäten – im deutschen Bildungssystem nimmt die Anzahl der ausländischen Studierenden zu; auch die Anzahl der Fächer und Fachrichtungen, die auf Englisch angeboten werden, wird erhöht. Nach Angaben des DAAD liegt ihre Zahl im Jahr 2018 bei 1364 (vgl. DAAD o. J.). Die Internationalisierung der Hochschulen gehört zu den prioritären Zielen des deutschen akademischen Systems. Durch die Bologna-Reform ist die Anerkennung der im Ausland erbrachten Studienleistungen einfacher; man kann einzelne Module in unterschiedlichen Ländern abschließen. 10. Nach 2007 sind die folgenden Tendenzen bürokratischer Art, bezogen auf die bulgarische Migration in Deutschland, festzustellen:
Literatur
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– Die Anzahl der irregulären Migrant*innen ist rückläufig – als EU-Bürger*innen können sich die Bulgar*innen in Deutschland nicht irregulär aufhalten. In der Zeit von 2007–2014 leben dennoch viele Bulgar*innen in Deutschland, die nicht behördlich angemeldet und in diesem Sinne irregulär sind. In der Zeit von 2007–2014 nimmt die Anzahl der nicht angemeldeten Bulgar*innen zu. Nach 2014 sinkt diese Anzahl. – In der Zeit von 2007–2014 nimmt die Anzahl der irregulär Beschäftigten zu. Nach 2014 nimmt diese Anzahl ab, wobei die Anzahl der unter prekären Arbeitsbedingungen arbeitenden Personen weiterhin hoch ist. Dies betrifft besonders die weniger Qualifizierten. – In der Zeit 2007–2014 erhöht sich die Anzahl der selbstständigen Bulgar*innen. In der Zeit nach 2014 sinkt diese wieder. 11. Nach 2007 etabliert sich die Figur des/der mobilen Bulgar*in, die für eine kurze Zeit nach Deutschland einwandert und auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen wieder auswandert. Unter den Mobilen können analytisch zwei Typen unterschieden werden: auf der einen Seite die besser qualifizierten und bezahlten Mobilen, die von der Mobilität profitieren und diese überwiegend als eine positive Möglichkeit bewerten. Auf der anderen Seite die schlechter qualifizierten und bezahlten Bulgar*innen, für die die Mobilität eine Falle ist, aus der sie herauszukommen versuchen. Das Ziel der ersten Gruppe ist es, möglichst lange mobil zu bleiben, wohingegen das Ziel der zweiten Gruppe ist, der erzwungenen Mobilität zu entkommen und sich eine klassische Migration leisten zu können. 12. Die Rückkehr nach Bulgarien ist nach 2007 und besonders nach 2014 eine reale Option und nicht Ausdruck eines misslungenen Migrationsprojektes.
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Rückkehr nach Bulgarien: Von der Unmöglichkeit der Rückkehr zur Rückkehr als Lebensweise
Zusammenfassung
Im Kap. 8 steht die Rückkehrmigration von Deutschland nach Bulgarien im Mittelpunkt der Analyse. Zunächst werden Theorien der Rückkehrmigration kurz vorgestellt und als Grundlage der Interpretationen der unterschiedlichen biografischen Modelle der Rückwander*innen verwendet. Schlüsselwörter
Rückkehr · Migration · Mobilität
Die Rückkehrmigration ist im Vergleich zur klassischen Aus- bzw. Einwanderung eine relativ wenig erforschte Form der Wanderungsbewegung. Die klassische Migrationsforschung geht von der Annahme aus, dass bei einer stattfindenden Migrationsbewegung auch Gegenströme, d. h. Rückkehrbewegungen festzustellen sind (Ravenstein 1972, S. 41–64). Unter „Rückkehr“ wird in den klassischen Migrationsstudien1 eine Wanderungsbewegung von Personen über Staatsgrenzen hinweg verstanden, die ein Land verlassen haben und nach einem mindestens einjährigen Aufenthalt in einem anderen Land in ihr Herkunftsland zurückkehren. Die Definition des Begriffs „Rückkehrmigration“ ist aus vielen Gründen kompliziert: Die Staatsgrenzen eines Landes können in der Geschichte mehrmals verschoben werden, ein Land kann aufhören zu existieren, wie in der neueren
1Die
klassischen Migrationstheorien wurden im Kap. 2 dargestellt.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_8
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
Zeit das Beispiel Jugoslawiens verdeutlicht. In diesen Fällen stellt sich die Frage, inwieweit eine Rückkehr grundsätzlich möglich ist. Nach der Definition der UN Statistics Devision wird als „Rückkehrer*in“ eine Person definiert, die nach einem längeren Aufenthalt im Ausland zum Land ihrer Staatsbürgerschaft zurückkehrt und dort mindestens ein Jahr lang bleibt: „Returnees are persons returning to their country of citizenship (Hervorh. ML) after having been international migrants (whether short-term or long-term) in another country and who are intending to stay in their own country for at least a year“ (OECD 2008, S. 164). Diese Definition beinhaltet eine Verengung der Perspektive, nämlich die Gleichsetzung des Landes der Staatsangehörigkeit und des Herkunftslandes; allerdings muss das Land der Staatsangehörigkeit einer Person nicht zwingend identisch mit ihrem Herkunftsland sein. Bei einer Einbürgerung, bei der die vorherige Staatsangehörigkeit aufgegeben wird, kann die aktuelle Staatsangehörigkeit nicht als Kriterium einer Rückkehr betrachtet werden. Nicht unproblematisch ist die Definition der Rückkehr bezogen auf die Absicht, mindestens ein Jahr lang im Land der Rückkehr zu bleiben und sich dort aufzuhalten. Diese Absicht kann mit der Zeit geändert werden. Stefanie Smoliner et al. (2013, S. 19) bieten eine weitere Definition des Begriffs „Rückkehr“ an, die die Rückkehr als eine Wanderungsbewegung zum Land der Geburt bestimmt: „Persons older than 15 years of age, who returned to their country of birth (Hervorh. ML) after having been international migrants in another country“ (Smoliner et al. 2013, S. 19). Diese Definition geht nicht mehr von der Annahme aus, dass das Land der Geburt und das Land der Staatsangehörigkeit identisch sein müssen, beinhaltet aber keine zeitliche Bestimmung. Wie lange müsste sich ein/eine Migrant*in im Land der Rückkehr aufhalten, damit er/sie als Rückkehrer*in erfasst wird? Im Folgenden werden als „Rückkehrer*innen“ in Anlehnung an die Begriffsbestimmung von Smoliner et al. die Personen definiert, die zum Land ihrer Geburt zurückkehren und sich dort nach der Rückkehr mindestens ein Jahr lang aufhalten. Diese Definition umfasst allerdings nicht eine andere Kategorie der Migrant*innen – die Personen, die pendeln und die mehrmals im Jahr zurückkehren bzw. das Land ihrer Geburt wieder verlassen und nicht länger als einem Jahr dort bleiben. Diese Personen werde ich im Folgenden als „transnationale Rückkehrer*innen“ bezeichnen. Die statistische Erfassung der Rückkehrmigration ist aufgrund der unvollständigen Datenlage sehr kompliziert. Sie ist zum einen von den Anmeldebesonderheiten der einzelnen Länder abhängig – davon, ob die Anmeldung verbindlich ist oder nicht und inwieweit sie kontrolliert und sanktioniert wird.
8.1 Migrationstheorien und ihr Bezug zur Rückkehr
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Zudem hängt sie von der Präzision der Datenführung, die in unterschiedlichen Weltregionen stark variiert, sowie vom Meldeverhalten der einzelnen Migrant*innen ab, die aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung ein unterschiedlich ausgeprägtes Bewusstsein über die Notwendigkeit einer Anmeldung haben. Die von den Institutionen erhobenen Daten sind oft unvollständig. Die nationalen Statistiken hingegen operieren mit ausgewerteten Befragungsdaten, die allerdings nicht immer repräsentativ sind und nicht alle Migrant*innentypen umfassen oder, wie im Fall Deutschlands, mit Daten der Ausländerbehörden, die wiederum die Anmeldung ausländischer Staatsbürger*innen vollziehen. Aus diesen Gründen ist die quantitative Vorgehensweise bei der Analyse der Rückkehrproblematik mit erheblichen Einschränkungen verbunden; eine Repräsentativität, basierend auf den Anmeldedaten, ist nahezu ausgeschlossen. In der vorliegenden Arbeit wird die Problematik der Rückkehrmigration auf der Basis einer qualitativen Auswertung der eigenen Erhebung bearbeitet.
8.1 Migrationstheorien und ihr Bezug zur Rückkehr Im Hinblick auf die Rückkehrmigration hat sich keine einheitliche Migrationstheorie etabliert, die die Problematik abschließend klären kann. Aus der Perspektive der verschiedenen Migrationstheorien können unterschiedliche Akzente gesetzt und Klärungsmuster angeboten werden. Theoretische und empirische Auseinandersetzungen mit dem Thema „Rückkehrmigration“ sind seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts bekannt. Insbesondere in den 1980er Jahren wurde das Thema in der europäischen Migrationsforschung in Hinblick auf die Rückkehr der Gastarbeiter*innen vertieft. Forschungsarbeiten setzten sich dabei insbesondere mit dem Einfluss der Rückkehrmigration auf die Herkunftsgesellschaften der Rückkehrmigrant*innen auseinander. Eine politische Implikation ist in diesen Arbeiten festzustellen: Die Rückkehr bedeutet „Brain Gain“ und wird potenziell als Chance für die politische und gesellschaftliche Modernisierung des Landes angesehen. Empirisch ließen sich diese Annahmen allerdings nicht im vollen Ausmaß bestätigen (vgl. die Analyse von Garcia Pires 2015). Aus der neoklassischen Perspektive können vor allem die ökonomischen Motive der Rückkehrmigration analysiert werden. In dieser Theorie wird die Behauptung aufgestellt, dass die sozialen Akteure*innen rational handelnde Individuen seinen, die migrieren, um ihre eigenen Karriereperspektiven und Verdienstmöglichkeiten zu vergrößern. Die Rückkehr erfolgt demzufolge dann, wenn die Migrant*innen das Ziel erreicht haben, ‚ausreichend‘ Geld anzusparen und
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
Netzwerke zu schaffen, die ihnen auch in der Herkunftsgesellschaft ein, ökonomisch gesehen, ‚gutes‘ Leben ermöglichen werden. Nach der neoklassischen Perspektive kann ein Zusammenhang deutlich markiert werden: Wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen in der Herkunftsgesellschaft verbessern, erhöht sich die Bereitschaft der Migrant*innen zurückzukehren (Smoliner et al. 2013, S. 13). Eine Rückkehr kann allerdings auch dann erfolgen, wenn die Migrant*innen aufgrund ihrer Erfahrung in der Einwanderungsgesellschaft begreifen, dass ihr „Migrationsprojekt“ nicht in geplanten Umfang zu verwirklichen ist, da die Kosten für die Migration (z. B. Wohnungssuche, Erwerb von Sprachkenntnissen, Kontaktaufbau in der Einwanderungsgesellschaft und Kontaktpflege in der Herkunftsgesellschaft, erschöpfende oder gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen in der Aufnahmegesellschaft, etc.) sehr hoch sind und den prognostizierten Gewinn weit überschreiten (Cassarino 2004, S. 255 ff.). Die neoklassische Perspektive akzentuiert die Ursachen der Rückkehr, analysiert allerdings nicht, wie die Rückkehr organisiert und vorbereitet wird, welche Schwierigkeiten mit der Rückkehr verbunden sind und wie die Reintegration in der Herkunftsgesellschaft erfolgt. Die neoklassische Theorie fokussiert ausschließlich ökonomische Faktoren, die die Entscheidungen der Individuen prägen; andere Faktoren, die maßgebend für die Entscheidung, zurückkehren zu wollen, sein könnten, werden nicht erfasst. Das Humankapital und das Sozialkapital der Rückkehrer werden bei der Analyse nicht berücksichtigt (Smoliner et al. 2013, S. 13). Die theoretische Perspektive der Neuen Ökonomie der Arbeitsmigration fokussiert ebenso die Motivation der Migrant*innen, einen besseren Verdienst im Ausland erzielen und Geld sparen zu wollen. Die Rückkehr wird rational berechnet, geplant und ist Folge eines erfolgreichen Erreichens dieser Ziele in der Migration. Die Migration und die Rückkehr werden allerdings als Teil einer Migrationsstrategie nicht auf individueller, sondern auf familiärer Ebene verstanden – nicht die Individuen, sondern die familiären Gemeinschaften sollen von der Entscheidung der migrierenden Individuen profitieren; dementsprechend wird die Entscheidung zu migrieren oder zurückzukehren nicht aus individueller Sicht, sondern aus der Perspektive der Familie getroffen (Cassarino 2004). Die Neue Ökonomie der Arbeitsmigration analysiert auch nicht, wie die Rückkehr organisiert und vorbereitet wird. Auch in dieser Theorie werden vor allem die ökonomischen Faktoren berücksichtigt. Hingegen wird die Bedeutung des Humankapitals und der Netzwerke nicht thematisiert (Smoliner et al. 2013, S. 13). Diese theoretische Perspektive setzt implizit eine Statik der Familienentwicklung und der Migrationsplanung voraus. In den theoretischen Ausführungen
8.1 Migrationstheorien und ihr Bezug zur Rückkehr
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wird nicht hinterfragt, inwiefern die Änderung der Familienpläne oder der -konstellationen, z. B. eine Familiengründung in der Aufnahmegesellschaft oder eine Trennung, eine Wirkung auf die Gestaltung der Migration oder der Rückkehr haben. Unbeantwortet bleibt die Frage, wodurch die Migrationsentscheidungen der Personen, die keine Familien haben, beeinflusst werden. Die Push-Pull Theorie akzentuiert ebenfalls eine wirtschaftliche Erklärung der Migrationsprozesse. Nach dieser Theorie verlaufen die Migrationsbewegungen in die Richtung von Regionen, die ökonomisch bessergestellt sind (Schmithals 2010, S. 284). Jede Migrationsbewegung verursacht, so die Vertreter*innen dieser Theorie, auch eine Gegenbewegung (Lee 1966, S. 22). Nach der Push-Pull-Theorie handeln die Migrant*innen allerdings nicht immer rational: Die Migrationsbewegung ist nicht immer geplant; die Migrant*innen können während der Migration neue Möglichkeiten für sich finden, die sie in den Herkunftsgesellschaften übersehen haben (Smoliner et al. 2013, S. 14). Aus diesen Gründen ist auch die Rückkehr nicht immer planbar und kann nicht vorhergesehen werden. Die strukturalistische Vorgehensweise bezieht sich auf die Interpretation der Auswirkungen der Gastarbeiter*innenmigration bzw. auf die Gestaltung der Gastarbeiter*innenrückkehr aus Deutschland in den jeweiligen Entsendungsländer. Die zentrale Forschungsfrage aus der Perspektive dieser Theorierichtung ist es herauszufinden, in welchen Kontexten die Rückkehrer*innen die sozialen Strukturen der Herkunftsgesellschaft verändern und unter welchen Bedingungen sie bei der Rückkehr die Innovationen ablehnen bzw. sich konservativ verhalten. Nach Francesco Cerase (1974) kann die Rückkehr in vier Typen systematisiert werden: 1) „Return of Failure“ bezieht sich auf die Rückkehrer*innen, die sich in der Aufnahmegesellschaft nicht zurechtfinden konnten. Als Ursachen dafür können die in der Aufnahmegesellschaft vorhandenen Vorurteile und Anfeindungen sowie die institutionellen Einschränkungen der Einwanderungsmöglichkeiten genannt werden. Die erlebten Schwierigkeiten im Einwanderungsland wirken sich negativ auf die Motivation zu bleiben aus. In diesem Fall handelt es sich um eine Revision des Einwanderungsprojektes und um eine Rückkehr wider Willen. Die Möglichkeiten, die Herkunftsgesellschaft innovativ zu beeinflussen, sind bei diesem Typ gering. 2) „Return of Conservatism“ bezieht sich auf Migrant*innen, die vor der Migration geplant haben in die Herkunftsgesellschaft zurückzukehren, nachdem sie ihr Aufenthaltsziel erreicht haben (z. B. das Studium abzuschließen, Geld anzusparen etc.). Ihre Rückkehr ist in der Regel freiwillig und geplant.
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Diese Migrant*innen hatten nicht die Absicht, sich in der Aufnahmegesellschaft dauerhaft niederzulassen und die dort etablierten Verhaltensnormen und -muster zu eigen zu machen. Sie haben nicht das Ziel, innovative Ideen aus der Einwanderungsgesellschaft in die Herkunftsgesellschaft zu ‚importieren’. Sie streben die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und politischen Bedingungen an, die vor ihrer Ausreise bereits vorhanden waren. Ihr primäres Ziel ist es, den eigenen Sozialstatus durch die Migration und durch die Rückkehr zu verbessern. 3) „Return of Retirement“ ist ein Rückkehrtyp, der sich auf einem bestimmten Lebensabschnitt bezieht. Ziel der Rückkehrer*innen ist es, in der Herkunftsgesellschaft alt zu werden und dadurch ihren Sozialstatus zu verbessern. Die Erwartungen dieser Rückkehrer*innen beziehen sich darauf, in der Herkunftsgesellschaft mit der Rente, die man im Ausland erwirtschaftet hat, einen hohen Lebensstandard erzielen zu können. Ein Innovationspotenzial ist bei diesem Rückkehrtyp nicht vorhanden. 4) „Return of Innovation“ ist ein Rückkehrtyp, der sich auf Personen bezieht, die in der Aufnahmegesellschaft neue Erfahrungen und neue Netzwerke aufgebaut haben. Mit dem erworbenen sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapital, das ihnen zur Verfügung steht, versuchen diese Personen in ihren Herkunftsgesellschaften innovativ zu agieren und die sozialen Strukturen zu verändern. Die strukturalistische Vorgehensweise untersucht nicht nur die Ursachen der Rückkehr, sondern auch die sozialen Handlungen der Rückkehrer*innen sowie die Formen ihrer Reintegration. Nach dieser Theorie haben die gelebte Gemeinschaftstradition sowie die vor der Migration bereits existierenden privaten Netzwerke einen stärkeren Einfluss auf die Reintegration und auf die Innovationsbereitschaft der Rückkehrer*innen als das finanzielle Kapital und die neu in der Migration aufgebauten Netzwerke. Die Möglichkeiten, innovativ auf die Herkunftsgesellschaft einzuwirken, resultieren aus vielen Faktoren: Besonders wichtig sind zum einen die Zeit, die man im Ausland verbracht hat, sowie die Besonderheiten des Ortes, an den man zurückkehrt. Bei einem kürzeren Aufenthalt im Ausland fehlen den Zurückkehrenden sowohl die Kenntnisse als auch die Netzwerke, eine Innovation in der Herkunftsgesellschaft durchzusetzen. Bei einem längeren Aufenthalt haben die Rückkehrer*innen jedoch möglicherweise die Anbindung an die Herkunftsgesellschaft und den Zugang zu den Netzwerken vor Ort verloren. Die Theorie des Dualen Arbeitsmarktes (Piore 1979) akzentuiert ebenso die wirtschaftlichen Faktoren der Migration und der Rückwanderung. Nach dieser Theorie kann der Arbeitsmarkt in unterschiedliche Segmente aufgeteilt werden.
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Die Einheimischen arbeiten im primären Segment, während die Zugewanderten Arbeiten ausführen, die die Einheimischen nicht besetzen möchten und damit überwiegend im dualen Segment des Arbeitsmarktes tätig sind. Nach dieser Theorie kann die Rückkehr eines/r Migrant*in als Ergebnis der mangelnden Möglichkeiten, eine adäquate Beschäftigung im Ausland zu finden, interpretiert werden. Da die Platzierung am ausländischen Arbeitsmarkt nicht unbedingt mit der erworbenen Qualifikation zusammenhängt, bezieht sich diese These sowohl auf die hoch- als auch auf die gering qualifizierten Migrant*innen. Das Konzept der transnationalen Migration (Pries 1997) betrachtet die Problematik der Migration und der Rückkehr nicht separat. Es wird betont, dass die Migration kein Endziel, sondern einen immer andauernden Prozess darstellt. Die Migrant*innen entwickeln transnationale Identitäten und haben reguläre und andauernde Verbindungen mit den Vertreter*innen der Herkunftsgesellschaft. Sie bauen inter- sowie intraethnische Freundschaften und Netzwerke auf. Nach dem Konzept der transnationalen Migration sind die Migration und die Rückkehr keine abgeschlossenen Handlungen, sondern gehen ineinander über. Die Theorie der kumulativen Kausalität („cumulative causation“) (Massey 1990) fokussiert die Wahrnehmung der Migration und die Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft. Entscheidend für die Motivation zu migrieren oder zurückzukehren sind die Besuche der Migrant*innen und ihre Erzählungen über ihre Erfahrungen im Ausland bzw. in der Herkunftsgesellschaft. Diese Erzählungen kreieren einen Kontext, in welchem die Entscheidung ‚zu migrieren‘, ‚zurückzukehren‘ oder ‚zu bleiben‘ getroffen wird. Die soziale Netzwerktheorie geht von der Annahme aus, dass die sozialen Akteur*innen zu Netzwerken gehören, die transnational sind. In diesen Netzwerken sind sowohl Migrant*innen als auch Personen, die nicht migriert sind, aktiv. Im Kern dieser Netzwerke stehen die rational kalkulierten gemeinsamen Interessen der teilnehmenden sozialen Akteur*innen. Die Beteiligung an verschiedenen Netzwerken kann als Kapital angesehen werden: „Network capital is the capacity to engender and sustain social relations with those people who are not necessarily proximate and which generates emotional, financial and practical benefit […] Those social groups high in network capital enjoy significant advantages in making and remaking their social connections, the emotional, financial and practical benefits“ (Urry 2007, S. 197). Es sind die Netzwerke, die die Risiken und die Kosten der Migration und der Rückkehr minimieren. Die Migrant*innen und die Rückkehrer*innen nutzen ihre Stellung in den Netzwerken, damit sie Profit erzielen. In diesem Kontext kann die Entscheidung zu migrieren oder zurückzukehren als eine kontextuelle und stark vom Netzwerk beeinflusste Entscheidung interpretiert werden. Durch die Anbindung der
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sozialen Akteur*innen an verschiedene Netzwerke kann erklärt werden, warum die Entscheidung zu migrieren auch dann getroffen wird, wenn die strukturellen Makro-Bedingungen die Notwendigkeit der Migration nicht fördernd sind. In der Migrationsforschung wird idealtypisch zwischen der freiwilligen und der erzwungenen Rückkehr, zwischen der einmaligen und der zirkulären Rückkehr, zwischen der Rückkehr unterschiedlicher Gruppen (Studienabsolvent*innen, Arbeitsmigrant*innen, Geflüchtete, Rentner*innen, etc.) und der individuellen Rückkehr unterschieden (Glorius 2013, S. 218). Im 21. Jahrhundert ist eine zunehmende Pluralisierung der Migrations- und der Rückkehrbewegungen festzustellen. Die Migration und die Rückkehr werden unterschiedlich gestaltet. Unabhängig von den Unterschieden sind die Planung, die Vorbereitung, die Kostenkalkulation und die Möglichkeit, Ressourcen zu mobilisieren, nach JeanPierre Cassarino (2004), die wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rückkehr.
8.2 Befunde der Forschung zur Rückkehr nach Osteuropa Ein wichtiges Problem der empirischen Forschung, die das Thema „Rückkehr“ behandelt, ist der Mangel an zugänglichen und zuverlässigen empirischen Daten. In vielen Ländern wird die Auswanderung nicht verbindlich registriert: Die Behörden führen zwar Register der Abmeldungen, wobei diese allerdings freiwillig sind. Die Auswanderung wird in vielen Fällen nicht erfasst und bleibt für die Statistik nicht sichtbar. Noch komplizierter für die Erfassung sind die zirkulären Wanderungen – die Bewegungen der Personen, die saisonal einwandern oder das Land verlassen. Eine weitere Forschungslücke in der Rückkehrforschung ist deutlich zu erkennen: Das Thema der Rückkehrmigration nach Osteuropa wurde vergleichsweise wenig beachtet. Es handelt sich um kein Massenphänomen. Aus diesem Grund wurde es ignoriert. In den Studien, die sich mit den Thema Rückwanderung nach Osteuropa befassen, treten folgende Befunde hervor: Der Aufenthalt im Ausland hat eine wichtige Rolle für die Berufschancen bei der Rückkehr. Anna Iara stellt fest, dass junge Männer, die mit Erfahrung am westeuropäischen Arbeitsmarkt zurückkehren, 30 % mehr als die Personen verdienen, die nicht migriert sind (Iara 2008, S. 21). Ein ähnlicher Befund findet sich bei Jana Vavreckova und Ivo Bastyr (Vavreckova und Bastyr 2009), die anhand von qualitativen Interviews die Rückkehrer*innenerfahrung von tschechischen Staatsbürger*innen,
8.2 Befunde der Forschung zur Rückkehr nach Osteuropa
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die im Ausland gearbeitet haben, analysieren. In allen osteuropäischen Länder ist festzustellen, dass die Rückkehrer*innen im Durchschnitt jünger als die nicht migrierten Personen und als die im Ausland als Migrant*innen verbleibenden Personen sind (Klagge und Hitpaß 2010; Martin und Radu 2011). Die meisten Rückkehrer*innen sind in einem aktiven Wanderungsalter. Sie haben ein höheres Bildungsniveau als die Personen, die nicht migriert sind (Klagge und Hitpaß 2010; Martin und Radu 2011). Besonders hoch ist das Bildungsniveau der ungarischen Rückkehrer*innen – 43 % von ihnen haben einen Hochschulabschluss (Smoliner et al. 2013, S. 43). Das kann allerdings an der Spezifik der osteuropäischen Migration vor der EU-Osterweiterung liegen: In der Zeit vor dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder ist eine Wanderung zum Zwecke des Studiums überwiegend möglich und sehr verbreitet gewesen. Das begründet den aktuell hohen Anteil der Hochschulabsolvent*innen unter den osteuropäischen Migrant*innen und Rückkehrer*innen. Besonders ausgeprägt sind die Zugewinne der migrierten Personen im Hinblick auf ihre Sprachkenntnisse, ihr Selbstvertrauen und ihre Fähigkeit, mit Stress umzugehen. In Slowenien haben die Migration und die Rückkehr im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Ländern einen stark ausgeprägten zirkulären Charakter (Horvat 2004). Ein „Brain Drain“ ist in diesem Sinne in Slowenien nicht festzustellen. Polen und Ungarn haben hingegen einen negativen Migrationssaldo – hoch qualifizierte Personen aus diesen Ländern gehören zu den häufigsten Auswander*innen. Eine Besonderheit der Migration und der Rückkehr nach Osteuropa ist, dass die Rückkehrer*innen einen intensiven Kontakt mit der Herkunftsgesellschaft pflegen, während sie im Ausland leben (Horvat 2004; Szemelyi und Csanady 2011). Die Rückkehrer*innen nach Osteuropa sind jung, gut gebildet und haben intensiven Kontakt zu ihrer Herkunftsgesellschaft. Männer und Frauen kehren in gleichem Umfang zurück. Die Rückkehrer*innen sind nach der Rückkehr häufiger als die Personen, die nicht migriert sind, arbeitslos – Gründe dafür können die spezifischen fachlichen Kenntnisse, die nicht immer adäquat am Arbeitsmarkt eingesetzt werden können, die fehlenden lokalen Netzwerke sowie die fehlende Bereitschaft, eine bessere Arbeitsmöglichkeit abzuwarten, sein. Birgit Glorius hat in ihrer einschlägigen Analyse festgestellt, dass die Einwanderungshürden der Aufnahmegesellschaften geringer sind, desto intensiver die zirkuläre Migration ist (Glorius 2013, S. 226). Glorius stellt die Frage, ob die ‚erfolgreichen‘ oder ‚die nicht erfolgreichen‘ Migrant*innen häufiger zurückkehren. Die Frage zu beantworten ist schwierig, da keine objektiven Indikatoren festzumachen sind, nach denen der Erfolg eines individuellen Migrationsprojektes gemessen werden kann. Das Einwanderungsziel kann nach mehreren Jahren Aufenthalt in einem anderen Land neu definiert
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oder umformuliert werden; die subjektive Wahrnehmung des Erfolgs kann sich mit der Zeit verschieben. Weniger beachtet in der Migrationsforschung ist die Frage, inwieweit die Dauer des Aufenthalts eine Wirkung auf die Rückkehrwahrscheinlichkeit und -gestaltung hat. Die Wahrscheinlichkeit zurückzukehren ist bei Migrant*innen, die über fünf Jahre in einem anderen Land leben, Vollzeit beschäftigt sind und die eine Familie im Einwanderungsland gegründet haben, niedrig. Groß ist die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr hingegen bei denjenigen, die unter fünf Jahre in einem anderen Land leben, keine Verwandten im Einwanderungsland haben und sich mit dem Einwanderungsland wenig identifizieren (Glorius 2013, S. 227). Die Rückkehrbereitschaft steigt mit zunehmendem Alter bei Personen, die selbst eingewandert sind (Glorius 2013, S. 227). Amelie Constant und Douglas Massey (Constant und Massey 2002) haben nachgewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Rückkehr mit der Aufenthaltsdauer abnimmt. Hohes Einkommen bzw. Eigentum minimieren die Wahrscheinlichkeit zurückzukehren, wohingegen eine hohe Arbeitslosigkeit die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr erhöht. Nicht hinreichend analysiert ist der Einfluss der Qualifikation auf die Entscheidung zurückzukehren (Glorius 2013, S. 228). Ebenso wenig berücksichtig ist, inwieweit die Rückkehr an den Herkunftsort erfolgt oder die Rückkehrer*innen die Großstädte in ihrem Herkunftsland bevorzugen. Der Erfolg der Rückwanderung hängt von den individuellen Motiven, vom sozialen Kapital der Akteur*innen und von der gesellschaftlichen Situation im Rückwanderungsland (Demografie, wirtschaftliche Situation, Hilfsprogramme der Regierung etc.) ab. Glorius (ebenda) formuliert die Hypothese, dass die wirtschaftlichen Faktoren und insbesondere die Abnahme der wirtschaftlichen Unterschiede zwischen zwei Gesellschaften zu einer Steigerung der Rückkehrbereitschaft führen; sowie zum „Brain Return“, ein Phänomen, das Grönberg (2003) bei schwedischen Ingenieur*innen nachgewiesen hat. Nicht nachgewiesen hingegen ist der Einfluss der politischen Entwicklung einer Gesellschaft auf die Rückkehrbereitschaft der Migrant*innen. Glorius formuliert die Hypothese, dass in einem schlecht regierten Land mit hohem Korruptionsniveau, schwachen Institutionen und geringen Chancen auf eine Karriereentwicklung, die Brain Drain Tendenzen weiterhin stark bleiben, auch wenn sich die Wirtschaft erholt (Glorius 2013, S. 229). Es ist anzunehmen, dass sich die Prozesse der Demokratisierung und der Liberalisierung, wenn sie mit einer steigenden wirtschaftlichen Kraft einhergehen, positiv auf die Rückkehrbereitschaft der osteuropäischen Migrant*innen entwickeln. Ob diese Annahme auch auf andere Regionen in der Welt übertragen werden kann, wäre empirisch
8.2 Befunde der Forschung zur Rückkehr nach Osteuropa
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zu prüfen; eine Aufgabe, die allerdings in der vorliegenden Arbeit nicht gelöst werden kann. Die Rückkehrbereitschaft hängt auch von den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen der Aufnahmegesellschaft ab. Bei einer Krise in der Aufnahmegesellschaft steigt die Bereitschaft der Zuwanderer*innen zurückzukehren. Diese Entscheidung kann u. a. auch von den bei einer Krise zunehmenden ablehnenden oder gar rassistischen Haltungen beschleunigt werden. Eine wichtige Forschungsfrage ist, inwieweit die Rückkehrer*innen einen Einfluss auf ihre Herkunftsgesellschaft ausüben können. Der Einfluss der Rückkehr*innen variiert – bei den wenig qualifizierten, die aufgrund der Umstände gezwungen wurden zurückzukehren, ist weniger Einfluss auf die Makrostrukturen der Herkunftsgesellschaft (Ideen, Netzwerke, Firmengründung etc.) festzustellen. Im mikrosozialen Bereich (Familie, Freundeskreis etc.) haben allerdings auch die wenig qualifizierten die Möglichkeit, Einfluss auszuüben. Bei den höher qualifizierten Rückkehrer*innen, die freiwillig und geplant zurückkehren, ist ein größerer Einfluss festzustellen; allerdings nur, wenn die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft diesen erlaubt (ebenda). Essenziell für eine ‚erfolgreiche‘ Rückkehr einer Person ist die Möglichkeit, sich auf die Rückkehr vorzubereiten und die Kontakte in der Herkunftsgesellschaft zu reaktivieren, die einem die Möglichkeit geben, schnell eine Wohnung und einen Arbeitsplatz zu finden. Seit den 2000er Jahren ist dabei der Einfluss der Internet-Kommunikation nicht zu übersehen: Sie hilft bei der Arbeitssuche, bei der Pflege der Netzwerke und bei der Gestaltung der Rückkehr (Glorius 2013, S. 232). Eine besondere Gruppe der Rückkehrer*innen sind die Studienabsolvent*innen. Nina Wolfeil (2013) analysiert die Arbeitsmarktpositionierung von polnischen Hochschulabsolvent*innen, die nach einem erfolgreichen Studienabschluss in Deutschland nach Polen zurückkehren. Die Studie basiert auf qualitativen Interviews mit Rückkehrer*innen, die im Jahr 2008 durchgeführt wurden. Die meisten Interviewten sind Frauen, da Frauen unter den polnischen Studierenden in Deutschland stärker vertreten sind. Nina Wolfeil (2013, S. 265) unterscheidet fünf Typen der polnischen akademischen Rückkehrer*innen: • Typ 1 – Personen, die bei der Rückkehr sowohl von ihrem im Ausland erworbenen kulturellen Kapital als auch vom fachlichen Hintergrund Gebrauch machen • Typ 2 – Personen, die bei der Rückkehr von ihrem im Ausland erworbenen kulturellen Kapital Gebrauch machen, allerdings nicht vom fachlichen Hintergrund profitieren
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• Typ 3 – Personen, die bei der Rückkehr von ihrem im Ausland erworbenen kulturellen Kapital keinen Gebrauch machen und dennoch vom Fachhintergrund profitieren • Typ 4 – Personen, die bei der Rückkehr weder von ihrem im Ausland erworbenen kulturellen Kapital noch vom fachlichen Hintergrund Gebrauch machen • Typ 5 – Personen, die bei der Rückkehr eine internationale Karriere machen und zum Teil sowohl vom kulturellen Kapital als auch vom fachlichen Hintergrund Gebrauch machen Wolfeil stellt fest, dass die polnischen Absolvent*innen, die zurückkehren, eine Rolle als „Knowledge translators“ (2013, S. 260) und als Investor*innen übernehmen. Sie bestätigt die These, dass die Emigration der Hochqualifizierten nicht unbedingt zum Brain Drain führt. Auch Uwe Hunger (Hunger 2004) und Claudia Müller (Müller 2007) belegen am Beispiel der Rückkehrer*innen nach Taiwan und Indien, dass die Hochqualifizierten, die zurückkehren, die wirtschaftliche Entwicklung in ihren Ländern vorantreiben. Wolfeil stellt fest, dass die Rückkehrer*innen bei der Rückkehr interkulturelle Probleme erfahren (Wolfeil 2013, S. 262). In diesem Kontext sind nicht nur formelle Qualifikationen wichtig, sondern die sozialen Netzwerke und die sozialen Kompetenzen, die die Rückwanderer*innen mitbringen. In vielen Fällen, besonders in den Geisteswissenschaften, spielt auch das kulturelle Kapital (etwa ein Diplom von einer deutschen Universität, deutsche Sprachkenntnisse, Wissen über deutschen Standards etc.) für die erfolgreiche Wiedereingliederung in der Herkunftsgesellschaft eine große Rolle. Diese Forschungsbefunde sind bei der Analyse der Herausforderungen der Personen, die aus Deutschland nach Bulgarien zurückkehren, zu berücksichtigen. Die Dimensionen der Rückkehrgestaltung aus Deutschland nach Bulgarien werden in einer chronologischen Perspektive betrachtet.
8.3 Die Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit vor 1989 Wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt, unterlag die Möglichkeit zu migrieren und mobil zu sein, im Sozialismus strikten Restriktionen und entwickelte sich zu einem neuen Kapital bzw. zu einer wichtigen Ressource in den sozialen Netzwerken. Daneben war sie Ausdruck einer neuen sozialen Schichtung einer Gesellschaft, die offiziell den Anspruch erhoben hat, ‚klassenlos‘ zu sein. Je privilegierter die Stellung einer Person in der Gesellschaft war, desto einfacher
8.3 Die Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit vor 1989
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waren die Möglichkeiten, das Land zu verlassen. Die Migration und die Rückkehr waren im Sozialismus eine Ausnahme und nicht ‚der Normalfall‘ einer sozialistischen Biografie. Sie unterlagen nicht bloß der freien individuellen Entscheidung, sondern dem Zwang, der Genehmigung und der Kontrolle durch die regierende Kommunistische Partei. Die Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit des Sozialismus, die in der Regel einer staatlich genehmigten Dienstreise oder Abordnung folgte, wurde offiziell sowohl von der Regierung als auch von den Institutionen als ‚die Norm‘ betrachtet. Inoffiziell war aber den sozialen Akteur*innen bewusst, dass die Rückkehrbereitschaft der Personen, die das Land verlassen haben, gering ist. Aus diesem Grund wurde die Ausreise eingeschränkt und nur Menschen ermöglicht, die bereit waren, zurückzukehren oder von denen man angenommen hat, dass sie wieder zurückkehren werden, da sie Eigentum oder enge Verwandte in Bulgarien hinterlassen haben. Die Art der Ausreise hat in jedem sozialen Kontext einen Einfluss auf die Rückkehrmöglichkeiten der einzelnen Individuen. Im Sozialismus ist allerdings die Verbindung zwischen Ausreise und Rückkehr essenziell. Wenn eine Person das Land regulär, also mit einer Genehmigung der Behörden verlassen hat, ist die Rückkehr nach Bulgarien die Norm: Sie wird erwartet, akzeptiert und von allen Akteur*innen positiv bewertet. Wenn allerdings die Ausreise irregulär erfolgt ist, ist eine Rückkehr nach Bulgarien de jure und de facto nicht möglich. Die offizielle staatliche Politik zur Migration und zur Rückkehrmigration im Sozialismus ist variabel. In verschiedenen Perioden, etwa in der Zeit der „Perestroika“ von Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1985–1990) oder in der Zeit nach dem Tod von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, dem ersten Parteisekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR, im Jahr 1964 revidierten die Regierenden die durchgeführte strenge Politik der Ablehnung der bulgarischen Migrant*innen und Rückkehrer*innen. Die bulgarische Regierung startete nach 1964 drei Initiativen zur Rückkehr der Personen, die im Ausland lebten und nicht (rechtzeitig) nach Bulgarien zurückgekehrt sind. Die Bilanz dieser Initiativen fiel allerdings negativ aus – es wird festgestellt, dass die Rückkehrer*innen „antisozialistische Propaganda betreiben“ (Kiryakov 2013, S. 204); dass sie Geld ausgeben, das sie im Westen verdient haben; dass sie Waren konsumieren und importieren, die man in den bulgarischen Geschäften nicht findet; dass sie Autos fahren, die die Bulgar*innen, die in Bulgarien leben, nicht erwerben können. Danach sieht das Politbüro davon ab, diese Maßnahmen zur Beschleunigung der Rückkehrbereitschaft fortzuführen und die Rückkehr zu fördern. Grundsätzlich bleibt die Politik zu den Migrant*innen und Rückkehrer*innen ablehnend. In der Öffentlichkeit werden die Themen
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„Auswanderung“ und „Rückkehr“ tabuisiert. In den Medien, z. B. in der parteinahen Tageszeitung „Rabotnitschesko delo“, werden die Themen „Auswanderung“ und „Rückkehr“ nicht behandelt. Aufgrund der besonderen Stellung der Rückkehrmigration im Sozialismus gehörte die Interviewdurchführung mit Personen, die im Sozialismus nach Bulgarien zurückgekehrt sind, zu den besonderen empirischen Herausforderungen dieser Arbeit. Bei der Analyse der durchgeführten Interviews wird zwischen den Rückkehrer*innen aus der DDR und den Rückkehrer*innen aus der BRD unterschieden. Die Rückkehr nach einem Aufenthalt in der DDR war aus der Perspektive der bulgarischen Regierung legitim. Diese werde ich als ‚Normalfall Rückkehr‘ bezeichnen. Im Sozialismus ist die Rückkehr aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks und konkret aus der DDR der natürliche Abschluss einer Wanderungsbewegung, die in der Regel als kontrolliert und temporär ausgelegt wird. Die Rückkehr aus der DDR nach dem Studienabschluss oder nach der Beendigung einer Spezialisierung ist erwartet, politisch gewollt und gesellschaftlich anerkannt. Gewollt, akzeptiert und anerkannt ist auch die Rückkehr der entsandten Mitarbeiter*innen, die zum Zweck der „brüderlichen Hilfe“ in Ländern wie Libyen oder Syrien entsandt wurden und zeitlich befristete Arbeitsverträge hatten. Grundsätzlich erfolgte die Rückkehr im Sozialismus in einigen typischen Situationen: • nach einem abgeschlossenen Studium (I 51) studierte Germanistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Das Studium wurde durch ein staatlich dotiertes Stipendium aus Bulgarien finanziert. Nach dem Abschluss des Studiums beschloss er nach Bulgarien zurückzukehren. Er begann in der deutschsprachigen Abteilung der staatlichen Presseagentur (BTA) zu arbeiten. Er wurde für die Berichterstattung aus dem deutschsprachigen Raum verantwortlich und machte eine Karriere als Reporter. Vor 1989 reiste er mehrmals in die DDR und auch zweimal nach Wien. Den Aufenthalt in Deutschland bewertet er aus heutiger Sicht als Erfolg: Seine Karriere wurde durch die Auslandserfahrung und durch die Entscheidung zurückzukehren beschleunigt. Die Rückkehr bezeichnet er als „selbstverständlich“. Diese habe zu seinem Erfolg beigetragen.
8.3 Die Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit vor 1989
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• Nach einer Scheidung (I 53) studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Während des Studiums lernte sie ihren Freund kennen. Sie heiratete ihn. Das Ehepaar wohnte zusammen in Ost-Berlin zur Miete und hatte keine Kinder. Nach sieben Jahren wurde die Ehe geschieden. (I 53) ging zurück nach Bulgarien. Den Aufenthalt in der DDR bezeichnet sie als eine „enorme Lebenserfahrung“, als eine „persönliche Bereicherung“ aber auch als „ein ernüchterndes Erlebnis“. Obwohl sie das Leben in Berlin als „schöner“ angesehen hat, sah sie nach der Scheidung keinen Grund dort zu bleiben. • Nach kurzfristigen berufsbedingten Aufenthalten (Erfahrungsaustausch, Dienst bei der bulgarischen Botschaft, bei einer Handelsvertretung etc.) (I 40) war Mitarbeiter bei der Konsularabteilung der bulgarischen Botschaft in Ost-Berlin. Er lebte mit seiner Familie in Berlin. Die Kinder gingen zur Schule. Nach vier Jahren lief sein Vertrag aus, sodass er nach Bulgarien zurückkehren musste. Die Rückkehr war erwartet und geplant; der Aufenthalt war als befristet vorgesehen. Die Rückkehr gestaltete sich einfach. Vom Aufenthalt in der DDR und von der Rückkehr hat I 40 R nach eigenen Angaben profitiert. Grundsätzlich wird die Rückkehr aus der DDR von den interviewten Personen als erwartet und geplant dargestellt. Unerwartet bzw. ungeplant ist die Rückkehr lediglich in der privaten Umbruchsituation einer Scheidung. Abgesehen von dieser konkreten Situation, ist die Rückkehr mit einer hohen sozialen Anerkennung in Bulgarien verbunden. Die sozialen Akteur*innen sind sich ihrer privilegierten Stellung bewusst. Sie sprechen sehr detailliert darüber: „Als wir zurück waren, waren alle neidisch auf uns. Wir waren nicht reich in der DDR. Aber wir haben echt viel gesehen in der DDR: Leipzig, Dresden, Meißen, Potsdam, Wismar, alles. Alles, was der ‚Normalbulgare‘ so nur auf einer Postkarte sehen konnte. Und wir haben auch Sachen mitgebracht. Nach so vielen Jahren in Deutschland haben wir Porzellangegenstände und tolles Besteck gekauft. Und wir haben Geld mitgebracht, so dass wir die neueste Technik aus Bulgarien gekauft haben […] Das waren echt Zeiten“ (I 40).
Der Aufenthalt in der DDR wird nicht politisch oder ideologisch hinterfragt, sondern wertgeschätzt. Dass Karriere in einem gesellschaftlichen System gemacht wurde, das aus heutiger Sicht als ungerecht, diktatorisch oder totalitär angesehen werden kann, bleibt unberücksichtigt. Dadurch sehen die interviewten Personen ihre Karriereentwicklung als ‚verdient‘, als Ergebnis der eigenen Leistungen an.
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
„Der Aufenthalt in der DDR hat mir viel geholfen – ich habe Leute kennengelernt, Beziehungen aufgebaut, auch beruflich was gelernt. Das hat mir auch dort geholfen, aber richtig viel wert war alles, als ich zurückgekehrt bin“ (I 41).
Hingegen war die Rückkehr aus der BRD in der Zeit vor 1989 eine große Ausnahme. Sie war in den meisten Fällen, insbesondere für die Menschen, die Bulgarien ohne die Genehmigung der Behörden verlassen haben, zum größten Teil nicht möglich. Eine Rückkehr aus der BRD war nicht der ‚Normalfall‘, sondern aus meiner Sicht eine ‚Rückkehr als Ausnahmesituation‘. Dabei muss typologisch zwischen der freiwilligen und erlaubten Migration in den Westen (z. B. von Diplomaten, Kulturträgern wie dem bulgarischen Star-Dirigenten Emil Tchakarov2 oder Opernsängern etc.) und der nicht genehmigten Migration der Personen, die nach West-Deutschland ausgewandert sind, unterschieden werden. Im ersten Fall war die Rückkehr möglich und erwünscht, wurde aber im privaten gehalten. Sie wurde absichtlich ‚unsichtbar‘ gemacht. (I 42) ist ein ehemaliger Mitarbeiter bei der bulgarischen Botschaft in Bonn. Nach dem Ende seiner Amtszeit kehrt er nach Bulgarien zurück. Aufgrund der dienstlichen Besonderheiten möchte er nicht über die Details seiner Arbeit sprechen. Die Rückkehr nach Bulgarien bezeichnet er als „notwendig“ und „alternativlos“. „Wir haben uns nach der Rückkehr wieder sehr gut eingelebt. Wir haben aber alles nicht herumposaunen dürfen. Nicht erzählen dürfen, was wir in Bonn gesehen haben. Denn es war klar, wie groß der Unterschied hier und dort ist. Uns war das klar, aber wir mussten das auch für uns behalten […] Unsere Tochter hatte Sachen, die hat keine Mitschülerin gehabt. Wir hatten Videokassettenrekorder, einen Farbfernseher, Klamotten, Jeans, Schokoladen, Sneakers von Nike. Und vor allem, wir sind so viel gereist. Das machte kein Mensch in Bulgarien“ (I 42).
Die Rückkehr hat sich positiv auf die Karrieremöglichkeiten der interviewten Person ausgewirkt, die vor 1989 in Bulgarien Privilegien genossen hat. Nach 1989 wurde aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen die Karriere eingeschränkt.
2Emil
Tchakarov (1949–1991) war ein bulgarischstämmiger Dirigent aus Burgas, der nach dem Studienabschluss der Akademie für Musik in Sofia im Jahr 1971 den dritten Platz im zweiten Dirigenten-Wettbewerb von Herbert von Karajan in Berlin gewonnen hat. Danach wurde er zum Assistenten von Karajan in Berlin und Salzburg. 1979 debütierte er in der Metropolitan Opera in New York. Er dirigierte zahlreiche Orchester in Bulgarien und in der ganzen Welt.
8.3 Die Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit vor 1989
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Die Tochter studierte in Deutschland und arbeitet zurzeit bei einer deutschen Firma in Mannheim. (I 43) hat an einer Universität in einer deutschen Großstadt studiert. Seine Eltern haben bei der bulgarischen Botschaft in Bonn in der BRD gearbeitet. Nach dem Abitur in Bonn hat I 43 angefangen, in Germanistik und Geschichte zu studieren. Nach dem Ende des Studiums entscheidet er sich im Zuge der Wende für die Rückkehr nach Bulgarien. Die aufenthaltsrechtlichen Restriktionen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten in Deutschland zu bleiben und nach Arbeit zu suchen, spielen bei dieser Entscheidung auch eine Rolle. Nach der Rückkehr erfuhr er große Anerkennung: „Sie haben mich wie einen Außerirdischen angesehen. Wie ein Gott. Denn ich habe dort studiert und bin nach dem Studium nach Bulgarien zurückgekehrt. Das war so was von unmöglich. […] Und sie haben auf mich gehört. Als ich was sagte, hatte ich das Gefühl, dass mein Wort was zählte. Dass sie mich besonders respektieren, da ich eine andere Erfahrung mitgebracht habe“ (I 43).
Die Personen, die zurückgekehrt sind, markieren deutlich, dass die Rückkehr „eine Entscheidung für das Leben“ (I 44) gewesen ist. Für sie ist klar, dass man sich „keine Hoffnung auf eine erneute Ausreise“ machen darf: „Einmal zurück – das bedeutete für immer zurück. Das ist aber das Schöne in diesem Leben – es ist doch anders gekommen. Es kam die Wende und dann ist das passiert, was wir nicht für möglich gehalten haben“ (I 44). Im zweiten Fall, bei dem die Personen Bulgarien ohne die Genehmigung der Behörden verlassen haben, ist eine Rückkehr nach Bulgarien zumindest bis 1989 in der Regel nicht möglich. Die Bulgar*innen, die ohne Genehmigung ausgereist sind, werden als eine politische Bedrohung wahrgenommen. Die bulgarische Regierung bezeichnete diese Migrant*innen als „feindliche Migranten“ und als „Rückkehrverweigerer“ („нeвъзвpaщeнци“). Der Begriff „Rückkehrverweigerer“ deutet auf die politisch etablierte Wahrnehmung hin, dass diese Personen nicht loyal zu ihrem Herkunftsland sind. Der Aufbau einer, wie ich es ausdrücken möchte, ‚ergänzenden Loyalität‘ zu einem anderen Nationalstaat, wird im sozialistischen Bulgarien nicht akzeptiert. In dieser Hinsicht vermerkt Anna Krasteva die Bedeutung des Gesetzes über die bulgarische Staatsangehörigkeit vom 1948, das für die Personen, die nicht rechtzeitig nach Bulgarien zurückkehren, Sanktionen vorsieht (Krasteva 2014, S. 409). In der Zeit bis 1989 konnten Personen, die Bulgarien irregulär verlassen haben, in der Regel nicht nach Bulgarien zurückkehren. Eine Ausnahme war bei einer Einbürgerung im Ausland möglich: Wenn die Person ein/e Bürger*in eines anderen Landes geworden ist, konnte er/sie wieder nach Bulgarien einreisen.
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
„Wenn ich zurückgekehrt wäre, hätten sie mich festgenommen. […] Ich bin erst in den 80er Jahren zurückgekehrt, in der Perestrojka-Zeit und ich hatte dann schon einen deutschen Pass. Sie konnten mir nichts mehr antun. Die Zeiten waren anders. Aber ich habe davor Jahre gewartet, bis ich wieder nach Bulgarien fahren konnte. Das war eine schwere Zeit für mich, die Eltern und die Freunde nicht sehen zu können […] Aber das war mir auch klar – wer sich für die Auswanderung entscheidet, hat sich auch dafür entschieden, nicht wieder einreisen zu können“ (I 45).
In allen Fällen der zurückgekehrten Bulgar*innen vor 1989 ist deutlich festzustellen, dass es sich um eine „Rückkehr des Konservatismus“ („Return of Conservatism“) handelt. Systembedingt ist die Motivation, die sozialen Strukturen der bulgarischen Gesellschaft zu verändern, nicht möglich gewesen.
8.4 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit 1990–2007 Nach der Wende im Jahr 1989 unterliegen sowohl die Ausreise als auch die Rückkehr weiterhin einer politischen und nationalstaatlichen Kontrolle; diese werden aber nicht mehr im Sinne der sozialistischen Ideologie und ihrer tatsächlichen Praxis gestaltet. Bezug nehmend auf die Klassifizierung von Cerase (1974), können in der Zeit von 1990–2007 in Bulgarien alle Rückkehrtypen empirisch bestätigt werden. Für diese Periode ist die sogenannte „Return of Failure“ (Cerase 1974) jedoch besonders stark ausgeprägt. Die bulgarischen Migrant*innen, die die Möglichkeit haben, von 1990–2007 dauerhaft in Deutschland zu bleiben, kehren nicht freiwillig nach Bulgarien zurück. Nur diejenigen, die keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, lange Zeit unter ihrer Qualifikation arbeiten und mit Diskriminierung im Alltag und im Beruf konfrontiert werden, entscheiden sich für die Rückkehr nach Bulgarien. Die Perspektive, dauerhaft nach Deutschland zu migrieren und dort sesshaft zu werden, wird vor allem von den Menschen, die in Bulgarien leben, hoch angesehen. Bei dieser Bewertung der Migrationsperspektive ¸aus der Ferne’ heraus, werden die Bedingungen, mit denen die in Deutschland lebenden bulgarischen Migrant*innen konfrontiert werden, nicht oder nur marginal berücksichtigt. In den durchgeführten Interviews können die Motive und die Umstände der Rückkehrer*innen analytisch rekonstruiert werden. Die Analyse folgt der Typologie von Cerase (1974) und verdeutlicht, unter welchen Umständen die charakteristischen Merkmale eines Typs besonders sichtbar werden.
8.4 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit 1990–2007
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8.4.1 Return of Failure Vorab sei festgestellt: Es existieren unterschiedliche Formen des Scheiterns aus denen nicht zwingend dauerhaftes Scheitern folgt. Im Folgenden werden diese Formen erläutert. Zur Gruppe derjenigen, die ‚scheitern‘, können erstens die abgelehnten Asylbewerber*innen aus Bulgarien zugerechnet werden. Anfang der 1990er Jahre, direkt nach der Wende im Jahr 1989, verlassen viele Bulgar*innen das Land und wandern nach Deutschland aus. Da Deutschland keine Arbeitsmigration gestattet, stellen die zugewanderten Bulgar*innen einen Antrag auf Asyl. Die Anzahl der Bulgar*innen, die einen Asylantrag in der Zeit nach 1990 stellen, entwickelt sich wie folgt: 1989 wurden 429 Asylanträge von bulgarischen Staatsbürger*innen gestellt. 1990 ist die Anzahl der Asylanträge bulgarischer Staatsangehöriger rapide auf 8341 gestiegen. Im Jahr 1991 haben 12.056 Personen bulgarischer Staatsangehörigkeit Asyl in der BRD beantragt, während sich 1992 die Anzahl der Asylsuchenden aus Bulgarien auf 31.540 erhöht hat. Im Jahr 1993 haben 22.547 Bulgar*innen Asyl in Deutschland beantragt (BAMF 1994). Seit Januar 1993 trafen die Regelungen der sogenannten „Asylrechtsreform“ in Kraft. Durch die Implementierung dieser restriktiven Politik nahm die Anzahl der Asylsuchenden aus Bulgarien mit 3367 Personen im Jahr 1994 ab (BAMF 1995). Vor 1989 werden die Asylanträge, die die Staatsbürger*innen eines osteuropäischen Landes gestellt haben, in der Regel bewilligt. Aufgrund der geänderten politischen Situation nach der Wende werden die Asylanträge abgelehnt; dementsprechend müssen die Asylbewerber*innen Deutschland verlassen. Solange das Asylverfahren andauert, versuchen sie, erwerbstätig zu werden. „Wir waren in Nürnberg. Wir haben in Baracken gewohnt, in irgendwelchen Containern. Wir haben Kleidung bekommen, Geld fürs Essen. Ab und zu habe ich in einem Autohaus gejobbt, Öl gewechselt. Das ist in Bulgarien mein Beruf. Es war auf jeden Fall besser als in Bulgarien. Die Kinder gingen zur Schule und haben ein wenig Deutsch gelernt […] wir wollten in Deutschland bleiben, aber es ging nicht. Sie haben den Antrag abgelehnt und wir mussten ausreisen. Haben wir auch gemacht, schließlich gab es keinen Krieg in Bulgarien“ (I 45).
Zu der Gruppe der Personen, die ihr Migrationsvorhaben nicht verwirklichen konnten und zurückkehren mussten, gehören zweitens die bulgarischen Migrant*innen, die in der Zeit von 1990–2007 irregulär nach Deutschland eingewandert sind bzw. sich irregulär in Deutschland aufhalten, Gelegenheitsbeschäftigungen hatten und keine
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Qualifikation erworben haben, durch die sie ihren Aufenthaltsstatus sichern bzw. ihren sozialen Status verbessern können. In der Regel bleiben sie bis zu fünf Jahre in Deutschland. Sie leben und arbeiten unter prekären Bedingungen; dabei wird das Bleiben in Deutschland zunehmend als „sinnlos“ und „perspektivlos“ wahrgenommen. „Ich habe ein Touristenvisum bekommen, angeblich um meinen Cousin zu besuchen. Ich habe bei ihm gewohnt und habe gejobbt bei einer Pizzeria in der Küche. Ich habe die Gurken und die Tomaten geschnitten. Drei Jahre lang habe ich das gemacht. 12 Stunden am Tag. An einem Tag in der Woche hatte ich frei, aber manchmal musste ich auch dann mal arbeiten, wenn jemand krank wurde. Irgendwann konnte ich keine Gurken und Tomaten mehr sehen, geschweige denn essen. Ich konnte nicht mehr. Der Rücken tat weh, die Hände, ich wollte normal leben, und dann habe ich beschlossen, nach Bulgarien zurückzukehren“ (I 45).
Ein wichtiger Grund für die Rückkehr nach Bulgarien in dieser Periode sind einerseits die eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten der Migrant*innen und andererseits die Restriktionen der deutschen Migrationspolitik, die den Aufenthalt und die Beschäftigung von Personen aus Osteuropa nicht gestatten. Viele Migrant*innen kommen mit unrealistischen Vorstellungen – wie das Leben in Deutschland ist und wie viel Geld man verdienen kann. Dies gilt für Personen, die sich regulär, als auch für Personen, die sich irregulär in Deutschland aufhalten. Aufgrund der Restriktionen beim Zugang zum Arbeitsmarkt ist die reguläre Beschäftigung nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. (I 45) ist Automechaniker. 1991 kommt er nach Deutschland und beantragt Asyl. Der Asylantrag wird abgelehnt. (I 45) bleibt in Deutschland und hält sich weiterhin irregulär auf. Er arbeitet auf Baustellen und als Aushilfe in Restaurants. Das Geld reicht kaum, um sein Leben zu finanzieren. Dadurch, dass P. sich irregulär aufhält, kann er keine Wohnung mieten und ist auf die Unterstützung von Personen angewiesen, die seine Situation ausnutzen (etwa Bekannte, die längerfristig in Deutschland leben, Arbeitgeber*innen etc.). 1996 beschließt (I 45) Deutschland zu verlassen und nach Bulgarien zurückzukehren. (I 25) wird als Studentin in Deutschland immatrikuliert. Sie darf während des Studiums eingeschränkt, d. h. bis zu 10 Stunden in der Woche und in den Semesterferien erwerbstätig sein, findet aber keine passende Arbeit. Sie findet nur Beschäftigungen, bei denen jedoch die Mittel nicht ausreichen, um ein selbstständiges Leben in Deutschland zu finanzieren. Sie muss immer mehr Zeit für das Arbeiten investieren, sodass die Zeit für das Studium nicht ausreicht. (I 25) beendet ihr Studium in Deutschland nicht, kehrt daraufhin nach Bulgarien zurück und wird an der „St. Kliment Ohridski“ Universität Sofia immatrikuliert.
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Ein Teil der bestandenen Prüfungen wird anerkannt. (I 25) macht dort den Studienabschluss. Nach dem Ende des Studiums findet sie eine Stelle bei der Vertretung eines französischen Unternehmens in Bulgarien. Dort macht sie eine gute Karriere. Der erfolglose Aufenthalt in Deutschland und die erzwungene Rückkehr führen schließlich doch zu einem beruflichen Erfolg. „Ich konnte mein Studium nicht selbst finanzieren. Ich hatte keine Mittel. Meine Eltern hatten auch keine Mittel und ich durfte gar nicht arbeiten. Nicht einmal schwarz konnte ich was finden. Die deutschen Arbeitgeber*innen haben mich irgendwie nicht gemocht. Sie haben mich wohl als unzuverlässig empfunden. […] Hin und wieder habe ich doch was gefunden, aber es hat nicht gereicht. Ich kannte niemanden, der mir helfen konnte. In Bulgarien ist es etwas anderes. Das Leben in Bulgarien ist kuschelig. Die Eltern sind da. Es kann ja nichts passieren. Man kennt Menschen. Und der furchtbare Unterschied in der Lebensart hat mich dazu gezwungen zurückzukehren“ (I 25).
Die Rückkehr scheint unter diesen Umständen die einzig mögliche Lösung zu sein. Das Leben in Deutschland wird als „unerträglich“ empfunden. Selbst eine Wiedereinreise nach Deutschland wird ausgeschlossen. „Ich wollte nicht zurück nach Bulgarien. Das war nicht mein Plan. Aber ich musste. Und dann hat mir der Arbeitgeber, der Kneipenbesitzer, der viel älter war als ich, angeboten, ihn zu heiraten. Ich meine, rein fiktiv zu heiraten. Er war geschieden und er würde steuerlich von der Ehe profitieren. Ich würde mein Visum kriegen und in Deutschland bleiben. Aber ich konnte das nicht. Ich konnte mir so eine Ehe gar nicht vorstellen, die mit einem Menschen geschlossen wird, den man gar nicht mag. Selbst wenn das fiktiv ist. Er hat gemeint, das wird ein Deal sein, ohne jeglichen Verpflichtungen, ich würde weiterhin selbstständig leben, aber ich konnte das nicht. Das war gegen die Regel und vor allem gegen meine Überzeugungen. Vielleicht bin ich zu gradlinig. Ich habe zu ihm ‚nein‘ gesagt und musste zurück nach Bulgarien“ (I 25).
Die Rückkehr wird zwar als ‚unerwünscht‘ empfunden, doch die Entscheidung zurückzukehren verdeutlicht auch, dass die interviewte Person nicht zu allem bereit ist, um in Deutschland zu bleiben. Sie trifft zwar eine Entscheidung, die sie damals als ‚Verlust‘ und als ‚Aufgabe des eigenen Migrationsprojektes‘ bezeichnet, die sie aber ca. 20 Jahre später, zum Zeitpunkt der Durchführung des Interviews, nicht bereut. Die Aufgabe des eigenen Migrationsprojekts führt in diesem Fall zu einem späteren beruflichen Erfolg. „Return of Failure“ bedeutet also nicht zwingend, dass die sozialen Akteure den ‚Misserfolg‘ nicht revidieren können. In diesem Sinne bezieht sich die Typologie „Return of Failure“ lediglich auf den Zeitpunkt der Rückkehr und nicht auf die darauf folgenden
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ntwicklungen. „Return of Failure“ kann durchaus zu einer erfolgreichen RückE kehr werden. Warum die Rückkehr als „Verlust“, bzw. als „Misserfolg“ von der interviewten Person erlebt wurde, verdeutlicht diese Erzählung über die familiären Verhältnisse in Bulgarien: „Nach der Rückkehr habe ich verstanden, dass die Tatsache, dass ich in Deutschland gelebt habe, meinen Eltern enorm geholfen hat. Denn ich habe ein Stipendium bekommen und sie mussten mich in dieser Zeit nicht finanzieren. Und meine Eltern haben mir immer gesagt: „Wenn Du kannst, sieh zu, dass du in Deutschland bleibst“. Ich habe es damals nicht verstanden. Aber im Nachhinein habe ich kapiert, worum es geht – sie hatten kein Geld, mich in Bulgarien zu ernähren, und als ich in Deutschland war, mussten sie mich nicht ernähren. […] Damals hat meine Mutter mir Briefe geschickt. Per Post. Sie hat sie auf einem Durchschlagpapier geschrieben – dieses Papier wiegt weniger und so kostet der Brief weniger. Sie hat mir aber jeden Tag geschrieben. Jeden Tag. Deswegen mag ich das Briefeschreiben immer noch so sehr. Heutzutage kann man sich das kaum vorstellen. Heute gibt es Internet. Damals gab es zwar auch Internet in Deutschland, aber noch nicht in Bulgarien. Damals hat man Briefe geschrieben“ (I 24).
Die Aufgabe des eigenen Migrationsprojekts bezieht sich in diesem Fall nicht nur auf die individuelle Planung, sondern auf die Gestaltung des Lebens der gesamten Familie.
8.4.2 Return of Conservatism Zu der Gruppe der Migrant*innen, die in der analysierten Periode (1990–2007) aus „konservativen Motiven“ nach Bulgarien zurückkehren, gehören vor allem die Personen, die die Absicht haben, nach dem Erreichen eines vor der Einreise definierten Aufenthaltszieles nach Bulgarien zurückzukehren – z. B. Student*innen, die nach dem Ende des Studiums die Absicht haben, Deutschland zu verlassen. Sie haben fest definierte Ziele und Vorstellungen und wollen keine Änderungen in der Gesellschaft herbeiführen. Insbesondere die männlichen Studienabsolventen kehren nach dem Abschluss ihres Studiums zurück, da sie sich, nach eigenen Angaben, in Bulgarien sicherer fühlen und eine/n Lebenspartner*in leichter als in Deutschland finden. „Ich wollte unbedingt den Westen sehen. Ich bin vorher ja nie gereist und ich war 25. Ich wollte ins Ausland. Ich wollte Deutschland sehen und dann wollte ich zurück. Das war mein Plan und ich habe ihn so verwirklicht. Ich wollte nicht in Deutschland bleiben. Das war nie mein Ziel“ (I 28).
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Personen, die in einem ethnisch relativ homogenen bulgarischen Milieu in Deutschland leben, kaum Kontakte zu Deutschen aufbauen und dementsprechend relativ schlecht Deutsch sprechen, tendieren verstärkt dazu, nach einer bestimmten Zeit nach Bulgarien zurückzukehren. Die Rückkehr erfolgt in der Regel entweder nach dem Ende des Studiums, das u. U. auf Englisch absolviert wird, oder nach dem Ende eines befristeten Arbeitsvertrages, nach dem Ansparen einer bestimmten Summe oder nach dem Erreichen eines bestimmten Lebensalters. Auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen in Bulgarien kann eine Rolle dabei spielen. Das Leben in einem ethnisch-homogenen Milieu erleichtert den Beschluss zurückzukehren: „Anfang der 2000er Jahre sind immer mehr Menschen aus Bulgarien nach Deutschland gekommen. Immer mehr Student*innen. Und Deutschland und vor allem die Wohnheime sind voll mit Bulgar*innen gewesen. Meine bulgarische Clique ist zahlreicher gewesen, als die Deutschen, die ich kannte. Und ich habe in Deutschland gelebt, nicht in Bulgarien, nee. Ich kannte sogar mehr Bulgar*innen in Deutschland, als in Bulgarien […] Und irgendwann stellt man fest, man lebt in Bulgarien. Nun physisch ist man in Deutschland. Dann ist es besser, man kehrt ganz zurück. Und nach der Promotion bin ich zurück“ (I 28).
Die eingeschränkten Deutschkenntnisse erschweren die Kommunikation mit den Deutschen im Alltag und wirken sich negativ auf die Perspektive, dauerhaft in Deutschland zu bleiben, aus. Das bezieht sich sowohl auf die schlecht qualifizierten Migrant*innen als auch auf die besser qualifizierten. Wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen in Bulgarien deutlich verbessern, spielt die mangelnde soziale Verwurzelung in Deutschland eine wichtige Rolle für die Entscheidung – insbesondere für die besser Qualifizierten – nach Bulgarien zurückzukehren. „Ich habe nie richtig Deutsch gelernt. Gesprochen, ja, es geht irgendwie, aber richtig gut – das hat nie funktioniert. An der Uni habe ich meine Promotion im Fach Chemie in englischer Sprache geschrieben, mit den Kolleg*innen habe ich nur auf Englisch gesprochen. Die Disputation war auf Englisch. Auf Deutsch kann ich mir nur Gurken kaufen. Oder Bier. Aber richtig gut konnte ich es nie. […] Und dann merkt man – wenn man nicht auf der Arbeit ist, sprechen die Leute Deutsch und man fühlt sich wie ein Fremdkörper. Man ist nicht richtig da. Man kommt nicht weiter. Man bleibt fremd. Beruflich kommt man schon an, aber menschlich nicht. Man fühlt sich nicht angenommen. So habe ich begriffen, dass hier nicht mein Platz ist. Ich habe hier nichts zu suchen. Und bin zurück“ (I 28).
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Besonders im gegenwärtigen akademischen Kontext der Etablierung von Studiengängen und Exzellenz-Initiativen in Deutschland, die überwiegend auf Englisch angeboten werden, ist dieser Befund zu berücksichtigen – ohne Deutschkenntnisse ist die Wahrscheinlichkeit, dass die hochqualifizierten Absolvent*innen sich in Deutschland wohlfühlen, auch außerhalb des akademischen Lebens sozial vernetzt sind und nach dem Abschluss des Studiums bzw. der Promotion in Deutschland bleiben, geringer. Wenn die Exzellenz-Programme der längerfristigen Anwerbung hochqualifizierter Personen dienen sollen, die dauerhaft in Deutschland bleiben, ist eine Förderung der Deutschkenntnisse der Teilnehmenden an solchen Programmen von wichtiger Bedeutung. Die Angst vor der Fremde stellt auch ein wichtiges Triebwerk für die aus konservativen Motiven zurückkehrenden Personen dar. Bei den Personen, die zur Gruppe der „konservativen“ Rückkehrer*innen gehören, ist die Angst, in Deutschland nicht zurechtzukommen, weit verbreitet. So kehrt man nach Bulgarien aufgrund der Befürchtung zurück, dass man es in Deutschland ‚nicht schafft‘ bzw. den eigenen Vorstellungen eines beruflichen und privaten Lebens nicht entspricht. „Ich wusste, was ich in Bulgarien habe und ich wusste, was ich in Deutschland habe und was ich eventuell in der Zukunft erreichen konnte. Und ich habe alles abgewogen und beschlossen nach Bulgarien zurückzukehren. Was hat mich dazu bewogen? Ich glaube, die Angst – die Angst, dass ich es vielleicht in Deutschland nicht schaffe, die Befürchtung, dass ich keine Arbeit in Deutschland finden werde, dass ich keine gute Zeit haben werde, dass ich vielleicht gar nicht erfolgreich sein kann. In der gleichen Zeit habe ich gewusst, was mich in Bulgarien erwartet. Ich hatte eine Position an der Uni, ich habe den Doktortitel, mein Job war gut. Ich war gut in der Hierarchie positioniert. Das hat mich dazu bewogen, die Entscheidung zu treffen“ (I 28).
Das Gefühl, nach der Rückkehr „zu Hause zu sein“, ist für die interviewte Person von großer Bedeutung. Die Entscheidung, aus konservativen Motiven zurückzukehren, wird durch die Suche nach Familiennähe, Geborgenheit, Gemeinschaft, der Angst vor der Fremde, der Sehnsucht in einer bekannten und fraglos gegebenen Welt zu leben, durch den Wunsch, diese Welt in der existierenden Form aufrechtzuerhalten und keine Änderungen herbeizuführen, indiziert. „Für mich ist die Karriere oder das viele Geld nicht das wichtigste. Viel wichtiger sind die Nächsten, die Nähe der Verwandten, der Familie. Deswegen bin ich zurück. Ich suche nicht nach dem Ansehen, sondern nach der menschlichen Nähe. Und die habe ich in Bulgarien“ (I 28).
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8.4.3 Return of Innovation Anders werden die Motive der sozialen Akteur*innen definiert, die eine Änderung anstreben, durch die sie beabsichtigen, die sozialen Strukturen der Gesellschaft nach Möglichkeit zu verändern. Zu der Gruppe der Personen, die bereit sind zurückzukehren und sich nach der Rückkehr erhoffen, in der Herkunftsgesellschaft Änderungen herbeizuführen, gehören vor allem junge Menschen, die ihr Studium im Ausland abgeschlossen haben oder Teil der sozialen Schicht der qualifizierten Berufseinsteiger*innen („young professionals“) sind. Ein wichtiges Motiv ihrer Rückkehr ist mit der Wahrnehmung verbunden, dass in Deutschland alles so gut funktioniert und ‚geregelt‘ ist bzw. dass man nichts Neues erschaffen kann. Hingegen brauchen viele Gesellschaftsbereiche in Bulgarien eine Veränderung. Diese Rückkehrer*innen haben zum Zeitpunkt der Entscheidung zurückzukehren, das Gefühl, in Bulgarien gebraucht zu werden. „In Deutschland funktioniert alles sehr gut, es ist alles tip-top. Ich kann lediglich als Konsument agieren und das haben, was die anderen schon vor mir geschaffen haben bzw. gebaut haben. Ich will aber etwas selbst schaffen, selbst erreichen. In Bulgarien ist alles ziemlich chaotisch, da ist viel zu tun. Deswegen bin ich zurück, um das halt zu ändern“ (I 26). „Ich wollte meine eigene Firma gründen. Ich wollte mein eigener Chef sein. Das ist in Deutschland zwar möglich, aber sehr viel komplizierter. Und als Ausländer hat man eh’ keine Chance. Deswegen wollte ich zurück. Unbedingt zurück“ (I 46).
Die Typologie von Cerase berücksichtigt die Motive bei der Ausreise, wobei sie aber nicht analysiert, wie sich diese Motive mit der Zeit entwickeln. Die empirischen Ergebnisse, die im Rahmen der Interviewführung mit zurückgekehrten Bulgar*innen gewonnen wurden, verdeutlichen, dass die innovative Motivation zwar zu erfolgreichen Karrieren aber auch zu Enttäuschungen und dem Verwerfen angestrebter Ziele führt. „Im Grunde genommen kann man nicht viel machen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass die Sachen hinter den Kulissen abgesprochen werden und dass ich nicht die besten Angebote bekomme. Teilweise wird man ignoriert, weil man zu klein ist. […] deswegen habe ich die eigene Firma aufgegeben und arbeite jetzt für …“ (der Name eines deutschen Großunternehmens wird genannt, Hervorh. ML).
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Cerase (1974) führt eine weitere Kategorie – „Return of Retirement“ auf, die nur die Personen umfasst, die im Rentenalter zurückkehren. Allerdings wird in dieser Typologie nur marginal die Rückkehr aus privaten und familiären Gründen berücksichtigt. Die Rückkehrer*innen haben Motive, die weit über die private Lebensplanung im Rentenalter hinausgehen: Die Lebensumstände einiger Migrant*innen erlauben es ihnen nicht, auch bei guten Bedingungen in Deutschland zu bleiben. „Meine Rückkehr war durch persönliche Faktoren bedingt. Meine Familie in Bulgarien hatte damals furchtbare Probleme. Meine Mutter rief mich jeden Tag an und hat am Telefon geweint. Das war der wichtigste Grund, vielleicht nicht der einzige, aber der wichtigste, warum ich zurückgekehrt bin. Sie wollte, dass ich zurückkomme und meinte, ich würde alles retten. Ich bin zurückgekehrt und ich habe selbstverständlich nichts gerettet, aber das ist auch egal“ (I 24).
Die Typenbildung, die einen idealtypischen Charakter hat, soll verdeutlichen, dass bei gleichen sozialen Strukturen, die in einer historischen Periode (1990– 2007) den Makrorahmen bildeten, die Rückkehr aus unterschiedlichen Motiven erfolgen kann. Die Rückkehr resultiert aus dem Verwerfen bzw. der Aufgabe vorheriger Pläne. Der Misserfolg des eigenen Migrationsprojekts kann dennoch in einigen Fällen revidiert werden. Die Rückkehr wird in diesem Sinne nicht von den sozialen Akteur*innen, aber von den in Bulgarien gebliebenen Angehörigen als ‚Misserfolg‘ definiert, was zu einer Stigmatisierung der Rückkehrer*innen in dieser Periode führt.
8.4.4 Gespiegelte Rezeptionen der Rückkehr Die Wahrnehmung der Rückkehrentscheidung durch die Bekannten und Verwandten der Rückkehrer*innen, hat eine wichtige Bedeutung für die soziale Positionierung der zurückkehrenden Individuen. Noch wichtiger als diese Wahrnehmung ist die Art und Weise, wie die Rückkehrer*innen diese Wahrnehmung interpretieren und ¸spiegeln’. Unabhängig von der individuellen Motivation wird die Rückkehr der Migrant*innen, die in der Zeit von 1989–2007 nach Bulgarien zurückkehren, von den in Bulgarien lebenden Menschen als „eine falsche Entscheidung“ (I 40) und als „Misserfolg des eigenen Migrationsprojektes“ (I 41) wahrgenommen.
8.4 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit 1990–2007
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Häufiger wird den Rückkehrer*innen kein Verständnis für die Entscheidung entgegengebracht. Vielmehr wird ihnen mit Ablehnung und Spott begegnet. Man wird als ‚Versager*in‘ und ‚Dummkopf‘ bezeichnet. „Als ich zurück war, hat man mich für den größten Deppen erklärt“ (I 25). „Alle haben gesagt, du bist verrückt, wie konntest du nur zurückkehren, wie konntest du auf das gute Leben dort verzichten? Ich hatte das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen musste, dass ich mich erklären musste, warum ich mich hier, in Bulgarien, besser fühle und glücklicher bin und warum ich etwas Neues ausprobieren möchte. Zu Beginn war es total frustrierend“ (I 26). „Es gab Menschen, die meine Entscheidung kommentiert haben, andere haben mich direkt gefragt, Dritte haben wiederum mich direkt für verrückt erklärt […] ich kann sie irgendwo verstehen. Das waren Menschen, die nie im Leben Bulgarien verlassen haben. Für sie war Deutschland das Land der Verheißungen. Sie hatten nie ihre Erfahrungen dort gemacht, sie haben keine Entscheidungen getroffen. Sie denken, in Deutschland ist alles in Butter. Und sie waren nie mit all diesen Schwierigkeiten konfrontiert, mit denen ich zu tun hatte. Und es war sehr komisch, denn diese Reaktionen kamen genau von diesen Menschen. Sie denken, im Ausland stehen dir alle Türen offen und es ist absolut unmöglich, dass du zurückkehrst, wenn du dort bist. Es ist aber nicht nur möglich, sondern auch manchmal besser, das zu tun“ (I 13). „Viele haben mich für verrückt erklärt. Einige haben direkt gesagt, ich soll sofort zurück nach Deutschland. Es gab aber auch Leute, die sich gefreut haben, mich zu sehen“ (I 24). „Man hat mich mehrmals gefragt, warum ich zurückkehre. Ich denke, man kann sich überall gut oder schlecht, komfortabel oder weniger komfortabel fühlen. Und das ist letztendlich eine persönliche Entscheidung, denn das ist eine persönliche Wahrnehmung. Aber die Menschen verstehen das oft nicht“ (I 25).
Eine wichtige Bedeutung für die Überwindung dieser mangelnden Akzeptanz haben die Vereine der bulgarischen Rückkehrer*innen, die vor allem nach dem Jahr 2000 gegründet wurden. In den 1990er Jahren existieren sie noch nicht. In den 2000er Jahren gewinnen sie an Bedeutung, insbesondere für die Personen, die nach der Rückkehr Halt und Unterstützung suchen. Diese Vereine bieten eine Gemeinschaft an, bilden Netzwerke, die man nutzen kann und unterstützen die Rückkehrer*innen bei Herausforderungen des täglichen Lebens, z.B. Wohnungssuche, Arbeitsplatzsuche, Gestaltung der Freizeit etc.
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„Ich habe damals niemanden gekannt, der solch eine Situation erlebt hat. Ich habe aber in Sofia solche Menschen kennengelernt. Und es fühlt sich super an zu wissen, du bist nicht allein. Es gibt auch andere, die diese Entscheidung getroffen haben. Das sind Menschen, die sehr ähnlich sind, wir sind Geistesverwandte. Sie verstehen mich. Denn hier denken viele, dass es in Deutschland alles super läuft und alles super ist. Im Vergleich zu Bulgarien läuft tatsächlich vieles besser ab, aber es ist auch nicht problemlos. Vor allem die Leute ohne Erfahrung sprechen so“ (I 24).
In der Zeit, in der die bulgarischen Organisationen der Rückkehrer*innen noch nicht existierten, griffen die Rückkehrer*innen zu einer Reaktion, die ich als ‚innere Migration‘ bezeichnen möchte. Sie leben abgesondert in ihrer Herkunftsgesellschaft, sie treffen sich nicht mit Menschen, die nie im Ausland gelebt haben und vermeiden den Kontakt zu denjenigen, die ihnen einen Vorwurf dafür machen, zurückgekehrt zu sein. „Sie werfen mir vor, dass ich abgekapselt von der Welt lebe. Und das stimmt auch. Ich lebe in meiner Welt. Sie ist zwar in Bulgarien, aber sie ist nicht Bulgarien. Meine Welt besteht aus meinen Freunden, aus den Menschen, die mich verstehen und akzeptieren. Ich lebe in meiner Welt, nicht in Bulgarien“ (I 25).
Nach eigener Wahrnehmung definieren sich die Rückkehrer*innen als ¸anders’ als die Bulgar*innen, die das Land nie verlassen haben. Sie fühlen sich nicht akzeptiert. „Ich habe nicht mehr als die Anderen erreicht. Aber als ich zurück war, wusste ich, ich bin anders. Ich bin anders geworden. Ich fühle mich näher an den Menschen, die im Ausland gelebt haben. Mit denen kann ich mehr anfangen als mit den Menschen, die ihre Heimat nie verlassen haben“ (I 24).
8.4.5 Herausforderungen nach der Rückkehr Die Rückkehr ist, nach der Wahrnehmung der interviewten Personen, mit Schwierigkeiten verbunden. Im Folgenden werden die wichtigsten aufgeführt: An erster Stelle werden die eingeschränkten Möglichkeiten, die gesellschaftliche Entwicklung zu beeinflussen, genannt. Diejenigen Migrant*innen, die zurückkehren, die innovativ agieren und gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen möchten, werden oft mit der Realität konfrontiert, dass große gesellschaftliche oder wirtschaftliche Veränderungen nicht möglich oder nicht erwünscht sind.
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„Es gibt Sachen, die mir hier sehr gut gefallen. Bulgarien ändert sich. Hier leben junge Menschen, die sehen, dass das nicht okay ist, was passiert und wollen etwas ändern. Ich kenne aber Menschen, die es versucht haben und es nicht geschafft haben. Und das ist extrem traurig. Das ist tragisch. Sie scheitern am System. Und wenn du 50 bist, gibst du auf. Dann willst du nichts mehr ändern. Ich habe Angst, dass mir auch so etwas passiert. Ich habe Angst, dass ich aufgebe“ (I 25).
Als wichtigstes Problem wird der andauernde Unterschied des Lebensstandards zwischen Deutschland und Bulgarien genannt. Die Rückkehrer*innen dieser Periode werden in Bulgarien mit deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen und Einkommen konfrontiert. Teilweise werden sie Zeuge von Armutsverhältnissen, besonders außerhalb der großen Städte. „Das größte Problem war der Lebensstandard. Wenn du Informatiker bist, ist das vielleicht anders, aber in meinem Beruf sank der Lebensstandard nach der Rückkehr dramatisch. Das Geld war auch in Deutschland nicht üppig, aber bei der Rückkehr nach Bulgarien war ich erstmals pleite. Ich hatte kein Geld. Es hat nicht gereicht. Ich musste auf Sachen verzichten, die in Deutschland selbstverständlich gewesen sind […]. Nachdem ich einen Job gefunden habe, ging es. Und es geht mittlerweile besser. Viel besser. Aber der Unterschied bleibt bestehen“ (I 24). „Als ich zurück war, musste ich erstmals übers Geld nachdenken. Ich musste alles ausrechnen. Ich habe das gehasst. Ich musste zweimal überlegen, wenn ich Geld ausgeben wollte zum Beispiel fürs Essen oder für die Kleidung oder für die Einrichtung der Wohnung. Ich hatte damals noch keine Kinder, aber wenn ich mir denke, damals hätte ich ihnen auch keine Bildung anbieten können. Die Zeit nach der Rückkehr war schon dramatisch“ (I 25).
Von den interviewten Personen werden private Anpassungsprobleme als eine Schwierigkeit genannt, mit der sie in der Zeit der Rückkehr konfrontiert wurden. „Zu Beginn war es sehr schwierig. Ich würde sogar brutal sagen. Wegen der Rückkehr, wegen der Veränderung, wegen der Tatsache, dass man ausgelacht wurde, dass man zurück ist. Und dazu kamen die Probleme in der Familie. Ich hatte damals noch eine Beziehung in Deutschland. Und ich war die ganze Zeit zerrissen zwischen diesen zwei Welten. Damals hatte mein Freund auch Probleme. Insgesamt war die Rückkehr sehr schwierig. Aber ich hatte Glück, eine gute Arbeit zu finden. Das hat mir Halt gegeben. Das hat mir sehr geholfen. Und es ging bergauf“ (I 24).
Das Finden einer neuen Arbeitsstelle wird von den interviewten Personen am Anfang ihrer Rückkehr auch als großes Problem definiert.
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„Es war sehr schwierig einen Arbeitsplatz zu finden. Ich habe mich beworben und beworben und es kam nichts. Eines Tages hat mich meine Cousine unterstützt. Sie hatte einen französischen Freund. Und er hat da bei der französischen Firma angerufen und im Grunde genommen hat er es geschafft, mich zu unterbringen. Das war echt eine gute Stelle, gut bezahlt und das auch noch bei einer französischen Firma. In der Zwischenzeit hatte ich Gelegenheitsjobs und ich habe Nachhilfe in Deutsch an Schulkinder angeboten. Das war aber echt schwierig. Das Geld hat nicht gereicht. Das war kein richtiger Job. In den Ferien verdienst du halt nichts. Man konnte davon nicht leben“ (I 25).
Aufgrund der wirtschaftlichen Situation sind in dieser Periode die Möglichkeiten, Karriere zu machen, selbst für Personen, die Auslandserfahrung haben, sehr eingeschränkt. Als Problem wird von den interviewten Personen die mangelnde Möglichkeit der professionellen Entwicklung definiert: „Ich habe Fuß gefasst. Zu Beginn war es schwierig, aber die größte Schwierigkeit habe ich im Moment. Man kommt nicht weiter. Ich komme nicht weiter. Ich will Karriere machen, aber ich habe die Spitze erreicht. In Bulgarien ist in diesem Gebiet nichts mehr frei. Es ist nichts mehr zu machen. Ich bin momentan 40 und ich muss bis 65 diesen Job machen. Es ist nichts Vergleichbares frei und es wird wohl auch nichts werden. Der Markt ist zu klein, die Marktanteile wurden bereits verteilt. Und mein Chef würde mir auch keine Referenz geben, denn er weiß, ich würde zur Konkurrenz gehen. Die Head-Hunters sagen mir offen – unsere Firma ist die beste auf dem bulgarischen Kosmetikmarkt. Ich würde wirklich nichts Besseres bekommen. […] Für Senior Managers ist es verdammt schwierig in Bulgarien“ (I 25).
Als wichtiges Problem wird die Kommunikation mit den Bulgar*innen genannt, die das Land noch nie verlassen haben. Die Rückkehrer*innen bevorzugen es, mit Personen zu kommunizieren, die im Ausland gelebt haben: Gemeint sind sowohl Bulgar*innen, die Auslandserfahrung gemacht haben, als auch internationale Fachkräfte (Expats), die sich in Bulgarien berufsbedingt aufhalten. Die interviewten Personen fühlen sich von den Bulgar*innen, die keine Auslandserfahrung haben, nicht verstanden und nicht akzeptiert. „Wenn ich zurück bin, habe ich vor allem mit Ausländer*innen kommuniziert. Das hat sich durch die Arbeit ergeben. Die Bulgar*innen habe ich gemieden. Jetzt habe ich persönliche Kontakte mit den Ausländer*innen, damals, zu Beginn waren es nur Berufskontakte. Mit den Bulgar*innen war es schwierig, denn alle haben gefragt, warum ich zurück bin. Die Ausländer*innen haben nicht gefragt. Für sie war es normal, sich anders zu entscheiden und dein Leben zu ändern“ (I 24).
8.4 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit 1990–2007
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Die Rückkehr erweist sich auch aufgrund der schwierigen institutionellen Anerkennung der im Ausland erworbenen Zeugnisse als kompliziert. Da Bulgarien zu dieser Zeit noch nicht der EU beigetreten war, erfolgte die Anerkennung der in den anderen EU-Ländern erworbenen Arbeits- und Bildungszeugnisse nicht automatisch. Sie unterlag einer Prüfung der bulgarischen Behörden; vorher mussten die Zeugnisse ins Bulgarische übersetzt und von den ausländischen Behörden abgezeichnet werden, dass sie den lokalen Standards entsprechen. Dieses bürokratische Verfahren nahm Zeit in Anspruch und war teilweise für die Rückkehrer*innen sehr teuer. Die strenge Anerkennungsregelung stand teilweise mit der Erfahrung der interviewten Personen, die Diplome beim Arbeitsantritt im privaten Sektor nicht vorlegen zu müssen, im Widerspruch. „Hier haben sie die Diplome aus dem Ausland nicht anerkannt. Gar nicht anerkannt oder sehr langsam anerkannt. Es war alles unglaublich bürokratisch. Mit dem Doktortitel hat es ein Jahr gedauert, bis ich ihn führen durfte. […] Ich habe in der Praxis festgestellt, dass man überhaupt keine Diplome braucht. Ich wurde nie nach einem Diplom gefragt. Oder sehr selten. Nur die staatlichen Behörden wollten Diplome bei den Bewerbungen. Die privaten Firmen wollten sie gar nicht sehen. Entweder du kannst das, was sie brauchen und du wirst eingestellt, oder du kannst das nicht und dann ist es aber egal, welche Diplome du mitbringst“ (I 24).
Die Rückkehrer*innen versuchen die beruflichen Kontakte mit deutschen Kolleg*innen aufrechtzuerhalten und in Bulgarien als Kapital zu nutzen. In dieser Periode ist das Aufrechterhalten von Kontakten mit logistischen Schwierigkeiten verbunden. Einfach ist das Aufrechterhalten der beruflichen Verbindungen mit Deutschland, wenn die interviewte Person bei einer deutschen Firma in Bulgarien oder im Rahmen von internationalen Projekten arbeitet. „Nach der Rückkehr habe ich angefangen im Rahmen dieser, wie hießen sie, „Twinning“-Projekte mitzuarbeiten. Damals war die Zeit, in der die bulgarische Verwaltung auf die EU-Osterweiterung vorbereitet werden musste. Ich hatte auch Übersetzungen übernommen, gedolmetscht, aber diese Projekte waren echt gut. Ich habe eine Menge gelernt, ich habe auch mein Wissen, das ich in Deutschland erworben habe, einsetzen können. Die Partnerorganisationen waren auch sehr interessant. Und ich habe in meinen Fächern – Germanistik und Europawissenschaften – gearbeitet, die ich studiert habe“ (I 24).
Die interviewten Personen geben an, dass sie auch im Hinblick auf die kulturellen Praktiken weiterhin Bezug zu Deutschland haben. Sie betonen, dass die Aufrechterhaltung dieser Verbindung für sie von besonderer Bedeutung ist.
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„Ich feiere Weihnachten nach einer deutschen Art. Ich koche nicht nur Bulgarisch, sondern auch Deutsch, mit Knödeln, Sauerkraut und Haxe, die deutschen Süßigkeiten mag ich auch gern, haben wir immer mit der WG zusammen gebacken. Und die Tradition mit dem Glühwein. Ich mag die Adventszeit. Ich habe gelernt, die Vorweihnachtszeit zu beachten. So etwas ist in Bulgarien völlig unbekannt, aber diese Zeit habe ich in Deutschland lieben gelernt“ (I 24).
Trotz aller erlebten Schwierigkeiten bei der Rückkehr, haben die Rückkehrer*innen aus heutiger Perspektive (zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung) die Auffassung, dass die Entscheidung nach Bulgarien zurückzukehren, eine ‚richtige‘ und ‚gute‘ Entscheidung gewesen ist. In Bulgarien gefällt es den Rückkehrer*innen ‚gut‘. „Ich wollte nicht zurück, aber im Nachhinein kann ich sagen, es hat sich gelohnt. Ich lebe in Bulgarien wirklich gut“ (I 25). „In Bulgarien hat es mir nach der Rückkehr sehr gut gefallen, denn man hatte immer die Möglichkeit, mit jemandem Kaffee zu trinken. Und zu sprechen. Die Leute sind halt nicht so distanziert, nicht so extrem beschäftigt und müde. Vielleicht haben sie nicht mehr Zeit als die Deutschen, aber sie teilen sie anders auf: Sie legen Wert darauf, mit den Menschen zu sprechen, zusammen die Zeit zu verbringen und nicht allein, zu Hause, mit den Pflanzen und mit der Wäsche zu sein. Das ändert sich zunehmend aber auch in Bulgarien. Die Menschen verschließen sich auch. Das Leben wird zunehmend schwieriger und stressiger – manchmal wegen der schlechten finanziellen Lage, manchmal, da man so viel arbeitet, vor allem bei den ausländischen Unternehmen. Und es kommt auch in Bulgarien vor, dass man keine Kraft hat, nach der Arbeit etwas zu unternehmen“ (I 24).
Es sind aber Rückkehrer*innen, die betonen, dass sich durch die Rückkehr ihr gesamtes Leben verändert hat. Vor allem die weniger qualifizierten Personen sind diejenigen, die in Bulgarien keine gute Perspektive für sich sehen. Sie bedauern, Deutschland verlassen zu haben. Mit ihrer geringeren Qualifikation hätten sie in Deutschland ein besseres Auskommen gehabt. Aufgrund der restriktiven Einwanderungspolitik der Bundesrepublik waren die Möglichkeiten in Deutschland zu bleiben sehr eingeschränkt. Dementsprechend war die Rückkehr die logische Folge dieser Lebenssituation. „Wir wollten gar nicht zurück, aber wir mussten. Wir durften nicht arbeiten“ (I 42).
Die Entscheidung zurückzukehren ist keine freiwillige Entscheidung gewesen. Diese Rückkehrer*innen gehören zu den Personen, die nach 2007 wieder nach Deutschland eingewandert sind und die Möglichkeiten der Personenfreizügigkeit, der Mobilität und der Transnationalität innerhalb der EU nutzten.
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8.5 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit nach 2007 Nach dem EU-Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 ändern sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das migrationsspezifische Verhalten der sozialen Akteur*innen bestimmen. Dementsprechend verändert sich die Bereitschaft der bulgarischen Staatsbürger*innen, die nach Deutschland migriert sind, von Deutschland nach Bulgarien zurückzukehren. Dennoch kehren nicht alle bulgarischen Migrant*innen zurück; auch nach 2007 bleibt die Migration von Bulgarien nach Deutschland deutlich höher als die Rückkehrmigration aus Deutschland nach Bulgarien. Es ist von wichtiger analytischer Bedeutung zu verstehen, welche Personen aus welchen Gründen beschließen – unter den geänderten gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen – nach Bulgarien zurückzukehren. Bei der Analyse der Rückkehrmotive werde ich auch in Bezug auf diese Periode die Typologie von Cerase (1974) verwenden. Die Personen, die aufgrund der Aufgabe der eigenen Migrationsprojekte zurückkehren („Return of Failure“), bilden eine spezifische Gruppe. Zu ihr gehören die bulgarischen Staatsbürger*innen, die aus Deutschland nach Bulgarien zurückkehren, da sie ihre Migrationsvorhaben revidieren mussten; vor allem aber können dieser Gruppe die Personen zugerechnet werden, die aus Spanien und Griechenland nach Bulgarien zurückkehren. Aufgrund der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 mussten sie ihre ursprüngliche Planung, in Spanien oder in Griechenland dauerhaft zu bleiben, aufgeben. Sie haben ihre Arbeitsplätze verloren. Eine dauerhafte Perspektive ist in diesen Ländern nicht möglich; die bulgarischen Staatsbürger*innen suchen in ihrem Herkunftsland oder in einem anderen europäischen Land nach neuen Möglichkeiten. Ein Teil von ihnen kehrt nach Bulgarien zurück, ein anderer Teil sucht neue Möglichkeiten in Ländern wie Deutschland, die nicht so stark von der Krise betroffen wurden. „Es ging nicht mehr. Ich habe seit 2003 auf einer Baustelle in der Nähe von (…) in Spanien gearbeitet. Alles ging sehr gut. Ich habe 2007 meine Familie nachgeholt. Ende Februar 2010, das werde ich nicht vergessen, habe ich zum ersten Mal mein Gehalt nicht bekommen. Dann kamen März und April, wir haben gearbeitet, und es hieß, wir kriegen unser Geld. Das Geld kam aber nicht. Wir haben langsam das Ersparte aufgebraucht. Mitte 2011 haben wir verstanden, dass es hoffnungslos war. Meine Frau hat angefangen als Putzfrau zu arbeiten. Zu Beginn wollte sie das nicht, denn sie wollte ja auf unser Kind aufpassen. […] Irgendwann war es klar, es geht nicht weiter und wir sind nach Bulgarien zurück. Vor allem für unseren Sohn war das eine Katastrophe. Er hat Bulgarisch verstanden, aber er konnte die Buchstaben nicht, war aber in der 3. Klasse. […] Und dann kam die Schwester meiner Frau zu
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uns. Sie wohnt in Deutschland. Sie hat uns Geld geliehen und hat gesagt, wir sollen zu ihr nach Deutschland kommen. Und wir sind geflogen. Und sie hat uns geholfen, in Deutschland Fuß zu fassen“ (I 47).
Diese Lebensgeschichte verdeutlicht, dass in einigen Fällen aus der Migration und aus der Rückkehr nach 2007 eine grenzüberschreitende Mobilität wird. In dieser Umgestaltung des eigenen Migrationsprojektes ist die Besonderheit der Rückkehrmigration nach 2007 zu sehen: Die Rückkehr kann durch einen Misserfolg des ursprünglichen Migrationsprojektes begründet werden; die Rückkehr ist, im Unterschied zu den vorherigen Perioden, aber nicht die Endstufe des ursprünglichen Migrationsprojektes, sondern oft der Beginn eines neuen Migrations- oder Mobilitätsvorhabens. Die Migrationsplanung kann revidiert und neu gestaltet werden. Der Misserfolg kann zur Vorstufe eines neuen erfolgversprechenden (Migrations-)Projekts angesehen werden. In diesem Kontext ist die Kategorie „Return of Failure“ grundsätzlich zu hinterfragen: Nach 2007 hat das Aufgeben des ursprünglichen Migrationsprojektes keinen prägenden und langfristigen Charakter. Durch die geänderten gesellschaftlichen Makrobedingungen und durch den temporären Charakter der Rückkehr bzw. durch den fließenden Übergang zwischen Migration, Rückkehr und einer neuen Migration, erfolgt nach der Aufgabe des ursprünglichen Migrationsvorhabens oft eine neue Auswanderung. „Nach meinem Abschluss habe ich verstanden, ich kann in meinem Beruf in Deutschland nicht erfolgreich sein. Ich hatte keine Kund*innen. Wahrscheinlich, da sie mich als Ausländer angesehen haben und mir nicht vertraut haben […]. So traf ich die Entscheidung zurückzukehren“ (I 27).
In den durchgeführten Interviews kann deutlich der Idealtyp der Migrant*innen identifiziert werden, der aufgrund der empfundenen Werteunterschiede („Return of Conservatism“) nach Bulgarien zurückkehrt. In den vorherigen Perioden sind Personen, die eine Erfahrung mit einer erlebten Inkompatibilität der Werte und Vorstellungen gemacht haben, häufiger bereit, diese hinzunehmen, da die ökonomischen Unterschiede zwischen Bulgarien und Deutschland größer gewesen sind. In einer Phase der Minderung der wirtschaftlichen Unterschiede spielen die individuellen Werte und Vorstellungen eine immer größer werdende Rolle für die Planung und die Gestaltung des eigenen Migrationsprojektes. „Hier habe ich ein ruhiges, geordnetes und sicheres Leben, was sehr wichtig ist. Denn in Deutschland hatte ich immer den Stress, dass ich selbst die Rechnungen zahlen muss, dass meine Arbeitsverträge befristet waren, dass ich das Gefühl hatte,
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nicht zu Hause zu sein. Ich weiß, dass ich hier gute Arbeit leiste, dass ich gutes Geld bekomme und ich habe meine Ruhe. Ich weiß, dass ich in den Urlaub fahren kann und dass ich abends, nach der Arbeit, ausgehen kann. Für jemand anderen mag das das Mindeste sein, für mich ist das genug. Mehr will ich nicht. Ich brauche keine Yacht. Ich brauche nicht die Welt zu verbessern“ (I 13).
Nach 2007 sind die Rückkehrer*innenbiografien in einem Aspekt deutlich von den Biografien in den vorherigen Perioden zu unterscheiden: Die post-materiellen, ‚weichen‘ Faktoren wie z. B. Freundschaften, Freizeitgestaltung, Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Zeit, Natur etc. spielen eine zunehmende Rolle für die Entscheidung zurückzukehren oder im Einwanderungsland zu bleiben. Die Entscheidung für oder gegen die Rückkehr ist nicht mehr vorrangig politisch (wie vor 1989) oder wirtschaftlich (1990–2007), sondern zunehmend auch von diesen ‚weichen Faktoren‘ geprägt. „Ich war nicht glücklich dort. In all diesen Jahren konnte ich mich nicht zurechtfinden – ich hatte keinen Freundeskreis. Ich war sehr kommunikativ, aber es hat trotzdem nicht funktioniert. Es kann sein, dass ich schuld daran bin, aber in allen diesen Jahren habe ich keine deutschen Freunde gefunden. Meine Freunde waren Bulgaren, Serben, Griechen. Ich hatte keinen einzigen deutschen Freund. Ich habe mich nicht akzeptiert gefühlt, nicht angekommen. Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Ich hatte auch keine Beziehung […] irgendwann war das einfach zu viel. Und ich habe beschlossen, nach Bulgarien zurückzufahren“ (I 26). „Früher war alles sehr kommunikativ, ich hatte Freunde und es gab Partys, aber nach dem Ende des Studiums war damit vorbei. Viele haben die Stadt verlassen, haben angefangen zu arbeiten und gingen irgendwohin, ans andere Ende des Landes. Ich blieb alleine. Das hat mich sehr belastet. Ich konnte das nicht aushalten, allein zu sein. Ich weiß, dass das in Deutschland üblich ist, nach der Arbeit allein zu Hause zu sein, aber ich wollte das nicht. Ich habe mich nicht glücklich gefühlt und ich wusste, ich muss zurück“ (I 27).
Nach 2007 nimmt die Motivation, nach Bulgarien zurückkehren, aufgrund der Möglichkeit, innovativ zu agieren, („Return of Innovation“) zu. Vor allem Menschen im jungen und mittleren Alter, die unternehmerisch aktiv sind, profitieren von den offenen Landesgrenzen im Rahmen der EU und nutzen ihr ökonomisches und soziales Kapital in den beiden Gesellschaften. Besonders Bulgar*innen, die in Deutschland studiert haben, kehren zurück und beginnen eine Karriere bei Vertretungen deutscher oder österreichischer Firmen in Bulgarien. Aufgrund der in Deutschland erworbenen fachlichen und sprachlichen Kenntnisse sind sie auf dem bulgarischen Arbeitsmarkt nach 2007 sehr gefragt. Die EU-Osterweiterung und der Beitritt Bulgariens wirken sich positiv auf das
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Image des Landes und auf die Attraktivität der bulgarischen Wirtschaft für ausländische Investor*innen aus. Als EU-Mitglied wird Bulgarien als ein politisch und wirtschaftlich stabiles Land wahrgenommen und zieht Investor*innen aus dem Ausland an. Dementsprechend suchen sie Fachkräfte mit internationaler Erfahrung und Sprachkenntnissen. Die Rückkehrer*innen profitieren von der neuen wirtschaftlichen Entwicklung: Für sie ist die Rückkehr kein Verlust, sondern ein Zugewinn – eine neue Möglichkeit, aktiv zu sein, unternehmerisch zu wirken und zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beizutragen. Diese These ist auch in der Biografie eines erfolgreichen Rechtsanwaltes aus Bulgarien zu bestätigen. (I 27) hat Jura in Deutschland studiert. Nach dem Abschluss in einer mittelgroßen deutschen Stadt machte er sich in Deutschland selbstständig und eröffnete eine eigene Rechtsanwaltkanzlei. Die Mandant*innen haben das Angebot nicht angenommen, und der Erfolg blieb aus. (I 27) traf daraufhin die Entscheidung, nach Bulgarien zurückzukehren und dort als Rechtsanwalt zu arbeiten. Zurzeit gehört er zu den renommiertesten Rechtsanwälten in Sofia und ist darauf spezialisiert, eine transnationale Kundschaft (deutsche Mandant*innen, die in Bulgarien investieren oder Bulgar*innen, die in Deutschland arbeiten etc.) zu betreuen. Die Revision des ursprünglichen Migrationsprojektes, das nicht den Erwartungen entsprochen hat, führt zu einer neuen, sehr erfolgreichen Lebensphase der Rückkehr, die durch Transnationalität und Mobilität geprägt ist. „Dann bin ich zum Schluss gekommen, dass es sehr wichtig ist, dass man eine Brückenfunktion übernimmt zwischen den beiden Gesellschaften, denn ich habe viel Zeit in Deutschland verbracht, ich kenne die beiden Gesellschaften sehr gut. Ich kenne die Mentalität der Menschen, das Rechtssystem, die Kultur und das ist meine Stärke. Ich wollte meine Stärke nutzen […] Deutsche Firmen, die in Bulgarien eine Filiale gründen, tun das zum größten Teil wegen des Steuersystems. Und dabei helfen wir – das ist unsere Aufgabe, dass alles rechtens zugeht und dass unsere Kunden gleichzeitig davon profitieren […] Ich habe durch meine Rückkehr meinen Nachteil, dass ich Ausländer bin, zum Vorteil umgewandelt. Denn ich habe deutsches Recht studiert und ich kenne sowohl Bulgarien als auch Deutschland. Das hilft mir und das sehe ich jeden Tag“ (I 27).
Nach 2007 ist eine neue Tendenz deutlich zu erkennen, die ich hier markieren möchte: Die Rückkehr ist keine Rückkehr mehr, sondern ein Einstieg in eine neue Dimension der Migration bzw. in eine neue gelebte Mobilität und Transnationalität. Die Rückkehrer*innen entscheiden sich nicht für die eine Gesellschaft, in der sie ¸für immer’ bleiben und sie verlassen nicht die andere Gesellschaft, sondern sie leben de facto in beiden Gesellschaften. Sie übernehmen eine Brückenfunktion, pendeln zwischen den beiden Gesellschaften hin und her, tauschen sich
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mit Kolleg*innen aus und können sich jederzeit umentscheiden, wenn sich die Arbeitsbedingungen oder die Lebensumstände ändern. „Seit ich vier Jahre alt bin, reise ich um die Welt. Drei bis vier Jahre leben wir in einem anderen Land, dann kehren wir zurück, dann ziehen wir weiter. Dieser Zyklus ist tief in mir verwurzelt. Es ist kein hin und zurück. Es ist ein permanentes Unterwegssein“ (I 13). „Ich kehre sehr oft zurück – sowohl nach Bulgarien, als auch nach Deutschland. Ich verdiene ziemlich gut und ich kann mir das Reisen auch privat leisten. Aber momentan pendle ich beruflich zwischen Deutschland und Bulgarien, gelegentlich bleibe ich in Deutschland bis zu einen Monat. Ich arbeite für eine deutsche Firma in Bulgarien. Immer wenn ich Lust habe, kann ich ja nach Deutschland. Ich habe ja die beiden Staatsangehörigkeiten“ (I 26). „Ich lebe in Bulgarien, aber berufsbedingt muss ich eine internationale Vertretung unterhalten. Wir haben Partnerorganisationen, die unsere Kanzlei im Ausland vertreten. Wir haben eine Adresse in Leipzig, eine in und eine in Frankfurt. Mein Name steht an der Tür. Das ist natürlich Marketing. Ich kann auch die Büros unserer Partner nutzen und Kunden empfangen. Ich bin in Frankfurt als Rechtsanwalt angemeldet, und wenn dort vor Ort Prozesse stattfinden, dann bin ich dort anwesend und aktiv, wenn es sich für uns lohnt. Wenn die Prozesse viel zu umfangreich sind und sich dadurch meine Beteiligung nicht lohnt, dann übernehmen unsere Partner vor Ort die Arbeit. Es ist faktisch so, dass ich hier und dort arbeite“ (I 27). „Meine Arbeit ist weiterhin mit Österreich und der Schweiz verbunden. Mit den deutschsprachigen Ländern. Ich arbeite im Bereich der Übersetzungen und der Korrespondenz und bin auch beim Management gemeinsamer Projekte aktiv“ (I 13).
Die privaten, vor allem aber die beruflichen Kontakte mit Deutschland werden nach der Rückkehr aktiv gepflegt. Daraus entstehen neue Verbindungen, neue Möglichkeiten, neue Projekte, die über die Staatsgrenzen hinausgehen. Die gelebte Transnationalität und Mobilität ist die Essenz der Rückkehr nach 2007. Diese Entwicklung betrifft die unterschiedlichen sozialen Schichten in einem ähnlichen Ausmaß. Die weniger Qualifizierten weisen eine beachtliche Mobilität, vor allem im Hinblick auf saisonale Arbeitsmöglichkeiten aus. Besonders intensiv entwickelt sich nach 2007 der vierte Rückkehrtyp, der „Return of Retirement“. Bulgarischstämmige Personen, die in Deutschland gearbeitet haben, kehren nach dem Erreichen des Rentenalters nach Bulgarien zurück, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Oft behalten sie ihre Wohnung in Deutschland und verbringen den einen Teil des Jahres in Bulgarien, den anderen in Deutschland. Es handelt sich um eine deutlich ausgeprägte Tendenz
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der Zunahme der Rentenmigration bzw. der Rückkehr im Rentenalter. Die Zahl der Rentenbezüge, die von der Deutschen Rentenversicherung ins gesamte Ausland gezahlt werden, hat sich im Jahr 1990 von 780.000 auf 1,76 Mio. im Jahr 2017 mehr als verdoppelt (Welt Online 2017). Die beiden Tendenzen der Rentenmigration oder der Rentenrückkehrmigration können statistisch nur schwierig auseinandergehalten werden. Die Staatsangehörigkeit ist kein Kriterium, mit dem man eindeutig feststellen kann, ob es sich um eine Migration oder eine Rückkehrmigration handelt. Statistisch ist allerdings eine deutliche Zunahme der von der Deutschen Rentenversicherung getätigten Rentenzahlungen an in Bulgarien lebende Personen zu verzeichnen. Im Jahr 2007 wurden Rentenzahlungen an 321 Personen, die in Bulgarien leben und in Deutschland Rentenansprüche erworben haben, von der Deutschen Rentenversicherung getätigt. Die Anzahl der Rentenzahlungen stieg im Jahr 2008 auf 379. Bis zum Jahr 2017 erhöhte sie sich auf 1375 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017). Idealtypisch unterscheide ich zwischen den bulgarischstämmigen Rentner*innen, die ihren permanenten Wohnsitz aus Deutschland nach Bulgarien verlegt haben und bulgarischstämmige Rentner*innen, die einen Wohnsitz in den beiden Staaten haben. Im ersten Fall handelt es sich um eine Rentnerrückkehrmigration und im zweiten um eine Transnationalität im Rentenalter.
8.5.1 Veralltäglichung der Rückkehr Im Unterschied zu den vorherigen Perioden wird die Rückkehr nach 2007 von den Bulgare*innen, die nicht migriert sind und in Bulgarien leben, zunehmend als etwas Banales wahrgenommen. Der Auslandsaufenthalt wird nicht als etwas Exklusives bewertet, da nach 2007 und insbesondere nach 2014 der Zugang zu den EU-Ländern einfacher geworden und die Migration nicht mit der Überwindung von besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Die Rückkehr wird weder „vergöttert“, noch verurteilt. „Meine Rückkehr ist meine Entscheidung. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich muss aber nicht damit angeben, dass ich im Ausland gewesen bin. Das ist meine Sache. Ich kommentiere das nicht“ (I 13).
Die besondere Anerkennung, die die Rückkehrer*innen in früheren Perioden, z. B. vor 1989, erfahren haben, bleibt – zumindest nach der Beurteilung der Rückkehrer*innen – aus. Die Rückkehr ist mit Schwierigkeiten verbunden.
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„Als ich zurück war, habe ich mich missverstanden und nicht gewürdigt gefühlt. Wenn ich hier studiert hätte, wäre es mit Sicherheit leichter für mich, Karriere hier zu machen. Gleichaltrige sind sogar auf besseren Positionen als ich. Wenn ich zurück bin, musste ich anfangen, die Karriereleiter aufzusteigen. Keine*r hat mir gesagt: ‚Oh, super, du warst im Ausland, du hast eine super Bildung, komm’ und werde Chefin‘. Ganz im Gegenteil. In Bulgarien kennt man sich untereinander, besonders im Bereich des Marketings. Jeder versucht seine Leute zu platzieren. Und für mich war es sehr schwierig am Anfang, da ich zu niemandem gehörte“ (I 26).
Die interviewten Personen bewerten ihre Auslandserfahrungen nicht als etwas Exklusives, sondern vielmehr als eine Hürde. Selbst aus materieller Sicht ist der Auslandsaufenthalt nicht besonders attraktiv. „Dadurch, dass ich im Ausland gewesen bin, habe ich mehr Lebenserfahrung gewonnen. Aber materiell mit Sicherheit nicht“ (I 26).
Die Rückkehrer*innen werden zum Teil weiterhin mit Ablehnung konfrontiert, wobei sie mit der Zeit aber abnimmt. Auch in dieser Periode ist die Ablehnung vonseiten der Menschen, die Bulgarien nie verlassen haben und keine Migrationserfahrung haben, besonders intensiv. „Und auch bis heute glauben es die Leute nicht. Das sind vor allem Menschen, die Bulgarien nie verlassen haben. Wenn ich ihnen sage, dass ich ein großes Bürogebäude besitze, denken sie sich, dass ich, wenn ich in Deutschland geblieben wäre, Millionär geworden wäre. Was schlicht und einfach nicht stimmt. Dort ist die Konkurrenz viel größer“ (I 27).
Allerdings ist die Tendenz, zumindest in der Wahrnehmung der Rückkehrer*innen festzustellen, dass die Akzeptanz der Rückkehr in der bulgarischen Gesellschaft zunimmt. Die Menschen akzeptieren die Entscheidung der Migrant*innen zurückzukehren. Es sind dennoch weiterhin Personen, die die Rückkehr als Misserfolg bewerten, diese Bewertung nimmt allerdings ab. „Ich war stolz auf meine Entscheidung und die Menschen, die mir wichtig waren, haben sie respektiert. Diejenigen, die im Ausland gelebt haben, haben mich verstanden. Und das war mir wichtig. Diejenigen, die gesagt haben: ‚Du bist verrückt‘, das sind Menschen, die keine Ahnung haben, worum es geht. Die spielen aber keine Rolle für mich. Denn die anderen haben mich bewundert, dass ich im Ausland gelebt habe, dass ich die Sprache gelernt habe, dass ich was besonderes erlebt habe. Und ich bin stolz darauf“ (I 26).
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Eine neue Entwicklung ist deutlich zu erkennen: Die Personen, die im Ausland gelebt haben und zurückgekehrt sind, empfehlen den Auslandsbulgar*innen, zurückkehren. Die Rückkehr ist nicht nur eine legitime und normale Entscheidung, sondern wird mit der Zeit empfehlenswert. „Ich persönlich bin Befürworter der Idee, dass mehr Bulgar*innen zurück nach Bulgarien müssen. Sie haben Erfahrung, die sie hier einsetzen können. In Deutschland würden sie mehr Sicherheit finden, aber hier werden sie mehr Möglichkeiten sehen. Sie werden sich freier fühlen. Sie würden mehr erreichen, als sie in Deutschland erreichen werden, denn hier ist der Markt offener. Hier ist die Konkurrenz geringer. Aber sie müssen auch viel flexibler sein. Das ist ja nichts für Jede*n“ (I 27).
Das Leben in Bulgarien wird von den Rückkehrer*innen in dieser Periode als ‚interessant‘ und ‚spannend‘ bewertet. Einige Rückkehrer*innen berichten, dass sie sich mehr leisten können als in Deutschland. „Es ist viel los in Bulgarien. Gerade im Bereich des Kreativen. Viele junge Menschen, die im Ausland gelebt haben, kommen zurück“ (I 26). „Hier leiste ich mir bessere Dinge: Massagen zum Beispiel oder Frisörbesuche – das habe ich in Deutschland kaum gemacht. Ja, das ist zwar nicht das wichtigste, aber immerhin. Ich erlaube mir mehr, als ich mir in Deutschland erlaubt habe. Meine beste Freundin hier ist Zahnärztin und mit ihr leisten wir uns schon mal was Schönes – mal ein Wellness-Wochenende, mal einen Abend in einem guten Cafe“ (I 26).
Dennoch wird das Leben in Bulgarien von den Rückkehrer*innen auch kritisch bewertet. „Ich sehe eine aufkommende Dynamik in der Gesellschaft. Aber sie ist in den großen Städten. Die Bürger*innengesellschaft in Sofia, Plovdiv und Varna geht voran. Immer mehr Menschen kapieren, dass sie nicht nur ihr Wohl sehen müssen, sondern man auch die Gesellschaft beachten müsste, damit es uns allen besser geht“ (I 27). Die soziale Dimension wird von den Rückkehrer*innen deutlicher akzentuiert. Die sozialen Unterschiede in Bulgarien sind für die Personen, die in Deutschland gelebt haben und Erfahrung mit dem deutschen Sozialstaat gemacht haben, noch deutlicher zu sehen. „Ich lebe in einem guten Milieu in Bulgarien. Aber wenn ich in der Provinz bin, sehe ich ein ganz anderes Leben. Die Denkweise und die Lebensart sind anders.
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Ich lebe gut, besser als die meisten Bulgar*innen, besser auch als die Leute, die in Deutschland leben. Aber wenn ich sehe, was für bittere Armut in der Provinz vorherrscht, was für Menschen dort leben, dann wird es mir schlecht“ (I 27).
Nicht nur die soziale, sondern auch die rechtliche Problematik wird deutlich von den Rückkehrer*innen markiert. „Das wichtigste ist der Rechtsstaat. Ganz wichtig ist, dass es gute Regeln gibt, die für alle gelten. Eine gute Verwaltung, die für alle da ist, die flexibel ist. Das ist hier aber immer noch nicht der Fall“ (I 27).
8.5.2 Selbstorganisationen der Rückkehrer*innen In der Periode nach 2007 nehmen die organisierten Kontakte der Rückkehrer*innen zu. Es kehren mehr Leute zurück, die Bedarf haben, sich zu treffen und durch organisierte Aktionen auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Eine wichtige Organisation ist die im Jahr 2010 gegründete „Deutsch in der Kneipe. Der deutsche Stammtisch in Sofia, Bulgarien“. Die Gruppe begreift sich als der „Stammtisch für Deutschsprachige in Sofia“. Treffpunkt ist an einem Abend in der Woche in einer Gaststätte in Sofia. Das Treffen hat einen informellen Charakter und die Kommunikation erfolgt vor allem über das soziale Netzwerk „Facebook“, wo die Gruppe 2134 Mitglieder hat (vgl. Stammtisch für Deutschsprachige in Sofia o. J.). Bulgarische Rückkehrer*innen aus Deutschland und Deutsche, die in Bulgarien arbeiten, treffen sich, um sich auszutauschen. Daraus können wertvolle Kontakte entstehen und Erfahrungen gesammelt werden. Offiziell registriert ist die Organisation allerdings nicht. „Der deutsche Stammtisch. Der ist für Expats organisiert. Ich ging sehr regelmäßig zu Beginn, als ich zurück war. Da kamen viele Deutsche. […] Ich habe noch Kontakt zu meinen Bekannten in Deutschland – zu einer Deutschen rumänischer Herkunft. Mit ihr telefoniere ich jede Woche. Wir treffen uns zum Beispiel in Italien, wir verreisen zusammen“ (I 26).
Seit 2008 ist der möglicherweise bedeutendste Verein der bulgarischen Rückkehrer*innen aktiv. Die Organisation heißt „Tuk-Tam“ („Hier und Dort“). Sie wurde in Sofia im Jahr 2008 von bulgarischen Rückkehrer*innen gegründet und hat nach eigenen Angaben seit der Gründung 438.489 Mitglieder. 90 Partnerorganisationen, 453 Personen und Institutionen unterstützten in den letzten Jahren
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
die Aktivitäten der Organisation finanziell (Angaben zum 18.07.2018). „Tuk Tam“ organisiert die internationale Messe „Karriere in Bulgarien: Warum nicht?“, die bis 2018 nach Angaben der Organisation 11.680 angemeldete Besucher*innen hatte. Sie vergibt Stipendien an jungen Bulgar*innen, die im Ausland studieren und bereit sind, nach dem Studienabschluss im Ausland nach Bulgarien zurückzukehren und in Bulgarien zu arbeiten. Bis 2018 wurden acht Magisterstipendien vergeben, die durch Mitgliedsspenden finanziert wurden (vgl. Tuk-Tam o. J.). Die Gründung und die Aktivitäten solcher Organisationen verbessern zum einen die Eingliederungsmöglichkeiten der Rückkehrer*innen und tragen zum anderen dazu bei, die Rückkehr öffentlich sichtbar zu machen und in der bulgarischen Gesellschaft anerkannt zu werden. Belange der Rückkehrer*innen, wie die Anerkennung von Zeugnissen, Wohnungssuche, Arbeitssuche etc., können öffentlich artikuliert und innerhalb der vorhandenen Netzwerke begleitet werden. Neben der Möglichkeit, sich an Aktivitäten dieser Organisationen zu beteiligen, pflegen die Rückkehrer*innen weiterhin informelle Кontakte – überwiegend mit Bulgar*innen, die im Ausland gelebt haben. Eine freundschaftliche Beziehung mit Bulgar*innen aufzubauen, die Bulgarien nie verlassen haben, wird auch nach 2007 mit Skepsis betrachtet. „Ich kommuniziere vor allem mit den Menschen, die im Ausland gelebt haben. Ich lebe in einer Kapsel mit solchen Menschen. Ich treffe kaum andere“ (I 26).
„Ich nutze regelmäßig deutsche Medien. Die bulgarischen taugen ja nichts“ (I 43). „Außerhalb des Arbeitsplatzes sind alle meine Freunde, welche die im Ausland gelebt haben. Die meisten haben in Deutschland gelebt, studiert, gearbeitet und sind dann zurückgekehrt. Mit ihnen ist es einfach. Sie haben eine Denkart, die meiner entspricht. Sie verstehen mich und ich verstehe sie. Mit den anderen Bulgar*innen … was soll ich sagen. Mit den Einheimischen, manchmal nenne ich sie ‚die Aborigines‘, sie haben Werte, die mir sehr fremd sind. Sie machen mich nervös. Da ist dieser Druck alles zu zeigen, auf Äußerlichkeiten zu achten, ganz groß. Alle sind ‚ganz große Freunde‘, aber die Kontakte können auch sehr oberflächlich sein. Mit denen habe ich nichts zu sprechen. Sie verstehen mich nicht“ (I 27).
8.5.3 Figuren der Rückkehrer*innen Aufgrund der durchgeführten und ausgewerteten Interviews mit bulgarischen Rückkehrer*innen aus Deutschland können die folgenden Figuren der Rückkehrer*innen deutlich markiert werden:
8.5 Rückkehr nach Bulgarien in der Zeit nach 2007
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• nach der historischen Periode unterscheide ich zwischen den Rückkehrer*innen, die vor 1989 nach Bulgarien, in der Zeit von 1990–2007 und nach 2007 zurückgekehrt sind; • nach der Freiwilligkeit der Rückkehr differenziere ich zwischen Personen, die freiwillig zurückkehren und die gezwungen sind, sich für die Rückkehr zu entscheiden; • nach dem sozialen Status unterscheide ich zwischen Rückkehrer*innen, die ihren sozialen Status nach der Rückkehr erhalten oder verbessern bzw. den Rückkehrer*innen, die ihren Status verschlechtern; • nach der Dauerhaftigkeit der Rückkehr lässt sich zwischen Personen, die temporär zurückkehren, um wieder auszuwandern und Personen, die die Absicht haben, dauerhaft zurückzukehren, unterscheiden. Nach 2007 lässt sich eine neue Kategorie festmachen: ‚Transnationale Rückkehrer*innen‘ sind Personen, die trotz der Rückkehr beruflich wie privat in transnationalen Netzwerken aktiv sind. Sie weisen eine hohe Stufe der Mobilität auf. In ihrer Analyse über die Migrationsprozesse betont Anna Krasteva, dass die Figuren der bulgarischen Rückkehrer*innen besonders nach 2007 vielfältiger werden. Sie unterscheidet zwischen den folgenden Rückkehrer*innentypen, die sich nach 2007 in Bulgarien etabliert haben: • Elite-Rückkehrer*innen – Personen, die eine erfolgreiche Karriere in einem westeuropäischen Land gemacht haben und bei der Rückkehr nach Bulgarien einen Zugang zur politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes bekommen: Die Rückkehr eröffnet ihnen den Zugang zu einer höheren Stufe in der sozialen Hierarchie. Die Karriere in einem westeuropäischen Kontext wird als Sprungbrett verwendet (Krasteva 2014, S. 411); • Rückkehrer*innen aus existenziellen Gründen – hierbei ist der Wunsch, mit der Familie zusammen zu sein, der überwiegende Grund, die Entscheidung für die Rückkehr zu treffen; • Postprofessionelle Rückkehr – Personen, die im erwerbsfähigen Alter migriert sind und im Rentenalter nach Bulgarien zurückkehren (Krasteva 2014, S. 412); • Temporäre Rückkehrer*innen – Rückkehrer*innen, die im Rahmen einer Mobilitätsbewegung zurückkehren, um dann wieder wegzuziehen (Krasteva 2014, S. 412–413); • Rückkehr als professionelle Diskontinuität – eine Rückkehr, die zum Abbruch der professionellen Karriere führt (Krasteva 2014, S. 414); • Imaginierte Rückkehr – eine Rückkehr, die gewünscht, aber doch nicht verwirklicht wird; „Rückkehr als Mythos“ (Krasteva 2014, S. 415) (zur Problematik der Rückkehr-Illusion vgl. Pagenstecher 1994).
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
8.6 (Fehlende) politische Steuerung der Rückkehrmigration Symptomatisch für die fehlende politische Steuerung der Rückkehrmigration sind die mangelhaften statistischen Informationen über die zurückgekehrten bulgarischen Staatsbürger*innen, die das Nationale Statistische Institut Bulgariens zur Verfügung stellt. Die Anzahl der Personen, die zurückgekehrt sind, wie in der beigefügten Tabelle zu sehen, beruht zum einen auf den behördlichen Anmeldedaten, die in den bulgarischen Kommunen gesammelt und ausgewertet werden. Da in der Praxis die meisten Bulgar*innen, die ihren Geburtsort verlassen und zwar unabhängig davon, ob das Ziel der Wanderung innerhalb oder außerhalb Bulgariens liegt, sich nicht um- oder abmelden, sind diese Daten sehr ungenau. Tab. 8.1 zeigt die Rückkehrmigration bulgarischer Staatsbürger*innen nach Bulgarien (2012–2017). Zum anderen wurde eine Befragung zum Zweck der Volkszählung im Jahr 2011 durchgeführt. In dieser wird auch die Frage gestellt, ob eine oder mehrere Personen im Haushalt nach einem Auslandsaufenthalt von mindestens einem Jahr nach Bulgarien zurückgekehrt und mindestens ein Jahr lang geblieben sind. Die Angaben dieser Befragung weichen von den Anmeldedaten ab. Die Anzahl der Rückkehrer*innen, die durch die Befragung 2011 ermittelt wurde, ist höher als die Anzahl der angemeldeten Rückkehrer*innen im Jahr 2011. Die Befragungsdaten sind präziser, allerdings umfassen sie lediglich die Prozesse im Jahr 2011 oder davor (vgl. Nacionalen Statisticheski Institut 2011). Wie wird die Rückkehr nach Bulgarien in den unterschiedlichen Perioden politisch gesteuert? Eine gezielte politische Steuerung der Rückkehr ist lediglich in der Zeit vor 1989 deutlich festzustellen. Die Politik der Bulgarischen Kommunistischen Partei stigmatisiert die Auswander*innen und vor allem die
Tab. 8.1 Rückkehrmigration bulgarischer Staatsbürger*innen nach Bulgarien (2012–2017)
Jahr
Anzahl
2012
4964
2013
4682
2014
9502
2015
10.722
2016
9254
2017
13.060
Quelle: Copyright Nacionales Institut für Statistik (o. J.)
8.6 (Fehlende) politische Steuerung der Rückkehrmigration
379
Personen, die nach 1945 das Land ohne Genehmigung verlassen haben. In den 1950er Jahren versucht die Regierung in Bulgarien aktiv die Auswander*innen zur Rückkehr zu bewegen: Dabei werden Mitarbeiter*innen der Auslandsvertretungen, der Botschaften und der Geheimdienste mit der Aufgabe betraut, die „Rückkehrverweiger*innen“ zur Rückkehr zu bewegen oder gar zu zwingen (Kiryakov 2013, S. 195–19)3. Am 21.11.1953 beschließt das Politbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei „Maßnahmen zur Verbesserung der ausländischen Tätigkeit“ (Kiryakov 2013, S. 198). Die Botschaften sollen Listen mit den Adressen von im Ausland lebenden Bulgar*innen vorbereiten. Die Mitarbeiter*innen der diplomatischen Vertretungen sollen Kontakte zu den Bulgar*innen herstellen, die aufgrund der politischen Verfolgung im Heimatland Asyl im Ausland beantragt haben. Ihr Ziel ist dabei, sie dazu zu bewegen, nach Bulgarien zurückzukehren. Diese Politik wird wegen mangelnden Erfolgs aufgegeben. Eine aktive Politik zur Steuerung der Rückkehr wird in den späten Jahren der sozialistischen Periode nicht mehr durchgeführt. Es werden keine speziellen Förderprogramme für die Personen konzipiert, die aus osteuropäischen Ländern oder aus den Ländern, denen Bulgarien im Rahmen der sozialistischen Partnerschaft „Bruderhilfe“ leistet – wie Libyen und Syrien – nach Bulgarien zurückkehren. Die Gestaltung der Rückkehr beruht auf den privaten Netzwerken der Rückkehrer*innen. Institutionalisierte Formen, z. B. Vereine und staatliche Initiativen etc., die die Rückkehrer*innen unterstützen sollen, wurden nicht gegründet. Die Migration und die Rückkehr sollen für die Öffentlichkeit weitestgehend unsichtbar gestaltet werden, denn sie sind nicht allgemein zugänglich. Diese Phänomene werden komplett von der medialen Berichterstattung ausgeblendet. Im politischen und medialen Diskurs nach 1989 ist eine deutliche Veränderung festzustellen: Das Thema Migration wird in der Öffentlichkeit zunehmend intensiv behandelt. Die Aspekte, die aufgegriffen werden, fokussieren sich auf die Themen „Auswanderung“, die als Verlust von Humankapital und längerfristig als ein zu einer demografischen ¸Katastrophe’ führender Prozess verstanden wird, und Flüchtlinge, die als Gefahr und Überfremdung dargestellt werden (vgl. Kap. 6 dieser Arbeit). Das Thema „Rückkehr“ wird bis 2007 in der bulgarischen Öffentlichkeit kaum aufgegriffen. Nach 2007 ändert sich die Aufmerksamkeit der Medien: Das Thema „Rückkehr aus dem Ausland“ wird zentral. Fernsehsendungen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel werden veröffentlicht.
3Eine
ausführlichere Darstellung der Prozesse der politischen Steuerung der Migration und der Rückkehr findet sich in Kapitel 4 dieser Arbeit.
380
8 Rückkehr nach Bulgarien …
Reportagen und Berichte zahlreicher Medien greifen das Thema auf – so widmet das BiT-Fernsehen diesem Thema eine wöchentliche Sendung („Die Rückkehrer(*innen)“). Im Jahr 2008 wird die erste „Nationale Strategie der Republik Bulgariens für Migration und Integration 2008–2015“ veröffentlicht (vgl. Regierung 2007). In diesem Dokument wird zum ersten Mal nach 1989 das Thema „Rückkehr“ politisch und strategisch behandelt. Die Rückkehr bulgarischstämmiger Personen und zwar sowohl der Vertreter*innen der bulgarischen ethnischen Minderheiten, die seit Jahrhunderten in anderen Ländern ansässig sind, als auch der bulgarischen Auswander*innen, die in den letzten Jahren das Land verlassen haben, wird als eine der zentralen Aufgaben der bulgarischen Migrationspolitik definiert. In diesem Dokument, in dem die Konturen der bulgarischen (Re-) Migrationspolitik deutlich markiert werden, wird vor allem die wirtschaftliche Dimension der Migration akzentuiert. Die ökonomische Notwendigkeit der Migration und der Rückkehr wird betont: „Die bulgarische Migrationspolitik soll als Unterstützung der Entwicklung der Wirtschaft des Landes eingesetzt werden“ (Regierung 2007, S. 16). Die Migrationsbewegungen werden als ein „Instrumentarium zur Wirtschaftsentwicklung in der globalisierten Weltwirtschaft“ (Regierung 2007, S. 4) vorgestellt. Als besondere Herausforderung wird die „globale Verteilung der Arbeitskräfte“ (Regierung 2007, S. 4) definiert. Im Zentrum der Strategie steht das „nationale Interesse“ sowie die Verpflichtungen des Landes gegenüber der EU (Regierung 2007, S. 4). Insbesondere wird hervorgehoben, dass auf dem bulgarischen Arbeitsmarkt „in bestimmten Arbeitsmarktsegmenten schon ein Defizit von qualifizierten Arbeitskräften festzustellen ist“. In dieser Hinsicht benötigt Bulgarien „eine balancierte Aufnahme von Arbeitskräften aus anderen Ländern“ (Regierung 2007, S. 4). In der Strategie wird deutlich markiert, welche Migrationsbewegungen nicht dem nationalen Interesse entsprechen: „die Massenaufnahme von Drittstaatenangehörigen ist keine gute Lösung und soll vermieden werden“ (Regierung 2007, S. 22). Es wird dennoch nicht definiert, was eine „massenhafte Aufnahme“ bedeutet. In der Strategie wird als wichtigste Aufgabe das Heranziehen „ausländischer Staatsbürger bulgarischer Herkunft“ (Regierung 2007, S. 4) bestimmt – in diesem Sinne wird die Rückkehrmigration als eine zentrale Aufgabe zur Lösung des akuten Arbeitskräftemangels definiert. Leitmotiv im Konzept ist nicht nur die Fokussierung auf wirtschaftliche Interessen, sondern auch die gezielte Berücksichtigung einer konservativen Auslegung der ‚nationalen Gemeinschaft‘, verstanden als Gemeinschaft durch Herkunft, Bräuche, Traditionen, Sprache und Religion. Die Nation wird implizit durch die bevorzugte Behandlung von Personen bulgarischer ethnischer Herkunft als eine
8.6 (Fehlende) politische Steuerung der Rückkehrmigration
381
ethnische Gemeinschaft und nicht als eine Gemeinschaft von Staatsbürger*innen definiert. Aus diesem Grund soll die Rückkehr der bulgarischstämmigen Personen besonders gefördert werden. Bei der politischen Gestaltung der Wanderungsbewegungen sollen die ausländischen Staatsbürger*innen bulgarischer Herkunft besonders hervorgehoben werden: Es wird in der Strategie behauptet, sie wären „aufgrund ihrer Herkunft integriert“, sie könnten „am einfachsten in die bulgarische Gesellschaft aufgrund der Kenntnisse der bulgarischen Sprache, der Bräuche und der Kultur eingegliedert werden“ (Regierung 2007, S. 16). Das Konzept unterstellt, dass unter den bulgarischen Gemeinschaften im Ausland ein natürliches „Streben geistiger und wirtschaftlicher Art zur Rückkehr in die Urheimat“ existiert, wobei dieses Streben am stärksten bei den bulgarischen Gemeinschaften in Moldawien und in der Ukraine aufzufinden sei (Regierung 2007, S. 5). Im Konzept wird allerdings betont, dass nicht die Herkunft und die geistige Zugehörigkeit, sondern die wirtschaftlichen Interessen eine führende Bedeutung für die Entscheidung haben, zurückzukehren (Regierung 2007, S. 10). „Die Personen, die die bulgarische Staatsangehörigkeit beantragen, sind im ökonomisch aktivsten Alter – 20 bis 40 Jahre alt“ (Regierung 2007, S. 10). In der Strategie wird deutlich vermerkt, dass sich ausländische Staatsbürger*innen bulgarischer Herkunft, die die bulgarische Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten haben, wenig in Bulgarien aufhalten – höchstens ein paar Monate im Jahr. Danach kehren sie wieder in die Länder ihrer vorherigen Aufenthalte zurück. In dieser Hinsicht führt das Heranziehen dieser Personengruppe zur Lösung der Arbeitsmarktdefizite nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Die Förderung der Rückkehr wäre, so die Strategie, mit zusätzlichen Maßnahmen zu verbinden. In der Strategie ist ein Widerspruch zwischen der ‚Natürlichkeit‘ des Strebens der ethnischen Bulgar*innen nach Rückkehr zur ‚Urheimat‘ und der wirtschaftlichen Interessen dieser Menschen festzustellen. Die Fakten sprechen eher dafür, dass die Vertreter*innen der bulgarischen ethnischen Minderheiten überwiegend aus Kalkül und weniger aufgrund der besonderen Anziehungskraft der ‚Urheimat‘ handeln. Ein anderer Aspekt, der in der Strategie berücksichtigt wird, ist die demografische Problematik. Es wird betont, dass in Bulgarien „die negativen demografischen Tendenzen“, die typisch für die EU sind, „deutlich ausgeprägter“ sind (Regierung 2007, S. 13). Aufgrund dieser Entwicklung wird eine proaktive Politik zu den „Hochqualifizierten“ und zu den „saisonalen“ Arbeitern und für die Förderung der binneneuropäischen Mobilität (Regierung 2007, S. 15) empfohlen. Als besondere Aufgabe wird in der Strategie die Förderung von „Brain Circulation“ definiert (Regierung 2007, S. 15). Ein besonderer Akzent wird auf
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
die „Rückkehrpolitik“ gesetzt – es soll die freiwillige Rückkehr bulgarischer Fachkräfte, die vor kurzer Zeit Bulgarien verlassen haben, gefördert werden (Regierung 2007, S. 32). Als führendes Ziel wird „das Heranziehen von Personen bulgarischer Herkunft aus dem Ausland zu einer dauerhaften Niederlassung in Bulgarien“ definiert (Regierung 2007, S. 17). Eine besondere Bedeutung wird der „qualifizierten jungen bulgarischen Emigration“ beigemessen (Regierung 2007, S. 19). Es soll „die Unterstützung nachhaltiger Beziehungen mit den bulgarischen Gemeinschaften und ihren organisationellen Strukturen im Ausland“ gefördert werden (Regierung 2007, S. 19). Es wird allerdings nicht definiert, wer diese Aufgabe übernehmen soll, was eine „nachhaltige Beziehung“ ist und welche Gemeinschaften der Bulgar*innen berücksichtigt werden sollen. Ein weiteres Ziel der Strategie ist „das Heranziehen von Bulgar*innen, die einen bedeutenden Einfluss im gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben der Länder haben, in denen sie dauerhaft leben, um Lobbyistenaufgaben für Bulgarien zu erfüllen“ (Regierung 2007, S. 19). Es wird allerdings nicht ausgeführt, wer diese Bulgar*innen sind, wie sie herangezogen und motiviert werden sollen, die Lobbyistentätigkeit zu übernehmen. Es sollen auch „die Einstellungen der jungen hochqualifizierten bulgarischen Emigranten zur Remigration und zu ihrer beruflichen Verwirklichung in der Heimat“ (Regierung 2007, S. 20) erforscht werden. „Das Heranziehen der bulgarischen Jugend und der bulgarischen Wirtschaftsorganisationen aus dem Ausland“ (Regierung 2007, S. 20), die die bulgarischen Geschäftsleute beraten und mit ihnen kooperieren sollen, soll auch vorangetrieben werden. Im Konzept wird nicht klar definiert, was der bulgarische Staat den im Ausland lebenden Bulgar*innen anbieten kann, um sie zur Rückkehr zu motivieren. Es wird angenommen, dass deren ‚Liebe zur Heimat‘ so groß ist, dass die Auslandsbulgar*innen schon aus diesem Grund die bulgarische Wirtschaft unterstützen wollen – eine Einschätzung, der mit Skepsis zu begegnen ist. Die einzigen Maßnahmen, die der Staat nach dem vorgestellten Konzept ergreifen soll, sind: „Handlungen zur Eröffnung von Schulen zum Erlernen der bulgarischen Sprache, Geschichte und Kultur“ im Ausland, Lieferung von Schulbüchern, finanzielle Unterstützung und Abordnung von Lehrer*innen für die ca. 100 Bildungseinrichtungen, die außerhalb der Grenzen Bulgariens aktiv sind (Regierung 2007, S. 20). Es soll dem „drohenden Identitätsverlust unter den bulgarischen Gemeinschaften der Emigranten“ entgegengewirkt werden (Regierung 2007, S. 22). Es wird angenommen, dass der Identitätsverlust die wichtigste Herausforderung für die bulgarischen Gemeinschaften im Ausland sind. Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen allerdings, dass die bulgarischen Migrant*innen, die ein Interesse haben könnten, Schulen im Ausland zu gründen, weniger
8.6 (Fehlende) politische Steuerung der Rückkehrmigration
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chulbücher benötigen; in der Zeit der digitalen Öffnung ist der Zugang zu S Texten in bulgarischer Sprache auch über das Internet möglich und für die heranwachsenden Generationen auch attraktiver. Nichtsdestotrotz wird in der Strategie auf die Zusendung von Büchern gesetzt. Nicht beachtet werden allerdings Probleme, die auch in der vorliegenden Studie von den Migrant*innen als wichtiger definiert werden – z. B. die Probleme der politischen Partizipation, der Eröffnung von Wahllokalen im Ausland, der elektronischen Wahlbeteiligung und der Nutzung von bulgarischen Medien im Ausland, die aufgrund des Geo-Blockings4 nicht zugänglich sind. Die Strategie thematisiert nicht, wie die Rückkehrer*innen in die bulgarische Gesellschaft reintegriert werden sollen. Das Thema wird ausgeblendet, als würde die Reintegration nach der Rückkehr automatisch, aufgrund der gemeinsamen ethnischen Herkunft, stattfinden. Die Nationale Strategie bleibt in ihrer Wirkungskraft eingeschränkt: Sie wird lediglich bis 2010 ausgeführt und dann vorzeitig beendet. In der Zeit von 2010–2015 wird diese Strategie de facto nicht verfolgt. Seit 2015 ist eine neue Migrations- und Integrationsstrategie (Regierung 2014) in Kraft. In der Einführung ist zu lesen: „Als Grundlage des vorliegenden Dokuments liegt eine Auffassung der Migration vor – zum einen als Quelle der Arbeitskraft, die notwendig für die nationale Wirtschaft ist, und zum anderen als potenzielle Sicherheitsbedrohung des Landes“ (Regierung 2014, S. 4). Es handelt sich um eine sehr verengte Auffassung der Migrations- und Mobilitätsprozesse, die lediglich in einer wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Logik rezipiert werden. Die Migrationspolitik zu den im Ausland lebenden Bulgar*innen wird auch in dieser neuen Strategie als eine „Ressource zur Überwindung der negativen demografischen Tendenzen in Bulgarien“ (Regierung 2014, S. 4) gesehen. Die Autor*innen der zweiten Strategie betonen, dass die „wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu einer Rückkehr der bulgarischen Staatsbürger*innen und der Personen bulgarischer Herkunft, die im Ausland leben, führen wird“ (Regierung 2014, S. 5). In Abschn. 4.2 wird das Thema „Rückkehr“ explizit berücksichtigt. Die thematische Behandlung bezieht sich allerdings lediglich auf die Personen, die in Bulgarien einen Asylantrag gestellt haben, der allerdings abgelehnt wurde. Dementsprechend müssen die abgelehnten Asylbewerber*innen Bulgarien verlassen und in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Die Rückkehr der bulgarischstämmigen Migrant*innen wird in der Strategie nicht
4Eine
restriktive Regelung, die erlaubt, Seiten und vor allem Fernsehsendungen, die in einem Land produziert wurden, nur innerhalb dieses Landes über das Internet zu empfangen.
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8 Rückkehr nach Bulgarien …
weiter thematisiert. Ein neues Thema in der zweiten Strategie ist die „Integration“ (Regierung 2014, S. 29–33). Es wird allerdings nur auf asylsuchende Personen übertragen. Die Re-Integration der bulgarischstämmigen Rückkehrer*innen wird nur am Rande thematisiert: „Notwendig ist es, dass die staatliche Politik in Richtung einer zusätzlichen sozialen Integration der Personen bulgarischer Herkunft, die bulgarische Staatsangehörigkeit erhalten haben und sich ständig auf dem Gebiet Bulgariens aufhalten, geht“ (Regierung 2014, S. 39). Die Integrationsmaßnahmen sollen lediglich die bulgarischstämmigen Personen, die eingebürgert wurden, umfassen. Diese können, so die Strategie, erfolgreich sein, wenn eine „einheitliche normative Regulation etabliert wird, die die Prozesse ihrer Eingliederung in der bulgarischen Gesellschaft behandelt“ (Regierung 2014, S. 39). Nicht-bulgarischstämmige Migrant*innen gelten als unerwünscht und werden als Bedrohung für die national Sicherheit verstanden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die beiden Strategien akzentuieren den wirtschaftlichen Aspekt der Wanderungsbewegungen. Das nationale Interesse wird in seinen wirtschaftlichen und ethnischen Dimensionen definiert. Führend dabei ist die These, dass die ethnische Zugehörigkeit entscheidend für die Bindung einer Person zu einer Gesellschaft ist. Aus der Perspektive der Autor*innen ist wichtig, was die Migrant*innen für Bulgarien tun können und nicht, was Bulgarien ihnen bieten kann. In den Strategien wird eine Klassifizierung der Migrant*innen vorgenommen: die ‚guten‘ Migrant*innen sind bulgarischer Herkunft, jung und qualifiziert. Für ihre Rückkehr soll sich Bulgarien einsetzen. ‚Weniger gut‘ sind die ethnischen Bulgar*innen, die weniger qualifiziert und nicht mehr jung sind – diese Gruppe stellt kein gesondertes Interesse aus der Perspektive der Strategie dar. Die ‚schlechtesten‘ Migrant*innen sind Personen nicht bulgarischer Herkunft, die sozial schwach sind und aus einem ‚Drittland‘ ‚massenhaft‘ einwandern möchten. Ihre Einwanderung soll nach Möglichkeit eingeschränkt werden. In den Strategien wird das Thema „Rückkehr“ kaum behandelt. Vielmehr wird auf die Verteidigung der bulgarischen Außengrenzen im Zuge der zunehmenden Fluchtmigration aus Syrien eingegangen. In den politischen Dokumenten des bulgarischen Staates bleibt die Rückkehrmigration ein marginales Thema. Über eine politische Steuerung der Prozesse der Rückkehr kann man kaum sprechen. Die medialen Ermittlungen, die sich um die Problematik des Verkaufs bulgarischer Reisepässe und Staatsbürgerschaftsurkunden beziehen, verdeutlichen am besten die Dimension der mangelhaften Steuerung der Migration und der Rückkehr vonseiten der bulgarischen Politik (vgl. Mediapool 2018).
8.7 Zusammenfassung
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8.7 Zusammenfassung Die Rückkehrmigration aus Deutschland nach Bulgarien verläuft mit unterschiedlicher Intensität. In der sozialistischen Periode (1945–1989) wird sowohl die Auswanderung als auch die Rückkehr nach Bulgarien politisch gesteuert. Die Rückkehr wird maßgeblich durch die Form der Migration bestimmt: Wenn die Auswanderung zu einem sozialistischen Land und/oder mit Genehmigung der staatlichen Behörden erfolgt, ist die Rückkehr nach Bulgarien von den Institutionen und den sozialen Akteur*innen gewollt und erwartet. Diese Rückkehr bezeichne ich als „Normalfall Rückkehrmigration“. Unmöglich hingegen ist die Rückkehr aus einem nicht-sozialistischen Land, wenn die Ausreise ohne die Genehmigung der bulgarischen Behörden erfolgt ist. In diesem Fall handelt es sich um ein Phänomen, das ich als „unmögliche“ bzw. „unvollendete“ Rückkehr bezeichnen möchte. In der postsozialistischen Periode (1990–2006) unterliegt die Auswanderung keinen politisch oder ideologisch motivierten Restriktionen. Die Einschränkungen in Bezug auf eine mögliche Rückkehr sind primär sozialer oder wirtschaftlicher Art. Die Entscheidung der sozialen Akteur*innen nicht zurückzukehren, wird nicht politisch verfolgt; im privaten Milieu wird sie mit Verständnis und Billigung akzeptiert, da sie vor allem wirtschaftlich motiviert ist. Da die Einwanderung in westeuropäische Länder Restriktionen unterliegt, wird die Rückkehr von den sozialen Akteur*innen als Misserfolg des eigenen Migrationsprojektes gewertet, als eine unvernünftige, ja „wahnsinnige“ (I 41) Entscheidung. „Der Westen“ und die Migration in einen westeuropäischen Staat werden zu neuen Mythen in der bulgarischen Öffentlichkeit. In der Zeit nach dem EU-Beitritt Bulgariens (2007 bis heute) werden sowohl die Migration als auch die Rückkehr als normale Gegebenheiten empfunden. Sie werden in der bulgarischen Öffentlichkeit nicht mehr als ‚exklusiv‘ wahrgenommen und stehen in der Regel jedem Menschen frei. Die Entscheidung zu migrieren oder zurückzukehren, wird in der breiten Öffentlichkeit als legitim wahrgenommen. Die Mobilität und die Migration nehmen zu, wobei die Möglichkeit zu migrieren dennoch sozial und wirtschaftlich bedingt ist. Die Rückkehr entwickelt sich zu einem Teilprozess einer fortlaufenden zirkulären Wanderung. Hoch- wie wenig Qualifizierte wandern ein und aus, kehren zurück, bleiben ein Jahr oder länger in Bulgarien oder ziehen weiter. Im Sozialismus und Postsozialismus ist die Rückkehr in der Regel endgültig. Private oder berufliche Netzwerke, die während der Zeit der Migration aufgebaut wurden, bleiben über Staatsgrenzen hinweg bestehen; ihre Bedeutung kann stark
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variieren. Sie können aufrechterhalten werden, sie können aber, was wahrscheinlicher ist, mit der Zeit zerfallen. Die Pflege internationaler Netzwerke in diesen Perioden ist deutlich komplizierter als in der Zeit nach 2007. Eine erneute Auswanderung nach einer vollzogenen Rückkehr ist aufgrund der restriktiven Grenzregime unwahrscheinlich. Hingegen ist die Rückkehr in der Zeit nach dem EU-Beitritt Bulgariens in der Regel temporär. Die Grenzen überschreitende Mobilität prägt den Alltag vieler bulgarischer Familien; nach 2007 ist es schwierig, methodisch die Trennlinie zwischen Migration und Rückkehr zu bestimmen. Die Reintegration der Rückkehrer*innen wird von diesen selbst in allen drei Perioden als schwierig bezeichnet. Zum einen fehlt es an einer gezielten Politik und an konkreten Maßnahmen, die die Rückkehr erleichtern könnten, zum anderen werden die Rückkehrer*innen mit einer ablehnenden Haltung der Einheimischen konfrontiert. Im Sozialismus sind die Rückkehrer*innen unsichtbar, im Postsozialismus werden sie als „Verlier*innen“ wahrgenommen und in der Post-EU-Beitrittszeit werden sie nicht mehr als „etwas besonderes“ geschätzt; die Erfahrung im Ausland gelebt und gearbeitet zu haben, verliert an Wert und an Exklusivität. Im Sozialismus bauen die Rückkehrer*innen auf informelle Netzwerke; im Postsozialismus können sich die Rückkehrer*innen allerdings nicht auf solche Netzwerke verlassen, da es kaum Rückkehrer*innen gibt und die Verwandten und Bekannten der Entscheidung zurückzukehren, oft mit Unverständnis und Ablehnung begegnen. In der Post-EU-Beitrittszeit verlässt man sich auf externe, während der Zeit der eigenen Migration aufgebauten Netzwerke, um eine Arbeitsstelle zu finden, eine Wohnung zu suchen, Kontakte zu knüpfen etc. Als kompliziert wird die Reintegration in das Bildungssystem bezeichnet: Die Anerkennung der im Ausland erworbenen Zeugnisse verläuft nicht immer unproblematisch, besonders für Schüler*innen. Das bulgarische Bildungssystem hat keine Mechanismen für die Integration von Schüler*innen entwickelt, die ihre Bildung teilweise in einem anderen Land abgeschlossen haben (Kabakchieva 2014). Die Wiederherstellung der Patientenrechte im Gesundheitssystem wird als kompliziert bezeichnet. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Rückkehrer*innen ist nicht immer gegeben. Das führt oft zu einer Abkapselung der Bulgar*innen mit Auslandserfahrung. Ihre physische Rückkehr bedeutet nicht, dass sie auch im sozialen Sinne den Weg zurückfinden.
Literatur BAMF (1994). Asylgeschäftsstatistik 1/12 1993. Nürnberg: BAMF. BAMF (1995). Asylgeschäftsstatistik 1/12 1994. Nürnberg: BAMF.
Literatur
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9
Transnationalität und Migration
Zusammenfassung
Im Kap. 9 wird ausführlich die Problematik der transnationalen Migration aus theoretischer Perspektive vorgestellt. Begriffe und Forschungsfelder der Transnationalisierungsforschung stehen im Mittelpunkt. Keywords
Transnationalität · Migration · Mobilität · Transnationale Familien
Auf der Grundlage des Konzepts der transnationalen Migration geht es im folgenden Kapitel um diese Fragen: Inwieweit führen die Migrationsbewegungen zwischen Bulgarien und Deutschland zur Entstehung transnationaler sozialer Räume? In welchen gesellschaftlichen Feldern wurden diese Räume etabliert und in welchen nicht? Wie verändern sich die transnationalen Verbindungen in den drei analysierten Perioden (1945–1989, 1990–2007, nach 2007) bzw. in welchem Zusammenhang steht die Entstehung transnationaler sozialer Räume mit dem makropolitischen System einer Gesellschaft? Wie variiert die transnationale Verbundenheit der sozialen Akteur*innen in Bezug auf ihre Schichtzugehörigkeit bzw. inwieweit lässt sich die Schichtzugehörigkeit durch den Aufbau transnationaler Netzwerke verändern? Zunächst werde ich das Konzept der transnationalen Migration und zentrale Forschungsfelder skizzieren. Danach wird mithilfe der Auswertung des empirischen Materials, jedoch erst in Kap. 10, auf die gestellten Fragen eingegangen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_9
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9.1 Begriffe und Forschungsfelder zur transnationalen Migration Die transnationale Migration ist ein Phänomen, das seit den späten 1980er Jahren eine breite wissenschaftliche Rezeption und Aufmerksamkeit, über die Grenzen der einzelnen Fachdisziplinen hinweg, erhalten hat. Dennoch konnte sich keine einheitliche Theorie der transnationalen Migration, in deren Rahmen die Fragen nach der Kausalität der analysierten Prozesse beantwortet werden könnten, etablieren. Vielmehr handelt es sich bei der Analyse der transnationalen Migrationsprozesse um die Entwicklung eines Paradigmas, einer Denkrichtung, in deren Rahmen unterschiedliche Aspekte der Transnationalisierungsprozesse erläutert werden. In ihrer programmatischen Schrift „From Immigrant to Transmigrant: Theorizing Transnational Migration“ definieren Nina Glick-Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton-Blanc die transnationale Migration in Abgrenzung zu den klassischen Migrationstheorien. In den klassischen Begriffsbestimmungen der „Migration“ sind die Prozesse der Wanderung mit einer Loslösung der migrierenden Subjekte von der Herkunftsgesellschaft verbunden (vgl. Glick Schiller et al. 1995). Durch die Migration werden die Migrant*innen quasi vom Herkunftsland ‚entwurzelt‘. Zum Ziel und zum Verständnis einer vollendeten Migration gehört nach dieser klassischen Sichtweise das erfolgreiche Ankommen – in den klassischen migrationstheoretischen Ansätzen als Assimilation, Integration, Inklusion etc., in die neue Gesellschaft bezeichnet. Hingegen halten die Transmigrant*innen einen mehr oder weniger intensiven Kontakt zu ihrem Herkunftsland; sie identifizieren sich in unterschiedlichem Ausmaß mit den beiden Staaten – mit dem Staat ihrer Herkunft und dem Aufnahmestaat – und sind in beiden Ländern ökonomisch, politisch, kulturell und sozial aktiv. Sie haben die persönliche Motivation, bei der Gestaltung der Prozesse in den beiden Gesellschaften mitzuwirken. Diese doppelte Verbundenheit schließt die unterschiedlichen Formen des „Ankommens“ in der neuen Gesellschaft nicht aus, wobei diese Formen des Ankommens komplementär im Verhältnis zu den Verbindungen zur Herkunftsgesellschaft sind. Durch diese Annahmen begründet das Konzept der Transnationalen Migration einen völlig neuen Ansatz bei der Auseinandersetzung mit dem Thema „Migration“; es stellt die klassischen migrationstheoretischen Vorstellungen über „Wanderung“ infrage und führt eine neue Terminologie ein. Der Begriff „transnational“ wird aus dem Bereich der international agierenden Unternehmen und Institutionen sowie der grenzüberschreitenden Ideen hergeleitet. Nach Schiller, Basch und Szanton Blanc stehen transnationalen Prozesse
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im Kontext von Globalisierung, sinkender Bedeutung von Nationalstaaten und nationalen Grenzen und dem Wachsen von Weltstädten. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen ihres programmatischen Artikels stellt sich dennoch die Frage, inwieweit die gegenläufigen Prozesse respektive die zunehmende Bedeutung der Nationalstaaten und nationalstaatlichen Grenzen eine Auswirkung auf die Prozesse der Transnationalität haben könnten. Glick-Schiller, Basch und Szanton Blanc definieren die transnationalen Migrant*innen (die Transmigrant*innen) als „immigrants whose daily lifes depend on multiple and constant interconnections across international borders and whose public identities are configured in relationship to more than one nation-state“ (Glick Schiller et al. 1995, S. 48). Diese Definition beschreibt die Spezifik der transnationalen Migrant*innen, indem sie deren doppelte Involviertheit berücksichtigt. Die transnationalen Migrant*innen engagieren sich sowohl in der Herkunftsgesellschaft als auch in der Einwanderungsgesellschaft und zwar auf Mikro- und Makroebene: „[t]ransnational migration is the process by which immigrants forge and sustain simultaneous multi-stranded social relations that link together their societies of origin and settlement“ (Glick Schiller et al. 1995, S. 48). Basch et al. (1994) erklären auch, warum die Transnationalisierung ausgerechnet in der konkreten historischen Situation der aufkommenden Globalisierung an Bedeutung gewonnen hat. Dabei spielt die Technologie eine wichtige Rolle – diese ist allerdings nicht als Ursache, sondern als eine Art Beschleunigung der Prozesse anzusehen: „[T]he tendency of today’s transmigrants to maintain, build, and reinforce multiple linkages with their countries of origin seems to be facilitated rather than produced by the possibility of technology abridging time and space. Rather, immigrant transnationalism is best understood as a response to the fact that in a global economy contemporary migrants have found full incorporation in the countries within which they resettle either not possible or not desirable“ (Glick-Schiller et al. 1995, S. 52). Als wichtigste Ursache der Prozesse der Transnationalisierung sehen Glick-Schiller, Basch und Szanton Blanc die globalen wirtschaftlichen Ent wicklungen sowie die zunehmenden gesellschaftlichen Verflechtungen. Die Unmöglichkeit der Migrant*innen, in der Einwanderungsgesellschaft Fuß zu fassen, die empfundene Diskriminierung, der Wunsch in der Herkunftsgesellschaft politisch aktiv zu sein und Prozesse gesellschaftlicher, kultureller oder sozialer Art zu unterstützen, führen zur aktiven Herstellung und Aufrechterhaltung transnationaler Bindungen.
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Das Konzept der Transmigration ermöglicht den Forscherinnen darauf einzugehen, dass Migrant*innen über nationale Grenzen hinweg leben und auf die Beschränkungen und Forderungen von mehr als einem Staat umgehen (müssen). So können die Effekte dieser Prozesse genauer untersucht werden. Die Autorinnen stellten fest, dass die Prozesse des Sesshaftwerdens für die Transnationalisierung der Handlungen förderlich sind, da auf diese Weise Teile der Bevölkerung enge Bindungen sozialer, politischer und ökonomischer Art erschaffen, welche über das Land hinausgehen (z. B. Exportfirmen, Transferdienstleistungen, Verkauf landestypischer Waren). Dabei vermerken Glick-Schiller, Basch und Szanton Blanc, dass in der Migrationsforschung die Prozesse der Transnationalisierung auch in früheren Zeiten beschrieben worden sind, wobei sie nicht explizit benannt und nicht als ein eigenständiges Phänomen dargestellt wurden. Auch Ludger Pries definiert die Transnationalisierung als einen Prozess, bei dem eine Person gleichzeitig an den politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder familiären Vorgängen, die gleichzeitig in zwei Gesellschaften verlaufen, teilnimmt. Dabei bezieht sich die Bezeichnung „Transnationalisierung“ auf die Ebene der nichtstaatlichen Akteur*innen (Pries 2013, S. 881). Der Begriff „Transnationalität“ erläutert den „Strukturaspekt des Prozesses“ (ebenda) der Transnationalisierung, so Pries. Alle Prozesse auf Mikroebene, unter Ausschluss der staatlichen Akteur*innen, die die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten, können unter den Begriff „Transnationalisierung“ gefasst werden: Im engeren Sinne ist die Transnationalisierung die „Zunahme der grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen“ (ebenda) auf der Ebene der nichtstaatlichen Akteur*innen. Hingegen fokussiert der Begriff „Transnationalismus“ ein „wissenschaftliches Forschungsprogramm“ (ebenda) in einer paradigmatischen Ausrichtung. Im Folgenden werden, ausgehend von dieser begrifflichen Unterscheidung, die Begriffe „Transnationalität“ und „Transnationalisierung“ verwendet. „Transnationalität“ und „Transnationalisierung“ lehnen sich an die Existenz von Nationalstaaten an; sollte es keine Nationalstaaten geben, würde keine Transnationalisierung existieren. Auch Pries betont, dass die Vorgehensweise der Transnationalisierung im Rahmen der wissenschaftlichen Analysen der Migration den Gegensatz „Herkunftsgesellschaft versus Aufnahmegesellschaft“ zu überwinden beansprucht, der von den klassischen Migrationstheorien analytisch geprägt wurde.1 Die Grundannahme
1Vgl.
die Ausführung zu den klassischen Migrationstheorien in Kap. 1.
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der Transnationalisierungsforschung ist, dass die Personen, die in einer neuen Aufnahmegesellschaft leben, die Verbindungen zu ihrer Herkunftsgesellschaft nicht abbrechen. Die Transmigrant*innen pflegen Kontakte und haben Wohnorte in verschiedenen Gesellschaften, zwischen denen sie physisch oder geistig pendeln. Die Räume, die im Rahmen dieser Pendelbewegungen auftreten, werden als „transnationale Räume“ bezeichnet. Durch die transnationale Migration entstehen Netzwerke zwischen den Transmigrant*innen. Diese Abläufe, Bindungen und Prozesse, die in diesen Räumen und Netzwerken stattfinden – nicht nur die Prozesse, die in den nationalstaatlichen Grenzen verlaufen – sollen bei den soziologischen Analysen berücksichtigt und nicht wie in den Studien der klassischen Migrationsforschung ausgeblendet werden. Die Entstehung dieser paradigmatischen Richtung der Analyse der transnationalen Prozesse und Räume ist in die 1990er Jahre zu datieren. In den Sozialwissenschaften entsteht zu dieser Zeit ein neues Interesse an Grenzüberschreitung von Kultur und Menschen. Eine Schlüsselthese dieser damals neuen paradigmatischen Denkrichtung ist, dass das Verhältnis von Land und Gruppenidentitäten neu konzeptualisiert werden muss – die sozialen Gruppen sind nicht an ein begrenztes, nationalstaatliches Gebiet gebunden; vielmehr überschreiten sie in ihren Aktivitäten die nationalstaatlichen Grenzen. Die Transnationalisierung ist zwar kein neues Phänomen, wird aber von der Entstehung der Nationalstaaten stark beeinflusst. Die Nationalstaaten streben eine Homogenisierung der Bevölkerung an. Sie wurden im 19. und 20. Jahrhundert zu Bezugseinheiten nicht nur der Politik, der Medien, der Bildung, sondern auch der Sozialwissenschaften. Die Sozialforschung wurde bis in die 1990er Jahre vom sogenannten „methodologischen Nationalismus“2 geprägt. Ulrich Beck und Edgar Grande (Beck und Grande 2010) führten in Abgrenzung dazu den Begriff des „methodologischen Kosmopolitismus“ ein und plädierten für eine Änderung der Vorgehensweise und der Problematisierung. Allerdings haben die Nationalstaaten weiterhin eine wichtige Bedeutung sowohl für die Rahmung der gesellschaftlichen Prozesse
2„Methodological
nationalism reflects and reinforces the identification that many scholars maintain with their own nation states. (…) We have identified three variants of methodological nationalism: 1) ignoring or disregarding the fundamental importance of nationalism for modern societies; this is often combined with 2) naturalization ‚i.e.‘ taking for granted that the boundaries of the nation state delimit and define the unit of analysis; 3) territorial limitation which confines the study of social process to the political and geographic boundaries of a particular nation state“ (Wimmer und Glick Schiller 2003, S. 575; 577 ff.).
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als auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Die Entstehung transnationaler Räume kann nicht von der Bedeutung der Nationalstaaten entkoppelt und nur im Kontext dieser Bedeutung analysiert werden. Die wissenschaftliche Analyse der Transnationalisierungsprozesse erfolgt in der Regel auf drei Ebenen: Mikroebene (die alltäglichen Interaktionen zwischen den sozialen Akteur*innen), Mesoebene (die Aktivitäten von Organisationen und insbesondere von Migrant*i nnenselbstorganisationen) und Makroebene (die transnationale Kooperation von Institutionen). Welche gesellschaftlichen Bedingungen machen die Transnationalität möglich? Die Transnationalität gründet in bestimmten Durchlässigkeiten der nationalstaatlichen Grenzen und in der zunehmenden Kommunikationsverflechtung (Internet, Mobilfunk, Datenaustausch). Nach Glick-Schiller, Basch und Szanton Blanc hat die transnationale Migration eine wichtige Bedeutung für die Etablierung transnationaler Räume, obwohl die Entstehung und Entwicklung dieser Räume nicht ausschließlich als ein Ergebnis der Migration zu sehen ist. Nach der Analyse von Glick-Schiller, Bach und Szanton Blanc können drei Gründe für die Entstehung und Etablierung der Transnationalität als ursächlich festgemacht werden: 1. Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in den Herkunftsregionen, die sich im Zuge der Globalisierung verschlechtern, sowie die Konzentration von Kapital in bestimmten Städten und Regionen der Welt, vor allem der westlichen Hemisphäre. Diese Voraussetzungen bedingen die Zunahme der Migrationsbewegungen. Die globale Umstrukturierung des Kapitals führt zu einer Verschlechterung der sozialen und der wirtschaftlichen Bedingungen sowohl der Sende- als auch der Empfänger*innenländer. Wie Saskia Sassen (1996) erwähnt, machen es die neuen wirtschaftlichen Trends ökonomisch profitabler in bestimmte Regionen und Städten zu investieren und in andere nicht. So migrieren die Menschen in bestimmte Regionen, in denen die wirtschaftlichen Bedingungen besser sind. 2. Die Erfahrungen der Migrant*innen, die im Zielland Rassismus, Ablehnung und Ausländer*innenfeindlichkeit erleben sowie mit einer unsicheren aufenthaltsrechtlichen, ökonomischen und politischen Situation konfrontiert werden, motivieren sie dazu, die Verbindungen zu ihrer Herkunftsgesellschaft intensiv zu pflegen. 3. Als weitere Ursache für die Transnationalität wird von Glick Schiller et al. (1995) die Entwicklung der Nationalstaaten gesehen. Zum einen verlieren die einzelnen Nationalstaaten an Bedeutung, indem sie mehr Macht an internationale und übernationale Organisationen, z. B. an die EU, delegieren. Zum
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anderen wird in immer mehr Ländern die Ethnizität nicht mehr als das entscheidende Merkmal bei der Bestimmung der Staatsangehörigkeit angesehen. Die Nationalstaaten versuchen die Einwanderer*innen an sich zu binden, indem sie ihr Staatsangehörigkeitsrecht reformieren und eine Politik der Anerkennung und Akzeptanz etablieren. Diese Politik trägt zur Verwurzelung der Migrant*innen in beiden Staaten bei und wirkt sich positiv auf die Transnationalisierung aus. Die Nationalstaatsbildung ist ein relativ junger Prozess, der das Schaffen von kollektiven Erinnerungen einschließt. Glick Schiller et al. (1995) nehmen Bezug auf Eric Hobsbawm (2005) und Ernest Gellner (2010) und erklären die Nation als ein historisches und politisches Konstrukt, das eine ethnische und religiöse Homogenität anstrebt. Die Bürger*innen eines Staates teilen eine gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte, wobei diese als ‚natürlich gegeben‘ und ‚schon immer da gewesen‘ dargestellt werden. Diese Darstellung der Nation als eine Einheit, die eine Kohäsion nach innen anstrebt, schließt die Verbindungen der Staatsbürger*innen und insbesondere der ethnischen Minderheiten oder der Migrant*innen zu einem anderen Land aus. „These ties were discounted and obscured by the narratives of nations that were prevalent until the current period of globalization“ (Glick Schiller et al. 1995, S. 51). Die Nationalstaatenbildung ist mit der Prämisse verbunden, dass die Staatsbürger*innen sich ihrem Staat gegenüber als loyal verhalten und sich mit diesem in vollem Umfang identifizieren sollen. Die Identifikation und die Loyalität werden sowohl von den Staatsbürger*innen als auch von den eingewanderten ausländischen Bürger*innen erwartet. Die Verbindungen der Migrant*innen zum Herkunftsland wurden durch die Institutionen der Aufnahmegesellschaft als Zeichen mangelnder Identifikation und Loyalität bewertet und dementsprechend nicht akzeptiert. Eine besondere Bedeutung für diese Wahrnehmung spielen die Sozialwissenschaften, die aufgrund ihres „methodologischen Nationalismus“ Erklärungsmuster etabliert haben, in denen die Grade der wirtschaftlichen, kognitiven, identifikativen und sozialen Bindung der Migrant*innen zur Aufnahmegesellschaft als Indikation ihrer „Integration“ verwendet werden. In der öffentlichen Wahrnehmung werden allerdings diese komplizierten empirisch nachweisbaren Korrelationen oft vereinfacht als Erklärung für den (imaginierten) Mangel an Loyalität zur Aufnahmegesellschaft angesehen. Die gesellschaftlich etablierten Vorstellungen der Loyalität und Exklusivität, die mit der Staatsangehörigkeit verbunden sind, haben ihrerseits eine sekundäre Wirkung auf die Tatsache, dass die Migrant*innen nicht vollständig in die Einwanderungsgesellschaft aufgenommen werden. Durch die ständige Konfrontation
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mit der ablehnenden Haltung oder mit der Skepsis der Einheimischen können sie nicht das Gefühl entwickeln, dass sie in der Einwanderungsgesellschaft akzeptiert werden. Das begründet oder verstärkt den Wunsch vieler Migrant*innen, transnational zu agieren und enge Verbindungen mit der Herkunftsgesellschaft zu pflegen. Die Prozesse der Globalisierung beeinflussen die Transnationalisierung. Die Öffnung der Nationalstaaten zu überstaatlichen Verbindungen ändert und reduziert zumindest teilweise die Loyalitäts-, Exklusivitäts- und Identifikationserwartungen, die mit der Staatsangehörigkeit verbunden sind. Neue Transportund Kommunikationstechniken begünstigen zusätzlich das Pflegen von Verbindungen zum Herkunftsland. Die Herkunftsgesellschaften entdecken ihrerseits die Migrant*innencommunities und -diaspora als eine politische Ressource, die sie sowohl in ihren inneren als auch in ihren äußeren Angelegenheiten nutzen können. Durch diese Neuentdeckung der Migrant*innencommunities und -diaspora als Faktor in der Innen- oder Außenpolitik wird die Zugehörigkeit zur Nation vom Bezug zu einem bestimmten Territorium entkoppelt. Nicht nur die Prozesse der Transnationalisierung, sondern auch die Begrifflichkeit, die diese Prozesse beschreibt und analysiert, hat sich historisch verändert (Dahinden 2010). In den 1990er Jahren wurde die Transnationalisierung vor allem als ein neuer „Lifestyle“ der Migrant*innen angesehen. Aktuell geht man in der Transnationalisierungsforschung davon aus, dass: 1. die meisten Migrant*innen sporadische, transnationale Verbindungen haben; 2. nicht alle Migrant*innen in regelmäßigen transnationale Praktiken involviert sind – nur ein kleiner Teil der sesshaft gewordenen pflegt dauerhafte und intensive transnationale Verbindungen; 3. Nachfahren von Einwanderer*innen nicht in gleichem Maße wie ihre Eltern transnational aktiv sind; 4. Personen ohne Migrationserfahrung ebenfalls transnational aktiv sein können; die Migration ist an sich keine Voraussetzung, um transnational zu agieren; 5. bei bestimmten makrosozialen Bedingungen eine Tendenz einer zunehmenden Transnationalisierung festzustellen ist. Die transnationale Migration findet in unterschiedlichen Dimensionen der Gesellschaft, z. B. in der Wirtschaft, Politik, Familie, Kultur, Religion etc. statt. Bei den analytischen Auseinandersetzungen mit der wirtschaftlichen Transnationalität sind die Arbeiten von Jose Itzigsohn (2000) und Alejandro Portes und Josh DeWind (2008) zu nennen. Sie sehen die transnationale Migration als Ergebnis
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der kapitalistischen Wirtschaftsform. Andere Wissenschaftler*innen wie Glick Schiller et al. (1995) sehen die Intensität der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen zwei Ländern oder Regionen als Ursache für die Transmigration an – schließlich existiert die Transmigration nicht zwischen allen kapitalistischen Gesellschaften. Auch Peggy Levitt und Bernadette Jaworsky betonen die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Ländern für die Etablierung transnationaler Verbindungen auf Mikroebene: „relate the durability of transnational social fields to moments of intense economic interconnection“ (Levitt und Jaworsky 2007, S. 134). Die größte Aufmerksamkeit in den Analysen der ökonomischen Aspekte der Transnationalisierung wird den sogenannten „Geldüberweisungen“ („Remittances“) gewidmet. Im Jahr 2017 wurde die Summe, die weltweit von Migrant*innen zu ihren Familien überwiesen wurde, von der Weltbank auf 613 Mrd. US$ geschätzt. Im Jahr 2016 betrug die Summe 574 Mrd. US$ (Pew Global 2017). Nach Angaben von Mushtaq Hussain (2005) und der World Bank (2006) betrug das finanzielle Volumen der weltweiten Geldüberweisungen in den Jahren 2005 und 2006 ca. 300 bis 400 Mrd. US$ im Jahr. Es sind Länder, die gezielt die Rückkehr und die Investition ihrer Staatsbürger*innen, die im Ausland leben, anwerben (Levitt und Jaworsky 2007). Die Analysen der transnationalen Geldüberweisungen kommen nicht zu einer eindeutigen Bewertung ihrer Bedeutung. Zum einen tragen die ‚Remittances‘ zur wirtschaftlichen Entwicklung der Herkunftsgesellschaften bei. Zum anderen schaffen sie aber eine neue Ungleichheit (Faist et al. 2014). Faist et al. (2014, S. 46) unterscheiden drei Arten von Geldüberweisungen: 1. Überweisungen, die als Einkommen dienen und verwendet werden, um Rechnungen der Familienmitglieder in den Herkunftsgesellschaften zu begleichen, Einkäufe zu tätigen und Bildungs- und Gesundheitskosten zu decken. 2. Überweisungen, die das unternehmerische Vorhaben der Verwandten im Herkunftsland unterstützen. 3. Überweisungen, durch die Gemeinschaftsprojekte in der Herkunftsregion verwirklicht werden, z. B. Straßenbau, Gründung von Bildungseinrichtungen, Sportplätze, Wasserversorgung etc. Eine der bedeutendsten transnationalen Aktivitäten im Feld der Wirtschaft ist das transnationale Unternehmer*innentum. Hierfür können die transnational agierenden Import- und Exportunternehmen, Kulturunternehmen (die Musik und Filme transnational anbieten), ethnischen Restaurants etc. aufgeführt werden.
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Ein weiteres Feld, in dem die Transnationalisierung analysiert wird, ist die Politik. Die Analysen der politischen Formen der Transnationalisierung heben hervor: Unabhängig vom Aufenthaltsstatus und davon, ob die Migrant*innen dokumentiert, undokumentiert oder naturalisiert sind, sind sie nicht nur in der Aufnahmegesellschaft, sondern auch in der Herkunftsgesellschaft politisch aktiv. Themen wie die Wahlbeteiligung, die Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen, der Wahlkampf, die Lobbyarbeit u.a. werden auch im Kontext der transnationalen Verbundenheit mit der Herkunftsgesellschaft interpretiert und unter dem Begriff „long-distance-nationalism“ zusammengefasst (Levitt und Jaworsky 2007, S. 136). Eva Østergaard-Nielsen (2003) unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Typen politischer Beteiligung der Migrant*innen: 1. Politische Beteiligung, bezogen auf die Herkunftsgesellschaft („homeland politics“), z. B. Teilnahme an Wahlen, Unterstützung politischer Parteien, Mitwirkung im Rahmen der sogenannten „Hometown Associations“; Konsum, Gestaltung bzw. Herausgabe politischer Medien etc. 2. Politische Beteiligung, bezogen auf die Aufnahmegesellschaft („immigrant politics“), z. B. Teilnahme an Wahlen, Unterstützung politischer Parteien, Mitwirkung im Rahmen der lokalen politischen Parteien oder Organisationen; Konsum, Gestaltung bzw. Herausgabe politischer Medien; Beteiligung der Institutionen der Herkunftsgesellschaft bei der Problemlösung der Zuwander*innen in der Aufnahmegesellschaft. In diesem Sinne wird die politische Beteiligung der Migrant*innen nicht als eine exklusive Entscheidung für oder gegen die Aufnahmegesellschaft angesehen. Østergaard-Nielsen (2003) kritisiert die Fokussierung der klassischen Migrationsforschung auf die politische Beteiligung der Migrant*innen im Einwanderungsland. Irene Bloemraad (2004) sowie Thomas Faist et al. (2014) heben die Zunahme der Verbreitung und der Bedeutung der doppelten Staatsangehörigkeit hervor, die aus der Aufgabe der Ethnizität als entscheidendes Merkmal für den Erwerb einer Staatsangehörigkeit resultiert. Juristisch gesehen ist die Staatsbürger*innenschaft ein „Ausdruck der vollen Mitgliedschaft von Menschen in einer politischen Gemeinschaft“ (Faist et al. 2014, S. 115). Die Staatsbürger*innenschaft bedeutet das „Recht auf politische Mitwirkung“ (Faist et al. 2014, S. 117) und den Anspruch, Gebrauch von den sozialen Rechten, die in einer Gesellschaft etabliert wurden und die einem/r Staatsbürger*in zustehen, zu machen. Zu den Pflichten, die als Bestandteil der Staatsangehörigkeit angesehen werden, gehören die Steuerpflicht und der Wehrdienst. Das Phänomen der „deterritorialized
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nation-states“ (Basch et al. 1994), bei dem die soziale Zugehörigkeit im Vordergrund steht und die physische Anwesenheit der Staatsbürger*innen auf einem Gebiet nicht zwingend notwendig ist, gewinnt an Bedeutung. Die Tolerierung der doppelten Staatsangehörigkeit resultiert aus grundlegenden Änderungen im internationalen Recht, z. B. aus der Konvention zur Vermeidung der Staatenlosigkeit von 1961 und aus dem Übereinkommen zur Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen von 1957, nach dem verheiratete Frauen nicht gezwungen sind, automatisch ihre Staatsangehörigkeit aufzugeben und die des Ehemannes anzunehmen (vgl. Faist et al. 2014, S. 121). Die Prozesse der Transnationalisierung auf Mesoebene rücken auch die Mig rant*innenselbstorganisationen in den Fokus. Sie werden in den Aufnahmegesellschaften gegründet, agieren aber sowohl in der Aufnahme- als auch in der Auswanderungsgesellschaft. Dadurch gewinnen die Mitglieder*innen dieser Organisationen an sozialem und politischem Kapital – sie können ihre Interessen artikulieren und in der Aufnahme- sowie in der Herkunftsgesellschaft Einfluss ausüben. Ein weiteres Analysefeld, bezogen auf die Prozesse der Transnationalisierung, ist die Kultur. Die Kultur erlaubt Migrant*innen, eine vor allem durch die gemeinsame Sprache geprägte mehr oder wenige geschlossene Gemeinschaft zu bilden, sie zu pflegen und ihre Werte nach bestimmten, ihnen vertrauten, Mustern zu leben. Aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft können die transnationalen Praktiken im Feld der Kultur ausgerechnet aufgrund ihrer (sprachlichen) Unzugänglichkeit mit Befremden und Ablehnung angesehen werden. Sie können u. U. sogar als eine ‚kulturelle Invasion‘ bewertet werden. In diesem Sinne ist die kulturelle Transnationalisierung ein kontroverses Thema sowohl für die Aufnahme- als auch für die Auswanderungsgesellschaft. Zu den transnationalen Aktivitäten im Feld der Kultur können z. B. die Tätigkeit transnationaler (z. B. Deutsch-Bulgarischer) Vereinigungen, unterschiedlicher Ad-hoc-Gruppen, die konkrete Projekte (Ausstellungen, Theatervorführungen, Konzerte) organisieren, gehören. Die Tätigkeiten von Bildungseinrichtungen können auch in diesem Kontext erwähnt werden. Ein besonderer Aspekt der kulturellen Transnationalisierung ist mit der Religion verbunden. Jonathan Laurence und Justin Vïasse (Laurence und Vïasse 2006) verdeutlichen die Wirkung der Religion für die zweite und dritte Generation: Sie bleibt konstant hoch, auch wenn die anderen Formen der Transnationalität nicht mehr gegeben sind oder sehr schwach ausgeprägt sind. Levitt und Jaworsky betonen, dass „[r]eligious belonging does not only link migrants to coreligionists in the home and host countries; global religious movements unite
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members, wherever they live, with fellow believers around the globe“ (Levitt und Jaworsky 2007, S. 140). Die soziale Dimension der Transnationalisierung bezieht sich auf die sogenannten „sozialen Überweisungen“ von Ideen, Werten, Vorstellungen, Normen, Verhaltensmustern etc. Als Beispiele können die Gender-Vorstellungen, politische Ideen wie Menschenrechte oder Demokratie genannt werden. Levitt (1998, S. 927) definiert die „sozialen Überweisungen“ als „the ideas, behaviors, identities, and social capital that flow from receiving-to-sending-country communities“. Diese können sowohl ins Aufnahme- als auch ins Herkunftsland fließen. Einen weiteren Aspekt der sozialen Dimension der Transnationalisierung ist das sogenannte „soziale Kapital“ – die Bekanntschaften, Freundschaften, Netzwerke, die ins Aufnahme- oder Herkunftsland übertragen werden und von denen die transnationalen Migrant*innen profitieren können. Ein wichtiger Aspekt der sozialen Dimension der Transnationalisierung stellen die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivitäten, die von Migrant*innen vorgenommen werden. Unter anderem können hier die Internetdiskussionsforen, Zeitungen und Zeitschriften, Fernseh- und Radioprogramme, Demonstrationen und Proteste, Petitionen und Boykottaufrufe, Nichtregierungsorganisationen und die Massenmedien genannt werden. Die familienbezogene Dimension bezieht sich auf die Analyse der Prozesse in den Migrant*innenfamilien und auf die Veränderung der Gender-Stereotype durch die daraus resultierenden Neudefinitionen der Familienmodelle. Die Familie und die Verwandtschaft haben eine besondere Bedeutung für die Transnationalisierung: Sie sind sinnstiftend, denn vor allem sie begründen, warum eine Person transnational aktiv ist. Die Forschung der familienbezogenen Dimension der Transnationalisierung konzentriert sich auf die Gender-Aspekte, auf die Rolle der Frauen, auf die Familienmodelle und auf die Erziehung von Kindern in transnationalen Kontexten. Für die transnational agierenden Frauen, die ins Ausland migriert sind, um ihre Familien in den Herkunftsgesellschaften zu versorgen, sind die Konflikte zwischen Pflichten und Notwendigkeiten, traditionellen Vorstellungen und Realität besonders prägend. DeBiaggi 2002, Patricia Pessar und Sarah Mahler 2003, Ruba Salih 2003 sowie Levitt und Jaworsky (2007) betonen, dass die Frauen oft widersprüchliche Botschaften von der Herkunfts- und der Aufnahmegesellschaft bezüglich ihrer Rollen erhalten: „Women receive multiple, conflicting messages from the public and the private spheres of both the homeland and the receiving context, which they must somehow reconcile“ (Levitt und Jaworsky 2007, S. 138).
9.1 Begriffe und Forschungsfelder zur transnationalen Migration
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Aussagekräftige Studien über transnationale Familien und Haushalte aus den USA und Europa belegen die Verwurzelung von Haushalten und Familienökonomien in mehreren Ländern. Der Einsatz des im Einwanderungsland erwirtschafteten Kapitals im Herkunftsland kann zum sozialen Aufstieg der Familienmitglieder, die in der Herkunftsgesellschaft geblieben sind, führen. Durch die Verbreitung der transnationalen Netzwerke über nationale Grenzen hinaus können Familien das individuelle Überleben sichern und finanziell unabhängiger werden. Mit dem Geld, das beispielsweise Migrant*innen aus den Philippinen in den USA verdienen, kann die Familie zu Hause unterstützt und für die „Zurückgebliebenen“ ein besseres Leben gesichert werden. Die Wirtschaft im Heimatland kann durch Unternehmensgründungen, die durch das in der Aufnahmegesellschaft verdiente Geld finanziert werden, einen Aufschwung erfahren. Durch die Transnationalisierung entstehen flexible, ausgedehnte Familiennetzwerke, die das individuelle Überleben absichern und die soziale Mobilität sowie den Statuserhalt der Familie fördern. Jedoch profitieren nicht alle Mitglieder eines Familiennetzwerkes in gleichem Maße davon – die in der Herkunftsgesellschaft Gebliebenen können das Gefühl entwickeln, dass sich die Abwesenheit ihres Familienmitgliedes im Ausland (z. B. Ehemann, Mutter, Sohn oder Tochter etc.) im Verhältnis zu dem dort finanziell erwirtschafteten Mittel nicht lohnt. Konflikte können durch die Unsicherheit der Mitglieder in der Herkunftsgesellschaft, sich finanziell nicht ausreichend abgesichert zu fühlen und durch die Tatsache, dass die in der Aufnahmegesellschaft gebliebenen Kinder die finanziellen Belastungen tragen müssen, entstehen. Ein wichtiges Thema bei den Analysen der transnationalen Familien ist mit der Elternschaft verbunden. Jorgen Carling et al. (2012) stellen die transnationale Elternschaft im Kontext von sechs Blickwinkeln dar: Gender, Sorgearbeit (care), juristische Perspektive, soziale Klasse, Kommunikation und Moralvorstellungen. Die Existenz der transnationalen Familien und insbesondere der transnationalen Elternschaft beruhen auf der Annahme der sozialen Akteur*innen, dass die physische Abwesenheit eines Familienmitgliedes mit einer geistigen Anwesenheit, mit Engagement und mit sozialer Partizipation kompatibel ist. Grundsätzlich ist es für viele auswandernde Eltern schwierig oder gar unmöglich, die Mitnahme ihrer Kinder in die Aufnahmegesellschaft zu organisieren. Teilweise resultiert diese Schwierigkeit aus dem vorherrschenden Migrationsregime in den Aufnahmeländern und aus den restriktiven Einwanderungspraktiken der einzelnen Aufnahmeländer. Das Recht auf Familienzusammenführung steht im Zusammenhang mit einem regulären Aufenthaltsstatus der Familienmitglieder, die ausgewandert sind. Wenn sie eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung besitzen,
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9 Transnationalität und Migration
können sie die Kinder ggf. nachziehen lassen. Bei irregulärer Migration ist die Familienzusammenführung nicht möglich. Auch die Unsicherheit in der Aufnahmegesellschaft bezüglich der Wohnsituation, der gesundheitlichen Versorgung, des Einkommens sowie das Risiko, die Arbeit zu verlieren, spielen eine Rolle für die Entscheidung, die Kinder in der Herkunftsgesellschaft zu lassen und von Verwandten oder vom anderen Elternteil, falls dieses nicht migriert, versorgen zu lassen. Die Kinder müssen praktisch ohne Eltern aufwachsen, wobei sie durch die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern einen besseren Zugang zur Bildung und zum Gesundheitssystem der Herkunftsgesellschaft erhalten.3 In der Forschung zu den transnationalen Familien wird betont, dass unterschiedliche Erwartungen an die Mütter und Väter, die migriert sind, gestellt werden. Sie sollen Geld überweisen und Geschenke schicken; von den Müttern wird zusätzlich auch eine geistige und physische Beteiligung an der Sorgearbeit (care) der Familienmitglieder erwartet. Die Väter hingegen werden nicht mit dieser Erwartung konfrontiert. Zudem unterliegen die Frauen, die alleine bleiben, weil ihre Ehemänner migriert sind, einer strengeren Kontrolle ihres Verhaltens und ihrer Sexualität. Die Männer haben diesbezüglich mehr Freiheiten, was auf die Traditionalität und Patriarchalität dieser Erwartungen hinweist; die Väter sind weniger dazu bereit, die traditionellen Gender-Erwartungen infrage zu stellen (vgl. Fresnoza-Flot 2014). Am neuen Ort entwickeln sie häufiger eine neue Beziehung und gründen manchmal eine neue Familie, nachdem sie sich in der Herkunftsgesellschaft haben scheiden lassen. Die Mütter tragen, so das traditionelle Familienbild, die Verantwortung für die häusliche Sorgearbeit. Wenn sie migrieren, soll diese Arbeit erneut verteilt werden. Die Aufgaben übernehmen Schwester, Tanten, Großmütter. Die Väter werden nicht oder kaum in der Erledigung dieser Aufgabe involviert. Dementsprechend ändert sich nicht viel bei der Verteilung der häuslichen Sorgearbeit, wenn der Vater migriert. Die Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern hat das Ziel, Informationen auszutauschen und die emotionale Verbindung zwischen den Familienmitgliedern zu stärken. Durch die Kommunikation wird die Existenz der Familien immer wieder bestätigt. Es wird erwartet, dass die migrierte Person die Kommunikation initiiert, was als ein Ausdruck der asymmetrischen Machtverhältnisse in der Familie interpretiert werden kann. Die Kommunikationsmöglichkeiten werden in der Zeit der neuen Technologien vielfältiger.
3Dieses
Phänomen wird vor allem in der deutschsprachigen medialen Öffentlichkeit mit dem Begriff „Migrationswaisen“ beschrieben (vgl. Verseck 2008).
9.1 Begriffe und Forschungsfelder zur transnationalen Migration
403
Die unterschiedlichen genderbasierten Erwartungen beziehen sich auch auf die Kinder (vgl. Fresnoza-Flot 2014). Die Kinder, die zurückgelassen wurden, vermissen ihre Mütter viel häufiger als ihre Väter. Kinder, deren Eltern früh migrieren, haben oft keine Erinnerung an sie. Hingegen wird die Migration der Eltern in einer späteren Lebensphase von den Kindern als deutlich traumatischer empfunden. Die Mütter, die im Ausland leben, delegieren mehr Verantwortung, z. B. beim Umgang mit den Finanzen, ihren Töchtern. Die Kinder nehmen ihre leiblichen Mütter oft nicht als ihre Mütter wahr, da sie sie nicht kennen. Die soziale Position der Familie in der Zeit vor der Migration bestimmt die Erwartungen und die Möglichkeiten der Familienmitglieder, die migrieren. Es entsteht ein Paradox – die Migrant*innen kümmern sich um fremde Kinder im Einwanderungsland, damit sie einen sozialen Aufstieg ihrer Kinder, die im Herkunftsland leben, ermöglichen. Das Geld, das man überweist, schafft eine zusätzliche soziale Spaltung im Herkunftsland. Es entsteht eine „remittance bourgeoisie“ (Smith 2006, S. 50) – eine neue Schicht, die besser gestellt ist, da sie Geld aus dem Ausland bekommt. Die Migrant*innen sind durch ihren Status dazu verpflichtet, das Geld, das sie verdienen, der Familie zur Verfügung zu stellen. Die Familienmitglieder, die im Herkunftsland bleiben, werden als „Empfänger*in“ betrachtet. Es entsteht eine Asymmetrie im Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern, zwischen den „Geber*innen“ und den „Empfänger*innen“. Asuncion Fresnoza-Flot (2014) zeigt am Beispiel der philippinischen Familien in Frankreich, wie die Verhältnisse in einer transnationalen Familie aufgebaut werden. Seit den 1980er Jahren ist die Arbeitsmigration aus den Philippinen nach Frankreich überwiegend eine Frauenmigration. Die Mutter arbeitet im Ausland und versorgt die Familie; die in den Philippinen gebliebenen Familienmitglieder kümmern sich um den Haushalt. Vor allem der Ehemann übernimmt diese Aufgaben. Fresnoza-Flot analysiert den Einfluss der Migration der Mütter auf die Gestaltung des Familienlebens. Ihre Studie basiert auf einer Feldforschung, die in Frankreich in den Jahren 2006 und 2007 durchgeführt wurde. Interviewt wurden 35 Mütter, die aus den Philippinen migriert sind, sowie 40 Mitglieder ihrer Familien (Ehemänner und Kinder). Die Interviewpartner*innen wurden durch das sogenannte „Schneeballsystem“ gefunden. Die Analyse fokussiert auf die Familie und nicht, wie in bisherigen Studien, auf die individuelle Gestaltung der Migration durch die migrierende Frau. Es wird betont, dass die technologische Entwicklung (vor allem das Internet) die Distanz zwischen den Familienmitgliedern verringert. In den meisten Fällen ist die Mutter die einzige Person in der Familie, die Geld verdient. Die Rede ist von „double presence“ (Fresnoza-Flot 2014, S. 243), d. h. von Präsenz der Mutter im Ausland und im
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9 Transnationalität und Migration
Herkunftsland. Für die Mütter bleibt die Mutterrolle besonders wichtig, obwohl sie im Ausland leben und diese Rolle aus der Ferne gestalten. Sie schicken Geld und Geschenke, rufen an, besuchen ihre Familien (wenn sie als dokumentierte Migrantinnen eingewandert sind) und laden die Familienmitglieder nach Frankreich ein. Sie betrachten die Trennung von der Familie als ein ‚Opfer‘ für die Zukunft ihrer Kinder und für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Familie. In ihren Handlungen und in ihrer Begründung fokussieren sie sich dabei auf die Kinder und nicht auf ihre Ehemänner (Fresnoza-Flot 2014, S. 244 f.). Für die Väter spielen die Abwesenheit der Mütter sowie die Tatsache, dass die Mütter alleinige Verdienerinnen der Familie sind, eine wichtige Rolle. Sie beginnen ihre Männlichkeit zu betonen und bewusster mit ihr umzugehen. Oft sind sie enttäuscht von ihrer Lage: Sie müssen die Hausarbeit erledigen und auch wenn die Frau die Familie besucht, hat sie nicht immer Zeit für sie. Sie fühlen sich „beschämt“ („ashamed“) (Fresnoza-Flot 2014, S. 247) und haben ein niedriges Selbstwertgefühl. In der Zeit der Abwesenheit ihrer Frauen versuchen sie regelmäßig zu telefonieren, SMS zu schicken; sie werden Mitglieder verschiedener religiösen Organisationen vor Ort, stärken ihre Verbindung mit ihren Kindern, indem sie gemeinsam Sport treiben, Filme schauen, essen gehen. Sie verschweigen ihre emotionalen Schwierigkeiten und leben ihre Sexualität diskret außerhalb der Familie aus, ohne dabei das Bestehen der Familie infrage zu stellen. Die Kinder werden in dieser Konstellation erwachsener und unabhängiger. Sie begreifen die Bedeutung der physischen Präsenz ihrer Mütter. Wenn sie ihre Mütter treffen, ist das Treffen mit dem Gefühl verbunden, eine beinah unbekannte Person zu treffen. Die transnationalen Familien möchte ich als „imagined families“, in Anlehnung an Benedict Andersons Bezeichnung der Nationen als „imagined communities“ (Anderson 2005), verstehen. Die meisten Studien zu den transnationalen Migrant*innenfamilien nehmen die Mütter in den Blick. Dafür gibt es gute Gründe, so z. B. die Feminisierung der Migration, die Entstehung einer Versorgungslücke in den Herkunftsgesellschaften (sogenannter „care gap“) etc. Der Fokus auf die Mütter führt allerdings zu einer ungenügenden Analyse der Lebenslagen anderer Familienmitglieder (vgl. Schwenken 2018, S. 151–158). Simone Christ (2017) wählt eine andere Vorgehensweise. In ihrer Studie betrachtet sie die Lage der zurückgelassenen Kinder. Auch sie nimmt dies im Rahmen der Betrachtung des Lebens der transnationalen philippinischen Familien vor. Sie begründet ihre Auswahl mit der Tatsache, dass die Philippinen seit den 1970er Jahren ein Auswanderungsland sind: Ca. 10 % der Gesamtbevölkerung leben und arbeiten im Ausland. Viele Familien werden durch diese
9.1 Begriffe und Forschungsfelder zur transnationalen Migration
405
irtschaftsmotivierten Wanderungsbewegungen zu transnationalen Familien – ihre w Beziehungen und Aktivitäten werden über die Staatsgrenzen hinweg verwirklicht. Die Studie von Christ fokussiert die Lage der sogenannten „zurückgelassenen Kinder“ („children left behind“) – das sind Kinder, die von ihren Eltern zu Hause gelassen werden, während die Eltern im Ausland arbeiten. Zentral ist die Frage, wie Gender, soziale Klasse und Generationszugehörigkeit sich gegenseitig bedingen und einen Einfluss auf das Leben transnationaler Familien haben. Die Analyse erfolgt aus der Perspektive der zurückgelassenen Kinder. Die beiden Familien, die in der Analyse berücksichtigt wurden, gehören zur Mittelklasse; die beiden Töchter studieren an einer Hochschule (College). Die Analyse beruht auf der Durchführung von zwei qualitativen Interviews mit zwei Töchtern von Migrant*innen. Bei der einen Tochter sind die beiden Eltern im Ausland. Bei der anderen Tochter ist der Vater im Ausland. Bei der Auswertung wurde die hermeneutische Vorgehensweise gewählt. In den beiden analysierten Familienfällen bleibt das Gefühl der Verlassenheit auch nach der Rückkehr der Eltern vorhanden; die physische Präsenz der Eltern ändert nicht viel an diesem Gefühl. Die Tochter ist irritiert, da die Eltern anwesend sind und sich auf einmal „wie Eltern“ verhalten: Sie sagen ihr, was sie zu tun und was sie zu lassen hat. Die Tochter betont, dass ihre Eltern sie gar nicht kennen. Sie hat Auseinandersetzungen mit den Eltern aufgrund der Tatsache, dass sie, nach ihren Angaben, versuchen, ihr beizubringen, wie sie sich als „Mädchen“ zu verhalten hat. Sie betont auch, dass sie viel mehr Verpflichtungen im Haushalt hat als ihre Gleichaltrigen: Sie muss die Wohnung putzen, die Wäsche waschen und das Geschirr abspülen. Zugleich schätzt sie den materiellen Wohlstand, den ihr ihre Eltern ermöglicht haben. In der zweiten Familie, die bei der Analyse berücksichtigt wurde, ist der Vater migriert. Er ermöglicht durch seine Geldüberweisungen das Studium des Mädchens, das zurückgeblieben ist. Sie ist allerdings irritiert von der Tatsache, dass ihr Vater in Saudi-Arabien, wo er arbeitet, bereits eine weitere Familie gegründet und ein Kind hat. Die Tochter leidet, da ihr Ideal von einer glücklichen Familie, in der alle Mitglieder anwesend sind und in einer harmonischen Beziehung leben, nicht aufrecht zu erhalten ist. In den letzten Jahren rückt diese Perspektive auf die zurückgelassenen Kinder für die Forschung zunehmend in den Blick. Ruth Emond und Florian Eßer (Emond und Eßer 2015) betonen, dass die Kindheit nicht als ein globales soziales Phänomen betrachtet werden kann; vielmehr wird sie in den verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich sozial konstruiert. Daraus folgt, dass die Kindheit in den unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten analysiert werden soll. Die Kinder sind in der Migrationsforschung und in der
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Transnationalitätsforschung unsichtbar. Sie werden als „Anhang“ der Eltern betrachtet. Die Autoren plädieren für die Etablierung einer Forschungskultur, in der die Erfahrungen der Kinder berücksichtigt werden und sie als handelnde Akteur*innen wahrgenommen werden. Wichtig ist es, das „child welfare“ auch außerhalb der sogenannten „nationalstaatlichen Container“ zu berücksichtigen. Das ganze System der Sozialleistungen, das sich auf Kinder bezieht, ist im größten Umfang nationalstaatlich geprägt. Allerdings überqueren die Kinder in ihrem Leben die nationalstaatlichen Grenzen und leben in verschiedenen Gesellschaften. In diesem Sinne spiegelt das existierende System der Sozialleistungen nicht die geänderten gesellschaftlichen Bedingungen wider. Ein wichtiges Thema ist die Diskrepanz zwischen der sozialen Konstruktion der Kindheit als „Zeit der Unschuld“ und den tatsächlichen Erfahrungen der Kinder, die in transnationalen Kontexten leben. Ein weiteres Thema, das sich auf die Situation der Kinder, die in transnationalen Kontexten leben, ist mit den sogenannten „multiplen Identitäten“, die von in verschiedenen Gesellschaften aufwachsenden Kindern entwickelt werden, verbunden. Eine wichtige Frage ist es, inwieweit die gender-basierten Erwartungen der zurückgelassenen Kinder durch die Abwesenheit der Eltern beeinflusst werden. Die Studien der transnationalen Familien ermöglichen eine Analyse der Machtungleichheit im Rahmen der Familie, die sich sowohl im Aspekt des Alters (im Verhältnis der Generationen), im Aspekt des Gender (gender basierten Vorgehensweisen) als auch in der sozialen Schicht manifestiert. Die Verwobenheit von Faktoren wie Gender und Generation führen, wie Christ (2017) verdeutlicht, zu emotionalen Schwierigkeiten bei den zurückgelassenen Kindern.
9.2 Das Konzept der transnationalen Migration: Würdigung und Kritik Das Konzept eröffnet eine neue Perspektive auf die Migration und Integration. Sie verdeutlicht, dass die Migration ein Prozess ist und dass die Migrant*innen grundsätzlich in Kontakt mit der Herkunftsgesellschaft bleiben. Dabei ist dieser Kontakt nicht hinderlich für ihre Beteiligung an den Prozessen in der Aufnahmegesellschaft. Das Konzept der transnationalen Migration ergänzt die ‚new assimilation theory‘, die behauptet, dass die Migrant*innen zwangsläufig mit der Zeit assimiliert werden und Werte, Vorstellungen und Verhaltensmuster der Aufnahmegesellschaft verinnerlichen. Mit der Zeit erhalten sie einen ähnlichen sozio-ökonomischen Status wie die Einheimischen, obwohl die Ethnizität und der konkrete Migrationshintergrund eine wichtige Bedeutung haben (Alba und
9.2 Das Konzept der transnationalen Migration: Würdigung und Kritik
407
Nee 2003; Jacoby 2004; Kivisto 2005; Levitt und Jaworsky 2007). Sie ergänzt auch die Perspektive des sogenannten „segmented assimilationism“ – die Vertreter*innen dieser theoretischen Richtung behaupten, dass unterschiedliche Routen in Richtung Integration oder Assimilation vorhanden sind (Portes und Rumbaut 2001; Portes und Zhou 1993; Levitt und Jaworsky 2007), die dem/der Eingewanderten erlauben, Teil der „ethnischen“ Gemeinschaft zu bleiben oder auch Erfahrungen einer nach unten gerichteten vertikalen Mobilität zu machen. Die Perspektive der transnationalen Migration verdeutlicht, dass nicht alle Migrant*innen solchen Mustern folgen; vielmehr bleiben sie im Kontakt mit ihren Herkunftsgesellschaften. Diese Verbindungen stehen nicht in Widerspruch zur Tatsache, dass sie Teil der Aufnahmegesellschaften werden. Zustimmend möchte ich festhalten: Das Konzept der transnationalen Migration verdeutlicht, dass transnationale Räume durch die Migration, aber auch unabhängig von ihr entstehen können und die soziologische Forschung nicht an den Grenzen der Nationalstaaten Halt machen sollte. Vielmehr sollte sie sich auf die transnationalen Räume fokussieren, die durch die Migration und außerhalb derselben entstehen. Das Konzept der transnationalen Migration weist allerdings auch kritische Ansatzpunkte auf. Zum einen wird vermerkt, dass die Forscher*innen in fast allen sozialen Prozessen und Phänomenen in der Lage wären, Beispiele der transnationalen Migration zu sehen; die meisten Migrant*innen können als Transmigrant*innen klassifiziert werden, denn jeder/e Migrant*in pflegt – mit wenigen Ausnahmen – Verbindungen zur Herkunftsgesellschaft. Somit ist der Begriff nicht trennscharf: es ist schwierig zu unterscheiden, welche Migrant*innen keine Transmigrant*innen sind. Roger Waldinger und David Fitzgerald (Waldinger und Fitzgerald 2004) behaupten, dass die Migrant*innen historisch gesehen schon immer transnationale Bindungen instand gehalten haben; somit wäre die Innovationskraft des Konzepts der transnationalen Migration nicht gegeben oder stark eingeschränkt. Zum anderen wird die Annahme kritisiert, dass durch die transnationalen Aktivitäten die Migrant*innen die Armut bekämpfen und an Macht gewinnen4. Diese These wäre sehr vereinfachend und optimistisch. Es sind tatsächlich Migrant*innen und deren Familien, die durch die transnationalen Praktiken ökonomisch profitieren und ihren Status verbessern. Dennoch führen die
4Diese
These wird z. B. von Danielson (2018) vertreten.
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transnationalen Geldüberweisungen zur Vergrößerung der Unterschiede zwischen den in der Herkunftsgesellschaft lebenden Individuen und Familien. Eine dritte Kritik bezieht sich auf die unpräzise Terminologie und Definition der Begriffe „global“, „international“ und „transnational“, die nicht immer trennscharf verwendet werden. Leo Lucassen (2006) und Alejandro Portes et al. (1999) betonen, dass die transnationalen Verbindungen besonders stark unter der ersten Generation der Migrant*innen ausgeprägt sind, wobei sie in den nächsten Generationen geringer werden (Levitt und Jaworsky 2007). Auch Pries (2013) hebt hervor, dass Aspekte der Transnationalität weniger intensiv bei der zweiten und den folgenden Generationen ausfallen. „Clearly, transnational activities will not be central to the lifes of most of the second or third generation, and they will not participate with the same frequency and intensity as their parents. But the same children who never go back to their ancestral homes are frequently raised in households where people, values, goods, and claims from somewhere else are present on a daily basis“ (Levitt und Jaworsky 2007, S. 134).
Die bedeutendste Errungenschaft des Konzepts der transnationalen Migration ist nach meiner Auffassung dennoch die Veränderung der Perspektive: Die Migration und die damit verbundenen Prozesse werden nicht mehr ausschließlich aus der Perspektive der Einwanderungsgesellschaft analysiert. Auch die Perspektive der Herkunftsgesellschaft und die Verbindungen, die die Migrant*innen in ihren täglichen Interaktionen aufbauen, sollen ein integrierter Bestandteil der Forschung sein. Der Blick der Forscher*innen endet nicht an der Grenze des Nationalstaates, sondern er wird auf die Räume, die die sozialen Akteur*innen aufbauen, fokussiert. Im Weiteren wird verdeutlicht, wie dieses Konzept auf das empirische Beispiel der bulgarischen Migration in Deutschland angewendet werden kann.
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Der Transnationale Raum Bulgarien – Deutschland
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Zusammenfassung
Im Kap. 10 werden die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Formen der Transnationalität zwischen Deutschland und Bulgarien analysiert. Dabei steht sowohl die Perspektive der sozialen Akteure als auch die Makroperspektive der staatlichen Institutionen im Fokus. Schlüsselwörter
Transnationalität · Migration · Mobilität · Wirtschaft · Gesundheit · Politik · Kultur · Versicherungswesen
Die Transnationalität wird von den sozialen Akteur*innen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen gestaltet und gelebt. Im Folgenden werden einige dieser Bereiche in Bezug auf die bulgarische Migration in Deutschland analysiert. Dabei wird die Transnationalität in ihrer historischen Bedingtheit erläutert. Die Entstehung transnationaler Räume wird als Ergebnis einer Verwobenheit zwischen den Aktivitäten der Migrant*innen auf Mikroebene und den makrostrukturellen Rahmenbedingungen in Europa gesehen. Es wird auf die Frage eingegangen, inwieweit sich die Transnationalität auf die unterschiedlichen sozialen Schichten und Migrationsprojekte auswirkt bzw. in den unterschiedlichen sozialen Schichten gelebt wird. Es stellt sich zudem die Frage, unter welchen Bedingungen aus den transnationalen Verbundenheiten transnationale soziale Räume entstehen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_10
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10 Der Transnationale Raum Bulgarien …
Die Analyse der Transnationalität umfasst einige Aspekte wie die Wirtschaft, das Versicherungswesen, die Gesundheit, Kultur, Familien und Freundschaften, sowie Politik.
10.1 Wirtschaftliche Dimensionen der Transnationalität 10.1.1 Transnationale Geldüberweisungen Die wirtschaftliche Transnationalität auf Mikroebene umfasst das System der gegenseitigen ökonomischen Unterstützungsmechanismen im Rahmen der Familien. Diese Unterstützungsformen werden unter anderem durch die transnationalen Geldüberweisungen („Remittances“) sichtbar. Im Kern dieses Systems steht vor allem die Bereitschaft, sich um die Familienmitglieder, die nicht vor Ort sind, zu kümmern. Die Essenz dieser Bereitschaft ist ein traditionelles Familien- und Gemeinschaftsverständnis. Daraus resultieren Verpflichtungen Personen aufgrund der Verwandtschaft als zugehörig zu einer Gemeinschaft zu sehen und sich bereit zu erklären, im Rahmen einer Gemeinschaft, die frei von wirtschaftlich-kapitalistischer Logik ist, sie zu unterstützen und solidarisch mit ihnen zu handeln. Auch wenn die Personen, die diese Unterstützung leisten, sich von den patriarchalen Strukturzwängen emanzipiert haben, fühlen sie sich dennoch moralisch verpflichtet, bestimmte Aufgaben im Rahmen der Familie zu übernehmen und zu finanzieren. Die wirtschaftliche Transnationalität auf Mikroebene umfasst beispielsweise familiäre Planungen über Staatsgrenzen hinweg, die transnationale Erziehung der Kinder, die Finanzierung des Studiums der Kinder im Ausland, die Organisation und die Finanzierung der Pflege der Eltern, die in der Herkunftsgesellschaft leben oder ins Einwanderungsland nachziehen, Investitionen zum Zweck der Unternehmensgründung in Bulgarien bzw. Deutschland, die Übernahme der Vertretung einer deutschen Firma in Bulgarien oder einer bulgarischen Firma in Deutschland etc. Die bulgarischen Kinder unterstützen ihre Eltern in Fragen der ambulanten Pflege – sie finanzieren die Pflegekräfte und Reinigungskräfte, die eingesetzt werden, um die Eltern zu pflegen. Bulgar*innen, die dauerhaft in Deutschland leben, kaufen Wohnungen oder Ferienhäuser in Bulgarien, um für das Alter vorzusorgen. Bulgar*innen, die in Deutschland studiert haben oder ausgebildet wurden, werden Vertreter*innen deutscher Firmen in Bulgarien. Die Beispiele verdeutlichen, wie vielfältig diese Formen sind.
10.1 Wirtschaftliche Dimensionen der Transnationalität
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Die meist verbreitete und in den wissenschaftlichen Analysen meist berücksichtigte Form der wirtschaftlichen Transnationalität ist die Tätigung von Geldüberweisungen. Im Rahmen der durchgeführten Interviews wird von allen interviewten Personen in allen drei analysierten Perioden die Angabe gemacht, dass sie Geldüberweisungen nach Bulgarien tätigen oder in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens getätigt haben. Nach Angaben der Bulgarischen Nationalbank (BNB) wurden im gesamten Jahr 2009 717 Mio. EUR nach Bulgarien privat überwiesen. Das Volumen der Geldüberweisungen nach Bulgarien, die von Privatpersonen im Ausland für die Periode Januar-November 2017 getätigt wurde, wird auf 813 Mio. Lewa (ca. 400 Mio. EUR) geschätzt (Bloomberg TV 2018). Die meisten Geldüberweisungen wurden in Deutschland getätigt. Diese Schätzungen umfassen allerdings nur die Banküberweisungen und nicht die Mittel, die die Bulgar*innen während ihres Aufenthalts in Bulgarien ausgeben, die sie ihren Verwandten persönlich überreichen. Diese Schätzungen umfassen auch nicht die Ausgaben, die die Migrant*innen während ihres Aufenthalts, z. B. für Reisen mit den Familienmitgliedern, für Freizeitaktivitäten oder in der Gastronomie, tätigen. Es ist allerdings eine wichtige Veränderung festzustellen: In der Zeit bis 2007 werden diese Geldüberweisungen von den Bulgar*innen, die im Ausland leben, d. h. vom Einwanderungsland in Richtung Herkunftsland, getätigt. Nach 2001 und insbesondere nach 2007 fließen die transnationalen Geldüberweisungen nicht nur in Richtung Bulgarien. Nach Angaben der interviewten Personen sind es bulgarische Eltern, die ihren in Deutschland studierenden Kindern Geld überweisen, um das Studium komplett oder teilweise zu finanzieren. Nach 2007 und insbesondere nach 2014 wird Geld aus Bulgarien nach Deutschland auch als eine Form der Investition überwiesen – ein Teil der interviewten Personen berichten über die Praxis, Wohnungen in Deutschland zu kaufen, die teilweise von den Verwandten in Bulgarien mitfinanziert werden. Die bulgarischen Migrant*innen machen sich in Deutschland selbstständig und werden von den Eltern oder Großeltern aus Bulgarien finanziell unterstützt. Die bulgarischen Großeltern kommen nach Deutschland, um die Pflege der Kinder zu übernehmen, wenn die Eltern berufstätig sind. Es handelt sich in diesem Fall zwar nicht um eine Geldüberweisung, aber um eine finanzielle Unterstützung: Durch die Unterstützung der Großeltern spart die Familie die Kosten für Kindergärten oder -krippen, für Au-Pairs, Babysitter oder Tagesmütter. „Meine Mutter ist hier. Sie wohnt bei uns und kümmert sich um unseren Sohn, da wir arbeiten. Sie bleibt noch ein Jahr, bis wir endlich einen Kita-Platz bekommen. Das ist so verdammt schwierig. Wenn sie nicht bei uns gewesen wäre, hätte ich die Arbeit aufgeben müssen“ (I 2).
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10.1.2 Transnationalisierung der Arbeit Eine Zunahme der transnationalen Praktiken ist in Bezug auf die Erwerbstätigkeit zu beobachten. Die klassischen Migrationstheorien gehen von der Prämisse aus, dass der/die Migrant*in in der Aufnahmegesellschaft erwerbstätig ist und seine/ ihre Erwerbstätigkeit sich lediglich in einem Nationalstaat abspielt. Diese idealtypische Form der Verbindung zwischen Arbeitskraft und Nationalstaat ist in allen Epochen die am weitesten verbreitete, allerdings hatte sie nie einen exklusiven Charakter. In der Geschichte waren es immer Händler, Handwerker*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen etc., die über Stadt-, Staats- oder Regionengrenzen hinweg ihr Wissen und Können sowie ihre Waren verbreitet haben. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg erhöht sich mit der Gründung der großen supranationalen Organisationen EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) die Intensität der Erwerbstätigkeit außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und in der Zeit der zunehmenden Globalisierung und Vertiefung der europäischen Integration in den 1990er und 2000er Jahren nimmt sie weiterhin an Bedeutung zu. Im Falle der bulgarischen Migration nach Deutschland ist die Transnationalität der Erwerbstätigkeit in der Zeit von 1945–1989 vor allem in Bezug auf die DDR gegeben. So werden z. B. Lehrer*innen an den deutschsprachigen Gymnasien in Bulgarien von der DDR nach Bulgarien abgeordnet. Gastdozent*innen aus Bulgarien halten Seminare an ostdeutschen Hochschulen. „Erfahrungsaustauschprogramme“ und „Spezialisierungen“ für Fachleute im Bereich der Wirtschaft, Technik und den Ingenieurwissenschaften werden durchgeführt. Es sind bulgarische Künstler*innen, die sowohl in Bulgarien als auch in der DDR tätig sind. In diesen Formen der Erwerbstätigkeit außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen handelt es sich um eine „Internationalität“ und nicht um eine „Transnationalität“, da diese Formen der Erwerbstätigkeit nicht oder kaum der freien und individuellen Entscheidung der sozialen Akteur*innen unterliegen. Vielmehr beruhen diese Formen der Mobilität, bzw. der Arbeitsmigration auf zwischenstaatliche Abkommen zwischen den Bildungs- und Kulturministerien Bulgariens und der DDR. In der Zeit von 1990–2007 ist eine Transnationalität bezogen auf die Erwerbstätigkeit zwischen Bulgarien und Deutschland kaum bis gar nicht gegeben. Wenn bulgarische Migrant*innen nach Deutschland einwandern können, arbeiten sie für deutsche Unternehmen in Deutschland. Ausnahmen sind im Bereich der Kunst (gastierende Theater, Ausstellungen, Lesungen), der Bildung (deutsche Lehrer*innen in Bulgarien) und der Wissenschaft (Gastdozent*innen) gegeben.
10.1 Wirtschaftliche Dimensionen der Transnationalität
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„Austausch von Dozenten. Unsere Dozenten lehrten in Bulgarien und bulgarische Dozenten haben hier gelehrt“ (I 18).
Mit dem Beitritt Bulgariens in die EU im Jahr 2007 nehmen die Investitionen deutscher Firmen in Bulgarien zu. Sie benötigen in Deutschland ausgebildete Bulgar*innen, die die Leitung übernehmen. So ist der/die Arbeitgeber*in deutsch, der Ort der Beschäftigung Bulgarien; man ist oft in Deutschland, um an Fortbildung teilzunehmen, wobei man sein Gehalt in Bulgarien bekommt. Verbreitet ist diese Erwerbstätigkeit über Staatsgrenzen hinweg in Bereichen wie Wirtschaft, Kunst, Kultur und Wissenschaft. „Die Forschung im Rahmen meiner Doktorarbeit war mit empirischen Studien in den Archiven in Sofia verbunden. Ich bin jeden zweiten Monat nach Bulgarien geflogen und bin drei bis vier Wochen am Stück geblieben“ (I 30). „Als ich für meine Doktorarbeit geforscht habe, war ich oft dort. Ich habe sogar für sechs Monate dort gewohnt“ (I 18).
Insgesamt nimmt die Transnationalität in Bezug auf die Erwerbtätigkeit zu. Diese umfasst nach 2007 zunehmend mehr Bereiche: Entsandte Mitarbeiter*innen bulgarischer Firmen, die in Deutschland tätig sind, Bauarbeiter*innen, die im Sommer in Deutschland arbeiten und im Winter in Bulgarien wohnen, Online-Beratung und Sprachkurse, die von Bulgarien aus über das Internet in Deutschland angeboten werden, Gastspiele von Schauspieler*innen und Musiker*innen, die in Bulgarien leben, aber nach Deutschland auf Einladung der bulgarischen Community gastieren etc. Die transnationalen Praktiken in Bezug auf die Erwerbstätigkeit umfassen zunehmend Personen, die zu unterschiedlichen Berufen und sozialen Schichten gehören. Sie beruhen nicht auf bilateralen Verträgen und Abkommen, sondern auf der Initiative der Individuen und Kleinunternehmen.
10.1.3 Steuerliche Transnationalisierungspraktiken Eine weitere Form der wirtschaftlichen Transnationalität bezieht sich auf die finanziellen und steuerlichen Aspekte der Problematik. Die finanziellen und steuerlichen Praktiken der Transnationalität werden oft großen Unternehmen und Akteur*innen der internationalen Wirtschaft, die interkontinental agieren, zugeschrieben. Allerdings sind auch Aspekte der finanziellen und steuerlichen Transnationalität bezogen auf Privatpersonen vorhanden. Diese nehmen
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besonders in einem supranationalen Raum wie der EU sowohl deutlich an Bedeutung als auch an Intensität zu. Unter „finanzieller“ und „steuerlicher Transnationalität“ werden im Folgenden diejenigen Praktiken erfasst, bei denen die sozialen Akteur*innen gleichzeitig in einem Land leben und arbeiten und in einem anderen Steuern zahlen; gleichzeitig in zwei Ländern arbeiten und Steuern zahlen; in zwei oder mehreren Ländern Eigentum besitzen und Steuern zahlen; mobil sind und innerhalb eines Kalenderjahres an mehreren Orten behördlich angemeldet und steuerpflichtig sind. Diese Formen der Transnationalität betreffen unter anderem: • Selbstständige, die in Deutschland arbeiten bzw. ihre Waren oder Dienstleistungen anbieten, allerdings in Bulgarien ihren permanenten Wohnsitz haben und steuerpflichtig sind • Personen (z. B. Computerfachleute), die in Bulgarien leben und arbeiten, aber Dienstleistungen für den deutschen Markt anbieten • Personen (z. B. Computerfachleute oder Lehrer bei den deutschsprachigen Gymnasien), die in Bulgarien leben, aber ihr Gehalt von einem/r deutschen Arbeitgeber*in beziehen • Entsandte Mitarbeiter*innen bulgarischer Firmen, die ein Teil des Jahres in Deutschland arbeiten, aber ihren ständigen Wohnsitz in Bulgarien haben • Personen, die in Deutschland leben, in Bulgarien arbeitslos gemeldet sind, Arbeitslosengeld aus Bulgarien bekommen und Arbeit in Deutschland suchen Aufgrund der Unterschiede in den Steuersystemen und bei den Steuersätzen Bulgariens (Flat-Tax 10 %) und Deutschlands (unterschiedliche Steuerklassen je nach Einkommen, Beschäftigungsform und Familienstatus), ist es für die meisten Privatpersonen günstiger, ihren ständigen Wohnsitz in Bulgarien zu haben und dementsprechend in Bulgarien Steuer zu bezahlen. In den Zeiten des Kalten Krieges und in den 1990er Jahren, in denen die Möglichkeiten gleichzeitig in einem westeuropäischen Land zu arbeiten und in einem osteuropäischen Land sesshaft zu sein mit wenigen Ausnahmen (z. B. Künstler*innen, mobile Expert*innen, Mitarbeiter*innen bei den Botschaften oder Handelsvertretungen) aufgrund der restriktiven Ausreise- und Einreisegenehmigungen und Visumvergaben und der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten de facto nicht existiert haben, entsprach die Prämisse der klassischen Migrationsforschung und der Sozialpolitik, dass die Steuerpflicht, der Wohnort und der Arbeitsort identisch sind, den sozialen Praktiken. Vor 1990 wurden die Bulgar*innen, die in die BRD ausgewandert sind und von der bulgarischen Politik als „feindliche Migrant*innen“ bezeichnet wurden, in Bulgarien enteignet. Sie waren nach der bulgarischen Gesetzgebung gezwungen, geerbtes Eigentum zu verkaufen.
10.1 Wirtschaftliche Dimensionen der Transnationalität
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In einigen Fällen führte allerdings diese Überlappung von Steuerpflicht, Wohnort und Arbeitsort zur Notwendigkeit, doppelt besteuert zu werden. Bis 2010 waren die Staatsbürger*innen Bulgariens und Deutschlands, die in den beiden Ländern gelebt und gearbeitet bzw. Einkünfte erzielt haben, dazu verpflichtet, beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ihr Einkommen in den beiden Ländern zu versteuern. Am 25.01.2010 wurde das Abkommen zur Vermeidung der doppelten Steuerpflicht zwischen Bulgarien und Deutschland unterzeichnet.1 Dadurch wurde die Verpflichtung der doppelten Besteuerung abgeschafft. Das konkrete empirische Beispiel der bulgarischen Migrant*innen und Mobilen in Deutschland verdeutlicht, dass (in den Perioden) bis 2010 die finanzielle und steuerliche Transnationalität praktisch nur in Einzelfällen möglich gewesen ist, da in den meisten Fällen die Steuerpflicht nur in einem Land bestand. Steuerpflichtig in den beiden Ländern sind Personen gewesen, die: • ihr Einkommen in Deutschland erwirtschaftet und gleichzeitig Einkünfte aus Vermietungen oder Verpachtung in Bulgarien haben • Personen, die ihr Einkommen gleichzeitig in Bulgarien und in Deutschland erwirtschaftet haben • Personen, die Eigentum sowohl in Deutschland als auch in Bulgarien haben Aufgrund der Struktur der bulgarischen Migration vor 2007, die vor allem von Student*innen geprägt wurde, traten diese Voraussetzungen nur auf eine geringe Anzahl von Personen zu. In den durchgeführten Interviews wird von Bulgar*innen, die nach 2007 und insbesondere nach 2014 in Deutschland leben, über die Praxis berichtet, sowohl in Bulgarien als auch in Deutschland Steuern zu bezahlen. In der Regel wird die Einkommenssteuer in Deutschland entrichtet, da man dort den ständigen Wohnsitz hat und erwerbstätig ist. In Bulgarien werden allerdings Immobiliensteuer und Erbschaftssteuer fällig. Mehrwertsteuer zahlen die Migrant*innen dort, wo sie sich aufhalten d. h. sowohl in Bulgarien als auch in Deutschland. Die Ausgaben, die die Migrant*innen für die Unterstützung ihrer Verwandten in Bulgarien in einem Kalenderjahr gemacht haben, können unter Umständen steuerlich in Deutschland geltend gemacht werden. Sie wirken sich mindernd auf die Steuerlast aus. Auch Einnahmen aus Bulgarien – durch Vermietung oder Verpachtung – waren bis 2010 in Deutschland steuerlich relevant. 1Bulgarien
hat ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung mit etwa 70 Ländern unterzeichnet. Vgl. Rechtsanwälte Russkov und Kollegen (2014).
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Die finanzielle und steuerliche Transnationalität ist im höchsten Maße eine Transnationalität, die ich als „Familientransnationalität“ bezeichnen möchte und deutet auf die Strukturen der Solidarität in den transnationalen Familien hin.2 In Deutschland ist für verheiratete oder verpartnerte Personen ein besonderer Steuersatz vorhanden. In Bulgarien besteht hingegen keine Familienversteuerung. Dennoch ist die Unterstützung der Familienmitglieder in Bulgarien in Deutschland steuerlich relevant. Um die doppelte Besteuerung vor dem Jahr 2010 zu vermeiden, kann u. U. Eigentum an andere Familienmitglieder übertragen werden. Sozialstrukturell gesehen, bezieht sich diese Form der steuerlichen und finanziellen Transnationalität auf Personen, die erstens migrieren, mobil und nicht sesshaft sind, und zweitens über ein hohes ökonomisches Kapital (Geld, Aktien, Eigentum) verfügen. Sie profitieren von den Möglichkeiten, an zwei Orten zu sein und diese Tatsache steuerlich in ihrem Sinne zu nutzen, ungünstige Bestimmungen der doppelten Besteuerung zu umgehen und Steuererleichterung zu bekommen. Dafür sind ein hohes kulturelles (Wissen) und soziales Kapital (Steuerberatung) notwendig, die teuer und für manche Migrant*innen gar nicht relevant sind. Personen, die gelegentlich mobil sind oder über wenig Mittel verfügen, profitieren kaum von den Möglichkeiten der finanziellen und steuerlichen Vergünstigungen, die bei einer Transnationalität genutzt werden können. Im empirischen Fall der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland bedeutet das, vor 2010 die doppelte Besteuerung zu vermeiden und nach 2007 die in Bulgarien günstigen Steuersätze zu nutzen.
10.2 Transnationalisierung im Versicherungswesen am Beispiel der Renten- und der KfZ Versicherung 10.2.1 Transnationalisierung im Bereich der Rentenversicherung Ein wichtiger Transnationalisierungsbereich bezieht sich auf die Rentenversicherung. Eine Transnationalität in Bezug auf die Rentenversicherung kann festgestellt werden, wenn eine Person in einem Staat erwerbstätig gewesen ist, Rentenansprüche erworben hat und in einem anderen Land die Rente bezieht.
2Diese
(2014).
Strukturen sind in der Transnationalitätsforschung beschrieben, vgl. Apitzsch
10.2 Transnationalisierung im Versicherungswesen am Beispiel …
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Aus der Perspektive der klassischen Konzepte der Sozialpolitik (vgl. z. B. Henkel 2002) erfolgen die Erwerbstätigkeit und die Zeit des Rentenbezugs im gleichen Nationalstaat und unterliegen den gleichen Regulationen. Die Personen, die in einem oder in mehreren Ländern erwerbstätig waren und in einem weiteren Land die Rente beziehen, gehören zu einer Minderheit und werden als „Ausnahmefälle“ beschrieben. In der Migrationsforschung wird im Rahmen der klassischen Migrationstheorien davon ausgegangen, dass eine Person, nachdem sie migriert ist, in einem bestimmten Land, im sogenannten „Aufnahmeland“, arbeitet und in diesem Land auch im Rentenalter lebt. Dort erwirbt die jeweilige Person Rentenansprüche und nutzt nach dem Erreichen des Rentenalters die Rentenversicherung. Diese Modelle der nicht migrierenden oder einmal migrierenden Individuen sind bis zum 21. Jahrhundert mit wenigen Ausnahmen allgemein gültig – die meisten Arbeitnehmer*innen leben im Rentenalter im Land, in dem sie ihre Rentenansprüche erworben haben. Zu Beginn des 21. Jahrhundert sind allerdings in diesem Modell, insbesondere in der EU, Unvollständigkeiten festzustellen. Infolge der Prozesse der europäischen Integration, der Öffnung der Arbeitsmärkte, der zunehmenden Mobilität und der Etablierung europaweiter transnationaler Bildungsprogramme wie „Erasmus“ und „Erasmus Plus“ leben und arbeiten immer mehr Menschen außerhalb der Länder, in denen sie geboren wurden, dessen Staatsbürger*innen sie sind und in denen sie das Rentenalter erreichen. Im Jahr 2013 erhielten ca. 220.000 Rentner*innen aus Deutschland ihre Renten im Ausland (Frankfurter Rundschau 2014). Die Zahl der Rentenbezüge, die von der Deutschen Rentenversicherung ins gesamte Ausland gezahlt werden, hat sich von 780.000 (1990) auf 1,76 Mio. (2017) mehr als verdoppelt (Welt Online 2017). Insbesondere die nordeuropäischen Senioren migrieren nach dem Erreichen des Rentenalters in Richtung Südeuropa. Migrant*innen, die im Ausland gearbeitet haben und Rentenansprüche erworben haben, z. B. die sogenannten „Gastarbeiter*innen“, kehren in ihre Heimatländern zurück und beziehen ihre Rente nicht in den Ländern, in denen sie sie erworben haben. Senioren, deren Kinder im Ausland leben, fahren zu ihnen, um die Enkelkinder zu versorgen, die Kinder zu besuchen und bei der Haushaltsführung zu entlasten. Menschen, die Frührentner*innen sind, können auch in einem anderen EU-Land erwerbstätig werden, damit sie ihr Einkommen ausbessern; dadurch erwerben sie Rentenansprüche in verschiedenen Ländern. Die Migration und die Mobilität von Senior*innen nimmt in diesem Sinne kontinuierlich zu. Das bezieht sich vor allem auf die EU-Länder, da die EU die transnationale Migration, Mobilität und Erwerbstätigkeit ermöglicht und fördert. Es handelt sich allerdings um kein Phänomen, das ausschließlich die EU-Länder umfasst.
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Die Institution der Rentenversicherung existiert in Bulgarien seit dem Jahr 1869.3 In der ersten bulgarischen Verfassung („Tarnowo-Verfassung“) aus dem Jahr 1879 wurde in Art. 166 der Anspruch der Beamt*innen, eine Pension zu erhalten, festgeschrieben (vgl. Parlament 1879). Am 11.11.1886 wurde das bulgarische Rentengesetz für Menschen mit Behinderung und der Wehrdienstleistenden (Parlament 1886) verabschiedet. Am 15.12.1888 folgte das Gesetz über die Renten der Lehrer*innen in Bulgarien (Parlament 1889). Durch die Verabschiedung dieser Gesetze wurden die Weichen für den Aufbau des bulgarischen Rentensystems gestellt. Zunächst umfasst das System die Rentenregulierung der Mitarbeiter*innen in staatlichen Einrichtungen; nach 1918 wird das Rentensystem auch auf die Privatunternehmen ausgeweitet. Es werden auch andere Berufsgruppen berücksichtigt, etwa die Priester (Parlament 1890) und die Angestellten im öffentlichen Dienst (Parlament 1900). Laut der existierenden Regelungen können die Renten aufgrund des Alters, der Behinderung und der Vererbung erworben werden. 1924 wurde vom bulgarischen Parlament das Gesetz der Sozialversicherung (Ivanova 2017) verabschiedet, das bis zum 1948 in Kraft blieb. 1932 trat ein Spezialgesetz für die Rentenversicherung in Kraft, in dem der Aufbau der Rentenfonds festgeschrieben wurde (ebenda). 1941 wurde das bulgarische Institut der Sozialversicherung (Инcтитyт зa oбщecтвeнo ocигypявaнe) gegründet (ebenda). 1942 wurde das Gesetz der Renten der Beschäftigten im Agrarsektor verabschiedet (ebenda). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und zum Beginn der sozialistischen Periode wurde im Jahr 1948 das neue Gesetz der Sozialversicherung verabschiedet (Parlament 1948). Nach diesem wurden die Sozialversicherungen verstaatlicht. Die Beiträge, die einzuzahlen waren, wurden von den staatlichen Betrieben abgeführt. Eine Beteiligung der Erwerbstätigen war nicht vorgesehen. 1951 wurden die vor dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Versicherungsfonds verstaatlicht: Die in ihnen eingezahlten Mittel fließen in den Staatshaushalt. Dadurch verlieren diese Fonds ihre Existenzgrundlage und werden geschlossen. De facto wurde in der Zeit von 1951–1990 die Rentenversicherung in Bulgarien nationalisiert und die Zahlungen der Renten wurden vom Haushalt finanziert. Die Rentenansprüche der im Ausland beschäftigten Bulgar*innen in der Zeit von 1945–1990 wurden auf Grundlage des bulgarischen Rechts und des unterzeichneten bilateralen Abkommens geregelt. Die meisten Bulgar*innen, die im
3Zu
den Besonderheiten der bulgarischen Rentenversicherung vgl. Markov (1970); Konstantinov (2001); Christoskov (2007).
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Ausland beschäftigt wurden, wurden im Rahmen der sozialistischen Partnerschaft in Länder wie Libyen, Tunesien oder in Länder des Ostblocks entsandt. Der bulgarische Staat hat für sie Beiträge in die staatliche Rentenversicherung abgeführt. Bis zum Beitritt Bulgariens in die EU im Jahr 2007 sind die bilateralen Abkommen zwischen Bulgarien und dem anderen Land maßgebend für die Anerkennung und die Übertragung der Rentenansprüche der im anderen Land erwerbstätigen Personen gewesen. Die meisten bilateralen Abkommen wurden in der Zeit von 1957–1961 unterzeichnet. In diesen Abkommen wurden zwei Methoden für die Feststellung der Rentenansprüche festgeschrieben: • die proportionale Methode – nach ihr werden die Rentenansprüche von jedem Land nach den in diesem Land gültigen Rechtsnormen festgestellt und nach dem Wohnortsprinzip, d. h. durch das Land, in dem sich die Person gewöhnlich aufhält, die Rente ausgezahlt. Jedes Land bezahlt ein Teil der Rente und zwar im Verhältnis zum Anteil der Beitragsjahre, die die Person in die jeweilige Rentenkasse eingezahlt hat; • die territoriale Methode – nach ihr wird die Rente nach den Regelungen des Landes, in dem man ständig wohnt, errechnet. Dabei werden die Beitragsjahre, die im Ausland erfolgten, berücksichtigt. Zwischen Bulgarien und der DDR bzw. Bulgarien und der BRD wurde die proportionale Methode der Rentenfeststellung festgelegt. Die Renten der Bulgar*innen, die in der DDR oder BRD erwerbstätig waren, wurden persönlich gegen Unterschrift in den bulgarischen Postfilialen übergeben. Nach 1989 änderte sich vor allem die Möglichkeit, unabhängig vom Staat im Rahmen der etablierten marktwirtschaftlichen Prinzipien Arbeitsverträge zu unterzeichnen und beschäftigt zu sein. Seit dem Jahr 2000 wurde das Rentenversicherungssystem in Bulgarien reformiert. Die bulgarischen Erwerbstätigen, die im Ausland arbeiten und von einem/r Arbeitgeber*in, der/die seinen/ihren Unternehmenssitz in Bulgarien hat, beschäftigt werden, sind verpflichtet, in die bulgarische Rentenversicherung einzuzahlen. Die bulgarischen Erwerbstätigen, die nicht von einem/r bulgarischen Arbeitgeber*in im Ausland beschäftigt werden, können freiwillig in die bulgarische Rentenversicherung einzahlen. Im Falle, dass Bulgarien ein bilaterales Abkommen mit dem jeweiligen Land abgeschlossen hat, in dem die Person beschäftigt wird, ist eine Anerkennung der Rentenversicherung und der Beitragsjahre nach einer eventuellen Rückkehr der Person in Bulgarien aufgrund dieses Abkommens möglich. Wenn kein Abkommen mit dem jeweiligen Land besteht, kann die Arbeitszeit als Versicherungszeit im Sinne der Übertragbarkeit nur dann anerkannt werden, wenn
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die Person parallel in die bulgarische Rentenversicherung eingezahlt hat. Die bulgarischen Staatsbürger*innen, die im Ausland beschäftigt werden und nicht in die bulgarische Rentenversicherung einzahlen, werden beim Erreichen des Rentenalters beim Vorliegen der Voraussetzungen eine Rente im jeweiligen Land erwerben, in dem sie die Rentenbeiträge entrichtet haben. Nach dem Beitritt Bulgariens zu der EU ist die Übertragbarkeit der Rentenansprüche innerhalb des europäischen Rechts und unter Berücksichtigung der Regulierungen der einzelnen Nationalstaaten geregelt. Maßgebend dafür ist die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer*innen und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Europäischer Rat 1971). Aufgrund der intensiven politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Bulgarien und der DDR wurde die Übertragbarkeit der Rentenansprüche auch vor 1989 geregelt. Die Filialien der Deutschen Rentenversicherung in Halle (Saale) und in Erfurt wurden dahingehend spezialisiert, Rentenansprüche von Personen, die in Osteuropa leben, zu bearbeiten (Fingarova 2017, S. 24). Nach 2007 können bulgarische Senioren, die ihren permanenten Wohnsitz in Deutschland haben und in Deutschland Beiträge in die Deutsche Rentenversicherung eingezahlt haben, Ansprüche auf eine deutsche Rente erheben. In der Regel wird die Zeit anerkannt, in der sie ins deutsche Rentensystem eingezahlt haben: Diese Zeit wird zu den Rentenansprüchen, die die Person in einem anderen EU-Land erworben hat, addiert. Bulgarische Rentner*innen, die nach 2007 und insbesondere nach 2014 ihren ständigen Wohnsitz (ihren „gewöhnlichen Aufenthalt“) in Deutschland haben, sind berechtigt, beim Vorliegen der Voraussetzungen, eine Grundsicherung zu beantragen. Da die bulgarische Rente grundsätzlich geringer ist als die Mindestrente in Deutschland, haben die Anträge in der Regel Aussicht auf Erfolg. Komplikationen bei der Übertragbarkeit der Renten ergeben sich aus der Tatsache, dass in der EU unterschiedliche Regelungen bezüglich des Renteneintrittsalters bestehen. So erreicht aktuell ein/e bulgarische(r) Arbeitnehmer*in im Alter vom 60 Jahre und 10 Monate (Frauen) und 63 Jahre und 5 Monate (Männer) das Renteneintrittsalter. In Deutschland liegt das aktuelle Renteneintrittsalter bei 65 Jahre (Deutsche Rentenversicherung o. J.). Personen, die nach der bulgarischen Gesetzgebung in Bulgarien Rentner*innen sind, können in Deutschland beschäftigt werden, wobei der/die Arbeitgeber*in nicht verpflichtet ist, Rentenbeiträge zu bezahlen (Fingarova 2017, S. 25). In diesem Fall würden bulgarische Rentner*innen beim Erreichen des deutschen Renteneintrittsalter kein Recht erhalten, deutsche Rente zu beziehen, bekommen aber bei den Gehaltszahlungen
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einen höheren Nettogehalt. Seit 2017 wurde diese Regulierung in Deutschland geändert, sodass Personen, die das Rentenalter im EU-Ausland erreicht haben, die Möglichkeit haben, Beiträge für die deutsche Rentenversicherung zu entrichten und dadurch den deutschen Arbeitnehmer*innen gleichgestellt zu werden (Fingarova 2017, S. 26). Die Übertragbarkeit der Rentenansprüche über Staatsgrenzen hinweg ist aufgrund der Tatsache, dass manche Arbeitgeber*innen aus der sozialistischen Zeit in Bulgarien oder in Ostdeutschland nicht mehr existieren, schwierig. Man kann kaum Dokumente, die das Beschäftigungsverhältnis für die Zeit vor 1989 nachweisen, ausfindig machen und dementsprechend die Rentenansprüche begründen, da viele Arbeitgeber*innen aus der sozialistischen Zeit nicht mehr existieren und die Archive vernichtet wurden (Fingarova 2017, S. 26). Nach einer offiziellen Information der Deutschen Rentenversicherung, die im Jahr 2011 an die Bulgarischen Rentenversicherung zugeschickt wurde, endete zum 31.12.2011 die Verpflichtung, Dokumente über die Gehalts- und Rentenzahlungen aus der DDR-Zeit aufzubewahren. Nach dem 31.12.2011 kann die Beitragszeit lediglich von den einzelnen Personen aufgrund der Dokumente, die sie besitzen wie Arbeitsverträge, Gehaltsabrechnungen etc. nachgewiesen werden (Nationalen Osiguritelen institut o. J.). Im Jahr 2016 beziehen 2837 bulgarische Staatsbürger*innen ihre bulgarische Rente in Deutschland (24 chasa 2016). Hingegen beziehen im Jahr 2016 1292 Personen deutsche Renten in Bulgarien. Es handelt sich um eine kleine Gruppe von Personen, die in Deutschland gelebt und gearbeitet haben und nach dem Erreichen des Rentenalters zumindest ein Teil des Jahres in Bulgarien verbringen. Ein Beispiel: (I 71) ist Ingenieur. Er hat Bulgarien in der sozialistischen Zeit verlassen, nachdem er einen Vertrag im Rahmen der sogenannten „sozialistischen Bruderhilfe“ in Libyen erhalten hat. Nach dem Ende des Vertrages ist er über Frankreich nach Deutschland eingewandert, wo er Asyl beantragt hat. Sein Studium in Bulgarien wurde nach erfolgreich abgelegten Kenntnisprüfungen anerkannt. Er hat während seines Berufslebens als Ingenieur gearbeitet und Rentenansprüche in Deutschland erworben. In Bulgarien hat er allerdings keine erworben, da er nach der bulgarischen Gesetzgebung mindestens 35 Jahre berufstätig sein musste. Die Berufstätigkeit in Bulgarien reichte nicht aus, um eine bulgarische Rente zu erwerben. Nach der Wende 1989 erbte (I 71) die Wohnung seiner Eltern in Sofia. Er renovierte sie und lebte dort mit seiner Ehefrau im Frühling und im Herbst. Im Sommer und im Winter lebt er weiterhin in seiner Wohnung in einer deutschen Stadt. Die Wohnung in Deutschland ist ein Eigentum des Ehepaares; sie haben sich entschlossen, die Wohnung zu behalten, da die medizinische Versorgung in
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Deutschland besser ist als die in Bulgarien. Außerdem haben sie einen großen Bekanntenkreis in Deutschland – schließlich hat man dort über 40 Jahre gelebt. Auch die Kinder leben und arbeiten in Deutschland. Die deutsche Rente wird auf ein deutsches Konto überwiesen. Solche Fälle sind selten, da die Verbindungen zwischen den Migrant*innen und den Verwandten und Freunden, die in Bulgarien leben, in den Jahren unterbrochen werden. Die elterliche Wohnung ist verkauft oder wurde von einem anderen Familienmitglied geerbt. Eine Rückkehr nach Bulgarien ist in den meisten Fällen nicht möglich oder nicht erwünscht. Man besucht Bulgarien zweibis dreimal im Jahr, wobei man hat den permanenten Wohnsitz in Deutschland hat, wo der reguläre Lebensmittelpunkt ist. In der Zeit vor der Wende haben Bulgar*innen, die in der DDR erwerbstätig waren, Rentenansprüche erworben und eine ostdeutsche Rente bezogen bzw. nach 1991 eine gesamtdeutsche Rente. (I 54) ist Krankenpflegerin und arbeitete sieben Jahre in der DDR in einem Ostberliner Krankenhaus. Sie war mit einem Ostdeutschen verheiratet und hat während dieser Zeit in Ostberlin gelebt und gearbeitet. 1988 ließ sie sich scheiden und kehrte nach Bulgarien zurück. Nach dem Erreichen des Rentenalters in Bulgarien im Jahr 1993 werden die Erwerbsjahre in der DDR berücksichtigt, was sich auf das gesamte Rentenniveau positiv ausgewirkt hat: In ihre Gesamtrente, die von der bulgarischen Rentenversicherung errechnet wurde, wurden die Jahre in der DDR miteingerechnet. Das erlaubt (I 54) einen guten Lebensstandard zu erreichen. „In den 1990er habe ich eine Rente in Höhe von ca. 400 D-Mark bekommen. Das war in Bulgarien ein Vermögen“ (I 54).
Nach dem EU-Beitritt Bulgariens ist auch eine andere Form der Transnationalität, die ich als „Seniorentransnationalität“ bezeichnen möchte, festzustellen: Bulgarische Rentner*innen leben mit ihren in Bulgarien erworbenen Renten in Deutschland. Dadurch, dass sie keine Aufenthaltsgenehmigung benötigen, um nach Deutschland einzuwandern, können sie sich als EU-Bürger*innen in Deutschland niederlassen. In einigen Fällen leben sie bei ihren Kindern und versorgen die Enkelkinder; dadurch spart die Familie das Geld für ein Au-Pair-Mädchen, für eine Tagesmutter oder für ein/e Babysitter*in. In diesem Fall handelt es sich um eine zeitlich befristete Transmigration der Senior*innen: Die Großeltern kommen nach Deutschland, um dort konkrete Hilfe zu leisten. Sie unterbrechen die Beziehungen nach Bulgarien nicht, behalten oft ihre Wohnung und kehren mehrmals im Jahr, z. B. wenn die Eltern im Urlaub sind, zurück. Sie bekommen ihre bulgarische
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Rente auf ein bulgarisches Bankkonto überwiesen und heben das Geld in Deutschland ab. Es handelt sich um eine spezifische Pendelmigration von Großeltern. In anderen Fällen ziehen die Rentner*innen komplett nach Deutschland um. Eine Ursache ist, dass sie auf diese Art von den Kindern und Enkelkinder versorgt und gepflegt werden. Für sie wird eine separate Wohnung angemietet. Diese wird von den Kindern bezahlt. Je nach konkreter finanziellen Situation kann Wohngeld und/oder Grundsicherung in Deutschland beantragt und bezogen werden. Die bulgarische Rente wird weiterhin bezogen und auf ein bulgarisches Konto überwiesen. Die Senior*innen können in Bezug auf die Transnationalität zusammenfassend typologisiert werden: A) Bulgarische Rentner*innen, die vor 1989 in der DDR oder BRD gearbeitet, Rentenansprüche in diesen Ländern erworben haben und aktuell in Deutschland leben. Eine Transnationalität bezogen auf die Rentenansprüche ist nicht vorhanden. B) Bulgarische Rentner*innen, die vor 1989 in der DDR oder BRD gearbeitet haben, deutsche Rente erworben haben und aktuell in Bulgarien leben und die in Deutschland erworbene Rente in Bulgarien separat oder als Teil der bulgarischen Rente beziehen. In diesem Fall ist eine Transnationalität bezogen auf die Rente festzustellen. Die in Deutschland erworbene Rente wird entweder separat auf ein bulgarisches Konto überwiesen oder zusammen mit der bulgarischen Rente berechnet. Beide Fälle sind mit zusätzlichen Überweisungs- und Verwaltungskosten verbunden. C) Deutsche Rentner*innen, die in Bulgarien gearbeitet, bulgarische Rentenansprüche erworben haben und aktuell in Bulgarien leben. Eine Transnationalität bezogen auf die Rentenansprüche ist in diesem Fall nicht vorhanden. D) Deutsche Rentner*innen, die in Bulgarien gearbeitet, bulgarische Rente erworben haben und aktuell in Deutschland leben. Die in Bulgarien erworbene Rente wird entweder direkt auf das deutsche Konto des Rentners überwiesen oder zur deutschen Rente addiert. Bei beiden Fällen sind Überweisungs- und Verwaltungskosten damit verbunden. E) Bulgarische Rentner*innen, die nach dem Erreichen des bulgarischen Rentenalters in Deutschland erwerbstätig sind, da sie das deutsche Rentenalter nicht erreicht haben. Sie beziehen keine Rente, erwerben deutsche Rentenansprüche nach der Regelung von 2017 und werden eine zusammengesetzte (deutsche und bulgarische) Rente nach dem Erreichen des deutschen Rentenalters beziehen.
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F) Bulgar*innen im Rentenalter, die keine Rente beziehen, da sie keine Rentenansprüche erworben haben (da sie nicht erwerbstätig oder nicht lange genug erwerbstätig waren); sie beziehen, falls sie in Deutschland wohnen, eine deutsche Grundsicherung. G) Bulgar*innen im Rentenalter, die „Privatiers“ sind, in Deutschland leben aber keine Rente und keine Sozialleistungen beziehen. Durch die Thematik der Transnationalisierung der Rentenansprüche kann die Frage nach den Begriffsdefinitionen von „bulgarisch“ und „deutsch“ noch einmal gestellt werden. Wie können Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit, die in den beiden Ländern erwerbstätig gewesen sind und Rentenansprüche erworben haben, klassifiziert werden? Inwieweit ist die Staatsangehörigkeit für die Feststellung der Transnationalität wichtig? Nach der deutschen Statistik werden Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, in Deutschland erwerbstätig waren, nach dem Erreichen des Rentenalters in Deutschland leben und eine Rente aus Deutschland beziehen, nicht als „transnationale Migrant*innen“, sondern als „Deutsche“ betrachtet. Hingegen werden deutsche Staatsbürger*innen, die im Ausland und in Deutschland Rentenansprüche erworben haben und nach dem Erreichen des Rentenalters in Deutschland leben, als „transnational“ erfasst. Statistisch gesehen ist weder die Staatsangehörigkeit noch die ethnische Zugehörigkeit, noch das eigene Bewusstsein für die Feststellung der Transnationalität maßgebend, sondern lediglich die Tatsache, ob man im Ausland erwerbstätig gewesen ist und Rentenansprüche erworben hat. Die Deutsche Rentenversicherung definiert die „Transnationalität“ aufgrund dieser objektiv feststellbaren Merkmale, ohne die „weichen“ Faktoren wie „Selbstbestimmung“, „Bewusstsein“, „Identifikation“ und „ethnische Zugehörigkeit“ zu berücksichtigen. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Transnationale Verbindungen im Rentenalter und die Übertragbarkeit der Rentenansprüche sind kein Novum in Europa. Auch in der Zeit vor dem EU-Beitritt Bulgariens war die Übertragbarkeit der Rentenansprüche vorhanden. Dennoch ist die Übertragbarkeit der Rentenansprüche in einem einheitlichen europäischen Raum aus der Perspektive der sozialen Akteur*innen einfacher gestaltbar. Eine geschlossene Gesellschaft baut Hürden und Restriktionen in Bezug auf die Mobilität bzw. Migration der Erwerbstätigen und der Rentner*innen auf. Sie wirkt sich auch auf die Migration und Mobilität der Erwerbstätigen restriktiv aus, woraus schließlich die Rentenansprüche resultieren. In diesem Sinne hat die Problematik der transnationalen Übertragbarkeit der Sozialleistungen, die zurzeit an Aktualität gewinnt, statistisch
10.2 Transnationalisierung im Versicherungswesen am Beispiel …
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gesehen immer noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Die Erreichen des Rentenalters von bulgarischen Staatsbürger*innen, die nach 1990 und insbesondere nach 2007 und 2014 nach Deutschland migriert sind, wird voraussichtlich in ca. 30 bis 40 Jahren erfolgen. Wenn die Generation der bulgarischen Massenmigration nach Deutschland das Rentenalter erreicht, wird das Thema der Transnationalisierung der Rentenansprüche mit einer neuen Aktualität behandelt werden müssen. Viele Senior*innen werden verpflichtet nachzuweisen, in welchen europäischen Ländern sie gearbeitet bzw. Rentenansprüche erworben haben. Die Praxis könnte so aussehen: Ein bulgarischstämmiger Rentner mit doppelter Staatsangehörigkeit, der in Bulgarien, Deutschland und in den Niederlanden gearbeitet und Rentenansprüche erworben hat, lebt in einem vierten Land, z. B. Griechenland, und bezieht dort seine Rente. Sie könnte aber auch so aussehen: Eine bulgarischstämmige Rentnerin, die in ihrem Berufsleben als mobile Entsandte in Deutschland und in anderen europäischen Ländern gearbeitet hat, wird in Deutschland sesshaft und bezieht eine Grundsicherung. Oder so: Ein deutscher Rentner, der Pflege benötigt, wird in einer bulgarischen Senioreneinrichtung gepflegt und bezieht dort seine Rente. So lassen sich verschiedene Formen der Transnationalität, die auch aus der unterschiedlichen sozialen Schichtung der Rentner*innen und der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung der Nationalstaaten resultieren, festmachen. Voraussetzung für diese transnationalen Praktiken ist die Vertiefung der Europäischen Integration. Eine Verhinderung dieser Prozesse der Harmonisierung des europäischen Rechts, eine mögliche Schließung der Grenzen, eine bevorzugte Behandlung der „eignenen“ Staatsbürger*innen und eine Zunahme der ausländerfeindlichen Einstellungen würde sowohl die Senior*innenmigration als auch die Übertragbarkeit der Rentenleistungen einschränken.
10.2.2 Transnationalisierung in Bezug auf die KfZ-Versicherung Eine weitere Form der wirtschaftlichen Transnationalität bezieht sich auf die KfZ-Versicherungen, die die sozialen Akteur*innen abschließen. Unter den interviewten Personen, die nach 2007 in Deutschland leben, finden sich solche, die einen ständigen Wohnsitz in Deutschland haben aber gleichzeitig ihr Auto mit bulgarischen Kennzeichen und bulgarischer KfZ-Versicherung in Deutschland fahren. Der Vorteil, den die sozialen Akteur*innen nutzen, liegt im Preis der KfZ-Haftpflichtversicherung in Bulgarien und in Deutschland begründet. In Bulgarien ist diese Versicherung im Durchschnitt fünf bis sieben Mal günstiger
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als in Deutschland. Grundsätzlich ist diese Praxis nicht regelkonform. Jede Person, die sich länger als 183 Tage in einem Land aufhält, ist gesetzlich verpflichtet, eine KfZ-Versicherung vor Ort abzuschließen und das Auto am Ort des ständigen Wohnsitzes (Erstwohnsitzes) anzumelden. Trotzdem wird die Nutzung bulgarischer Versicherungen praktiziert. Bei einem Unfall zahlen die bulgarischen Versicherungsgesellschaften, die die größten Verlierer dieser Praxis sind. In den letzten Jahren wurden demzufolge die Beiträge für die KfZ-Haftpflichtversicherung in Bulgarien erhöht. Es ist dennoch nicht zu erwarten, dass in den nächsten Jahren eine komplette Angleichung der Preise dieser Versicherung an den deutschen Preisen vollzogen wird, da der Lebensstandard in Bulgarien niedriger ist. Die Ursache für die Etablierung dieser Praxis ist die Öffnung der Grenzen innerhalb des Schengen-Raums und der EU. De facto ist es sehr schwierig oder gar nicht möglich nachzuweisen, wann ein PKW die deutsche Grenze überquert hat und wie lange er in Deutschland gefahren wurde (Angaben der Interviewpartner*innen I 45, I 64, I 68, I 70). Die Grenzkontrolle erfolgt an der ersten Grenze, bei der der Schengen-Raum betreten wird; im konkreten Fall wären das Griechenland, Österreich oder Ungarn. Die Überquerung der bulgarisch-griechischen Grenze kann allerdings nicht als Nachweis verwendet werden, dass eine Person mit seinem/ihrem PKW nach Deutschland eingewandert ist. Besonders wenn das Auto auf eine Person angemeldet ist, die dauerhaft in Bulgarien wohnt und von einer anderen, in Deutschland lebenden Person gefahren wird, ist der Nachweis der tatsächliche Einreise- bzw. Einführzeit schwierig, zumal die Autos in Deutschland nicht ohne triftigen Grund angehalten und kontrolliert werden. In den durchgeführten Interviews (vgl. I 45, I 64, I 68, I 70) deuten die Personen an, dass sie ihre Autos seit mehreren Jahren mit bulgarischen Kennzeichen und bulgarischer Versicherung in Deutschland fahren. Sie sind nie kontrolliert worden, sie fahren jährlich nach Bulgarien, um die nötige technische Hauptuntersuchung durchführen zu lassen. Diese Form der Transnationalität ist in den vorherigen Perioden (1945–1989 und 1990–2007) nicht bzw. sehr eingeschränkt möglich gewesen, da die Grenzkontrollen und die restriktiven Visumsbestimmungen diese Praxis erschwert haben. Da bis 2007 die Anzahl der Bulgar*innen, die in Deutschland lebten, geringer war und die Bulgar*innen vor allem als Student*innen immatrikuliert waren und dadurch überwiegend die günstigen Semestertickets genutzt haben, war die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit, ein Auto in Deutschland zu fahren, nicht gegeben. Wenn überhaupt, übte eine kleine Minderheit der in Deutschland ansässigen Bulgar*innen diese Praxis aus. Nach 2007 und insbesondere
10.3 Transnationalisierung der Gesundheitsversorgung
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nach 2014 machen es die fehlenden Grenzkontrollen und die Abschaffung der Visumsrestriktionen schwierig zu ermitteln, wann ein Auto in Deutschland eingeführt wird. Besonders bei Migrant*innen, die behördlich nicht angemeldet sind und einen bulgarischen Führerschein haben, ist schwierig nachzuweisen, seit wann sie sich in Deutschland aufhalten. Die Erhöhung der Anzahl der Bulgar*innen und die Zunahme der sozialen Heterogenität innerhalb der bulgarischen Community nach 2007 führen zu einer Zunahme dieser Vorgehensweisen. In der Zukunft wird sich diese Praxis ändern. Je länger sich die bulgarischen Migrant*innen in Deutschland aufhalten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle überprüft und aufgefordert werden, die Autokennzeichen austauschen zu lassen. Da die Autos, die bulgarische Kennzeichen haben, jedes Jahr durch den bulgarischen TÜV kontrolliert werden müssen, müssen die Autos jedes Jahr nach Bulgarien und wieder zurück gefahren werden, was Zeit und Geld kostet. Für Menschen, die mobil sind und keinen ständigen Arbeitsplatz in Deutschland haben, wird diese Praxis weiterhin eine Alternative bleiben. Durch die Zunahme der Sesshaftigkeit der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland, den Einkommenszuwachs, die Festigung der Arbeitsverhältnisse, die Distanzierung von familiären Netzwerken in Bulgarien und durch die Erhöhung der Preise der KfZ-Versicherung in Bulgarien, wird diese Praxis einer zunehmenden Einschränkung unterliegen.
10.3 Transnationalisierung der Gesundheitsversorgung Eine wichtige Form der Transnationalität bezieht sich auf das System der Gesundheitsversorgung. Im Kontext der Migrationsforschung wird der Bereich der Gesundheit in den Studien über die Migration von fachmedizinischem Personal (sog. „weiße Migration“ Krasteva 2014, S. 383–403) und in den Abhandlungen über die sogenannte „global care chain“ (Hochschild und Ehrenreich 2003) analysiert. Die Migration von fachmedizinischem Personal wird im klassischen Verständnis der Migrationsprozesse abgehandelt – als eine eindimensionale Bewegung von A nach B – und als Beispiel für „Brain Drain“ verstanden (Kreuter 1995). Hingegen sind die Analysen der „global care chain“ ein Beispiel für eine transnationale Perspektive in den Studien zu den Migrationsbewegungen. Die meisten Analysen (Krämer und Prüfer-Krämer 2004; Thamer und Wüstenbecker 2011; Wengler 2013; Weiss 2003), die die Themen Gesundheit
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und Migration verbinden, analysieren diesen Themenkomplex aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft und verbleiben im Kontext des jeweiligen Nationalstaates. Die Aufnahmegesellschaft stellt aufgrund der existierenden Gesundheitsnormen und -praktiken fest, inwieweit die Migrant*innen von diesen Normen und Standards abweichen. Die Studien zum Gesundheitszustand oder zum Gesundheitsbewusstsein der Migrant*innen weisen eine hohe Belastung nach: Die Migrant*innen werden häufiger krank, sind psychisch mehr belastet als die Einheimischen, unzureichend oder gar nicht versichert. Sie haben oft keine Informationen über die Gesundheitsangebote der Krankenkassen, treiben weniger Sport und leiden unter Risikofaktoren wie Stress, Traumata und Risikoverhalten, die sich negativ auf die psychische oder physische Gesundheit auswirken (Robert-Koch-Institut 2008). Diese Studien leisten einen wesentlichen Beitrag zum Thema, denn sie verdeutlichen auch die Defizite der Aufnahmegesellschaft: Ihr fehlt es an medizinischem Personal, das für die Belange der Zugewanderten sensibilisiert ist. Interkulturelle Missverständnisse und Ablehnung, die sich sowohl auf die Patient*innen als auch auf die Mitarbeiter*innen mit Migrationshintergrund beziehen, werden in diesen Studien als Probleme definiert. Als Hindernisse für die optimale medizinische Versorgung werden mangelnde Sprachkenntnisse der Migrant*innen und des medizinischen Personals, schlechte Informationsversorgung, mangelnde Sensibilisierung der deutschen Gesundheitsinstitutionen und -organisationen genannt. In diesen Studien werden allerdings die transnationalen Aspekte der Gesundheitsversorgung nicht oder kaum berücksichtigt. Es wird davon ausgegangen, dass die Gesundheitsversorgung der Migrant*innen komplett in der Aufnahmegesellschaft stattfindet: Eine Annahme, die bezogen auf die Lebenspraktiken der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland nicht zutrifft. Die Problematik der Gesundheitsversorgung der Bulgar*innen in Deutschland ist bis dato kein Thema einer selbstständigen wissenschaftlichen Untersuchung. Lediglich die Übertragbarkeit von Sozialleistungen (Arbeitslosengeld, Kindergeld, Kranken-, Pfege-, und Rentenversicherung) zwischen Bulgarien und Deutschland wird im Projekt TRANSWELL4 thematisiert. In diesem Sinne handelt es sich im Weiteren um eine Pionierforschung.
4Das
Projekt „Mobile Welfare in a Transnational Europe: An Analysis of Portability Regimes of Social Security Rights“ (TRANSWEL) wurde in der Zeit vom 01.02.2015– 31.08.2018 durchgeführt. Das Projekt umfasste vier Teams, die an der Brandenburg University of Technology Cottbus, University of Wien, Södertörn University und University of Bath mitgearbeitet haben. Vgl. https://transwel.org (31.10.2018).
10.3 Transnationalisierung der Gesundheitsversorgung
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Die folgende Analyse der Renten- und Versicherungssysteme basiert auf der von mir durchgeführten Rekonstruktion der chronologischen Entwicklung und Veränderung der Rechtsgrundlagen und Ausführungsbestimmungen. Im Folgenden wird verdeutlicht, 1) dass die transnationale medizinische Versorgung in allen drei Perioden (1945– 1989; 1990–2007; nach 2007) verbreitet war bzw. ist; sie hat allerdings ein unterschiedliches Ausmaß und variiert in der Intensität und in den konkreten Formen, in der sie praktiziert wurde bzw. wird; 2) dass die transnationale medizinische Versorgung in Bezug auf den individuellen sozialen, aufenthaltsrechtlichen und migrationsspezifischen Status variiert; 3) dass die transnationale medizinische Versorgung die Existenz vieler Lücken auf Makroebene aufzeigt. Im Folgenden wird unter „transnationaler medizinischer bzw. sozialwirtschaftlicher Versorgung“ jene verstanden, die über Staatsgrenzen hinweg geleistet wird. Dabei wird ein/e Patient*in außerhalb der Staatsgrenzen, in denen sich sein aktueller Lebensmittelpunkt befindet, behandelt. Medizinisch bzw. sozialwirtschaftlich transnational versorgt wird der/die bulgarische Migrant*in in Deutschland, der/die sich freiwillig für die Behandlung durch einen Arzt oder Zahnärzt*in, der in Bulgarien ansässig ist, entscheidet und die Behandlung aus eigenen Mitteln als Privatpatient*in finanziert bzw. die Mittel dann von seiner Versicherung in Deutschland, falls vorhanden, übernehmen lässt. Transnational agiert ein/eine deutscher/e Rentner*in, der/die im bulgarischen Seniorenheim behandelt und gepflegt wird. Transnational agieren Bulgar*innen, die in Bulgarien leben, aber aufgrund der besseren Bedingungen beschließen, sich in deutschen Krankenhäusern als Privatpatient*innen operieren zu lassen. Transnational medizinisch versorgt werden die „Mobilen“ – die Personen, die sich nicht in einem Staat aufhalten, sondern zwischen zwei oder mehreren Ländern pendeln, z. B. Mitarbeiter*innen bei Logistikunternehmen, bei Flug- und Bahngesellschaften, Kuriere etc. Welche Formen nahmen die transnationalen Praktiken der bulgarischen Migrant*innen in den verschiedenen analysierten Perioden bezogen auf die Gesundheitsversorgung an? Die Periode 1945–1989 zeichnet sich durch eine relativ geringe Transnationalität zwischen Bulgarien und Deutschland aus. Diese Transnationalität bezieht sich vor allem auf den Raum DDR-Bulgarien und ist im größten Teil
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staatlich reguliert. Auch wenn Bildungs-, Fortbildungs- und Austauschmöglichkeiten zwischen den bulgarischen und ostdeutschen Krankenhäusern, Kliniken und medizinischen Universitäten existiert haben, auch wenn medizinisches Personal aus Bulgarien in der DDR oder in Bulgarien aus der DDR beschäftigt wurde, handelte sich um eine staatliche regulierte und kontrollierte Form der Beschäftigung, der Bildung und des Austauschs. Diese Form, die nicht der freien Bestimmung der beteiligten Individuen entsprochen hat, unterlagen nur teilweise ihrer Planung. In diesem Sinne ist fraglich, inwieweit diese Prozesse als „Transnationalität“ oder als „Internationalität“ – als Zusammenarbeit auf Makround Mesoebene zwischen ostdeutschen und bulgarischen Einrichtungen und Institutionen – bezeichnet werden sollen. Hierbei ist anzumerken, dass in der Zeit von 1945–1989 zwischen der DDR und Bulgarien sowohl ein Austausch im Gesundheitswesen als auch eine Möglichkeit der medizinischen Behandlung der im jeweiligen Land ansässigen ausländischen Bürger*innen vorhanden gewesen ist. Die Möglichkeit der medizinischen Behandlung der ausländischen Staatsangehörigen wurde im Rahmen der Gesetze der beiden Länder reguliert. Laut des bulgarischen Gesetzes über die Volksgesundheit (Parlament 1973) haben Ausländer*innen oder staatenlose Personen, die sich regulär und ständig in Bulgarien aufhalten, das Recht auf Gesundheitsversorgung, die mit der Versorgung von bulgarischen Staatsbürger*innen äquivalent ist (vgl. Art 27 [1]). Die ausländischen Personen und die Personen, die keine Staatsangehörigkeit besitzen oder die sich unerlaubt auf dem Territorium Bulgariens aufhalten, werden aufgrund der existierenden internationalen Normen, die Bulgarien verbindlich akzeptiert und unterzeichnet hat, behandelt (Art. 27 [2]). Notfälle werden sofort versorgt, unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus der jeweiligen Person (Art. 28). Eine detaillierte Auflistung der medizinischen Einrichtungen, in denen ausländische Staatsbürger*innen, die sich in Bulgarien aufhalten, versorgt werden können, erfolgte im Jahr 1982 (Regierung 1982). Das Gesundheitssystem wurde komplett aus dem Staatshaushalt finanziert, d. h. Beiträge zur Sozialversicherung wurden nicht erhoben. In der DDR hingegen wurde die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auf drei Säulen aufgebaut. Erstens wurde sie aus den Beiträgen der Sozialversicherung und der staatlichen Versicherung finanziert. Zweitens wurde die Sozialversicherung subventioniert und drittens wurden Mittel aus dem Staatshaushalt für die Gesundheitsversorgung zugewiesen. Jeder/e Staatsbürger*in der DDR oder ausländischer Bürger*innen, inklusive die ausländischen Vertragsarbeiter*innen und die ausländischen Studierenden, die sich regulär in der DDR aufhielten, musste Beiträge für die Sozialversicherung bezahlen. Dadurch partizipierten auch die ausländischen Staatsbürger*innen an der ostdeutschen Gesundheitsversorgung (Schmidt 2004).
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Bulgarische Staatsbürger*innen, die regulär in der DDR gelebt, studiert oder gearbeitet haben oder die DDR als Touristen besucht haben, ließen sich in der DDR behandeln – so die Angaben der von mir interviewten bulgarischen Staatsbürger*innen, die vor 1989 in der DDR gelebt haben; auch Ostdeutsche, die sich in Bulgarien aufgehalten haben, wurden in bulgarischen Krankenhäusern therapiert. In den meisten Fällen handelte es sich um Notfallbehandlung von Tourist*innen, von Student*innen, in seltenen Fällen von dauerhaft Beschäftigten bei der Botschaft oder im Rahmen unterschiedlicher Austauschverträge. Auch Verheiratete in binationalen Ehen, die sich aufgrund ihrer privaten Lebenssituation in der DDR bzw. in Bulgarien aufgehalten haben, gehörten zu den Patient*innen, so die Erfahrung, die eine Interviewperson gemacht hat. In der Regel wurden die Bulgar*innen, die sich dauerhaft in der DDR aufgehalten haben, auch in der DDR behandelt. In einzelnen Fällen haben sich Bulgar*innen, die dauerhaft in der DDR sesshaft geworden sind, in Bulgarien behandeln lassen. Auch Ostdeutsche, die berufsbedingt oder privat dauerhaft in Bulgarien gelebt haben, ließen sich in der DDR behandeln. Das geschah in Fällen, in denen ein besonders intensiver Kontakt zum/r behandelnden Arzt/Ärztin (z. B. Familienarzt, Arzt im Bekannten- oder Freundeskreis, Arzt in der Verwandtschaft) bestand und Vertrauen aufgebaut wurde. Gerade bei Operationen bevorzugte man nach Möglichkeit die renommierte Chirurgin, die in Bulgarien arbeitet, vor dem unbekannten Arzt, der in einer DDR-Klinik den operativen Eingriff übernehmen würde, so die interviewten Personen, die Erfahrungen mit chirurgischen Eingriffen gemacht haben. Es ist wichtig zu betonen, dass für die bulgarischen Migrant*innen in der DDR die Möglichkeit der transnationalen medizinischen Versorgung prinzipiell vorhanden war. Hingegen stellte sie für einen Großteil der bulgarischen Migrant*innen in der BRD keine Option dar. Deutlich eingeschränkt waren die Formen der sozialwirtschaftlichen Transnationalisierung zwischen Bulgarien und der BRD in der Zeit von 1945– 1989. Aufgrund der Tatsache, dass die meisten Migrant*innen Bulgarien irregulär verlassen haben und von den bulgarischen Institutionen als „feindliche Migrant*innen“ angesehen wurden, war eine Rückkehr nach Bulgarien entweder gar nicht möglich oder mit Komplikationen verbunden. Dementsprechend war für sie die Möglichkeit, die bulgarische medizinische Versorgung zu nutzen, nicht gegeben. Das bezog sich allerdings nur auf die bulgarischen Migrant*innen, die in der Zeit von 1945–1989 in die BRD ohne Genehmigung der bulgarischen Behörden migriert sind und sich in der BRD aufhielten. Unter den bulgarischen Migrant*innen, die sich in der BRD aufhielten, gab es auch andere Migrant*innengruppen, z. B. Studierende, Mitarbeiter*innen
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der bulgarischen Auslandsvertretungen, Personen, die mit deutschen Staatsbürger*innen verheiratet waren, für die es möglich war, nach Bulgarien wieder einzureisen und sich in Bulgarien behandeln zu lassen (vgl. I 42). In der Praxis kam dies allerdings sehr selten vor, da das westdeutsche Gesundheitssystem sowohl teuer war – die Migrant*innen zahlten, soweit sie beschäftigt gewesen sind, Versicherungsbeiträge – und andererseits eine bessere medizinische Versorgung angeboten hat. Die Vertreter*innen dieser Gruppen wurden laut den interviewten Personen in dieser Periode (1945–1989) in der Regel ausschließlich in der BRD gesundheitlich versorgt. In Ausnahmefällen, z. B. bei Besucherreisen oder touristischen Reisen in Bulgarien, war eine Behandlung in Bulgarien möglich. In der Periode von 1990–2007 hat sich die Transnationalisierung der medizinischen Versorgung intensiviert. Nach dem Ende des Kalten Krieges halten sich deutlich mehr Bulgar*innen in Deutschland auf. In dieser Zeit wird von der Deutschen Botschaft in Sofia das Vorliegen einer bulgarischen medizinischen Versicherung zur Bedingung für die Ausstellung einer Einreisegenehmigung gemacht. In dieser Periode können die Bulgar*innen, die kurzfristig, z. B. als Tourist*innen oder Besucher*innen nach Deutschland einreisen, aufgrund dieser Versicherung medizinisch versorgt werden. Bei längerfristigen Aufenthalten über drei Monate oder bei einer dauerhaften Migration (Studium, Eheschließung, Arbeitsaufnahme) ist die Person verpflichtet, sich in Deutschland versichern zu lassen. Die Versicherung wird bei der Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung von den zuständigen Ausländerbehörden in Deutschland kontrolliert. Obwohl in dieser Periode die Krankenversicherung keinen obligatorischen Charakter für deutsche Staatsbürger*innen hat, wird sie de facto für die Migrant*innen zu einer Voraussetzung für die Verlängerung ihres Aufenthaltsstatus. Da diese Versicherung relativ teuer ist und gleichzeitig viel mehr Therapiemöglichkeiten abdeckt als die Gesundheitseinrichtungen in Bulgarien anbieten, tendieren die bulgarischen Migrant*innen dazu, sich in dieser Periode in Deutschland behandeln zu lassen. Das bulgarische Gesundheitssystem erlebt aus diesem Grund nach der Wende eine Krise: Krankenhäuser werden geschlossen, es fehlt an Medikamenten und Materialien, die Patient*innen werden sogar bei Operationen aufgefordert, Medikamente und Verbandsmaterialien zu besorgen bzw. mitzubringen (Dimova et al. 2007). Von den Patient*innen wird erwartet, dass sie die ärztlichen Behandlungen privat bezahlen, da bis 1998 in Bulgarien keine Krankenversicherung existiert. Viele Bulgar*innen können sich dies nicht leisten. Dementsprechend ausgeprägt ist der Wunsch der Bulgar*innen, die im Ausland leben und eine ausländische Krankenversicherung bezahlen, sich im Ausland behandeln zu lassen. Von den interviewten Personen wird allerdings
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berichtet, dass bestimmte Behandlungen, die nicht vollständig von der deutschen Versicherung übernommen werden, z. B. die zahnmedizinischen Behandlungen, von ihren privaten Zahnärzten in Bulgarien durchgeführt werden. Die Preise in Bulgarien sind günstiger als die Zuzahlung, die man in Deutschland leisten müsste, damit man zahnmedizinisch behandelt wird. Auch wenn die Reisekosten in dieser Zeit relativ hoch sind, ist die zahnärztliche Behandlung in Bulgarien günstiger als die Zuzahlung in Deutschland. „Ich habe mich immer in Bulgarien behandeln lassen. Ich habe eine private Zahnärztin, sie behandelt meine ganze Familie. Jedes Jahr, wenn ich Urlaub in Bulgarien gemacht habe, war ich bei ihr. Obwohl ich zahlen musste, war das günstiger als in Deutschland“ (I 37). „Alle medizinischen Untersuchungen habe ich in Deutschland machen lassen. Ich war in Deutschland versichert. Nur zum Zahnarzt und zum Augenarzt ging ich nach Bulgarien. Denn das war erheblich teurer in Deutschland“ (I 52).
Unter diesen Umständen ist die Transnationalisierung in Bezug auf die Gesundheitsversorgung nicht stark ausgeprägt; sie bezieht sich auf die zahnmedizinische Versorgung. Ein anderer Faktor beeinflusst die Transnationalisierung der medizinischen Versorgung in dieser Zeit. Seit der Gründung der Bulgarischen Nationalen Krankenkasse im Jahr 1998 werden bulgarische Staatsbürger*innen in der Zeit von 1998–2004 – unabhängig davon, ob sie sich in Bulgarien aufhalten oder nicht – gesetzlich verpflichtet, Beiträge für ihre Krankenversichereung in Bulgarien zu bezahlen (vgl. Parlament 2004, Art, 40 (3); Art. 40 a). Diese Regelung gilt auch für die bulgarischen Staatsbürger*innen, die sich regulär und längerfristig im Ausland aufhalten und im Ausland versichert sind. Die Versicherung der Minderjährigen erfolgt auf Kosten des Staates. Befreit von der Versicherungspflicht in Bulgarien sind Studierende bis zur Vollendung des 26. Lebensjahres und die Doktorand*innen, die in staatlichen Einrichtungen promovieren (Parlament 2004, Art 40 (3), 1, 3). Diese Regelung der bulgarischen Gesetzgeber*innen schafft de jure einen staatlichen Zwang zur Transnationalität: Die bulgarischen Migrant*innen sind gezwungen, sich in den beiden Ländern – im Land des dauerhaften Aufenthalts und im Herkunftsland – versichern zu lassen. Eine Ursache dieser doppelten Versicherungspflicht ist die fehlende oder nicht vollständige übernationale Regulierung der Gesundheitsversorgung und der Versicherungspflicht. Da Bulgarien in dieser Periode kein EU-Mitglied ist, können die bulgarischen Staatsbürger*innen keinen Gebrauch von der Europäischen Gesundheitskarte (EHIC) machen, die 2003 eingeführt wurde und
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die Formulare E 111 und E 111B ersetzt hat. Die Gesundheitsversicherung und -versorgung, besonders für die Staatsbürger*innen der Nicht-EU-Länder, ist in den nationalstaatlichen Grenzen geschlossen. Es wird institutionell angenommen, dass sich die versicherte Person in einem Land aufhält, dort versichert ist und bei Bedarf vor Ort die medizinische Leistung nutzt. Am meisten betroffen von dieser Regelung der doppelten Versicherungspflicht sind die Bulgar*innen, die in außereuropäischen Ländern, z. B. in den USA, Kanada und Australien leben. Sie sind gesetzlich verpflichtet, sich in Bulgarien krankenversichern zu lassen, können aber aufgrund der geografischen Entfernung die bulgarische Versicherung nie in Anspruch nehmen. Die bulgarischen, in Europa lebenden Migrant*innen, können zumindest theoretisch von der Versicherung Gebrauch machen, da sie sich aufgrund der geringeren Entfernung häufiger in Bulgarien aufhalten als die Bulgar*innen, die in außereuropäischen Ländern leben. Die bulgarischen Migrant*innen in den USA sind überwiegend berufstätig. So können sie keinen Gebrauch von der Regelung machen, sich als Student*innen von der Versicherungspflicht in Bulgarien befreien zu lassen. Der Grund für diese Struktur der bulgarischen Migration in den USA, in der der Anteil der Berufstätigen überproportional hoch ist, liegt in der Tatsache, dass die europäischen Länder in den 1990er Jahren keine Arbeitsmigrant*innen aufnehmen bzw. eine sehr stark restriktive Politik in Bezug auf die Arbeitsmigration durchführen. Das motiviert die bulgarischen Migrant*innen, die sich als Arbeitsmigrant*innen begreifen, in die USA auszuwandern. Dabei nutzen sie das sogenannte „Green Card“-Programm der US-amerikanischen Regierung. Hingegen wandern die bulgarischen Bildungsmigrant*innen nach Deutschland ein, wo das Studium gebührenfrei ist und der Student*innenstatus Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht. Diese Besonderheit der bulgarischen Migration in den USA begünstigt die dortigen Proteste gegen die doppelte Versicherungspflicht unter den bulgarischen Migrant*innen. Es kommt zu Protesten der bulgarischen Staatsbürger*innen (Darik 2007; Dnevnik 2005), die in den USA leben. Sie machen Druck auf die bulgarische Regierung, die doppelte Versicherungspflicht abzuschaffen. Nach intensiven gesellschaftlichen und politischen Debatten wird im Jahr 2004 das Gesetz, in dem die Versicherungspflicht geregelt wird, dementsprechend geändert. Infolge dieser Änderung wird die Versicherungspflicht für Personen, die sich längerfristig und regulär im Ausland aufhalten und dort versichert sind, ausgesetzt. Allerdings erfolgt diese Aussetzung nicht automatisch. Sie bleibt weiterhin für die minderjährigen Bulgar*innen bestehen, die sich auf Kosten des Staates versichern lassen und zwar unabhängig davon, ob sie in
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Bulgarien leben oder nicht, bzw. in Bulgarien geboren wurden oder nicht. Die Migrant*innen müssen einen Antrag bei der Bulgarischen Nationalen Krankenkasse stellen und nachweisen, dass sie sich längerfristig und regulär im Ausland aufhalten und dort versichert sind. Der Aufenthalt wird durch die im Reisepass vorhandenen Aufenthaltsgenehmigungen nachgewiesen. Es handelt sich um ein bürokratisches Verfahren. Sollten die Migrant*innen keine Möglichkeit haben, den Antrag zu stellen, wird die Versicherungspflicht nicht ausgesetzt. Auf die Summe, die geschuldet wird, sind auch Zinsen fällig. Für die Bulgar*innen, die außerhalb Europas leben, ist diese Regelung weiterhin mit Komplikationen bürokratischer Art verbunden. Theoretisch kann der bulgarische Staat die Personen, die diese Zahlungen nicht beglichen haben, verklagen. Unter den bulgarischen Migrant*innen kursieren Gerüchte, dass sie an der Grenze festgesetzt und zur Ableistung dieser Zahlungen verpflichtet werden könnten. De facto sind solche Fälle in der Öffentlichkeit nicht bekannt. 2004 wurde in Bulgarien die Nationale Stiftung zur Behandlung kranker Kinder gegründet (Regierung 2004). Das Ziel dieser staatlich finanzierten Einrichtung, die vom Gesundheitsministerium der Republik Bulgarien verwaltet wird, ist es, Kindern, deren Krankheiten in Bulgarien nicht behandelt werden können, auf Kosten des Staates ins Ausland zu schicken, um dort behandelt zu werden. Die Auswahl der Kinder erfolgt nach einem Antrag von einer Fachkommission. Es handelt sich um eine staatlich kontrollierte Form der transnationalen medizinischen Behandlung. Nach dem Jahr 2007, nachdem Bulgarien EU-Mitglied wird, ändert sich die Lage. Wegen des EU-Beitritts gelten die bulgarischen Krankenversicherungen europaweit. Sie haben ihre Gültigkeit allerdings nur für Notfälle und für Personen, die sich nicht länger als drei Monate in einem anderen EU-Land aufhalten. Diese Regelung begünstigt die mobilen Personen (Autohändler*innen, Mitarbeiter*innen von Logistikunternehmen, Tourist*innen und Besucher*innen etc.), denn sie benötigen keine zusätzliche Versicherung für die Dauer ihres kurzfristigen Aufenthalts. Als EU-Mitglied muss Bulgarien die Europäischen Gesundheitskarte (EHIC) einführen. Nach den gültigen Regelungen sind die Inhaber*innen dieser Karte in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes in einem anderen EU-Land durch die einheimische Krankenversicherung finanziert (Nacionalna zdravnoosiguritelna kasa o. J.). Die Bulgarische Nationale Krankenkasse gibt die Karte allerdings nicht automatisch heraus; die Kund*innen müssen einen separaten Antrag stellen. Die Karte ist zudem lediglich für ein Jahr gültig. In Deutschland hingegen wird die EHIC-Karte allen Versicherten zur Verfügung gestellt, indem die Angaben der
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EHIC der nationalen Krankenversicherungskarte beigefügt werden. Ihre Gültigkeit entspricht der Gültigkeit der nationalen Versicherung. Die entsandten Arbeiter*innen und die mobilen Personen, die sich länger als drei Monate in einem EU-Land aufhalten aber keine dauerhafte Migration anstreben oder erreichen können, können das S-1-Formular der EU nutzen. Sie bleiben in der Herkunftgesellschaft versichert, müssen allerdings für die Kosten, die die bulgarische Versicherung in Deutschland nicht abdeckt, selbst aufkommen. In der Praxis haben allerdings viele Bulgar*innen, die in Bulgarien leben, keine Krankenversicherung. Ihre Anzahl wird im Jahr 2016 auf 1,39 Mio. geschätzt (Capital 2017). Die Bulgar*innen, die in Deutschland regulär unselbstständig erwerbstätig sind, unterliegen der allgemeinen Versicherungspflicht und werden automatisch von ihren Arbeitgeber*innen versichert. Wenn man sich Migrant*innen längerfristig in einem anderen EU-Land aufhalten, muss eine lokale Krankenversicherung abgeschlossen werden, die neben akuten auch chronische Erkrankungen und die Vorsorgeuntersuchungen abdeckt. In der Praxis haben viele Bulgar*innen, die sich in Deutschland in der Zeit von 2007–2014 aufhalten, nur eine bulgarische Krankenversicherung und das auch in den Fällen, in denen sie sich länger als drei Monate in Deutschland aufhalten. Unter den Interviewpartner*innen sind auch Personen, die die bulgarische Krankenversicherung genutzt haben oder gar keine Versicherung hatten. Bei einer Arbeitsmigration und bei einer unselbstständigen Beschäftigung wird der Versicherungsbeitrag von den Arbeitgeber*innen abgeführt. Eine Befreiung von der Versicherungspflicht ist in diesen Fällen nicht möglich, da die Versicherungsbeiträge vom Bruttogehalt abgezogen werden. Die Anzahl der Bulgar*innen, die in der Zeit von 2007–2014 in Deutschland unselbstständig beschäftigt wurden und Sozialversicherung bezahlten, erhöhte sich um 100 % (Hanganu et al. 2014). Diese Tendenz wird auch im Rahmen der durchgeführten Interviews festgestellt: Die meisten Interviewpartner*innen, die entweder studiert haben oder nicht selbstständig beschäftigt waren, hatten eine deutsche Krankenversicherung. Besonders in den Fällen, in denen die bulgarischen Migrant*innen irregulär beschäftigt sind und keine behördliche Anmeldung in Deutschland haben, können sie sich nicht versichern lassen. Sie haben auch nicht das nötige Einkommen, um das zu tun. „Mir war die Versicherung egal. Hauptsache ich hatte einen Job. Die war teuer. Warum musste ich sie denn abschließen? Ich wollte doch nicht krank werden. So habe ich gedacht. Und an einem Tag ist es passiert. Ich wurde auf der Baustelle verletzt und ich musste zum Arzt. Ich hatte gar keine Versicherung“ (I 68).
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In der Praxis kann nicht ermittelt werden, wann ein/e bulgarische(r) Staatsbürger*in nach Deutschland eingewandert ist. „Ich hatte damals eine bulgarische Versicherung. Ich war in Deutschland nirgendwo angemeldet. Wenn ich mal zum Arzt musste, habe ich gesagt, ich wäre vorgestern zu meinem Cousin nach Deutschland gekommen. Zu Besuch. Und der Arzt hat mich behandelt. Die bulgarische Versicherung hat bezahlt. Man kann ja nicht nachweisen, wann ich nach Deutschland gekommen bin. Wer soll das nachweisen? Ich bin gestern mit dem Auto gekommen – das kann ich ja immer sagen […] es hatte immer funktioniert […] jetzt habe ich aber eine normale deutsche Versicherung. Ich muss ja. Ich arbeite ganz normal“ (I 70).
Die Einreise wird lediglich an den Flughäfen kontrolliert. Die Kontrolle an der Landesgrenze erfolgt in den Schengen-Staaten Griechenland, Österreich oder Ungarn. Eine solche Kontrolle liefert allerdings keinen Nachweis, wann eine Person nach Deutschland gezogen ist. De facto bestehen kaum Kontrollmöglichkeiten, ob ein/eMigrant*in aus Bulgarien versichert ist oder nicht, obwohl die Krankenversicherungen in Deutschland seit dem 01.04.2007 verpflichtend sind (Bundestag 2007, § 5, Abs. 1). Dementsprechend hoch ist das Potenzial bei dieser Gruppe bulgarischer Migrant*innen oder mobilen Personen aus Bulgarien, sich nur in Notfällen behandeln zu lassen und zwar dort, wo sie sich gerade aufhalten. In einigen Fällen, z. B. bei Studierenden oder Selbstständigen können die Personen sich freiwillig versichern lassen. Von den Studierenden wird bei der Immatrikulation an einer Universität bzw. Hochschule der Nachweis über eine bestehende Krankenversicherung verlangt. Allerdings wird an einigen Universitäten auch die bulgarische Krankenversicherung anerkannt, obwohl sie lediglich die Behandlung in einem Notfall abdeckt. Dabei wird nicht kontrolliert, ob die Krankenversicherung nach der Immatrikulation weiterhin besteht. „Ich habe eine bulgarische Krankenversicherung, denn sie ist kostenlos bis zum 26. Lebensjahr. Ich zahle nichts. Letztes Jahr wurde ich aber 27 und keiner von der Uni hat gefragt, ob ich eine deutsche Versicherung abgeschlossen habe oder eine bulgarische habe. Sie wissen das gar nicht. Sie prüfen nur einmal – bei der Immatrikulation“ (I 72).
Bei den Rentner*innen gehen die behandelnden Ärzte und die Versicherungsinstitutionen davon aus, dass die jeweilige Person in ihrem Herkunftsland versichert ist. Der Bestand einer gesetzlichen Krankenversicherung im Ausland kann bei den Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums und bei Staaten, mit denen ein Sozialversicherungsabkommen besteht, angerechnet werden (Verbraucherzentrale 2018). Die bulgarischen Rentner*innen können im Falle einer Migration und einer
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behördlichen Anmeldung in Deutschland bei einer deutschen Krankenversicherung versichert werden. In der Regel machen das nur wenige, da die deutschen Krankenversicherungsbeiträge höher als die bulgarischen sind und die bulgarischen Renten deutlich geringer als die deutschen ausfallen. So lassen sich die bulgarischen Senioren, die sich längerfristig in Deutschland aufhalten aber in Bulgarien versichert sind, in einem Notfall in Deutschland behandeln. Die bulgarische Krankenversicherung übernimmt die Kosten dafür. Bei chronischen Erkrankungen fahren sie nach Bulgarien und lassen sich von einem bulgarischen Arzt vor Ort behandeln, so die Berichte der interviewten Personen.5 In der Praxis haben jedoch viele bulgarische Staatsbürger*innen, die in dieser Zeit in Deutschland leben und irregulär arbeiten, keine Versicherung – weder in Bulgarien, noch in Deutschland. Ein Teil der mobilen Bulgar*innen hat zwar Versicherungen in Bulgarien abgeschlossen, allerdings vor der Abreise vor allem aufgrund der mangelnden Information nicht die Herausgabe der EHIC-Karte beantragt. Somit können sie keinen Gebrauch von der Versicherung in Deutschland machen. Da in der Zeit von 2007–2014 die Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen, die sich in Deutschland aufhalten, zunimmt – das System der Genehmigung der Erwerbstätigkeit bleibt bis 2014 erhalten – ist anzunehmen, dass in dieser Zeit ein Teil der Bulgar*innen irregulär und unversichert in Deutschland beschäftigt wird. Insbesondere bei Personen, die auf Baustellen, in der Gastronomie oder in Schlachthöfen erwerbstätig sind, kommt es oft zu Verletzungen. Oft werden diese Verletzungen als „Notfälle“ behandelt, damit überhaupt eine Behandlung möglich ist. Mit der Zeit weigern sich deutsche Ärzt*innen, die Fälle, die nicht als Notfälle anerkannt werden, zu übernehmen, da sie die Kosten für die Behandlung nicht erstattet bekommen. Bulgar*innen, die in Deutschland versichert waren und nach Bulgarien zurückkehren, können laut Regelung N 88/1973 ihre Versicherung in Deutschland kündigen, Informationen über die Dauer des Aufenthalts, Beschäftigung und über die Versicherungszeiten im Formular E 104 eintragen lassen und ihre Versicherung in Bulgarien wiederherstellen. Viele Bulgar*innen, die sich in Deutschland aufgehalten haben, nutzen diese Möglichkeit bei der Rückkehr und erhalten wieder ihre bulgarische Versicherung (Nacionalna zdravnoosiguritelna kasa o. J.). Da die deutsche Versicherung deutlich teurer ist, kündigen sie diese und schließen eine bulgarische ab, auch wenn die Rückkehr nach Bulgarien von kurzer Dauer, z. B. bis zu 6 Monate, ist. Sollten diese Personen in dieser Zeit krank werden, zahlt die Nationale Bulgarische Krankenkasse für ihre Behandlung. Der Verlierer
5Vgl.
z. B. die Angaben von (I 12) über ihre Mutter.
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dieser Praxis ist die Nationale Bulgarische Krankenkasse. „According to the experts, in fact, the Bulgarian state throws all this money away for nothing, but there is no mechanism to prevent it’“ (Senior experts, Council of Ministers 2016, S. 4, zitiert nach Fingarova 2017). In dieser Periode werden weiterhin minderjährige Kinder und Personen bis zur Vollendung des 26. Lebensjahres, die studieren und bulgarische Staatsbürger*innen sind, automatisch bei der Nationalen Krankenkasse versichert. Da einige Minderjährige nach 2007 mit ihren Eltern nach Deutschland eingewandert sind oder in Deutschland geboren wurden, aber per Geburt bulgarische Staatsbürger*innen werden, haben sie sowohl eine bulgarische als auch eine deutsche Krankenversicherung. Nach dem Jahr 2007 ist zunehmend ein Unterschied zwischen dem Versicherungs- und Behandlungsort der Migrant*innen festzustellen. Von den bulgarischen Migrant*innen wird zunehmend praktiziert, dass sie sich teilweise in Bulgarien, teilweise in Deutschland behandeln lassen (I 35, I 16, I 31). Insbesondere bei Behandlungen, bei denen sie zuzahlen oder nachoperativ von Verwandten gepflegt werden müssen, wählen sie Bulgarien als Behandlungsort, obwohl die deutsche Versicherung diese Behandlungen in Bulgarien gar nicht oder nicht komplett abdeckt. Wohlhabende Bulgar*innen, die dauerhaft in Bulgarien leben, lassen sich in Deutschland als Privatpatient*innen behandeln. Es ist zu vermerken, dass es Bulgar*innen gibt, die in Bulgarien versichert sind, in Bulgarien leben, aber die medizinische Versorgung in Deutschland nutzen. Diese Möglichkeit ist immer vorhanden gewesen. Vertreter*innen der parteipolitischen Elite haben von der guten medizinischen Versorgung Deutschlands schon vor 1989 Gebrauch gemacht. In den ersten Jahren nach 1989 war es finanziell schwierig aber dennoch möglich, sich in einem deutschen Krankenhaus behandeln zu lassen: Nach individueller Bezahlung und Einladung von einem deutschen Krankenhaus bzw. von Verwandten, die in Deutschland leben und durch die ein Visum zum Zweck der medizinischen Behandlung ausgestellt werden kann, konnte eine Behandlung in Deutschland organisiert werden. Nach 2001 und insbesondere nach 2007 ist lediglich die finanzielle Hürde zu beachten. Aufgrund der steigenden Einkommen bestimmter sozialer Schichten in Bulgarien, ist die medizinische Behandlung gegen individuelle Bezahlung als Privatpatient in Deutschland möglich. Bulgarische Eltern, die ihren ständigen Wohnsitz in Bulgarien haben, lassen ihre Kinder in Deutschland impfen, operative Eingriffe vornehmen und chronische Erkrankungen behandeln. Es ist keine Statistik über die Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen, die in deutschen Kliniken behandelt werden, vorhanden. Sie ist auch nicht präzise zu ermitteln.
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Bei einem offenen Migrationsregime und bei ausreichenden finanziellen Möglichkeiten verbessern sich die Bedingungen für Transnationalität in den medizinischen Dienstleistungen. Viele transnationalen Praktiken im Bereich der medizinischen Versorgung sind nicht reglementiert. Die Transnationalität im Bereich der medizinischen Versorgung ist individuell, insofern das Individuum der Träger der Gesundheitsrechte und der Erkrankungen ist. Die Familie wird zum Teil dieses transnationalen medizinischen Versorgungssystems, wenn es sich um eine Familienversicherung handelt (in Deutschland sind die Kinder im Rahmen der Familien versichert). Bei der Auswahl der behandelnden Ärzt*innen werden die Familie und die Netzwerke mobilisiert; sie sind entscheidend für die Auswahl. Wenn eine Person krank ist und im Ausland behandelt werden muss, übernimmt die Familie die Kosten. Es ist damit eine Form der Transnationalisierung der Gesundheitsversorgung. Wenn Kranke über Staatsgrenzen hinweg versorgt und gepflegt werden müssen, handelt es sich um eine familiäre Transnationalisierung im Kontext der Migration. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Eine Transnationalisierung der medizinischen Behandlung ist in allen Perioden vorhanden. Vor 1989 bezieht sie sich auf eine kleine Gruppe von Menschen, die von den staatlichen Institutionen die Genehmigung erhalten haben, sich im Ausland aufzuhalten. Bis 1990 kann die Vorstellung, dass ein Mensch dort medizinisch behandelt wird, wo er auch lebt und arbeitet, in den meisten Fällen zutreffend sein. Nach 1990 pluralisiert sich die medizinische Versorgung: Es sind Menschen, die in der Lage sind zu bezahlen, um im Ausland behandelt zu werden. Es sind Migrant*innen, die verpflichtet werden, gleichzeitig in ihren Herkunftsländern und in ihren Aufnahmeländern versichert zu sein. Es sind Personen, die mobil sind und de facto in keinem Land versichert sind. Nach 2007 können weder der Bestand einer Versicherung noch der Aufenthalt eines/r bulgarischen Migrant*in von den Behörden in Bulgarien und Deutschland kontrolliert werden. Es besteht die Möglichkeit, dass ein/e Migrant*in in Bulgarien versichert ist, aber in Deutschland lebt und bei Bedarf medizinisch behandelt wird (z. B. Studierende, Selbstständige, Mobile, Honorarmitarbeiter*innen, irregulär Beschäftigte, Rentner*innen), in Deutschland versichert ist, aber in Bulgarien (z. B. im Fall einer zahnmedizinischen Behandlung oder wegen der bereits existierenden Netzwerke) behandelt wird. Es finden sich auch Migrant*innen ohne jegliche Versicherung; z. B. wird für Freiberufler*innen, irregulär Beschäftigte, Menschen mit niedrigerem Einkommen und mit geringerem Gesundheitsbewusstsein der Abschluss einer Krankenversicherung nicht als notwendig erachtet oder ist finanziell nicht verkraftbar. Wie verhält sich die Transnationalität im Bereich der gesundheitlichen Versorgung – dass man in einem Land versichert ist und in einem anderen Land
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behandelt wird – in den unterschiedlichen sozialen Schichten? Nach 2007 betrifft sie überwiegend die Menschen mit geringerem Einkommen. Selten bezieht sie sich auf die mobilen Expert*innen, die für kurze Zeit einwandern und ihre Versicherung „mitbringen“ (Expats), z. B. aus Ländern wie die USA, der Schweiz, China oder Singapur. Sie haben ihre bestehenden Versicherungszahlungen nicht abgebrochen, da sie nicht wissen, wie lange sie noch in Deutschland bleiben. Verlierer*innen der transnationalen Praktiken sind die Personen mit geringem Einkommen und irregulären Arbeitsverhältnissen, mit geringem Gesundheitsbewusstsein, mit geringer Bildung. Sie sind nirgendwo versichert, werden schlecht informiert und kennen ihre Rechte und Pflichten nicht oder nicht im ausreichenden Ausmaß. Die Mobilität und Transnationalität sind für sie nicht mit Chancen, sondern auch mit Risiken verbunden. Gewinner*innen sind die Personen mit hohem Einkommen, die überall versichert werden können, die aber keine Versicherung brauchen, da sie eine medizinische Behandlungen bei Bedarf selbstständig finanzieren können. Sie können auch ohne Versicherung das ‚teure‘ und ‚gute‘ deutsche Gesundheitssystem nutzen und in privaten gesundheitlichen Einrichtungen in Bulgarien behandelt werden. Die Personen, die abhängig beschäftigt sind und in Deutschland leben, haben auch gute Möglichkeiten in Deutschland behandelt zu werden und bei Bedarf auch das bulgarische System komplementär zu nutzen. Die Bulgar*innen, die in Bulgarien leben und nicht transnational agieren, haben kaum Kenntnisse und können das deutsche System nicht nutzen, da ihnen das Wissen und die Netzwerke fehlen. Institutioneller Verlierer dieser Form der sozialwirtschaftlichen Transnationalität ist die Bulgarische Nationale Krankenkasse. Sie übernimmt die Kosten für die Behandlungen der bulgarischen Versicherten, die sich länger als 3 Monate im Ausland aufhalten, aber behaupten, dass sie vor kurzer Zeit aus Bulgarien ausgereist sind und sich nur kurzfristig im EU-Ausland aufhalten. Da die Kassen durch den bulgarischen Staatshaushalt subventioniert werden, sind die Kontrollmechanismen nicht strikt genug, um diesen Missbrauch zu vermeiden. Für die deutschen Krankenkassen ist diese Transnationalisierung der medizinischen Versorgung nicht unbedingt von Nachteil: Die Personen, die bei ihnen versichert sind, können auch in Bulgarien zahnmedizinisch versorgt werden; dabei können sie behaupten, es handele sich um einen Notfall. In diesem Fall muss die jeweilige deutsche Krankenkasse die Kosten für die Behandlung übernehmen. Die Behandlung in Bulgarien ist aber im Vergleich zur Behandlung in Deutschland günstiger. Auch bulgarische Rückkehrer*innen, die dauerhaft in Bulgarien wohnen, behalten zum Teil ihre deutsche Krankenversicherung und zahlen Versicherungsbeiträge. Bei Bedarf lassen sie sich in Deutschland behandeln.
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Eine staatliche oder überstaatliche Kontrolle dieser sozialen Praktiken ist de facto nicht durchführbar, da innerhalb der EU keine Möglichkeit besteht, nachzuweisen, welche Person sich in welchem Land für wie lange aufhält bzw. der Nachweis auf den freiwilligen Angaben der Personen beruht, die in manchen Fällen von den tatsächlichen Werten abweichen können. Die Unterschiede in den Leistungen der Krankenkassen und in den Preisen der Krankenversicherung innerhalb der EU sind politisch gesehen ein großes Problem. Eine schrittweise Angleichung der Leistungen und der Versicherungsbedingungen wäre notwendig, sodass in ganz Europa der/die Arzt/Ärztin von den Patienten frei gewählt werden kann und die Krankenkasse, bei der man versichert ist, diese Leistung bezahlt. Solange die Krankenkassen national operieren, werden sie von der Realität der Transnationalisierung überholt. Die gelebte Praxis der Migrant*innen zeigt Lücken im Versicherungswesen auf, die nur durch ein europäisches Versicherungssystem geschlossen werden könnten. Bulgarische Krankenkassen könnten diese Diskussion anstoßen, da die Kosten für die Behandlung der bulgarischen Versicherten im Ausland höher als die Kosten der deutschen Krankenkassen für die Behandlung deutscher Patienten in Bulgarien sind. Da es sich bei der bulgarischen Nationalen Krankenkasse um eine staatlich finanzierte Krankenkasse handelt, sind die Zuständigen nicht motiviert, sich aktiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die deutschen Kassen profitieren von dieser Praxis, da sich bulgarische Staatsbürger*innen bei ihnen versichern aber in Bulgarien behandelt werden; dabei tragen sie die Kosten dieser Behandlung oft privat. Die bulgarischen Migrant*innen, die in Deutschland leben und versichert sind, sind in der Regel jünger und gesünder als die Durchschnittsbevölkerung Bulgariens. Es gibt kaum Deutsche, die eine deutsche Versicherung haben und in Bulgarien behandelt werden, da die Versorgung schlecht ist und man mit längeren Wartezeiten rechnen muss. Für die bulgarischen Migrant*innen, die nicht in Deutschland versichert sind, aber dauerhaft in Deutschland leben, handelt es sich um ein Risikospiel – es ist nicht klar, wann eine Behandlung von einem Arzt/einer Ärztin verweigert wird und es sich um keinen Notfall handelt. Doch mit der Zeit, so meine Prognose, werden weniger Migrant*innen unversichert sein. Obwohl die Regulierung auf europäischer Ebene vorhanden ist, stellen diejenigen Personen das größte Problem dar, die weder in Bulgarien noch in Deutschland eine Versicherung haben. Dieser Befund wird auch in der Analyse von Fingarova bestätigt: „Although the portability of healthcare benefits in both directions is clear, the main problem, according to experts, is the number of mobile EU citizens from
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Bulgaria who do not have health insurance in either Bulgaria or Germany“ (Fingarova 2017, S. 4)6. Der Migrations- und Transnationalisierungsrealität steht ein staatliches System gegenüber, das immer noch in nationalstaatlichen Grenzen operiert und bei der Übertragung von Versicherungsleistungen außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen unflexibel ist. Die sozialen Akteur*innen nutzen die Möglichkeit der besseren medizinischen Versorgung auch außerhalb der Staaten, in denen sie versichert sind. Die Personen, die im Bereich der medizinischen Versorgung nicht transnational agieren, sind die Personen, die in der Zeit des Sozialismus als „feindliche Emigrant*innen“ stigmatisiert wurden, Bulgarien verlassen haben und in Deutschland Asyl gesucht haben. Daneben die Nicht-Mobilen, d. h. all diejenigen, die Bulgarien nicht verlassen können, da ihnen die Ressourcen fehlen. Selbst die klassischen Migrant*innen, die in Deutschland leben, arbeiten und regulär versichert sind, agieren gelegentlich transnational. Die Migration ist keine notwendige Voraussetzung der Transnationalität – auch Personen, die nicht migrieren, können sich transnational behandeln lassen. Die Transnationalität in der medizinischen Versorgung stellte in allen Perioden eine Option dar, wobei zu dieser lediglich eine privilegierte Schicht Zugang hat. Gewinner*innen dieses Systems der zunehmenden Transnationalisierung der gesundheitlichen Versorgung sind die klassischen Migrant*innen, die in Deutschland versichert sind, sich aber in Bulgarien zahnmedizinisch behandeln lassen können. So sind sie auch im Gegensatz zu deutschen Patient*innen besser gestellt, da sie sich sowohl in Deutschland als auch in Bulgarien behandeln lassen können. Die deutschen Patient*innen hingegen verfügen nicht über die notwendigen Netzwerke und Kenntnisse, um sich in Bulgarien behandeln zu lassen. Die Verlierer*innen sind die Migrant*innen, die irregulär beschäftigt werden und nicht versichert sind oder nur eine bulgarische Versicherung haben, die aber in einigen Fällen nicht anerkannt wird. Auch die mobilen Wissenschaftler*innen, die ihre Versicherung nicht fortführen können, da z. B. nach dem Post-Doc-Stipendium die Kosten nicht bezahlbar sind oder zur Wiederherstellung ihrer bulgarischen Versicherungsrechte Gebühren bezahlt werden müssen, gehören zu den Verlierer*innen (vgl. I 30). Hingegen gehören die Expats, die gut verdienen, und es sich leisten können, ihre Versicherung mitzunehmen, zu den Gewinner*innen dieses Systems. In der Zeit der zunehmenden Migration, Mobilität und Öffnung der Grenzen, ist die
6Ausführlicher
zum Thema der transnationalen Übertragbarkeit gesundheitsbezogener Leistungen im Versicherungswesen vgl. Fingarova 2019, S. 126–130.
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Transnationalisierung der medizinischen Leistungen und der Sozialwirtschaft von zunehmender Bedeutung. Die Akteure, die in den Transnationalisierungsprozessen involviert sind, haben das Potenzial, auf Dauer einen Druck auf die europäische Politik auszuüben; dadurch kann längerfristig eine einheitliche europäische Kranken- und Pflegeversicherung eingeführt werden.
10.4 Transnationalisierung der Kultur Internationale Verbindungen im Bereich der Kultur hat es auch im Rahmen der geschlossenen Systeme der sozialistischen Gesellschaften gegeben: Bücher bestimmter Autoren (z. B. Erich-Maria Remarque, Günter Wallraff), Kinderbuchautoren (Karl May, Erich Kästner) wurden ins Bulgarische übersetzt, das Fernsehballett der DDR war Gast bei den bulgarischen Fernsehsendungen, ostdeutsche Regisseur*innen leiteten Vorstellungen in bulgarischen Theatern und die Bulgarische Staatsoper gastierte in der DDR. Im Rahmen der Ostblock-Partnerschaften hatte die Internationalisierung eine wichtige Bedeutung. So gab es in Sofia ein Kulturzentrum der DDR; auch in der DDR wurden Kultureinrichtungen Bulgariens eröffnet. Das Komitee für Wissenschaft, Kunst und Kultur der Republik Bulgarien hatte die Verantwortung dafür, die Kunstwerke nach ihrer Ideologiekonformität zu überprüfen. Die an die Ideologie angepassten Kunstwerke bekamen Zugang zur Öffentlichkeit und die „ideologiefernen“ Kunstwerke wurden de facto zensiert (Elenkov 2008, S. 137 ff.). Insgesamt blieb die zugelassene bulgarische Kultur in der Zeit des Sozialismus ideologiekonform und überwiegend auf den Raum des Ostblocks bezogen. Eine Überwindung dieser Verschlossenheit erfolgte in der Zeit der Kulturministerin und Tochter des Parteivorsitzenden der Bulgarischen Kommunistischen Partei Todor Zivkov Lyudmila Zivkova. Weltbekannte Schriftsteller*innen, Maler*innen und Musiker*innen wurden 1981 anlässlich des 1300-Jubiläums der Gründung des ersten bulgarischen Staates im Jahr 681 eingeladen. Aufgrund der privaten Affinität Zivkovas zu ostasiatischen Kulturformen und Lehren, wird in ausgewählten Kreisen der Zugang zur Esoterik und ostasiatischen Mystik möglich. Ausgewählte und Zivkova nahestehende Kulturträger wie der Historiker Alexander Fol, der Schriftsteller Bogomil Raynov, der Maler Svetlin Russev, der Dichter Lyubomir Lewtschew u. a. verfügen über den Zugang zu einem Finanzfond in Höhe von 10 Mio. US$ (Konrad-Adenauer-Stiftung Bulgarien 2014). Abgesehen von dieser Periode, die sich auf Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre bezieht, war die bulgarische Kultur sehr geschlossen.
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Nach 1989 änderte sich der Makrorahmen, der die bulgarische Kultur geprägt hatte: Sie war befreit vom engen Korsett des „sozialistischen Realismus“, litt aber unter Finanzierungsproblemen, die aus der allgemeinen Wirtschaftskrise resultierten. Die Vermittlung von Kulturleistungen wird seit den 1990er Jahren von Privatimpressarien übernommen, während die Initiative bei den Privatpersonen und nicht mehr beim Staat liegt. Die bulgarische Operette war im Jahr 2000 in Deutschland auf Tour. Große bulgarische Musiker*innen gastierten in deutschen Opernhäusern wie die Opernsängerin Alexandrina Pendatschanska in Baden-Baden oder Sonya Yontscheva in Dresden. Der bulgarischstämmige Schauspieler Samuel Finzi spielt in der deutschen Serie „Tatort“. Bulgarischstämmige Autoren wie Sybille Lewitscharow („Apostoloff“), Dimiter Ginev („Engelszungen“) erzielten Aufmerksamkeit in Deutschland. Bulgarische Schauspieler*innen und Musiker*innen kommen auf Einladung der bulgarischen Community nach Deutschland, so z. B. die Rock-Band „Fondacijata“ in Hamburg, „Signal“ in Karlsruhe und in Münster, die Schauspieler Assen Blatetschki und Kalin Vrachanski in Frankfurt am Main u. v. a. Sehr intensiv ist die Transnationalisierung im Hinblick auf Übersetzungen, Kino und Theater.
10.4.1 Transnationalisierung des Bildungswesens Das nächste Feld der Transnationalität bezieht sich auf die Bildungsmigration. Transnationalität im Bereich der Bildungsmigration ist dann vorhanden, wenn eine Person in unterschiedlichen Ländern einzelne Bildungsabschlüsse erreicht. Idealtypisch gehen die Bildungssysteme von einer Bildungshomogenität aus: Eine Person absolviert alle Bildungsstufen in dem Staat, in dem sie geboren wurde. Nach dem Ende der Bildungsphase tritt die Person eine Erwerbstätigkeit an; in Anschluss daran geht sie in Ruhestand. Diese idealtypische Vorstellung trifft für die meisten Individuen zu und ist aus der Perspektive der staatlichen Regierungsinstitutionen weiterhin sehr relevant. Allerdings gab es in allen Epochen bildungsmobile Personen, die außerhalb ihres Wohnortes oder Nationalstaates ausgebildet wurden. In der Zeit der Moderne haben wohlhabende Eltern ihre Kinder zum Studium ins Ausland geschickt. Auch Bulgar*innen haben Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Kinder im Ausland studieren lassen. Mit der Professionalisierung der Bildung im Zuge der Moderne, der Nationalstaatsgründung gehen Prozesse der Formalisierung und Bürokratisierung des Bildungssysteme einher. Der Zugang zur Bildung ist mit der Anerkennung der vorher erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten verbunden, die durch den Erwerb von Zeugnissen und Diplomen nachgewiesen werden. Diese Anerkennung ist
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nicht migrationsspezifisch – sie gilt auch für die Personen, die nicht migrieren und die im Rahmen der nationalstaatlichen Bildungssysteme ihre Qualifizierung erwerben. Solange der Erwerb höherer Bildungsgrade innerhalb ein- und desselben nationalstaatlichen Kontextes passiert, ist die Anerkennung von Bildungsabschlüssen nationalstaatlich geregelt und verläuft relativ unproblematisch. Die Prozesse der Anerkennung von Bildungsabschlüssen ist ein Teil der legitimen symbolischen Macht des Staates (Bourdieu 1988). Die individuellen Fähigkeiten werden an einem allgemeingültigen Standard gemessen, der von den staatlichen Institutionen herausgearbeitet wird. Wenn ein Bildungsabschnitt im Ausland oder in einer ausländischen Bildungseinrichtung im Inland (z. B. Französisches Gymnasium, Englisches Gymnasium, American College etc.) absolviert wird, ist diese Bildung transnational. In diesem Fall beruht der Zugang zur Bildung auf einem transnationalen Anerkennungsprozess – die doppelten Diplome der Schüler*innen, die ein fremdsprachiges Gymnasium absolvieren, sind ein Beispiel für die Transnationalität. Auch wenn diese Schüler*innen keine Migrant*innen sind, sondern in ihrem Herkunftsland einen Bildungsabschluss erwerben, werden sie Besitzer*innen von zwei Diplomen – z. B. von einem bulgarischen und einem deutschen, französischen, englischen oder amerikanischen. Die Ausstellung doppelter Diplome ist de facto eine Teilung der objektivierenden symbolischen Macht von zwei Nationalstaaten und in diesem Sinne per se transnational. Im Folgenden wird anhand empirischer Beispiele gezeigt, wie die Transnationalisierung der Bildung sich konkret darstellt. Beispiel 1: Die ausländischen Schulen und Universitäten in Bulgarien Die Transnationalität der Bildungspraktiken ist nicht nur mit der Migration der Personen, die gebildet werden, verbunden. In vielen Fällen „migrieren“ die Bildungseinrichtungen: Das Deutsche, Französische, Englische Gymnasium in Sofia, das Amerikanische College in Sofia, die Amerikanische Universität in der Stadt Blagoevgrad im Südwesten Bulgariens, die Vertretung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Bulgarien oder die „deutsche“ Fakultät an der TU Sofia sind Beispiele für diese Quasi-„Migration“ der Bildungseinrichtungen. Schon in der Zeit vor 1944 gibt es deutschsprachige und auch amerikanischsprachige Schulen in Bulgarien, z. B. das American College of Sofia und die konfessionelle „Santa Maria“ Schule7.
7Avstrijskoto
katolichesko uchiliste ‚Santa Maria‘ Sofia (2011).
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Nach der politisch motivierten Schließung der Sprachschulen nach dem 09.09.1944 begreift die kommunistische Elite die Notwendigkeit, einen parteitreuen Kader zu bilden, um sie als Diplomat*innen oder Handelsvertreter*innen im Ausland einzusetzen. Dies beeinflusst die Eröffnung verschiedener Sprachschulen. Das erste fremdsprachige Gymnasium in Bulgarien nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Stadt Lovetsch eröffnet (Stadt Lovetsch 2016). Die Eröffnung deutschsprachiger Schulen erfolgt in der Zeit von 1945-1989 in enger Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium der DDR. In diesen Schulen arbeiten abgeordnete Lehrer*innen aus der DDR, die oft mit Bulgar*innen verheiratet sind und in Bulgarien leben. Teilweise erfolgt der Unterricht nach Schulbüchern, die in der DDR entwickelt wurden. Die Absolvent*innen haben zumindest teilweise die Perspektive, an DDR-Universitäten zu studieren. Die „Karl Marx“ Universität Leipzig, die TU-Dresden und die Humboldt-Universität zu Berlin gehören zu den Universitäten, die in der damaligen Zeit in Osteuropa hoch angesehen sind. Der Zugang zu diesen Bildungseinrichtungen wird im Rahmen von bilateralen kulturellen Gesprächen beschlossen und ist Bestandteil staatlicher Politiken und Regulierungen. Der Zugang zu diesen Bildungsmöglichkeiten ist streng reglementiert; eine Bewerbung ohne die Zustimmung der bulgarischen Behörden ist nicht möglich. In diesem Sinne handelt es sich in dieser Periode weniger um eine ‚Transnationalisierung‘, sondern vielmehr um eine ‚Internationalisierung‘ der Bildung. Dabei verläuft diese Internationalisierung nicht in beide Richtungen gleich intensiv. In der DDR existierte seit 1966 lediglich eine bulgarische Schule, die sich in Ost-Berlin befand und vor allem von Kindern bulgarischer Diplomat*innen besucht wurde (Bulgarische Schule in Berlin o. J.). Die Student*innen für Slawistik in der DDR lernten Bulgarisch im Rahmen von Sprachkursen, wobei es sich um eine kleine Minderheit von ostdeutschen Student*innen handelt. Die meisten Slawistik-Studenten bevorzugten es, Russisch zu lernen und nach Möglichkeit ein Auslandsstudium in der UdSSR zu wählen. Diese Praxis ändert sich nach der Wende im Jahr 1989 nicht. Die bulgarische Sprache ist eine kleine Sprache, und die Slawistik-Student*innen bevorzugen es weiterhin, Russisch, Serbisch, Kroatisch oder Polnisch zu lernen. Nach der Wende etabliert sich eine andere Praxis – in Bulgarien beginnen deutsche Student*innen, die aufgrund der NC-Klausel an deutschen Hochschulen nicht aufgenommen wurden, ihr Studium. Nach zwei oder drei Jahren können sie an einer deutschen Hochschule einen Studienplatz bekommen, da sie im gleichen
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Fach im Ausland immatrikuliert wurden. Dabei handelt es sich allerdings um Einzelfälle. Nach der Wende erhöht sich in Bulgarien die Anzahl der Schulen mit einem Fremdsprachenzug. Diese Schulen werden teilweise von den jeweiligen Nationalstaaten (im konkreten Fall von Deutschland) unterstützt; in manchen Schulen besteht die Möglichkeit, ein Diplom zu erwerben, das zu den Diplomen, die in Deutschland erworben werden können, äquivalent ist. Parallel mit den Bildungseinrichtungen „migrieren“ die „Vorbereitungseinrichtungen“ – Institute, die die Sprache und die Kultur der jeweiligen Länder näher bringen, z. B. das Institute-Francaise, das Goethe-Institut, das Institut Servantes und das British Council. Parallel mit den privaten Anbietern, schaffen diese Institutionen ein transnationales kulturelles Feld. Die Tätigkeit dieser Einrichtungen kann als „Soft Power“ (Nye 2004) bezeichnet werden – als eine intellektuelle Machtausübung, als ein Einfluss der Worte, der Bilder, der Geschmacksrichtungen, durch den die „westlichen Werte“ verbreitet werden. Nicht zufällig wurde ausgerechnet das Bristish Council in Russland infolge der diplomatischen Krise zwischen Großbritannien und Russland im März 2018 geschlossen. Ein Teil der „Soft Power“ ist mit der Unterstützung von Bibliotheken, Filmotheken, Musik, Presse, Seminaren zu bestimmten Themen, Konferenzen, Übersetzungen, Theatervorführungen etc. verbunden. Beispiel 2: Studium außerhalb Bulgariens Der Bildungsaustausch zwischen Bulgarien und Deutschland hat eine lange Geschichte. Im 19. Jahrhundert studieren bereits Bulgar*innen an deutschen Hochschulen. In der Zeit von 1945–1989 ist der Bildungsaustausch kein Ergebnis individueller Strategien oder konkreter, gezielter Familienplanung. Die Möglichkeit, im Ausland ausgebildet zu werden, wird lediglich der parteitreuen Nomenklatura angeboten. Nach 1989 wird dieses transnationale Feld individuell gestaltet. Die Möglichkeiten, sich zu bewerben und im Ausland zu studieren, sind zahlreich. Der Zugang zum Studium unterliegt keiner politisch oder ideologisch motivierten Kontrolle. Lediglich die Anerkennung der Bildungsabschlüsse, der Zulassungsbescheid einer deutschen Hochschule und die finanziellen Möglichkeiten der Familien spielen eine Rolle für die Aufnahme eines Studiums im Ausland. Der Zugang zum Studium ist nach einem bestandenen Deutsch-Sprachtest und nach einem Gymnasialabschluss möglich. Aufgrund der wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Bulgarien und Deutschland ist die finanzielle Absicherung
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der bulgarischen Student*innen in Deutschland in der Praxis nicht immer einfach. Die bulgarischen Familien verkaufen Eigentum oder nehmen Kredite auf, damit sie ihre Kinder finanziell unterstützen können. Das Geld wird auf einem Bankkonto in Deutschland eingezahlt und dient als „Bürgschaft“. In der Zeit von 1990–2007 stellt die Hochschulbildung die am stärksten verbreitete Form der Migration von Bulgar*innen nach Deutschland dar. Der Zugang zu dieser Form der Migration ist ein Ergebnis transnationaler Familienstrategien. In einigen Fällen werden die Eltern, die in Bulgarien leben, von ihren in Deutschland studierenden Kindern finanziell unterstützt: Sie überweisen Geld nach Bulgarien, sobald sie ein gesichertes Einkommen in Deutschland haben. Nach dem Ende des Studiums wird die ‚Investition‘ in Bildung den Eltern ‚abbezahlt‘ – die ehemaligen Student*innen unterstützen ihre Familien in Bulgarien und finanzieren ggf. das Studium ihrer jüngeren Geschwister. Nach 2007 nimmt aufgrund der erleichterten Anerkennung der Diplome und Zeugnisse im Rahmen der EU die Anzahl der transnationalen Bildungsmigrant*innen aus Bulgarien zu. Mit der Abnahme der Anzahl der bulgarischen Student*innen in Deutschland geht eine Zunahme der Anzahl der Auszubildenden einher. Die deutschen dualen Ausbildungssysteme werden nach 2007 für bulgarische Staatsbürger*innen geöffnet. „Erasmus“-Programme und Austauschprogramme auf universitärer Ebene werden von europäischen oder deutschen Stiftungen unterstützt. In der EU wird die Bildungsmobilität sowohl von den einzelnen Mitgliedsstaaten als auch von den europäischen Institutionen gefördert. Durch Programme wie „Erasmus“, „Erasmus Plus“, „Tempus“, „Phare“ und durch verschiedene Stipendien zur Förderung der Bildungsmobilität wird die Bildungsmobilität auf allen Ebenen gezielt gefördert. Studium, Schulbildung oder Ausbildung im Ausland sind in Bulgarien nach 2007 weit verbreitet. Die Gründe dafür können im ständig steigenden Lebensstandard in Bulgarien nach dem E U-Beitritt gesehen werden. Trotz der existierenden sozialen Ungleichheiten können es sich immer mehr Menschen erlauben, das Studium oder die Schulbildung ihrer Kinder auch im Ausland zu finanzieren. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens ändert sich das Profil der bulgarischen Studierenden in Deutschland. In der Zeit von 1990–2007 ist das Studium unter anderem auch eine Möglichkeit, sich Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu verschaffen. In dieser Zeit studieren in Deutschland viele Staatsbürger*innen Bulgariens, die nicht das Ziel verfolgen, das Studium abzuschließen, sondern das Recht zu erwerben, sich regulär in Deutschland aufzuhalten. In dieser Periode studieren die bulgarischen Bildungsmigrant*innen gleichzeitig in Bulgarien und in Deutschland, was als eine Form der Absicherung und als eine gezwungene Transnationalisierung angesehen werden kann.
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Nach 2001 und insbesondere nach 2007 ändern sich die Einstellungen der bulgarischen Migrant*innen zum Studium. Die Studierenden aus Bulgarien wandern nach Deutschland ein, ausschließlich um zu studieren. Die Notwendigkeit, durch die Immatrikulation als Student*in den eigenen Aufenthaltsstatus zu gewährleisten, ist nicht mehr gegeben. Die Möglichkeit, während des Studiums eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, spielt dabei keine Rolle: Der Student*innenstatus wird nicht zu einer verdeckten Erwerbstätigkeit genutzt. Auch wenn einige Studierende während des Studiums erwerbstätig sind, ist die Erwerbstätigkeit nicht das primäre Ziel ihres Aufenthaltes in Deutschland. Diese Veränderungen führen zu einer Umgestaltung des Studienverlaufs: Die bulgarischen Student*innen studieren oft zwei unterschiedliche Fachrichtungen – die eine in Bulgarien als Bachelor und die andere in Deutschland als Master. Gründe für diese Veränderungen sind: • Der EU-Beitritt Bulgariens führt zu einer leichteren Anerkennung der Bildungsabschlüsse. Dies ermöglicht die unmittelbare Fortsetzung des Studiums in Deutschland nach dem Bachelor-Abschluss in Bulgarien. Die Anerkennung der vorher erbrachten Bildungsleistungen steht im direkten Zusammenhang mit der konkreten Staatsangehörigkeit der Bewerber*innen – Zeugnisse werden aufgrund der Nationalität der Bewerber*innen den deutschen Zeugnissen als gleichwertig oder nicht gleichwertig eingestuft. In Bezug auf die Staatsangehörigkeit werden Bildungsabschlüsse und Zeugnisse komplett, teilweise oder gar nicht anerkannt. • Durch die Bologna-Reform werden komplette Module der Student*innen verglichen und anerkannt. Dadurch werden die nationalen Besonderheiten der Bildung teilweise ausgeklammert, der Zugang der Student*innen zu den internationalen Bildungseinrichtungen allerdings vereinfacht. • Der EU-Beitritt Bulgariens führt zu einer Intensivierung des Bildungsaustauschs und insbesondere des Erasmus-Austauschs. • Der EU-Beitritt führt zur Steigerung des Lebensstandards in Bulgarien – die Europäischen Strukturfonds und die direkten Investitionen aus dem Ausland haben eine positive Wirkung auf das Einkommen der Bulgar*innen: Immer mehr bulgarische Familien können das Studium ihrer Kinder im Ausland finanzieren • Die Netzwerke, die von den Bildungsmigrant*innen vorheriger Generationen aufgebaut wurden, machen den Weg für die neuen Bildungsmigrant*innen frei; dadurch wird die Bildungsmigration einfacher.
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• Das Recht auf Erwerbstätigkeit der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland wird nach 2007 und insbesondere nach 2014 vom Student*innenstatus unabhängig. Das Studium wird nur für die Personen interessant, die die Absicht haben, es abzuschließen. Dabei liegt ihre Motivation nicht darin, kurzfristig Arbeitsmöglichkeiten zu finden, sondern längerfristig, nach dem Ende des Studiums, einen Zugang zu besser bezahlten und qualifizierten Arbeitsstellen in Deutschland bzw. in Europa zu erhalten. • Durch den EU-Beitritt ist auch die Möglichkeit, Zugang zum dualen Bildungssystem zu bekommen, vereinfacht worden. Da die Ausbildungsaufnahme mit einem, wenn auch eingeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt verbunden ist, unterliegt sie besonderen Regulierungen und wird ausländischen Staatsbürger*innen nur dann ermöglicht, wenn keine Bewerber*innen aus Deutschland vorhanden sind. • Das deutsche Bildungssystem öffnet sich für die Internationalisierung. Die Prozesse der Internationalisierung werden bewusst und gezielt gestaltet – es werden Studiengänge in englischer Sprache angeboten, Beratungs- und Betreuungsstellen für Student*innen und Dozent*innen ausländischer Herkunft, die an deutschen Hochschulen lernen und lehren, eingerichtet etc. • Die transnationalen Bildungsmöglichkeiten werden zunehmend vermarktet: Privatfirmen bereiten Unterlagen vor, beraten Bildungsmigrant*innen, melden Student*innen an, bieten Beratung vor Ort, vergeben Stipendien, bieten Betreuung während der ersten Wochen des Aufenthaltes im Ausland an etc. Informelle Gruppen der bulgarischen Studierenden in Deutschland, die im sozialen Netzwerk Facebook aktiv sind, bieten transnationale Beratung an; eine ganze ethnische Ökonomie der in Deutschland bereits ansässigen Bulgar*innen begleitet, berät und hilft den neu Zugewanderten bei der Wohnungssuche, bei der Eröffnung von Konten und bei der behördlichen Anmeldung. Die informellen Gruppen zur Unterstützung der Bulgar*innen in Deutschland spielen eine wichtige Rolle in allen Lebensphasen und -lagen der Migrant*innen. Eine transnationale Ökonomie für die Unterstützung der Bulgar*innen im Ausland entsteht in Bulgarien und in den jeweiligen Einwanderungsländern. • Nach dem Abschluss der Ausbildung müssen die Migrant*innen, die zurückwandern, ihre im Ausland erworbenen Diplome anerkennen lassen. Besonders die sogenannten „reglementierten Berufe“ unterliegen einem Anerkennungsverfahren und unterschiedlichen Auflagen. In der Regel ist die Anerkennung der Zeugnisse, die nach dem EU-Beitritt erworben wurden, vergleichsweise einfach. Kompliziert ist hingegen die Anerkennung von Abschlusszeugnissen, die vor 2007 erworben und erstellt wurden.
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Nach 2007 und insbesondere nach 2014 ist eine gegenläufige Transnationalisierung festzustellen: Die bulgarische Migrant*innencommunity in Deutschland gründet bulgarische Bildungseinrichtungen. Sie sind komplementär und ergänzen das deutsche Schulsystem. Sie sind unabhängig, werden nur teilweise vom bulgarischen Bildungsministerium anerkannt und finanziell unterstützt. Das Ziel ist, den bulgarischstämmigen Kindern, die in Deutschland geboren wurden und aufwachsen, die bulgarische Sprache und Geschichte Bulgariens beizubringen, die Kontakte unter den erwachsenen Migrant*innen aufzubauen, für die Migrant*innen relevante Informationen auszutauschen und Freizeitaktivitäten anzubieten. Obwohl die Bildungserfolge einer Person als Ergebnis der individuellen Leistungen angesehen werden, ist die Bildungsmigration im höchsten Ausmaß eine transnationale Familienmigration. Die Kinder erhalten Zugang zu den Netzwerken ihrer Eltern, werden von den Eltern unterstützt, ihre Motivation zu studieren wird entscheidend von der Familie beeinflusst; Nachhilfe, Erwartungen und Finanzierung der Bildung sind familiär bedingt. Die Finanzierung der Bildung im Ausland wird durch die Familie, die in der Regel in der Herkunftsgesellschaft lebt, gewährleistet. Ohne die finanzielle Unterstützung der Familie, die im Ausland lebt, wäre die Bildung eines/r Migrant*in sehr schwierig oder gar nicht möglich. Der größte Teil der Vorhaben einer Bildungsmigration wird von den Familien unterstützt. Es handelt sich um eine transnationale Familiensolidarität. Die Motive dieser Familiensolidarität sind unterschiedlich: Sie kann als eine Quasi-Rentenversicherung angesehen werden – die Eltern unterstützen ihre Kinder, damit die Kinder, wenn sie einen guten Beruf erwerben, ihren Eltern behilflich sind, die wiederum das Rentenalter erreicht haben und eine geringe Rente beziehen. Dabei werden sie im Rahmen der Generationensolidarität das zurückzahlen, was sie bekommen haben. Sie kann aber auch als eine Ressource angesehen werden, um Anerkennung in Bulgarien bzw. um ein symbolisches Kapital zu erhalten. ‚Mein Sohn studiert in Heidelberg‘, ist eine Aussage, die mit hohem Ansehen verbunden ist; es ist ein Zeichen des Erfolgs – nicht nur des Kindes, sondern der gesamten Familie, die es geschafft hat, den Bildungserfolg zu ermöglichen; es ist auch ein Zeichen der finanziellen Möglichkeiten der Familie, die in der Lage ist, das Studium an einer ausländischen Universität zu bezahlen. Sie kann auch Ausdruck einer Familientradition sein: Kinder ehemaliger Schüler*innen des Deutschen Gymnasiums; Enkelkinder, deren Großeltern in Deutschland studiert haben; Bulgar*innen, die in Deutschland gelebt und gearbeitet haben; Kinder binationaler Ehen gehören zu den Eltern, die am häufigsten ihre Kinder zum Studium nach Deutschland schicken. Sie können die finanziellen und symbolischen Vorteile dieser Entscheidung besser
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einschätzen. Aufgrund ihrer Erfahrung beginnen sie ihre Kinder in einem frühen Alter zweisprachig zu erziehen: Sie bezahlen Sprachschulen, Privatunterricht in Fremdsprachen, engagieren fremdsprachliche Au-Pairs, nutzen Kindergärten mit fremdsprachlichem Unterricht etc. Die Rolle des Sozialkapitals (der privaten Netzwerke, die transnational agieren) ist entscheidend für die Bildungsbiografie einer Person. Die Analyse der durchgeführten Interviews zeigt eine starke Abhängigkeit der Wahl des Studienortes von den Netzwerken, in die die jeweilige Person eingebunden ist. Bekannte, Freunde, Kontakte und ehemalige Mitschüler*innen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Bildungswege und -umwege der migrierenden Person. Eine geringere Bedeutung haben die Netzwerke, wenn die Migrant*innen über Stipendien verfügen und bestimmten Schulen oder Hochschulen zugewiesen werden. Dementsprechend ist zu vermerken, dass die Internationalisierung und Transnationalisierung der Bildungsangebote sich nicht gleichmäßig auf alle sozialen Schichten bezieht. Manche Bulgar*innen profitieren von diesen Prozessen der Öffnung und der Internationalisierung der Bildungsmöglichkeiten gar nicht oder nur wenig: Sie können sich weder ein fremdsprachiges Gymnasium noch einen Sprachkurs und ein Studium im Ausland leisten. Die Internationalisierung der Bildung zementiert die sozialen Unterschiede in Bulgarien. Die zunehmende Internationalisierung im Bildungsbereich verdeutlicht die mangelnde Vorbereitung der bulgarischen Bildungsinstitutionen, die Bildungsabschlüsse der Rückwander*innen anzuerkennen und mit den sogenannten „mobilen Kindern“ umzugehen. In einer Studie der Nichtregierungsorganisationen „Risk Monitor“ und „Center for Liberal Strategies“ in Sofia mit Beteiligung der Soziolog*innen der Universität Sofia wird die soziale Lage der mobilen Kinder und der Kinder mobiler Eltern untersucht. Erforscht werden auch die bulgarischen Institutionen, die sich mit dem Thema „Mobilität“ von Kindern befassen (Risk Monitor und Center for Liberal Strategies 2015). Der Fazit der Studie: Das bulgarische Bildungssystem ist nicht für die Kinder geeignet, die mit ihren Eltern migrieren oder Teile ihrer Bildung im Ausland abschließen und dann nach Bulgarien zurückkehren. Obwohl nach 2007 Bulgarien EU-Mitglied wird und dadurch die Mobilitäts- und Migrationsmöglichkeiten zunehmen, ist das bulgarische Bildungssystem statisch und auf die Bildung, die ausschließlich in den Grenzen des Nationalstaates abgeschlossen wird, ausgerichtet. Kinder, die mit ihren Eltern migrieren, haben erhebliche Probleme bei ihrer Rückkehr nach Bulgarien und zwar unabhängig von der Dauer ihrer Mobilität oder Migration – sie kann von wenigen Monaten im Jahr bis zu einigen Jahren dauern. Das bulgarische Bildungssystem ist nicht in der
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Lage, das Wissen und die Fähigkeiten wertzuschätzen und anzuerkennen, die die bulgarischen Schüler*innen im Ausland erworben haben. Sie haben Kenntnisse über andere Kulturen erlernt, wobei diese von den bulgarischen Institutionen nicht anerkannt werden. Die Schüler*innen können ihre Versäumnisse nicht nachholen, da keine institutionalisierten Einrichtungen, z. B. Nachhilfeklassen, existieren. Die Schüler*innen müssen in der Regel die versäumten Schulklassen wiederholen, was das Risiko erhöht, aus dem System zu fallen. Besonders betroffen sind laut dem Bericht die Roma-Kinder. Ihre Eltern versuchen, durch die Migration der Arbeitslosigkeit in Bulgarien zu entkommen. Allerdings haben sie keine Möglichkeit, ihren Kindern Privatunterricht zu bezahlen, um dadurch das Versäumte nachzuholen. Aufgrund der in der bulgarischen Gesellschaft existierenden Vorurteile, werden sie mit der Ablehnung von Lehrer*innen konfrontiert; die Eltern der Roma-Kinder sind nicht in der Lage, einen Ausweichtermin für die Jahresprüfungen zu vereinbaren oder die Gründung von Nachhilfeklassen zu initiieren. Sie haben die Wahl zwischen ihrer Arbeit und der Bildung ihrer Kinder. Besonders kompliziert ist die Anerkennung ausländischer Abschlüsse – für sie werden sieben Dokumente verlangt, die übersetzt, legalisiert und mit einem Apostille-Stempel8 versehen werden müssen, obwohl Bulgarien EU-Mitglied ist. Manchmal können diese Dokumente im Ausland gar nicht ausgestellt werden, da sie den ausländischen Bildungsrealitäten nicht entsprechen. Manchmal fehlt es den Eltern an Zeit und Geld, um diese Dokumente zu beantragen, übersetzen und legalisieren zu lassen. Für Letzteres ist der Gang zur bulgarischen Konsularabteilung im jeweiligen Land notwendig, die manchmal hunderte Kilometer weit entfernt ist. Wenn sich die Eltern entschließen, ihre Kinder in Bulgarien zu lassen, werden diese Kinder anderen Risiken ausgesetzt: Die Schüler*innen erzielen in diesem Fall einen geringeren Schulerfolg, werden häufiger krank und bleiben häufiger sitzen. 40 % dieser Jugendlichen kommen in eine Jugendeinrichtung für straffällige Minderjährige (Kabakchieva 2014; Risk Monitor und Center for Liberal Strategies 2015). Der einzige Vorteil der zurückgelassenen Kinder ist, über vergleichsweise größere finanzielle Ressourcen zu verfügen, die von ihren Eltern überweisen werden. Sie werden im Vergleich zu ihren Gleichaltrigen selbstständiger und müssen häufiger Verantwortung übernehmen.
8Eine
Beglaubigungsart von Urkunden im internationalen Recht.
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(I 72) ist als zurückgelassenes Kind aufgewachsen. Ihre Mutter ist aus Bulgarien ausgewandert, als (I 72) 1 Jahr und 8 Monate alt war. „1 Jahr und 8 Monate und ich war damals das einzige Kind in unserer Gruppe, das so jung war. Alle anderen waren älter als ich … alle Erzieherinnen im Kindergarten haben sich am meisten um mich gekümmert und… ja, habe ich immer genug Aufmerksamkeit bekommen. Am Anfang wollten die Kinder überhaupt nicht mit mir spielen, weil ich zum einen zu jung war, um die Spielregeln zu verstehen, zum anderen war ich körperlich nicht so groß und kräftig wie sie. Die Kinder hatten immer Angst davor, dass sie mich beim Spielen verletzen würden und sie dann Ärger mit der Erzieherin kriegen … und deswegen hat es zwischen uns sehr lange nicht funktioniert … bis ich irgendwann schon alt genug war, mit den anderen im Kindergarten zu spielen und ich bin auch zum Lieblingskind meiner Gruppe geworden. Ich hatte immer die coolsten Spielzeuge. Ich hatte die coolsten Sachen aus dem Ausland, die modernsten Schuhe, die coolsten Klamotten. Keiner hat so etwas in Bulgarien gesehen. Alle wollten die Sachen berühren, alle haben gefragt, woher ich die Dinger habe. Eine Mitschülerin wollte sogar ein Foto mit der Mütze machen, die mir meine Mutter aus den USA per Post geschickt hat. Damals war ich so 12“ (I 72).
Die Großeltern haben sich um die Interviewpartnerin gekümmert. Die Mutter war im Ausland und der Vater, der nur am Abend da war, arbeitete in Bulgarien. „Ja, ich bin bei meiner Oma und bei meinem Opa aufgewachsen. Sie haben sich die meiste Zeit um mich gekümmert, als mein Papa auf der Arbeit war, aber ich muss sagen, er hat sich auch natürlich sehr viel um mich gekümmert“ (I 72).
Das Verhältnis zur Mutter war kompliziert, zumal die Mutter nur einmal im Jahr für einen Monat in Bulgarien war. Endgültig zurückgekehrt ist sie, als (I 72) 18 Jahre alt geworden ist. „Jedes Mal, wenn sie ging – das war immer einmal im Jahr nach ihrem Sommerurlaub – habe ich geheult. Und dann wollte ich mit ihr nicht telefonieren. Ich war beleidigt. Bis ich 15-16 wurde. Dann habe ich kapiert, dass sie es nicht macht, um mich zu verletzen, sondern weil sie möchte, dass es uns materiell besser geht. Denn sie hatte mir mal erzählt, dass sie in Bulgarien, wenn sie einkaufen gegangen ist, wählen musste zwischen Brot und Milch. Und das ist ein Trauma für sie gewesen. Und sie wollte nicht, dass ihre Familie dieses Trauma erlebt. Und mit 15 habe ich angefangen, sie zu verstehen“ (I 72). „Meine Mutter war in Neapel, in Nizza und in praktisch allen bekannten Mittelmeerhäfen. 1993 hat sie beschlossen, in die USA zu gehen. Sie hat immer gesagt, dass das ihr Traumziel sei. Sie wollte immer in die USA, und jetzt hat sie endlich mal die Chance dafür bekommen, und ihr Traum ging in Erfüllung“ (I 72).
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Die negativen Auswirkungen der Abwesenheit der Mutter wurden im Interview thematisiert. Die Frau, die mittlerweile 27 ist, erinnert sich daran, während der Schulzeit häufig in Schlägereien mit den Mitschülern verwickelt gewesen zu sein. Sie hatte Interesse an „Männerthemen“ (z. B. Fuβball, Basketball, Sport, Action-Filme), da sie zusammen mit ihrem Vater gelebt hat; hingegen bezeichnet sie das Interesse an „Frauenthemen“ wie „sich schön machen“, „sich schick anziehen“, als „marginal“ und „unterentwickelt“. Sie charakterisiert sich als „nicht weiblich genug“. Sie berichtet darüber, dass sie mehr Verpflichtungen als die Kinder in ihrem Alter hatte, da sie zu Hause helfen musste. Nach der endgültigen Rückkehr ihrer Mutter, die im Alter von 18 erfolgte, begannen die Konflikte. Die Mutter mochte das Verhalten und das Aussehen der Interviewpartnerin nicht. Allerdings hatte die Biografie der Mutter und das Geld, das sie im Ausland verdient hat, den Ansporn gegeben, dass die Interviewpartnerin nach Deutschland migriert ist und momentan in Deutschland an einer Universität studiert. Sie ist die erste Studentin in ihrer Familie. Die Tatsache, dass sie als Kind ‚zurückgelassen‘ wurde, hat somit eine positive und eine negative Dimension.
10.4.2 Transnationalisierung der Mediennutzung Eine andere Form der Transnationalität bezieht sich auf die Mediennutzung. Die klassische Migrations- und Medienforschung geht davon aus, dass die mediale Nutzung der Migrant*innen (vgl. Geißler und Pöttker 2015; WDR 2011) als ein Indikator zur Messung der Integration der Zugewanderten in der Aufnahmegesellschaft genutzt werden kann. Die regelmäßige Nutzung der Medien der Aufnahmegesellschaft deutet auf ein bestimmtes Niveau der Sprachkenntnisse sowie auf ein Interesse an politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen in der Aufnahmegesellschaft hin. Aus diesem Grund ist laut dieser Studien die Intensität der Nutzung der deutschen Medien für den Grad der Integration eines/r Migrant*in in der deutschen Gesellschaft maßgebend. Hingegen wird die ausschließliche Nutzung der Medien der Herkunftsgesellschaft als eine „mediale Ghettoisierung“ (Schneider und Arnold 2006) abgestempelt und von diesen Autor*innen als Zeichen mangelnder Integration und geringen Interesses an der Aufnahmegesellschaft betrachtet. Diese These ist aus der Perspektive der Transnationalisierungsforschung kritisch zu betrachten. Migrant*innen und Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die ausschließlich Medien der Herkunftsgesellschaft nutzen, sind eine Minderheit (vgl. WDR 2011). Die meisten Migrant*innen nutzen sowohl
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die Medien der Herkunftgesellschaft als auch die Medien der Aufnahmegesellschaft. Dies gilt besonders für die bulgarische Migrant*innencommunity in Deutschland. Die Auswertung der durchgeführten Interviews bestätigt die These der komplementären Nutzung der bulgarischen und deutschen Medien unter den bulgarischen Migrant*innen. Diese “transnationale mediale Inklusion“, wie ich sie nennen möchte, d. h. die gleichzeitige Nutzung von Quellen in verschiedenen Sprachen und aus verschiedenen Ländern, ist typisch für die in Deutschland lebenden Bulgar*innen. Aus der Perspektive der Transnationalisierungsforschung ist diese komplementäre Nutzung ein Zeichen der Hybridität der in Deutschland lebenden Bulgar*innen. Innerhalb der bulgarischen Community sind Unterschiede bei der Mediennutzung festzustellen, die typologisiert werden können: a. Migrant*innen, die vor längerer Zeit nach Deutschland eingewandert sind, haben ein geringeres Interesse an bulgarischen Medien. b. Sehr intensiv ist hingegen das Interesse, bulgarische Medien zu nutzen, bei neu Zugewanderten bzw. den Menschen, die einen intensiven Kontakt mit Arbeitskolleg*innen, Familienangehörigen, Freunden und Verwandten in Bulgarien pflegen: Je intensiver die sozialen Kontakte zu Personen in Bulgarien sind, desto intensiver ist die Nutzung bulgarischer Medien. c. Bei besseren Deutschkenntnissen nimmt die Nutzung deutscher Medien zu. d. Menschen, die hoch gebildet und besonders politisch aktiv sind, nutzen die politischen Medien in unterschiedlichen Sprachen. Die transnationale Mediennutzung der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland, die als Nutzung von Medien, die in einem anderen Staat und/oder in einer anderen Sprache veröffentlicht werden, definiert werden kann, variiert historisch. In der Zeit von 1945–1989 wird der westdeutsche Sender Deutsche Welle, der unter anderem in bulgarischer Sprache sendet, von den bulgarischen Migrant*innen in der BRD sehr aktiv genutzt. Die Radiosendungen können sowohl in Bulgarien als auch in Deutschland empfangen werden. Der Sender hat eine wichtige politische und identitätsstiftende Bedeutung für die bulgarische Community in der BRD. Medien aus der DDR können in der Zeit von 1 945-1989 in Bulgarien abonniert und bezogen werden. Hingegen ist in dieser Zeit der Bezug von Medien aus der BRD in Bulgarien nicht möglich oder sehr eingeschränkt. In den späten 1980er Jahren werden von Bulgar*innen, die auf Dienstreisen in der BRD gewesen sind, Szenen- oder Jugendzeitschriften, z. B. „Metal Hammer“ oder „Bravo“, importiert und teilweise irregulär in Bulgarien
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verkauft. Der Bezug dieser Medien ist von den bulgarischen Behörden offiziell nicht genehmigt. In der Zeit von 1990–2007 wird in Bulgarien zunehmend Satelliten- und Kabelfernsehen genutzt; dadurch ist der Empfang von deutschem Fernsehen technisch möglich. Deutsche Sender gewinnen an Popularität; in den Bibliotheken des Goethe-Instituts in Sofia sind deutsche Medien zu beziehen. Für Personen, die planen, nach Deutschland zu migrieren, ist der Zugang zu deutschen Medien besonders wichtig. Hingegen können in der Zeit nach 1990 bulgarische Medien in Deutschland relativ schwierig bezogen werden – sie sind nur in Pressegeschäften und Buchhandlungen an ausgewählten Bahnhöfen in Deutschland zu erwerben. Oft sind die Tageszeitungen, die dort zu finden sind, veraltet und werden zu einem teuren Preis verkauft, weshalb sie von den bulgarischen Migrant*innen kaum gekauft werden. Manchmal schicken die Verwandten Zeitungen und Zeitschriften per Post aus Bulgarien, die allerdings mit einer Verspätung von ca. 10 bis 14 Tagen geliefert werden. Bulgarisches Fernsehen ist in dieser Zeit nicht über Satellit zu empfangen; die Kabelanbieter in Deutschland bieten die bulgarischen Programme aufgrund des geringen Interesses nicht an. Dementsprechend verläuft die Versorgung mit aktueller Information pimär aus deutschen Quellen. Die Verbreitung der neuen Medien und des Internets seit dem Jahr 2000 macht den transnationalen Medienkonsum zugänglicher, einfacher und kostengünstiger. Viele bulgarische Zeitungen veröffentlichen ihre Artikel online und manche Zeitungen beginnen, ausschließlich eine Online-Ausgabe zu unterstützen bzw. eine Printversion einzustellen (dnevnik.bg, epicenter.bg). Das Leser*innen-Feedback spielt eine immer größere Rolle – die bulgarischen Migrant*innen beteiligen sich an Diskussionen in Internet-Foren und FacebookGruppen, sie kommentieren Ereignisse und werden dadurch selbst zu Quasi-Nachrichtenagenturen. Sie schreiben in bulgarischen Medien und werden als ‚Expert*innen‘ herangezogen. Als Beispiele seien die in Berlin lebende bulgarischstämmige Journalistin Kapka Todorova, der in München lebende bulgarischstämmige Professor für Philosophie Krassimir Stojanov, der in Mannheim lebende bulgarischstämmige Professor für Politikwissenschaft Nikolay Marinov, die in London lebende bulgarischstämmige Journalistin Maria Spirova genannt, die direkt aus Deutschland, England, den USA oder Japan zugeschaltet werden, um relevante Entwicklungen wie beispielsweise die Flüchtlingskrise, den Brexit, die Wahl von Donald Trump oder das Erdbeben in Fukushima zu kommentieren. 2015 wurde ein bulgarischer Fernsehsender von zwei bulgarischen Migranten, Rumen Valnev und Pavel Valnev, in den USA gegründet, die Besitzer eines Logistikunternehmens sind. Das Bulgarian International Television (BiT)
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verspricht, ein Sender der „10 Millionen Bulgaren“ zu sein, d. h. auch die Bulgar*innen zu erreichen, die im Ausland leben. Der Sender verfügt über ein Studio in Chicago (USA) und in Sofia (Bulgarien). Anchorfrau in Chicago ist die langjährige CNN-Journalistin bulgarischer Herkunft Ralitsa Vassileva. Der Sender hat eine besondere Wirkung auf die Medienlandschaft in Bulgarien, da in den Sendungen Themen rechtlicher, logistischer, politischer und wirtschaftlicher Art behandelt werden, die für die bulgarischen Migrant*innen von Relevanz sind. BiT ist ein Beispiel für ein transnationales Fernsehen.9 Für die bulgarischen Migrant*innen ist jedoch neben der Nutzung deutscher Medien auch die Nutzung von Medien aus Bulgarien wichtig. „Wir hören Radio auf Bulgarisch, ich lese auf Bulgarisch. Ich habe erfahren, dass man auch bulgarisches Fernsehen empfangen kann, das werde ich jetzt überprüfen, wenn ich wieder in Bulgarien bin“ (I 22). „Zu Beginn mehr als jetzt. Dank der Eltern und der neuen Medien habe ich die aktuellsten Informationen über Bulgarien. Hier, in den Nachrichten, höre ich sehr selten etwas über Bulgarien“ (I 17). „In den 1990er Jahren weiß ich noch, als mir meine Mutter Zeitungen aus Bulgarien gesammelt hat und sie mir diese per Post geschickt hat. Jede Woche habe ich so ein Päckchen erhalten per Post. Und ich habe angefangen, sie zu lesen. Internet gab es nicht, irgendwann Anfang der 2000er Jahren haben wir angefangen, per Internet, über Winamp bulgarisches Radio zu hören. Dann kam das Online-Fernsehen, irgendwann auch die Online Foren der Zeitungen und der Online Medien. Seit 2010 bin ich zunehmend auch bei Facebook. Bei Facebook lernt man echt ne Menge. Und man tauscht sich aus, man diskutiert, man ist dabei, sich zu organisieren, politisch zu handeln. Das hat seit 2013, seit den Protesten gegen die Regierung von Oresharski extrem zugenommen. Jetzt ist Facebook unerträglich. Es ist wie im Krieg“ (I 2). „Wir haben eine Satellitenschüssel. Und wir haben sie, damit wir alle Kanäle aus Bulgarien empfangen können. Wir empfangen alles, was auch meine Eltern empfangen können. Wir verfolgen die Nachrichten, auch bestimmte Sendungen. Ich mache das zwar nicht regelmäßig, aber mindestens einmal die Woche. Mein Mann schaut jeden Abend die Nachrichten, die bulgarischen“ (I 69). „Wenn ich nach Bulgarien zurückkomme („пpибepa“), ist mir die Information besonders wichtig. Ich kaufe Zeitungen, Zeitschriften, ich lese echt viel. Und ich spreche mit meinen Freunden, ich frage sie, wie sie leben, was die Probleme des Alltags sind, wie alles funktioniert. Es ist sehr interessant für mich“ (I 2).
9Im
Jahr 2019 hat BiT seine Arbeit eingestellt.
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„Ich habe kein bulgarisches Fernsehen, aber wenn ich Zeit habe, gehe ich ins Internet und informiere mich über die Politik in Bulgarien. Auch der Kontakt mit den bulgarischen Kollegen von der Firma – ich spreche mit ihnen, ich telefoniere oft und dadurch erhalte ich Informationen, worum es geht – wann die Regierung zurückgetreten ist, welche die neue ist, welche die neue Partei ist, wer unser Präsident ist“ (I 19).
Es ist ein deutlich ambivalentes Verhältnis in Bezug auf die Mediennutzung festzustellen – die bulgarischen Migrant*innen nutzen sowohl deutsche als auch bulgarische Medien. Für die Ereignisse, die für den Alltag relevant sind, nutzen sie in der Regel deutsche Medien; die bulgarischen werden bevorzugt, wenn es darum geht, Informationen über Bulgarien zu erhalten, die man über die deutschen Medien nicht bekommen würde. Es geht aber auch darum, die emotionalen Bedürfnisse nach einer imaginierten ‚Verbundenheit mit Bulgarien‘ zu stillen. Die bulgarischen Migrant*innen verfolgen Ereignisse, Showprogramme und bulgarische Serien, obwohl sie nicht relevant für ihren Alltag in Deutschland sind. Sie geben ihnen das Gefühl, ‚informiert‘ zu sein, ‚Bescheid zu wissen‘, ‚mitreden zu können‘ und letztendlich ein Teil einer transnationalen, imaginierten Gemeinschaft der Bulgar*innen zu sein. Seit dem 01.04.2018 ist laut Beschluss der EU-Kommission die Aufhebung des sogenannten „Geoblockings“ im Rahmen der EU für die Anbieter bezahlter Programme verpflichtend (vgl. Europäisches Parlament 2018). Nach dem Inkrafttreten dieses Beschlusses ist die Nutzung von Online-Medien aus anderen E U-Ländern einfacher und zugänglicher – es wird keine Satellitenanlage benötigt, da das Fernsehen über das Internet empfangen wird. Diese Regelung soll sich nach den Angaben der Kommission lediglich auf die Personen beziehen, die sich kurzfristig im Ausland aufhalten, z. B. auf Personen, die im Urlaub oder auf Dienstreisen sind. Dauerhaft im Ausland lebende Personen sollen von dieser Regelung ausgeschlossen werden. Ob es technisch zu ermitteln ist, welche Person sich wie lange im EU-Ausland aufhält, ist fraglich. Die gelebte Transnationalität überholt auch in diesem Fall in der Praxis die in nationalstaatlichen Containern denkenden Bürokrat*innen.
10.4.3 Konsumbezogene Transnationalität Die konsumbezogene Transnationalität ist eine weitere Form der wirtschaftlichen Transnationalität. Die Vertreter*innen des Ethno-Marketings (Bräuhofer und Yadollahi-Farsani 2011; Aygün 2005; Solomon 2011) gehören zu den
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ersten Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler*innen, die das Thema der transnationalen Konsumpraktiken analysiert haben. Die Annahme der klassischen Marketingschulen und Migrationsparadigmen, dass die Migrant*innen, nachdem sie sesshaft geworden sind, zunehmend Waren und Dienstleistungen in der Aufnahmegesellschaft konsumieren, ist empirisch widerlegt. Die zahlreichen italienischen Pizzerien, die Döner-Imbisse und die asiatischen Restaurants in Deutschland verdeutlichen, wie intensiv die Verbreitung ethno-kulinarischen ‚Praktiken‘, wie ich sie nenne, über Staatsgrenzen hinweg erfolgen kann.10 Die Zielgruppen dieser Restaurants sind weniger intraethnisch, vielmehr gehören sie zu den Einheimischen. Studien verdeutlichen, dass, unabhängig von den Graden der Assimilation/ Integration/ Teilhabe der Zugewanderten, der Konsum von Waren und Dienstleistungen, die mit der Herkunftsgesellschaft in Verbindung stehen, bestehen bleibt. Das erklärt die Zunahme der ethnischen Shops, Restaurants, Frisöre, Sportstudios, Mannschaften, Kinos, Theatervorführungen etc., die an die eigene ethnische Gruppe gerichtet sind. Der Konsum hat zum Teil einen praktischen (man kennt den Frisör persönlich; er bietet die Dienstleistung günstiger an), aber auch einen emotionalen Hintergrund (beispielsweise kommt der Lieblingsschauspieler nach Frankfurt am Main, sodass man bulgarische Freunde beim Besuch der Theateraufführung trifft (vgl. I 22, I 16, I 2). Unter „konsumbezogener Transnationalität“ werden im weiteren alle sozialen Praktiken, die mit dem Konsum von Waren und Dienstleistungen, die aus der Herkunftsgesellschaft der Migrant*innen stammen und mit dieser verbunden sind, verstanden. Dabei wird dieser Konsum von den Migrant*innen als „besonders“, „emotional aufgeladen“ und als Ausdruck einer bestimmten Zugehörigkeit empfunden. In diesem Sinne hat die konsumbezogene Transnationalität eine besondere, emotionale und gemeinschaftsstiftende Bedeutung. Historisch gesehen, war in der Zeit des Sozialismus (1945–1989) der Import und Konsum von Waren aus Bulgarien in der DDR und in der BRD aufgrund der restriktiven Zollbestimmungen und komplizierten Handelsbeziehungen nicht möglich oder sehr stark eingeschränkt. Eine negative Auswirkung auf den Konsum ethnisch geprägter Waren oder Dienstleistungen hatte auch die geringe Anzahl der Bulgar*innen, die sich in der BRD zur damaligen Zeit aufgehalten haben: Daraus ließ sich nicht die Notwendigkeit ableiten, diese als eine marktspezifische Zielgruppe zu definieren. In der DDR war die Gründung von privaten Geschäften und Restaurants aufgrund der Besonderheiten des sozialistischen
10Die
ethno-kulinarischen Praktiken sind ein Thema der Analyse im Sammelband von Kofahl und Schellhaas (2018).
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Systems nicht möglich. Vielmehr wurden in dieser Periode Waren für den individuellen Gebrauch (z. B. bulgarischer Wein, Lukanka-Salami, Ljutenitza, Balkan-Käse etc.) von den einzelnen Migrant*innen aus Bulgarien importiert. Konsumgüter aus der BRD, die in der sozialistischen Wirtschaft Mangelware waren, wurden individuell von der BRD nach Bulgarien eingeführt. Nach 1990 nimmt die Konsumtransnationalität zu: Bulgar*innen, die in Deutschland leben, beginnen Waren aus Bulgarien nach Deutschland zu bringen/ transportieren und diese in Deutschland zu verkaufen. Besonders populär in den 1990er Jahren sind die Weinimporte aus Bulgarien und die Organisation von Weinproben. Die ersten bulgarischen Restaurants und Lebensmittelgeschäfte in Deutschland werden gegründet. Nach 2007 nimmt aufgrund des restriktiven Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt für nicht selbstständig beschäftigte Bulgar*innen die Anzahl der selbstständigen Bulgar*innen zu. Dementsprechend erhöhen sich die importierten Waren aus Bulgarien, zumal durch die EU-Zollunion keine Importzölle zu entrichten sind. So können die Waren günstiger erworben werden und sind auch in den großen deutschen Lebensmittelketten zu finden. Durch die Verbreitung der Online-Kommunikation können Waren auch online in den „Internet-Shops“ bestellt werden. Die Zunahme der Personen, die zwischen Bulgarien und Deutschland pendeln, sowie die Etablierung der Low-Cost-Fluggesellschaften schaffen die Bedingungen für die Zunahme von Warenimports aus Bulgarien nach Deutschland. Das bezieht sich sowohl auf die großen Unternehmen als auch auf die kleineren Händler*innen. Eine besondere Bedeutung haben dabei die großen deutschen Lebensmittelketten, die seit 1998 auf dem bulgarischen Markt sind: Metro Cash and Carry, Kaufland, HIT, Lidl und Netto. In ihrem deutschen Sortiment bietet beispielsweise Lidl bulgarische Waren wie die Lukanka-Salami an. Auch die Festigung des Aufenthaltsstatus und die Zunahme des Wohlstands der in Deutschland lebenden Bulgar*innen führt zur Bereitschaft, Geld für bulgarische Waren, die in Deutschland teurer als in Bulgarien verkauft werden, auszugeben.
10.4.4 Transnationalisierung der Freizeit Eine Zunahme der transnationalen Praktiken ist auch in Bezug auf die Freizeitgestaltung zu beobachten. In den klassischen Migrationstheorien wird angenommen, dass der/die Migrant*in in der Aufnahmegesellschaft lebt und seine/ihre Freizeit, abgesehen von den drei Wochen Urlaub, die er ggf. im Ausland oder im Herkunftsland verbringen könnte, innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen verbringt. Auch wenn diese Vorstellung für viele Migrant*innengruppen und auch für die bulgarischen Migrant*innen, die in Deutschland vor 2007 gelebt
10.4 Transnationalisierung der Kultur
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haben, zutreffen mag, ist sie im Falle der bulgarischen Migrant*innen nach 2007 empirisch zu revidieren. Bei einigen der interviewten Bulgar*innen ist es üblich, unter der Woche in Deutschland berufstätig zu sein und die Wochenenden bzw. die Freizeit in Bulgarien zu verbringen. Insbesondere die jungen 25bis 35-Jährigen, nicht verheirateten Bulgar*innen, die einen Studienabschluss haben und berufstätig sind, können es sich leisten, einen Low-Cost-Flug ab Frankfurt am Main nach Sofia zu nehmen und über das Wochenende in Bulgarien zu bleiben. Dort wird beispielsweise ein Rockkonzert oder eine Disko in Sofia besucht, ins Theater gegangen, Geburtstage gefeiert etc. Die Voraussetzung für die Transnationalisierung der Freizeit sind ein ausreichendes ökonomisches Kapital, ein soziales Netzwerk (Kontakte in Bulgarien, die relevant sind) und eine enge Kommunikationsverflechtung zwischen der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft (Low-Cost-Flüge). Eine flexible Arbeitszeit und die Möglichkeit, von Zuhause berufstätig zu sein, gehören auch zu den Grundlagen dieser Form der Transnationalität. Es ist nicht das Konzert in Bulgarien an sich interessant, es ist das Gefühl Zeit „mit den Freunden“ zu verbringen, dabei zu sein und das Gefühl zu haben, gleichzeitig an zwei Orten leben zu können. Durch die Transnationalisierung der Freizeit entsteht eine neue Form der „Erlebnisgesellschaft“11. Eine besondere Form dieser Transnationalität bezieht sich auf die Körperpflege. Personen, die einen ständigen Wohnsitz in einem Land haben, fahren ins Ausland, um sich dort behandeln zu lassen. Der Tourismus zum Zweck der Körperpflege ist in den 1980er und 1990er Jahren in vielen westeuropäischen Grenzregionen bekannt. Deutsche aus Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz fahren nach Spa (Belgien) und Franzosen aus dem Elsass kommen nach Baden-Baden. Diese Aktivitäten beziehen sich auf die sozial besser gestellten sozialen Schichten. Es handelt sich allerdings nicht um Transnationalität, sondern um Balneo-Tourismus oder um Spa-Tourismus. Transnationalität ist dann vorhanden, wenn ein/ Migrant*in gezielt in das Herkunftsland fährt, um sich körperlich behandeln zu lassen. Bezogen auf die bulgarische Migration nach Deutschland war bis 1989 eine solche Form der Transnationalität nicht möglich. In der Zeit von 1990–2007 war sie aus vielen Gründen wie beispielsweise ein unsicherer Aufenthaltsstatus, geringes Einkommen, Unsicherheit bezogen auf die Erwerbssituation der Migrant*innen, teure Flüge, geringes Angebot im postsozialistischen Bulgarien nicht möglich oder sehr schwierig. In dieser Zeit wurde die Transnationalität lediglich während des Urlaubs der Migrant*innen genutzt.
11Für
den Begriff vgl. Schulze (1992).
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Nach 2007 ist eine deutliche Veränderung in den Transnationalisierungspraktiken festzustellen: Durch das Erlangen eines sichereren Aufenthaltsstatus, durch die bessere Bezahlung und durch die Low-Cost-Flüge nimmt die Anzahl der Menschen, vor allem der Singles, die gezielt für ein Wochenende nach Sofia fliegen, zu. So werden Massagen, Spa, Kosmetikbehandlungen in Bulgarien genutzt, da sie deutlich günstiger als vergleichbare Angebote in Deutschland sind. Man kann sich in Bulgarien etwas sehr Teueres erlauben, etwas, das sich die Bulgar*innen vor Ort nicht leisten können, etwas, das im Vergleich zu den üblichen Preisen in Deutschland relativ günstig ist. Dadurch vergrößert sich das Image in der Herkunftsgesellschaft. Die Körperpflege in der Herkunftsgesellschaft ist ein Teil der Inszenierung der „erfolgreichen Migrant*innen“, die in der Herkunftsgesellschaft ihr materielles Wohlergehen auch durch solche Praktiken vorzeigen. Die Transnationalisierung der Körperpflege und die Transnationalisierung der Freizeitgestaltung haben nicht nur einen ökonomischen Charakter, sondern eine wichtige symbolische Bedeutung. Es geht vor allem darum, als „erfolgreich“ und „wohlhabend“ anerkannt zu werden und das vorhandene Sozialkapital zu pflegen. „Die Kosmetikerin wartet auf mich. Sie ist immer für mich da. Wenn ich sie anrufe, erkennt sie mich, fragt mich, wie es mir geht, ob ich gut angekommen bin, ob ich schon gelandet bin. Man fühlt sich angenommen, es ist alles nicht so anonym wie in Deutschland. Und nicht so teuer, natürlich. Ich bringe ihr Balsame und Gesichtsmasken aus Deutschland, die sie in Bulgarien nicht findet, und sie gibt mir einen Rabatt“ (I 16). „Mittlerweile ist das Fliegen so günstig geworden, dass ich übers Wochenende nach Sofia fliege. Ab Frankfurt sind es ja zwei Stunden. Mit der U-Bahn bin ich in ca. 4 Stunden zu Hause. Und ich gehe ins Kosmetik-Studio und ich lasse mich behandeln: Maniküre, Pediküre, Waxing, Haarschnitt und eine Massage. 4 bis 5 Stunden. So etwas kann ich in Deutschland gar nicht bezahlen. Und da die Flüge so günstig sind und da das ganze Tam-Tam in Bulgarien nur ein Bruchteil kostet, lohnt es sich total. […] Ob es ökologisch ist, darüber will ich gar nicht nachdenken. Aber die Flieger, die fliegen auch ohne mich, also…“ (I 21).
Neben den Besuchen der Kosmetikstudios in Bulgarien, etablieren sich bulgarische Kosmetikstudios in Deutschland. Sie sind bei den Bulgar*innen besonders beliebt, da man in der eigenen Sprache behandelt wird und die Möglichkeit besteht, sich anzufreunden, bzw. sich in der Migrant*innencommunity zu vernetzen. Es ist „wie eine Rückkehr nach Bulgarien“. Diese Kosmetikstudios können allerdings nicht als Zeichen der Transnationalität, sondern als Ausdruck einer wachsenden „ethnischen Ökonomie“ verstanden werden.
10.5 Transnationale Familien und Freundschaften
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10.5 Transnationale Familien und Freundschaften Die Familientransnationalität ist der Kern der transnationalen Migrationsforschung, denn die meisten Migrant*innen, die transnational agieren, tun dies, um ihre Familien zu unterstützen. In diesem Sinne hat die transnationale Familienmigration nicht nur eine wirtschaftliche, sondern vor allem eine sinnstiftende Dimension. In den meisten Fällen der Transnationalität begründet die Existenz einer Familie, die in einem anderen Land lebt, die aktiven transnationalen Handlungen und Aktivitäten einer Person, die migriert ist. Die transnationale Familie kann als eine „vorgestellte Gemeinschaft“ („imagined communities“) im Sinne von Benedict Anderson bestimmt werden: Obwohl die Mitglieder der Familie keinen direkten Kontakt zueinander haben, bauen sie unterschiedliche Formen der Solidarität und Verbundenheit auf, die über Staatsgrenzen hinausgehen und eine direkte Auswirkung auf die Gestaltung ihres Alltags haben. Die am weitesten verbreiteten Formen des transnationalen Familienleben, die für die in Deutschland lebenden bulgarischen Migrant*innen festgestellt werden können, können wie folgt typologisiert werden: a. Die beiden Eltern oder ein Elternteil leben/lebt und arbeiten/arbeitet im Ausland und die Kinder bzw. das Kind bleiben/bleibt in der Herkunftsgesellschaft. In der Regel werden sie von den Großeltern versorgt. Die Eltern/der Elternteil überweisen/überweist Geld und versorgen/versorgt ihre zurückgelassenen Kinder und die Familienangehörigen (Großeltern, Tanten, Cousins etc.). b. Die erwachsenen Kinder studieren im Ausland und die Eltern bleiben in der Herkunftsgesellschaft. Die Eltern überweisen Geld, um das Studium ihrer Kinder zu finanzieren. Diese Form der Student*innen-Transnationalität wurde in Kapitel 6.6. dieser Arbeit erörtert. c. Die erwachsenen Kinder arbeiten im Ausland und die Eltern bleiben in der Herkunftsgesellschaft. Die Kinder überweisen Geld, um die Eltern, die in der Herkunftsgesellschaft leben und ein geringes Einkommen haben, zu unterstützen. Die am meisten verbreitete Form der transnationalen Familienunterstützung ist die finanzielle Unterstützung: „Wir helfen unseren Eltern, wie jeder. Unsere Eltern sind Rentner und man soll ihnen helfen. Das ist keine schwere Last. Ich habe auch meinem Bruder geholfen. Momentan hat er einen sehr guten Job in Bulgarien. Und Gott sei Dank ist er glücklich und verdient genug Geld, so dass er stolz darauf ist, dass er selbst für sich sorgen kann“ (I 2).
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„Das, was ich für sie machen kann, ist nicht nur sie finanziell zu unterstützen, sondern ihnen mit Arbeitsmöglichkeiten helfen. So habe ich durch meine Kontakte meinem Bruder geholfen, Arbeit in Sofia zu finden. So habe ich auch meiner Mutter geholfen, Arbeit zu finden. Drei Jahre vor der Rente hat sie durch meine Kontakte irgendeinen Job bekommen, sie hatte einen unbefristeten Job gehabt. So helfe ich“ (I 19).
Die Formen der Familiensolidarität gehen weit über das Finanzielle hinaus: Die Familienmitglieder geben sich Ratschläge und unterstützen sich, indem sie über Probleme sprechen. Diese Unterstützung hat unterschiedliche Dimensionen. „Natürlich helfe ich. Finanziell, klar, aber das ist nicht das wichtigste. Wir unterstützen uns mental. Wenn jemand von uns Probleme hat, wird er getröstet. Aber finanziell auch. Natürlich. Für Bulgarien ist das so wichtig. In Bulgarien ist die finanzielle Lage nicht auf einem europäischen Level“ (I 16). „Ich unterstütze meine Verwandten – meine Mutter, meinen Bruder und auch meine Kinder. Und sie unterstützen mich im geistigen Sinne. Sie geben mir Ratschläge, sie hören sich an, was ich ihnen erzähle, ich habe immer jemanden, mit dem ich sprechen kann. Das ist auch sehr wichtig. Wir telefonieren oder skypen jeden Tag. Die Kontakte sind sehr intensiv. Dort lebt ein Großteil meiner Freunde, die Verwandtschaft, die Familie. Ich bin allein hier, in Deutschland, aber ich bin nicht einsam. Nur hier habe ich niemanden: Die Freunde fehlen, die Verwandten, die Familie. (…) Früher hat mich meine Familie in Deutschland finanziell unterstützt. Jetzt helfen sie mir mit Ratschlägen. Das ist sogar wertvoller“ (I 14). „Ich habe Kontakt mit meinen Eltern. Über die neuen Medien besprechen wir vieles. Wir sprechen fast jeden Tag – egal worüber – über die neue Tasche, über die neuen Klamotten, die ich mir gekauft habe, über das Kind. Ich habe einen sehr engen Kontakt mit ihnen. Mit meinem Bruder auch. Ich habe auch zwei Cousins, mit denen ich auch dreimal in der Woche skype oder über Facebook kommuniziere“ (I 19).
Die Unterstützung hat auch praktische Dimensionen: Man besucht sich gegenseitig, man übernachtet bei der Verwandtschaft oder man empfängt Besuch aus Bulgarien. „Meine Familie, meine Mutter, mein Bruder – sie alle leben in Bulgarien. Der Vater meines Ehemannes lebt in Bulgarien, unsere Omas leben in Bulgarien, auch die Onkel. Wir haben einen engen Kontakt – wir besuchen sie, wir übernachten bei ihnen. Sie kommen zu uns zu Besuch und bleiben bei uns. Es ist ein enger Kontakt. Familie halt“ (I 2).
10.5 Transnationale Familien und Freundschaften
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„Mindestens einmal im Jahr, besonders wegen dem Kind, wollen wir nach Bulgarien für drei Wochen. Und wenn wir da sind, müssen wir die Verwandtschaft besuchen. So ist dieser Aufenthalt in Bulgarien kein Urlaub, sondern eher die Pflicht, ihrem Wunsch nachzukommen, uns zu sehen“ (I 4). „Meine Eltern kommen mich oft besuchen. So 2-3-mal im Jahr für eine längere Zeit. […] mein Vater arbeitet bei einer deutschen Firma, reist sehr oft und der Urlaub ist so, dass er samstags und sonntags hier bei uns verbringen kann. Wir sehen uns oft“ (I 3).
Diese transnationalen Kontakte haben aus der Perspektive der Migrant*innen eine besondere Bedeutung. Die Migrant*innen fühlen sich zugehörig, unterstützt und anerkannt, auch wenn die Quelle dieser Anerkennung weit entfernt liegt. „Die starke Verbundenheit zwischen den Eltern, mir, meinen Geschwistern, die mir immer eine Unterstützung gegeben haben, das Gefühl, dass ich es auch alleine in Deutschland schaffen werde […] dieser Kontakt, diese psychische Unterstützung hilft mir auch heute noch“ (I 4). „Ich bin sicher, man muss Leute um sich herumhaben, die einen unterstützen. Man kann nicht sagen – ich habe es alleine geschafft. Hast du nicht. Du hast es geschafft, da du Menschen hast, die dich unterstützen. Ich war schwanger mit meinem Sohn, als ich hier den zweiten Master abgeschlossen habe. Und meine Mutter kam, da er direkt vor der Prüfung geboren wurde. Auch bei der Rechtsanwaltsschule ist meine Mutter hier gewesen. Mein Mann hilft mir auch sehr. Du musst Unterstützung haben“ (I 22).
Die Prozesse der Familientransnationalisierung beziehen sich sowohl auf die wohlhabenden als auch auf die sozial benachteiligten Familien. Bei den sozial wohlhabenden Familien ist die Trennung der Familienmitglieder durch eine rationale Planung bestimmt; sie ist begründet, freiwillig und zeitlich befristet. Der Vater arbeitet im Ausland, Mutter und Tochter bleiben in Bulgarien, damit die Tochter ihre Schulbildung abschließt. In Bulgarien sind die Bedingungen dafür günstiger. Die Familienzusammenführung ist geplant und wird in nächster Zukunft erfolgen. „Wir wollten alle nach Deutschland kommen. Meine Tochter und meine Ehefrau wollten nach Deutschland und sie wollten hier bleiben. Aber meine Tochter besucht das Gymnasium in Bulgarien und es ist doch sehr schwierig gewesen, für sie – sie wollten sie doch zurückstufen und es hätte zwei Jahre länger gedauert als in Bulgarien, bis sie das Gymnasium abschließt. Und insgesamt musste sie drei Jahre länger zur Schule. Das wollte sie auf keinen Fall. Sie meinte, sie wäre doch
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10 Der Transnationale Raum Bulgarien …
nicht verrückt. Und dann haben wir beschlossen, dass sie bis zum Abschluss in Bulgarien bleibt. Und meine Frau ist bei ihr in Bulgarien geblieben. So sind wir seit zwei Jahren getrennt. Ich meine, wir sind immer noch eine Familie, aber wir leben getrennt. Danach kommen sie nach Deutschland. Das steht fest“ (I 11).
Andere Beispiele, die sich auf die transnationale Trennung wohlhabender Familien aus Bulgarien beziehen, sind: • Der Vater besitzt eine Firma in Bulgarien, Mutter und Tochter leben in Deutschland. Der Vater kommt nach Deutschland an den Wochenenden, unter der Woche lebt er in Bulgarien (I 6). • Die Mutter hat eine Professur in Nord-Frankreich; die Familie lebt in Karlsruhe. Drei bis vier Tage in der Woche bleibt die Mutter an ihrem Arbeitsort in Frankreich; an den Wochenenden und in den Semesterferien ist sie bei der Familie in Deutschland (I 29). Bei den sozial benachteiligten Familien, die getrennt werden und transnational leben, sind signifikante Unterschiede festzustellen. Die Trennung der Familienmitglieder ist aus einer (finanziellen) Notsituation entstanden. Die Trennung ist nicht erwünscht, wurde nicht angestrebt und lässt sich nicht vermeiden. Eine Familienzusammenführung ist zwar erwünscht, aber nicht absehbar. Die folgenden Beispiele sind zu nennen: • der Vater ist in Deutschland tätig (z. B. auf Baustellen oder als entsandter Arbeiter); die Mutter und die Kinder leben in Bulgarien. Eine Familienzusammenführung in Bulgarien ist aus finanziellen Gründen nicht möglich; eine Familienzusammenführung in Deutschland ist aufgrund der unsicheren finanziellen und arbeitsrechtlichen Lage des Vaters nicht durchführbar (I 70). • Vater und Mutter leben in Deutschland; sie haben Gelegenheitsbeschäftigungen oder saisonale Arbeitsstellen. Die Kinder leben mit ihren Großeltern in Bulgarien. Aufgrund der unsicheren finanziellen und arbeitsrechtlichen Lage der Eltern ist eine Familienzusammenführung in Deutschland nicht durchführbar (I 68). Die transnationale Trennung der Familie bringt viele Probleme mit sich, die sich insbesondere auf die Kinder auswirken. In einigen Fällen werden die Kinder von ihren Eltern, die migrieren, um saisonale Arbeitsstellen in der Regel in den Monaten Mai bis September zu übernehmen, ins Ausland mitgenommen. Daraus resultieren die Schwierigkeiten der Kinder, das Schuljahr in Bulgarien
10.5 Transnationale Familien und Freundschaften
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erfolgreich zu beenden. Im Ausland können sie die Schule nicht besuchen, da ihnen die Sprachkenntnisse fehlen. Oft werden die Kinder im Ausland behördlich nicht angemeldet, da sie sich kurzzeitig – nur während der saisonalen Erwerbstätigkeit der Eltern – aufhalten. Die lokalen Behörden wissen somit nicht, dass die Kinder die Eltern begleiten. In anderen Fällen werden die Kinder in Bulgarien zurückgelassen. In der bereits zitierten Studie zeigt Petya Kabakchieva (2014), dass die Kinder migrierender Eltern, die in Bulgarien zurückbleiben, nicht adäquat von den bulgarischen Bildungsinstitutionen behandelt werden und als „Risikokinder“ gelten. Das Verständnis der Familie, das in der bulgarischen Gesetzgebung verankert ist, sowie die praktizierte Bildungsbetreuung entsprechen nicht der Migrations- und Mobilitätsrealität des 21. Jahrhunderts. Kinder werden nicht ausreichend schulisch betreut, beenden das Schuljahr nicht, müssen die Klasse wiederholen oder absolvieren das Schuljahr mit schlechteren Noten. Die zurückgelassenen Kinder sind vielen Risiken ausgesetzt. Unabhängig von der sozialen Schicht der Familien wird die Transnationalität als eine Trennung angesehen und teilweise als negativ empfunden. Die transnationalen Familien sind breit zerstreut; die Familienzusammenführung wird als ein übergeordnetes Ziel definiert. Die Transnationalität ist nicht das Ziel, sondern ein Mittel zur Verbesserung der konkreten Familiensituation. „Ich habe einen Cousin, der in England lebt und zurück möchte nach Bulgarien. Er lebt zusammen mit seiner Frau, sie haben ein Kind, das in England geboren wurde. Und es ist für sie, zumindest im Moment, wichtiger, in England zu bleiben. Sie wollen noch ein paar Jahre dort arbeiten, Geld einsparen und dann nach Bulgarien zurückkehren. In den nächsten drei bis vier Jahren werden wir alle zurück sein. Meine Cousine ist auch in England – sie will auch zurück“ (I 35).
Das Leben in Transnationalität wird als Ursache für die Entfremdung der Familienmitglieder genannt. „Unsere Lebensstile sind sehr unterschiedlich. Auch der Lebensstandard. Sie können mir Tipps geben aber sie sind sehr weit entfernt von der Realität, von meiner Realität, von der deutschen Realität. Wir sind sehr unterschiedlich. Sie sind Rentner, die in einer kleinen Stadt wohnen und sie haben ganz andere Themen. Wir können uns nur sagen, dass wir uns lieb haben. Und tief in mir bin ich traurig, dass wir so weit weg voneinander sind. Ich meine das nicht als Entfernung, sondern als Lebensstil“ (I 29).
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Die familiengebundenen sozialen Akteur*innen empfinden das Leben in Transnationalität als eine Ursache für den Abbruch der familiären Verbundenheit. Das Verhältnis zu den Familienmitgliedern, Bekannten und Freunden, die in Bulgarien bleiben, wird revidiert. Insgesamt wird das Leben ‚zwischen zwei Welten‘ als nachteilig empfunden. „Zu Beginn habe ich versucht, die Sachen in Bulgarien zu verfolgen. Aber das hat mich enttäuscht. Ich war gespalten. Ich konnte meinen Platz nicht finden. Wo ist mein Platz? In Bulgarien? In Deutschland? Deswegen habe ich beschlossen, nur in eine Richtung zu sehen. Ich habe immer gelitten, wenn ich Richtung Bulgarien gesehen habe. Ich habe immer Trauer empfunden. Deswegen habe ich, damit ich nicht leide, beschlossen, die Verbindungen zu Bulgarien zu unterbrechen. Diese Verbindungen haben mich immer gespalten. Sie haben mich unsicher gemacht“ (I 16). „Jedes Jahr werden die Leute weniger, mit denen ich Kontakt habe. Die Besuche in Bulgarien werden seltener“ (I 1).
Die Transnationalisierung des Familienlebens ändert im Falle der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland nicht die existierenden Gender-Stereotype. Im Rahmen der Familie übernehmen vor allem die Frauen die Pflege der Kinder und der Eltern; die Männer sind verantwortlich für die finanzielle Absicherung des Familienlebens. Bei den bulgarischen Studentinnen werden allerdings die Gender-Stereotype infrage gestellt. Die jungen und emanzipierten Frauen kommen nach Deutschland, leben allein, suchen nach einer Wohnung und Beschäftigungsmöglichkeiten und meistern ihr Studium. Die Frage ist, inwieweit diese Gruppe schon vor der Migration emanzipiert war und inwieweit die Migration zur Emanzipation beigetragen hat. Aufgrund der durchgeführten Interviews ist anzunehmen, dass die meisten Migrantinnen, die studieren, vor der Migration nach Deutschland die existierenden traditionellen Gender-Stereotypen im Rahmen ihrer Familiensozialisation infrage gestellt haben. Besonders intensiv werden die transnationalen Freundschaften gepflegt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den: • transnationalen Freundschaften mit Bulgar*innen, die in Bulgarien leben • transnationalen Freundschaften mit Bulgar*innen, die in einem anderen Land (USA, Frankreich, Schweden, Spanien, etc.) leben Nach 2007 ist die Tendenz der zunehmenden Etablierung eines bulgarischen Freundeskreises festzustellen. Durch die Zunahme der Anzahl der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland, durch die Möglichkeit vieler Familien, das
10.5 Transnationale Familien und Freundschaften
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Studium der Kinder zu finanzieren, etabliert sich eine bulgarische Community in Deutschland, die bis 1989 und in den 1990er und 2000er Jahren nicht existiert hat. Dies führt teilweise zu einem Zusammenschluss der bulgarischen Migrant*innen zu einem ethnisch homogenen Freundeskreis. Diese Zusammensetzung bezieht sich lediglich auf das private, nicht auf das berufliche Leben der bulgarischen Migrant*innen, das in ethnisch heterogenen Kontexten stattfindet. „Meine besten Freundinnen sind Bulgarinnen. Mit Deutschen kann ich keine echte Freundschaft aufbauen“ (I 8). „In einem gewissen Sinne wird man in Deutschland schwieriger akzeptiert. Wir, die Bulgaren sind irgendwie offener, um Kontakte zu schaffen. Sie [die Deutschen, Hervorh. ML] brauchen mehr Zeit, um sich zu öffnen und die anderen zu akzeptieren“ (I 12).
Die Transnationalität ist eine Möglichkeit, Freundschaften aufzubauen, aber es sind auch Einschränkungen festzustellen: Man kann nicht an unterschiedlichen Orten gleichzeitig sein, und man kann es sich finanziell nicht immer leisten, anwesend zu sein. „Die besten Freundschaften hier sind mit Bulgaren. Ich habe keine deutsche Freundin. Die Mentalitätsunterschiede sind zu groß, finde ich. Vielleicht ist es regional, weiß ich nicht. So sagen zumindest Freunde von mir, die anderswo in Deutschland leben. Ich bin sehr kommunikativ, aber die Leute hier sind sehr verschlossen. Freundlich, aber verschlossen“ (I 2). „Ich habe die guten Freundschaften aus Bulgarien aufrechterhalten. Zum Glück. […] Gute Freunde, die mich seit Jahren kennen, kann ich nur in Bulgarien haben“ (I 17). „Für mich ist klar, dass die Freundschaften in der Kindheit entstehen. Wenn ich die Freunde gefunden habe, nehme ich mir die Zeit sie zu sehen […] Ich versuche, wenn ich sie sehe, nicht anders zu sein. Ich passe mich der Situation an. Ich will nicht zeigen, wer ich bin, was ich verdiene, auf welcher Position ich bin. Ich sage nicht, wo mein Ehemann arbeitet, was für Autos wir fahren, wie groß unsere Wohnung ist“ (I 19). „Ich lebe in Deutschland. Ich muss ja viele deutsche Freunde haben, so denke ich mir. Habe ich aber nicht. Ich behaupte, es liegt nicht daran, dass ich ein verschlossener Mensch wäre. Bin ich eben nicht“ (I 22).
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Bei den bulgarischen Migrant*innen, die seit den 1990er Jahren in Deutschland leben, überwiegen die ethnisch heterogenen Freundschaften. „Ich habe Freunde in Island, in den USA, in Kanada, in England. Ich meine, nicht nur die Familie, sondern Freunde, die ich seit Ewigkeit kenne. Und mit denen pflege ich eine aktive Beziehung“ (I 11). „Eine Bulgarin, eine Polin, ein Deutscher. Das sind drei Personen unterschiedlicher Nationalitäten, die aber einen internationalen Hintergrund haben. Ich mag den Kontakt zu solchen Menschen. Mit Menschen zu kommunizieren, die ihr ganzes Leben bei Mama und Papa verbracht haben … egal ob sie Deutsche sind oder nicht, mit ihnen fällt es mir echt schwer zu kommunizieren. Wir haben keine gemeinsamen Interessen. Sie sind mir zu langweilig, nicht mobil, unflexibel. Es ist zu langweilig“ (I 19). „Die guten Freunde, das sind die Leute mit denen man lange Zeit verbracht hat. Mit denen man einiges erlebt hat […] Die Situationen machen Freunde und vor allem die schwierigen Situationen, die Zeiten, in denen man Probleme hatte. Die besten Freunde sind diejenigen, die mich in schwierigen Situationen kannten. Ich habe solche Freude in Bulgarien und in Deutschland gefunden“ (I 3). „Die Bulgaren habe ich immer näher an mir gespürt. Dann kam aber der Durchbruch. Irgendwann, als ich mein Masterstudium gemacht habe, habe ich angefangen, eine Deutsche und eine Frau aus Bolivien als Freundinnen zu sehen. Und jetzt sind sie mir die nächsten Menschen. Ich teile ihnen Sachen mit, die ich anderen Menschen nicht mitteilen würde“ (I 35).
10.6 Transnationalisierung der politischen Partizipation In der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung12 wurde angenommen, dass die bürgerschaftliche und politische Beteiligung der sozialen Akteur*innen in einem nationalstaatlichen Kontext stattfindet. Aus dieser Perspektive der Verflechtung der Staatsbürgerschaft, des Wohnorts und der politischen Partizipation werden die politischen Aktivitäten der sozialen Akteur*innen bewertet und analysiert. Die Migration ändert diese Verflechtung – der Wohnort der Migrant*innen liegt außerhalb des Nationalstaates, deren Bürger*innen sie sind. Der Fokus
12Vgl.
exemplarisch Halm und Sauer (2007).
10.6 Transnationalisierung der politischen Partizipation
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der politikwissenschaftlichen Analysen ändert sich: Sie analysieren die Wahlbeteiligung, die Spendenaktionen, die Beteiligung an Referenten und die politischen Diskussionen der Migrant*innen und Menschen mit Migrationshintergrund vor allem in Bezug auf die Aufnahmegesellschaft. Bei den Analysen der Lebenssituation der Migrant*innen wird der Bezug zur Herkunftsgesellschaft entweder nicht berücksichtigt oder als Indikation für eine mangelnde Integration in der Aufnahmegesellschaft aufgeführt. Die politische Teilhabe, so die idealtypische Konstruktion der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung der 1990er und 2000er Jahre, wird auf einen Nationalstaat bezogen. Diese idealtypische Konstruktion, die im methodologischen Nationalismus gefangen ist, ist empirisch allerdings zu revidieren. Vor allem durch die Verbreitung der neuen Medien in den letzten Jahren gewinnt die transnationale politische und gesellschaftliche Beteiligung der Migrant*innen an Einfluss. Sie wird vom Territorium eines einzigen Nationalstaates entkoppelt. Der aktuelle Aufenthaltsort verliert an Bedeutung, denn die virtuelle Anwesenheit kann im politischen Sinne unter Umständen genauso einflussreich wie die reale sein. Die idealtypische Annahme der Exklusivität der Staatsangehörigkeit unterliegt ebenso einer empirischen Revision. Die Mehrstaatlichkeit gewinnt an Bedeutung. Dabei wird die Staatsbürgerschaft nicht ausschließlich durch die Herkunft bestimmt. Durch die politische Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Nationalgemeinschaften haben eine hohe Anzahl der Migrant*innen das Recht, an mehreren Wahlen in unterschiedlichen Nationalstaaten teilzunehmen und sich in verschiedenen politischen Kontexten zu engagieren. Durch die neuen Medien werden die Informationen über die unterschiedliche Kontexte über Staatsgrenzen hinweg verbreitet; eine politische und gesellschaftliche Beteiligung kann auch mit virtuellen Instrumenten z. B. Online-Petitionen und Initiativen zustande kommen. Teilweise können die sozialen Akteur*innen in den unterschiedlichen Ländern, deren Staatsbürger*innen sie sind, für verschiedene Parteien, die ggf. zu unterschiedlichen Teilen des politischen Spektrums gehören, ihre Stimme abgeben. Die wichtigsten Voraussetzungen für diese transnationale, politische und bürgerschaftliche Partizipation sind erstens die konkrete gesellschaftliche Entwicklung, zweitens der historische Kontext, drittens der demokratische Rahmen und viertens die Verwobenheit der Realität und Virtualität, die durch die neuen Medien etabliert wird. Die bürgerschaftliche und politische Transnationalität existiert vor allem in demokratischen Kontexten und bezieht sich auf die Bürgerbeteiligung und auf die politischen Aktivitäten der Migrant*innen. Im Sozialismus ist die politische und bürgerschaftliche Transnationalität grundsätzlich nicht möglich. Sie wird von den Regierenden strikt abgelehnt und
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aktiv verhindert. Im historischen Kontext des Kalten Krieges und des „Eisernen Vorhangs“ wird sie von den Regierungsinstitutionen in den sozialistischen Ländern als „Propaganda“ und „Einmischung“ abgestempelt. Die politischen Aktivitäten der bulgarischen Migrant*innen in der BRD in den 1950-1980er Jahren, die vor allem durch die Radiosender „Deutsche Welle“ (Köln) und „Radio Free Europe“ (München) die Öffentlichkeit erreichten, wurden von den bulgarischen Regierenden stark eingeschränkt. Die Signale dieser Radiosender wurden in Bulgarien massiv gestört, sodass ein Empfang technisch schwierig war (Predavatel o. J.; Banitza 2015). Politisch war er unerwünscht und wurde von den Regierenden als „Verbrechen“ behandelt. In den ersten Jahren nach 1990 etablierten sich vor allem die bürgerschaftlichen Dimensionen der Transnationalität. In Deutschland wurden deutsch-bulgarische Organisationen gegründet, die das Ziel hatten, im Bereich der transnationalen humanitären Hilfe aktiv zu sein. Ein Beispiel ist der im Jahr 1992 in Bielefeld gegründete deutsch-bulgarische „Freundeskreis Sofia e.V.“. Die Organisation war im Bereich der humanitären Hilfe und der Völkerverständigung aktiv. Spenden für soziale Einrichtungen in Bulgarien wurden gesammelt, bulgarische Studierende, die in Bielefeld studierten, unterstützt und Vorträge und Kulturabende über Bulgarien organisiert. Die Organisation hatte keine politischen Ziele. „Die Organisation „Freundeskreis Sofia“ hatte das Ziel, den kulturellen Austausch zu fördern und humanitäre Hilfe zu sammeln. Die ersten Jahre nach der Wende waren sehr schwierig, und wir hatten humanitäre Projekte in Bulgarien. Die Idee war, auch die Bulgar*innen in Bielefeld zu sammeln, wir hatten einen regulären Stammtisch. Wir haben Feiertage gemeinsam gefeiert: Wir hatten jedes Jahr einen Vortrag zum 3. März (der bulgarische Nationalfeiertag, Hervorh. ML). Von der Deutschen Welle haben wir Leute eingeladen, eine Dichterin, auch Wissenschaftler, die Vorträge gehalten haben“ (I 18).
Nach dem Beitritt Bulgariens in die EU im Jahr 2007 hat die Organisation ihre Arbeit niedergelegt.
10.6.1 Wahlverhalten der bulgarischen Migrant*innen Mit der Zunahme der Bedeutung der Online-Medien und mit der Erhöhung der Anzahl der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland nimmt der Organisationsgrad der Migrant*innen zu. Im Jahr 2011 wurden die Temporären Bürgerschaftlichen Räte der Bulgar*innen im Ausland (Bpeмeнни oбщecтвeни cъвeти нa
10.6 Transnationalisierung der politischen Partizipation
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бългapитe в чyжбинa) gegründet (vgl. Vremenni obstestveni saveti na bulgarite v chuzbina o. J.). In diesen organisieren sich auf freiwilliger Basis im Ausland lebende Bulgar*innen, die sich für die Belange der bulgarischen Migrant*innen sowohl im Hinblick auf die konkreten Aufnahmegesellschaften als auch auf Bulgarien einsetzen. Da keine gesetzliche Grundlage für die Durchführung von Wahlen dieser Räte existiert, haben sie einen „temporären“ Charakter. Die Aktivist*innen dieser Räte setzen sich für die Ausarbeitung einer gesetzlichen Grundlage dieser Organisationen vom bulgarischen Staat ein, in der ihre Rechte, Pflichten und Funktionen festgelegt werden sollen. Das Hauptziel der Räte ist, die politische Vertretung der Bulgar*innen, die im Ausland leben, gegenüber dem bulgarischen Staat zu ermöglichen. Die konkreten Forderungen, die aufgestellt wurden, sind: Ein besserer Zugang der im Ausland lebenden Bulgar*innen zu den Wahlmöglichkeiten bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Bulgarien durch eine größere Dichte der Wahllokale, eine Einführung der Online-Wahlmöglichkeiten (des E-Votings), die die Wahlbeteiligung der im Ausland lebenden Bulgar*innen erleichtern würde, die Organisation eines Sonderwahlkreises für die Bulgar*innen, die im Ausland leben und damit einhergehend die Möglichkeit der Auslandsbulgar*innen, ihren direkten Vertreter/ ihre direkte Vertreterin im bulgarischen Parlament zu wählen. Von den Regierenden in Bulgarien werden diese Aktivitäten unterschiedlich bewertet: Die politische Partei GERB sowie die zersplitterten Parteien der demokratischen, prowestlichen Bürgerbewegung, die die meisten Stimmen der Auslandsbulgar*innen erhalten, unterstützen die Initiativen der Temporären Räte. Hingegen sind die Vertreter*innen der nationalistischen „Patriotischen Front“ und der ehemaligen Kommunistischen Partei BSP skeptisch gegenüber den Temporären Räten. Distanziert ist das Verhältnis der Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), der Partei der bulgarischen Türk*innen, die auf ihre feste Unterstützung im Ausland bauen kann und keine Verbesserung der Wahlmöglichkeiten anstrebt, da die Wahllokale in der Türkei überproportional dicht aneinander liegen. Neben den zahlreichen kulturellen und sozialen Organisationen der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland, die nach 2007 etabliert wurden, nehmen auch die politischen Aktivitäten zu. Besonders im sozialen Netzwerk „Facebook“ werden transnationale politische Aktivitäten angekündigt. Weltweit beteiligen sich Bulgar*innen an Diskussionen, organisieren Protestaktionen, Kundgebungen und Petitionen. Im Zuge der Proteste im Jahr 2013 gegen die Regierung von Plamen Orescharski und gegen die Wahl von Delyan Peevski zum Vorsitzenden der bulgarischen Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit (DANS) entstand in Bulgarien und unter den im Ausland lebenden Bulgar*innen
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eine massenhafte Protestbewegung. Die Proteste gegen Peevski und Orescharski dauerten eineinhalb Jahre. Die Bewegung breitete sich über die Online-Medien weltweit aus. Die Proteste, die unter der Bezeichnung „DANS with me“ bekannt wurden, wurden über das Internet übertragen; die Aktionen wurden auf Facebook angekündigt und geleitet. Facebook wurde zu einer Plattform der politisch interessierter Migrant*innen, die in „geheimen Gruppen“ organisiert wurden, Petitionen und Aktionen abgesprochen und koordiniert haben. Weltweit wurden Fotos mit Bulgar*innen, die die Proteste unterstützt haben, in den sozialen Netzwerken und anschließend in den klassischen bulgarischen Medien veröffentlicht. Am 22.12.2013 wurde in Sofia eine Kundgebung der im Ausland lebenden Bulgar*innen organisiert. Unter dem Motto „Die große Rückkehr“ sammelten sich tausende Bulgar*innen, die im Ausland leben und über Weihnachten nach Bulgarien gekommen waren, am zentralen „Batenberg“-Platz in Sofia, um ihre Position kund zu tun. Im Zuge der Proteste gegen die Regierung Orescharskis etablierten sich drei neue politische Parteien – „Reformatorski Block“, „Da, Bulgaria“ und „DEOS“. In diesen beteiligen sich die im Ausland lebenden Bulgar*innen aktiv. Besonders aktiv sind sie, wenn es darum geht, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Bei Europawahlen, Parlamentswahlen, Präsidentschaftswahlen und bei den unterschiedlichen Referenden versuchen die im Ausland lebenden Bulgar*innen, Wahllokale in ihrer Nähe zu gründen. Grundsätzlich ist die Gründung von Wahllokalen von zwei Faktoren abhängig: Den Genehmigungsmodalitäten der Aufnahmegesellschaft und den Beschlüssen der bulgarischen Regierung. Da Deutschland die Eröffnung von Wahllokalen lediglich in den diplomatischen Einrichtungen des jeweiligen Landes genehmigt, ist die Gründung von zahlreichen Wahllokalen nicht möglich; sie ist praktisch nur in einigen Städten, in denen Bulgarien Konsularvertretungen hat, möglich – z. B. in Berlin, Bonn (bis 2006), Frankfurt am Main, München, Hamburg, Magdeburg und Darmstadt. Durch diese Einschränkung ist die Wahlbeteiligung für die über 350.000 Bulgar*innen, die sich in Deutschland aufhalten und ggf. wählen möchten, mit hohen Hürden (Anfahrt, Kosten, Zeit, Wartezeit vor den Konsularvertretungen) verbunden. Dementsprechend ist die Wahlbeteiligung der Bulgar*innen in Deutschland gering. Die politische Partizipation der bulgarischen Staatsbürger*innen, bezogen auf die politischen Prozesse in Bulgarien, ist relativ zurückhaltend. Bei den Parlamentswahlen in Bulgarien im Jahr 2001 wurden in Deutschland 3900 Stimmen abgegeben. Die Wahlbeteiligung der in Deutschland angemeldeten und wahlberechtigten Bulgar*innen lag bei 11 %. Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2005 haben ca. 3800 Personen (8,6 % aller Bulgar*innen, die sich in Deutschland zum
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damaligen Zeitpunkt aufhielten) von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Im Jahr 2009 übten 6066 Bulgar*innen ihr Wahlrecht aus, was eine Wahlbeteiligung von 9,7 % bedeutete (Zentralna izbiratelna komissia na Republika Bulgaria o. J.). Bei den Parlamentswahlen in Bulgarien im Jahr 2013 haben insgesamt 4461 Bulgar*innen ihre Stimme in Deutschland abgegeben, während es im Jahr 2014 10.498 Bulgar*innen waren. Die Erhöhung der Anzahl der abgegebenen Stimmen ist auch dadurch zu erklären, dass im Jahr 2014, aufgrund des ausgeübten Drucks der bulgarischen Migrant*innen auf die Regierenden in Bulgarien, deutlich mehr Wahllokale in Deutschland eröffnet werden konnten. Im Jahr 2013 konnte man an fünf Standorten wählen. Im Jahr 2014 konnte man sogar an 16 Standorten seine/ ihre Stimme abgeben. Um die Wahlbeteiligung zu steigern, streben die im Ausland lebenden Bulgar*innen die Eröffnung von Wahllokalen an mehren Standorten und die Etablierung des sogenannten „E-Votings“, d. h. die elektronische Stimmabgabe über das Internet an. Andere transnationale Aktivitäten im Bereich der Politik der in Deutschland lebenden Bulgar*innen haben soziale Dimensionen. Die im Ausland lebenden Bulgar*innen engagierten sich im Rahmen der Aktion der Temporären Bürgerschaftlichen Räte der Bulgar*innen im Ausland bei der Spendensammlung für die Opfer der Flutkatastrophe in der Region Varna im Jahr 2014. Im Jahr 2015 wurde der neue Leiter der Staatlichen Agentur der Bulgar*innen im Ausland gewählt. Zum ersten Mal wurden öffentliche „Hearings“ organisiert, die auch online übertragen wurden. Die Bewerber*innen konnten ihre Programme der breiten Öffentlichkeit vorstellen. Von der Kommission wurde der Vertreter der nationalistischen Partei VMRO Boris Vangelov gewählt, der sich für die Belange der bulgarischen Minderheiten im Ausland einsetzt. Mit dieser Wahl waren die Temporären Bürgerschaftlichen Räte der Bulgar*innen im Ausland nicht einverstanden. Daraus entstand die Initiative „Ich will nicht Vangelov als Vertreter der Bulgaren im Ausland haben“, die vor allem im Facebook Verbreitung fand. Neben den politischen Aktivitäten werden auch ökologische Probleme angesprochen. Sehr aktiv sind die Bulgar*innen im Ausland in Bezug auf die Gestaltung des Seegartens in Varna (die Initiative „Za Morskata“ wird unter anderem vom Stanford-Absolvierenden und Professor an der Universität Mannheim Nikolay Marinov aktiv unterstützt). Eine weitere Initiative befasst sich mit der Gestaltung und dem Artenschutz des Bedetschka-Parks in der Stadt Stara Zagora. Breite Unterstützung findet sich auch für die im Jahr 2018 durchgeführten Protestaktionen gegen die Bebauung des Nationalparks „Pirin“. Die linke Frauengruppe „FemBunt“, die in Berlin von bulgarischstämmigen
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Aktivistinnen gegründet wurde und in den letzten Jahren aktiv ist, unterstützt die Protestbewegung gegen Gewalt an Frauen in Bulgarien, die seit 2018 an Bedeutung gewonnen hat. Linksorientierte junge Aktivist*innen, die in Berlin leben, sind bei der Herausgabe des Online-Journals „dVersia“ aktiv. Zlatko Enev gibt in Berlin das bulgarische Online Journal „Liberalen pregled“ heraus. Die Beteiligung der im Ausland lebenden Bulgar*innen an solchen Initiativen hat einen pragmatischen und einen symbolischen Wert. Pragmatisch kann den Protestierenden durch die Erfahrung und durch eine finanzielle Unterstützung Hilfe gewährt werden. Vor allem ist aber der symbolische Wert bei der Beteiligung der Auslandsbulgar*innen wichtig. Durch das Bild der „im Ausland lebenden erfolgreichen Bulgar*innen“, die sich für eine bestimmte Position in Bulgarien einsetzen, kann die öffentliche Meinung in Bulgarien beeinflusst werden. Das Bild der „jungen“ und „erfolgreichen“ Bulgar*innen, die „es im Ausland geschafft haben“ und sich „für die Heimat“ engagieren, kann als symbolisches Kapital definiert werden. Allerdings ist zu vermerken, dass sich die Auslandsbulgar*innen in vielen Belangen nicht einig sind. Deutlich wurde diese Diskrepanz in Hinblick auf die Diskussionen über die Ratifizierung der sogenannten „Istanbulkonvention“ (Council of Europe 2011). Einige Aktivist*innen unterstützten aktiv die Ratifizierung, wohingegen sich andere gegen die Ratifizierung aussprachen (Ivanov 2018). Gleichwohl ist festzuhalten, dass die meisten Auslandsbulgar*innen apolitisch sind und sich nicht für solche Initiativen engagieren. Teilweise werden gezielt auch Gruppen von Auslandsbulgar*innen organisiert, die eine Gegenposition vertreten. Da die Temporären Bürgerschaftlichen Räte mangels gesetzlicher Grundlage nicht gewählt werden können und nicht die Legitimität besitzen, als offizielle Vertreter*innen der Bulgar*innen im Ausland zu agieren, haben ihre Positionen de facto nicht die Legitimität und die symbolische Wirkung, die sie beanspruchen. Grundsätzlich steht die Möglichkeit transnational aktiv zu sein allen Migrant*innen zu; nicht alle Migrant*innen nutzen sie jedoch im gleichen Ausmaß. Vor allem Personen, die politisch und bürgerschaftlich interessiert sind, die das subjektive Gefühl haben, eine gesellschaftliche Veränderung durch ihre Aktivitäten herbeiführen zu wollen und zu können und Personen, die besser gebildet sind, machen Gebrauch von diesen Möglichkeiten. Die Personen, die in der Herkunftsgesellschaft politisch aktiv gewesen sind, sind auch in der Aufnahmegesellschaft politisch aktiv.
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10.6.2 Heimat: Identifikation mit Deutschland oder Bulgarien? Vier Typen Wie unterscheiden sich die Migrant*innen im Hinblick auf die politischen Werte, die sie teilen? Die bulgarischen Migrant*innen und Mobilen, die in Deutschland leben bzw. nach Deutschland temporär einwandern, können in Bezug auf ihr Verhältnis zur „Heimat“ typologisiert werden. Ich möchte dabei die folgenden Idealtypen unterscheiden: Der bulgarische Patriot, der Expat, der Neue Deutsche und der neu Zugewanderte. Der bulgarische Patriot ist eine Person, die sich überwiegend zu Bulgarien hingezogen fühlt. Er bzw. sie ist in der Regel aufgrund des besseren Lebensstandards nach Deutschland eingewandert. Deutschland interessiert sie bzw. ihn nicht: Man hat keinen Bezug zur Kultur, die in Deutschland angeboten wird. Man lebt in einer abgesonderten Welt, die sich geografisch in Deutschland befindet, wobei sie sozial von Deutschland abgekoppelt ist. Der einzige Berührungspunkt mit der deutschen Gesellschaft ist die Berufswelt, d. h. die Möglichkeit, in Deutschland Geld zu verdienen und seinen individuellen oder familiären Lebensstandard zu erhöhen. Zu diesem Idealtyp gehören Menschen, die zwar nach Deutschland migriert sind, aber eigentlich in Bulgarien und für Bulgarien leben. Der Sinn ihres Aufenthaltes ist nicht, ihr Leben in Deutschland zu gestalten und zu genießen, sondern Geld zu sparen, es nach Bulgarien zu überweisen, dort ein Haus zu bauen, die Kinder oder die Familienmitglieder, die dort leben, zu versorgen. Entscheidend für die analytische Zuordnung zu diesem Idealtyp ist die Sinnzentrierung auf die Herkunftsgesellschaft. Der/die Patriot*in hört überwiegend bulgarische Musik, besucht in der Freizeit Gruppen, in denen man bulgarischen Volkstänze vorgeführt werden; seine/ihre Kinder, falls sie in Deutschland leben, besuchen in ihrer Freizeit eine bulgarische Schule, in der sie die bulgarische Sprache erlernen. Der Freundeskreis besteht fast ausschließlich aus Bulgar*innen und ist ethnisch homogen. Er/sie konsumiert fast ausschließlich bulgarische Medien, feiert zusammen mit anderen Bulgar*innen den bulgarischen Nationalfeiertag, er/sie wählt bulgarische pro-nationalistische Parteien. Er/sie spricht sich gegen andere Migrant*innengruppen, die in Deutschland leben, aus: In seinen/ihren Augen sind sie „ungebildet“ und „unkultiviert“; er/sie befürchtet die „Islamisierung Europas“ und begreift die geopolitische Rolle Bulgariens als ein „Bollwerk“ bzw. als eine „Grenzmauer“, die Europa schützen soll. Er/sie spricht sich gegen die Aufnahme anderer Migrant*innen in Deutschland und Europa aus und reproduziert die traditionellen Vorurteile bezüglich der anderen ethnischen Gruppen, die in Bulgarien leben: die Türken sind „listig“, die
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Roma sind „faul“ etc. Das „Bulgarentum“ wird von ihm/ihr als ein ethnisches Phänomen definiert: Ein „echter Bulgare“, bzw. „eine echte Bulgarin“ ist derjenige/diejenige, der/die bulgarischer ethnischer Herkunft ist. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ist für ihn/sie kein Ergebnis einer bewussten Entscheidung zur Änderung der eigenen Zugehörigkeit, sondern wird als „Instrument“ zur Lösung der eigenen aufenthaltsrechtlichen Probleme angesehen. Sobald diese Probleme gelöst sind, macht der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit keinen Sinn. Bei den Vertreter*innen dieses Idealtyps besteht keine emotionale, sondern lediglich eine pragmatische Bindung zu Deutschland. „Früher hat es Sinn gemacht, als wir noch Visa benötigt haben. Dann war das sehr vernünftig, und sehr wichtig, die Staatsangehörigkeit zu kriegen. Jetzt macht es keinen Sinn. Es ist einfach egal“ (I 13). „Ich habe den deutschen Pass. Ich wollte die Einschränkungen minimieren, die der bulgarische Pass mit sich bringt. Damals war Bulgarien kein EU-Mitglied, ja“ (I 17).
Nach 2007 verzichtet der/die Patriot*in darauf, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. „Ich habe die bulgarische Staatsangehörigkeit. Ich kann auch die deutsche haben, habe ich aber nicht“ (I 2).
Die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit verändert nicht das Gefühl, „Bulgare zu sein“. Der Herkunftsort, d. h. Bulgarien wird eindeutig als „Heimat“ definiert. „Meine Heimat ist Bulgarien, ganz klar. Und ich werde eines Tages zurückkehren“ (I 68). „Wir haben ein Mini-Bulgarien hier in Dortmund gegründet. Wir treffen uns, wir feiern zusammen unsere Feiertage – Ostern, Weihnachten, Namenstage. Wir tanzen. Wir schauen bulgarische Serien. Das ist unsere Heimat. Und es ist egal, dass wir geografisch anderswo sind. Wir sind in Bulgarien, in unserem Bulgarien. Obwohl wir am Arsch der Welt sind (im Original: „нa мaйнaтa cи“)“ (I 70). „Bulgarien ist die Heimat. Auf jeden Fall. Das ist ein ganz anderes Gefühl, wenn man in einem bestimmten Alter nach Deutschland gekommen ist. […] Bulgarien wird immer die Heimat sein“ (I 17).
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„Ich feiere Heilig Abend nach bulgarischem Muster. In den letzten Jahren haben wir den Feiertag hier verbracht. Ich mache ein bulgarisches Fest daraus mit allem drum und dran (…) Meine emotionale Verbundenheit mit der Heimat ist sehr stark. Ich hoffe, ich kann sie den Kindern weitergeben. Ich will etwas für Bulgarien tun. In der Schule, die ich gegründet habe und wo ich lehre – das ist etwas, was ich für Bulgarien machen kann. Ich fühle mich wie ein Botschafter meiner Heimat im Ausland. Ich fühle mich verantwortlich“ (I 22).
Ein weiteres Migrationsprojekt wird von dem/der Patriot*in als beinah ausgeschlossen betrachtet. Wenn die Umstände es erzwingen, wird er/sie migrieren, jedoch muss der potenzielle Ort der neuen Migration geografisch nah an Bulgarien sein. „Wenn ich in einem anderen Land leben müsste, müsste es wieder in Europa liegen. Denn ich habe meine Familie in Bulgarien, die ich möglichst oft sehen möchte. Und wenn sechs Monate vergehen und ich nicht in Bulgarien gewesen bin, möchte ich hin (im Originalton: „möchte ich zurückkehren“, „дa ce пpибepa“, Hervorh. ML). Aber wenn ich außerhalb von Europa lebe, wird es schwierig sein. Natürlich, man kann immer hinfliegen, aber das Gefühl ist anders, wenn du weit weg lebst“ (I 2).
Mit dieser traditionellen Verbundenheit an die „Heimat“ geht eine traditionelle Werteeinstellung einher. Die Vertreter*innen dieses Idealtyps neigen dazu, die traditionellen Frauen- und Männerrollen zu akzeptieren und zu leben. „Das ist sehr gut. Das ist eine sehr gute Sache, die die Emanzipation vernichtet hat.“ „Also, du denkst, dass eine Frau eine Hausfrau sein kann und sein soll?“ „Ja, sie kann zu Hause bleiben. Sie kann sich ganz den Kindern widmen, denn die Kinder brauchen das. Sie brauchen ihre Mutter. Und wenn ein Ehemann das ermöglicht, dass sich die Ehefrau leisten kann, zuhause zu bleiben, dann hat er seine Pflicht erfüllt, die Familie zu versorgen. Denn das ist ja unsere Pflicht – unsere Kinder zu erziehen. Das ist unsere Aufgabe, die wir haben, unsere Mission vor der Menschheit. Denn wir erziehen unsere Kinder am besten selbst. Die Frau erzieht die Kinder am besten selbst“ (I 12).
Dieser Idealtyp praktiziert etwas, was sehr gut in der Definition von Benedict Anderson des Begriffs „Long-Distance-Nationalismus“ umfasst wird: „Es gibt heute einen Long-Distance-Nationalismus jener Leute, die in anderen Ländern leben und sich selbst als nicht völlig akzeptierte Minderheit fühlen. Dies versuchen sie oft zu kompensieren durch den Stolz auf das Land, aus dem sie kommen. Durch die Massenkommunikation ist das viel leichter geworden. Man kann ‚heimisches‘ Radio hören, DVDs sehen, telefonieren, mit billigen Flügen
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Besuche machen und so weiter. Das bringt ein Bild des Herkunftslandes mit sich, das sie emotional oft mehr interessiert als das Land, in dem sie leben“ (Tageszeitung 2007, S. 17). Ein weiterer Idealtyp kann anhand der durchgeführten Interviews analytisch festgestellt werden: Der Expat. Er/sie lebt nur „temporär“ in Deutschland. Die Person hat während des Berufslebens in mehreren Ländern gelebt und gearbeitet. Seine/ihre Kindheit hat er/sie in Bulgarien verbracht und wurde dort schulisch sozialisiert. Nach dem Ende der Schulbildung, im Alter von ca. 20 Jahren, geht es in der Regel in Richtung USA oder Kanada, wo er/sie zunächst studiert. Nach dem Studium absolviert er/sie Praktika in verschiedenen außereuropäischen Ländern (z. B. in Kanada, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Malaysia, etc.). Sie münden in ein Arbeitsverhältnis bei einem global agierenden Unternehmen. Der Weg dieser Personen führt eines Tages nach Europa, vor allem nach London, Barcelona, Paris, Berlin, Amsterdam, München oder Frankfurt am Main. In der Regel werden die Aufenthalte nicht längerfristig geplant. Der Expat hat keinen Bezug zu Deutschland – er/sie ist nicht absichtlich nach Deutschland eingewandert, „es hat sich nun mal ergeben“. Er/sie hat nicht die Absicht, Wurzeln in Deutschland zu schlagen. Er/sie wandert dorthin, wo sich der wirtschaftliche Profit maximieren lässt. Er/sie hat einen globalen Freundeskreis, er/sie ist grundsätzlich offen für verschiedene Kulturen und Praktiken, kennt sie aber nicht tiefergehend und bleibt auch in den Kontakten und Freundschaften oberflächlich. „In der heutigen globalen Welt über bulgarische oder deutsche Kulturwerte zu sprechen, finde ich absurd. Es wird überall auf der Welt Halloween gefeiert; viele wissen gar nicht, was das ist. Für viele ist das nur ein Anlass, sich zu betrinken und die Sau herauszulassen. Es ist grundsätzlich falsch, über konkrete deutsche, spanische, italienische Werte oder Traditionen zu sprechen. Denn durch die Globalisierung und durch die Reisen kommen immer neue Traditionen und Praktiken hinzu. In dieser Welt, die so frei und offen ist, kann jeder so sein, wie er will. Die Traditionen ändern sich, denn wir nehmen ständig von anderen Traditionen und Kulturen was mit“ (I 13).
Mit dieser kosmopolitischen Einstellung geht eine distanzierte Haltung zur Heimat und zu verschiedenen, herkunftsbezogenen Traditionen und Praktiken einher. „Der Begriff ‚Heimat‘ ist nicht so wichtig für mich. Das ist der Wohnort, der Ort, wo mein Leben stattfindet. In Bulgarien leben meine nächsten Menschen, ja. Aber der Begriff ‚Heimat‘ existiert nicht mehr. Er ist für mich nicht wichtig. Die Heimat ist ein wenig ausgedacht. Es bedeutet, dass alles dort ist. Dass du dort bist. Bist du
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aber nicht. Ja, Heimat ist für mich der Ort, wo ich wohne. Und er kann sich ändern. In Bulgarien findet aber mein Leben nicht statt. Deswegen habe ich Probleme mit dem Begriff ‚Heimat‘“ (I 18).
In Bezug auf die Heimat sind bei diesem Idealtyp dennoch unterschiedliche Einstellungen festzustellen. Die Expats, die durch die Mobilität verlieren, da sie gern sesshaft werden möchten und es doch nicht schaffen, da sie weiterhin berufsbedingt wegziehen müssen, obwohl sie es nicht mehr möchten, haben die Notwendigkeit, einen Mittelpunkt in ihrem Leben zu finden. Dieser Mittelpunkt ist dann Bulgarien. „Das Wort ‚Heimat‘ stört mich sehr, denn es hört sich sehr populistisch und nationalistisch an. Aber meine Heimat ist natürlich Bulgarien“ (I 30).
Eine andere Subgruppe unter den mobilen Expats, die als „Gewinner*innen“ der Mobilität und der Globalisierung angesehen werden können, bezeichnen „die Welt“ als ihre „Heimat“. „Für mich ist das Wort ‚Heimat‘ total komisch. Es ist ein altmodisches Wort. Ich habe keine Heimat. Meine Heimat ist die Welt. Dort, wo ich momentan bin. Meine Heimat ist meine Firma, meine Kollegen, die Expat-Gemeinschaft, mit der ich feiere – egal was – Chanukka, das chinesische Neujahr oder Weihnachten. Oder trauere – wenn wir Kollegen verlieren. Das ist Heimat. Die Herkunft ist mir egal“ (I 23).
Mit der Zeit gewinnen die Expats Abstand von Bulgarien. „Zu Beginn habe ich versucht, ihnen die Unterschiede zwischen Bulgarien und Deutschland zu erklären, aber irgendwann habe ich damit aufgehört. Ich habe aufgehört, irgendwas zu erklären, denn ich habe festgestellt, dass sie es nicht verstehen können, es gibt keine Möglichkeit, das zu verstehen. Und im Moment bin ich auf dieser Position – ich höre zu. Und wenn ich in Bulgarien bin, versuche ich in der ersten Woche, mich in die politische und wirtschaftliche Situation hinein zu versetzen, Namen zu lernen, damit ich mich an den Gesprächen beteiligen kann“ (I 17). „Im Moment bin ich überhaupt nicht interessiert. Manchmal lese ich Zeitungen im Internet, aber nicht viel. Ganz bestimmt nicht viel“ (I 16). „Leider habe ich aufgehört, mich mit den politischen Fragen in Bulgarien und in Deutschland zu befassen. Die Politik interessiert mich nicht genug. […] Die Jahre sind vergangen, es ist keine große Veränderung in der politischen Entwicklung in Bulgarien festzustellen, und das ist schade, das ist traurig, denn viel Potenzial in Bulgarien geht dadurch verloren“ (I 4).
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Bei den Expats können auch traditionelle Werte in Bezug auf die Rollenverteilung in der Familie verbreitet sein; diese Werte werden allerdings „aus der Notwendigkeit heraus“ geteilt – sie dienen zur Legitimierung der Entscheidung einer emanzipierten und gut gebildeten Frau, ihrem Ehemann zu folgen und nicht nach für sie adäquaten Beschäftigungsmöglichkeiten zu suchen. Die Teilung dieser Werte ermöglicht die Übernahme einer Rolle, die eine emanzipierte und gut gebildete Frau ansonsten nicht akzeptieren würde. Die Übernahme dieser Rolle ist der Preis, den sie zahlt, um ihrem erfolgreichen Mann auf der globalen Route zu folgen. „Deswegen haben wir ein gegenseitiges Einverständnis in der Familie erzielt, dass mein Mann derjenige ist, der die finanzielle Last trägt. Ich brauche nicht zu arbeiten. Wir können uns das leisten, so zu leben, ohne dass ich meinen finanziellen Beitrag leiste. So bin ich ziemlich verwöhnt worden – ich kann arbeiten, aber ich kann es auch lassen; ich kann auch einen Job kündigen, wenn er mir nicht gut gefällt. Die Arbeit muss nicht gut bezahlt sein, aber sie muss mir gefallen“ (I 21).
Ein weiterer Idelatyp, der sich anhand der durchgeführten Interviews analytisch feststellen lässt, ist der/die Neue Deutsche. Zu dieser idealtypischen Gruppe gehören die bulgarischen Migrant*innen, die über fünf Jahre in Deutschland leben und angefangen haben, Deutschland als ihre „Heimat“ zu bezeichnen bzw. das Gefühl zu entwickeln, neben Bulgarien auch eine „zweite Heimat“ zu haben. Der/die Neue Deutsche kann aus der Perspektive der klassischen Migrationsund Integrationsforschung als „integriert“ und „angepasst“ angesehen werden. Er/sie spricht Deutsch, kennt und lebt die „deutsche Kultur“, beteiligt sich am gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Leben, ist regional und kommunal gut verwurzelt, hat einen breiten Freundeskreis, der ethnisch heterogen ist. Der/die Neue Deutsche lebt gern in Deutschland. Sein/ihr Ziel war, nach Deutschland zu migrieren und in Deutschland zu bleiben. Darauf hat er/sie lange hingearbeitet: die Sprache gelernt, sich informiert und ist möglichst vorbereitet nach Deutschland eingewandert. Dabei behält er/sie auch intensive Kontakte zu Bulgarien. In diesem Sinne ist er/sie nicht „entwurzelt“ sondern lebt in zwei Welten: Er/sie ist in Deutschland angekommen, aber auch in Bulgarien zuhause. Die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit wird durch eine intrinsische Motivation begründet. Der Prozess wird als „Deutsch werden“ bezeichnet: „Ich wollte Deutsche werden, aber nicht wegen mir, sondern wegen der Kinder. Sie hatten die deutsche Staatsangehörigkeit. Mein Mann hatte die rumänische, ich die bulgarische. Und es war total komisch. Wir mussten Deutsche werden. Es kann nicht sein, dass wir in einer Familie sind und nicht die gleichen Rechte haben.
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Unsere Kinder sind hier geboren, sie wachsen hier auf. Deutschland wird ihre Heimat sein, nicht Bulgarien und nicht Rumänien. Und das sollen wir unterstützen. Deswegen haben wir beschlossen, Deutsche zu werden“ (I 31).
Auch der Wunsch nach politischer Partizipation kann für die Entscheidung, sich einbürgern zu lassen, eine Rolle spielen. „Ein Grund, deutsche Staatsbürgerin zu werden, ist, dass ich mich ein wenig isoliert von meiner Familie fühle. Mein Mann ist Deutscher, mein Sohn ist Deutscher, wenn wir in den Urlaub fahren, bin ich ein wenig isoliert mit dem bulgarischen Pass. Ich muss mich immer um irgendein Visum kümmern. Ich fühle mich anders behandelt als die beiden […] das andere, was nervt ist, dass ich mich ohne die Staatsangehörigkeit nicht genug verbunden mit Deutschland fühle, da ich nicht wählen kann“ (I 19). „Ich habe keinen Unterschied gemerkt. Ich habe alles mit meiner bulgarischen Staatsangehörigkeit erreicht. Ich glaube nicht, dass es so viel anders ist. Ja, klar, bei der Wohnungssuche fragt dich jeder danach, aber wir haben es auch so geschafft, mit der bulgarischen Staatsangehörigkeit eine gute Wohnung zu kriegen. Wir leben ja nicht auf der Straße. Aber ich möchte mitentscheiden. Für mich, für meine Kinder. Ich will mitwählen. Denn sie werden hier groß, wir leben hier. Und ich meine, wenn wir ins Ausland fahren, es ist völlig klar, dass man bei Bedarf auf die deutschen Botschaften mehr bauen kann als auf die bulgarischen. Es ist nun mal so. Und das ist auch der pragmatische Punkt. Aber ich würde die deutsche Staatsangehörigkeit nicht beantragen, wenn ich auf die bulgarische verzichten muss. Muss ich aber nicht. Wir sind ja in der EU“ (I 31). Das Ziel, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, ist unter den bulgarischen Migrant*innen in der Zeit bis zum Jahr 2007 sehr verbreitet. Man muss seinen Aufenthaltsstatus sichern. Man ist bereit, auf die bulgarische Staatsangehörigkeit zu verzichten. Seit 2008 ist die Führung einer zweiten Staatsangehörigkeit für EU-Staatsangehörige bei gleichzeitiger Beibehaltung der ersten EU-Staatsangehörigkeit möglich. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist in diesem Sinne kein Selbstzweck, aber viele Migrant*innen lassen sich trotzdem einbürgern: Sie können weltweit visumfrei verreisen und sich politisch äußern. Man kann sich als „Deutsche/r“ in Bulgarien inszenieren, was auch zum Image eines „erfolgreichen“ Migrant*innen gehört. Und man hat auch den bulgarischen Pass. Die Einbürgerung, da sie nicht mehr mit der Ausbürgerung verbunden ist, spricht nicht für eine engere Bindung an Deutschland. Sie ist eine formelle Angelegenheit, eine pragmatische Entscheidung. Die Anzahl der Bulgar*innen, die in der Zeit von 2008-2015 die doppelte Staatsangehörigkeit besitzen, wird auf ca. 16.000 geschätzt.
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Für die Neuen Deutschen ist die Heimat nicht der Geburtsort, sondern der Ort, an dem man lebt. Die Heimat ist „Hier“, der Ort, an den man wohnt und an dem man seinen Alltag gestaltet. „Heimat … ja, für mich ist Deutschland meine Heimat. Ich glaube, meine Heimat ist dort, wo ich bin. Und dort, wo ich mein Leben aufbaue. Ja, ich vermisse Bulgarien, ich vermisse vor allem die Natur Bulgariens. Auch die Kultur. Aber wir haben die Kultur in uns – wenn wir uns versammeln, können wir ja die Lieder singen, uns an die Berge erinnern, an die Natur“ (I 23). „Wenn du mich fragst, wo ich zuhause bin, dann sage ich dir ganz klar – in Deutschland. Bulgarien ist mir fremder geworden, unter uns gesagt“ (I 8). „Mein Leben ist hier, mein Kind ist hier, mein Ehemann ist hier. Ich kann mir vorstellen, dorthin in den Urlaub zu fahren, aber nicht dort zu leben. Ich habe mich vom Leben dort viel zu stark getrennt (Пpeкaлeнo мнoгo cъм ce oткъcнaлa)“ (I 19). „Es ist ein großer Reichtum, wenn man zwei Kulturen genießen kann. Ein Deutscher kann die bulgarische Volksmusik nicht hören, nicht mit dem Gefühl hören, mit dem ich das mache. Er kann den Text nicht verstehen, ohne die bulgarische Geschichte zu kennen. Und das ist für mich ein Reichtum. Hier gibt es auch Sachen, die ich besonders wertschätze. Das Vergnügen, in zwei Kulturen zu Hause zu sein, ist enorm“ (I 17). „Prinzipiell, wenn man über drei Jahre in einem anderen Land lebt, wird man zu einem Mischling (…) nach 15 Jahren fühle ich mich halb Deutscher halb Bulgare. Ich fühle mich hier gut, ich fühle mich auch in Bulgarien gut.“
Interviewerin: „Welches Land ist deine Heimat?“ „Beide Länder. Wenn ich nur in Bulgarien bin, wird mir Deutschland fehlen. Würde mir das Grüne fehlen, das Durchorganisierte. Wenn ich hier bin, brauche ich um die Energie aufzuladen und ein-, zweimal im Jahr nach Bulgarien zu fahren, um die Verwandten und die Familie zu sehen. Dann fühle ich mich gut“ (I 19). „Beides, ehrlich gesagt. Ich kann das nicht sagen. Wenn ich in Bulgarien bin, nerven viele Sachen. Ich kann den Staat manchmal nicht als meinen eigenen Staat akzeptieren. Vieles ist mir aber sehr nah. Wenn ich in Bulgarien bin, fehlt mir Deutschland. Und wenn ich in Deutschland bin, fehlt mir Bulgarien, vor allem die Verwandten, die Familie. Aber ich kann nicht sagen, dass ich nur Bulgare oder nur Deutscher bin. Denn ich lebe schon seit einiger Zeit in Deutschland, und es gibt Verhaltensweisen eines Menschen, sagen wir mal, die die Bulgaren gar nicht akzeptieren würden und die ich als ganz normal ansehe“ (I 16).
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Auch in der Gruppe werden einige Traditionen gepflegt: Man veranstaltet Partys anlässlich des bulgarischen Nationalfeiertags am 3. März und organisiert Tanzkurse, in denen bulgarische Volkstänze gelehrt werden. Die bulgarischen Student*innen feiern den 8. Dezember, den bulgarischen Student*innentag. Die Gruppe der Neuen Deutschen ist ethnisch heterogen, die Ehepartner*innen sind deutsch und die Kinder stammen aus binationalen Ehen. Religiös motivierte Handlungen (Fasten, Kirchenbesuch) kommen sehr selten vor. Die Kirchenbesuche werden dadurch erschwert, dass keine bulgarische orthodoxe Kirche in Deutschland vorhanden ist. Der Bau kostet Geld und aufgrund der Tatsache, dass die bulgarische Community an vielen Orten in Deutschland verteilt ist, ist die Lokalisierung der Kirchengebäude an einem Ort schwierig. Zumal auch die Religiosität der bulgarischen Bevölkerung in der postsozialistischen Zeit nicht besonders hoch ist. Man besucht die griechisch-orthodoxen Kirchen – obwohl die Liturgie die gleiche ist, versteht man die Sprache nicht. Bei der russisch-orthodoxen Kirche sind Unterschiede in der Liturgie festzustellen, allerdings kann die Sprache zumindest ein wenig verstanden werden. Allerdings sind auch diese Kirchen nicht immer in der Nähe und werden aus diesem Grund relativ selten von den bulgarischstämmigen Migrant*innen besucht. „In Essen haben wir keine orthodoxe Kirche. Man fährt entweder nach Düsseldorf oder nach Oberhausen. Das kostet Zeit, das kostet auch Geld. Man macht das sehr selten“ (I 38).
„Deutsche Traditionen“ nimmt man ebenso an. Man geht zum Weihnachtsmarkt, man feiert den Karneval, man trauert in der katholischen oder evangelischen Kirche, man geht in die Kirche, um „eine Kerze anzuzünden“. Man richtet sich nach dem deutschen Feiertagskalender. Da man in der Regel in die bulgarischen Traditionen nicht sehr tief verwurzelt ist, werden deutsche Traditionen zumeist oberflächlich angenommen. Man feiert zugleich internationale Feste wie „Halloween“ oder „Valentinstag“. Mit den muslimischen Arbeitskolleg*innen feiert man das Zuckerfest. Der Idealtyp der neu Zugewanderten wird eingeführt, damit die bulgarischen Migrant*innen, die unter fünf Jahren in Deutschland leben und die nicht eindeutig den oben genannten Idealtypen zugeordnet werden können, eingruppiert werden können. Bezüglich der neu Zugewanderten ist derzeit noch nicht zu entscheiden, wie sie sich auf der oben herausgearbeiteten Typologie verteilen werden.
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10.7 Prozesse der Transnationalisierung in sozialistischen und postsozialistischen Gesellschaften: Systematische Analyse der Ergebnisse Die soziologische Auseinandersetzung mit der bulgarischen Migration nach Deutschland bestätigt empirisch einige Befunde der Migrationsforschung und gibt neue Einblicke in das Thema „Transnationalität“. Die Transnationalität ist nicht eine neue Form der Migration, die besonders stark seit den 1990er Jahren des 20. Jahrhundert in Erscheinung getreten ist. Vielmehr ist sie eine Verflechtung auf Mikro- und Mesoebene zwischen zwei oder mehreren Gesellschaften, die in den einzelnen analysierten Perioden unterschiedliche Formen annimmt und von der Migration beschleunigt wird. Die sozialen Akteur*innen agieren in ihren alltäglichen Interaktionen und Praktiken in nationalstaatlichen Kontexten. Sie werden in diesen Kontexten sozialisiert und nehmen die Welt durch diese national geprägte Brille wahr. In den meisten Fällen bleiben die sozialen Handlungen der Akteur*innen in diesen nationalstaatlich geprägten Kontexten geschlossen – sie überschreiten weder in der Intention noch in der Ausführung die nationalstaatlichen Grenzen. Neben den in den nationalstaatlichen Kontexten geschlossenen Handlungen existieren auch solche, die transnational sind d. h. den kontextuellen Rahmen von zwei und mehreren Nationalstaaten umfassen. Bei bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen nimmt die Intensität der transnationalen Handlungen zu. Wichtige Voraussetzungen für die Transnationalisierung sozialer Handlungen auf Mikroebene sind Migration und Mobilität sowie die strukturellen Bedingungen, die die Migration und Mobilität fördern. Dennoch ist die Transnationalität der sozialen Handlungen nicht ausschließlich mit der Migration oder Mobilität der sozialen Akteur*innen verbunden. Es sind Formen der Transnationalität, z. B. die Transnationalisierung von Wissen und Kommunikation, die nur marginal mit der Migration und Mobilität verbunden sind. Vielmehr sind diese Formen der Transnationalität ein Ergebnis der technologischen Entwicklung und der Möglichkeiten der Verbreitung der Informationen über die Staatsgrenzen hinweg. Jedoch beschleunigen Migration und Mobilität die Transnationalität und heben sie auf ein, quantitativ gesehen, anderes Niveau. Das Vorhandensein bestimmter sozialer Strukturen begünstigt die Etablierung transnationaler Verbindungen. Unter den Bedingungen, die die Transnationalität beschleunigen, sind die technologischen Verflechtungen, die Kommunikationsnetzwerke, die demokratische Grundordnung einer Gesellschaft und die Freizügigkeit ihrer Staatsbürger*innen zu nennen. Eine wichtige Bedeutung haben
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auch die Migrant*innen-Netzwerke in der Aufnahme- als auch in der Herkunftsgesellschaft. Hingegen hindern andere Strukturen die Gestaltung transnationaler Verbindungen: Reise- und Wanderungseinschränkungen ökonomischer, politischer und kultureller Art, die mangelnde Offenheit der Auswanderungs- und der Aufnahmegesellschaft und die mangelnde Kommunikationsverflechtung. Insofern die Nationalstaaten ein modernes Konstrukt sind, ist die Transnationalität ein Phänomen der Moderne. Quasi-transnationale Praktiken, wie ich sie bezeichne, sind dennoch in verschiedenen historischen Perioden vorhanden: Die Möglichkeit in früheren Epochen quasi-transnational, bzw. Grenzen überschreitend, zu agieren bezieht sich allerdings auf Vertreter*innen königlicher Dynastien, auf Religionsvertreter*innen, Händler*innen, Vertreter*innen des Militärs etc. Es ist dennoch eine große Veränderung, die mit der Moderne, mit der Demokratisierung einer Gesellschaft und auch mit der Öffnung der nationalstaatlichen Grenzen innerhalb der EU vollzogen wird: Es handelt sich um die Entstehung eines Massenzugangs zu transnationalen Migrationspraktiken. In einer demokratischen, offenen und modernen Gesellschaft wird die Transnationalität zum Lebensstil von Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten, Generationen und sozialer Schichten, auch wenn diese nicht unbedingt migrieren oder mobil sind. Es ist zwischen der „Internationalität“ und der „Transnationalität“ zu unterscheiden. Auch in der sozialistischen Periode sind, besonders im Rahmen des internationalen Handels, des Tourismus, der Kultur und der Handlungen internationaler Organisationen, verschiedene Formen der internationalen Kooperationen vorhanden. Der Begriff „Transnationalität“ bezieht sich allerdings auf die Handlung der sozialen Akteur*innen auf Mikro(individuelle Verbindungen) oder Mesoebene (z. B. Migrant*innennetzwerke und -selbstorganisationen) und umfasst nicht die großen international agierenden Unternehmen, Organisationen und Institutionen. Er impliziert zum größten Teil eine Selbstbestimmtheit der Handlungen der sozialen Akteure (eine „Agency“), die in den sozialistischen Gesellschaften nur in Ausnahmefällen vorhanden ist. Der Begriff „Transnationalität“ bezieht sich nicht auf die partnerschaftlichen Zusammenarbeitsformen unterschiedlicher Länder: Diese werden mit dem Begriff „Internationalität“ beschrieben. Somit können die grenzüberschreitenden sozialen Praktiken in der sozialistischen Zeit in den meisten Fällen mit dem Begriff „Internationalität“ und viel seltener mit „Transnationalität“ umschrieben werden. Wenn die transnationalen Verbindungen auf Mikro- und Mesoebene eine bestimmte Dichte erreichen, entstehen transnationale soziale Räume. Schlüsselfaktoren für die Entstehung transnationaler sozialer Räume sind die liberale
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Demokratie, die zunehmenden Kommunikationsverflechtungen, die Migration bzw. die Mobilität und die globalisierte Wirtschaft, die weite Teile der Welt umfasst. Zum anderen haben auch die Europäische Integration und das Ende des Kalten Krieges die Prozesse der Transnationalisierung auf ein qualitativ anderes Niveau gebracht. Die sozialen Akteur*innen bekommen mehr Möglichkeiten in Bezug auf die Gestaltung der Kommunikation mit Menschen und Institutionen, die außerhalb ihres Nationalstaates liegen. In diesem Sinne besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den Formen und der Intensität der Transnationalität in den sozialistischen und postsozialistischen Gesellschaften. Der wichtigste Antrieb für transnationale Handlungen auf Mikroebene ist das Bestehen einer, aus der Perspektive der sozialen Akteur*innen, relevanten Gemeinschaft, die über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg gestreut ist. Es handelt sich im Sinne von Anderson um eine „imaginierte Gemeinschaft“ z. B. um die Familie, Freunden, Bekannte und Arbeitskolleg*innen. Die Motivation transnational zu agieren ist nicht (nur) wirtschaftlicher, sondern vielmehr postmaterieller13 Art. Beispielsweise spielt die Suche nach Anerkennung, nach Befriedigung kultureller Bedürfnisse im privaten sowie im beruflichen Feld eine herausragende Rolle für die Motivation, transnational zu aktiv zu sein. Diese Motivation bezieht sich nicht nur auf die Migrant*innen, sondern auch auf die Menschen, die nicht migrieren und trotzdem transnational agieren. Der empirische Fall Bulgariens, der für die Analyse herangezogen wurde, verdeutlicht, inwieweit das gesellschaftspolitische System einer Gesellschaft – Sozialismus, Post-Sozialismus und EU-Mitgliedschaft – eine Wirkung auf die Formen und Intensität der transnationalen Verbindungen auf Mikroebene hat. Anhand dieses empirischen Beispiels lässt sich sagen: Eine Demokratie ist für die Möglichkeiten, transnational zu agieren nicht entscheidend, wirkt sich aber deutlich auf den Umfang und die Intensität der transnationalen Verbindungen im Gegensatz zu einer Diktatur aus. Transnationale Verbindungen können auch in einer Diktatur existieren, allerdings werden sie makropolitisch gesteuert, von den Institutionen des totalitären Staates beobachtet bzw. eingeschränkt und nur einem bestimmten Kreis von (parteitreuen) Menschen ermöglicht. Vielmehr begünstigt die Diktatur den zentralistischen Aufbau grenzüberschreitender Verflechtungen, die ich als „Internationalität“ bezeichne. Die Entstehung transnationaler Räume, d. h. das Erreichen einer Dichte der transnationalen Verbindungen, kann allerdings nur in Gesellschaften erfolgen, in
13Der
Begriff wird im Sinne von Ronald Inglehart (1998) verwendet.
10.7 Prozesse der Transnationalisierung …
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denen die Individuen relativ frei im Hinblick auf ihre wirtschaftliche, politische und lebensweltliche Planung bzw. Gestaltung sind. Die politische und wirtschaftliche Offenheit einer Gesellschaft begünstigt die Transnationalität; sie bedeutet allerdings nicht, dass diese Offenheit von den sozialen Akteur*innen, die von ihr profitieren, nicht hinterfragt wird. Gerade in einer Phase der Zunahme der wirtschaftlichen, politischen Offenheit und der Migrationsbewegungen nehmen auch gegenläufige Tendenzen, wie beispielsweise der Nationalismus und das Streben nach ethnischer und religiöser Schließung, zu. Dies bezieht sich sowohl auf die Aufnahmegesellschaften als auch auf die Migrant*innencommunities. Diese sind nur selten inklusiv. Die Tatsache, dass man in der eigenen Migrationsgeschichte Ablehnung und Ausgrenzung erlebt hat, führt nicht automatisch zur Akzeptanz derjenigen, die weiterhin von der restriktiven Migrationspolitik oder von Exklusion im Rahmen der alltäglichen Interaktionsprozessen betroffen sind. Auch unter den bulgarischen Migrant*innen sind Ausgrenzungstendenzen festzustellen; man betont, man sei „Europäer*in“ und im Unterschied zu den „Türken“, „Arabern“ oder „Albanern“ „weißer“. Die Transnationalität schafft nicht das Gefühl der Zugehörigkeiten ab. Die emotionale Verbundenheit mit der Herkunftsgesellschaft bleibt weiterhin bestehen. Trotz ihrer Variation in Hinblick auf Alter, Migrationserfahrung, sozialen Status etc. ist sie bei allen Migrant*innengruppen vorhanden. Es ist eine Tendenz der Zunahme eines „long distance nationalism“ (nach B. Anderson) festzustellen. Ein Teil der transnational agierenden Migrant*innen bezeichnen als ihre „Heimat“ nicht nur die Herkunftsgesellschaft, sondern auch die Aufnahmegesellschaft; ihre Kinder werden bewusst zweisprachig erzogen, der Freundeskreis gemischt, sie konsumieren sowohl bulgarische als auch deutsche Medien. Der andere Teil der transnationalen Migrant*innen betont hingegen, dass die Herkunftsgesellschaft „die wahre Heimat“ ist. Die meisten Migrant*innen, auch wenn sie in der Aufnahmegesellschaft wirtschaftlich erfolgreich sind, idealisieren die Herkunftsgesellschaft. Das Interesse an den Ereignissen in Bulgarien ist relativ stark: Es werden Zeitungen gelesen, es wird bulgarisches Fernsehen gesehen und mit den Verwandten und Freunden gemailt, gechattet und geskyped. Allerdings mündet dieses Interesse nicht in eine hohe politische Beteiligung: Diese bleibt weiterhin gering. Eine besondere Form der Transnationalität ist die Mobilität. In einigen Quellen (Krasteva 2014) werden die Mobilen mit den besonders erfolgreichen und besser gebildeten Migrant*innen gleichgesetzt, die sich perfekt an den neuen Erfordernissen der Wirtschaft und der Gesellschaft anpassen. Die empirischen Befunde belegen, dass diese These in einigen Fällen zwar zutrifft, wobei es dennoch Menschen gibt, die zur Mobilität gezwungen werden:
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Sowohl unter den besser als auch unter den schlechter qualifizierten Personen besteht unter bestimmten sozialen Bedingungen der wirtschaftliche und/ oder der soziale Zwang zur Mobilität. Entgegen der Erwartungen wird von einigen sozialen Akteuren nicht die Mobilität, sondern die Sesshaftigkeit – gleichzeitig wo – als ‚Befreiung‘ angesehen. Besonders in den Fällen der gewollten, aber nicht möglichen Sesshaftigkeit ist die Pflege transnationaler Verbindungen eine Absicherung, eine Quelle der Anerkennung und der Sinnstiftung. Migrant*innen oder Mobile, die in der Aufnahmegesellschaft einen unsicheren Status haben, tendieren zu mehr Transnationalität im wirtschaftlichen oder im familiären Bereich. Hingegen sind die Migrant*innen, die sesshaft geworden sind, im Bereich der Bildung, der Kultur und der Mediennutzung bzw. -produktion aktiv. Die sozialen Unterschiede zwischen zwei Gesellschaften wirken sich auf die Migration aus und haben in dieser Hinsicht Einfluss auf die transnationale Migration. Die sozialen Unterschiede zwischen zwei Gesellschaften und die daraus resultierende Hinderung einer adäquat, bildungs- und qualifizierungsentsprechenden Platzierung bedingen die Notwendigkeit einer externen Anerkennung und beeinflussen verstärkend die Motivation, transnational zu agieren.
10.8 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde anhand von konkreten empirischen Beispielen die historische Bedingtheit der transnationalen Verbindungen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen im Raum Bulgarien-Deutschland analysiert. Dabei wurde sowohl den mikro- als auch den makrosozialen Bedingungen Rechnung getragen. Die Transnationalisierungsprozesse wurden im Kontext der individuellen Biografien erläutert; die konkrete soziale Schichtung der Akteur*innen in der bulgarischen und deutschen Gesellschaft wurde berücksichtigt. Die Analyse der Migrations- und Mobilitätsprozesse von Bulgarien nach Deutschland durch die Perspektive der Transnationalität und der transnationalen Migration ermöglicht einen historischen Vergleich drei unterschiedlicher Gesellschaftsformen – Sozialismus, Post-Sozialismus und die EU-Mitgliedschaft – und ihre Auswirkung auf die Handlungen der sozialen Akteur*innen auf Mikroebene. 1. In den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen wird die Transnationalität von Vertreter*innen verschiedener sozialer Schichten unterschiedlich stark gelebt.
10.8 Zusammenfassung
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2. Die Migration begünstigt und beschleunigt die Transnationalität und den Aufbau transnationaler Verbindungen; die transnationalen Verbindungen können aber auch ohne Migration gepflegt werden. 3. Besonders intensiv ist die wirtschaftliche Transnationalität: Die Überweisung von Geld wird in allen drei analysierten Perioden von den Vertreter*innen aller sozialen Schichten praktiziert. Dennoch ist in den letzten zehn Jahren eine Zunahme der Tendenz der Geldüberweisungen aus Bulgarien nach Deutschland festzustellen. Diese Tendenz bezieht sich auf die besser gestellten und etablierten sozialen Schichten. 4. Die transnationalen Praktiken sind im Bereich der Gesundheitsversorgung und der Bildung intensiv. 5. Die zunehmende Kommunikationsverflechtung erleichtert die transnationale Medienkommunikation. 6. Hingegen ist die politische und soziale Transnationalität mit besonderen Hürden konfrontiert. Die Befürchtung einiger politischer Akteur*innen in Bulgarien, dass sich die Auslandsbulgar*innen in „interne Angelegenheiten“ „einmischen“ können, legitimiert den Aufbau höherer bürokratischer Hürden gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Beteiligung der Auslandsbulgar*innen (vgl. z. B. die Position des Leiters des Meinungsforschungsinstituts „Mediana“, des Soziologen Kolyo Kolev, veröffentlicht in „Glasove“ vom 04.06.2016, vgl. Glasove 2016). 7. Die meisten bulgarischen Migrant*innen, die sich nach 1989 in Deutschland aufhalten, pflegen mindestens in einem Gesellschaftsbereich transnationale Verbindungen und sind in diesem Sinne „transnationale Migrant*innen“. 8. In der zweiten und dritten Generation können die transnationalen Verbindungen in ihrer Intensität abnehmen; diese These kann allerdings aufgrund der geringen Anzahl und des niedrigen Lebensalters der Bulgar*innen, die zur „zweiten Generation“ gehören, noch nicht überprüft werden. 9. Vor 1989 wurden die meisten bulgarischen Migrant*innen, die sich in der BRD aufgehalten haben, an der Möglichkeit, transnationale Verbindungen herzustellen und zu pflegen, gehindert. 10. Die Möglichkeit der bulgarischen, sich in der DDR aufhaltenden Migrant*innen, transnationale Verbindungen zu pflegen, war grundsätzlich gegeben. Sie wurde jedoch durch die mangelnde Kommunikationsund Transportverflechtung eingeschränkt und durch die Institutionen der sozialistischen totalitären Machtregime in den beiden Ländern kontrolliert.
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Mehrdimensionale Migrationspfade: Migration, Mobilität und Transnationalität in der Zeit des Sozialismus, Postsozialismus und der EU-Mitgliedschaft. Systematische Betrachtung der Ergebnisse
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Zusammenfassung
Kap. 11 bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie. In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, dass die Wanderungsbewegungen (Migration und Mobilität) von Bulgarien nach Deutschland und zurück stark von den historisch entstandenen gesellschaftlichen Makrostrukturen beeinflusst werden. Durch die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, die historisch bedingt ist, ändern sich die Formen und die Intensität der Wanderungsbewegungen. Die Möglichkeiten der sozialen Akteur*innen zu migrieren, mobil zu sein und transnational zu agieren – Phänomene, die ich mit dem Begriff „Migrationspfade“ zusammenfasse – stehen im Zusammenhang mit der Spezifik der Gesellschaft, in der die Wanderung geplant ist; sie werden auch von den Besonderheiten der Gesellschaft, in der die Wanderung vollzogen wird, beeinflusst. In der Arbeit wird zudem die Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten der sozialen Akteur*innen gestellt: Sie werden nicht als ¸Gefangene’ der sozialen Strukturen verstanden. Vielmehr versuchen sie in ihrem Sinne die Strukturen zu ändern, zu nutzen oder anzupassen. Die sozialen Akteur*innen sind diejenigen, die die Entscheidungen treffen, zu migrieren, mobil zu sein, zurückzukehren, wieder auszuwandern, transnational aktiv zu sein etc. und sie sind diejenigen, die diese Entscheidungen verwirklichen. Die Frage nach der Spezifik der Wanderungsbewegungen von Bulgarien nach Deutschland und zurück wurde dreidimensional interpretiert:
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7_11
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• historisch (in Bezug auf drei Perioden in der Entwicklung der bulgarischen Gesellschaft: Sozialismus, Post-Sozialismus und EU-Mitgliedschaft); • auf der Ebene unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche (z. B. Wirtschaft, Kultur, Bildung etc.) und • in Bezug auf die soziale Stratifikation (das verfügbare ökonomische, soziale und kulturelle Kapital der sozialen Akteur*innen). Zum Schluss der durchgeführten empirischen Studie können die folgenden Thesen formuliert werden: 1. Migration als Prozess Die Migrationsforschung ist im größten Teil eine empirische Fallforschung: Einzelne Fälle werden ethnologisch-qualitativ oder statistisch-quantitativ analysiert. Diese konkreten Beispiele werden mit Theorien verknüpft. Die Fokussierung der konkreten Fälle hat mehrere Vorteile – es werden bedeutende Details sichtbar, die Intersubjektivität und die Lebenswelt der sozialen Akteur*innen können besonders bei den qualitativen Studien analytisch rekonstruiert werden. Der Nachteil solcher Studien ist dennoch die Fokussierung eines gegenwärtigen Moments der Analyse; in den meisten Fällen verzichten die Autor*innen auf die historische Perspektive. Die vorliegende Arbeit betrachtet die Migration als einen Prozess, als eine sozial-strukturell bedingte Entwicklung in Zeit und Raum. In der Arbeit stehen nicht eine aktuelle Momentaufnahme, sondern die Veränderungen und Variationen in den Wanderungsbewegungen in einem geografischen Raum in ihren historischen Bedingtheiten im Zentrum. Es handelt sich um eine Prozessanalyse: Migration, Mobilität und Transnationalität werden als Prozesse begriffen; sie werden in ihren historischen Veränderungen und Veränderbarkeiten analysiert. Durch die Analyse der Migration als Prozess können Phänomene erkannt werden, die ohne diese Perspektive nicht zu verstehen wären: Die historische Bedingtheit der Pluralisierung der Migrationsbewegungen, die Beschleunigung der Transnationalität, die Veralltäglichung der Mobilität und die Tendenz zur (virtuellen) Re-Nationalisierung. Die historische Perspektive ermöglicht festzustellen, dass sowohl in der bulgarischen als auch in der deutschen Öffentlichkeit den Migrationsbewegungen eine zunehmende Bedeutung beigemessen wird. Durch die Öffnung der Grenzen
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im Rahmen der EU-Osterweiterung nehmen die Migration und die Mobilität in Europa zu. Es wandern nicht nur Individuen, es ‚wandern‘ Sozialrechte, Versicherungsleistungen, Bildungsberechtigungen, etc., die in einem anderen Staat erworben wurden; es ‚wandern‘ aber auch Vorurteile, Ausgrenzungsmechanismen, ethnische und religiöse Animositäten, soziale Probleme und kulturelle Praktiken. Das verursacht eine widersprüchliche Wahrnehmung der ‚Migration‘ in beiden Gesellschaften. Zum einen wird von „Normalfall Migration“ und von „Postmigration“ gesprochen, ja von einer Veralltäglichung der Wanderungsbewegungen und ihren Folgen; zum anderen wird die Migration als etwas Neues, Bewegendes und gar Revolutionäres interpretiert (ein prominentes Beispiel stellt die These von Ivan Krastev über die „Migration als Revolution“ dar vgl. Spiegel Online 2017). Nur wenn die Migrationsbewegungen in ihrer historischen Bedingtheit und Veränderbarkeit als Prozess betrachtet werden, können diese Widersprüchlichkeiten sowohl in der Gestaltung der Migrationsbewegungen als auch in der öffentlichen Wahrnehmung analytisch eingeordnet und in ihrer Komplexität bzw. Verwobenheit verstanden werden. Nur durch die Analyse der Wanderungsbewegungen als Prozess können auch die Änderungen in der zugeschriebenen Bedeutung mancher Berufe verstanden werden: In der Zeit eingeschränkter Mobilität haben die ‚mobilen‘ Berufe z. B. Flugkapitän*in, Flugbegleiter*in, LKW-Fahrer*in im internationalen Dienst, Zugführer*in im internationalen Dienst, Zugbegleiter*in im internationalen Dienst, Dolmetscher*in, Reiseführer*in ein besonders hohes Ansehen. In der Zeit der zunehmenden und uneingeschränkten Mobilität hingegen, verlieren diese Berufe an Ansehen; sie gehören zu den weniger beliebten und schlechter bezahlten Berufen in Bulgarien nach 2007. Die Migration, Mobilität und Transmigration der Bulgar*innen sind als „Prozesse“ zu verstehen. Momentaufnahmen können die Zusammenhänge der komplexen Migrationsbewegungen nicht ausreichend erklären. 2. Mehrdimensionale Migrationspfade: Zunehmende Heterogenität und Bedarf nach stabilisierenden Erzählungen In der klassischen Migrationsforschung ist die Tendenz festzustellen, die Migration als eine Einbahnstraße darzustellen. Die Migration wird als eine ‚Lebensentscheidung‘ interpretiert, die nicht zu revidieren ist. In der Arbeit wird deutlich markiert, dass diese Eindimensionalität der Migrationsbewegungen nicht gegeben ist. Vielmehr sind die Migrant*innenbiografien mehrdimensional. Sie sind Zusammensetzungen unterschiedlicher Entscheidungen, Pläne, Konstruktionen und Revisionen,
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Anpassungen, Kampf mit dem System und mit dem Zwang der sozialen Strukturen. Die interviewten Personen haben ihre ursprünglichen Migrationspläne mehrmals revidiert. Selbst in relativ geschlossenen und statischen Gesellschaften, wie die der sozialistischen Zeit, sind Mobilität, Migrationsbewegungen, Rückkehr und Transnationalität festzustellen. Menschen profitieren von der Entscheidung zu migrieren und revidieren sie nach Möglichkeit in dem Moment, in dem sie nicht mehr das subjektive Gefühl haben, dass die Migrationsentscheidung eine profitable ist. Die erfolgreichen Migrant*innenbiografien sind diejenigen, in denen die sozialen Akteur*innen sich schnell an die geänderten sozialen Strukturen anpassen. Die Mehrdimensionalität der Migrationspfade ist am besten in den heutigen offenen Gesellschaften Europas zu betrachten: Neben der sogenannten „alten Migration“ (post-koloniale Migration, Gastarbeitermigration, Familienzusammenführung) werden „neue“ Migrant*innentypen und -biografien sichtbar (Postmigrant*innen, Bildungsmigrant*innen, Geflüchtete, entsandte Mitarbeiter*innen, EU-Mobile, Expats, Pendelmigrant*innen, zirkuläre Migrant*innen und Rückkehrmigrant*innen)1. Diese Personen haben nicht das Ziel, permanent sesshaft zu werden. Das spiegelt sich auch in der Heterogenität der Aufenthaltstitel wieder – neben den Eingebürgerten, leben Bulgar*innen in Deutschland, die vor kurzer Zeit eingewandert und noch nicht behördlich angemeldet sind. Gotfried Engbersen und Eric Snel beobachten diese Entwicklung in verschiedenen Gesellschaften und bezeichnen sie in Anlehnung an Zygmunt Baumans „liquid modernity“ als „fluide Migration“ („liquid migration“) (Engbersen und Snel 2013, S. 31 ff.). Die Migrationsprozesse werden heterogener und weniger vorhersehbar: „changed migration patterns in post-industrial societies has made migration less predictable“ (ebenda). Steven Vertovec bezeichnet dieses Phänomen der zunehmenden Heterogenität in der Gesellschaft als „super diversity“ (Vertovec 2007, S. 1025). Die durchgeführte empirische Studie bestätigt die Hypothese der steigenden Heterogenität und Mehrdimensionalität der Migrationspfade. Diese Heterogenität führt allerdings zum Gefühl einer größer werdenden Unsicherheit und zu einer Wiederentdeckung der stabilisierenden Funktion der ‚großen Erzählungen‘, insbesondere des „long-distance nationalism“ (Anderson 2005).
1Für
eine detaillierte Ausführung der Unterscheidung zwischen „neuer“ und „alter“ Migration vgl. Engbersen und Snel (2013, S. 25 f.).
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3. Mobilität als ‚grenzenlose Freiheit‘ und Mobilität als ‚Fluch der Entwurzelung‘ In der soziologischen Migrationsforschung wird der Begriff der Mobilität als etwas Positives konnotiert (vgl. insbesondere Favell 2008; Krasteva 2014; Schwenken 2018). Dieser wird dem Begriff „Migration“ gegenübergestellt. Die Unterscheidung der beiden Begriffe „Migration“ und „Mobilität“ ist nicht nur deskriptiv, sondern hat auch normative Implikationen. Die beiden Begriffe beschreiben nicht nur die verschiedenen Wanderungsbewegungen von Menschen im Raum, indem sie ihnen eine unterschiedliche Bezeichnung geben, die ihren unterschiedlichen Eigenschaften entsprechen. Sie klassifizieren diese Bewegungen, sie werten sie, indem sie die „Mobilen“ als ‚moderne‘, ‚erfolgreiche‘, ‚freie‘, ‚unabhängig von den Visaeinschränkungen‘ der modernen Nationalstaaten, spielend mit verschiedenen hybriden Identitäten definieren. Demgegenüber werden die Migrant*innen als traditionelle Emigrant*innen definiert, die in ihrer Herkunftsgesellschaft noch verankert sind, aber ständig bemüht sind, in der neuen Gesellschaft anzukommen, sich zu ‚integrieren‘ und ihre Loyalität zu beweisen. Die Mobilen migrieren wegen ihrer ‚viel versprechenden professionellen Entwicklung‘, wegen ihrer ‚Selbstverwirklichung‘, wegen ihrer ‚privaten Lebensentwürfe‘, wegen der ‚Freude am Verreisen‘; sie haben Einsätze in verschiedenen Gesellschaften, die manchmal auch auf verschiedenen Kontinenten liegen und Interesse an verschiedenen Lebensmittelpunkten, die sich nicht verlagern lassen, die aber auch nicht verlagert werden müssen. Der Begriff der Mobilität impliziert: Mobil zu sein ist angesehen; wenn man mobil ist, ist man erfolgreich. Hingegen verlassen die Migrant*innen ihr Herkunftsland, um nach Arbeit, Schutz oder besseren Lebensbedingungen zu suchen. Für die meisten von ihnen ist kein Weg zurück möglich und wenn er möglich ist, wird er als ein Zeichen der Erfolgslosigkeit angesehen. Die Migrant*innen bewegen sich nicht frei zwischen den verschiedenen Lebensmittelpunkten, sondern sie versuchen, den Lebensmittelpunkt trotz aller Restriktionen zu verlagern und die Einschränkungen der Migrationsregime oder der eigenen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu überwinden. Die normative Implikation der klassischen Definition der „Migration“ ist mit einer Einschränkung der Auswahlmöglichkeiten und der Alternativen der migrierenden Person verbunden. Der Begriff „Migration“ akzentuiert die soziale Dimension der (Un-)Möglichkeit zu migrieren und fokussiert die Aufmerksamkeit der Migrationsforscher*innen auf Typen der Migration wie die undokumentierte Migration, Fluchtmigration, nicht-qualifizierte Migration, Familienmigration bzw. Familienzusammenführung.
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Diese Implikationen können allerdings in der Studie nicht bestätigt werden. Mobilität ist nicht nur Ausdruck einer Freiheit, sondern auch der Unmöglichkeit, den eigenen Aufenthaltsstatus zu festigen. Die Mobilen können nicht nur als ‚Gewinner*innen‘, sondern u. U. auch als ‚Verlierer*innen‘ bezeichnet werden: Obwohl sie den Wunsch haben, an einem bestimmten Ort zu bleiben, Wurzeln zu schlagen und sesshaft zu werden, ist dies in vielen Fällen nicht möglich – es fehlen Voraussetzungen wie ein Arbeitsplatz, Studienplatz oder Bindungsoptionen; die Möglichkeit, die Familie nachzuholen oder den Freundeskreis ‚mitzunehmen‘. Die Interpretation der Mobilität, die sie lediglich als Ressource, als Ausdruck einer erfolgreichen Biografie ansieht, ist zumindest im konkreten empirischen Fall der bulgarischen Migration nach Deutschland falsch. 4. Zunehmende Transnationalität und steigende Ablehnung der transnationalen Praktiken Transnationale Verbindungen zwischen Bulgarien und Deutschland hat es in allen drei analysierten Perioden gegeben. Mit der Öffnung der Grenzen, mit der Zunahme der Anzahl der Migrant*innen, mit der Zugänglichkeit der Transport- und Kommunikationswege, nimmt die Transnationalität auch bei Nicht-Migrierenden zu. In den einzelnen drei analysierten Perioden nimmt die Transnationalität verschiedene Formen an: Im Sozialismus existiert eine kontrollierte Internationalität auf der Ebene der staatlichen Akteur*innen und eine überwachte und fragmentierte Transnationalität auf der Ebene der sozialen Akteur*innen; im Postsozialismus wird eine aufkommende Transnationalität, vor allem auf Mikroebene, sichtbar; in der Zeit nach dem EU-Beitritt Bulgariens kommt es zu Prozessen, die ich als „entfesselte Transnationalität“ bezeichne und die sich durch eine Intensivierung der transnationalen Verbindungen charakterisiert. Die wichtigste Ursache für eine transnationale Handlung auf Mikroebene ist das Vorhandensein eines signifikanten, subjektiv bedeutenden Anderen, der über Staatsgrenzen hinweg lebt – das kann eine ‚imaginierte Familie‘, ein Freundeskreis oder eine professionelle Verbindung, eine politische oder wirtschaftliche Interessensgemeinschaft sein; es kann sich aber auch um eine aktive bürgerschaftliche Beteiligung auf freiwilliger Basis, z. B. im Bereich der Politik oder im Nichtregierungssektor, handeln. Die transnationale Verbindung konstruiert in diesem Sinne eine ‚virtuelle Gemeinschaft‘, eine ‚virtuelle Heimat‘. Die durchgeführte empirische Studie belegt: Transnationalität wird nicht nur zum Zwecke der Existenzsicherung der Familie und als Kompensation für die erlebte Diskriminierung oder Ablehnung in der Aufnahmegesellschaft gestaltet, sondern auch als Statuszugewinn, als eine Form des Zugewinns an Ansehen
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sowohl in der Herkunftsgesellschaft, als auch in der Aufnahmegesellschaft. Der Statuszugewinn erfolgt, wie in Kap. 10 beschrieben, über die besondere Anerkennung, die man durch Geldüberweisungen, Geschenke, Leistungen, Kenntnisse etc. im Herkunftsland erhält. Der Statuszugewinn tritt, zumindest im hier analysierten empirischen Fall, nicht in Bezug auf einen besonderen politischen Einfluss ein. Aus einer Makroperspektive können in den transnationalen Handlungen der sozialen Akteur*innen Potenziale zur Veränderung der sozialen Strukturen in der Herkunftsgesellschaft gesehen werden. Die These von Luin Goldring (vgl. Goldring 2010), dass die Transmigrant*innen alternative Machthierarchien aufbauen, kann allerdings im Fall den bulgarischen Migrant*innen in Deutschland nicht bestätigt werden. Die Transmigrant*innen werden durch die Kleidung, die sie tragen, durch die Produkte die sie konsumieren, durch die Reisen, die sie sich leisten, zum ‚Trendsetter‘. Allerdings sind nicht bei allen transnationalen Biografien Statuszugewinne festzustellen. Die Aufrechterhaltung von transnationalen Verbindungen zwischen Gesellschaften, die sich in einem ähnlichen wirtschaftlichen und politischen Zustand befinden, etwa Deutschland und den Niederlanden, ist nicht mit besonderer Anerkennung und mit einem Statuszugewinn verbunden. In diesem Fall werden die Transmigrant*innen nicht als ‚erfolgreiche Trendsetter‘ wahrgenommen. Der Statuszugewinn ist nur bei geschlossenen Gesellschaften und bei einem eingeschränkten Zugang zu einer Gesellschaft besonders groß. Die Öffnung der Grenzen wirkt sich positiv auf die Intensität der Transnationalität aus: Immer mehr Bulgar*innen haben zum einen die Möglichkeit und zum anderen den Anlass transnational zu agieren, da es in immer mehr bulgarischen Familien Migrant*innen gibt. Das Ansehen der Migration sinkt allerdings mit der Öffnung der Grenzen, da die Möglichkeit auszuwandern immer zugänglicher wird. Immer mehr Berichte, auch über negative Erfahrungen im Ausland, haben Zugang zur bulgarischen Öffentlichkeit. Damit sie weiterhin ihren Statuszugewinn garantieren können, schaffen die bulgarischen Transmigrant*innen ‚Mythen‘ über ihren Erfolg im Ausland. Je geschlossener eine Gesellschaft ist, desto wahrscheinlich ist es, dass solche Mythen in dieser Gesellschaft verbreitet werden: Ein Beispiel, das diese These belegt, ist die Verbreitung des Mythos „Europa“ und des Mythos „des Westens“ im sozialistischen Bulgarien (Liakova 2013). Da die Migrant*innen, die transnational agieren, von einer Öffnung der Grenzen an Ansehen verlieren, sprechen sie sich oft gegen die Politik der Liberalisierung der Grenzregime aus. In dem Moment, in dem sie ihren Aufenthaltsstatus gesichert haben, beginnen sie sich nicht mehr als Ausländer*in wahrzunehmen. Sie inszenieren sich als längst dazu Gehörige, als ‚Neue Deutsche‘. Zugleich unterstützen sie eine restriktive
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Politik zu den Ausländer*innen. Hinter der Unterstützung dieser restriktiven Politik verbirgt sich u.a. der Versuch der transnationalen Migrant*innen, das eigene Ansehen in der Herkunftsgesellschaft zu erhöhen. Die Unterstützung der restriktiven Grenzregime könnte aber auch durch eine mangelnde Anerkennung in der Aufnahmegesellschaft verursacht sein. Die individuell erfahrene Ablehnung oder Diskriminierung wird möglicherweise an die neu dazu gekommenen Migrant*innen ‚weitergegeben‘. Die besondere Anerkennung in der Herkunftsgesellschaft, die durch die transnationalen Praktiken möglich wird, kann keine Kompensation für die strukturelle Benachteiligung in der Einwanderungsgesellschaft anbieten. Nach 2014 ist verstärkt eine ablehnende Haltung gegenüber der Migration und der transnationalen Praktiken in Bulgarien auszumachen. Diese Praktiken verstärken die Prozesse der sozialen Ungleichheit: Die Unterschiede zwischen den jungen, gebildeten, unternehmerischen Personen, die migrieren können und den älteren, weniger gebildeten, die nicht in der Lage sind zu migrieren und von den offenen Grenzen zu profitieren, nehmen intensiv zu. Das Leben in Migration und Mobilität ist mit Voraussetzungen verbunden, die nicht alle mitbringen. Die Ablehnung der Migration, Mobilität und Transnationalität in der bulgarischen Gesellschaft nimmt moderat zu. Die Migrant*innen sind nicht immer willkommen. In der Öffentlichkeit werden Stimmen laut, den Auslandsbulgar*innen das Wahlrecht abzuerkennen (Glasove 2016). Mit der Öffnung der Grenzen nimmt demnach das Streben nach Sicherheit und Geschlossenheit zu. Abschließend kann ich eine Entwicklung festhalten, die ich das ‚transnationale Paradox‘ nenne: Das Leben in Transnationalität ist im Wesentlichen ein Ergebnis der offenen Gesellschaft. Prozesse der Transnationalität können auch in nicht demokratischen Gesellschaften und ohne politische Freiheit existieren, wie der empirische Fall Bulgariens belegt, wobei diese von staatlicher Seite massiv eingeschränkt und gesteuert werden. Die offenen Gesellschaften hingegen fördern und intensivieren die Prozesse der Transnationalität. Die zunehmende Transnationalität setzt Demokratie, wirtschaftliche und politische Freiheit voraus. Zugleich schaffen die zunehmende Migration, Mobilität und Transnationalität eine Sehnsucht nach festen Strukturen, Bindungen und Sesshaftigkeit. Sie tragen dazu bei, die aufkommenden Tendenzen der Schließung der Grenzen, der Absonderung und das Bekenntnis zum ‚Nationalen‘ zu festigen. Dadurch können sie unter Umständen zu einer Einschränkung der Migration, Mobilität und Transnationalität beitragen.
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5. Eingeschränkte Wanderungsoption und zunehmende Wanderungsungleichheit Aufgrund der empirischen Ergebnisse lässt sich schlussfolgern, dass die sozialen Akteur*innen, die in den analysierten drei Perioden, wandern, über unterschiedliche Wanderungsmöglichkeiten, die ich hier als „Wanderungsoption“ bezeichne, verfügen. Der Begriff „Wanderungsoption“ umfasst die objektiven Möglichkeiten zu wandern sowie das subjektive Gefühl, das Wanderungsprojekt frei gestalten und ändern zu können. Der Begriff „Wanderungsoption“ enthält sowohl die persönlichen Ressourcen, mit der das wandernde Individuum ausgestattet ist – konkret das individuell verfügbare ökonomische, kulturelle und soziale Kapital – als auch die dominierenden sozialen Strukturen in der Auswanderung- und in der Einwanderungsgesellschaft. Diese sozialen Strukturen beeinflussen maßgeblich die Möglichkeit frei aus- und einzuwandern sowie transnationale Verbindungen zwischen einzelnen Gesellschaften aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Ressourcenausstattung auf individueller Ebene ist stark mit der Spezifik der Auswanderungsgesellschaft verbunden. Die sozialen Akteur*innen werden schon vor der Migration mit strukturellen Ungleichheiten konfrontiert, die sich auf die Chancen sozialer Partizipation im Prozess der Migration auswirken. Die Praxis der Ausstellung der Reisepässe in Bulgarien verdeutlicht beispielsweise, dass die Staatsbürger*innen Bulgariens in der Zeit vor 1989 je nach Status unterschiedliche Reisepässe mit unterschiedlicher Gültigkeit erhalten haben. Nicht jeder/e Bürger*in hatte Anspruch auf die Ausstellung eines Reisepasses; vielmehr unterlag das Reisen strikter Kontrolle. Zugang zur Möglichkeit zu reisen, zu migrieren oder mobil zu sein wurde nicht (nur) aufgrund des ökonomischen Kapitals, sondern aufgrund einer besonderen Bewertung des sozialen Kapitals – aufgrund der Treue zur parteipolitischen Linie – gewährt. Grundsätzlich unterliegt die Möglichkeit zu migrieren oder mobil zu sein in geschlossenen, nicht demokratischen Gesellschaften, in totalitären Staaten und Diktaturen besonderer Restriktionen und geht über die ökonomischen Einschränkungen hinaus. Dementsprechend werden Migration und Mobilität insbesondere in geschlossenen Gesellschaften (totalitäre und autoritäre Systeme) eine große Bedeutung beigemessen. In diesen Gesellschaften sind die Individuen und die Institutionen, die die Entscheidung treffen, wer reisen oder migrieren darf, mit besonderer Macht ausgestattet. In der Regel sind sie Teil des institutionellen Apparats des totalitären Staates. Anhand der Ergebnisse der durchgeführten Studie bestätige ich die These von Kaufmann et al. (2004), dass Mobilität als Kapitalform neben den von Pierre Bourdieu ausgearbeiteten Kapitalformen – soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital – existiert. In der Sozialforschung existieren bereits Versuche, den ‚Zugang‘ zur Migration zu messen. Ein bedeutender Schritt in diese Richtung ist der Index
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Integration und Migration III (MIPEX). Im dem von Thomas Huddleston und Jan Niessen in Zusammenarbeit mit Eadaoin Ni Chaoimh und Emilie White entwickelten Index werden vor allem die angebotenen Integrationsbedingungen, d. h. die Offenheit bzw. die Einwanderungsakzeptanz einer Gesellschaft in unterschiedlichen Ländern bewertet und verglichen (vgl. Huddleston et al. 2011). Berücksichtigt wurden 31 Länder, die nach 148 Indikatoren klassifiziert wurden. Die umfangreiche und sehr wichtige Studie betont die Bedeutung von Faktoren, wie staatliche Maßnahmen für die wirtschaftliche Integration von Migrant*innen, Unterstützung der Migrant*innen auf allen Ebenen der Politik und Wirtschaft, Bedeutung der Interkulturellen Bildung für alle Gesellschaftsmitglieder, Rechte der politischen Partizipation, Möglichkeiten der Medienproduktion etc. für die Einwanderungsakzeptanz einer Gesellschaft. Die Studie umfasst allerdings nicht die Problematik der Auswanderung und der Rückkehr. Dass die Migration und Integration im engen Zusammenhang mit den Auswanderungsbedingungen, mit der Möglichkeit frei zurückzukehren und transnationale Verbindungen zu pflegen, stehen, wurde nicht thematisiert. Ebenso wenig wurden die individuellen Ressourcen der Migrant*innen beachtet. Der hier eingeführte Begriff „Wanderungsoption“ soll diese Lücken schließen, in dem er sowohl die individuelle Kapitalausstattung als auch die Ausreise-, Einreise- und Rückkehrbedingungen berücksichtigt. Anhand der durchgeführten Interviews sowie der historischen, auf die Migration bezogenen, Strukturanalyse der beiden Gesellschaften Deutschland und Bulgarien, kann hier abschließend die Frage gestellt werden, ob und unter welchen Bedingungen die Wanderungsoption nach 1989 und insbesondere nach 2007 zunimmt. Bezogen auf die Auswanderungsmöglichkeiten ist an erster Stelle das staatsbürgerschaftliche Recht auszuwandern zu nennen. Im sozialistischen Bulgarien unterliegt dieses Recht besonderen Restriktionen. Nach 1989 unterliegen die Auswanderungsmöglichkeiten keiner staatlichen Einschränkung. Ein weiterer Faktor, der die Wanderungsungleichheit beeinflusst, ist die Akzeptanz der Auswanderung in einer Gesellschaft, die nicht unbedingt identisch mit dem staatsbürgerschaftlichen Recht auszuwandern ist. Im sozialistischen Bulgarien war die Auswanderung de jure stark eingeschränkt, in der Praxis genossen die Auswander*innen eine hohe gesellschaftliche Anerkennung. Nach 1989 bleibt die Akzeptanz der Auswanderung kontinuierlich sehr hoch. Der Erwartungsdruck auf die jungen Menschen, die Abitur machen, um im Ausland zu studieren, wird nach 2007 höher. Ebenso groß ist die Erwartung an Personen, die in Bulgarien keine Arbeit haben: Von ihnen wird erwartet, so die Angaben der Interviewpartner*innen, alles Mögliche zu tun, um ihre Familie zu versorgen, auch wenn
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der Preis dafür ist, das Land zu verlassen und Arbeit im Ausland aufzunehmen. In Bezug auf die strukturellen Ausreisebedingungen ist eine zunehmende Wanderungsoption, die einhergeht mit einem zunehmenden Erwartungsdruck, festzustellen. Die Wanderungsoption wird auch vom staatsbürgerlichen Recht, in ein bestimmtes Land einzuwandern, stark beeinflusst. Besonders relevant hierfür ist die ‚Stärke‘ der einzelnen Reisepässe: Sie unterscheiden sich durch die unterschiedliche Anzahl der Länder, die visumfrei bereist werden können. Vor 1989 benötigte der/die Träger*in des bulgarischen Standard-Reisepasses ein Einreisevisum sowohl für die BRD als auch für die DDR. Unterschiedlich kompliziert war die Ausstellung der Visa für die Träger*innen unterschiedlicher Pässe – die Diplomat*innenpässe und die Dienstreisepässe wurden schnell und unproblematisch bearbeitet. Die Träger*innen der ‚Standard‘-Reisepässe unterlagen strenger Kontrollen: Sie mussten Einkommen nachweisen sowie die Behörden von ihrer Rückkehrabsicht überzeugen. Die Möglichkeit, mit dem bulgarischen Pass sowohl in die DDR als auch in die BRD einzuwandern, unterlag Visarestriktionen. Nach 1989 war die Ausstellung von Einreisevisa für die BRD besonders restriktiv. Bis 2001 mussten die bulgarischen Staatsbürger*innen selbst für kurze Besucherreisen ein Visum beantragen. Nach 2007 standen der freieren Einreise in die Bundesrepublik keine Hürden entgegen. Nach 2014 fielen auch die bürokratischen Hürden in Bezug auf die Arbeitsaufnahme weg. Von besonderer Bedeutung ist die Akzeptanz der Einwanderung von Seiten der Einwanderungsgesellschaft. Die Frage, inwieweit in einer Einwanderungsgesellschaft die Bereitschaft besteht, zugewanderte Personen aufzunehmen und als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren, spielt eine große Rolle. Es sind dahingehend deutliche Veränderungen in der deutschen Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit festzustellen. Trotz der erkennbaren „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2011) ist eine Veränderung im Verständnis der Politik und Gesellschaft über die Bedeutung der Migration für die deutsche Gesellschaft festzuhalten: Das Angebot an Beratungen für Migrant*innen nimmt zu. Die ‚Integration‘ wird nicht mehr als Bringschuld der Migrant*innen angesehen. In den institutionell verankerten, interkulturellen Konzepten ist die Schulung von Mitarbeitenden im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft vorgesehen. Migration und Integration werden zunehmend als gesamtgesellschaftliche Aufgaben aufgefasst. In Bezug auf die strukturellen Einreisebedingungen in Deutschland ist eine Zunahme der Wanderungsoption festzustellen. Von besonderer Bedeutung für die Wanderungsoption ist die Möglichkeit das eigene Migrationsprojekt abzubrechen, nach Bulgarien zurückzukehren und
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Akzeptanz für diese Entscheidung zu finden. Im sozialistischen Bulgarien war die Rückkehr nur bedingt möglich. Sie stand vor allem Menschen zur Verfügung, die das Land mit Genehmigung der bulgarischen Behörden verlassen haben. Die Rückkehr stieß in der sozialistischen Zeit in der Regel auf eine breite Akzeptanz in der Gesellschaft. Hingegen änderten sich die öffentlichen Einstellungen zur Rückkehr nach 1989: Diese wurde zwar juristisch ohne Einschränkungen möglich, sie wurde allerdings als Aufgabe des eigenen Migrationsvorhabens gewertet und mit dem Stigma des Misserfolgs versehen. Erst nach 2007 änderte sich die Einstellung kontinuierlich und es etablierte sich eine höhere Akzeptanz bezüglich der Rückkehrentscheidung. In Bezug auf die Rückkehrmöglichkeiten nach Bulgarien ist zunächst nach 1989 eine Abnahme und nach 2014 eine Zunahme der Wanderungsoption festzustellen. Von besonderer Bedeutung für die Wanderungsoption ist die Möglichkeit, transnational zu agieren. Im sozialistischen Bulgarien wurde die Transnationalität zwar nicht unterbunden, aber staatlich kontrolliert und eingeschränkt: Von den Behörden wurden Briefe geöffnet und gelesen, Pakete nicht zugestellt, Zugang zu westeuropäischen Medien wurde erschwert. Die technische Zugänglichkeit der Transnationalität, z. B. Transportmöglichkeiten, Kommunikationsressourcen, war sehr gering. Trotz dieser Einschränkungen bestand Austausch und Kommunikation zwischen Bulgar*innen, die in der BRD bzw. in der DDR gelebt haben und ihren Verwandten, die in Bulgarien lebten. Geldüberweisungen wurden durchgeführt, Geschenke überreicht; gegenseitige Besuche waren möglich. Nach 1989 und insbesondere nach 2007 erhöhte sich die Zahl der bulgarischen Migrant*innen in Deutschland. Die Intensität der transnationalen Verbindungen nahm zu: Sie umfasste sowohl den Bereich der Bildung und Forschung als auch Sport, Kultur und Wirtschaft. Vor 1989 war die Anerkennung der transnationalen Aktivitäten der sozialen Akteur*innen relativ hoch, was aus dem geschlossenen Charakter der damaligen bulgarischen Gesellschaft resultierte. Die Anerkennung der transnationalen Handlungen blieb zunächst hoch, nahm aber langsam nach 2007 ab. Die Wanderungsoption auf individueller Ebene wird durch die persönliche Ausstattung mit Ressourcen ökonomischer (Beruf, Einkommen), kultureller (Sprache, Religion, Geschlecht, Bildung, Kenntnisse des Alltags) und sozialer Art (Netzwerke, Bekannte, Freunde vor Ort) beeinflusst. Die Ausstattung hängt von der Position des Individuums in der bulgarischen Gesellschaft ab. In einer bildungsnahen Familie aus Sofia waren die Möglichkeiten der Kinder, eine gute Bildung zu erhalten, einen gut bezahlten Beruf zu erlernen, Fremdsprachen zu
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lernen und Kontakte mit Bekannten oder Verwandten, die im Ausland leben, zu pflegen, auch in der sozialistischen Zeit relativ gut. In einer geschlossenen Gesellschaft war allerdings die Möglichkeit der Ausstattung mit migrationsrelevanten Ressourcen selbst für Individuen aus einer höheren sozialen Schicht viel schwieriger: In der sozialistischen Zeit war die bulgarische Währung nicht konvertibel, Sprachkurse wurden nicht flächendeckend angeboten, der Zugang zu fremdsprachigen Medien war eingeschränkt, Kenntnisse über das Leben in Deutschland waren nicht zugänglich und Bekanntschaften über Staatsgrenzen hinweg waren schwierig zu pflegen. Nach 1989 und insbesondere nach 2007 war die Ausstattung mit migrationsrelevanten Ressourcen deutlich einfacher. Dies förderte die Wanderungsoption nicht nur in den höheren sozialen Schichten. Diese Zugänglichkeit von migrationsrelevanten Ressourcen ist allerdings nicht gleichmäßig verteilt. Sowohl in der sozialistischen Zeit als auch nach 1989 sind die Chancen von Menschen, die aus bildungsfernen Familien stammen, Ressourcen dieser Art zu mobilisieren schlechter. Die steigende Arbeitslosigkeit in Bulgarien in den 1990er Jahren, das fehlende System sozialer Sicherung und die prekären Beschäftigungsverhältnisse der neuen digitalen Ökonomie treffen besonders die Personen aus den niedrigeren sozialen Schichten. Für sie ist eine Zunahme der Wanderungsoption, zumindest bis 2007, nicht feststellbar. Nach 2007 gehören diese Personen zu den Menschen, die auswandern, um im Ausland eine weniger qualifizierte Beschäftigung aufzunehmen. Die Wanderungsoption nimmt zu, wobei diese Zunahme nicht gleichmäßig auf alle Schichten verteilt ist. Durch die steigende soziale Ungleichheit nach 1989 wird die Wanderungsoption eingeschränkt. Für die Ärztefamilie aus Sofia, die den Sommerurlaub in Indonesien und den Winterurlaub in den Alpen verbringt, hat die Wanderungsoption eine ganz andere Bedeutung als für eine Familie aus dem bulgarischen Nordwesten, der ärmsten Region der EU, deren Mitglieder auf einer Baustelle in Duisburg arbeiten und seit Jahren keinen Urlaub gemacht haben. Dementsprechend gering ist die Bereitschaft der bulgarischen Familie aus Duisburg, ihre Wanderungsgeschichte im Sinne der ‚Freiheit‘ zu begreifen und zu interpretieren, obwohl nach objektiven Kriterien, z. B. Beschäftigung, Einkommen und der Möglichkeit, zu wandern, diese Familie besser gestellt sein mag, als sie es vor 30 Jahren gewesen wäre. Vor 30 Jahren wäre die Wanderungsoption der beiden idealtypischen Familien in der beschriebenen Form nicht realisierbar gewesen. Auch das Alter spielt eine wichtige Rolle für die Bewertung der Wanderungsoption – Menschen, die im Sozialismus im aktiven Erwerbsalter gewesen sind und besonders gute Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie erhielten, hatten Zugang zu besonderen Wanderungsmöglichkeiten: Bildung im Ausland,
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diplomatischen Beruf, Erwerbstätigkeit im Ausland. Nach 1989 erfuhren diese Menschen Einschränkungen in der Wanderungsoption. Sowohl ihr Einkommen als auch ihr Status wurde reduziert; sie wurden teilweise mit einer gesellschaftlichen Verachtung konfrontiert. Nach der Wende wurden zugleich ihre sozialen Kapitale blockiert. Die objektiv zunehmende Wanderungsoption wurde von ihnen negativ bewertet. Das Geschlecht hat auch eine wichtige Bedeutung für die subjektive Wahrnehmung der Wanderungsoption. Mit der Zunahme der Wanderungsoption erhöht sich die Anzahl vor allem von Frauen, die frei auswandern können, aber auch teilweise zu Wanderung gezwungen werden. Dabei kann die Wanderungsbereitschaft niedrig sein: Die konkrete Person bevorzugt es möglicherweise, zu Hause zu bleiben und sich um die eigenen Kinder zu kümmern, wobei sie zur Wanderung strukturell gezwungen ist. Sie wird mit einem Auswander*innenhabitus, wie ich das nennen möchte, mit einer zur Selbstverständlichkeit gewordenen Praxis der Auswanderung, aus der Erwartungsdruck entsteht, konfrontiert. In diesem Fall ist die objektive Wanderungsoption nicht identisch mit der subjektiv wahrgenommenen: Die Wanderungsoption mag wie Wanderungsdruck wahrgenommen werden. Grundsätzlich kann festgestellt werden: Die Merkmale sozialer Status, Alter, Geschlecht sind hoch relevant für die subjektive Wahrnehmung und für die Bewertung der Wanderungsoption. Mit der Zunahme der Wanderungsoption nehmen allerdings die ethnische Heterogenität und die soziale Ungleichheit der Migrierenden zu. Diese werden ihrerseits Grundlagen der steigenden kritischen Bewertung der Migration und Mobilität, der Stärkung der Sehnsucht nach Geschlossenheit und Gemeinschaft sowie der Zunahme der Europa-skeptischen Tendenzen unter Menschen mit Migrationserfahrung: Tendenzen, die sich nicht nur auf bulgarische Migrant*innen beziehen lassen.
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Literatur
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 6.1 Anzahl der bulgarischen Staatsbürger*innen in Deutschland (1991–2019) Abb. 6.2 Anzahl der Eheschließungen zwischen bulgarischen Staatsbürgerinnen und deutschen Staatsbürgern (1991–2015) Abb. 6.3 Anzahl der Eheschließungen zwischen deutschen Staatsbürgerinnen und bulgarischen Staatsbürgern (1991–2015) Abb. 6.4 Anzahl der bulgarischen Studierenden in Deutschland (1991–2019)
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7
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Tabellenverzeichnis
Tab. 4.1 Einreisen ausländischer Staatsbürger*innen und Ausreisen bulgarischer Staatsbürger*innen (1965–2008) Tab. 5.1 Häufigkeit der Verwendung der Begriffe im Rahmen der Debatten im bulgarischen Parlament (1990–2015) Tab. 8.1 Rückkehrmigration bulgarischer Staatsbürger*innen nach Bulgarien (2012–2017)
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Liakova, Verhindert, verdeckt, unsichtbar – Migration und Mobilität von Bulgarien nach Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30457-7
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Abkürzungsverzeichnis
a. e. Archivna edinica [Archiveinheit] BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAN [BAW] Bulgarska Akademija na naukite [Bulgarische Akademie der Wissenschaften] BHK Bulgarian Helsinki Commitee BKP Bulgarska Komunisticheska Partija [Bulgarische Kommunistische Partei] BRP (k) Bulgarska Rabotnicheska Partija (komunisti) [Bulgarische Arbeiterpartei (Kommunisten)] BSK Bulgarska stopanska kamara [Bulgarische Wirtschaftskammer] BTPP Bulgarska turgovsko-promishlena palata [Bulgarische Industrie und Handelskammer] Comdos Komisija za dosietata [Kommission zur Veröffentlichung der Unterlagen und zur Erklärung der Zugehörigkeit bulgarischer Staatsbürger zu den Staatssicherheitsdiensten und den Militärabschirmdiensten der Bulgarischen Volksarmee, d. h. Kommission für die Veröffentlichung der Archivmaterialien der bulgarischen Stasi] DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst DPS [BRF] Dvizenie za prava i svobodi [Bewegung für Rechte und Freiheiten] DS Durzavna sigurnost [Staatssicherheit] F Fond GERB Politische Partei GERB ILO International Labour Organization IOM International Organisation for Migration
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Abkürzungsverzeichnis
l List (Blatt) MVnR Ministerstvo na vunshnite raboti [Außenministerium] Op. Opis (Auflistung) PB Politbüro UdSSR Sowjetunion VRB Volksrepublik Bulgarien ZK Zentralkomitee
Liste der Interviewpartner*innen
Interview Nr.
Geschlecht
Alter
Beruf
Geburtsort
1
m
53
Informatiker
Sofia
2
w
37
Bauingenieurin
Yambol
3
m
49
Zahnarzt
Plovdiv
4
w
42
Krankenpflegerin
Plovdiv
5
m
65
Ingenieur (Selbstständig)
Sofia
6
w
65
Hausfrau
Sofia
7
w
64
Kauffrau
Plovdiv
8
w
63
Opernsängerin
Sofia
9
w
45
Professorin
Sofia
10
w
45
Ungelernte Arbeiterin
Plovdiv
11
m
44
Informatiker
Varna
12
w
49
Erzieherin
Dobritch
13
w
36
Diplomatin
Sofia
14
m
32
Mitarbeiter in der Gastronomie
Shumen
15
m
49
Professor
Goce Delchev
16
w
39
Marketing-Manager
Pazardzik
17
w
54
Germanistin
Shumen
18
w
39
Soziologin
Sofia
19
w
36
Chemikerin (Produktmanagerin)
Lyubimetz
20
w
83
Krankenpflegerin
Sofia
21
w
39
IT-Managerin
Sofia
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Liste der Interviewpartner*innen
Interview Nr.
Geschlecht
Alter
Beruf
Geburtsort
22
w
44
Rechtsanwältin
Sofia
23
m
38
Manager
Warna
24
w
40
Dolmetscherin
Sofia
25
w
38
Manager
Lovetsch
26
w
33
Manager
Haskovo
27
m
37
Rechtsanwalt
Sofia
28
m
42
Chemiker
Plovdiv
29
w
40
Professorin
Vidin
30
w
35
Historikerin
Sofia
31
m
34
Architektin
Sofia
32
m
77
Ingenieur
Sofia
33
w
44
Wirtschaftswissenschaftlerin
Sofia
34
m
28
Betriebswirtschafter
Nesebar
35
w
28
Chemikerin
Plovdiv
36
m
47
Betriebswirtschafter
Varna
37
m
42
Chemiker
Plovdiv
38
w
46
Krankenpflegerin
Plovdiv
39
w
64
Physikerin
Sofia
40
m
62
Botschaftsmitarbeiter Ost-Berlin
Sofia
41
w
67
Ingenieurin
Varna
42
m
77
Botschaftsmitarbeiter Bonn
Sofia
43
m
43
Historiker
Sofia
44
m
69
ungelernter Arbeiter
Karlovo
45
m
72
Automechaniker
Plovdiv
46
m
44
Ingenieur
Stara Zagora
47
w
42
Wirtschaftswissenschaftlerin
Velingrad
48
m
62
Kaufmann
Sofia
49
w
47
Kauffrau für Bürokommunikation
Sofia
50
w
49
Realschulabschluss
Pleven
51
m
58
Germanistik
Sofia
52
w
37
Bauingenieurin
Yambol
Liste der Interviewpartner*innen
525
Interview Nr.
Geschlecht
Alter
Beruf
Geburtsort
53
w
57
Handwerker
Veliko Tarnovo
54
w
71
Krankenpflegerin
Sofia
55
m
74
Ingenieur
Sofia
56
m
76
Ingenieur
Sofia
57
m
77
Techniker
Plovdiv
58
m
75
Fabrikarbeiter
Radomir
59
m
72
Flugbegleiter bei der staatlichen Fluggesellschaft BGA „Balkan“
Sofia
60
m
46
Grafiker
Pleven
61
m
42
Pflegefachkraft
Plovdiv
62
w
38
Germanistin
Stara Zagora
63
w
43
Historikerin
Sofia
64
m
39
Wirtschaftswissenschaftler
Sofia
65
w
43
Reinigungskraft
Burgas
66
m
39
Arzt
Plovdiv
67
m
69
Chemiker
Plovdiv
68
m
27
Bauarbeiter
Gabrovo
69
m
46
Ingenieur
Razgrad
70
m
29
Bauarbeiter
Sevlievo
71
m
72
Ingenieur
Sofia
72
w
27
Studentin
Sofia
Anmerkung: Die von mir dokumentierten Aufenthaltsorte der interviewten Personen zum Zeitpunkt des Interviews wurden aus Gründen der Anonymisierung hier nicht wiedergegeben.
Literatur
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