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German Pages 386 [388] Year 2004
B E I H E F T E
ZU
editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER
B a n d 21
Autor - Autorisation - Authentizität Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002
Herausgegeben von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-29521 -X
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorwort
1
I. Begrifflichkeit und Methodik Erich Kleinschmidt Autor und Autorschaft im Diskurs
5
Thomas Bein Autor - Autorisation - Authentizität Mediävistische Anmerkungen zur Begrifflichkeit
17
Helga Lühning Komponist, Notentext und Klangwirklichkeit. Über die Autorisation des musikwissenschaftlichen Editors
25
Siegfried Scheibe Zur Abgrenzung der Begriffe Autorisation und Authentizität
31
Gunter Martens Autor - Autorisation - Authentizität. Terminologische Überlegungen zu drei Grundbegriffen der Editionsphilologie
39
Rüdiger Nutt-Kofoth Der .echte' Text und sein Autor. Ansätze zu einem funktionalen Authentizitätsbegriff vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte von .Autorisation' und .Authentizität' in der neugermanistischen Editionsphilologie
51
Karl Konrad Polheim Die scheinbare Autorisation oder Der Schutz des Autors vor sich selbst
65
Peter Shillingsburg Authority and Authorization in American Editing
73
Ulrich Müller Der mittelalterliche Autor. Eine (postmoderne) Mischung aus Lazarus, Proteus und Medusa? - oder: Autorisation und Authentizität: Mittelalterliche Liebeslyrik als Erlebnislyrik?
83
VI
Martin Baisch Autorschaft und Intertextualität. Beobachtungen zum Verhältnis von , Autor' und .Fassung' im höfischen Roman
Inhalt
93
II. Autor- und werkbezogene Beiträge Elmar Willemsen Über den Gebrauch von synoptischen Ausgaben. Das Beispiel Walther von der Vogelweide
105
Ruth Meyer Magister - Mystiker - Magier? Das Bild Alberts des Großen in volkssprachigen Texten des Mittelalters
115
Joachim R. Söder Autorität und Argument. Zur Aristoteles-Rezeption im Mittelalter
131
Elke Senne Probleme der Autorschaft und Authentizität in der Überlieferung des Fließenden Lichtes Mechthilds von Magdeburg
139
Robert Luff Autorschaft im Buch der Natur Konrads von Megenberg
153
Wernfried Hofmeister Ein Autor ,outet' sich: Hugo von Montfort (1357-1423) im rezeptioneilen Spannungsfeld
165
W. Günther Rohr Stephen Greenblatt und das Phantom Johann von Mandeville'
173
Martin J. Schubert Autorisation und Authentizität in Johannes Rothes Elisabethleben
183
Reinmar Emans Doppelzuschreibungen als Problem der Echtheitskritik
193
Annette Landgraf Händeis Umgang mit dem musikalischen Werk
203
Elke Bauer fassen Sie den Grafen diesen Gesandten seyn. So habe ich ganz gewiß nicht geschrieben". Vom Dilemma des Editors: Textgrundlage versus Autor am Beispiel von Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti
211
Günter Arnold Johann Gottfried Herders widersprüchliches Verhältnis zur Autorschaft
221
Bodo Plachta Goethe über das „lästige Geschäft" des Editors
229
Inhalt
VII
Silke Henke Von Goethe autorisiert: Johann Peter Eckermann als Redakteur der Reise in die Schweiz 1797
239
Luigi Reitani Das Problem der Autorisation in den Hölderlin-Ausgaben
251
Annette Seil Das Problem der Authentizität von Nachschriften zu Hegels Vorlesungen über Logik und Metaphysik
257
Anette Müller Zum Autorisationsmodus von Kopistenabschriften Schumannscher Kompositionen
265
Jürgen Hein Sind Johann Nestroys Possentexte autorisiert und authentisch?
277
Walter Hettche, Johannes John Adalbert Stifters Erzählung Derfromme Spruch. Überlegungen zur Edition mehrfach autorisierter Fassungen eines Nachlaßtextes
287
Cristina Urchueguía Richard Wagners plurale Autorschaft. Überlegungen zur Edition von Richard Wagners Libretti am Beispiel von Tannhäuser
293
Michael Kube Der Interpret als Autor. Zur Genese und Ausgabengeschichte von Max Bruchs Violinkonzert g-Moll op. 26
307
Paul Eggert Autorität des Textes oder Autorisation. Die postkoloniale Adaptation herkömmlicher Editionsverfahren fur Robbery Under Arms
315
Gabriele Radecke Textautorität statt konstruierter Autorwille. Zum Problem der Mehrfachformulierungen in Theodor Fontanes Roman Mathilde Mehring und ihrer Darstellung im edierten Text
325
Glenda Dawn Goss Worttext und Übersetzungen in Sibelius' Kullervo-Symphonie
333
Eberhard Sauermann Probleme der Autorisation bei Trakl
345
Joaquín Moreno Barrientos Autor - Text - Aufführung. F. Bruckners Stück Elisabeth von England und seine Wiener Inszenierung in der Regie von J. Gielen
357
VIII
Inhalt
Roland Berbig „diese Briefe [...] alle wie Partikel eines seiner Romanprojekte" Zum Problem von Autorisation und Erzählen bei Uwe Johnson
365
Anschriften
377
Vorwort
Vom 20. bis 23. Februar 2002 fand am Germanistischen Institut der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen unter der Leitung von Thomas Bein die internationale und interdisziplinäre Fachtagung .Autor - Autorisation - Authentizität' statt. Getragen wurde die Tagung von drei wissenschaftlichen Gesellschaften: der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, der Arbeitsgemeinschaft für philosophische Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung. Eine große Anzahl von Referentinnen und Referenten aus dem In- und Ausland (darunter Fachvertreter aus Australien, den USA, England, Italien, den Niederlanden, Belgien, Österreich, Finnland und Dänemark) war nach Aachen gekommen. Insgesamt nahmen über 200 Wissenschaftler an dem Symposion teil. Im Mittelpunkt der Tagung standen zentrale Kategorien und Begriffe editorischen Arbeitens. Der in den letzten 30 Jahren hinterfragte, .abgeschaffte' und neuerdings wiederbelebte Begriff des Autors bot Anknüpfungspunkte für verschiedene Beiträge: Wie sicher sind die Zuordnungen von Werken zu Autor(nam)en, besonders in weit zurückliegenden Zeiten (Antike, Mittelalter); wie notwendig ist diese Zuordnung überhaupt? Welche Rolle spielt die Kenntnis des Autors, seiner Biographie für die editorische Arbeit? Eng verknüpft mit der biographischen Instanz ,Autor' sind die beiden anderen im Tagungsthema benannten editorischen Termini. .Autorisation' als ein Bevollmächtigungsakt ist dabei mit der realen Person des Autors verbunden und gilt zum anderen als editorische Kategorie der Zuordnung von Texten zu einem Autor bzw. als Kriterium der textkritischen Bewertung überlieferter Texte. Auch hier erfordern die differenten Überlieferungslagen älterer und neuerer Texte sowie der verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Vorgehensweisen und eine unterschiedliche Gewichtung des Kriteriums der .Autorisation'. Dem Begriff der .Autorisation' ist zudem deijenige der .Authentizität' an die Seite getreten. Auch er dient als Bewertungskriterium für überlieferte Texte und kann dabei für ältere wie neuere Texte zugleich herangezogen werden. Doch bleibt die Befragung von Texten auf ihre .Autorisation' oder .Authentizität' nicht nur an die Überlieferungslage gebunden, sondern zugleich an das jeweilige Interesse des Editors, sein Konzept und praktisches Verfahren, sei es nun hinsichtlich der Ermittlung originaler (verlorener) Autortexte, der Feststellung von deren .Echtheit', der Wiedergabe historischer Fassungen (z.B. bei späterer Überlieferung oder bei speziellen Realisierungen wie musikalischen oder theatralischen Aufführungen) oder auch hinsichtlich des Interesses an den neuzeitlichen Handschriften als den Textträgern, die gegenüber dem Druck in der Regel ohne Beteiligung oder Eingriffe Dritter den .ursprünglichen' Autortext enthalten.
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Vorwort
Die Referate der Aachener Tagung, die in diesem Band dokumentiert sind, zeigen, daß die drei Begriffe im Tagungsthema sich wechselseitig berühren und miteinander verflochten sind. Eine bestimmte editorische Gewichtung des einen Terminus impliziert einen entsprechenden Umgang mit den jeweils anderen Termini. Insofern bilden ,Autor', .Autorisation' und .Authentizität' ein Begriffsfeld editorischer Theorie und editorischen Arbeitens, das in der fallweisen Austarierung Auskunft über das jeweilige Erkenntnisinteresse des Editors gibt. Hier lassen sich unterschiedliche methodische und historische Verfahrensweisen erkennen. Beiträge, die sich verstärkt mit den übergreifenden Zusammenhängen des Begriffsfelds beschäftigen, sind an den Anfang des Bandes gestellt. Ihnen schließen sich - in chronologischer Folge hinsichtlich ihres Objektes - die Beiträge an, die vor allem einzelne Aspekte der Begrifflichkeit und Fallbeispiele bei bestimmten Texten oder Autoren diskutieren. Eine weitere Untergliederung des Bandes war aufgrund der oben genannten engen Verknüpfung der leitenden Begriffe nicht sinnvoll. Auch wenn ein Beitrag den Schwerpunkt in der Erörterung eines der drei Termini setzt, gibt es doch immer wieder Verbindungen zu den je anderen. Die Beiträge zeugen von einer intensiven Durchdringung des terminologischen Feldes und dessen Reflexion in der Anwendung der Begrifflichkeit auf konkrete Fälle. Daß eine allgemeingültige, von allen Teilnehmern akzeptierte Definition der vielfach changierenden Begriffe hätte erreicht werden können, war schon im voraus kaum zu erwarten. Doch hat die Aachener Tagung das Bewußtsein für die historische und theoretische Einordnung der behandelten editorischen Zentralbegriffe geschärft und damit einem methodisch bewußten Umgang mit den editionsphilologischen Termini weiter vorgearbeitet. Die meisten Referentinnen und Referenten haben sich freundlicherweise bereit erklärt, ihre Vorträge auch in schriftlicher Form fur eine Publikation aufzubereiten. Eine Reihe von Beiträgen, darunter einige Plenarvorträge, sind im Jahrbuch editio 16, 2002, und 17, 2003, veröffentlicht, einige Beiträge, die sich insbesondere mit der elektronischen Datenverarbeitung befassen, erscheinen in Jahrbuch fiir Computerphilologie 5, 2003. Die anderen zur Verfügung gestellten Beiträge werden in diesem Beiheft zu editio vorgelegt. Die erfolgreiche Durchführung der Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die finanzielle und organisatorische Unterstützung durch die Philosophische Fakultät der RWTH Aachen, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die drei Arbeitsgemeinschaften und viele Fachverlage. Bei der technischen Seite der Druckvorlagenherstellung hat Esther Ehlen (Aachen) große Hilfen geleistet; für ihre sorgfältige und umsichtige Arbeit haben wir besonders zu danken. Aachen, Hamburg, Amsterdam im Mai 2004 Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta
I.
Begrifflichkeit und Methodik
Erich
Kleinschmidt
Autor und Autorschaft im Diskurs1
„bezeichnend nicht, so auch nicht zeichenlos" (Ingeborg Bachmann: Ihr Worte)2 In einer der letzten Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, Des Vetters Eckfenster, findet sich die Episode vom Blumenmädchen, das der Schriftsteller-Vetter auf dem Markt als Leserin eines seiner Bücher antrifft. Er erbittet ihr Urteil darüber. Es mündet darin, man fühle sich bei der Lektüre des Werkes so, „als wenn man mitten darin säße". Stolz gibt der Vetter sich als Verfasser zu erkennen: „Hier, mein süßer Engel, hier steht der Autor des Buchs, welches Sie mit solchem Vergnügen erfüllt hat, vor Ihnen in leibhaftiger Person." Seine Erwartung zielt auf des Mädchens Interesse am „sublime[n] Genie, dessen schaffende Kraft solch ein Werk erzeugt" habe. Statt dessen geschieht etwas ganz anderes. Jegliche Reaktion bleibt aus, so daß dem Autor als „Schmach" bewußt wird, „daß das Mädchen niemals daran gedacht, daß die Bücher, welche sie lese, vorher gedichtet werden müßten. Der Begriff eines Schriftstellers, eines Dichters war ihr gänzlich fremd". Ironisch merkt der derart Verkannte nur noch an, er habe nicht mehr weiter nachgefragt, denn dann wäre vermutlich „der kindliche Glaube ans Licht gekommen, daß der liebe Gott die Bücher wachsen ließe wie die Pilze".3 Texte funktionieren offenkundig ganz gut, ohne daß man wissen muß, ob einer und wer gar sie geschrieben hat. Die Position des Autors ist eine ungewisse, und so taucht seine Figur auch in den Anfangszeiten aller Weltliteratur nicht auf. Aber auch dort, wo dann Namen im Schnittfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gebräuchlich vorzukommen beginnen, geht es zunächst mehr um eine materialbezogene (Zu-)Ordnungsfunktion des .Machers' (gr. poietés) als um ein genuines Interesse an biographischer und produktiver Repräsentanz gegenüber dem Werk. Der Autor als In1
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Der Beitrag wurde als Eröffnungsvortrag (20. 2. 2002) für die in Aachen von der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition veranstaltete Tagung Autor - Autorisation - Authentizität konzipiert und ist in dieser Form belassen. Auf detaillierte Literaturnachweise wurde, soweit nicht unbedingt nötig, verzichtet. Sie ergeben sich mittelbar leicht durch die bibliographischen Angaben im Artikel Autor/Künstler, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart, Weimar 2000, S. 480-544 (M. Wetzel). Vgl. auch Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 25-29. Ingeborg Bachmann: Werke. Hrsg. von Christine Koschel, Ingrid von Weidenbaum und Clemens Münster. Bd. 1. München, Zürich 1978, S. 163. E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster. In: Ders.: Werke. Bd. 4. Hrsg. von Walter Müller-Seidel. München 1965, S. 595ff., hier S. 607f.
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Erich Kleinschmidt
dividuum mit einer eigens zu erinnernden Biographie aktueller oder memorialer Gegebenheit hat lange Zeit, sieht man von anekdotischen oder hagiographischen Trivialprojektionen einer Autorgeschichte ab, keinen kulturell ausdifferenzierten Ort im Bewußtsein der Rezipienten seiner Texte. Erst mit der .Erfindung' des schöpferischen Subjekts, das sich wesentlich neuzeitlicher Denkprägung, aber auch Marktkonzepten verdankt, wird die spezifische Verbindung von Person und Text- bzw. Kunstproduktion wichtig und deshalb auch theoretisch entworfen. Der historisch schlagende Befund, daß der Umgang mit Texten ohne eine vernetzte Kenntnis mit deren Urhebern auskommen kann, gefährdet die grundsätzliche, funktionale Wertigkeit des Autorbegriffs. Die Geschichte seiner nachhaltigen Einfuhrung und Aufladung verweist darauf, daß für bestimmte Epochen- und Gestaltungszusammenhänge auf ihn auch nicht zu verzichten ist. Gleiches gilt fur seine partielle neuerliche Tilgung im Kontext von zunächst .klassischer' Moderne seit Mallarmé und betont dann in postmodernen Textdiskursen. Dies prozessuale Auftauchen und Verschwinden der Autorposition begründet für diese das Prinzip konkurrierender Markierung. Man kann daraus dessen funktionale Relativierung ableiten (Barthes, Foucault), ergiebiger wirkt das Modell von Intensitätsschüben, die registerartig einmal mehr die Textsphäre und einmal mehr den personalen Produktionsbereich ins Spiel bringen. Abdrängung und Betonung bestimmen dann für den Autor die ihm gewidmeten, ästhetischen Hintergrunddiskurse ebenso wie das grundständige Interessenprofil der Lektürepraxis. Der Autor wird zur gleitenden Positionsfigur in einer stets neu diskutablen Zugangsordnung möglicher Texterfahrung. Weder den Tod des Autors auszurufen noch seine Proklamation bzw. Restitution zu fordern, läßt sich absolut und ausschließend behaupten. Es läuft vielmehr auf ein jeweils mobilisiertes Wertungs- und Arbeitsmodell hinaus, ob man mit dem Autoraspekt funktional argumentieren will oder nicht. Der Autorbegriff und seine instrumentalisierten Aufladungen machen exemplarisch bewußt, wie Begriffsmodellierungen wirken. Sie sind Initiatoren und Träger von Erkenntnisinteressen auf Seiten der , Autoren' selbst wie auf Seiten derer, die mit Autorvorstellungen etwas demonstrieren wollen. Wo schöpferische Urheberschaft, deren Rekonstruktion und Verständnis einen Wert markieren, ist das Autorsubjekt, seine Geschichte und Psychologie unverzichtbar. Wenn hingegen Textverfahren als überindividuelle Strukturen in den Blick genommen werden, bedarf es keiner charakteristischen, personalen Zentrierung. Die ganze neuzeitliche Diskussion um den Autor in all ihren wellenartigen Präferenzen und Divergenzen findet immer unter der doppelten Perspektive von Selbstformulierern und Textrezipienten statt. Die Autorideen und das über sie mitdefinierte Kunstwerkmodell stehen im Dienste eines unverwechselbaren Repräsentationsanspruchs, der seit seiner genieästhetischen Zuspitzung um die zentralen Denkmomente von Einmaligkeit und Authentizität kreist. Diese profilieren die strikte Rückschlußkopplung zwischen Person und Werk. Was zunächst mehr einer poetologischen Legitimation gegenüber einem literarischen und künstlerischen Regelsystem dient, beherrscht in weiterer Entwicklung das indvidualisierte Autor- und Werkphantasma, dessen ideologisch pointierte Komponente auf Auratisierung und Schöpfungsgeheimnis abhebt. Deren Relativierung unter dem Eindruck einer technisierten Medienent-
Autor und Autorschaft im Diskurs
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wicklung (W. Benjamin) erweitert nur aus einer zusätzlichen Disposition der .klassischen Moderne' heraus eine schon vorher eingeleitete Infragestellung der Autorposition im Hinblick auf deren .natürliche' Garantenfunktion für die Formierung von Texteinheit. Sie gerät poetologisch über avantgardistische Ablösungsszenarien der Textgenese bis hin zur „Depersonation" des Autors (Döblin) 4 in eine Schieflage. Die vorgeblich fur die Autorposition wirksame intentionalistische Urbegründung, wie sie neuerdings wieder stark zu machen versucht wird, 5 stößt rasch an Konzeptgrenzen, weil der personal gebundene Reflex auf Intention sich rasch im Verfugungsnetz von Bedeutungsdiskursen eingebettet wiederfindet. 6 Die Annahme, der Sinn eines Textes werde durch den Autor intentional beherrscht und könne bzw. müsse insofern auf ihn rezeptiv rückbezogen werden, lebt von einem Lektüremodell, das seinerseits auf kooperative Intentionalität beim meinenden Textsubjekt wie beim Interpreten zurückgreift. Als hermeneutisch begründende Rahmung ist das zwar akzeptabel, entbehrt aber verbindlicher Schlüssigkeit, weil es einen kommunikativen Parallelismus voraussetzt, der Formulierung und Lektüre als gelingend aufeinander bezieht. Das mag in vielen Fällen pragmatisch ansetzbar sein, doch schließt dies gerade künstlerisch ambitionierte Text- und Kunstpraktiken mit ihrer Tendenz zu bewußter Störung der Intentionsgemeinschaft aus. Damit entfällt aber eine allgemeine und verbindliche Zugangsbasis. Was ein solcher Intentionsansatz jedoch entschieden aufwirft, ist die Frage nach der Verspiegelung von Produzenten- und Rezipientenseite, wie sie im Autorbegriff zusammenschießt. Ist dieser historisch wie systematisch zunächst subjektorientiert auf ein direktives Urheberprimat gepolt, entwickeln sich in einer weiteren Ausdifferenzierung komplexe Verschränkungen mit einer rezeptiven Mitautorschaft im Verstehensund Auslegungsprozeß. Die Perspektivierung konstruiert eine gespaltene, kooriginäre Autorfunktion im Feld der Schreib- wie in dem der Leseakte. Dadurch gerät die Autorfunktion in ein zwar spannungsreiches, zugleich aber diffuses Zuordnungsfeld. Seine Bedeutung besteht gerade darin, daß keine klare Funktionsordnung generiert wird, sondern daß eine angemessene Unübersichtlichkeit in den Autordiskurs eingeführt wird. Die kommunikative Schnittstelle zwischen , Autor' und ,Hörer/Leser' ist der Text, dessen Herausforderung, ihn zu verstehen, eine wie auch immer verortete Autordimension evoziert. Nicht die abstrakt gesetzte Idee eines Autors generiert die Vorstellung von Textualität, sondern die konkrete Existenz von Texten bringt die Frage nach dem Urheber als Möglichkeit, nicht einmal als Notwendigkeit hervor. Insofern ist der Autor ein spezifisches Phantasma im anthropologischen Kontext menschlicher Kom-
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Vgl. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. Ölten, Freiburg/Breisgau 1989, S. 119-123, hier S. 123. Vgl. Karl Eibl: Der .Autor' als biologische Disposition. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 47-60. Vgl. ebd., S. 61-76 auch den Beitrag von Axel Bühler: Autorabsicht und fiktionale Rede. Vgl. dazu Lutz Danneberg: Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention. In: Jannidis u.a. 1999 (Anm. 5), S. 77-160.
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Erich Kleinschmidt
munikations- und Formulierungsfähigkeit. Erst das Vorhandensein von Rede bringt auch den Redner ins Spiel, den, wenn er schwiege, niemand auch als Autor identifizierte. Die Entdeckung des Autors beruht primär auf der Frage nach dem Ursprung, nach den Regeln der Textgenese, von der zu wissen, gegebene Textualität legitimiert und strukturell erläutert. Diese primäre Position des Autors geht auf weite Strecken der Kultur- und Literaturgeschichte mit dem Konzept der poiesis einher. Die Position des Autors auch auf die Ebene der aisthesis zu verlagern, ist erst eine Entwicklung der .Moderne', wo Texte als Medium spezifisch verfaßter Wahmehmungsweisen bewußt gemacht werden. Auf diese Art rückt der personal faßbare Autor neuartig ins Blickfeld, weil dessen Textarbeit als eine Form verlängerter oder sogar eigenständiger Kognition gesehen wird. Der Autor erscheint so medialisiert. Aber auch hier sind bei genauerer Prüfung restriktive Vorgaben relevant. Texte als Formen des Welterkennens sind nicht frei bestimmbar, sondern sie sind abhängig vom verfugbaren Ausdrucksmedium. Die strukturellen Bedingungen der genutzten Sprache (Grammatik, Semantik) konditionieren die Umsetzbarkeit von Wahrnehmung in Text, der durch seine Formierungsparameter eine Eigendynamik entfaltet. Diese allgemeine Gegebenheit relativiert den Anteil des gestaltenden Individuums. Es ist gezwungen, in ihm zumeist unbewußt vorgegebene und nur in spezifischen Funktionsausschnitten reflektiert wahrgenommene Textstrukturen und Textpraktiken einzutreten und entsprechend in ihnen mehr oder minder aufzugehen. Auch von hier aus wird die Annahme einer tragenden Position des Autors mißlich, geht es doch um seine Repräsentanzfähigkeit, die sich in der Präsenz der Texte verliert. Ein Vorgang seiner Entmächtigung findet statt, der schon im traditionellen Medientableau vorgegeben und dort auch ideengeschichtlich 7 diskutiert ist, aber verstärkt in der Textarbeit der technisch erweiterten Medienwelt von Radio, Film und Fernsehen zum Tragen kommt. Die Autorposition wird hier zusätzlich geschwächt, da das sie evozierende Produkt, das Werk, selbst an Kontur verliert. Nicht nur der Autor verliert sich, sondern auch sein ihn überhaupt erst projizierendes Erzeugnis in den anonymen Überflutungen der medialen Angebote. Die zwischen Autor und Werk gleitende Fokussierung bündelt beide Konzeptionalitäten in einer zugleich prekären wie erhellenden Perspektive. Auf der einen Seite erscheinen Positionen jeweiliger Priorität und zentrierender Verfügbarkeit, auf der anderen Seite vereinen sich die Entwürfe von Autor und Werk in einem Modus jeweiliger Auflösung. Alle Theorien zur Autorschaft bewegen sich in dieser Spannung wechselnden Aufscheinens von Text und Autor. Letzterer unterliegt dabei auch einer Spaltung, die einmal mehr eine personale, schöpferische Subjektkomponente stark macht, zum anderen aber auf eine abstrakte Funktionsebene rekurriert. Das wirkt als Tableau insgesamt wenig kompatibel und deshalb nur als gegenseitig ausschließend. Versucht man eine übergeordnete Wahrnehmung zu realisieren, so verweist die Autordiskussion auf eine Ökonomie der Valenz. Jeweils das wird diskursiv sichtbar und aufgebaut, was wertig erscheint, aber zu Lasten der anderen am Textprozeß ebenfalls 7
Zu nennen wäre die Entmächtigung des Schreibenden in der talmudischen und kabbalistischen Tradition. Vgl. Monika Schmitz-Emans: Zwischen weißer und schwarzer Schrift. München 1994, S. 77fT. (zu Edmond Jabès).
Autor und Autorschaft im Diskurs
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konturwirksamen Faktoren geht und deren mehr oder minder vollständigen Zusammenbruch (re)produziert.8 Die Autor/Text-Debatte leidet daran, daß sie praktische und theoretische Positionen gleichermaßen zu artikulieren versucht. Einem Realisierungsdenken von Textproduktivität steht ein hierzu einschlägiger Abstraktionsraum gegenüber, der den Gegenstandskomplex Autor diffundiert, ohne letztlich seine Legitimität bestreiten zu können. So konnte die Lage entstehen, daß einerseits am konkreten Autor als Urheber festgehalten wurde und wird, andererseits sein Status texttheoretisch brüchig bis unbrauchbar aufgefaßt werden kann. Die Auflösung kann offenkundig nicht im antagonistischen Ausschluß gesucht werden, sondern fuhrt zu einem Tableau doppelter Wahrnehmungsfakultäten. In der philosophisch vertrauten relationalen Begrifflichkeit Kants, die sich im Kontext seiner „Analytik des Schönen" und damit kunsteinschlägig findet, fallen auch Autor und Text in die sinnlich erfahrbaren Rubriken „Gestalt" oder „Spiel".9 Das erlaubt den Vorstellungskreis Autor/Text analog zu strukturieren, um ihn relational zwischen theoretischer und praktischer Konzeptionalität zu veranschaulichen. Danach müßte man sich entscheiden, Autor und Text entweder als Gestalt oder als Spiel zu verorten, was deskriptiv wie analytisch zu unterschiedlich profilierten Figurationskomplexen arrangiert werden kann. Aber auch andere begriffliche Zuordnungen sind sinnvoll und denkbar, um den Anspruch von abschattierten An- und Abwesenheiten produktiv denken zu können. Das dabei auftretende Problem besteht in Akzeptanz und Gültigkeit. Wenn der Urheber im Werk als Folge aufwendiger theoretischer Bemühungen aufgeht, ist er zumeist in einer gedanklichen Gegenfiguration argumentativ und reflektiert wieder zu entdecken. Heideggers verallgemeinernde Seinswahrheit der van Goghschen Bauernschuhe unter Ausblendung des Künstlers10 veranlaßt Schapiro, sie wieder daseinshermeneutisch einzuholen," indem er die Schuhe als die van Goghs identifiziert und insofern dessen Präsenz im Werk erweist. Das Beispiel ließe sich auf Literatur mühelos übertragen, wenn Strategien strikter Entbiographisierung des Werks bei Autoren und Interpreten mit Identifikationen evidenter Spuren auktorialen Lebens im Werk konfrontiert werden. Die Abdrängung des Autors im Werk ist deshalb in der Debatte um ihn immer auch die Wiederentdeckung seiner Gegenwärtigkeit. Das Modell von An- und Abwesenheit wird im Autordiskurs auch spezifisch verhandelt, wendet es doch auch die psychoanalytische Mobilisierung an. Sie illustriert von Sigmund Freud über Otto Rank bis Jacques Lacan einen aufsplitternden Modus von Erhellung und Mystifikation des Autorsubjekts. Dem Gewinn, menschliche
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Hierin zeigt sich ein Berührungspunkt mit dekonstruktivistischen Denkansätzen. Vgl. im Kontext einer Kant-Lektüre Jacques Derrida: Das Parergon. In: Ders.: Die Wahrheit in der Malerei. Hrsg. von P. Engelmann. Wien 1997, S. 56-104. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von W. Weischedel. Bd. 5. Wiesbaden 1957, S. 305. Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. In: Ders.: Werke. Bd. 5. Frankfurt/Main 1977, S. 18-25. Vgl. ergänzend auch Ders.: Nietzsche I. In: Werke. Bd. 6,1. Frankfurt/Main 1996, S. 68f. und 79Í, sowie Ders.: Vom Wesen der Wahrheit. In: Ders.: Werke. Bd. 34. Frankfurt/Main 1988, S. 63. Vgl. Meyer Schapiro: Theory and Philosophy of Art Style, Artist, and Society. Selected Papers. Bd. 4. New York 1994, S. 146.
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Erich Kleinschmidt
Kreativität über das Unbewußte zu verstehen und zu erklären, steht der Verlust gegenüber, solche Erläuterung wiederum mit komplexen, selbstläufig weiterdiskutierten Theorierahmungen zu belasten. Sie zwingen, in Abstraktionsschleifen und Symbolisierungsstrategien einzutreten, bei denen zwar die psychoanalytische Theorie geschärft, Autorschaft aber zum esoterischen Paradigma ihres kulturellen Erklärungsanspruchs gerät. Wo diese bestritten wird, geht es auch nicht um eine Autordebatte, sondern eher um eine Aushebelung des psychoanalytischen Ansatzes. Stützt die Psychoanalyse im Kern die Autorposition, wenn sie zugleich auch deren Dezentrierung mit bewirkt, so deklassiert der Strukturalismus jeden emphatischen Autorbegriff zur Position des schreibenden Agenten (scripteur). Im kulturellen Tauschspiel von Signifikanten und Signifikaten transsubjektive Strukturen als wirksam anzunehmen, denen jede Sprachverwendung sich einzuordnen hat, reduziert Autorschaft auf ein Funktionskalkül. Die strukturalistische Aktivität (activité structuraliste) ist dabei als technizistischer Bruch mit der Tradition der schöpferischen Subjekt/Werk-Bindung motiviert. Die Fixierung auf das gegenwärtige Ereignis des performativen Aktes und dessen kollektive Substituierbarkeit drängt bewußt indvidualgeschichtlich begründete Textgenerierungen ab. Der ,Autor' wird letztlich zur depersonalen Textstrategie, über die semantische Beziehungen organisiert erscheinen. Das kann man als Verlust vermerken, dem steht aber der Gewinn eines universalisierten Textmodells gegenüber, in dem man sich um die Zugangsunschärfen der Subjektivität nicht mehr kümmern muß. In dieser Löschung liegt eine Kränkung des Individuums, was zu verständlichen Abwehrreaktionen führt. Dabei wird übersehen, daß der subjektive Textfaktor ,Autor' auch ein Moment der Irritation fur Kommunikation und Rezeption bedeutet. Den Autor stark zu machen, bringt ein bewußtes Verdunkeln und Komplizieren ins Spiel, wie umgekehrt seine Schwächung auf Übersicht und Vereinfachung setzt. Der Umgang mit dem Autor erweist sich konzeptionell als auf Rückkopplungen bedacht. Foucault hat diskursanalytisch offengelegt, daß dabei Machtprozesse ablaufen, die den Autor zur variablen Größe im Spektrum von Funktion und Ideologie bei der Sinnfindung machen. Der Erkenntnisgewinn besteht in der Verhandelbarkeit der Autorposition, was ihr einen Absolutheitsanspruch nimmt, sie aber doch noch als möglich beläßt. Lediglich die Begründungsrolle fällt weg, da der Diskurs und das daraus resultierende Werk fur sich selbst bestehen, keiner initiativen Ableitung bedürfen. In dieser ihrer konstitutiven Autonomie (Maurice Blanchot) erzeugen Diskurse und Werke geradezu die Abwesenheit ihrer Autorschaft. Diese wird zur markierten Leerstelle, die den Texten innewohnt und die sie mit verhandeln. Der Autor verfällt einer ,stummen' Thematisierung, die nicht folgenlos bleibt, weil der Zwang dieser steten Umschreibung zum entscheidenden Impuls des Werks vor allem im Kontext der dichterischen .Moderne' wird. Im diskursiven Gebrauchsraum sammelt diese Umschreibung Energien des Aufschubs im Hervortreten der Textschrift (Derrida). Deren dominante Präsenz erlaubt es, in den Zeichen Sender wie Empfanger verlorengehen zu lassen. Autorschaft, die im Namen eines Subjekts schreibt, kann/soll angesichts der evidenten Eigenwirklichkeit der Texte vergessen werden. Der Autor verschwindet, weil der Text ist/wird. „So wird man zum Geschöpf
Autor und Autorschaft im Diskurs
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seines eigenen Werks, das sich selbst schafft", notiert dazu passend Arno Holz.12 Der Text wäre jedoch auch nicht da, wenn er nicht von diesem Verschwinden des Autors wüßte, nach ihm sogar begehrend fragte. Was einem derart gedacht entgegentritt, subvertiert das traditionelle auktoriale Subjekt und das zentrierende Prinzip seiner Repräsentation im Text, so daß es nicht mehr zurücklesbar ist. Der Angriff macht aber zugleich den Sachverhalt stark, daß die Wirkungsrealität von Texten keinen Autorgaranten braucht, um zu funktionieren. Sie tritt als agierend auf, ohne daß auf einen personalen Agenten zurückgegriffen werden muß. Der Text erscheint so als sein eigener ,Autor'. Die Denkfiguren von Agent, Agieren und Agiertwerden umschließen die Herausforderung jeder Autor- und Autorschaftsdiskussion. Auf der Ebene an- oder abwesender Subjektpräsenz allein ist das nicht zu erörtern, wo konkrete Textbedingungen hinzutreten. Probleme und Lösungsvorschläge sind dabei schon in archaischen Bereichen (etwa der antiken oder mittelalterlichen Epik) nicht leicht abzugleichen. Verstärkt stellen sie sich im Horizont von „Aufschreibesystemen" (Kittler) ein. Wo Autorschaft in die Funktion eintritt, Informationsprozesse von Notât, Übertragung und Berechnungskalkül von Daten auswertend und sichernd zu organisieren, relativieren sich die alten Leitwertbilder von Idee und Werk, Produktion und Rezeption, Erfindung und Kopie als Parameter der Autorposition, deren .natürlicher' Status somit auch ausgehebelt wird. Autorschaft im Mediendiskurs illustriert exemplarisch die Dependenz ihrer Begründung von einem sie ermöglichenden Tableau variabler Bezugsgrößen. Je nach Einsatz ergeben sich andere Zuordnungsstrukturen, die einem historischen, aber auch systemdiskursiven Wandel unterliegen. Epochen wie Beschreibungsansätze schaffen sich ,ihre' Autorfunktionen, so daß sich im Gesamtbild, wie die Forschungsdebatte offenlegt, ein ganz heteronomes Deutungsfeld ergibt. Diese Heteronymie zu akzeptieren, statt sie einzuebnen, öffnet erst einmal den Blick dafür, daß der Autorbegriff vor allem als ein „Verdichtungsbegriff' im „Kommunikationssystem Kunst" (N. Luhmann) dient, um Erwartungen zu bündeln. Mit solcher Einsicht ist aber nur bedingt und abstrakt etwas gewonnen, zumal wenn die Systemtheorie ihrerseits doch wieder ein Funktionsmodell für den Autor festlegt, das in seiner Beobachtung .zweiter Ordnung' beim autopoietischen Entstehen von Literatur und Kunstwerken besteht. Auch hier profiliert die Theorie immanent ihr Autorbild, das als Angebot wie andere Autorbilder bestimmte Seiten sinnvoll zur Geltung bringt, aber eben auch wieder Einwände möglich und notwendig macht. Einmal mehr erweist sich der phantasmatische Charakter der Autorschaft. Die Autordiskurse dienen der nachträglichen Bemächtigung von Gestaltungsprozessen, die nicht im Status ihrer unmittelbaren Genese, sondern im Status ihrer Stillstellung, ihrer Abschlüsse wahrgenommen und zu deuten versucht werden. Solange solche Aneignung nicht als Problem aufschien, bedurfte es keiner ,Autorisierung', d.h. weder einer Nominierung noch deren theoretischer Zentrierung. Erst als das Werk zu einem zu interpretierenden Gestaltphänomen, zumal als charakteristische Schreib-
Arno Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Wilhelm Emrich und Anita Holz. Bd. 5. Neuwied, Berlin 1962, S. 86-109, hier S. 103.
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Erich Kleinschmidt
weise wurde, taucht auch der Autordiskurs auf. Er ist in der Folge durchweg eng mit dem Werkdiskurs verkoppelt und gerät mit dessen Auflösung im Medienumbruch des 20. Jahrhunderts auch in die Krise. Entscheidend ist, daß der Autordiskurs nie isoliert gefuhrt wird, sondern sich erst über den Einbezug anderer Diskursfelder konsolidiert. Ohne den neuzeitlichen Subjektdiskurs hätte der Autordiskurs weder Profil noch Schärfe. Insgesamt gesehen erweist er sich modal als ein abgeleiteter, der parasitär andere, positive Merkmalsstränge für sich nutzt. Geraten diese selbst - wie etwa der Subjektdiskurs um 1900 und danach - in Schieflagen, hat dies immer auch für den Autordiskurs destruktive Folgen. Exemplarisch wiederholt sich dies in jüngerer Zeit im Horizont der neuen Mediendiskurse, aber auch des ,gender'-Diskurses, wo elaborierte Positionsentwicklungen mit ideellen und systematischen Gewinnen oder Verlusten sofort auf den Autordiskurs zurückschlagen. Diese Vernetzungen betreffen überdies seit langem auch die Begriffe von Autor und Künstler, die vielfache Annäherungen und Wechselbezüge seit der Renaissance (mit Vorläuferdebatten seit der Antike) austragen und sich zum Teil wie in der Genieästhetik überdecken. Die Gesamtkunstwerkdebatte seit der Romantik und weiterhin die einzelne Kunstgenres grenzüberschreitenden Ausgestaltungsprozesse von .Moderne' und Postmoderne verwischen die traditionelle Unterscheidung von Autor und Künstler, wobei sich zugleich auch die kunstspezifisch zugeordneten Werkbegriffe auflösen. Literatur wird nach musikalischen Prinzipien schreibbar (z.B. James Joyce, Heimito von Doderer, Wolfgang Hildesheimer, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard),13 Architektur öffnet sich textuellen Grundverfahren (Bruno Taut) bis hin zum Dekonstruktivismus (Peter Eisenman, Daniel Liebeskind). Die Einbindung des Autors in eine différentielle Geschichte der Ästhetik erweist sich folglich als diffus, weshalb auch die Leitwerke der Ästhetik den Autor kategorial nicht kennen, sondern nur die Kategorien des Werks. Man sieht: Der Autor hat eine schwierige intellektuelle Heimstatt. In der Reihe der .Zwischenpositionen', in denen Autorschaft sich zwischen Künsten, Texten und Medien eingebunden vorfindet und diskutiert wird, ergeben sich fast übergangslose Diskursszenarien von ihrer Behauptung wie Relativierung. Diese Diffusität hat Gründe, weil eine vernetzende Beobachtung und Beschreibung stets entweder zu ihrer produktiven Konturierung beiträgt oder aber in die Einsicht ihrer produktiven Abhängigkeit und Einbindung führt. Es sind Modalitäten von Kognition und Deskription, nicht die .wirkliche' Existenz von Autorschaft, die ihr Funktions- und Geltungsbild bestimmen. Entsprechend ironisch ist das Autorbild immer wieder zu brechen. Albert Ehrenstein in seiner Novelle Tubutsch (1911) erfindet für den Autor, den „Meister des Wortes", abdankend die Vorstellung vom „Tierstimmenimitator", der Bettler, Fürsten oder gar andere Dichter aus sich „erschallen" lasse, „um die eigene Leere zu übertönen", den „Mangel an einer eigenen Stimme".14 Dies gilt gerade auch für die Unterscheidung von Autor- und Autorschaftsbegriff, die unterschiedliche Abstraktionslinien bündelt. Der Autordiskurs ist zum einen ein 13
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Vgl. Irmgard Scheitler: Musik als Thema und Struktur in deutscher Gegenwartsprosa. In: Euphorion 92, 1998, S. 79-102. Albert Ehrenstein: Werke. Bd. 2. Hrsg. von Hanna Mittelmann. München 1991, S. 55f.
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ideologischer, zum anderen ein sozialer und juristischer. Auch hier werden gegensätzliche Perspektiven ausgetragen. Die Ideologie vom Autor aktiviert Bilder von Autortypen (Genie, Außenseiter, Epigone usw.) und Autoreigenschaften (melancholisch, pathologisch, sozialkritisch usw.). Der sozialrechtliche Diskurs betrifft den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und juristischen Status des Autors, der einem steten Wandel unterliegt und entscheidende Auswirkungen auf die Art der Literaturproduktion hat. Beide Diskursfelder überschneiden und beeinflussen sich. Sie sind in hohem Maße wahrnehmungsprägend und folglich auch für den Autor begriffsbestimmend. Im Unterschied zum Autor gehören die Autorschaftsdiskurse, wenn man sie nicht deckungsgleich mit den Autordiskursen ansetzt, in den Bereich der Produktionstheorien. Sie fragen nach der Genese und den zugrundeliegenden Dispositionen und Faktoren von allgemeiner Text- bzw. spezifischer Literaturproduktion. Dadurch läßt sich anderes sichtbar machen als in der Rede über den Autor. Auch hier gibt es in historischer Schichtung ideologische, im wesentlichen legitimatorisch funktionalisierte Komponenten wie z.B. den mittelalterlichen Aspekt göttlich soufflierten Schreibens. Aber auch die spätmittelalterliche .Erfindung' des Autors nach antiken Vorgaben und ihrer hochmittelalterlich gelehrten Teilrezeption hat damit zu tun, daß die Berechtigung und Notwendigkeit zu schreiben begründet werden muß. Hierher gehören dann auch die Denkfiguren der Authentizität, der Wahrhaftigkeit, der Mimesis oder der Originalität. Wichtiger aber als diese für sich genommen kulturhistorisch sehr aufschlußreiche Ideologiegeschichte der Autorschaft sind systematische Theoreme, die Autorschaft generativ tragen oder dann eben auch in Frage stellen. Geht es im pragmatischen Textbereich um relativ einfache strukturelle Funktionen wie den Autor als Ordnungsfaktor, wobei identifizierbare Individualität keine Bedingung ist (z.B. bei Gebrauchsanweisungen, Gesetzen, Verträgen), so liegt im fiktionalen, literarischen Textraum die Sache ganz anders. Hier werden komplexe Modellierungen und damit die Frage nach ihrer genetischen Konstitution und Autorisierung eingebracht und problematisiert, deren jeweilige Wirkungssphären historisch wie systematisch nicht leicht einzuholen sind. Ein auktorialer Modus wie die Frage nach Gegenwärtigkeit betrifft eine solche kritische Wahrnehmungsdimension, die vor allem der Roman in seiner Gattungsgeschichte vielseitig inszeniert hat. Er macht das Bedürfnis deutlich, die Genese von Erzählen unterscheidbar zu machen, was plurale Maskierungen und Sprechrollen einfuhrt, hinter denen als eine letzte Ausführungsinstanz die Autorschaft auftaucht. Sie tritt an die archaische Stelle einer ursprünglich transzendental garantierten Redeautorität. Historisch gesehen, stillt das Entstehen von benennbarer Autorschaft das latente rezeptive Begehren nach verantwortetem Text. Wäre dieser nur anonym und unautorisiert vorhanden, funktionierte er zwar auch. Das Auftauchen und die Ausgestaltung von Autorschaft und ihrer abgeleiteten Unterinstanzen wie Erzähler und Textfiguren haben aber damit zu tun, daß ein Bedürfnis nach im Text mitinstallierter .Deutung' besteht. In diese thematische Figuration treten dann auch mehr oder minder die Rezipienten ein, wenn sie poetologisch legitimiert zu Koautoren aufsteigen dürfen oder müssen.
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Der Umgang mit dieser Autorschaftsfiinktion .Deutung' ist im fiktionalen Textbereich kunstvoll. Die Erzählerrolle im Gattungsmodell Roman entwirft sie intensiv, die Gattungsform Drama hingegen tilgt solche Kommentarpositionen nahezu völlig, sieht man von Shakespeareschen oder Brechtschen Sprecherrollen einmal ab, die nur bedingt ins fiktive Bühnengeschehen integriert sind. Im narrativen wie auch im lyrischen Darstellungsmodus wird deutlich, daß Autorschaft keine empirische Personalinstanz ist, sondern eine funktional projizierte Textinstanz. Der Text inszeniert Autorschaft als seine produktive Medialität, deren personale Konkretisation der Autor, die Autorin wäre. Ob diese in Anspruch genommen und ausdrücklich nominalisiert wird, ist offen, keine zwingende Bedingung. Autorschaft als mediale Produktionsinstanz hingegen ist immer vorhanden, soweit es Texte oder im allgemeineren Sinne Kunstwerke gibt. Sie jeweils sichtbar zu machen, variiert zwischen Ausblendung und entschiedener Profilierung je nach Gattungs- und Epochenpräferenzen. Kulturelle Verfaßtheiten bilden sich ab. Zur Untersuchung von Autorschaft gehört folglich die Frage nach der textuellen Inszenierungsinstanz. Ihre Beantwortung bewegt sich im Bereich von Textbeschreibung und Texttheorien. Der empirische Autor hingegen tritt in einem ganz anderen Bereich ins Blickfeld. Er interessiert als soziale und psychologische Subjektgeschichte, die in der Eigenwirklichkeit der Texte nur bedingt als anfallendes Gegenstandsmaterial neben anderem, integriertem Weltwissen auftaucht. Man kann die Spuren davon zurückverfolgen und auswerten, was methodische Probleme aufwirft. Über die Entstehungsweise von Texten erfährt man jedoch dabei wenig bis nichts. Das Wissen über den Autor ergibt sich aus Texten nicht anders als das über Bäume, Häuser oder Hochzeitsriten. Es ist allenfalls thematischer Gegenstand. Der Autor als schreibender Mensch wäre nur unmittelbar zu beobachten und dann auch nicht anders als die sonstige Objektwelt. Die Beobachtung von handelnden Subjekten mag attraktiver sein als die von stummen Objekten, aber diese Präferenz sagt allenfalls etwas über den wahrnehmenden Beobachter aus. Der Autor ist jedenfalls kein privilegierter Gegenstand im Textumgang. Man kann ihn dazu machen, doch ist dies nicht allgemeingültig zu objektivieren. Autorschaft hingegen wäre die unabweisbare Begriffssphäre von ermöglichender Produktivität. Sie ließe sich theoretisch aufspalten in zwei Strukturfelder der organisierenden Betrachtung. Das eine stellt sich als der rahmende Bereich des Prädispositiven dar, der sich mit dem Eintritt in die konkrete und überlieferungsfähige Textualität berührt, aber gerade nicht mit ihr identisch ist und nicht in ihr aufgeht. Er umfaßt vertraute formative Vorgabefaktoren wie Sprache, Textgenre, Stoff, Motivik usw., die als Bereitstellungspotentiale transsubjektiv fungieren. Der andere Erfassungsbereich betrifft die spezifisch aktivierten Spielräume innerhalb dieser Vorgaben, die affirmativ ausgefüllt oder aber auch durchbrochen werden können. Dieser Bereich hängt sowohl von unbewußten als bewußten Eingriffen ab, bei denen ein gestaltendes Subjekt beteiligt, aber eben nicht allein dominant ins Spiel kommt. Diese Sphäre stellt eine deskriptive Irritation dar, da sie in eine theoretische Systematik von Autorschaft ein personales Substrat einfuhrt. Dieses gilt jedoch nur scheinbar und ist von bedingter
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Präsenz, da sowohl unbewußt wie bewußt konstituierte Schreibentscheidungen in ein allgemeines, überindividuelles Formulierungssystem eingebettet bleiben. Aus ihm ist auszuwählen und zu modifizieren, doch läßt sich daraus nicht das Primat des Schreibsubjektes ableiten. Seine Einsetzung wäre eine ideelle Projektion, die alle artikulativen Dispositive, in denen sich schöpferische Subjekte immer schon vorfinden, überspielte. Autorschaft als Sammelbegriff solcher Disposivität geht jeder individuellen Autoraktivität voran. Deren strukturierende Bewegung in den Dispositiven ist zwar belangvoll und erfassungswürdig, kann aber immer nur ein nachgeordnetes Teilmoment im Umgang mit Autorschaft sein. Vom schöpferischen Autorsubjekt muß sich eine aktuelle Textwissenschaft weder grundsätzlich absetzen noch sie emphatisch reinstallieren. Der Frage nach dem Autor ist aber die nach Autorschaft voranzustellen. In ihr und ihrer Problematisierung taucht als ein möglicher und sinnvoller Teilaspekt der Autor/die Autorin als Kalkülgröße auf, deren Beobachtung zu bestimmten Deutungsperspektiven im Textumgang fuhrt. Reicher und grundsätzlicher ist jedoch die Analyse des Systemkomplexes Autorschaft, in dem der personale Betrachtungsanteil fast marginal einzuschätzen ist, auch wenn historische Definitionsszenarien hierzu andere Gewichtungen vorgenommen haben. Begriffsgeschichtliche Einsetzungen müssen jedoch nicht auf Dauer akzeptiert werden. Sie sind selbst Teil von intellektuellen Dispositiven. Die Diskussion um Autor und Autorschaft ist deshalb so schwierig, weil sie ihr Bemühen um eine definitorische Außensicht aus der eigenen Involviertheit in die Gegenstandsdiskurse führen muß. Insofern fließen massiv Interessen in die Erkenntnisund Erörterungsprofile ein. Das exegetische Bemühen um den Autor und seine Funktion berührt die eigene Position, das Selbstbild jedes Formulierenden, der sich zwischen dem Anspruch auf Zentrierung und Aufgehen in einem Szenarium von beeinflussenden Systemvorgaben orientieren muß. Je nach Präferenz ergeben sich Theorieorte, die stärker zur Autor- oder zur Autorschaftsposition hinneigen. Daß das systematische Primat im Feld einer Autorschaftskonzeption liegt, die vom Autor eher absieht, als ihn stark macht, dafür spricht die Verfaßtheit von Texten als eines agierten Medieninventars. In ihm ist das schreibende Subjekt eine (selbst-)thematische Größe, aber nicht der souveräne Akteur. Er müßte deijenige einer ,neuen Sprache' bis in die „Wertlosigkeit"15 hinein sein, wie sie Ingeborg Bachmann als feministisches Phantasma entwarf, einer Textebene, die bei ihr im Guten Gott von Manhattan auch mit dem Tod sanktioniert wird. Im Gegensatz zur exekutiven Dimension von Autorschaft, die Grenzen akzeptiert, ja braucht, um textproduktiv funktionieren zu können, wäre die Autoridee in der .Moderne' (und mit einer genieästhetischen Vorläuferschaft) diejenige, für die Entgrenzung und mehr oder minder profilierte Auflösung Programm sind. Beide Momente betreffen Ich und Welt gleichermaßen. Das Subjekt referiert nicht mehr auf die Objektsphäre, und diese erfaßt nicht mehr das existentiale Ich. Hans Henny Jahnn beschreibt dies wie manche andere Autoren auch als seine Arbeitssituation: „Ich muß
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Bachmann, Werke (Anm. 2), Bd. 1, S. 318.
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meine ganze Existenz und Umwelt vollständig auflösen [...], sonst kann ich nicht arbeiten."16 Autorschaft betrifft das Beschreibungsfeld von Text- und erweitert auch aller Kunstproduktion in dem Sinne, daß nach unterschiedlichen diskursiven Standards die Funktionalität der Produktion definiert und analysiert wird. Die personale Anteilssphäre des Autors/der Autorin hat systematisch darin keinen Platz im Sinne einer privilegierten Sonderstellung. Der Autorort ist von Interesse als ein diskursiver Verhandlungsgegenstand von Auktorialität neben anderen. Der Autor/die Autorin ist das Ergebnistheorem einer spezifischen Projektion von Autorschaft, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Sehnsucht der .Moderne' nach auktorialer Namenlosigkeit, nach thematischer Auslöschung personaler Existenz als Basis von Schreiben und Kunst bündelt nur den Optionsmodus .Autor' in einer umfassenden, .absoluten' Theorie von Autorschaft. Diese bedarf des Autors nicht zwingend. Sie kann ihn vergessen, sie kann ihn aber auch aufrufen, um dadurch etwas thematisch oder funktional zu demonstrieren. Der Autor/die Autorin sind aber stets Maskenspiele einer fluktuierenden Ausdrucksbewegung, deren eigentliche Grenze nicht das personale Subjekt und seine Textpräsenz sind, sondern das Verstummen. Wo das Wort gebricht, ist nicht der reale Autor am Ende. Was zusammenbricht, ist die Aufrufbarkeit einer Text- und Ausdruckswelt, der ihre Programme, ihre Baupläne abhanden gekommmen sind. Ob das Subjekt schreibt oder nicht, ändert seinen grundsätzlichen Status nicht, der sich auch anders legitimieren kann. Autorschaft ist an ihre eigene Präsenz gebunden. Ihr Ereignis ist der Text. Gibt es ihn nicht, entfällt ihre Grundlage. Entsprechend ist zwischen Subjektgeschichte und Textgenese keine Brücke anzusetzen. Textgeschehen organisiert sich nach anderen Dispositiven als denen, die die Sphäre des Ich bestimmen: so ist der seelische Status des Autors jedes Mal das Gleichgültigste und Unableitbarste, das sich überhaupt innerhalb des ganz anders eingerichteten, in sich selbst diktierend und substantiell gewordenen Bauplans des Kunstwerks vorfinden lässt. 17
Das Berliner Blumenmädchen E.T.A. Hoffmanns muß in der Tat nichts wissen vom Autor der Texte, die sie liest. Seine Autorschaft, die sie wahrnimmt und mit der sie umzugehen weiß, genügt, mag dies für den Autor auch eine schmerzliche Erfahrung sein. Aber das ist eine andere Geschichte auktorialer Pathologien.
16 17
Walter Muschg: Gespräche mit Hans Henny Jahnn. Hrsg. von J. Egyptien. Aachen 1994, S. 93. Emst Bloch: Über ein Sammelwerk Negerplastik. In: Ders.: Literarische Aufsätze. Frankfurt/Main 1968, S. 190-196, hier S. 195.
Thomas Bein Autor - Autorisation - Authentizität Mediävistische Anmerkungen zur Begrifflichkeit
Vorbemerkung Bereits bei der Planung der Aachener Tagung Autor - Autorisation - Authentizität zeigte sich, daß die Leitbegriffe innerhalb der drei Disziplinen Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft durchaus unterschiedliche Verwendung finden. So schien es angebracht, zu Beginn der Tagung etwas zur Begriffsklärung, besser: zur disziplinspezifischen Verwendungsweise beizutragen. Im Rahmen eines .Plenarforums' kamen daher Vertreter der Alt- und Neugermanistik, der Philosophie und der Musikwissenschaft zu Wort. In diesen Kontext gehört auch der folgende kleine Beitrag, der keine neuen Forschungserkenntnisse liefert, sondern versucht, den Stand der Diskussion innerhalb der germanistischen Mediävistik möglichst plakativ und pointiert auch für Vertreter der Nachbardisziplinen - aufzubereiten. Ich hatte den Vortrag als Folienpräsentation konzipiert; diese Form behalte ich hier, soweit es der .Medientransfer' zuläßt, bei. Im folgenden werden drei Abbildungen gezeigt und kommentiert. Anstelle von Fußnoten habe ich am Ende eine kleine Auswahlbibliographie mit wichtigen Beiträgen zum Thema zusammengestellt.
Thomas Bein
•b
Autorisation: (1) im engeren editionsphilologischen Sinne autorisierte Texte (z.B. Autographen, Diktate u.ä.) gelten immer als authentisch; (2) Texte dagegen, die nur im weiteren (juristischen) Sinne autorisiert sind (z.B. ein pauschal durch Imprimatur gebilligter Druck), können nicht von vornherein als authentisch gelten; (3) nicht autorisierte Texte, zumal ohne Nennung des Autors (z.B. aus mündlicher Überlieferung), sind generell als nicht authentisch zu betrachten.7 Die Verzahnung von .Authentizität' mit .Autorisation' ist hier ähnlich dem Verfahren bei Wilpert vorgenommen, doch ergeben sich spezifische Differenzen, wenn man nun die Erläuterung von .Autorisation' hinzuzieht. Die Kopfzeilenerläuterung versteht .Autorisation' noch als die „(Formelle) Anerkennung eines Textes durch seinen Autor". Das entspricht der dann erläuterten juristischen Komponente des Autorisations5 6
7
Wilpert 2001 (Anm. 4), S. 63. Siehe auch die oben nicht zitierte Fortsetzung des Artikels, in der es um aktive und passive Autorisation in Hinblick auf Drucktexte geht (Wilpert 2001, Anm. 4, S. 63). Klaus Grubmüller, Klaus Weimar: Authentizität. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hrsg. von Klaus Weimar. Bd. 1: A - G . Berlin, New York 1997, S. 168f., hierS. 168.
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begriffs, die im Sinne einer pauschalen Genehmigung z.B. beim Imprimatur „als Kriterium fur die Textkonstitution [...] nur begrenzt hilfreich" sei. Der entscheidende Teil des Autorisationsbegriffs wird demgegenüber - und in Widerspruch zu der Kopfzeilendefinition - in der ,,unausdrückliche[n] Autorisation" gesehen, die gerade nichts mit einer vom Autor geäußerten „Anerkennung" zu tun hat: Autorisation (2) ist [...] in der Herstellung des Textzeugen (Handschrift, Typoskript, Tonband usf.) durch den Autor selbst oder zumindest unter dessen unmittelbarer Mitwirkung (z.B. durch Diktieren eines Textes) begründet. [...] Textfassungen, die im Sinne des Begriffs (2) als autorisiert gelten können, sind für den Herausgeber stets gleichwertige authentische Textgestalten.8
Im Gegensatz zu Wilpert sind in dieser Definition nun also nicht prinzipiell die Texte autorisiert, zu denen sich der Autor in diesem Sinne geäußert hat, sondern vor allen Dingen diejenigen, die der Autor selbst produziert und unter seiner direkten Kontrolle hat. Dementsprechend gründet dieser Autorisationsbegriff in der Tatsache der autoreigenen bzw. autorgesteuerten Textproduktion. Daraus folgert eine Hervorhebung der vom Autor angefertigten bzw. beaufsichtigten Handschriften oder Typoskripte, die sich schon im zugehörigen ,Authentizität'-Artikel des Reallexikons findet, und zugleich eine latente, wenn auch nicht ausdrücklich so beschriebene Ausgrenzung der Drucktexte aus dem engeren Bereich der Autorisation und Authentizität. Da aber nun .Autorisation' - wie der Artikel im Reallexikon vermerkt - ,,[e]ditionsphilologisches Entscheidungskriterium zur Konstitution eines authentischen Textes" sei, ist mit einer solchen Definition die Nachrangigkeit der Drucktexte gegenüber den Handschriften, Typoskripten etc. fur die Textkonstitution und die Wahl einer Fassung für den edierten Text festgeschrieben. Zugleich nähern sich .Autorisation' und .Authentizität' einander bis zur Ununterscheidbarkeit an, wenn die „im Sinne des Begriffs (2) als autorisiert" geltenden Textfassungen „für den Herausgeber stets gleichwertige authentische Textgestalten" sind. Nur die rechtliche Komponente der .Bevollmächtigung', die die ältere Grundbedeutung von .Autorisation' im Deutschen darstellt, 9 verhindert augenscheinlich die gänzliche Gleichsetzung der Begriffe, obwohl diese Komponente im Reallexikon als editionsphilologisch „nur begrenzt hilfreich" bewertet wird. Das heißt aber andersherum nun, daß dieses Kriterium nicht als maßgebliche Differenzierung der Begriffe .Autorisation' und .Authentizität' dienen kann - und in der Konsequenz, daß sich die Begriffe bei Vernachlässigung der juristischen Komponente der .Autorisation' in der editionsphilologischen Engführung nicht mehr unterscheiden. Da ließe sich nun folgern, daß bei den unterschiedlichen Definitionen im Wilpert und im Reallexikon sowie der latenten Angleichung der Begriffe durch die jeweiligen Erklärungen die Suche nach der terminologischen Gründung der Begriffe lieber gleich aufzugeben sei. Doch das hieße zu verkennen, daß es sich hier nicht um das 8
9
Gunter Martens, bearbeitet durch die Herausgeber des Reallexikons: Autorisation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Anm. 7), S. 182f.; die Korrektur der dortigen Automennung „Klaus Grubmüller/Klaus Weimar" in: Dass. Gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar hrsg. von Harald Fricke. Bd. 2: H-O. Berlin, New York 2000, S. XXI. Nachweise bei Martens 1997 (Anm. 8), S. 183.
Der , echte ' Text und sein Autor
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Problem einer gegenwärtigen Sprachverwirrung handelt, sondern um das Ergebnis eines langen historischen Prozesses, in dem sich die moderne Editionsphilologie entwickelte. Die Frage der Definition von ,Autorisation' und .Authentizität* betrifft die Grundlinien dieser Entwicklung, und die vorgeschlagenen Definitionen im Reallexikon sind nun keineswegs neutral, sondern spiegeln selbst die jüngste Entwicklung der Editionsphilologie als Hinwendung zur autoreigenen Textproduktion in den Handschriften und zu den Schreibprozessen. 10
2.
Terminologie als Geschichte: Der Wandel der editorischen Leitbegriffe als Spiegel der editionsphilologischen Entwicklung
Zu erinnern ist also an die historischen Konzepte, die zur gegenwärtigen Ausprägung der Begriffe gefuhrt haben. Dabei kommt nun entscheidend auch der dritte der hier zu behandelnden Begriffe, der des .Autors', ins Blickfeld. Das editorische Verhältnis zum Autor erweist sich in den frühen neugermanistischen Editionen als entscheidende textkritische Kategorie. Schlaglichtartig exemplifiziert sich dies an der Geschichte der Goethe-Editionen. Michael Bernays' - in anderer Hinsicht durchaus moderne Studie von 1866 über die Textverfremdungen in den Goethe-Drucken versteht die editorische Arbeit als eine Unterordnung unter die Leitfigur des Autors: die ächte Kritik [...] will, wie eine sorgsam thätige Dienerin, nur Hab' und Gut ihres Herrn, des Autors, treulich zusammenhalten, dass es unverringert und unverkümmert bleibe; ist es verschleudert und beschädigt worden, so sucht sie es wieder zu gewinnen und wieder herzustellen. Gerade diese Unterordnung gewährt der Kritik eine sichere Selbständigkeit; in dieser Unterordnung findet sie ihren Ruhm und ihren Lohn."
Bernays ging es dabei jedoch - und das macht aus heutiger Sicht seine Modernität aus - um den Text, nicht um ein subjektives Bild des Autors. Dennoch verabsolutierte sich die so in Anschlag gebrachte Autorkategorie dann in der Weimarer Goethe-Ausgabe zum einzigen editorischen Leitmuster. Herman Grimms Vorwort zum ersten Band 1887 entwirft das mystifizierende Bild eines Autors, der noch nach dem Tod als Wächter seines Werkes fungiert. Nach der Beschreibung von Goethes Tätigkeit an der Ausgabe letzter Hand12 als „letzte Mühe [...] bis in die äußersten Tage des Dichters" heißt es: Auch als er gestorben war schien sein Auge über seinen Werken noch zu wachen. Ein Gefühl von Ehrfurcht, das wir hegen, läßt die Anschauung entstehen, als ob die großen Männer auch als Todte noch nicht völlig Abschied genommen hätten von den irdischen Werken. Der Sage nach umreiten die in Erz auf erzenen Rossen thronenden Fürsten in tiefer Nacht ihre Stadt und halten Umschau: so glauben wir auch die großen Dichter und Denker in fortwirkenden Gedanken über
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" 12
Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 165202, hier S. 196-200. Michael Bemays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866, S. 5f. Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. 40 Bde. Stuttgart, Tübingen 1827-1830.
Rüdiger
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Nutl-Kofolh
uns waltend. Goethe schien noch da zu sein. Es wurde die ersten Jahre nach seinem Hinweggange leise gesprochen in Dingen, die ihn betrafen. 13 D i e e d i t o r i s c h e K o n s e q u e n z e i n e s s o l c h e n A u t o r b i l d e s ist d i e F u n k t i o n d e s E d i t o r s a l s „ T e s t a m e n t s v o l l s t r e c k e r " , w i e G e o r g W i t k o w s k i 1 9 2 1 f o r m u l i e r t e . 1 4 In B e r n h a r d S u p h a n s V o r b e r i c h t f ü r d i e W e i m a r e r A u s g a b e w i r d d e u t l i c h , w i e d i e s e s A u t o r b i l d in e i n e A n w e i s u n g fur die Textkonstitution der W e i m a r e r A u s g a b e umschlägt: bei A l l e m , w a s G e s t a l t und E r s c h e i n u n g der A u s g a b e im G r o ß e n w i e Einzelnen betrifft, soll befolgt werden, was uns als Goethes
im
selbstwil-
l i g e V e r f ü g u n g b e k a n n t i s t . [...] Für den Druck der Werke hat er selbst die Norm gegeben in der A u s g a b e l e t z t e r H a n d . S i e i s t sein Vermächtniß, er selbst hat sie so betrachtet, als den Abschluß seiner Lebensarbeit. 15 In A n s c h l a g g e b r a c h t w a r d a m i t d e r W i l l e d e s A u t o r s - u n d z w a r d e r l e t z t w i l l i g e
-
als editorische Leitlinie für m e h r als ein halbes Jahrhundert bis hin z u j e n e n V e r s u chen, den intendierten Autorwillen qua editorischem I n g e n i u m z u erschließen, H a n s Z e l l e r a l s „ I n t u i t i o n s p h i l o l o g i e " b e z e i c h n e t hat. 1 6 D e r m e t h o d i s c h e zur modernen
Editionsphilologie
spiegelt
sich
dann
im
Verfahren
die
Umschlag
der
Goethe-
A k a d e m i e - A u s g a b e . 1 7 Mit deren Erkenntnis über die vielen anderen Hände, die an G o e t h e s Ausgabe
letzter
Hand
mitgewirkt haben, und die gar nicht s o
akribische
Überprüfung dieser H ä n d e durch Goethe18 zerfiel schon auf praktischer E b e n e das A r g u m e n t , diese A u s g a b e enthalte quasi den materialisierten Autorwillen. N e b e n der P r o b l e m a t i k , d i e s e n ü b e r h a u p t z u e r m i t t e l n , a l s o interpretativ z u a r b e i t e n , w a r m i t d e m Beispiel G o e t h e auch deutlich gemacht, daß ein so verstandener A u t o r w i l l e ahistorisch i m m e r a u f d e m letztmöglichen Blick d e s Autors a u f sein W e r k beruht, also eine historische Stufe d e s W e r k e s verabsolutiert.
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Herman Grimm: Vorwort. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abt. I], Bd. 1. Weimar 1887, S. XI-XVII, hier S. Xlf. - Zur Weimarer Ausgabe s. z.B. Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1986 (Zeitschrift fur deutsche Philologie 105. Sonderheft), S. 4-42, bes. S. 11-18; Herbert Kraft: Editionsphilologie. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Aufl. mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert VonhofF. Frankfurt/Main, Berlin, Bem, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001, S. 15-23 (Kap. III: Paradigma: Die Weimarer GoetheAusgabe); Paul Raabe: Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren. In: Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr - Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 26. bis 27. August 1999. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2001 (Beihefte zu editio. Bd. 16), S. 3-19. Georg Witkowski: Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke. In: Funde und Forschungen. Eine Festgabe für Julius Wahle. Leipzig 1921, S. 216-226, hier S. 225. Bernhard Suphan: Vorbericht. In: Goethe, Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 1 (Anm. 13), S. XVIIIXXV, hier S. XIX. Zeller 1971 (Anm. 1), S. 55. Beispiele bei Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billmann. Darmstadt 1990, S. 18f., 2 2001 (Anm. 13), S. 24f. und Nutt-Kofoth 2000 (Anm. 10), S. 172f. und 184. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1952-1966, abgebrochen, danach einige weitere Bände als Einzelausgaben. Emst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe (1951). In: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von Emst Grumach. Berlin 1959 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. Bd. 16), S. 1-34 (der Beitrag erschien zuerst in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 12, 1950 [1951], S. 60-88).
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Mit der zweiten Phase der Goethe-Akademie-Ausgabe ab 1959 erwuchs aus diesen Erkenntnissen schließlich das Konzept der ,Autorisation', wie es seit Siegfried Scheibes Publikation einer Definition 1971 zum tragenden editorischen Gerüst wurde. 19 Statt eines zu ermittelnden Autorwillens diente nun die matieriale Überlieferung als Basis der editorischen Entscheidung. Die überlieferten Textträger werden auf ihren Status als dem Autor zugehörig und von ihm verfaßt bzw. veranlaßt geprüft. Damit war für die editorische Textkonstitution die Autorperspektive durch die Editorperspektive ersetzt. Die Autorperspektive wurde hingegen als eine sich historisch verändernde deutlich. Die sich im Leben des Autors stetig wandelnde Sicht auf sein Werk, das sich für den Autor immer in der letzten Fassung manifestiert, versuchte Scheibe in den Begriff der ,Autor-Autorisation' zu fassen, um so die andersgeartete Perspektive des Editors zu betonen, dem die Fassungen des Werkes editorisch als gleichwertig zu gelten haben. 20 Die Perspektivendifferenz hat Scheibe in dem der Editorperspektive zugeordneten Begriff der „historischen Textfassung" verdeutlicht. 21 Dagegen hatte Hans Werner Seiffert in seiner methodologischen Arbeit 1963 ebenfalls den Begriff der .Autorisation' verwendet, ihn aber noch ganz aus der Autorperspektive verstanden. Zwar war .Autorisation' auch für ihn die entscheidende Kategorie für die Textkonstitution, indem er formulierte: „Für die Textherstellung fragt [...] der Neuphilologe nach dem autorisierten Text." 22 Jedoch war für ihn nicht jeder Text des Autors qua Verfasserschaft autorisiert, sondern nur derjenige „mit einer eindeutigen Zustimmung eines Autors zu seinem Text", also einer zusätzlichen geäußerten Haltung des Autors zu seinem Text. So konnten in dieser Vorstellung auch „eigenhändig vorliegende Niederschriften, wie das gut überlieferte Werk Hölderlins, [...] oft der letztwilligen Autorisation" entbehren. 23 Nicht von ungefähr ist die nach diesem Autorisationsverständnis notwendige ausdrückliche „Text-Affirmation" 24 bei Seiffert zugleich mit dem Begriff des ,Autorwillens' vermischt, und so bleibt Seifferts Autorisationsbegriff an die ältere Konzeption wie die der Weimarer Goethe-Ausgabe gebunden: „Der Herausgeber hat sich als der vom Dichter Beauftragte zu fühlen und in jedem Falle seinen Willen zu respektieren." 25 Zusammen mit Scheibe hatte Zeller 1971 im innovativen Autorisationskonzept dagegen gerade die Autorperspektive und den Autorwillen als Leitvorstellung für die 19
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Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 1), S. 1-44, hier S. 28f. Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: Probleme neugermanistischer Edition. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1982 (Zeitschrift für deutsche Philologie 101. Sonderheft), S. 12-29, hier S. 18-21. Siegfried Scheibe: Zu einigen theoretischen Aspekten der Textkonstitution. In: editio 5, 1991, S. 2 8 37, hier S. 29, Zitat im Original kursiv. Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts fur deutsche Sprache und Literatur. Bd. 28), S. 98. Seiffert 1963 (Anm. 22), S. 13; s. auch dort, S. 14: „paradoxerweise schließt das Autograph nicht ohne weiteres die Autorisation ein"; S. 15: ,J)ie Reinschrift (das Mundum) / erst ist autorisiert, d. h. sie kann als Fassung eines endgültig abgeschlossenen Arbeitsabschnittes oder als Druckvorlage gelten." Klaus Hurlebusch: Edition. In: Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 1. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt/Main 1996, S. 457-487, hier S. 462. Seiffert 1963 (Anm. 22), S. 108.
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Edition verabschiedet, doch bleibt die verwendete Begrifflichkeit mit der Gefahr der Verwechselung noch immer dem älteren Konzept nahe. So setzt Zeller - in Absetzung vom „nicht eindeutig zu erschließenden oder zu vermutenden Autorwillen" „zum Leitbegriff der Textkonstitution den in der Überlieferung bezeugten Autorwillen" und versteht darunter „die autorisierten Texte". 26 Auch Scheibe verzichtet nicht vollständig auf den Begriff des Autorwillens, wenn er in seiner letzten Definition von .Autorisation' 1991 formuliert: ..Autorisiert heißen Textfassungen, die vom Autor verfaßt und gewollt sind." Fast scheint mit dieser Formulierung das ganze material orientierte Autorisationskonzept wieder aus den Angeln gehoben, doch meint „gewollt" hier nur die Veranlassung Dritter zu Abschrift, Satz etc. des Autortextes. Doch wird der Boden wieder schwankend, wenn Scheibe kurz darauf .Autorisation' tatsächlich auf die Autorperspektive zurückschneidet und noch einmal mit dem Begriff des .Willens' füllt: „Die Autorisation als Willensentscheidung des Autors endet mit dessen Tod." 27 In diesem Zusammenhang läßt sich Scheibes Plädoyer fur die Edition einer Fassung .früher Hand' - der Bevorzugung der Druckvorlage vor dem Druck als ein Ausdruck solcher immer wieder durchscheinenden Autornähe lesen. 28 Ein Jahr zuvor hatte er den ,Autorwillen' sogar mit der Editorperspektive verbunden, wenn er von dem „in den einzelnen Textfassungen sichtbar werdenden Willen des Autors" sprach, „dem zu folgen die oberste Pflicht eines jeden Editors sein sollte." 29 Solche latente Vermischung der doch schon differenzierten Begriffe und Vermengung der schon geschiedenen Ebenen .Autor' und .Editor' dürfen als Ursache fur die grundsätzliche Ablehnung des Autorisationsbegriffs bei Herbert Kraft angesehen werden, den er in enger Koppelung mit dem ursprünglichen Begriff des .Autorwillens' versteht. In diesem Sinne erklärt er „die Diskussionen um .autorisierte' und .nicht-autorisierte' Texte, die durch eine Willenserklärung des Autors unterschieden seien, [fur] unwichtig." Seine Kritik richtet sich also gegen jene Auffassung, in der „eine Willenserklärung des Autors als .Autorisation' des Textes verstanden ist", und zwar im Sine einer ,,quasijuristische[n] Entscheidung". 30 Dies ist genau jener Aspekt der Bevollmächtigung, der sich als der problematischste und methodisch am wenigsten hilfreiche des Autorisationsbegriffs erwiesen hat. Gegen die Instanz des Autors, verkörpert im Begriff des ,Autorwillens', hat Kraft 1982 den Text als Ausgangsobjekt des Philologen hervorgehoben und die „Faktizität der Texte" zum Leitmaßstab des editorischen Vorgehens gemacht. 31 Dieser Position entspricht allerdings schon der editorische Paradigmenwechsel seit der zweiten Phase der Goethe-AkademieAusgabe, indem mit der Differenzierung von Autor- und Editorperspektive und der Zuordnung der Textträger nach dem Faktum der autoreigenen Produktion bzw. der
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Zeller 1971 (Anm. l ) , S . 5 5 f . Siegfried Scheibe: Editorische Grundmodelle. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer (Redaktion). Berlin 1991, S. 2 3 ^ 8 , hier S. 26. Scheibe 1991 (Anm. 27), S. 30f. Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio 4, 1990, S. 57-72, hier S. 71. Kraft 1990 (Anm. 16), S. 21 f., 2 2001 (Anm. 13), S. 28. Herbert Kraft: Die Aufgaben der Editionsphilologie. In: Probleme neugermanistischer Edition (Anm. 20), S. 4-12, hier S. 5, Zitat im Original kursiv.
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autorgeleiteten oder gebilligten Herstellung des Werktextes die Orientierung am Autorwillen zumindest methodisch-theoretisch aufgegeben war. Kraft selber hat seine eigene Begrifflichkeit 1990 durch den Begriff der „historisch-ästhetischen Authentizität" ersetzt. Damit bleibt sein Konzept text-, nicht autorbezogen, jedoch bildet der Begriff nun den Leitmaßstab fur die Ermittlung der Fassung(en) für den edierten Text, meint daher also nicht alle überlieferten Textfassungen im Stadium der Recensio gleichermaßen. Krafts Authentizitätsbegriff umfaßt allerdings ausdrücklich auch die gedruckten Texte, gerade wegen des Faktors der Geschichtlichkeit ihrer Rezeption. Dazu gehören dann gleichermaßen die zensierten Druckfassungen, verstanden als „historische Form". 32 Ganz anders gefüllt hat 1998 Norbert Oellers Authentizität, wenn er durch sie nur „die .eigentlichen', die .wahren' Ursprungs-Texte, die allein vom Autor kommen", charakterisiert sieht, unter denen die „als Manuskripte oder Typoskripte" überlieferten Texte zu verstehen seien. 33 Die von ihm explizit zum „Editionsprinzip" 34 erhobene Authentizität meint damit nur die vom Autor eigenhändig geschriebenen Texte. Eine solche Zuweisung des Textes an den Autor als alleinigen „Sprachbenutzer" war schon die Grundlage von Klaus Hurlebuschs 1971 vorgetragenem Authentizitätsverständnis, das er zur Herauslösung des Begriffs .Authentizität' aus dem Zusammenhang mit dem Autorwillen entwickelte: In diesem Sinne kann z.B. der Text eines Autors nicht als authentisch gelten, wenn er Varianten von fremder Hand enthält, die vom Autor ausdrücklich gebilligt worden sind. Ebensowenig wären etwa auch gedruckte Texte eines Autors als authentisch anzusehen, da sie in der Regel unter der aktiven Mitwirkung fremder Personen (des Verlegers, Korrektors, Setzers usw.) zustandegekommen sind, wobei die Tatsache, daß der Druck eventuell des Autors uneingeschränkte Zustimmung gefunden hat, nicht ins Gewicht fällt.35
In diesem Zusammenhang ist .Authentizität' jedoch kein Ersatzbegriff fur .Autorisation'. .Autorisation' wird statt dessen zur Bezeichnung der editorischen Verfahrensweise: „Die Methode, mit der die sprachlichen Anteile von Sprachbenutzern an der Text-Überlieferung festgestellt bzw. unterschieden werden können, wäre als Autorisation zu bezeichnen". 36 In Anknüpfung an Hurlebusch versteht auch Klaus Kanzog 1991 .Authentizität' als die Frage nach der Verfasserschaft eines Textes, ohne allerdings Hurlebuschs Bedingung der alleinigen Verfasserschaft gelten zu lassen, indem er auch literarische Co-Produktionen als authentisch fassen kann. Jedoch bleibt Kanzog „die Feststellung der Authentizität eines Textes in ihrer nur grundsätzlichen Klärung des Sachverhalts
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Kraft 1990 (Anm. 16), S. 29-31, 2 2001 (Anm. 13), S. 38f.; erstes Zitat im Original kursiv. Norbert Oellers: Authentizität als Editionsprinzip. In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Walther Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers, Hartmut Steinecke. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. Bd. 8), S. 43-57, hier S. 44. Siehe schon den Titel von Oellers 1998 (Anm. 33). Klaus Hurlebusch: Zur Aufgabe und Methode philologischer Forschung, verdeutlicht am Beispiel der historisch-kritischen Edition. Eine Auseinandersetzung mit Hermeneutik und Historismus. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 1), S. 117-142, hier S. 135f. Hurlebusch 1971 (Anm. 35), S. 136.
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der Echtheit, Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit zu allgemein", so daß er .Autorisation' als präzisere Kennzeichnung der Zuverlässigkeit versteht.37 Somit ist .Authentizität' bei Kanzog nur ein vorgeschalteter Begriff in bezug auf die Makroebene des Textes als Ganzen, .Autorisation' hingegen bezieht sich hier auf die Mikroebene des Textes, also auf bestimmte Wörter, Zeichen etc. Noch ganz anders verstand 1990 Siegfried Scheibe .Authentizität', nämlich als Gegensatz zu seinem Autorisationsbegriff. Er verknüpfte dabei erstmals den Begriff des Autorwillens mit dem der Authentizität, wo sonst,Autorwille' höchstens in Hinblick auf .Autorisation' in Anschlag gebracht wurde. .Autorwille' ist dabei ganz im Sinne einer .Autorintention' gemeint, so daß für Scheibe ein authentischer Text „aus Elementen verschiedener historischer Stufen zusammengesetzt ist und den vom Autor .gewollten' [...] und beabsichtigten Text darstellen soll", also ein ahistorischer Mischtext im Sinne des Copy-Text-Verfahrens oder altphilologischer Rekonstruktion als „idealer Text" ist. Gegen diese so verstandene Begrifflichkeit plädiert er in Hinblick auf die Neuphilologie für einen anderen Authentizitätsbegriff, der den „über einen bestimmten Zeitraum hin für den Autor gültige[n] Text" umfassen soll, also ganz im Sinne seines Autor-Autorisationsverständnisses.38
3. Ansätze zu einem funktionalen Authentizitätsbegriff Was bleibt von den Wörtern nach all den verschiedenen Füllungen ihrer Bedeutung? Was ist nun gemeint, wenn von .Autorisation' oder von .Authentizität' gesprochen wird? Die historische Leistung des Autorisationskonzeptes war die Abkehr vom Willen des Autors als Leitmaßstab für die Textkonstitution. Methodisch war das Konzept erfolgreich, doch bleibt die Begriffssprache am Ende verwirrend, weil in der Bedeutungsfüllung der Termini die Abgrenzung von ,Autorwille' und .Autorisation' nicht deutlich genug gelingt. Von .Authentizität' als Terminus der Editionsphilologie zu sprechen bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollends müßig, da selbst die jüngeren Vorschläge eines Begriffsverständnisses untereinander so sehr differieren, daß sie bei jedem Außenstehenden vollständige Verwirrung hinterlassen müssen. Wenn sich die Begriffe dann letztlich gegenseitig erklären, wie in den Definitionen des Reallexikons (s.o.), ist für die Begriffssprache nichts gewonnen, sondern nur ein terminologisches Synonym hergestellt. Daß .Authentizität' in der Editionsphilologie zu einem der „Schlüsselbegriffe" geworden sei, wie das Reallexikon begriffsgeschichtlich erläutert,39 ist nach den oben genannten differenten Bedeutungszuschreibungen nun jedenfalls eine eher gewagte Aussage. 37
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Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik. Bd. 31), S. 14-16, Zitat S. 16. Scheibe 1990 (Anm. 29), S. 70f. Siehe zum Verständnis .authentisch = ideal' und der Verbindung mit dem Autorwillen auch Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einfuhrung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 91: „Dieser Editionsmethode [Kontamination zweier vom Autor veranstalteter Drucke] lag die Vorstellung zugrunde, der Editor habe sich als Vollstrecker des Autorwillens zu betrachten und d e n authentischen Text zu präsentieren, auch wenn dieser in der vom Editor vorgelegten Form η i e existiert hatte." Grubmüller/Weimar 1997 (Anm. 7), S. 168.
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Dabei hat .Authentizität' als verwendbarer Begriff allerdings die größten Möglichkeiten, das gegenwärtige terminologische Dilemma aufzulösen. Die zugewiesene Bedeutung müßte nur im Hinblick auf das editorische Arbeiten auch tatsächlich funktional sein. Dafür allerdings sind das Nebeneinander, Gegeneinander und die Überschneidung von .Authentizität' und .Autorisation' aufzugeben. Weil in den bisherigen Konzepten von .Autorisation' die Abgrenzung vom .Willen des Autors' terminologisch befriedigend nicht gelingen konnte - worauf auch schon das in .Autorisation' einbegriffene Lexem .Autor' verweist - , ließe sich nun .Autorisation' tatsächlich auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückschneiden, nämlich .Bevollmächtigung' als zusätzliche geäußerte Haltung des Autors zu seinem Text. Damit verbleibt der Begriff .Autorisation' in der Autorperspektive. Die Editorperspektive aber ist auch schon deshalb eine andere, weil sie gar nicht zuerst nach dem Autor fragt, sondern nach dem Text. Die Tatsache, daß ein Text vom Autor stammt, verbürgt etwa durch seine Handschrift, umfaßt realiter gar keine Bevollmächtigung oder „Ermächtigung" durch den Autor. Diese Zuweisung ist ja nur eine Hilfskonstruktion des Autorisationskonzeptes, um materialorientiert Texte einem Autor zuweisen zu können, ohne auf eine tatsächliche Äußerung oder Haltung des Autors zu seinem Text angewiesen zu sein.40 Daß eine solche als Willenserklärung des Autors verstandene Autorisation dann innerhalb der Editorperspektive durch den Begriff der .historischen Textfassung' ersetzt werden könnte, reicht aber deshalb nicht zur Entwirrung des Autorisationsbegriffs aus, weil die .historischen Textfassungen' in diesem Konzept ja gerade die autorisierten Texte sind (sowie bei deren Verlust entsprechende Stellvertreter),41 der Editor also die .Autorisation' eines Textes zuerst feststellen muß, um ihn den .historischen Textfassungen' zuzuordnen. Gegen die Aporien des Autorisationsbegriffs ließe sich nun .Authentizität' als genuin textorientierter Begriff gewinnen. Doch darf der dann gerade nicht im Sinne von .Ursprünglichkeit' nur die Textfassungen meinen, an denen der Autor ganz allein arbeitete, also die eigenhändigen Handschriften oder Typoskripte etc. Ein solches Verfahren hält das Werk des Autors in der Phase der Produktion fest - und bleibt ahistorisch, weil es die historische Gestalt des Werkes innerhalb der Rezeption, nämlich die Drucktexte, ignoriert. Zum Werk gehören die Fassungen in der Produktion sowie die Form, die es für die Rezeption erhalten hat. Sie alle sind authentische Ausprägungen des Werkes, d.h. sie sind die .echten' Fassungen des Werkes und machen zusammen den .echten' Werktext aus. Das so gewonnene Verständnis von .Authentizität' als .Echtheit' begreift die Bedingungen der Produktion und der Rezeption als die historischen Gegebenheiten zur Realisierung des Werkes. Weil das Werk historisch ist wie die Bedingungen seiner Existenz, spiegeln sich die Bedingungen auch in seiner Form, die damit Teil seiner Authentizität ist. Aus diesem Verständnis von .Authentizität' ist
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Beispielhaft bei Scheibe 1990 (Anm. 29), S. 71: Autorisation [...] ist die .Ermächtigung', der der Autor einem Text gibt, der von ihm verfaßte und damit der von ihm gewollte Text zu sein. Diese .Ermächtigung' tritt in verschiedener Weise in Erscheinung: / 1. Als persönliche Autorisation, indem der Autor einen eigenen Text eigenhändig niederschreibt, und / 2. als gesellschaftliche oder kollektive Autorisation, indem der Autor fremde Personen veranlaßt, an seinen Texten mitzuarbeiten." Vgl. Scheibe 1991 (Anm. 27), S. 29.
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nun aber nicht per se schon eine Ableitung der ftir den edierten Text auszuwählenden Fassungen möglich, etwa im Sinne von Krafts Begriff der ,historisch-ästhetischen Authentizität', sondern es dient allein als Eingrenzung der in der Edition überhaupt zu berücksichtigenden Textfassungen. Und diese sind keine anderen als die, die das ursprüngliche Autorisationskonzept meinte. Das Kriterium, das diese Fassungen eingrenzt, ist aber allein die Frage nach der Autorschaft, nicht die nach Willenserklärungen oder Absichten. Und es berührt die Autorschaft nicht, daß sich ein Text für die Rezeption erst durch Beteiligung Dritter realisiert. Entscheidend ist nur, daß sich die Autorschaft als eine direkte Beteiligung des Autors an jeder der in Frage kommenden Fassungen nachweisen läßt. Diese Fassungen sind sämtlich authentisch, und das gilt dann im Extrem eben auch fur den vom Autor - wenn auch murrend oder fluchend gebilligten zensierten Druck. Primär bleibt das vorgelegte Konzept von .Authentizität' textbezogen, die Materialität der Textträger als Realisierungen des Textes in seiner Überlieferung ist nur ein sekundäres Phänomen. Damit werden Verabsolutierungen der Materialität vermieden, wie sie etwa in Stefan Grabers ,,historisch-materielle[m] Konzept" einer Textkritik zutage treten, in dem der Werkbegriff zugunsten material orientierter „Texteinheiten" aufgegeben wird. Das hat weitreichende Folgen für Grabers Autorisationsbegriff, der z.B. - aufgrund der materialen Gegebenheit der Handschrift - die Abschrift eines Fremdtextes durch den Autor als autorisierten Text versteht. 42 Für die Edition literarischer Texte wird ein solcher Begriff damit unbrauchbar. Bleibt noch die Frage: Geht denn etwas verloren, wenn .Authentizität' nicht mehr zuvorderst als Charakteristikum für die eigenhändigen Niederschriften gebraucht werden kann? Und die Antwort lautet: nur für den, der aus der Perspektive des Autors die Beteiligung Dritter an der Realisierung des Werkes als Textverfremdung und damit den Text als einen sich zunehmend vom Autor entfernenden betrachtet - und dabei doch ausblendet, daß der Autor an allen diesen Fassungen beteiligt ist, sie in der Regel steuert und leitet. Aus der Perspektive des Werkes zeigt die unterschiedliche Beteiligung Dritter an den Fassungen aber nur die historischen Bedingungen seiner Produktion und Realisation. Diese unterschiedlichen Bedingungen aber beschreibt die Edition allemal. Eines separaten qualifizierenden Begriffs für bestimmte dieser Fassungen bedarf es dafür nicht. Der hier vorgenommene Zugang zum Objekt der Edition, dem Text, zuvorderst über diesen selbst und nicht über die Instanz des Autors, wird bekräftigt durch das editionsphilologische Verständnis des Textfehlers. Mit der ursprünglich anvisierten materialorientierten Wende der Editionsphilologie durch das seinerzeit neue Autorisationskonzept legten dessen maßgebliche Exponenten Scheibe und Zeller einen neuen eng gezogenen Fehlerbegriff vor, der bis heute unter vollkommener Ausschaltung der Instanz ,Autor' rein textbezogen blieb: „Kriterium fehlerhafter Stellen ist, daß sie der Struktur der textspezifischen Logik widersprechen (bei konventionellen Texten also, daß sie für sich oder im engeren Kontext keinen Sinn zulassen)." 43 Indem Zeller 42
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Stefan Graber: Der Autortext in der historisch-kritischen Ausgabe. Ansätze zu einer Theorie der Textkritik. Bern 1998, S. 8 (Zitat), 58 (Zitat im Original kursiv) und 63. Scheibe 1991 (Anm. 27), S. 31.
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den Nachweis eines Textfehlers entscheidend an die „Analyse der physischen Überlieferungsbedingungen" band, 44 war die etwaige Eruierung eines Autorwillens oder einer Autorintention fur die Heilung von Textfehlern grundsätzlich ausgeschlossen. Daß Zeller den Textfehler als ein „stellenweises Aussetzen der Autorisation" definierte, 45 zeigt, daß er hier einen mit dem ,Autorwillen' unvermischten Autorisationsbegriff meint. In der hier von mir vorgetragenen Perspektive heißt dieser Begriff .Authentizität'. Damit sei deutlich gemacht, daß der hier neu angedachte Begriff der .Authentizität' nicht das editionsphilologische Rad neu erfinden will. Es geht allein um eine Klärung der Begriffssprache und die Offenlegung der methodischen Vorgehensweise, die mit den jeweiligen hier in Rede stehenden editionsphilologischen Leitbegriffen verknüpft ist. In einer wissenschaftlichen Disziplin muß an den Begriffen erkennbar sein, worüber geredet wird. Und diese Begriffe müssen eine solche Bedeutung tragen, daß sie für die Disziplin funktional sind - ganz im Sinne jenes ein Vierteljahrhundert alten Plädoyers von Hans Zeller: „Für eine Verständigung". 46
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Hans Zeller: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: Edition und Wirkung. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs. Göttingen 1975 (LiLi 5, 1975, H. 19/20), S. 1 0 5 - 1 2 6 , h i e r S . 118f., Zitat S. 118. Zeller 1975 (Anm. 44), S. 118. Siehe Anm. 2.
Karl Konrad
Polheim
Die scheinbare Autorisation oder Der Schutz des Autors vor sich selbst
Wenn einer, der in seinen Bemühungen um die Textkritik ein akademisches Leben lang fiir die Anerkennung des Autors und gegen dessen ideologische Abschaffung eingetreten ist, wenn er fiir eine wenn immer mögliche Ausführung des Autorwillens (jetzt sagt man: Autorintention) und gegen die Einsetzung mechanistischer Prinzipien gekämpft hat, - wenn ein solcher nun von der „Rückkehr des Autors'" liest und hört, dann wird man ihm nicht verübeln können, wenn er sich schmunzelnd einige sarkastische Gedanken über Moden und Methoden der Editionswissenschaft erlaubt. Wenn aber der Autor in die Editionswissenschaft sozusagen zurückgekehrt ist, dann gilt es auch, ihn weiterhin zu schützen, damit er nicht etwa wieder abhanden kommt. Er muß aber nicht nur von dem Wirken äußerer Mächte, seien es der Rezeption oder anderer Fremdeinflüsse, geschützt werden. Ungleich schwerer ist es, ihn vor sich selbst zu schützen. Das trifft weniger oder nicht auf Handschriften zu, jedoch gar nicht so selten auf Drucke. Es handelt sich, auf den Punkt gebracht, um das Problem, ob Textveränderungen in einem autorisierten Druck, die offensichtlich nicht vom Autor stammen, von diesem nun übernommen und anerkannt - oder aber einfach übersehen wurden. Mit anderen Worten: ob der neue Text dem wie immer zu ergründenden Willen des Autors entspricht, was dem Titel unserer Tagung gemäß Authentizität heißt - oder ob er, obwohl autorisiert, 2 dies nicht tut, was ich die scheinbare Autorisation nenne. Also: ein autorisierter Text muß nicht immer authentisch sein.
Vgl. etwa Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique". Aus dem Französischen übersetzt von Frauke Rother und Wolfgang Günther, redaktionell Überarb. von Almuth Grésillon. Bern, Berlin, Frankfurt/Main, New York, Paris, Wien 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. Bd. 4), S. 32ff. - Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martinez und Simone Winko. Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 71). - Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktions- und rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 165-202. Wenn man die Autorisation in eine aktive und eine passive oder neuerdings in eine generelle, punktuelle und delegierende Autorisation eingeteilt hat, so kann dies gewiß bisweilen nützlich sein - nur weiß man meistens nicht, um welche es sich handelt, da man ja dazu dezidierte Äußerungen und Zeugnisse des Autors brauchte. Und wenn man eine solche Einteilung aus den Textverhältnissen ableiten wollte, befände man sich in einem circulus vitiosus. Bleiben wir also hier bei der üblichen Bedeutung von Autorisation.
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Karl Konrad
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Das ganze ist, möchte man sagen, ein ewiges Problem der Textkritik, ja man hat es sogar für unlösbar erklärt.3 Freilich ist es nur mit äußerster Vorsicht anzugehen und jeweils von Fall zu Fall zu behandeln. Dennoch scheint es möglich, dafür Entscheidungskriterien aufzustellen und eine gewisse Systematik zu entwickeln. Es sind vor allem drei Kriterien, auf die es ankommt: ein ästhetisches (oder sinnhaftes), ein kodikologisches und ein biographisches Kriterium. Weitere wären möglich, aber diese drei müssen unbedingt vorhanden sein, müssen nahtlos ineinander greifen und einander bestätigen. Nur auf dieser Basis kann und muß, wie ich glaube, die editorische Entscheidung getroffen werden." Quod est demonstrandum. Unser Problem tritt ein, wenn der Autor sein gedrucktes und von ihm gebilligtes Werk zu flüchtig korrigiert hat oder, ein anderer Fall, wenn er bei einer Neuauflage ein fehlerhaftes Produkt als Basis benutzt hat. Bleiben wir gleich bei dieser zweiten Möglichkeit. Das sind die sogenannten Doppeldrucke, 5 also jene Raubdrucke, mit denen der Verleger seinen eigenen Autor betrügt. Dazu war es notwendig, daß dieser Doppeldruck genau dem Originaldruck glich, also - um in der bildhaften Drucksprache zu reden - .Männchen auf Männchen' gesetzt wurde. Natürlich konnte dies nicht fehlerlos gelingen. Und wenn es dann zu einer rechtmäßigen Neuauflage kam, und der Autor, mochte er noch so sorgfaltig in seinen Korrekturen sein, einen solchen Doppeldruck als Vorlage benutzte und dessen Fehler vertrauensvoll übernahm, dann war das textkritische Unglück geschehen. Deutlich ist dies am Werk Wielands zu verfolgen. Wieland war ein vielgelesener Autor. So wurde nicht nur seine Ausgabe letzter Hand gleichzeitig in vier verschiedenen Formaten und Papierqualitäten herausgebracht, sondern es sind auch für seine vorherigen Ausgaben bis zu sechs Doppeldrucke feststellbar. Ein Beispiel aus dem Agathon. In der Ausgabe letzter Hand (1794, Sigle C), und zwar in allen vier Drukken (also C l J t ), heißt es im 5. Kapitel des 6. Buches: So bald eine Frauensperson zu interessieren anfangt, so bald entdeckt man Reitzungen an ihr. Die Reitzungen, worin itzt beide sich befinden, sind der Liebe günstig; sie verschönern die Freundin, und blenden die Augen des Freundes.6
Es fällt die so schnelle Wiederholung des Wortes „Reitzungen" als unschön, ja als störend auf. Ist das der Wille des Autors? Befragen wir unsere Kriterien: Das ästhetische Kriterium lehnt die Doppelung ab. Und in der Tat heißt es in den beiden früheren Fassungen des Agathon (E1 1766 und E 2 1773) statt des zweiten „Reitzungen" viel besser „Regungen": „so bald entdeckt man Reitzungen an ihr. Die Regungen, worin 3
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Hans Zeller: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: LiLi 5, 1975, H. 19/20: Edition und Wirkung, S. 105-126, hier S. 121. Vgl. auch Karl Konrad Polheim: Der Textfehler. Begriff und Problem. In: Ders.: Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretation. Bonn, Berlin, Frankfurt/Main, New York, Paris, Wien 1992, S. 67ff. (zuerst 1991). Zusammenfassend Martin Boghardt: Der Begriff des Doppeldruckes. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 440ÍT. Wielands Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. Bd. 6: Agathon. Hrsg. von Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1937, S. 160; Bd. 8, T. 2, H. 1: Bericht und Register zum 6. Bd.: Agathon von Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1937, S. 70 A.
Die scheinbare Autorisation
oder Der Schutz des Autors vor sich selbst
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itzt beide sich befinden". Aber ein Editor dürfte - wenn er sich auf die letzte Fassung (C) stützt - trotzdem nicht auf E'· 2 zurückgreifen. Das eine Kriterium wäre zu wenig, es wäre eine unerlaubte Kontamination. Nun hat Wilhelm Kurrelmeyer, der schon 1913 grundlegend die Doppeldrucke Wielands untersuchte 7 und 1937 den Agathon in der kritischen Ausgabe betreute, entdeckt, daß das zweite „Reitzungen" schon vor der letzten Fassung (C) zu finden ist, nämlich in einem Doppeldruck von E 2 (mit der Sigle E 2c ). Durch den großen Zeitraum, der zwischen den Originaleinzelausgaben und der Ausgabe letzter Hand lag (in unserem Fall 21 Jahre), war es höchst wahrscheinlich, daß dem Dichter anstatt der Originaldrucke auch Doppeldrucke in die Hand geraten würden, die er für Originale halten mußte. Das war tatsächlich öfter der Fall, und so auch hier. Damit tritt das kodikologische Kriterium in Kraft. Das biographische Kriterium schließlich bestätigt den Vorgang, jedoch in einer geradezu paradoxen Weise. Wieland war ein sorgsamer Korrektor, er kontrollierte stets seine neuen Auflagen aufgrund der alten, besonders bei der Ausgabe letzter Hand. Deswegen beschaffte er sich auch hier eine Druckvorlage, aber eben leider die falsche, von der er den Fehler gutgläubig beibehielt. Kurrelmeyer hat in der kritischen Ausgabe mit Recht auf die Formulierung „Regungen" zurückgegriffen und somit den Dichter vor sich selbst geschützt. 8 Es ist nicht unwichtig, noch einen anderen Fall der Textkritik bei Wieland anzuführen. In der Einzelausgabe des Agathon E 1 und E 2 sowie in einem Druck der Ausgabe letzter Hand (C 1 ) heißt es: „Kleine Quellen schlängelten den Lorberhain herab, und rieselten mit sanftem Murmeln oder lächelndem Klatschen in den See." Dagegen heißt es in den anderen drei Drucken (C2"1): „Kleine Quellen schlängelten den Lorberhain herab, und rieselten mit sanftem Gemurmel in den Teich hinab."' Kurrelmeyer hat sich, getreu seinen Prinzipien in der kritischen Ausgabe, an diese Fassung gehalten, Friedrich Beißner greift in seiner Wielandausgabe 10 auf die andere zurück. Er empfindet das klappernde „herab" und „hinab" als störend und erklärt, was
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Wilhelm Kurrelmeyer: Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung fur die Textgeschichte von Wielands Werken. Berlin 1913 (Aus den Abhandlungen der königl. preuss. Akademie der Wissenschaft. Jg. 1913. Phil.-hist. Classe Nr. 7). Wie schwierig solche Entscheidungen sein können, zeigt ein anderes Beispiel. Im Agathon, im 6. Kapitel des 7. Buches, lesen wir in der kritischen Ausgabe: „Ihre sehr schönen Arme waren in weiten, halbaufgeschürzten Ärmeln fast ganz zu sehen" (Wieland, Gesammelte Schriften, Anm. 6, Werke, Bd. 6, S. 179). Das entspricht den Einzeldrucken E 2ab . In den verderbten Drucken E 2cd heißt es dagegen: „hellaufgeschürzten"; in der Ausgabe letzter Hand C 1 : „hochaufgeschürzten" (Werke, Bd. 8, S. A19. Auf S. A75 liegt hier aber offensichtlich ein Druckfehler vor, denn dort steht: „halb ] halb = E 2c ", was „hell E 2 c " heißen müßte). Jedenfalls hat Kurrelmeyer fur den kritischen Text auch hier auf die Formulierung des Einzeldruckes zurückgegriffen und dies an anderer Stelle begründet: „da die neue Lesart von C 1 [„hochaufgeschürzten"] nur durch die dem Dichter vorliegende verderbte Stelle in E 2cd [„hellaufgeschürzten"] veranlaßt wurde, sollte die ursprüngliche Lesart [„halbaufgeschürzten"] wieder hergestellt werden" (Kurrelmeyer 1913, Anm. 7, S. 19). Es ist die Frage, ob diese Entscheidung richtig ist, jedenfalls beruht sie auf keiner so festen Basis, da der Dichter die verderbte Stelle „hell-" nicht übernommen, sondern zu „hoch-" verbessert hat, wobei auch das ästhetische Kriterium nicht gegen diese Veränderung ins Feld zu fuhren ist. Wieland, Gesammelte Schriften (Anm. 6), Werke, Bd. 6, S. 127; Bd. 8, S. 60A. Ch.M. Wieland: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Hrsg. von Friedrich Beißner. München 1964/65, hier Bd. II: Romane, S. 148,930.
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„See" und „Teich" im schwäbischen Sprachgebrauch bedeuten. So entwickelt er für seine Entscheidung zur früheren Fassung eine lange Argumentationskette, die den Gedankengang des Setzers, der hier verantwortlich gemacht wird, nachzuvollziehen sucht. Von unserer Systematik her könnte das ästhetische Kriterium (vielleicht) gelten, die anderen Kriterien liefern nichts. Die Entscheidung Beißners ist nicht abgesichert. Schlimmer noch wird es, wenn Beißner - expressis verbis - betont: „Ein in jahrzehntelanger Wieland-Lektüre zu erwerbender Sinn für die spezifische Ausdrucksweise und Ausrucksmöglichkeit erkennt allermeist untrüglich die hineingestoppelten .Korrektoren-Korrekturen' und braucht den Vorwurf der Subjektivität nicht zu furchten."" Gerade solche Einstellungen, die sattsam bekannt sind, führten zum Gegenschlag des Pendels in der Editionswissenschaft, aber auch dieses schlug zu weit in der Gegenrichtung aus. Man hat - durch andere modisch-ideologische Tendenzen unterstützt - dann gleich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, d.h. den Autor mit dem selbstherrlichen Editor. Aber seien wir zufrieden. Nun ist der Autor ja zurückgekehrt. Die Träne quillt, die Forschung hat ihn wieder! Also kann auch ich mit neuem Mut meine alten Bemühungen fortsetzen, den Willen des Autors - oder die Intention des Autors - zu erschließen und einen authentischen Text herzustellen. Von diesen Bemühungen darf ich Ihnen nun zwei Fälle aus meiner Beschäftigung mit Eichendorff vorlegen, bei denen ich mit Hilfe unserer drei Kriterien gegen den autorisierten Text entschieden und damit versucht habe, den Autor vor sich selbst zu schützen. Der erste Fall ist wohl sogleich klar und eindeutig. Im Marmorbild spottet Donati, der böse, über den frommen Florio: Ihr wollt doch nicht etwa mit der Buhlerin unter'm Arm zur Kirche wandern und im Winkel auf d e m Fußschemel knien und andächtig Gotthelf sagen, w e n n die Frau B a s e nießt.
So steht es in der ersten Ausgabe der Novelle 1819 und in der Buchausgabe 1826, beide autorisiert, in der Gesamtausgabe 1841 und in allen weiteren Ausgaben bis heute. Erst die kritische Ausgabe hat dies geändert.12 Das ästhetische, oder hier besser gesagt: das sinnhafte Kriterium besagt zweifellos, daß das Wort „Buhlerin" eben keinen Sinn ergibt. Wer soll denn diese „Buhlerin" sein (weder Bianka noch die Venus kommen in Frage), und was heißt: mit ihr „unter'm Arm"? Der Editor freilich, das muß man gerechterweise zugeben, tut sich mit diesem Unsinn schwer, wenn er sich nur auf das eine Kriterium stützen kann. Aber, und das muß man auch hinzufugen, im Kommentar hätte er Stellung beziehen müssen - was niemand getan hat! Nun setzt das kodikologische Kriterium ein. Wir besitzen eine Handschrift des Marmorbildes, und da lesen wir: „mit dem Büchlein unter'm Arm". So einfach löst
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Wieland, Ausgewählte Werke (Anm. 10), Bd. II, S. 929f. Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe [im folgenden abgekürzt: HKA]. Bd. V/1: Erzählungen. T. 1. Text. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 1998, S. 55; Bd. V/2: Erzählungen. T. 1. Kommentar. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 2000, S. XVf., 67,133, 201,243, 252,255.
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sich das! Der Setzer hat das in deutscher Schreibschrift geschriebene „Büchlein" als „Buhlerin" gelesen - was leicht möglich ist - und sich weiter keine Gedanken gemacht. Jedoch der Dichter? Konnte der einen solchen Unsinn stehen lassen? Jetzt ist zu erkennen, wie wichtig das biographische Kriterium ist. Eichendorff hat sich bei der Abfassung seiner Werke geplagt, er hat sie wieder und wieder korrigiert, verändert, umgestellt und neue Handschriften angelegt. Also keineswegs der unbeschwerte Sänger des Wanderns und des Waldes. Aber mit der Veröffentlichung scheinen ihm seine Produkte fremd geworden zu sein. So ließ er etwa andere Leute fur sich den Vertrag mit dem Verleger Simion schließen und schrieb im Rückblick: „Mir war das damals gantz gleichgültig, da ich im Dienst zu bleiben und daher nicht mehr zu Schriftstellern gedachte." 13 Schon diese Äußerung zeigt im Sinne des biographischen Kriteriums, daß Eichend o r f f - anders als Wieland - sich mit seinen Drucken recht unzureichend befaßte. Und in der Tat gibt es in den autorisierten Drucken weitere Unsinnigkeiten und Unstimmigkeiten, 14 die vom ästhetischen oder sinnhaften Kriterium widerlegt und durch die Einsicht in die erhaltenen Handschriften, also das kodikologische Kriterium, als Fehler bestätigt werden. 15 Ich komme zum zweiten Fall einer scheinbaren Autorisation bei Eichendorff, der freilich nicht mehr so einfach ist. Ohne der Selbstgewißheit Beißners zu verfallen, sondern streng an unseren drei Kriterien ausgerichtet, habe ich es gewagt, einen gravierenden Eingriff im Taugenichts-Text vorzunehmen. Schon als ich ihn theoretisch erörterte,16 habe ich bei einigen Rezensenten (keineswegs bei allen) Widerspruch erregt. Jetzt aber habe ich diesen Eingriff in der Historisch-kritischen Ausgabe verwirklicht und durchgeführt. 17 Und so gestatten Sie, daß ich ihn vor diesem Auditorium von Fachleuten nochmals ausbreite. Die eine 7attgew'c/ite-Handschrift umfaßt die ersten beiden Kapitel mit dem Gedicht „Wem Gott will rechte Gunst erweisen". Auf dessen große Bedeutung fur die ganze Novelle kann jetzt nicht eingegangen werden. Hier ist die Struktur des Gedich13 14 15
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Eichendorff, HKA XII2: Briefe. Nr. 220, S. 209. Vgl. etwa Eichendorff, HKA V/2, S. 243, 363. Nun sind diese Handschriften von Marmorbild und Taugenichts nicht die unmittelbaren Druckvorlagen. Bei beiden spricht Eichendorff von „Abschreiben" (oder „abschreiben laßen") und von „durchcorrigiren" (Eichendorff, HKA V/2, S. 83, 290). Daß er dies wirklich getan hat, beweisen manche sinnvolle Veränderungen in den Drucken (vgl. Anm. 22). Es schieben sich also gewisse Schichten ein: der korrigierende Autor einerseits, ein eventueller Abschreiber und der Setzer andererseits. In dieser Textsituationen ist meist nicht zu erkennen, von wem Veränderungen stammen. Im Zweifelsfall müssen sie als autorisiert gelten. Gegen den autorisierten Text kann nur mit Hilfe unserer drei Kriterien entschieden werden. Vgl. dazu auch Karl Polheimf und Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des .Taugenichts'. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. 2 Bde. Tübingen 1989, Bd. II: Textgeschichte, S. 114ff., 180ff. - Auffallend bleibt, daß die Fehler der Drucke aus Handschriften zu erklären sind, die gar nicht als Druckvorlage dienten. Jedenfalls müssen die betreffenden Fehlerquellen in den Druckvorlagen ebenfalls vorhanden gewesen sein. Bei einer Abschrift durch Eichendorff selbst waren ja diese Fehler als Lesefehler durch den Setzer möglich, bei einer fremden Abschrift konnten sie einem Schreiber unterlaufen. Polheim 1989 (Anm. 15), Bd. I.: Text, S. 21f., 52, 73, 95; Bd. II: Textgeschichte, S. 91ff., 128ff, 145, 202ff.
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Eichendorff, HKA V/1, S. 86; V/2, S. 291f„ 328,364ff., 376.
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tes zu beachten. Es sei vorerst - und zwar bereits in der kritischen Textgestaltung wiedergegeben: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Fels und Wald und Strom und Feld. Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt' ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl' und frischer Brust? Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenroth, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Noth um Brodt. Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Lerchen, Bächlein, Wald und Feld Und Erd' und Himmel will erhalten, Hat auch mein' Sach' a u f s best' bestellt!
Das vierstrophige Gedicht ist in der Handschrift zweispaltig geschrieben. Die Strophen „Wem Gott will" und „Die Trägen" stehen in der ersten Spalte untereinander, ebenso die Strophen „Die Bächlein" und „Den lieben Gott laß ich" in der zweiten Spalte. Umgekehrt ausgedrückt stehen nebeneinander die Strophen „Wem Gott will" und „Die Bächlein" und darunter nebeneinander „Die Trägen" und „Den lieben Gott laß ich". Der Setzer hat - wie man das ja zunächst tun würde - spaltenweise gelesen, also I. Strophe „Wem Gott will", II. Strophe „Die Trägen", III. Strophe „Die Bächlein", IV. Strophe „Den lieben Gott laß ich". In dieser Gestalt ist das Gedicht erstmals, 1823, und in der letzten autorisierten Buchfassung 1826 veröffentlicht worden, und ebenso wurde es fortan gedruckt, gelesen und gedeutet. 18 In der Handschrift folgt wenige Seiten später das zweite Gedicht „Wohin ich geh' und schaue", ebenfalls vierstrophig und wiederum zweispaltig geschrieben. Aber hier sind die Strophen mit Ziffern versehen, und diese laufen waagrecht: die II. Strophe steht neben der I., darunter die III. und IV. Strophe ebenfalls nebeneinander. Der Befund ist eindeutig und legt den Schluß nahe, diese Anordnung auch im ersten Gedicht zu sehen." Das kodikologische Kriterium trägt uns also auf, das Gedicht „Wem Gott will rechte Gunst erweisen" waagrecht zu lesen, und das heißt entgegen der bis-
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Es ist anzufügen, daß das Gedicht unter dem Titel Der frohe Wandersmartn in dieser Reihenfolge der Strophen auch in Eichendorffs erste große Gedichtsammlung 1837 aufgenommen wurde. Wieder meldet sich das biographische Kriterium: Hat denn der Autor auch diese Gedichtsammlung (auf der dann alle weiteren beruhen) nicht kontrolliert? Er tat es nicht und überließ einem jüngeren Freund, Adolf Schöll, deren Ausgestaltung und Textredaktion. Vgl. Franz Uhlendorff: Studien um Eichendorffs .Berliner Nachlasshandschriften'. In: Aurora 14, 1954, S. 27; 17, 1957, S. 114f. Vgl. Eichendorff, HKA V/2, Abb. 11.
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herigen Überlieferung die II. und III. Strophe zu vertauschen. 20 Diese Entscheidung ist vor kurzem bestätigt worden, nämlich durch die große, erst jetzt wieder aufgetauchte Marmorbild-Handschnü, die zwar etwas älter als die Taugenichts-Handschriñ ist, jedoch in dieselbe Zeitspanne und Schaffensperiode Eichendorffs gehört: dort sind alle mehrstrophigen Gedichte - bis auf ein Sonett tatsächliche alle - zweispaltig waagrecht angeordnet. 21 Nun muß, bei diesem schwierigen Fall, das ästhetische Kriterium der Prüfstein sein. Und siehe da: die Strophen fugen sich in der neuen (d.h. ursprünglichen) Abfolge stimmig und ausgewogen aneinander, sowohl was den Sinn als auch was die Form anlangt. Die I. Strophe („Wem Gott will") nennt die Wunder Gottes in einer allgemein bezeichneten Natur: „Fels, Wald, Strom, Feld". Die II. Strophe („Die Bächlein") verdeutlicht dies an besonderen Fällen, steigernd von der unbelebten zur belebten Natur: „Bächlein" und „Lerchen", und bezieht dann das lyrische „ich" mit ein. Klanglich verbinden sich nun die Stabreime „Wunder / Wald" und „Fels / Feld" aus den letzten beiden Zeilen der I. Strophe mit den Stabreimen „Bächlein / Bergen" und „Lerchen / Lust" aus den ersten beiden Zeilen der II. Strophe. Die III. Strophe („Die Trägen") bildet das direkte Gegenbild. Während das soeben genannte „ich" in Gottes freier Natur jubelt, liegen die Trägen zu Hause, und sie werden nicht, wie jenes „ich", durch das Morgenrot erquickt, sie wissen nur „von Sorge, Last und Noth um Brodt". An diese letzte Zeile der III. Strophe schließt die IV. („Den lieben Gott") wiederum sinnvoll an. Gegen das Wissen der Trägen ist nun unmittelbar das Vertrauen des „ich" auf Gott gestellt: „Den lieben Gott laß ich nur walten". In der ersten Zeile der IV. Strophe muß das Wort „ich" betont werden, und da es mit dem Wort „Gott" in derselben Zeile steht, erscheint, ganz im Sinne des Themas, der Ich-Erzähler mit Gott neuerlich innig verbunden - und dies gerade durch den Gegensatz zur vorausgehenden Strophe. Die nächste Zeile greift mit „Lerchen, Bächlein, Wald und Feld" die Worte „Bächlein" und „Lerchen" aus der II. sowie „Wald" und „Feld" aus der I. Strophe auf, vereinigt sie aber nicht nur, sondern bildet symmetrisch eine genaue Umkehrung der in der I. und II. Strophe erkannten steigenden Ordnung: nun steht zuerst das „ich", dann die belebte Natur „Lerchen", schließlich die unbelebte „Bächlein, Wald und Feld", die wiederum in das All „Erd' und Himmel" übergeht. Jetzt erst rundet die IV. Strophe das Gedicht harmonisch ab. Während das Gegenbild unmittelbar vor ihr liegt, fuhrt sie in einem Bogen das Thema zu Ende: wurde in der ersten Zeile des Gedichtes „Gott" genannt, so ist dieser in der ersten Zeile der IV. Strophe wieder aufgerufen und ihm in der letzten Zeile die Sache des „ich" anheim gestellt.
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Hätte Eichendorff - nun ein biographisches Kriterium - die Druckfassung des Gedichtes „Wem Gott will rechte Gunst erweisen" überprüft, wäre ihm gewiß aufgefallen, daß in der letzten Zeile der I. Strophe zweimal „Feld" statt wie in der Handschrift „Fels [...] Feld" erscheint. Auch hier war gegen den autorisierten Druck zu entscheiden. Ebenso bei der im Druck nicht durchgeführten und aus der Handschrift ersichtlichen Umstellung von „Bächlein, Lerchen" zu „Lerchen, Bächlein" in der IV. Strophe. Vgl. dazu Polheim 1989 (Anm. 15), Bd. II: Textgeschichte, S. 13Iff. - Eichendorff, HKA V/2, S. 364. - Daß übrigens in der nicht-autorisierten Gesamtausgabe von 1841 und späterhin fur das eine „Feld" das Wort „Berg" eintritt, gehört nicht mehr hierher. Vgl. Polheim 1989 (Anm. 15), Bd. II, S. 204ff.
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Eichendorff, H K A V/2, S. 83ff. und Abb. 5.
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Das scheinbar so einfache, ja einfältige Gedicht enthüllt eine geradezu artistische Komposition. Sie wird bestätigt gerade durch jene zwei Gedichtstellen, bei denen ebenfalls gegen den autorisierten Text zu entscheiden war: einmal die Lesung „Fels" statt „Feld", zum anderen die Wiederherstellung der Wortfolge „Lerchen, Bächlein", wobei Eichendorff gerade durch diese Umstellung die strenge Symmetrie erreichte.22 Überprüfen wir noch einmal die vorgenommene Reihung und Deutung des Gedichtes von einer anderen Seite, indem wir fragen, wie sich denn die bisherigen Interpretationen dazu verhalten. Aber das ist fast eine Fehlanzeige. Sooft das Gedicht genannt und in einzelnen Aussagen - oft ideologisch - herangezogen wurde, eine Analyse habe ich nur einmal gefunden: eine Tübinger Dissertation (1946) von Renate Kienzerle. Sie stellt fest: „Vier Strophen zu je vier Versen in vierhebigen Takt sind von straffem, fröhlichem Wanderrhythmus getragen. [...] Die II. Strophe arbeitet mit dem wirksamen Mittel des Kontrastes [...]. Dann wird das Motiv aufgegeben. Die III. Strophe kehrt motivlich zur I. zurück und malt die .Wunder' Gottes in der Natur [...]. Die IV. Strophe kehrt wiederum zur I. zurück [...]. Das Gedicht weist also eine zweifache Rückwendung auf: Strophe III und IV kehren beide in Bögen zur I. Strophe zurück." Dieser Analyse ist für die autorisierte und bekannte Strophenanordnung voll zuzustimmen. Aber fugt sich das Gedicht dann wirklich zu einem Ganzen? Es soll das Motiv der II. Strophe („Die Trägen") einfach aufgegeben, dann aber gleich zweimal an die I. Strophe angeknüpft werden? Die Verfasserin hat ganz richtig gefühlt, wenn sie, sozusagen entschuldigend, von der „verhältnismäßig offenen Form" spricht. Alle diese Brüche kitten sich wie von selbst, wenn die beiden mittleren Strophen vertauscht werden. Dann kehrt die ursprünglich II. Strophe („Die Bächlein") eben nicht „motivlich zur I. zurück", sondern führt diese unmittelbar weiter. Dann wird das Motiv der ursprünglich III. („Die Trägen") nicht aufgegeben, sondern gerade durch den scharfen Kontrast zum „ich" der II. wie der IV. Strophe sinnvoll eingefügt. Und dann kehrt die IV. Strophe nicht allein zur I. zurück, sondern faßt, gegensätzlich zur vorhergehenden, die übrigen zusammen. So haben wir also ein zusätzliches Kriterium gewonnen, ein Kriterium ex negativo, das kontradiktorische, das sich mit dem Befund der anderen vereint. Sie alle sprechen dafür, daß Eichendorff sein Gedicht wie dargelegt konzipiert hat. Wenn die Rückkehr des Autors ernst genommen wird, was zu hoffen ist, muß auch sein ergründbarer Wille gelten.
Vgl. oben Anm. 20. - Dagegen wurde der autorisierte Text im Vers „Von Sorgen, Last und Noth um Broth" gegenüber der Handschriftenfassung „Von Sorge, List und Noth ums Broth" beibehalten, weil zwei Kriterien dafür sprechen. Das ästhetische Kriterium zeigt bei den Veränderungen „Sorge > Sorgen" und „uns > um" eine stilistische Verbesserung, die der Versmelodie zugute kommt, bei „List > Last" eine inhaltliche, welche die „Trägen" nicht zu tief sinken läßt. Der ganze Vers ist zu einer neuen Einheit geworden, was zweifellos dem Dichter zuzuschreiben ist. Das kodikologische Kriterium zeigt, daß die Handschrift hier klar und deutlich ist, sodaß keine Verlesungen hätten stattfinden können. Vgl. auch Anm. 15.
Peter
Shillingsburg
Authority and Authorization in American Editing
Giving a European view, Marita Mathijsen writes, "In editorial theory there is no concept which causes more discussion or arouses more fierce debate than that of authorisation." She concludes her survey of German and Anglo-American ideas about authorization with the remark, "it will be difficult to achieve an internationally accepted definition of the concept of authorisation.'" I agree with her entirely. And where Marita Mathijsen gives us an idea of the range of definitions currently in use, I will focus on the reasons for that range and for that difficulty in reaching united thought. The subject of authorisation is as old as the story of the Serpent's approach to Eve in the Garden of Eden. The Serpent said unto Eve: Yea, hath God said, Ye shall not eat of every tree of the garden? And the woman said unto the serpent: We may eat of the fruit of the trees of the garden: but of the fruit of the tree which is in the midst of the garden, God hath said, Ye shall not eat of it, neither shall ye touch it, lest ye die. And the serpent said unto the woman, Ye shall not surely die, For God does know that in the day ye eat thereof, then your eyes shall be opened and ye shall be as gods, knowing good and evil (Authorized Version - King James).
In this story, the authority of God as an author is challenged. His right to speak the text is denied by the Serpent when he contradicts God's statement. But, it is not only God's authority to speak, it is the authority of the text God spoke, that is challenged. The Serpent insinuates that Eve either got God's text wrong in its words or got God's meaning wrong in her interpretation of the words spoken. Most interpreters of this passage agree in part with the Serpent; for in most interpretations of this text, God is taken to mean something other than what Eve understood by the text. It is commonly assumed that Eve thought eating the fruit would cause physical death, as if it were poison. Subsequent events proved that the poison caused at most the death of a special relationship to God. Or if it actually meant physical death, it did not mean very soon. It is also commonly assumed that the Serpent was also right in pointing out what God had omitted from his text; for eating the fruit did indeed cause the "eyes to be opened." As soon as one admits that an author's authority is not sacrosanct or inviolable, one has opened the door to rebellion against the author's authority. And, to go a step further, as soon as one admits that the author may not have meant what the words of
Marita Mathijsen, "The Concept of Authorisation," TEXT 14 (2002), 77-90.
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Peter Shillingsburg
the text at first seem to mean, the door of rebellion swings open even wider. This open door of rebellion against textual authority is very troubling to some people because many of us wish to live in a world where a man (or a god) is as good as his word; where the word can be counted upon to be stable and firm. Some editors believe their purpose is to capture and secure textual stability and firmness. In order to support that aim, they invoke a rigid concept of textual authority. The Serpent, however, comes in opening the door of uncertainty about the authority of the words by asking questions and denying the certainty of that which has been spoken. If we do not slam the door shut on these questions, we must answer them. Uncertainty about authority leads us to look for problems in the text.
Three Kinds of Textual Problems - Three Ways to Repel Textual Authority Chief among these problems is the question: Did the authority in fact say what the text says; are the words accurate? Did the authority in fact have the full authority to say the text; are the words authorial? Did the authority mean for the text to mean what it appears to mean; is our interpretation valid? Of course, if the answer to these questions is "yes," then there is no problem. But as soon as one or more is answered "no," authority ceases to be authority in full. These three big questions suggest three groups of smaller questions: First, did the authority in fact say what the text says? Is it possible that the text has a substantive typographical error that changes the meaning from what the authority wished to some other meaning? And, is it possible that some unauthorized person, either on purpose or by accident, has altered the text away from what the authority wished it to say?2 Second, did the authority in fact have the full authority to say the text? Is an artist supposed to be in full control of the text, or is there a social contract by which when an author "submits" a manuscript for publication he/she also submits authority over to the text to the publisher?3 Is there a sense in which a secretary, a compositor, a copy editor, a press corrector, or even pirates or a censor could exercise legitimate authority over the text? And, is there a sense in which the material integrity of the resulting and surviving document has historical authority which is to be respected in spite of the questionable authority of the agents of the document's production? Third, did the authority mean for the text to mean what it appears to mean? Is the text ironic? Is it in a code of some sort? Does the validity of an interpretation depend
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For conflicting analyses of such situations see the paired essays by Fredson Bowers, "Authorial Intention and Editorial Problems," TEXT 5 (1991), 49-61; and Jerome McGann, "What is Critical Editing," TEXTS (1991), 15-29. See James L.W. West III, "Editorial Theory and the Act of Submission," Papers of the Bibliographical Society of America 83 (1989), 169-185.
Authority and Authorization
in American
Editing
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upon the circumstances of the text? Does understanding its nuances require access to information that was privileged to the author and the intended audience? 4 About this third set of questions, it is also to be asked: if the modern editor does not fully understand the text being edited, how will distinctions be made between textual error and textual correction? And, if it is alleged that the editor's understanding of the text is not relevant to the basic textual question, "What do the historical documents say?" then are we not saying that the dumbest editor is the best editor? We can conclude from these opening remarks that the subject of textual authority is the most important subject that there is for editors. One measure of its importance is the complexity, diversity, and slipperiness of the concepts it entails. I suspect that anyone who thinks the question of Authority is not complex, diverse, or slippery does not actually understand the concept of Authority. And I suspect that those who believe they do understand the concept of Authority may be deluding themselves. Therefore, disputes about Authority, like disputes about God, will never end. My understanding of the concept of Authority arises primarily from my acquaintance with the disputes about it and its uses in the practice of editing English language texts. I wish to display a range of ideas that have led to disputes on the West side of the Atlantic. I suspect, from my experiences at European conferences that some of these ideas are quite familiar to those on the East of the Atlantic also. At the risk of rehearsing what is probably quite familiar, I wish to be sure that the familiarity of words does not trick us into assuming agreement about concepts.
Four Ways Authority is Power over the Text First, let us be clear about the range of persons who have exercised power over texts, even when some may not have had the authorization to exercise authority over the texts. Primary among these is the author whose name is the core word in author(ity) and author(ization). The creative or authorial power has had much authority granted to it by ownership of the manuscript and ownership of the copyright. But we all know that authors submit their manuscripts and sell their copyrights; so, perhaps we should also acknowledge that authors can share their authority or perhaps even lose it or sell it. For the sake of brevity I would like to lump together under the word "author" all the legitimate co-authors with whom the main author, if there is one, willingly and creatively shares the generative function for the text. The second set of persons exercising power over the text consists of the editorial and production staff that might include the secretary, the publisher's editor, the copyeditor, the designer, the compositor, the pressmen, and the binders, each of whom could and frequently does have some hand in changing what the text says or how it looks. If one adopts a Marxist point of view, these laborers who constitute the "means
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See Donald Reiman's The Study of Modern Manuscripts for a lengthy, but not very persuasive, argument in favor of the privacy of manuscripts as privileged communications between writer and "the intended audience" - usually no one other than the compositor.
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of production" represent a social force that "authorizes" the published book in ways the manuscript alone is not authorized. A third set of persons exercising power over the text can also be labeled production, for in Marxist terms, the money behind publishing is the capitalist means of production and affects the text by setting the standards by which manuscripts are chosen and rejected and by which selected manuscripts are edited for publication. These persons exercising authority over the text may never personally touch the text, but they control the means of production and thus authorize the texts actually produced. One could make this argument about underground publications as well as about mainstream publications. A well-known example of this financial power is seen in the influence that Mudie's Circulating Library had on the content and tone of Victorian three-volume fiction.5 Similar instances of influence in our own day occur when texts are "adjusted" to make them suitable for the Book of the Month Club. A fourth set of persons exercising power over the text consists of consumers: those who purchase texts and those who read them. No author or publisher can withstand the power of consumer authority; for the reader chooses what to read, when to read, and what to make of the reading. It is true that a strong media presence, paid advertisements, and contrived reviews can attempt to influence the reader, but in the end, it is readers who empower texts by reading. The closed book on the shelf has neither authority or power. So far, then we have four groups of persons claiming exclusive authority over the text (authors, producers, financiers, and readers) and we have three ways to rebel against each claimant (denying the authority, questioning the authenticity of text, and suggesting meanings other than the apparent surface meaning). But we are not done revealing why disputes about authority will never cease. It might be a bit easier if all the four claimants to authority were alive and could enter a dispute or an election campaign or take wagers so that a winner could be declared, but in 99 cases out of 100 they are all dead. We can not check back with the principals involved to find out where they stood at the time they exercised power over the text. And even if we could consult the persons, would we know how to trust the answers we would get? The authority for a text and sometimes the authenticity of a text must be inferred from incomplete surviving evidence. So, having listed three methods for rebelling against at least four competing claimants to the textual throne, let us survey the places where evidence is found upon which to build a case for authority.
Five Sources for Locating Textual Authority Authority, for some people, is found in the documents. These, after all, are the material remains of the actions taken by the claimants to authority. Transcribers of surviving documents, recorders and re-constructors of the history of text creations, and See Guinevere Griest, Mudie's Circulating Library and the Victorian Novel. Bloomington: Indiana University Press, 1970.
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those that trace the relations amongst the texts are historical/critical editors. Those who find authority in the documents themselves may differ about whether the superior or dominant authority lies in the last publication in the author's lifetime, in the manuscript setting copy, or in the version that received the greatest public circulation, or about whether each document has equal and autonomous authority. However, I contend that documents are not authorities but simply contain evidence for authority, and disputes will last as long as rival claims are advanced and as long as the Serpent foments rebellion against the claims. For other people authority is found in the persons identified as having authority over the documents, as I have already indicated, so that the supreme authority of the text depends on the wishes of the authority and not upon the accidental configuration of symbols as preserved in surviving documents. Documents can fail to preserve those wishes or can mix markings that have authority with markings that do not because the persons making them are not authorized to do so. Those who find authority in persons argue about whether the author alone has authority or if authority can be delegated to other persons whose work is to be respected even when evidence indicates the delegation was a disaster. For others authority is located in the historical moments to which the documents do no more than to bear witness, perhaps inadequately. Recognizing that authorship, writing, copying, revising, and producing texts is a complicated process that has historical flow and that it is frozen from time to time in documents while in the process of development, such persons look at documents as snapshots of an object in motion. For them, the documents have a false stability; authority is in the genesis and fluid energy, which is only stopped for convenience in surviving documents. For those who believe that authority emanates from the institutional structures that empower the persons who serve the documents, the evidence for authority lies more prominently in some documents than in others. 6 For such persons, published documents are usually more important than manuscripts because published documents represent a greater confluence of social forces. Those who find authority in institutions tend to use the texts as sociological documents. They tend to see the history of textual variation as evidence of social and economic conditions. And, finally, for some, authority resides with the purchasers and readers of the documents-consumers whose authority is purchased and final (at least in time). The evidence for their authority lies in well-worn books regardless of edition, and in marginal notes, and in reviews and essays about the original texts. Each of these positions relative to concepts of authority and authorization, when put into editorial practice, has a distinct effect on the edited texts. Persons who believe that there is or can be a right way to edit or a comprehensive way to edit are 6
See Donald McKenzie, Bibliography and the Sociology of Texts. London: British Library, 1986; Jerome J. McGann, A Critique of Modern Textual Criticism. Chicago: University of Chicago Press, 1983; and The Textual Condition. Princeton: Princeton University Press, 1991. Counter arguments are given by Peter Shillingsburg in "Social Contracts, Production Contracts, and Authority," Chapter 5 of Resisting Texts: Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1996, 121-149; and by G. Thomas Tanselle, "Textual Criticism and Literary Sociology," Studies in Bibliography 44 (1991), 83-143.
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made anxious by the potential variety of editorial production that results from competing concepts of authority and authorization. There is a tendency among some editors to wish to legislate a standard idea of authority and to make all editors bow to that standard. How else, they ask, can scholarly editing be said to be a discipline? American editors have, for the most part, abandoned hope that consensus on a single correct concept of authority is possible. Each editor now focuses more attention on the need to recognize and articulate the particular concept that empowers his or her edition. The best editors acknowledge the fact that different editions accomplish different things and that each edition is a partial, rather than a comprehensive, representation of the work. We acknowledge this to be the case even when it is a historical critical edition with a full apparatus or an electronic archive with every historical text represented in both searchable transcriptions and digital images. We believe that there may be things to learn from the resulting variety. Perhaps a better way to put that is this: the variety of definitions of authority applied to scholarly editions thus far produced indicates that, when an editor has conceived of what the new edition should accomplish, a definition of authority compatible with that goal is educed and put into practice. No edition accomplishes everything; no definition of authority suits all editorial goals. Definitions of authority and goals for editions other than one's own preferred definitions and goals may have equally legitimate, coherent, and rigorous standards.
Some Examples in Anglo-American Scholarly Editing Demonstrate the Results It is a curious phenomenon that, in scholarly editing, practice tends to lag behind theory; therefore, it is not often that one finds an edition embodying progressive theory. Editors tend to be conservative in practice, regardless of their theoretical positions. Or perhaps it is that the theorists tend to theorize rather than practice. Variety in Anglo-American editorial practice can be illustrated, however, in several ways: ranging from the trivial to the serious and thoughtful; or ranging within the serious from the conservative to the progressive. Among the trivial is an edition of Walt Whitman's 1855 Leaves of Grass in which all the gendered pronouns that did not refer specifically to a person of one or another gender were changed from HE, HIM and HIS to HU, HUM, and HUS (to be pronounced, the preface said, as who, whom, and whose). This edition had no additional textual apparatus and can be seen as a radical example of a publication whose preparation was motivated by a reader's ideology that outweighed any respect for author, history, or documents. I do not mention this as a scholarly edition but, rather, as one result of American disrespect for authority at, perhaps, its worst. In the category of serious editions of fiction, an idea of the range of approaches in Anglo-American practice can be gained by looking at the following more or less arbitrary selection of representative editions. Of major editions of American Authors an early modern example to study is Moby-Dick by Herman Melville, edited by Harrison Hayford, Hershel Parker, and
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Thomas Tanselle (the Northwestern-Newberry edition). Though published in 1988, this is a very good example of the policies of the Center for Editions of American Authors of the 1960s. It provides a clear reading text based on the American edition but incorporating revisions drawn from the British edition and includes corrections of historical and geographical errors that the editors believed Melville or his publishers had committed inadvertently. The editors' goal was to produce a text best representing Melville's best intentions for the work of art as an aesthetic object. The apparatus is full and occupies more space than the text of the novel. Another good example is Henry David Thoreau's Waiden edited by J. Lyndon Shanley (Princeton: Princeton University Press, 1971). The most recent volumes of the Thoreau edition were published in 1992; the whole edition is well reviewed by Don Cook, "The Thoreau Edition: An Evolving Institution," TEXT, 8 (1995), 325348. The aim of the Thoreau edition was to provide new readable texts of the works based on an examination of all the relevant authorial materials to produce the author's best work corrected as required by the understanding of the editors. Another good example to study is Mark Twain's Adventures of Huckleberry Finn edited by Robert Hirst (Berkeley: University of California, 1985), but because a large portion of the manuscript was discovered after the publication of this edition, one must now include the New York: Random House, 1996, edition with textual work by Victor Doyno. The Random House text, though based on the newly found manuscript, has little apparatus beyond Doyno's introduction and the prominently displayed claim to new authority. And finally, in this brief list of editions representative of a variety of concepts of authority in American literature, Theodore Dreiser's Sister Carrie and Jennie Gerhardt edited by James L.W. West (Philadelphia: University of Pennsylvania, 1981 and 1992) are the best examples of a radical adherence to authorial authority. West demonstrates that the bold social challenges the author had put into the manuscript text were radically undermined during the production process by editors who substituted conventional views and language. He therefore un-edited the text, restoring the manuscript text, but, since Dreiser was a poor stylist, he copy-edited the work anew to make it more readable - fulfilling the production process that would have taken place if the original publisher had been more sympathetic to Dreiser's art. The second of these volumes is interestingly reviewed by G. Thomas Tanselle in TEXTS (1995), 462-469. Representative editions demonstrating a range of approaches to works of English Authors can also be given. Two editions that most German editors would find quite attractive, I believe, represent the works of William Butler Yeats and William Wordsworth. Both editions are under the general editorship of Stephen Parrish (University of Cornell Press). They are broadly known as "Documentary Editions" because they "edit the documents" and show the relations between documents, rather than trying to fulfill any editorial sense of the authors' unfulfilled intentions. Several volumes of the Yeats edition are well reviewed by Robin Gail Schulze in TEXT 10 (1997), 323-337. The William Wordsworth edition has been reviewed in TEXT (vols. 9 and 13) by Mark Parker, Theresa Kelley and Paul Magunson.
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The D.H. Lawrence edition (Cambridge University Press) is a long standing project that began as a commercial venture with some pretense of scholarly work. It's editorial principles were originally devised to reduce the editorial labor required: copy-texts were published works and emendations restored little from the manuscripts. Manuscript variation was not reported. But as the edition progressed, and in large part because of Paul Eggert's edition of The Boy in the Bush, the recent volumes have provided more access to Lawrence's writing process and to the variations among documents. The George Eliot edition (Oxford University Press) has had a similar history, beginning as a pared-down presentation of a published text emended conservatively from examinations of the manuscript and accepting uncritically the work of the original publishers. Of the Eliot only Middlemarch, edited by David Carroll, and Romola, edited by Andrew Brown, are thoughtfully and responsibly edited - an excellent review of the latter is by Dale Kramer, "The Compositor as Copy-Text," TEXT 9 (1996), 369-388; see also Brown's response in From Author to Text: Re-reading George Eliot's "Romola", edited by Caroline Levine and Mark W. Turner (Aldershot: Ashgate, 1998). The William Makepeace Thackeray edition (University of Michigan Press) edited by Peter Shillingsburg is in some ways the most radical edition in progress for 19th Century English authors. It began as an "authorial and historical" edition, presenting an uninterrupted reading text reflecting what the editor thought was the best representation of the work as intended at the moment of first publication. Apparatuses showed all manuscript variation and all substantive published variation. As the edition progressed, the editor saw a greater need to acknowledge that editions reveal process, and so much of the apparatus was moved to the foot of text pages. He also saw that he must acknowledge the conditions of production more prominently. In the edition of The Newcomes (1996), in particular, the editor lays out four competing possible methods of editing the work before choosing one. That volume is reviewed by Judith Fisher in TEXT 11 (1998), 365-377. Although neither English nor American, the new Academy Editions of Australian Literature show best the diversity of methodology supported by the most recent developments in Anglophone scholarly editing. Beginning with Henry Kingsley's The Recollections of Geoffry Hamlyn edited by Stanton Mellick, Patrick Morgan, and Paul Eggert (University of Queensland Press, 1996) the project now has seven volumes in print. Each of these volumes employs a different and yet appropriate concept of authority. Three of these volumes are reviewed by Peter Shillingsburg in TEXT 12 (1999), 264-274. If one were to look at just three or four of the editions I have mentioned in order to get a flavor of Anglo-American editing, Melville's Moby-Dick is the best of an old-fashioned kind designed to establish the editors' concept of the author's final intentions; Wordsworth's The Prelude is a documentary edition designed to show the author's creative process as it survives in manuscripts; and Eliot's Romola is designed to divide respect for the socialization of the text with respect for authorial authority. The textual essay in my edition of Thackeray's The Newcomes discusses a
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range of possible editorial solutions for the editing of that work and then argues in favor of the one solution chosen, not because it was the best choice but because it produced a text representing a "historical" moment in the development of the work that could be intuited or inferred from the evidence but was not represented by any single surviving document. Thus, the concept of authority is seen as a fundamental textual concept with farreaching consequences in scholarly editing, but it is a concept of such complexity and slipperiness that I do not believe consensus will ever be reached about a standard for general use. I do believe, however, as editors become more sophisticated and precise in their use of the optional concepts of authority available, that we can begin to teach users of our editions to be conscious of the interpretive consequence of concepts of authority, and readers will then cease to believe that their un-considered and conventional assumptions about authority are the only natural and correct assumptions about this extremely important concept.
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Der mittelalterliche Autor Eine (postmoderne) Mischung aus Lazarus, Proteus und M e d u s a ? - oder: Autorisation und Authentizität: Mittelalterliche Liebeslyrik als Erlebnislyrik?
1. Z u m Autor: Autorisation und Authentizität Vor kurzem wurde in einem niederösterreichischen Kloster, offenbar aus dem Besitz des bekannten Adso von Melk, ein neues und noch nicht publiziertes HandschriftenFragment aufgefunden, das ich aber vor wenigen Wochen im Rahmen einer Exkursion sehen konnte. Es enthält Teile der Bücher 6 - 8 von Isidors Etymologiae, und zwar - wie ein Blick in die gängige Isidor-Edition schnell zeigt - in einer der sog. , Familie Γ ' entsprechenden Fassung. Ein Zusatz im Kapitel VIII 7 De Poetis (vielleicht von Adsos Hand) erregt aber Aufsehen. Denn der textus communis endet dort nicht, wie sonst: Apud poetas autem tres characteres esse dicendi; unum, in quo tantum poeta loquitur, ut est in libris Vergilii Georgicorum; alium dramaticum, in quo nusquam poeta loquitur, ut est in comoediis et tragoediis; tertium mixtum, ut est in Aeneide. Nam poeta illic et introductae personae loquuntur. (Bei den Dichtern gibt es drei Redeweisen: eine, in der nur der Dichter spricht, wie es in Vergils Geórgica der Fall ist; eine andere, die dramatische, in der nirgendwo der Dichter spricht, wie es in den Komödien und Tragödien der Fall ist; dann eine dritte, eine gemischte, wie es in der Aeneis der Fall ist. Denn dort sprechen der Dichter und die Personen.)
In dem Fragment, das nach dem Schriftduktus ungefähr in die Zeit um 1100 datiert werden kann, folgt darauf in kleinerer und deutlich späterer Schrift, aufgrund der etwas dunkleren Tinte gut lesbar, ein Nachtrag (in nicht mehr ganz isidorischem Latein); er lautet - gemäß meinen schnellen Notizen: Poetae interdum Lazaro, Proteo Medusaeque nonnullis philosophis similes esse videntur. Nam illos mortem obire saepe dicunt, tarnen et vitam recuperare, et effigie formaque commutata lectores sapientes timore compiere possunt. (Für einige Freunde der Weisheit scheinen manchmal die Dichter dem Lazarus, Proteus und Medusa zu gleichen. Denn sie sagen oft, daß jene dem Tod entgegengehen, dennoch aber das Leben wiedergewinnen, und sie können in veränderter Gestalt und Form die gelehrte Leserschaft mit Furcht erfüllen.)
Diese Nachtragshand scheint von einem Kopf dirigiert worden zu sein, der zu einem veritablen ,vaticinium* imstande war. Denn kommt uns dies nicht gerade heute ver-
siehe dazu die Isidor-Edition: W.M. von Lindsay (Hrsg.): Isidori [...] Etymologicarum sive originum libri XX. Oxford 1911 u.ö., I, S. VHf.; daraus auch das folgende Zitat.
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traut vor? Die Gattung, die Spezies oder Institution Autor wird zwar fur tot erklärt (eben wie der biblische Lazarus), dennoch aber lebt sie allenthalben (gleichfalls wie Lazarus), möglicherweise in verwandelter Gestalt (wie der griechische Gott Proteus), und dies alles verbreitet Irritation, ja Bestürzung (wie der Anblick der Medusa). Sofern jemand, beunruhigt durch das Zitat, sich bezüglich des Zusatzes über Autor, Autorisation und Authentizität informieren wolle - Nachfrage bei mir genügt. Etwas ernster: Der in letzter Zeit totgesagte Autor lebt in Wirklichkeit unbehelligt weiter; Öffentlichkeit und Leserschaft scheinen sich um diese Meldung schlicht nicht gekümmert zu haben bzw. sich nicht zu kümmern. In der Einleitung zu ihrer Textauswahl „zur Theorie der Autorschaft" (Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko. Stuttgart 2000) weist das Herausgeber-Gremium zu Recht darauf hin, daß in der Praxis des heutigen Literaturbetriebes der Autor (und so auch die Autorin) nach wie vor die dominierende Größe seien, etwa im Kauf- und Leseverhalten, in den Buchhandlungen, Bibliotheken und im e-commerce. Nach den Gesetzen der Logik würde es, falls die Instanz , Autor' tatsächlich nicht (mehr) existent wäre, die Themenbereiche .Autorisation' und .Authentizität' auch nicht mehr geben - was man darunter auch genau versteht -, 2 und wir könnten den Kongreß hier umgehend beenden. Natürlich aber wissen oder ahnen wir alle, daß dem nicht so ist, denn: „L'auteur est mort. Vive l'auteur". Was die postmoderne Diskussion um Autor und Werk fur die Mediävistik betrifft, sei auf die ausfuhrliche und überzeugende Darstellung von Rüdiger Schnell (,Autor' und ,Werk' im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven) in den Wolfram-Studien (15, 1998, S. 12-73) verwiesen. In der Zusammenfassung heißt es dort (S. 72): „Das Schlagwort vom Tod des Autors erfaßt keineswegs die literarische Realität des deutschen Mittelalters. Statt Autor- und Werkbegriff zu verabschieden, sollte man beide eher erweitern, indem man sie historisiert und dabei differenziert." Grundsätzlich ist die Vorstellung von einem Autor (ich verwende den Begriff hier und im folgenden geschlechtsneutral) nichts Neues und beileibe keine Eigenart der Neueren Literatur in Europa, wie in der Diskussion immer wieder behauptet wurde. Ganz abgesehen davon, daß jedes Artefakt (wie auch sonst alles in der schlichten Alltagswirklichkeit) irgendeinen Urheber, einen Verursacher, als Individuum oder als Gruppe, haben muß, sind dazugehörige Namen dieser Verursacher spätestens seit der griechischen Antike eher die Regel als die Ausnahme: In noch höherem Maße gilt dies für das römisch-lateinische Schrifttum, und so verhält es sich etwa auch bei den griechischen und lateinischen Kirchenvätern. Im antiken Athen wurde es auch zunehmend üblich, daß Bildende Künstler und Architekten, ja manchmal sogar auch Töpfer und/oder Vasenmaler ihre Werke mit ihrem Namen verbanden und signierten; auch bei den Künstlern der schwarzfigurigen Vasenmalerei (5. Jh. v.Chr.) geschah 2
Zu den unterschiedlich verstandenen Begriffen siehe die Artikel im ersten Band des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft (1997) von Erich Kleinschmidt (S. 176-180: Autor), Klaus Grubmüller/Klaus Weimar (S. 182f.: Autorisation; S. 168f.: Authentizität). Femer Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio 4,1990, S. 57-72.
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dies sicherlich in der Absicht, sich als kreatives Individuum aus der Masse der Handwerker herauszuheben, und zudem wohl auch zu geschäftlichen Werbezwecken. In der mittelalterlichen poetischen Literatur Europas gibt es mehr Werke, die mit einem Autornamen überliefert sind als ohne derartiges - trotz der offenbar gattungstypischen Anonymität der mittelalterlichen Heldenepik oder trotz der vielen ohne Autorzuschreibung überlieferten nordischen Texte (was aber keineswegs fur alle Texte dort gilt). Aufgrund der besonderen Überlieferungsverhältnisse sind aber für die mittelalterliche Literatur kaum Texte überliefert, die über die Namensnennungen und Zuweisungen hinaus eine nachweisliche Autorisation durch den Autor oder gar eine Authentizität durch Autographe aufweisen können (wobei ich die beiden Begriffe hier ganz schlicht im Sinn der Alltagssprache verstehe). Autographe, also vollauthentische Überlieferung, gibt es für die antike Literatur überhaupt nicht, es sei denn, man betrachtet sie durch eine zeitgenössische Steininschrift mit dem umfangreichen Rechenschaftsbericht des römischen Princeps Augustus als authentisch, also das sog. Monumentum Ancyranum, das ursprünglich für das Mausoleum des Augustus in Rom bestimmt war, das in lateinischer und griechischer Sprache als Inschrift am Roma- und Augustus-Tempel im antiken Ancyra/Ankara (heute: Türkei) erhalten ist: Natürlich kein Autograph und auch nicht die Originalinschrift, aber unter den gegebenen Umständen doch wohl ein offizieller, also authentischer Text. 3 Extreme Ausnahmen im Mittelalter bilden autographe Überlieferungsfalle wie Otfried von Weißenburg, Albertus Magnus oder der Liedermacher Michel Beheim (und später dann Hans Sachs); Sonderfälle sind die Lyrik-Sammlungen etwa von Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein, wo wir Handschriften haben, die im Auftrag des Autors und sozusagen unter dessen Augen entstanden sind. Dennoch müssen auch wir Mediävisten uns nicht selten dem Problembereich .Autorisation/Authentizität' stellen, nämlich durch etliche anonyme Überlieferungen, durch Mehrfachzuschreibungen von Texten (insbesondere in der Lyrik) und vor allem durch die berüchtigten Unechtheitserklärungen der modernen Philologen. 4 Ich möchte aber die Frage nach der Autorisation und Authentizität für mittelalterliche Texte im folgenden etwas anders stellen, ja vielleicht umbiegen, nämlich: Können wir davon ausgehen, daß Texte aus jener Epoche, die einem bestimmten Autor zugeschrieben werden und damit durch die Überlieferung in dieser Hinsicht .autorisiert' sind, auch .authentisch' sind, und zwar in demjenigen Sinn, daß ihr ,Sitz im Leben' etwas mit dem Verfasser zu tun hat, sie also eine sozusagen innere Authentizität besitzen? Was ich mit diesen - etwas verklausulierten - Formulierungen meine, sei an einer Frage erläutert, die bis vor kurzem als endgültig gelöst galt und bei der sich erst in jüngster Vergangenheit leise Zweifel bemerkbar machten. Nämlich:
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Res gestae divi Augusti. Hrsg. von Ekkehard Weber. 6. Aufl. Darmstadt 1999. Siehe dazu ausfuhrlich die Beiträge in der Festschrift fur Günther Schweikle (Rüdiger Krohn, in Zusammenarbeit mit Wulf-Otto Dreeßen (Hrsg.): „Dä hoerte ouch geloube zuo": Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anläßlich seines 65. Geburtstages. Stuttgart, Leipzig 1995) sowie Thomas Bein: „Mit fremden Pegasusen pflügen." Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998.
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Besitzen mittelalterliche Liebesgedichte eine innere Authentizität, die mit derjenigen etwa von Goethes Sesenheim-Liedern oder Römischen Elegien vergleichbar wäre? Oder, griffiger gefragt: Gibt es im Mittelalter so etwas wie Erlebnislyrik, also Gedichte, die nicht nur einem bestimmten Autor zugeschrieben werden, sondern die auch eine biographische Authentizität besitzen? Ich kann dieses Problem im vorliegenden Kontext allerdings nur anreißen, bin aber darauf an anderem Ort genauer eingegangen.5
2.
Erlebnislyrik versus Rollenlyrik
Die eben gestellte Frage schien in letzter Zeit klar beantwortet, nämlich mit: Nein. Dazu ein ganz kurzer Rundblick: Die Definition von Erlebnislyrik lautet im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, und zwar durch Marianne Wünsch (Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 498-500): „Form einer Lyrik, die (tatsächlich) ein individuelles Erlebnis des Autors ausdrückt (ältere Variante des Begriffs) oder die Fiktion eines solchen Erlebnisausdrucks aufbaut (neuere Variante des Begriffs)"; und anschließend wird dort verwiesen auf: „bestimmte Lyrikformen der Goethezeit und des 19. Jhs. [...], in denen ein Ich sich auf zumindest scheinbar individuelle Weise über eigene Zuständigkeiten in einer mehr oder weniger spezifizierten (Um-)Welt auf eine Weise äußert, daß der Eindruck eines biographisch-psychischen Substrats entsteht".6 Man darf dies als derzeitigen Forschungskonsens werten, und ähnliches steht etwa auch im Metzler Literatur Lexikon (Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweickle. 2., Überarb. Aufl. Stuttgart 1990). „Rollenlyrik" wird - jetzt im Metzler Literatur Lexikon - definiert als: „Sammelbezeichnung für lyrische Gedichte, in denen der Dichter eigene oder nachempfundene Gefühle, Gedanken, Erlebnisse oder Reflexionen einer Figur, meist einem für seine Zeit kennzeichnenden Typus (Liebender, Hirte, Wanderer usw.) in Ich-Form (Monolog) in den Mund legt" (S. 394). Und es heißt anschließend ausdrücklich: „Weitere Höhepunkte der abendländischen Rollenlyrik sind die Minnedichtungen der Trouvères und Trobadors, der deutsche Minnesang, die mittellateinische Vagantenlyrik, die Lyrik Petrarcas und des Petrarkismus". Dementsprechend stellt Ingrid Kasten in ihrem Artikel Minnesang (wiederum im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, 2000, S. 607) im Abschnitt „Forschungsgeschichte" kurz und bündig fest: „Das Verständnis des Minnesangs als .Erlebnisdichtung' wurde mehr und mehr von dem Konzept der ,Rollendichtung' abgelöst". So weit, so gut - oder: So weit, so schlecht? 5
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Ausfuhrlicher habe ich das Thema ,Minnelyrik/Erlebnislyrik' behandelt in der Festschrift für Volker Mertens (Minnesang - eine mittelalterliche Form der Erlebnislyrik. Essai zur Interpretation mittelalterlicher Liebeslyrik. In: Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.): Literarisches Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 597-617); daraus sind hier einzelne Passagen, teilweise in etwas veränderter und/oder stark gekürzter Form, entnommen. Wünsch weist dort (Artikel Erlebnislyrik) auch darauf hin, der Begriff „Erlebnislyrik" habe „nie eine genauere Definition erfahren". Dies ist eine Unschärfe, die er mit vielen und nicht nur literaturwissenschaftlichen Begriffen gemeinsam hat.
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3. Ein ernstzunehmender Zweifel Mit dem im Angelsächsischen üblichen Common Sense hat vor einigen Jahren (1989) Marianne Wynn, ausgehend von den Tageliedern Wolframs von Eschenbach, zweifelnd und sanft-provokativ festgestellt: For generations now, scholars have been telling the modern reader, that the love-poetry of medieval Germany is wishful utopia, that it projects no more than an ethereal idealisation of brutish circumstances, that it depicts total unreality. It has, so it is argued, nothing whatsoever to do with life, with human behaviour and experience. It was a social pastime, in the nature of a charade. This may apply to certain lyrics. However, assessing the whole of the genre under this head strikes me as a highly unlikely proposition. That love songs in the vernacular were composed for and addressed to particular women, we know for example from the correspondence of Abaelard and Heloise. Is there a reason why all love songs composed in medieval German should be exempt from such a possibility? 7
4. V o m Publikum Literatur wird fast immer verfaßt, um einem wie auch immer gearteten Publikum etwas zu vermitteln, etwa: Unterhaltung (was oft vergessen wird), Belehrung, Selbstbestätigung, Irritation etc. Der römische Lyriker Horaz, von dem man als sehr bewußtem Autor vermuten kann, daß er ja wissen mußte, warum er und seine Kollegen Gedichte schreiben, hat dies in die vielzitierte Formel vom „prodesse" und „delectare",8 nämlich daß die Dichter belehren und unterhalten wollten, zusammengefaßt - abgesehen von der Verwendung einer höchst elaborierten Fach-Terminologie ist man nicht sehr weit darüber hinausgekommen. Denn erst in allerletzter Hinsicht wurde und wird Literatur für Literaturwissenschaftler verfaßt, und von daher erklärt sich wohl auch das problematische Verhältnis zwischen Autoren einerseits, die man noch befragen kann, sowie manchen Kollegen im sog. neueren Fach andererseits. (Wir in der Mediävistik haben es hier in dieser Hinsicht leichter, denn wir können durch korrigierende Äußerungen unserer Autoren nicht mehr irritiert werden, ja diese sind uns hinsichtlich Interpretation sozusagen hilflos ausgeliefert.) Legt man das bekannte Kommunikationsmodell von Sender/Empfänger zugrunde, dann ist ein ebenso wichtiger Teil des Literaturbetriebes natürlich das bereits erwähnte Publikum: lesend, zuschauend und/oder zuhörend. Eine Vorstellung, wie autorisiert und authentisch mittelalterliche Texte, und zwar Poesie, damals verstanden wurden, kann man sich heute angeblich nur schwer machen. Es gibt zwar in der di7
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Marianne Wynn: Wolfram's Dawnsongs. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 549-558, hier S. 550. - Der Text enthält noch zwei Anmerkungen zur bisherigen Forschung, die ich aber hier weggelassen habe. Horaz: De arte poetica, 333f. - Wörtlich lautet die Stelle eigentlich: „aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae", d.h.: „Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter, oder gleichzeitig sowohl das Erfreuende als auch das dem Leben Förderliche sagen." Insofern ist die als geflügeltes Wort gebräuchliche Formulierung „prodesse et delectare" sinngemäß durchaus richtig.
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daktischen und vor allem der geistlichen Literatur Hinweise darauf, aber für das normale Publikum ist das wohl nicht repräsentativ: Wir wissen also etwa nicht, wie die Zuhörer an den einzelnen Höfen Liebeslieder von Friedrich von Hausen, Reimar dem Alten oder Heinrich von Morungen tatsächlich rezipiert haben und wie sie darauf wenn überhaupt - 9 reagierten.
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Zeitgenössische Rezeption von mittelalterlicher Liebeslyrik I: Ulrich von Liechtenstein, Dante
Allerdings haben wir aber doch einige Hinweise darauf, wie mittelalterliche Liebeslyrik vom damaligen Publikum verstanden und aufgefaßt wurde. Immerhin zwei wichtige und repräsentative Autoren sagen deutlich, wie ihre Liebesgedichte von ihnen gemeint sind: Zum einen Ulrich von Liechtenstein in seinem Frauendienst, zum anderen Dante in seiner Vita Nuova. Die genannten Texte sind bekanntlich eine Verbindung von Ich-Erzählung und Gedichten, zumeist Liebesgedichten. Beide Autoren vermitteln dort ihrem Publikum, daß die jeweiligen Gedichte aus einer bestimmten biographischen Situation von ihnen stammen und ihre jeweiligen Meinungen und/oder Gefühle, also des Autors, zu diesem Moment formulieren, und sie datieren damit die Texte auch. Hierfür nur ein einziges Beispiel: Die Dame von Ulrichs .Erstem Dienst' hat, so berichtet der Autor, ihm gegenüber eine „missetat"/„untat" (Str. 1364f.) begangen, und er sendet ihr deswegen voll Zorn ein Lied (= Nr. 21: „Ein tanzwise, diu drizehende: Owe des, ich han verlorn ..."); in der neuen Übersetzung von Franz V. Spechtler (2000) lautet die Stelle:10 Weil sie die Untat nicht vermied, so schied ich aus dem Dienst sogleich, aus ihrer Schuld nur ganz allein. Wer seinen Dienst so lange tut, den man ihm dann nicht lohnen kann, der ist ein wirklich dummer Mann. 9
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Etwa in Anreden des Publikums, wo aber im einzelnen Fall nie ganz klar ist, ob diese real oder fiktiv gemeint waren. Alle Zitate hier und im folgenden nach der Ausgabe Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987 (GAG. 485); eine neuhochdeutsche Übersetzung von Spechtler ist im Jahr 2000 erschienen (Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Roman. Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler. Klagenfurt, Celovec 2000). - Die öfters zitierte Formulierung „Ich Ulrich von Liechtenstein(e)" findet sich nicht im Frauendienst, sondern im Epilog des Frauenbuchs (V. 2122, ed. Spechtler 1989). Zum derzeitigen Stand der Liechtenstein-Forschung siehe den Sammelband von Franz Viktor Spechtler, Barbara Maier (Hrsg.): Ich - Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter. Akten der Akademie Friesach „Stadt und Kultur im Spätmittelalter", Friesach (Kärnten), 2.-6. September 1996. Klagenfurt 1999; der Band enthält auch eine Liechtenstein-Bibliographie von Klaus M. Schmidt u.a. - Ein auch von mir verwendetes philologisches EDV-Werkzeug zum Auffinden von Wörtern, Begriffen und Begriffsfeldern, das weit über die Möglichkeiten normaler Indices und Konkordanzen hinausgeht, ist beschrieben in: Horst Peter Pütz, Klaus M. Schmidt: Die mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank. In: ZfdA 130, 2001, S. 493-495; diese Datenbank wurde inzwischen durch Klaus M. Schmidt an der Universität Salzburg situiert und ist dort über folgende Adresse zu erreichen: http://mhdbdb.sbg.ac.at. Anfragen zu der Datenbank sind zu richten an: [email protected].
Der mittelalterliche Autor
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So war mein Dienst an ihr zu End', nun sang ich dieses Lied aus Zorn: Eine Tanzweise, die dreizehnte: Oh weh doch, ich hab verlor'n was ich nie verschmähet hab' [...]
Daß es sich hier um eine autobiographisch gemeinte Aussage handelt, daran besteht kein Zweifel: Denn vom Ich-Erzähler des Frauendienstes heißt es ausdrücklich (Str. 44, 4ff.; 397, 3f.): „er ist genant von Liechtenstein / her Ulrich"." Und im Falle Dantes, wo die moderne Philologie zwischen der realen Person und dem Erzähler-Ich feinsinnig zu unterscheiden versucht,12 sagt ein früher Rezipient, nämlich Dantes literarischer Kollege und früher Kommentator Giovanni Boccaccio, daß man damals das Ich der Vita Nuova ganz eindeutig mit der Person Dante gleichgesetzt habe. In seinem /n/êrno-Kommentar und in seiner Dante-Biographie (Tratello in laude di Dante),13 die noch sehr nahe an der zeitgenössischen Rezeption und daher für diese wohl repräsentativ sind, identifiziert Boccaccio Dantes Beatrice als eine der Töchter des wohlhabenden Florentiner Kaufmanns Folco Portinari (Trat. la, 32ff.; Esp. II/l, 83-85); ebenso selbstverständlich ist es dort fiir ihn, daß Dante in der Vita Nuova von seiner Liebe zu dieser „bellissima Beatrice" handele (Trat. Ia, 36; s. auch 175). Und er zitiert zur Liebesgeschichte Dante/Beatrice mit der Absicht der .Bestätigung' Passagen aus der Vita Nuova, so etwa, daß Dante im Alter von fast neun Jahren bei einem Fest erstmals Beatrice gesehen habe (Trat. Ia, 31 = Vita Nuova II, 2).14 Natürlich unterscheidet Boccaccio völlig zutreffend - so wie in seinem gesamten Kommentar auch bei Beatrice deutlich zwischen dem Literalsinn und der allegorischen Aussage, aber eine biographische Deutung ist für ihn völlig eindeutig, und so wird es demnach sicherlich auch das damalige Publikum verstanden haben: Hier ist die frühe Rezeption eindeutig eine biographische, d.h. die Gedichte werden - nach heutiger Termino-
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Siehe des weiteren auch Str. 36,4f.; 1035,2; 1245, 3f. Die Literatur über Dante ist inzwischen Legion; zur Vita Nuova Ulrich Prill: Dante. Stuttgart, Weimar 1999 (Sammlung Metzler. 318), S. 34-56. - Zwar stellt Prill (S. 38) ohne weitere Begründung fest, daß das „Ich der .Vita nuova' [...] natürlich nicht mit Dante verwechselt werden darf', doch hält er sich an diese, dem Text und Kontext widersprechende Meinung an keiner Stelle seiner eigenen Darstellung: Denn dort identifiziert er durchgehend den Erzähler mit dem Verfasser Dante. Erst in seinem Großkapitel zur Divina Commedia setzt er den Verfasser Dante typographisch durch einfache Anführungszeichen (.Dante') von der erzählenden Hauptfigur ab. Der Tratello, auch Vita di Dante genannt, hat den folgenden lateinischen und sehr präzisen Titel: De origine, vita, studiis et moribus viri clarissimi Dantis Aligerii Florentini, poete illustris, et de operibus compositis ab eodem·, er ist um 1355/70 entstanden, der Kommentar zu den Inferno-Gesängen I-XVII (Esposizioni sopra la Comedia) anläßlich von Boccaccios öffentlicher Vorlesung in Florenz (1373/74). Die Texte finden sich in: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio a cura di Vittorio Branca. Milano (I classici Mondadori): Bd. 3. Hrsg. von Pier Giorgio Ricci, 1974; Bd. 6. Hrsg. von Giorgio Padoan, 1965; der Tratello dort in Bd. 3, der /n/erno-Kommentar in Bd. 6. Im Fall des Tratello ist übrigens eine längere Fassung („prima redazione") als Autograph Boccaccios erhalten: siehe dazu Ricci, Bd. 3, S. 848ff. Weitere solche Parallelen zwischen Boccaccios Bericht und der Vita Nuova sind im Kommentar von Ricci (Anm. 13, Bd. 3) verzeichnet.
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Ulrich Müller
logie - als „Erlebnis-Lyrik" verstanden;15 und genau dasselbe wollte Ulrich von Liechtenstein bei seinem Publikum bewirken.
6.
Zeitgenössische Rezeption von mittelalterlicher Liebeslyrik II: Die Textsorten ,vida' und ,razo'
Es gibt aber noch umfangreichere und - wie ich meine - eindeutigere Informationen zur Rezeption mittelalterlicher Liebeslyrik: Ich meine damit die okzitanischen (,provenzalischen') ,vidas' und ,razos', also kürzere Prosatexte, die biographische Kommentare zu einzelnen Œuvres oder einzelnen Werken von Trobadors bieten. Diese Texte wurden bereits damals - wie noch heute - als ,vida' (von lateinisch ,vita') und ,razo' bezeichnet (von lateinisch .ratio'). Zu 101 Trobadors (von insgesamt etwa 450, die uns namentlich bekannt sind) sind solche Erläuterungen überliefert, insgesamt etwa 225 Trobador-Biographien und Gedicht-Kommentare; die sie überliefernden Handschriften (insgesamt 24) stammen vorwiegend aus dem 13. und 14. Jahrhundert, und zwar aus dem Languedoc, aus Katalonien und insbesondere aus Oberitalien.16 Dafür, wie das Verhältnis zwischen Verfasser (Autor), Werk (Lied) und Inhalt der Dichtung hinsichtlich ihres ,Sitzes im Leben' damals verstanden wurde, sei ein einziges Beispiel angeführt, und zwar der südfranzösische Trobador Jaufre Rudel. Über ihn ist nicht viel bekannt: Er war wohl ein adliger Herr aus der Gegend von Bordeaux, der um 1150 lebte; laut einem Lied seines Trobador-Kollegen Marcabru nahm er 1147 am 2. Kreuzzug teil. Sechs (oder sieben) Texte von Liebesliedern sind von Jaufre erhalten, vier davon mit Melodie.17 Sein bereits im Mittelalter bekanntestes Lied war dasjenige über „L'amor de lonh", „die Liebe in der Ferne"; drei Strophen des Liedes, durch dessen sämtliche Strophen sich das Reimwort „lonh" = „fern" kunstvoll hindurchzieht, lauten in Übersetzung (von Franz Wellner):18
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Daran würde sich auch nichts ändern, wenn man einer extremen Position, etwa deijenigen von G. Holmes: Dante. Oxford 1980, S. 5 u.ö. zustimmen würde, daß es sich hier um eine „invention of Beatrice" durch Dante handele. Sie sind vorbildlich gesammelt und ediert in der Ausgabe von Jean Boutière, A.H. Schutz: Biographies des Troubadours. Textes provençaux des Xllle et XlVe siècles. Toulouse, Paris 1950, 2e édition refondue [...] par Jean Boutière et Irénée-Marcel Cluzel avec la collaboration de M. Woronoff. Paris 1973. Die oben mitgeteilten Zahlen und sonstigen Informationen stammen aus der Einleitung dieser Edition. Sämtliche Texte sind dort auch ins Neufranzösische übersetzt; neuhochdeutsche Übersetzungen vieler ,vidas' und ,razos' finden sich bei Franz Wellner: Die Trobadors. Leben und Lieder. Neu hrsg. von Hans Gerd Tuchel. 2. Aufl. Bremen 1942 u.ö. Text-Ausgabe (mit neufranzösischer Übersetzung): Les chansons de Jaufre Rudel. Éditées par Alfred Jeanroy. 2e édition révue. Paris 1965 (Les classiques français du Moyen Age. 15). Die vier Melodien finden sich z.B. bei Hendrik van der Werf (Hrsg.): The Extant Troubadour Melodies. Rochester, N.Y. 1984, S. 215*-222*. Lied V: „Lanquan Ii jorn sont lone en may" = PC 262,2; eine gereimte neuhochdeutsche Übersetzung findet sich bei Wellner 1942 (Anm. 16), S. 45-47, femer eine moderne Fassung der Melodie. Letztere wurde möglicherweise von Walther von der Vogelweide für sein „Palästina-Lied" (L 14, 38) verwendet; s. dazu Horst Brunner u.a. (Hrsg.): Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Göppingen 1977 (Litterae. 7), S. 54*-56*.
Der mittelalterliche Autor
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Im Mai, wenn's wieder länger Tag, lockt mich der Vöglein Sang dort fern, und scheid ich dann vom lauten Hag, denk einer Liebe ich dort fern. ich geh gebeugt, in trüber Lust: ob Vogelsang, ob Weißdornblust, mich freut's nicht mehr als Eise und Schnee. Ich trau auf Gott, er zeigt einmal die holde Liebe mir dort fern; jetzt aber tausch ich doppelt Qual für all ihr Glück, weil's doch so fern. Ach, gern zog ich als Pilger fort, daß mich ihr schönes Auge dort mit Stab und Mantel wandern säh. [...] Nie mehr sei ich der Liebe froh, find ich die Liebe nicht dort fern; denn keine Fraue weiß ich wo gleich schön und hold, nicht nah noch fern. Ihr Preis steht also unverwandt, daß tief im Sarazenenland ich gern um sie gefangen hieß. In der dazugehörigen „vida" Jaufres wird dieses Lied autobiographisch gedeutet und in die Lebensbeschreibung eingefugt. Dabei ist es hier unerheblich, daß die „vida" vielleicht aus diesem Lied herausentwickelt wurde - wichtig ist hier die autobiographische Interpretation dieses Textes. Die ,vida' 19 lautet in Übersetzung: Jaufre Rudel von Blaya20 war ein sehr edler Herr, Fürst von Blaya. Und er verliebte sich in die Gräfin von Tripolis,21 ohne sie jemals gesehen zu haben, nur auf das viele Gute hin, das er von den Pilgern, die aus Antiochia kamen, über sie sagen hörte. Und er dichtete auf sie viele Lieder mit schönen Melodien und schlichten Worten. Und aus Verlangen, sie zu sehen, nahm er das Kreuz und stach in See. Und auf dem Schiff wurde er krank, und er wurde wie tot nach Tripolis in eine Herberge gebracht. Und der Gräfin wurde dies berichtet, und sie kam zu ihm an sein Bett und nahm ihn in die Arme. Und er erkannte, daß es die
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,Jaufre Rudels de Blaia si fo mout gentils hom, princes de Blaia. Et enamoret se de la comtessa de Tripol, ses vezer, per lo ben qu'el n'auzi dire als pelerins que venguen d'Antiochia. Es fez de leis mains vers ab bons sons, ab paubres motz. E per voluntat de leis vezer, et se croset e se mes en mar, e près lo malautia en la nau, e fo condug a Tripol, en un alberc, per mort. E fo foit saber a la comtessa et ella venue ad el, al son leit e près lo antre sos bratz. E saup qu'ella era la comtessa, e mantenent recobret l'auzir e'I flairar, e lauzet Dieu, que l'avia la vida sostenguda tro qu'el l'agues vista; et enaissi el mori entre sos bratz. Et ella lo fez a gran honor sepellir en la maison del Tempie; e pois, en aquel dia, ella se rendet morga, per la dolor qu'ella n'ac de la mort de lui." Das Städtchen Blaya in Aquitanien, nördlich von Bordeaux an der Mündung der Gironde in den Atlantik gelegen (heute: Blaye-et-St-Luce, Dép. Gironde), war eine wichtige Station am Pilgerweg nach Santiago de Compostela; ob Jaufre der dortigen Adelsfamilie der Rudel de Blaye (1048-1317) angehörte, ist nicht sicher. Tripolis (im heutigen Nordlibanon), nach dem 1. Kreuzzug von den Kreuzfahrern nach jahrelangen Kämpfen erobert, war von 1109 bis 1289 Sitz einer bedeutenden Kreuzfahrer-Grafschaft. Die mächtige Burg ist heute noch zu sehen.
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Ulrich Müller Gräfin war, und er kam wieder zur Besinnung. Und er lobte Gott und dankte ihm, daß er ihm das Leben solange erhalten habe, bis er sie gesehen hätte. Und so starb er in ihren Armen. Und sie ließ ihn mit großen Ehren im Tempelhaus bestatten; und noch am gleichen Tag ging sie ins Kloster, aus Schmerz, den sie wegen seines Todes hatte.22
Dasselbe biographische Verständnis von Trobador-Liedern läßt sich aus allen ,vidas' und ,razos' nachweisen - diese Textsorten basieren ja auf einem biographischen Verständnis solcher Texte als Erlebnislyrik, also als autorisierte Ausführungen des Autors zu einem authentischen Teil seiner Biographie. Eindeutiger als die Autoren selbst (hier Ulrich von Liechtenstein und Dante) und ihre frühen Rezipienten (also die Verfasser der ,vidas' und ,razos' sowie Boccaccio) kann man eigentlich hier nicht Stellung beziehen: Die Lieder dieser Autoren, und das gilt wohl überhaupt für die Trobadors, Trouvères und Minnesinger, wurden damals als Werke aufgefaßt, die authentisch mit der Biographie der Autoren zusammenhängen und die durch die Namensnennungen, also die Zuschreibungen, auch als Werke dieser Autoren autorisiert waren.
7.
Schlußbemerkung
Freund Adso23 hat also wohl recht, wenn er - ich wiederhole es nochmals - sagte: „Für einige Freunde der Weisheit scheinen manchmal die Dichter dem Lazarus, Proteus und Medusa zu gleichen. Denn sie sagen oft, daß jene dem Tod entgegengehen, dennoch aber das Leben wiedergewinnen, und sie können in veränderter Gestalt und Form die gelehrte Leserschaft mit Furcht erfüllen." „L'auteur est mort? - Vive l'auteur!"
Text, mit neufranzösischer Übersetzung, bei Boutière/Schutz/Cluzel 1964 (Anm. 16), S. 16-19, und zwar in der etwas kürzeren Fassung der Handschriften I und Κ (beide 13. Jahrhundert, Oberitalien); eine neuhochdeutsche Übersetzung findet sich bei Wellner 1942 (Anm. 16), S. 41f. - Meine obige Übersetzung des Textes versucht, noch näher an der Vorlage zu bleiben als diejenige von Wellner. , Adso da Melk": Zur Person vgl. Umberto Eco: Il nome della rosa. Milano 1980, S . l l .
Martin Baisch
Autorschaft und Intertextualität Beobachtungen zum Verhältnis von ,Autor' und .Fassung' im höfischen Roman
Das Textcorpus der höfischen Romane repräsentierte in der germanistischen Mediävistik den klassischen Anwendungsbereich, ja „die stärkste Bastion traditioneller Textkritik" im Sinne der Lachmannschen Methode.1 Entscheidend hierfür war sicherlich, daß die Forschung in bezug auf diese Gattung mit klassizistischen Konzepten von , Autor' und ,Text' bzw. ,Werk' operierte. Solche Vorstellungen finden sich noch gegenwärtig - beispielsweise in der Rede Werner Schröders von der „Enteignung der mittelhochdeutschen Dichter zugunsten von Schreibern" durch einen Editor, der aufgrund der mittelalterlichen Überlieferungsbedingungen der Rekonstruktion eines authentischen Autortextes skeptisch gegenübersteht.2 Genieästhetisch fundierte Autor-Konzeptionen spielen auch in Karl Stackmanns Überlegungen eine Rolle, die auf die Gefahren hinweisen, den in der mediävistischen Germanistik längst eingeführten, erweiterten Literaturbegriff mit dem radikalen Plädoyer für die Konzentration auf die Überlieferung von seiten der New Philology kurzzuschließen.3 Doch nicht nur die Übertragung von emphatisch konzipierten Autorschaftsmodellen auf die Gattung des höfischen Romans prädestinierte diese Texte zu Objekten der klassischen Lachmannschen Methode; diese Gattung repräsentiert darüber hinaus einen Texttyp, der in stärkerem Maße als andere hochmittelalterliche Textgattungen literarisiert ist. Mit bedenkenswerter Verspätung erlangt nun der textkritische Befund neue Aufmerksamkeit, wonach die Textgestalt der höfischen Versromane in den unterschiedlichen Überlieferungszeugen die Unfestigkeit bzw. Offenheit auch dieser Texte belegt.4
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Jan-Dirk Müller: Aufführung - Autor - Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung 9.-11.10.1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 149-165, hier S. 151. Werner Schröder: Bumkes Muster-Edition. In: Mittellateinisches Jahrbuch 35, 2000, S. 345-349, hier S. 345. Karl Stackmann: Das Neue Verfasserlexikon - mehr als ein Nachschlagewerk. In: ZfdA 129, 2000, S. 378-387, hier S. 385f. Joachim Bumkes Untersuchung zur Nibelungenklage „beschreibt damit die wissenschafts- und vor allem methodengeschichtlich ebenso aufschlußreiche wie paradoxe Tatsache, daß ein früh bemerkter Sachverhalt aufgrund der Dominanz bestimmter überlieferungsgeschichtlicher Vorstellungen nicht nur nicht zu den editorischen Konsequenzen geführt hat, zu denen er eigentlich hätte führen müssen, sondern daß er geradezu verdrängt wurde, um den editorischen Konsequenzen auszuweichen" (Bemd Schirok: Autortext - Fassung - Bearbeitung. Zu Werner Schröders Ausgabe der ,Araber Ulrichs von dem Türlin. In: ZfdA 130,2001, S. 166-196, hier S. 166f.).
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Martin
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1. Das Überlieferungsmodell der „gleichwertigen Parallelversionen" 5 Vor allem Joachim Bumkes umfassende Arbeiten zur Nibelungenklage haben dazu geführt, daß die Textgeschichte bzw. -kritik der höfischen Romane neue Impulse erfahren hat. Damit liegt nun der avancierte Versuch vor, die Überlieferung eines höfischen Erzähltextes mit allen Mitteln der traditionellen Textkritik aufzubereiten und zugleich anhand des analysierten und edierten Materials ein theoretisches Modell mittelalterlicher Textualität zu entwerfen.6 Von einem produktionsbezogenen Begriff des Autors - im Sinne einer das Textmaterial zentrierenden und organisierenden Kohärenzfigur - verabschiedet sich Bumkes Untersuchung aufgrund der Ergebnisse seiner empirisch-philologischen Arbeit mit den handschriftlich überlieferten Texten. Das Beschreibungs- und Analysemodell der „gleichwertigen Parallelversionen",7 das im Corpus der höfischen Epik seine Geltung beansprucht, fußt auf der Erkenntnis, daß im Bereich dieser Textgattung von frühen, d.h. ,autornahen' Mehrfachfassungen der Texte auszugehen ist, die sich durch einen hohen Grad an Variabilität auszeichnen.8 Darüber hinaus weist Bumkes Konzept der ,Fassungen' aber auch theoretische Implikationen auf, welche die Textualität der höfischen Romane auf spezifische Weise modellieren. Eine Philologie, welche die Existenz von Mehrfachfassungen der tradierten Texte postuliert, konstatiert nicht einfach einen objektiven überlieferungsgeschichtlichen Textbefund, sondern konstruiert ein Überlieferungsmodell, das seinerseits mittels editorischer und interpretatorischer Vorannahmen das wissenschaftliche Vorgehen konzeptionalisiert.9 Diese Feststellung zielt auf den Umstand, daß die
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Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hrsg. von William Foerste und Karl H. Borck. Köln, Graz 1964, S. 241-267, hier S. 264. Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Bd. 8); Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. von Joachim Bumke. Berlin, New York 1999. Vgl. Bumke 1996 (Anm. 6), S. 390-455. Das Charakteristikum der .Gleichwertigkeit' von Textfassungen zielt lediglich auf den Umstand, daß sich diese nicht textgenetisch voneinander ableiten lassen. Von einem weitergehenden Verständnis von .Gleichwertigkeit' scheint Franz-Josef Worstbrock: Der Überlieferungsrang der Budapester Minnesang-Fragmente. In: Wolfram-Studien 15, 1998, S. 114-142, hier S. 129, auszugehen: „Überlieferungsvarianz verlangt, da sie als textueller Sachverhalt aus einem Rezeptionsakt hervorgeht, grundsätzlich als historische Differenz erkannt zu werden; ihr Begriff kann das Merkmal der Gleichwertigkeit nicht aufnehmen." Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und in Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. Bd. 17), S. 118-129, hier S. 127: „Von den meisten Epen besitzen wir frühe Mehrfachfassungen, deren Verhältnis zum .Original' mit den Methoden der traditionellen Textkritik nicht sicher bestimmt werden kann. In vielen Fällen bleibt das .Original' undeutlich oder verschwindet ganz, da man textgeschichtlich nicht über die Fassungen zurückgelangt. Statt von einem Autor-Text zu sprechen, können wir meistens nur von autor-nahen Fassungen sprechen. Die autor-nahe Textüberlieferung ist durch einen hohen Grad an Variabilität gekennzeichnet. Die frühen Mehrfachfassungen bezeugen, daß der Text in AutorNähe in seiner schriftlichen Gestalt noch so .unfest' war, daß verschiedene Ausformulierungen entstehen konnten." Peter Strohschneider: Rezension zu Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. von Joachim Bumke. Berlin, New York 1999. In: Arbitrium 2001, H. 1, S. 26-32, hier S. 29,
Autorschaft und Intertextualität
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überlieferungsgeschichtlichen und textkritischen Untersuchungen Bumkes das wissenschaftliche Erkenntnisobjekt vom Text des Autors hin zu den Fassungen eines Textes verlagert: „Damit verschiebt sich der Werk-Begriff vom Original auf die Fassungen. Wenn das epische Werk nur in den verschiedenen Fassungen zugänglich ist, stellen die Fassungen das Werk selbst dar, weil es nicht möglich ist, sich unabhängig von den Fassungen eine Vorstellung von dem Werk zu machen."10 Eine weitere Implikation von Bumkes Modell der „gleichwertigen Parallelversionen" besteht darin, daß es die Kategorie der Geschlossenheit des Textes nach wie vor an die Textualität des höfischen Romans bindet." .Fassungen' liegen nach Ansicht Bumkes im Bereich der höfischen Romane vor, wenn 1. ein Epos in mehreren Versionen vorliegt, die in solchem Ausmaß wörtlich übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann, die sich jedoch im Textbestand und/oder in der Textfolge und/oder in den Formulierungen so stark unterscheiden, daß die Unterschiede nicht zufallig entstanden sein können, vielmehr in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird; und wenn 2. das Verhältnis, in dem diese Versionen zueinander stehen, sich einer stemmatologischen Bestimmung widersetzt, also kein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der klassischen Textkritik vorliegt [...]. 1 2
Angesichts dieser Definition des Fassungsbegriffs, die entscheidend auf dem Kriterium eines „unterschiedlichen Formulierungs- und Gestaltungswillens" basiert, erstaunt es, daß es Bumke für ratsam hält, den Begriff der ,Fassung' von der Bindung an einen Autor freizuhalten. Paradoxerweise versucht er darüber hinaus, den Fassungsbegriff von dem Begriff der Bearbeitung' abzugrenzen. Unter einer .Bearbeitung' versteht Bumke nun eine Textfassung, die eine andere Version desselben Textes voraussetzt und sich diesem gegenüber deutlich als sekundär zu erkennen gibt. Für Fassungen dagegen ist kennzeich-
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charakterisiert Bumkes Neukonzeption der Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik als das „rekonstruktive Ergebnis einer komplexen Fülle hermeneutischer Operationen". Bumke 1996 (Anm. 6), S. 48f. Bruno Quast: Der feste Text. Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus der Sicht der Produzenten. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2000 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. Bd. 23), S. 34-46, hier S. 34, betont, daß „Bumkes Konzept des offenen oder unfesten Textes [...] ausweislich der applizierten Nomenklatur implizit Geschlossenheit als dem Denken des Textes angemessene Figur nach wie vor" voraussetzt. Bumke 1996 (Anm. 6), S. 32. Vgl. auch Bumke 1996 (Anm. 8), S. 290, Anm. 120: „Unter .Fassungen' verstehe ich Textversionen, die in den Lesarten und/oder im Textbestand derartig verschieden sind, daß die Unterschiede weder als normale Varianz volkssprachlicher Texte noch als Fehler einzelner Überlieferungsträger erklärt werden können; eine .Fassung' muß einen eigenen Gestaltungswillen erkennen lassen." Vgl. ebenso die Definition von .Fassung' bei Bodo Plachta: Artikel Fassung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar u.a. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 567: „(Text-)Fassungen sind unterschiedliche Ausführungen eines insgesamt als identisch wahrgenommenen Werks. Sie können auf den Autor, aber auch auf fremde Personen zurückgehen. Fassungen können sich voneinander durch Wortlaut, Form und Intention unterscheiden. Sie sind durch partielle .Textidentität' aufeinander beziehbar und durch .Textvarianz' voneinander unterschieden".
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Martin Baiseli nend, daß sie keine Bearbeitungen sind, das heißt gegenüber anderen Versionen nicht als sekundär zu erweisen sind, sondern Merkmale der Originalität aufweisen.' 3
Indem Bumke hier zur kategorialen Bestimmung des Fassungsbegriffs auf dem Merkmal des .Gestaltungswillens' bzw. der .Originalität' beharrt,14 bleiben nicht nur die Grenzen zwischen der .Fassung' eines Textes und der .Bearbeitung' desselben fließend.15 .Fassungs'- wie .Bearbeitungs'-Begriff sind nach dieser Definition an die Kategorie der Intentionalität der jeweiligen Text-Urheber gebunden, im Falle von Fassungen an jene des/eines .Autors'. Es stellt sich also die Frage, wie sich das Modell der „gleichwertigen Parallelversionen" zur Kategorie der Autorintention stellt.16 Eine ausfuhrliche Auseinandersetzung mit dem von Bumke in die Diskussion gebrachten Fassungen-Konzept hat Albrecht Hausmann vorgelegt.17 Am Beispiel der Überlieferung zu Hartmanns von Aue Iwein diskutiert Hausmann jenes Modell mittelalterlicher Textualität, die in „gleichwertigen Parallelversionen" ihren Ausdruck findet. Der berühmte, in den Handschriften unterschiedlich bezeugte Schluß von Hartmanns Roman verweist nach Hausmann auf die Existenz zweier gleichberechtigter, konkurrierender Fassungen, die (beide) auf Hartmann selbst oder (beide) auf einen Redaktor zurückgehen können. Hausmann betrachtet die prekären Gegebenheiten hinsichtlich der Textkritik des höfischen Romans aber weniger als Problem unterschiedlicher Kommunikationsbzw. Tradierungsbedingungen zwischen Mittelalter und Neuzeit; die offenkundigen kulturgeschichtlichen Differenzen, welche die historische Alterität mittelalterlicher Überlieferung belegen, stuft Hausmann als eher gering ein. Das Problem begreift er als eines der Methode:
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Bumke 1996 (Anm. 6), S. 45f. Vgl. hierzu Nikolaus Henkel: Rezension zu Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin 1996; Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. von Joachim Bumke, Berlin, New York 1999. In: PBB 123, 2001, S. 137-144, hier S. 138: „Problematisch erscheint mir [...] die Einführung des Begriffs .Originalität' in die Definition, denn der erkennbar motivierte und eigenständig gestaltete Zugriff auf einen vorgängigen Textzustand [...] lässt sich auch bei der ,Bearbeitung' erkennen." Vgl. auch den Einwand von Peter Strohschneider: Rezension zu Joachim Bumke: Die vier Fassungen der .Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996. In: ZfdA 127, 1998, S. 102-117, hier S. 115: „Der Ausdruck ,Gestaltungswille' bindet zunächst Fassungsgenese und Fassungsidentität an eine Subjektposition, die er mit dem Kriterium der Intentionalität versieht; in dieser Hinsicht unterscheiden sich .Fassungen' und .Bearbeitungen' also nicht. Allerdings ist die Gegebenheit oder NichtGegebenheit eines Gestaltungswillens auf Seiten eines Text-Urhebers kein textanalytisch erweisbarer Sachverhalt." Vgl. Strohschneider 1998 (Anm. 15), S. 115: „Das heißt aber, daß im Konzept der .Fassungen' die historisch spezifische Konfundierung von Genesis und Geltung eines Textes nicht aufgebrochen ist, die der klassizistische Begriff der .Originalität' tradiert. Dementsprechend ist das Moment einer Autorisierung des Textes durch seinen Urheber, Autorschaft also, auch fur .Fassungen' mindestens implizit in Anspruch genommen, wenn nämlich .Fassungen' als .primäre' von .Bearbeitungen' als .sekundären' Textversionen unterschieden werden [...] und wenn zum Kriterium ihrer .Ursprünglichkeit' ein .unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille' gehört." Albrecht Hausmann: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. .Laudines Kniefall' und das Problem des .ganzen Textes'. In: Text und Kultur 2000 (Anm. 11), S. 72-95.
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Intertextualität
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Hinter den Parallelfassungen kann sehr wohl grundsätzlich ein Archetyp und auch ein Autortext stehen, nur ist dieser nicht - jedenfalls nicht mit den Mitteln des textkritischen Vergleichs - rekonstruierbar. Nicht das historische Fehlen von .Originalen' oder .Archetypen' und damit eine Besonderheit mittelalterlicher Kultur, sondern die Unmöglichkeit, sie mit den eigenen methodischen Mitteln zu rekonstruieren, war und ist das Problem einer Textkritik, die mit Hilfe des Kollationsverfahrens auf den .originalen' Text zielt.18 Dennoch ist an den unterschiedlichen kulturellen und medialen Bedingungen der Produktion und Rezeption von Literatur festzuhalten, welche die mittelalterliche Textgenese von jener der Neuzeit trennt.19 Hier wäre beispielsweise an die Debatten hinsichtlich der Performanz bzw. Performativität mittelalterlicher Texte zu denken oder an die bisher mehr oder weniger ungelösten Fragen nach den Arbeitsprozessen, aus denen die Texte hervorgehen - in einer Formulierung Nikolaus Henkels: „The Making of the Text".20 Auch die im Gefolge editionsphilologischer Erkenntnisse eingeforderte Historisierung des mittelalterlichen Autorbegriffs wäre hier zu nennen.21 Gerade die Feststellung Jan-Dirk Müllers, daß der mittelalterliche Autorbegriff „unterdeterminiert" ist,22 verweist auf die Notwendigkeit einer historisierenden Perspektivierung. So kann ein mittelalterlicher Textproduzent sein Werk, auch wenn er Textfestigkeit explizit einfordert, nur eine kurze Wegstrecke lang kontrollieren. Dann ist der Text einer Pluralität weiterer Autorinstanzen (wie Schreiber, Illustratoren, Bearbeiter, Vortragende) ausgesetzt: Deren Arbeit aber ist dem Zugriff des Textproduzenten entzogen. Gegen Bumkes Kriterium des „unterschiedlichen Formulierungs- und Gestaltungswillens" wendet Hausmann darüber hinaus ein, daß die textuellen Differenzen zwischen zwei .Fassungen' eines Werkes auf eine Vielzahl von Texteingriffen in unterschiedlichen Überlieferungsebenen zurückgehen können - damit aber gerade nicht einen markant profilierten Gestaltungswillen repräsentieren.23 Letztlich plädiert Hausmann für die textkritische Rekonstruktion und hermeneutische Analyse nur partieller Textzustände eines Werkes, die sich aufgrund ihrer Varianz gegenüber der Konstanz weiter Teile eines Werkes in der Überlieferung absetzen. So schlägt er vor, die konkurrierenden TWein-Schlüsse jeweils am ,Kerntextbestand' des Iwein zu messen: „In dieser Perspektive antworten beide Schlüsse in unterschiedlicher Weise auf eine Aporie des Textes und sind insofern .Symptome einer
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22 23
Hausmann 2000 (Anm. 17), S. 78. Unter Berücksichtigung dieser Perspektive kann eine Konzeption mediävistischer Editionsphilologie entwickelt werden, welche die Ergebnisse kulturwissenschaftlicher Forschung zu integrieren vermag. Henkel 2001 (Anm. 14), S. 140. Überlegungen zu einer Historisierung des mittelalterlichen Werk-Begriffs finden sich bei Martin Baisch: Was ist ein Werk? Mittelalterliche Perspektiven. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34, 2002, H. 2, S. 105-125 (innerhalb des Rahmenthemas: Überlieferungsgeschichte - Textgeschichte - Literaturgeschichte). Müller 1999 (Anm. 1),S. 158. Vgl. auch Wemer Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick. In: IASL 25, 2000, H. 2, S. 1-21. Dieser berechtigte Einwand kann mit einem Textbegriff entkräftet werden, der .Text als Handlung* auffaßt; vgl. Martin Baisch: Anekdotische Varianz. Untersuchungen zur kulturellen Funktion mittelalterlicher Überlieferung am Beispiel der Handschriftengruppe um den Cgm 19 und 51. Diss. FU Berlin 2000 (Druck in Vorbereitung).
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Martin
Textidentität', .welche jenseits des Wortlauts in einer prinzipiellen schlossenheit des Textes' liege."24
Baisch
Unabge-
2. Autorschaft, Überlieferung und Intertexualität Man kann daran festhalten, daß ein höfisches Epos von einem bestimmten Autor verfaßt worden ist, daß der Originaltext verlorengegangen ist und daß mehrere Fassungen überliefert sind, von denen nicht sicher ist, in welchem Verhältnis sie zum Original stehen. Aber das ist sozusagen nur ein theoretischer Standpunkt. Die Realität der Überlieferung sieht so aus, daß man es immer schon mit verschiedenen Fassungen zu tun hat, so weit man die Überlieferungsgeschichte zurückverfolgen kann.25
Probleme mit dem Konzept der .Fassung' ergeben sich also deshalb, weil es sich auf ein Rezeptionsphänomen bezieht, zugleich aber produktionsästhetisch fundiert ist.26 Obwohl das ,Fassungen'-Konzept auf der Gegenstandsebene auf einen rezeptionsbezogenen Autor-Begriff rekurriert, kann es methodisch nicht völlig auf die Grundannahme eines auktorialen Gestaltungswillens verzichten, woraus sich hier das Problem einer methodisch geregelten Neubestimmung des Intentionsbegriffs ergibt. Im rezeptionsbezogenen Verwendungszusammenhang des Autor-Begriffs wird deutlich, daß der editorischen Bewertung, Auswahl und Präsentation von Überlieferungszeugen nicht nur bestimmte Autormodelle zugrunde liegen, sondern diese von der editorischen Praxis auch wesentlich miterzeugt werden.27 Es stellt sich daher die Frage, ob die Kategorie der in einem Werk wirksamen Autorintention und - damit zusammenhängend - ihre editorische Berücksichtigung bei der Textkonstitution angesichts der geschilderten Konzeptionalisierung der mittelalterlichen Überlieferung überhaupt noch methodisch gesichert zu rechtfertigen ist. Wie läßt sich das Verhältnis der in einem Werk vermittelten Autorintention zu einer Konstruktion von Überlieferung der höfischen Romane bestimmen, welche das Werk in (automahen) Fassungen situiert? Dieser Frage nachzugehen, scheint mir auch deshalb interessant, weil es ein „Irrtum" wäre zu glauben, „daß mit der Ersetzung des einen fiktiven Autortextes durch mehrere mögliche die Interpretation von Texten vorerst zu schweigen habe".28 Denn Joachim Bumkes skeptische Forderung, zunächst kein „Frageprogramm fur die Interpretation epischer Parallelfassungen zu entwickeln, solange die Überlieferungsfragen nicht geklärt sind und solange es keine kritischen Ausgaben gibt",29 übersieht in der Vernachlässigung hermeneutischer Aspekte, daß die Interpretation
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28 29
Jan-Dirk Müller: Einführung. In: Text und Kultur 2000 (Anm. 11), S. 3 - 7 , hier S. 6. Bumke 1996 (Anm. 6), S. 48. Vgl. Müller 2000 (Anm. 24), S. 6. Roger Lüdeke: Autor. In: Kompendium der Textkritik. Hrsg. von Hans-Walter Gabler und Anne Bohnenkamp-Renken. In: http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD 1 /index.html. Müller 1999 (Anm. 1), S. 166. Bumke 1996 (Anm. 6), S. 88. Vgl. aber die Ausführungen bei Karl Stackmann: Über die wechselseitige Abhängigkeit von Editor und Literarhistoriker. Anmerkungen nach dem Erscheinen der Göttinger Frauenlob-Ausgabe. In: ZfdA 112,1983, S. 37-54.
Autorschaft
und
Intertextualität
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der Fassungen höfischer Romane einen Beitrag zu der rekonstruierenden Tätigkeit des Editors leisten kann. Eine Antwort auf die Frage nach dem Autor könnte in der rezeptionsästhetischen Wendung traditioneller Positionen der Textkritik liegen. In seiner überlieferungsgeschichtlich orientierten Dissertation zur Lyrik Reinmars hat Albrecht Hausmann ein solches Konzept vorgeschlagen.30 Der zentrale Begriff in seiner Analyse der Überlieferung von Reinmars Œuvre ist jener der Konkretisation: ein Terminus, der Roman Ingardens ästhetischer Theorie entlehnt ist. Nach Ingarden ist das literarische Kunstwerk von sogenannten Unbestimmtheitsstellen geprägt; damit sind spezifische Auslassungen in den Textaussagen gemeint, welcher der Leser oder die Leserin selbständig und im Rekurs auf die Sinnangebote der erzählten Welt zu füllen imstande ist.31 Die Unbestimmtheitsstellen des literarischen Textes, prädikativ nicht festgelegte Eigenschaften der erzählten Welt, werden durch den Leser des Textes ergänzt und konkretisiert. Ingarden bezieht den Vorgang der Konkretisierung zunächst auf die gegenständliche Ebene eines Textes, „wo man auf Grund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand [...] nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder nicht."32 Insofern Ingarden aber einräumt, daß auch andere Schichten des literarischen Kunstwerks, etwa die Schicht der .Ansichten', vom Leser konkretisiert werden, ist die Übertragung des Begriffs der Konkretisierung auf das im Text entworfene, vom Leser zu rekonstruierende Autorbild durchaus legitim.33 In diesem Modell ist nun zwischen dem eigentlichen Texturheber, dem textintern profilierten und durch Unbestimmtheitsstellen geprägten Autorbild und der Aktualisierung und Konkretisierung des Autors in der Überlieferung als Rezeption zu unterscheiden. Das Konzept der .Autorkonkretisation' zielt im Falle Reinmars auf die Rekonstruktion eines textgeschichtlich (relativ) konstanten Corpus von Liedern, denen Hausmann das Prädikat der ,,historische[n] Relevanz" zuschreibt, weil sich in ihm über die verschiedenen Rezeptionsakte der mittelalterlichen Schreiber und Redaktoren ein Bild des Autors - als Manifestationsform der Überlieferung konkretisiert und sedimentiert. Hausmann setzt den Begriff der Überlieferung mit jenem der Rezeption gleich, um „Überlieferungswirksamkeit" als entscheidenden Terminus zu begründen. A l s Rezeptionsakte sind moderne Interpretation und historische R e z e p t i o n grundsätzlich analog und vergleichbar. Historische Rezeption aber dokumentiert sich i m überlieferten Text, w e i l in i h m Reproduktion und Rezeption v e r s c h m e l z e n . D e r Interpret kann deshalb aus der Überlieferung und gerade aus deren Varianz Kategorien für die e i g e n e , w i s s e n -
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Vgl. Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen 1999 (Bibliotheca Germanica. 40), S. 2 6 - 3 1 . Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Darmstadt 1968, S. 49: „Das literarische Werk, und insbesondere das literarische Kunstwerk, ist ein schematisches Gebilde. Mindestens einige seiner Schichten, und besonders die gegenständliche Schicht, enthalten in sich eine Reihe von .Unbestimmtheitsstellen'." Ingarden 1968 (Anm. 31), S. 49. Als Beispiel einer Konkretisierung dient Ingarden die in Thomas Manns Roman nicht erwähnte Augenfarbe des Konsuls Buddenbrook. Ingarden 1968 (Anm. 31), S. 55-63.
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Martin Baisch
schaftliche' Rezeption beziehen, er kann die historische Relevanz seiner Fragestellungen an der Überlieferung überprüfen.34
Mit diesem Ansatz, der den in den Handschriften tradierten Text als Ergebnis von Reproduktions- und Rezeptionsvorgängen versteht, lassen sich ohne Zweifel Aussagen über die historische Auffassung Reinmarscher Lieder im 13. Jahrhundert treffen. Doch Hausmanns Modell forciert den Zugriff auf die Aussagekraft des Textmaterials noch weiter: Er versteht die rekonstruierten historischen Möglichkeiten der Ausgestaltung des Werkes Reinmars und dessen Varianz als normativen Maßstab heutiger Lektüre und Interpretation dieser Texte.35 Damit setzt er aber die von ihm erschlossenen mittelalterlichen Rezeptionsvorgänge absolut: Der Autor und sein Werk erscheinen von vornherein nur in einer Perspektive der Hypostasierung durch Schreiber und Redaktoren des Spätmittelalters. Darin liegt eine theoretische Beschränkung, die mir nicht notwendig scheint. Denn es „deckt sich die ,Überlieferungswirksamkeit' ihrerseits nur mit .historischer Relevanz', wenn man alle anderen literarhistorischen Kategorien unterdrückt":36 In Hausmanns Konzeption dürfte stets nur von .überlieferungsgeschichtlicher Relevanz' die Rede sein. Indem das Modell bei der Untersuchung der mittelalterlichen Texte den überlieferungsgeschichtlichen Aspekt in das Zentrum stellt, vernachlässigt es entscheidende poetische Dimensionen der Texte und ihrer Deutung.37 Angesichts der dargelegten Konzeptionalisierung mittelalterlicher Überlieferungsverhältnisse läßt sich kaum mehr fragen, ob es überhaupt noch möglich ist, die Stimme des Autors im Rauschen der Überlieferung zu hören.38 Um diese dennoch wahrzunehmen, ist es notwendig, das Verhältnis von Autorschaft und Intertextualität näher zu betrachten. Karlheinz Stierle bestimmt Intertexualität als ein konstitutives Merkmal poetischer Texte, insofern sich ,jeder Text [...] in einem schon vorhandenen Universum der Texte [situiert], ob er dies beabsichtigt oder nicht. Die Konzeption eines Textes finden heißt, eine Leerstelle im System der Texte finden oder vielmehr in einer vorgängigen Konstellation von Texten. [...] Der Konstellation 34 35
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Hausmann 1999 (Anm. 30), S. 27. Hausmann 1999 (Anm. 30), S. 26: „Der rezeptionstheoretische Begriff Konkretisation fuhrt demnach nicht zu .postmoderner' Beliebigkeit, denn: (1) Die rezipientenseitige Konkretisation ist abhängig von einer historischen Poetik; (2) die .moderne' Konkretisation kann durch Vergleich mit historischen Rezeptionsleistungen auf ihre historische Relevanz geprüft werden." Gert Hübner: Rezension zu Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferang und zur programmatischen Identität. Tübingen 1999 (Bibliotheca Germanica. Bd. 40). In: ZfdPh 120,2001, S. 456-459, hier S. 458. So kommt es Hausmann - wie Gert Hübner (2001, Anm. 36, S. 458) pointiert einwendet - „auf die Herrschaft der Überlieferungsgeschichte über die Hermeneutik an". Allerdings scheint Hausmann von dieser Position abzurücken, nimmt man seinen Beitrag zur /wem-Überlieferung hinzu, in dem Hausmann (2000, Anm. 17, S. 73) explizit einfordert, „die Debatte in den Bereich der interpretierendinhaltlichen Arbeit hinein auszudehnen". In bezug auf die Fassungen von Hartmanns Armem Heinrich unternimmt dies Hans-Jochen Schiewer: Acht oder Zwölf. Die Rolle der Meierstochter im .Armen Heinrich' Hartmanns von Aue. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Spätmittelalters. Festschrift fur Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 649-667. Die Formulierung dieser Frage spielt auf den Aufsatz von Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hrsg. von Wolf Schmid. Wien 1983 (Wiener slawistischer Almanach. Bd. 11), S. 7-26, zum Verhältnis von .Werk und Intertextualität' an.
Autorschaft und Intertextualität
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entspringt die Möglichkeit des Textes, die der Text selbst einlöst, über- oder unterbietet."39 Für meine Überlegungen ist des weiteren Stierles Unterscheidung zwischen produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Intertextualität von Bedeutung. Eine Differenzierung, die beispielsweise Hausmann in seinem Konzept der „Autorkonkretisation" nicht berücksichtigt. Die Konfiguration der Texte, der sich der Text verdankt, ist aber nicht identisch mit der Konfiguration, in die der Text fur seinen Leser eintritt. Beide Konfigurationen streben immer weiter auseinander, je größer die Distanz zwischen dem ersten Leser und dem aktuellen Leser geworden ist, je mehr Texte sich zwischen den gegebenen Text und seinen Rezipienten schieben.40 Mir scheint, daß auch für die Bestimmung eines mittelalterlichen Werkbegriffs die Scheidung von produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Intertextualität Berücksichtigung finden muß. Denn diese Differenz in der Bestimmung von Intertextualität vermag zu begründen, weshalb auch bei varianter Überlieferung die Kategorie der Autorintention bei textkritisch-hermeneutischen Bemühungen von Bedeutung ist: Das Werk schafft sich einen Horizont, vor dem es sich in seiner Besonderheit darstellt. [...] Das Werk selbst ist das Zentrum eines Sinns, der über es hinausreicht. Es konstituiert ein Sinnfeld, dessen Mittelpunkt es zugleich ist. Alles, was in diesem Feld erscheint, ist auf die Mitte zentriert, die das Werk selbst setzt. Eben deshalb kann auch die „Intertextualität" das Werk nicht dezentrieren. Das dezentrierte, fremden Texten anheimgefallene Werk müßte seine ästhethische Identität verlieren. 41
Wie die Intertextualität so kann auch die Überlieferung - im Fall der höfischen Romane - in der Regel das Werk nicht dezentrieren. Dem Werk bleibt auch angesichts der Bedingungen eines in autornahen Fassungen überlieferten Textes jener Sinn als Spur eingeschrieben, die auf die Intention des Autors zurückfuhren kann. Die Überlieferung eines Textes ist insofern nicht bedeutungsleer und intentionslos, als sich ihr Verhältnis zum Text als hermeneutisches und pragmatisches bestimmen läßt. Der Text kann in der Überlieferung, begriffen als Rezeption oder Reproduktion, einfach übernommen werden, er kann überboten, korrigiert, erweitert oder ironisch gebrochen werden; er bleibt aber - wohl in den meisten Fällen - im von ihm selbst gesetzten Spielraum.
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Stierle 1983 (Anm. 38), S. 7. Stierle 1983 (Anm. 38), S.7f. Stierle 1983 (Anm. 38), S. 14f.
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Martin Baisch
3. Fazit Der Autor der höfischen Romane ist in der altgermanistischen Forschung, die zu Recht eine Historisierung des mittelalterlichen Autorbegriffs einfordert, in letzter Zeit als compilatori2 als Wiedererzählern oder auch als auktorialer Bearbeiter beschrieben worden. In Reaktion auf die neueren Einsichten der Textkritik verabschiedet man sich „von der Vorstellung eines im klassischen Sinne werkmächtigen mittelalterlichen volkssprachlichen Autors".44 Dieser Autor „als Überlieferer und Vermittler einer materia, dem es ausschließlich um die Ausgestaltung eines bereits zuhandenen Stoffes zu tun ist",45 könne eine „Originalleistung" nur in dem Sinne einer auktorial verantworteten idealen Textgestalt beanspruchen: Die Urheberschaft des Bibelepikers Konrad von Heimesfurt beispielsweise „bezieht sich nicht auf den Gehalt des Erzählten, sondern auf die von ihm hervorgebrachte und zu verantwortende Gestalt."46 Zu bedenken ist aber, daß sich in den höfischen Romanen Strategien der Autorisation und Authentisierung ihrer Verfasser finden, welche den Beginn moderner Autorkonstrukte signalisieren. Mannigfache Selbstnennungen der Autoren bzw. Literaturkataloge in den höfischen Romanen oder die von der Forschung (re)konstruierten .Dichterfehden' verweisen beispielsweise auf spezifische Veränderungen in der Auffassung der Autorfunktion im Mittelalter. Wer den Prozeß der Aufwertung volkssprachiger Autorschaft verfolgt, wird sich mit der in hochmittelalterlicher Zeit entstehenden Literatur beschäftigen müssen, die sich eine neue Autorität zuschreibt.47 Der Status des mittelalterlichen Autors wird dann freilich wiederum .geschwächt' durch den Umstand, daß er hinter den stark divergierenden Fassungen eines Textes keine Gestalt gewinnt. Doch werden weitere Untersuchungen zur Überlieferung und zur Interpretation der höfischen Romane zeigen müssen, ob es nicht auch da, wo die Analyse des tradierten Textmaterials nur auf Fassungen fuhrt, „bei der Interpretation sinnvoll sein kann, komplementär mit einem dem Mittelalter gemäßen Autorbegriff zu operieren".48 Dieser ist freilich erst in Umrissen zu erkennen.
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Vgl. Joachim Bumke: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G s ). In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel. Sonderheft der ZfdPh 116, 1997, S. 87-114. Vgl. Franz-Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea. Bd. 16), S. 128-142. Quast 2000 (Anm. 11), S. 45. Quast 2000 (Anm. 11), S. 35. Quast 2000 (Anm. 11 ), S. 38. Vgl. hierzu Bumke 1997 (Anm. 42), S. 97. Karl Stackmann: Joachim Bumkes Ausgabe der .Klage'. Notizen zu einer bemerkenswerten Neuedition. In: ZfdPh 120,2001, S. 381-393, hier S. 391.
II.
Autor- und werkbezogene Beiträge
Elmar
Willemsen
Über den Gebrauch von synoptischen Ausgaben Das Beispiel Walther von der Vogelweide
Wer in der Mittelalter-Forschung aktiv ist, kann heute auf eine große Zahl von wissenschaftlichen Textausgaben zurückgreifen. Diese Ausgaben lassen sich in 2wei Klassen einteilen: die .kritischen' Editionen auf der einen und die .synoptischen' Ausgaben auf der anderen Seite. Beide Editionstypen stellen eine Reaktion auf die Überlieferung von mittelalterlichen Texten dar. Für die Lieder und Sprüche Walthers von der Vogelweide läßt sich die Überlieferungssituation wie folgt skizzieren: Alles, was wir heute als Walthers .Werk' kennen, ist in Handschriften überliefert; die wichtigsten sind etwa 40 bis 120 Jahre nach seinem mutmaßlichen Tod entstanden.1 Die großen Sammelhandschriften gehen ihrerseits wohl auf nicht erhaltene schriftliche Vorläufer zurück. Manche Texte von Walther sind unikal überliefert, die Mehrzahl jedoch findet sich in unterschiedlichen Handschriften. Die mehrfach überlieferten Lieder und Sprüche weisen in den verschiedenen Überlieferungssträngen erhebliche Differenzen auf. Dieses im folgenden als .Varianz' bezeichnete Phänomen manifestiert sich sowohl auf der Textebene als auch - bei Liedern - auf der Strophenebene. Die Handschriften sind Zeugnisse der Rezeption, bei keinem Lied oder Spruch kann also ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß es bzw. er in einer authentischen, d.h. einer auch im Detail so von Walther gewollten Form vorliegt. Eine .kritische' Edition reagiert auf diesen Befund mit dem Versuch, durch den systematischen Vergleich aller Textzeugen - der recensio - eine frühere Rezeptionsschicht, die dem historischen Autor Walther näher steht, zu rekonstruieren. Lange Zeit - von den Anfängen der wissenschaftlichen Walther-Forschung mit Karl Lachmann im 19. Jahrhundert bis hin zu Carl von Kraus Mitte des 20. Jahrhunderts glaubte die Mehrheit der Wissenschaftler, mittels dieser Vorgehensweise nahe bis zum .historischen Subjekt Walther' vorstoßen zu können. Inzwischen hat man erkannt, daß dies nicht möglich ist: allein schon die Vorstellung von einem einzigen, fest fixierten .Originaltext' ist zumindest zweifelhaft. Man muß wohl mit Vortragsund Bearbeitungsvarianten auf allen Stufen der Rezeption rechnen.2 Dementspre-
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2
Insgesamt überliefern 31 Handschriften oder Fragmente Texte von Walther, teilweise allerdings anonym oder unter einem anderen Automamen. Die meisten Textzeugen enthalten nur wenige Strophen. Große Textmengen finden sich nur in den Handschriften A (um 1270), Β (1. Viertel 14. Jahrhundert), C (um 1300, Nachträge bis 1330/40) und E (um 1345-1354). Zu den Handschriften vgl. u.a. Waither von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996, S. XVff. Vgl. u.a. Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Bd. 1 : Spruchlyrik. Mhd./Nhd. Hrsg., übers, und komm, von Günther Schweikle. Stuttgart 1994, Bd. 2, S. 23, Cormeau-Ausgabe (Anm. 1),
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Elmar
Willemsen
chend haben die drei in den neunziger Jahren von Christoph Cormeau, Günther Schweikle und Silvia Ranawake neu herausgegebenen .kritischen' Editionen nicht mehr den Anspruch, das authentische Werk Walthers darzustellen, sondern - mit den Worten Cormeaus - „das Abbild des Œuvres in der Rezeption".3 In jeder der genannten .neuen' kritischen Ausgaben sind alle Informationen zur Überlieferungslage und Varianz eines Textes in Fußnoten oder Anmerkungen enthalten. Nach wie vor jedoch reagieren sie auf die Überlieferungsvarianz, indem sie einen Text aus vielen Fassungen herstellen. Einen deutlich anderen Weg des Umgangs mit der Varianz der Textzeugen beschreiten die .synoptischen' Ausgaben, in denen handschriftliche Fassungen nebeneinander abgedruckt werden. Im Gegensatz zu den .kritischen' Editionen versuchen sie nicht, die Handschriften zu verwenden, um frühere Rezeptionsschichten freizulegen, sondern beschränken sich darauf, die vorhandenen Textzeugnisse in gesammelter Form zu präsentieren und somit ihren Vergleich als Rezeptionszeugnisse zu erleichtern. Begünstigt wurde diese Herangehensweise an das Phänomen .Varianz' durch Einflüsse verschiedener .postmoderner' Denkschulen, die in den letzten Jahrzehnten dazu geführt haben, daß die Suche nach dem historischen Autor zugunsten anderer Fragestellungen zunehmend in den Hintergrund getreten ist. Den Höhepunkt dieser Entwicklung erlebte die Altgermanistik mit dem durch die Vertreter der ,New Philology' ausgelösten Streit um die Relevanz des Autorbegriffes für den Umgang mit mittelalterlichen Texten. Obwohl die Mehrheit der Mediävisten der radikalen Ablehnung der Kategorie ,Autor' mit guten Gründen nicht gefolgt ist, hat doch die Forderung der ,New Philology' nach einer intensiveren Beschäftigung mit den Handschriften und mit dem Phänomen der Varianz viel Widerhall gefunden. 4 Insofern ist heute wohl unumstritten, daß synoptische Ausgaben zumindest eine sinnvolle Ergänzung zu den kritischen Editionen darstellen. Leider gibt es bis heute keine synoptische Gesamtausgabe von Walther-Texten. Zwar hat eine Gruppe um Ulrich Müller und Ingrid Bennewitz angekündigt,5 eine auf diplomatischen Abdrucken basierende Ausgabe von parallel überlieferten Texten Walthers herauszugeben, bis zur Verwirklichung dieses Projektes kann man jedoch einzig auf Hubert Heinens 1989 erschienenes Buch Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und 13. Jahrhunderts zurückgreifen. Neben
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5
S. XV, oder Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Hubert Heinen. Göppingen 1989, S. V. Cormeau-Ausgabe (Anm. 1), S. XIX. Hier möchte ich nur eine kleine Literaturauswahl geben, die keinesfalls vollständig ist. Auslöser der ,New-Philology'-Debatte waren Bernard Cerquiglini: Eloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989, und die Beiträge im Speculum. A Journal of Medieval Studies 65, 1990. Zahlreiche Altgermanisten haben sich kritisch mit diesen Beiträgen auseinandergesetzt, vgl. u.a. die Aufsätze von Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Moderaes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt/Main 1994, S. 398-427; Rüdiger Schnell: Was ist neu an der ,New Philology'? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio. Bd. 8), S. 61-95; Jan-Dirk Müller: Neue Altgermanistik. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 39, 1995, S. 445-453. Vgl. Ulrich Müller u.a.: Brauchen wir eine neue Walther-Ausgabe? In: Thomas Bein (Hrsg.): Waither von der Vogelweide. Textkritik und Edition. Berlin 1999, S. 248-273.
Über den Gebrauch von synoptischen
Ausgaben
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Texten von Walther finden sich dort auch Lieder von Reinmar dem Alten, Heinrich von Morungen und einigen anderen bekannten Minnelyrikern.6 Im Zentrum der nun folgenden Ausführungen soll die Frage stehen, wie man auf sinnvolle Weise die Stärken einer synoptischen Ausgabe nutzen kann. Ich greife dabei auf Erfahrungen zurück, die ich im Laufe des letzten Jahres bei der Arbeit an meinem Dissertationsprojekt - einer Untersuchung der Varianz in der WaltherÜberlieferung - sammeln konnte.7 Der auf den ersten Blick ersichtliche Unterschied zwischen einer kritischen Edition und einer synoptischen Ausgabe ist der, daß diese nur einen Text enthält, wo in jener zwei oder mehr Versionen des einen Textes stehen. Da vor jeder Interpretation ein Text zunächst genau gelesen und (sprachlich) verstanden werden muß, erfordert die synoptische Ausgabe ein gewisses ,Mehr' an Lesearbeit. Wirklich interessant werden die Unterschiede der beiden Ausgabentypen jedoch erst bei Einsetzen der interpretatorischen Textarbeit. Eine Interpretation versucht, einen Text zu erklären - eine solche Erklärung kann jedoch nie absolut sein, sondern nähert sich dem Text immer nur unter einem bestimmten Blickwinkel. Dieser Blickwinkel wird bestimmt durch die .Fragen', die der Interpret an den Text hat. Die Gesamtheit dieser Fragen bestimmt die ,Lesehaltung' gegenüber dem Text. Dadurch, daß die Forschung von Zeit zu Zeit beginnt, neue Fragen zu stellen, ändert sich unsere Lesehaltung und damit auch die Interpretation von Texten. Es ist nun anzunehmen, daß eine synoptische Ausgabe eine andere Lesehaltung erfordert als eine kritische Edition. Auf welche Weise kann man versuchen, einen Text in das ,Werk' eines Autors einzuordnen, wenn dieser Text nicht in einer, sondern in drei (oder mehr) Versionen vorliegt? Wie soll man ein Lied literaturgeschichtlich bewerten, wenn verschiedene Fassungen dieses Liedes deutliche Differenzen aufweisen? Sucht man Antworten auf diese Fragen, so könnte man versuchen, die diversen Fassungen und Varianten auf eine gemeinsame, frühere Textstufe zurückzufuhren - ein grundsätzlich legitimes Vorgehen (fraglich ist nur, ob es gelingt), das jedoch in etwa dem entspricht, was die Herausgeber kritischer Editionen schon geleistet haben - warum sollte man also den ,Umweg' über eine synoptische Ausgabe nehmen - abgesehen davon, daß man sich vielleicht ein eigenes Urteil bilden möchte? Es erscheint mir sinnvoller, im Umgang mit einer synoptischen Ausgabe andere Fragestellungen zu entwickeln. Eine Möglichkeit besteht darin, die Varianz zwischen den einzelnen Textfassungen zunächst als gegeben hinzunehmen und nicht nach ihrer Ursache zu fragen, sondern nach ihrer Wirkung. Diese Wirkung besteht u.a. darin, daß jede Textfassung eine eigene Vorstellung beim Leser über ihren Verfasser erzeugt - ein ,Autorbild'. Diese Annahme setzt sicherlich voraus, daß der jeweilige Leser der Kategorie ,Autor' überhaupt Bedeutung beimißt. Für mittelalterliche Rezipienten gehe ich - allein schon aufgrund der autororientierten Ordnung der meisten
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Strenggenommen stellt Heinens Ausgabe eine Mischform zwischen synoptischer und kritischer Edition dar, insofern, als Heinen zu .kritischen' Mitteln der Textherstellung wie Normalisierungen und Konjekturen fiir jede einzelne Textfassung greift. Zu den Kriterien der Textherstellung vgl. die HeinenAusgabe (Anm. 2), S. III-XXII. Vgl. auch Elmar Willemsen: Projektbericht: Untersuchungen zur Varianz in der WaltherÜberlieferung. In: Bein 1999 (Anm. 5), S. 219-223.
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Elmar Willemsen
Sammelhandschriften - davon aus. Die Wirkung der Varianz bestünde dann darin, daß die verschiedenen Textzeugen unterschiedliche ,Autorbilder' zu evozieren vermögen. Eine sinnvolle Lesehaltung wäre folglich, nach den ,Autorbildern' jeder Textversion zu fragen.8 Durch die Konturierung dieser Autorbilder gewönne man einen Einblick in das ,Leben' der literarischen Texte im Mittelalter. Als Ausgangspunkt für weiterfuhrende Untersuchungen wäre es sehr hilfreich, die Autorbilder bestimmter Handschriften zumindest skizzieren zu können; dies setzt allerdings eine großangelegte Untersuchung der Varianz aller Texte eines Autors voraus. Dieses Ziel verfolge ich in meiner Dissertation über Walther. Um die eben angesprochene .Lesehaltung' zu exemplifizieren, möchte ich nun eine Beispielanalyse der verschiedenen Fassungen von Walthers berühmtem Preislied (Cormeau 32, L 56,14) durchführen. Das sogenannte Preislied ist uns in vier Handschriften, nämlich in A, C, E und den Fragmenten Uxx überliefert. Dies deutet darauf hin, daß das Preislied im Mittelalter bekannt und beliebt war. So zitiert Ulrich von Lichtenstein die Eingangsverse in seinem Frauendienst. Ab dem 18. Jahrhundert setzte dann erneut eine lebhafte Rezeption ein, wobei das Preislied oft als „nationales Bekenntnis" des Dichters verstanden wurde.9 Hoffmann von Fallerslebens Lied der Deutschen greift auf Motive des Waltherschen Textes zurück. Im Verlauf des 19. und verstärkt bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Walther von gewissen Kreisen zu einem .deutsch-nationalen Dichter des Reiches' stilisiert. Sein Preislied wurde mißbraucht, indem man es in den Dienst eines aggressiven Nationalismus stellte. Die Forschung sieht heute in dem Preislied u.a. die Reaktion auf Spottstrophen eines provenzalischen Trobadors und wohl auch den Versuch, sich bei der Wiener Hofgesellschaft,beliebt' zu machen. Als möglicher Ort der .Uraufführung' wird oft auf die Wiener Hochzeit Leopolds VI. im Jahr 1203 hingewiesen.10 Bevor ich nun mit einer exemplarischen Analyse der Textversionen beginnen kann, muß ich noch einige Bemerkungen zu dem von Heinen hergestellten Text machen. Heinen ediert hier drei Fassungen, nämlich die der Handschriften A, C und E. Das Fragment LPX ist zu schwer lesbar, um als weitere Fassung aufgeführt zu werden. Ein Teil der in den Handschriften zutage tretenden Varianz ist in dem synoptischen Abdruck verlorengegangen, weil Heinen den Text einer vorsichtigen Normalisierung unterzieht. Dieser Verlust scheint jedoch für die Frage nach den Autorbildern hinter den Fassungen unerheblich, da es sich zumeist nur um die Auflösungen von Abkürzungen der Schreiber handelt oder um kleinere graphematische Korrekturen. Eben-
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Vgl. hierzu Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor, Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen, Basel 1999, Kapitel 1.3, S. 26ff. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. den Beitrag von Ulrich Müller in: Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler: Walther von der Vogelweide. Epoche - Werk - Wirkung. München 1996, S. 236-240. Zu dem Preislied gibt es sehr viele Forschungsbeiträge. Hier sei verwiesen auf den Kommentar der Schweikle-Ausgabe (Anm. 2) nebst der beigefugten Literaturliste. Einen Überblick über die ältere Forschung gewähren: Walther von der Vogelweide. Hrsg. und erklärt von W. Willmans. Vierte, vollständig umgearb. Aufl. Besorgt von Victor Michels. Halle/Saale 1924, und Carl von Kraus: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin, Leipzig 1935.
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falls zu berücksichtigen ist, daß es sich bei den Interpunktionszeichen um von Heinen vorgenommene Hinzufügungen handelt. Im Einzelfall kann eine andere Interpunktion durchaus unterschiedliche Interpretationen nach sich ziehen; in diesem Beispiel scheint mir das allerdings nicht der Fall zu sein. Erheblich ins Gewicht fallen hingegen einige der Konjekturen - erkennbar an dem kursiven Druck - , die Heinen in der Fassung E vornimmt. Bevor man von einem Autorbild der Fassung E sprechen kann, muß man diese Konjekturen rückgängig machen - dazu später mehr. Noch eine kleine Nebenbemerkung: Im folgenden wird des öfteren von .Walther' gesprochen, wenn auf Aussagen des .sprechenden Ich' rekurriert wird. Dies geschieht der Bequemlichkeit halber - es geht jedoch immer nur um ein Walther-Bild, historische Aussagen über Walther als Subjekt sind damit nicht beabsichtigt." Beginnen möchte ich mit einer Betrachtung der Varianz auf Strophenebene. Am klarsten erkennbar ist zunächst die unterschiedliche Anordnung der - nach C gezählt - III., IV. und V. Strophe sowie das Fehlen der VI. Strophe in A und E. Ebenso auffällig ist, daß die erste und zweite Strophe in allen Fassungen den Eingang des Liedes bilden. Dieser Befund ist mindestens ebenso spannend wie die Abweichungen in der Reihung der anderen Strophen. Welchen Grund könnte diese Konstanz inmitten der Varianz haben? Offenbar bedient sich die erste Strophe verschiedener Topoi der Sangspruchdichtung, so z.B. der direkten Ansprache an das Publikum („Ir suit sprechen ..."), der Selbststilisierung als Bote („der iu maere bringet...") und der Lohnforderung („ich wil aber miete ..."). Während Walther in der ersten Strophe die Rolle des um Lohn singenden Fahrenden einnimmt, wechselt er in der zweiten Strophe in die Rolle des Minnesängers, dessen einzige Belohnung für den von ihm angekündigten Frauenpreis ideeller Natur sein soll: er verzichte auf allen materiellen Lohn dafür, daß die Damen ihn „grüezen schöne". Die Pointe der beiden Eingangsstrophen besteht also in einem kalkulierten Rollenwechsel, in einem Spiel mit den Gattungen. Daß alle Textzeugen diese Pointe bewahren, scheint mir bemerkenswert. Die Fähigkeit Walthers zu selbstbewußtem Spiel mit Rollen und Gattungen scheint Bestandteil aller Autorbilder zu sein. Varianten auf Textebene fallen in den ersten beiden Strophen, obwohl zahlreich vorhanden, inhaltlich kaum ins Gewicht. Die vermutlich interessanteste Variante versteckt Heinen hinter einer Konjektur: Der letzte Vers der ersten Strophe lautet in E eigentlich „seht, waz man mir gebe zuo miete". Dadurch ergibt sich eine Akzentverschiebung, denn in A und C wird die materiell konnotierte Lohnforderung - „miete" - im letzten Vers durch „êren" - gesellschaftliches Ansehen ersetzt bzw. ergänzt. Der Rollenwechsel in der zweiten Strophe wird damit vorbereitet. E hingegen hält die materielle Lohnforderung bis zum letzten Vers aufrecht; dadurch wird der Kontrast zur zweiten Strophe um so größer, der Umschwung freilich auch weniger kunstvoll inszeniert.
Während des Tagungsvottrages wurden jeweils Folien mit Kopien von Heinens Textfassungen auf den Overheadprojektor gelegt - da bei der Drucklegung der Vorträge möglichst auf Abbildungen verzichtet werden sollte, habe ich für den Anhang die drei Fassungen nach Α, Β und C aus Heinens Ausgabe wiedergegeben. Dabei habe ich mich lediglich auf den Text beschränkt und die Apparate und Nebeninformationen nicht berücksichtigt. Um der exemplarischen Analyse der Fassungen zu folgen, reicht dies aus - fur genauere Fragen zum Text sei auf Heinens Ausgabe (Anm. 2), S. 193-195, verwiesen.
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Elmar Willemsen
Mit den folgenden Strophen beginnen die Fassungen nun zu divergieren. Zuerst soll die Fassung nach Handschrift A betrachtet werden. Dort folgt an dritter Stelle die Strophe IV der C-Fassung. In dieser stellt Walther sich als weitgereisten Fahrenden („Ich hân lande vil gesehen ...") dar, der über die notwendige Erfahrung verfügt, um das Urteil abzugeben: „tiuschiu zuht gât vor in allen". Das Wort „zuht" schließt auch den männlichen Teil der Zuhörerschaft ein. Zum in der II. Strophe angekündigten Frauenpreis tritt das Herrenlob. Die vierte Strophe der Α-Fassung (d.h. Strophe V nach C) engt nun den Blick von „lande vil" auf den deutschsprachigen Bereich ein: „Von der Elbe unz an den Rîn, her wider unz an der Unger lant ..." Aus dem „her wider unz" kann man schließen, daß das Lied in der Nähe Ungarns - in Österreich zum Vortrag kommt.12 Das Lob der folgenden Verse gilt insbesondere den deutschen ,,wîp", die über die fremden „frowen" gestellt werden. Die letzte Strophe nach A schließlich preist sowohl Männer als auch Frauen, die als „wol gezogen" bzw. „rehte als engel" gelobt werden. Folgerichtig können im dritten und vierten Vers diejenigen, die sie tadeln, als verblendet bezeichnet werden: „swer sie schiltet, der'st gar betrogen". Es ergibt sich eine geschlossene Argumentationskette in Fassung A, die mit dem Nachweis der Kompetenz und Erfahrung Walthers in Strophe III beginnt und bis zum begründeten Lob in Strophe V führt. Danach kann dann jede Kritik an den Deutschen als unbegründet zurückgewiesen werden. Das Lied endet in A mit dem persönlichen Wunsch Waithers „lange müeze ich leben darinne!", womit er „unser lant" meint. Durch das Wort „unser" betont er, daß er mit dem Publikum die gemeinsame Herkunft teilt. In Verbindung mit dem Wunsch nach „êren" und einem .Minnegruß der Damen' aus den ersten beiden Strophen läßt dies als mögliche Absicht des Liedes erkennen, den in den Eingangsstrophen spielerisch durchgeführten Rollenwechsel vom Fahrenden zum sozial ungleich höher gestellten Minnesänger auch in der Realität durchzuführen, d.h. Aufnahme am (Wiener?) Hof zu finden. Die Fassung nach C setzt die letzte Strophe von A an die dritte Stelle. Dadurch wird die Argumentationskette gegenüber der Α-Fassung umgedreht. Zunächst erfolgt das ausgiebige Lob und die Zurückweisung der Kritiker, dann erst der Nachweis der Erfahrung. Zusätzlich tritt dann aber noch eine weitere Strophe hinzu, die auf den ersten Blick nicht recht in den Zusammenhang zu passen scheint. In der VI. Strophe klagt Walther unvermittelt über eine Dame, die ihn trotz seines treuen Dienstes verletze. Im letzten Vers äußert er die Hoffnung, daß sie „sich's bekêren" möge. Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Strophe gar nicht in den Kontext des Liedes gehört und nur aufgrund der Tongleichheit zum Preislied gesetzt wurde. Jedoch ist es auch möglich, die VI. Strophe als Geleitstrophe zu lesen, sozusagen als .subjektiven' Kommentar zu dem um .Objektivität' bemühten Lied - Beispiele fur solche ,Geleitstrophen' finden sich in der romanischen Lyrik. Deshalb möchte ich annehmen, daß ein Rezipient der C-Fassung die sechs Strophen durchaus als liedhafte Einheit begriffen haben kann. In diesem Fall könnte die in der Form einer Minneklage gehaltene VI. Strophe .verschlüsselt' von der Reaktion der Hofgesellschaft und ihrer Entscheidend dafür ist die Interpretation des Wortes „her" im Sinne von „hierher", so daß sich als Sinn etwa ergibt: „Von der Elbe bis an den Rhein, wieder hierher zurück bis an das Land der Ungarn". Vgl. Wilmanns/Michels 1924 (Anm. 10), S. 229.
Über den Gebrauch von synoptischen Ausgaben
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mangelnden Bereitschaft, Walther angemessen zu belohnen, sprechen.13 Die im letzten Vers geäußerte Hoffnung wäre dann als Aufforderung zur Belohnung zu verstehen. In dieser Lesart erfüllt die VI. Strophe in C eine ähnliche Funktion wie die Schlußstrophe der Fassung A. Diese kann deshalb in C an die dritte Stelle rücken. Kritiker der C-Fassung haben zwar bemerkt, daß die Steigerung des Lobes vom ,,wîp"-„frowen"-Vergleich in C-V hin zum Engel-Vergleich in C-III eher für die umgekehrte A-Anordnung spräche. Andererseits löst die Strophe III in ihrer Stellung in C direkt das Versprechen des Frauenpreises aus Strophe II ein und verstärkt in ihrem Schlußvers die in Strophe I und II geäußerte Belohnungsforderung - auch diese Anordnung ergibt eine sinnvolle Argumentationskette. Während sowohl die Α-Fassung als auch die C-Fassung den Wunsch Walthers nach Belohnung durch den Hof deutlich erkennen lassen, bietet die Reihung nach E ein völlig anderes Bild. Hier folgt auf Strophe II die ,Flußstrophe', in der Lesart nach E „Von der Elbe biz an den Rîn, wider her biz an engellant".14 Damit ist der mögliche Bezug zu Österreich (und dem Wiener Hof), der sich aus den Fassungen A und C noch ergibt, für einen Rezipienten der Ε-Fassung nicht mehr greifbar. Aus dem ,Dreieck' Elbe-Rhein-Ungarn, dessen Spitze auf den österreichischen Raum verweist, wird die ,Linie' Elbe-Rhein-England, die uns als recht schwache geographische Eingrenzung Deutschlands erscheint. Aber für einen spätmittelalterliche Rezipienten mag sie akzeptabel gewesen sein, da sich das Heilige Römische Reich bis zur Mündung des Rheines erstreckte, der England gewissermaßen .gegenüber' liegt.15 Die folgende IV. Strophe von E stellt eine auch textlich bedeutsam variierte Form der Schlußstrophe von A dar. Anstelle des von Heinen konjizierten „Welschez volk" hat Handschrift E „Falschez volk". Das Schwergewicht ist jedenfalls von dem Lob der deutschen Männer und Frauen auf den Tadel an anderen, offenbar unehrenhaften Leuten gelegt. Falls unter dem „falschen volk" die Kritiker an den Deutschen gemeint sein sollten, stellt dies eine erhebliche Verschärfung der A- und C-Fassung dar, die ja die Kritiker für verblendet hält, nicht jedoch für .falsch', d.h. moralisch minderwertig. Ich halte es übrigens durchaus für wahrscheinlich, daß eine Vorgängerfassung von E wirklich „Welschez volk" geschrieben hat (Uxx unterstützt diese Lesart) - dies wäre dann ein scharfer Ausdruck der nationalen Abgrenzung gegenüber der Romania. Da es mir aber um die greifbare Handschrift E geht und nicht deren Vorläufer, kann diese konjizierte Lesart hier nicht berücksichtigt werden. In E endet das Lied schließlich mit Walthers Aussage, „tiuschiu zuht gevellet mir vor in allen". Der subjektive Wunsch nach Belohnung ist also der .objektiven' Wertung der Länder und Sitten gewichen.
Desgleichen wäre die Möglichkeit zu untersuchen, ob hier nicht Reste eines .Vortragsprogramms' durchscheinen, in dem das Preislied den Beginn eines Zyklus von Minneliedern bildete, die durch die Schlußstrophe vorbereitet wurden. Heinen konjiziert „biz" durch „unz" und „engellant" durch „Ungerlant". Die geographische Verschiebung des Blickwinkels nach Nordwesten in der Ε-Fassung ist auch insofern interessant, als die Handschrift E Verbindungen mit einem mitteldeutsch-niederdeutschen Überlieferungskomplex, dem auch die eng mit E zusammengehenden Fragmente Ux* angehören, aufweist (vgl. Cormeau-Ausgabe, Anm. 1, S. XVII). Schon von Kraus 1935 (Anm. 10), S. 221, hielt „engellant" statt „ungerlant" für einen bewußten Eingriff eines Schreibers.
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Elmar Willemsen
An dieser Stelle soll die Analyse der einzelnen Fassungen nun abgebrochen werden. Es läßt sich zusammenfassend konstatieren, daß jede der Fassungen für sich genommen durchaus sinnvoll ist, aber ein jeweils anderes Bild des Autors Walther evoziert. Sowohl in A als auch in C singt Walther das Lied erkennbar mit der Absicht, Lohn - vermutlich Annerkennung oder Aufnahme in die Hofgesellschaft - zu erringen. Dabei bedient er sich kunstvoll des Spiels mit verschiedenen Rollen. Falls man die Schlußstrophe von C tatsächlich als verschlüsselte Klage über die Entlohnungsbereitschaft eines Hofes lesen möchte, so wird in C gegenüber A das selbstbewußte Auftreten relativiert - dieser Walther scheint sich der Kluft zwischen den im Sang eingenommenen Rollen und der sozialen Realität stärker bewußt (oder er spricht sie offener an). In beiden Fassungen sind Bezüge zum österreichischen Raum erkennbar geblieben, nicht jedoch in der Ε-Fassung. Der Walther dieser Fassung scheint als Hauptziel die Lobpreisung der Deutschen zu verfolgen. Gegenüber A und C sind persönliche und lokale Bezüge zurückgenommen, dafür wird der Ton gegenüber Kritikern der Deutschen deutlich verschärft. Damit bereitet sich in dem WaltherBild dieser Fassung die .national' geprägte Rezeption späterer Jahrhunderte bereits vor. Diese Ergebnisse sind vorläufig - eine umfassende Analyse müßte die Textfassungen viel ausführlicher untersuchen. So ist z.B. das Auftreten von intertextuellen Bezügen zu anderen Walther-Liedern oder Texten von Reinmar dem Alten, Neidhart oder von Morungen nicht berücksichtigt worden. Die geleistete Konturierung der Waltherbilder wäre also weiter zu ergänzen, doch dafür reicht die Zeit eines Vortrages - bzw. der Raum, den dieser Aufsatz einnehmen kann - nicht aus. Ich hoffe jedoch, daß verdeutlicht werden konnte, welche Lesehaltung ich gegenüber einer synoptischen Ausgabe für sinnvoll halte. Die ermittelten Autorbilder sollten freilich nicht Selbstzweck sein, sondern Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen, beispielsweise über die Mechanismen von Varianz und Konstanz in der Überlieferung. Es bleibt festzustellen: Auf richtige Weise verwendet, stellen synoptische Ausgaben ein wertvolles Instrument der Forschung dar.
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Über den Gebrauch von synoptischen Ausgaben Anhang
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Eberhard Sauermann
Probleme der Autorisation bei Trakl
Wenn man unter .Autorisation' die .Ermächtigung' versteht, die der Autor einem Text bzw. Textteilen (wie etwa Korrekturen) gibt, „der von ihm verfaßte und damit der von ihm gewollte Text zu sein",1 wenn man als .autorisiert' im editionsphilologischen bzw. editorischen Sinn die „durch den Autor selbst oder zumindest unter dessen unmittelbarer Mitwirkung" hergestellten Textzeugen2 oder „alle vom Autor oder in seinem Auftrag von anderen angefertigte[n] Textträger (Handschriften, Typoskripte, Drucke usw.)" ansieht, weil sie „einen zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Autor gebilligten Text" enthalten,3 kann man erfreut feststellen, daß es bei einer Trakl-Ausgabe kaum Probleme gibt. Die Frage, ob eine Autorisation auch dann vorliegt, wenn die Billigung unter dem Druck der Zensur erfolgt ist, stellt sich zwar bei den Ausgaben von Fühmanns Trakl-Essay,4 aber nicht bei einem Werk Trakls, da das einzige, dessen Veröffentlichung nachweislich von der Zensur beeinflußt wurde (das Drama Fata morgana), nicht erhalten ist, weil Trakl es nach dem Mißerfolg der Uraufführung verbrannt hat. Schon Killy/Szklenar konnten sich bei ihrer TraklAusgabe5 größtenteils auf eigenhändige Texte Trakls stützen und die wenigen von anderen angefertigten Textträger als in seinem Auftrag entstanden ansehen. Allerdings ist ihre Bestimmung von .autorisiert' widersprüchlich: einerseits heißt es, „E" bedeute „Erstdruck oder autorisierter späterer Druck", andererseits wird ein nach dem Tod Trakls erschienener Druck als „nicht autorisierter Druck" bezeichnet; die Veröffentlichung von Grodek im Brenner-Jahrbuch 1915, für die Trakl die Druckvorlage geliefert hat, wird genauso mit „E" markiert wie die Veröffentlichung von fünf Fassungen von Nachtergebung, die Killy 1963 anhand der im Nachlaß vorgefundenen Handschriften durchgeführt hat.6 '
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Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: Ders.: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. Bd. 1), S. 68-81, hier S. 69. Klaus Grubmüller, Klaus Weimar: Autorisation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmiiller und Jan-Dirk Müller hrsg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 183. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einfuhrung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 137. Eberhard Sauermann: Fühmanns Trakl-Essay - das Schicksal eines Buches. Zur Autorisation der Ausgaben in der DDR und der BRD. Bern, Berlin, Frankfurt/Main, New York, Paris, Wien 1992 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. Bd. 3). Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar. 2 Bde. Salzburg 1969,2. erg. Aufl. 1987. Trakl, Dichtungen und Briefe (Anm. 5), Bd. 2, S. 31, 33, 311 und 305.
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Eberhard
Sauermann
In der Innsbrucker Trakl-Ausgabe7 wird unter „Siglen und diakritische Zeichen" an vorderster Stelle neben der „Textstufenzählung" (1, 2, 3 usw.) die „Materialsigle" genannt, aus der nicht nur hervorgeht, ob die betreffende Textstufe handschriftlich, maschinschriftlich oder gedruckt vorliegt, sondern auch, ob sie von Trakl oder einer fremden Person geschrieben wurde (H/h, T/t). Das Kriterium der Autorisation wird jedoch nur bei Drucken angeführt: „D = autorisierter Druck", „d = nicht autorisierter Druck". Vorhandene oder fehlende Autorisation wird in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe freilich auch bei Texten konstatiert, die von fremden Personen geschrieben wurden. Bei der von Ludwig v. Ficker offenbar per Diktat angefertigten Niederschrift von An Johanna heißt es, sie habe als autorisiert zu gelten,8 bei seiner Abschrift von Lebensalter heißt es, deren Autorisation müsse offenbleiben.9 Als autorisiert wird der von Ficker verfaßte und geschriebene Brief an Kurt Wolff vom 10. April 1914 angesehen, den Trakl mit seiner Unterschrift versehen hat.10 Editorisch relevant sind für uns darüber hinaus einige Abschriften von Gedichten Trakls, bei denen ein Auftrag zur Anfertigung nicht belegt ist: das betrifft als Druckvorlagen für den Brenner verwendete Abschriften Fickers in jenen Fällen, wo die Überlieferung unklar oder dürftig ist (Offenbarung und Untergang und Neige)·,11 ferner einige nicht autorisierte Abschriften, die als .Stellvertretertexte' dienen (Abschriften Arthur Langens, des späteren Ehemanns von Trakls Schwester Greti, die Ende 1910/Anfang 1911 in Hinblick auf eine geplante Ausgabe von frühen Gedichten Trakls entstanden sein dürften, und Abschriften Ilse Demmers von 1933 und Felix Brunners von 1937). Bezieht der Autor andere Personen in den Produktionsprozeß eines Textes ein, indem er einem Verlag ein Manuskript zum Druck übergibt, stellt sich die Frage, wieweit und unter welchen Bedingungen die Autorisation auch auf eine nicht von ihm selbst hergestellte Version übergehen kann. Scheibe meint dazu: „Oberstes Kriterium dafür, daß in allen diesen Fällen ebenfalls autorisierte Textfassungen entstehen bzw. vorliegen, ist, daß die von einer fremden Person hergestellte Textfassung vom Autor veranlaßt worden ist, daß also die betreffende Textform dem Willen und der Entscheidung des Autors entspricht"; bei einem Druck sei neben dem Wunsch oder der Billigung des Autors „entweder die Lieferung bzw. mindestens die Bestimmung der Druckvorlage oder die von ihm oder anderen in seinem Auftrag vorgenommene Korrektur des betreffenden Drucksatzes erforderlich"; hingegen ändere eine allfällige Inkorrektheit der Wiedergabe des Textes an der Autorisation nichts.12 Was Scheibe als „gesellschaftliche" oder „kollektive" Autorisation bezeichnet - im Unterschied zur „persönlichen" bei einem Autographen -, 13 wird im Reallexikon der deutschen Lite7
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Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Hrsg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Basel, Frankfurt/Main 1995ff. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. IV. 1, S. 173. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. IV.2, S. 313. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. V (in Vorbereitung). In den anderen Fällen sind die als Druckvorlagen für den Brenner verwendeten Abschriften Fickers (Abendland II, Das Gewitter, Föhn, Frühling der Seele II, In Hellbrunn, Jahr, Siebengesang des Todes) fur uns nicht editorisch relevant. Scheibe 1997 (Anm. 1), S. 73 und 75. Scheibe 1997 (Anm. 1), S. 77.
Probleme der Autorisation bei Trakl
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raturwissenschaft „juristische" genannt: „die ausdrückliche, z.B. durch das Imprimatur bekundete Genehmigung des Autors, eine Textgestalt zu vervielfältigen oder zu veröffentlichen, ohne daß sich die Billigung auf jedes einzelne Element dieser Textfassung erstrecken muß".14 Der überzeugenden Definition Scheibes scheint unsere Auffassung von .autorisiert' in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe zu widersprechen. Denn bei einigen Texten (De profundis II, Ein Herbstabend und Siebengesang des Todes) heißt es, die Varianten bzw. Abweichungen von der Druckvorlage hätten als autorisiert zu gelten, da Trakl den Korrekturbogen bzw. die Korrekturfahnen durchgesehen habe,15 bei einem anderen Text (Abendland II) heißt es, der Sonderdruck des Brenner sei höchstwahrscheinlich nicht autorisiert, was die Unterschiede gegenüber dem Textstand im Brenner erkläre.16 Im ersten Fall bräuchte es diese Begründung nicht, da die betreffenden Drucke (im Verlagsalmanach des Kurt-Wolff-Verlags Das bunte Buch, in Gedichte und im Brenner) autorisiert sind, im zweiten Fall kann die Billigung des Drucks und die Lieferung der Druckvorlage durch Trakl vorausgesetzt werden - auch wenn eine Prüfung der Korrekturfahnen durch ihn nicht erfolgt sein dürfte. Unsere hier geäußerte Auffassung scheint sich eher an der Definition im Sachwörterbuch der Literatur zu orientieren: autorisierte Varianten seien „vom Autor als gültig und mit seinem Wissen vorgenommen erklärte Änderungen von fremder Hand", nicht autorisierte Varianten seien „Druckfehler".17 Tatsächlich stimmt sie mit der Definition von .Authentizität' im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft überein: das Prädikat,Authentizität' komme einem Text nur dann zu, wenn er „in allen seinen Einzelheiten von seinem Autor stammt", während Texte wie ein pauschal durch Imprimatur gebilligter Druck nicht von vornherein als authentisch gelten könnten;18 oder auch mit der sich auf Bein berufenden Definition von .authentisch' in der neuesten Ausgabe des Sachwörterbuchs der Literatur: .authentisch' sei in der Textkritik „ein in allen Einzelheiten echter, zuverlässiger Text in der vom Autor, evtl. durch Autorisation, gewollten und gegebenen Form".19 Ein besonderer Fall ist das Kaspar Hauser Lied: hier heißt es, der Schlußvers habe in der Brenner- Version als autorisiert zu gelten, da Trakl weder eine Druckfehlerberichtigung im nächsten Brenner-Heft verlangt noch fur sein Buch Sebastian im Traum diesen Vers geändert habe.20 (Außerdem hat er auch nicht in Gesprächen, Notizen oder Briefen sein Mißfallen am Druck im Brenner kundgetan.) In einer Untersuchung des Kaspar Hauser Lieds habe ich Zweifel an der Autorisation des
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Grubmüller/Weimar 1997 (Anm. 2), S. 182. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. II, S. 111 und 379, Bd. IV.1,S. 137. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. IV. 1, S. 232. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 7. Aufl. Stuttgart 1989, S. 69 (ebenso 8. Aufl. Stuttgart 2001, S. 63). Klaus Grubmüller, Klaus Weimar: Authentizität. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, 1997 (Anm. 2),S. 168. Wilpert 2001 (Anm. 17), S. 59. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. III, S. 313.
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Eberhard Sauermann
Schlußverses mit dem Wortlaut „Silbern sank des Ungebornen Haupt hin" geäußert.21 Diese Frage ist schon deshalb von Belang, weil sich die Trakl-Forscher bei ihren (naturgemäß unterschiedlichen) Interpretationen nicht zuletzt auf diesen Vers stützen.22 Zur Erläuterung von Trakls Brief vom 12. November 1913 merkt Ficker 13 Jahre danach an, daß die in diesem Brief überlieferte (letzte) Fassung des Gedichts („Eines Ungebornen sank des Fremdlings rotes Haupt hin") von Trakl dann zugunsten der ursprünglichen - gemeint ist die vom vorhergehenden Brief („Silbern sank des Ungeborenen Haupt hin") - wieder verworfen worden sei.23 Fickers Aussage bereitet mehr Probleme, als sie lösen möchte, zumal die Brenner-Version nicht identisch ist mit der des Briefs vom 11. November („Ungebornen" statt „Ungeborenen"). Er dürfte sich geirrt haben, wie die Rekonstruktion des Druckvorgangs des Gedichts in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe ergibt.24 Es spricht viel dafür, daß Trakls zuletzt gelieferte Druckvorlage (die Ficker vorliegende Reinschrift zusammen mit den im Brief vom 12. November übersandten Änderungen) nicht in allen Teilen berücksichtigt worden ist, genauer gesagt, daß wegen des Drucktermins der überlange Schlußvers nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Im editorischen Bericht werden wir eine mißverständliche Bezeichnung zurechtrücken: In der Entstehungsgeschichte von Ruh und Schweigen und Traum und Umnachtung werden Varianten im Brenner, die von Trakl vielleicht erst nachträglich akzeptiert wurden, als „passiv autorisiert" bezeichnet25 - in Übereinstimmung mit Oellers, der darunter „vom Autor gebilligte, wenn auch nicht von ihm stammende Eingriffe in seinen Text" versteht.26 Das sollte besser (wie bei Siebengesang des Todes) „autorisiert" heißen, allein schon wegen der unterschiedlichen Verwendung des Terminus: nach Woesler wäre „passive Autorisation" dann gegeben, „wenn der Autor mehr oder weniger freiwillig einem anderen generelle Anweisungen gab, ihm z.B. die Interpunktion oder das Feilen einzelner Stellen überließ, und dieser dann der Intention des Autors nicht ganz gerecht wurde",27 nach dem Sachwörterbuch der Literatur dann, wenn der Autor „eine möglicherweise unbemerkte Textentstellung" hinnahm;28 Scheibe verzichtet auf die Unterscheidung zwischen , aktiver' und .passiver4 Autorisation, da die Autorisation unteilbar sei.29 Unsere Bestimmung von ,nicht autorisiert' bei Drucken orientiert sich an den Kriterien .fehlende Beauftragung einer fremden Person mit der Drucklegung' und ,feh-
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Eberhard Sauermann: Trakls Kaspar Hauser Lied. Ein Kommentar. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112, 1993, S. 215-230, hier S. 224f. Eberhard Sauermann: Trakls Kaspar Hauser Lied in der Forschung. Zur philologischen Behandlung eines Mythos. In: Euphorion 88, 1994, S. 448-457, hier S. 449f. Ludwig von Ficker (Hrsg.): Erinnerung an Georg Trakl. Innsbruck 1926, S. 147. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. III, S. 312f. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. III, S. 245, Bd. IV. 1, S. 25. Norbert Oellers: Edition. In: Dieter Gutzen, Norbert Oellers, Jürgen H. Petersen: Einfuhrung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. 6. Aufl. Berlin 1989, S. 104-125, hier S. 112. Winfried Woesler: Textkritik (Edition). In: Handlexikon zur Literaturwissenschaft. Hrsg. von Diether Krywalski. München 1974, S. 4 7 1 ^ 7 5 , hier S. 473. Wilpert 1989 (Anm. 17), S. 69. Scheibe 1997 (Anm. 1), S. 79.
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lende Druckvorlage'. Drucke, bei denen eine Lieferung bzw. Bestimmung der Druckvorlage nicht belegt oder erschlossen werden kann, sind für uns im allgemeinen ohne editorische Relevanz. Als „nicht autorisierte Drucke" gelten in der Innsbrucker TraklAusgabe die im Sammelband Erinnerung an Georg Trakl30 und in der Sammlung von Jugenddichtungen Aus goldenem Kelch31 erschienenen Texte, ferner die posthum veröffentlichten Briefe Trakls. Hingegen gelten jene Texte, die zwischen 1906 und 1915 in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind, als autorisiert, wenn Trakl ihren Druck gewünscht bzw. gebilligt und eine Druckvorlage geliefert bzw. bestimmt hat. Das betrifft auch jene Publikationsorgane, von denen er höchstwahrscheinlich (Matura-Zeitung der Maturanten des Gymnasiums in Krems, Phöbus und teilweise Salzburger Volksblatt) oder sicher (Neues Wiener Journal und Reichspost) keine Korrekturfahnen erhalten hat. Dazu wäre sogar der Brenner zu rechnen, da Trakl von seiner ersten Veröffentlichung ( Vorstadt im Föhn) erst durch Buschbecks Brief vom 13. Mai 1912 erfahren hat, in dem dem (wohl überraschten) Trakl erklärt wird, wie es dazu gekommen ist.32 (Trakl hatte das Gedicht in einer neuen Version Mitte Jänner 1912 an Buschbeck geschickt, der es offenbar Robert Müller, einem Kollegen im Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien, übergeben hat, wohl mit der Bitte, er möge sich für dessen Veröffentlichung einsetzen. Müller dürfte Trakls Gedicht nicht lange vor dem 18. April 1912 Ficker geschickt haben, der es im Brenner vom 1. Mai 1912 veröffentlichte.) Der Sammelband Erinnerung an Georg Trakl ist für uns beim Gedicht Die Nacht der Armen editorisch relevant, von dem sonst nur noch eine nicht autorisierte Abschrift Buschbecks vorliegt; der handschriftliche Textzeuge Trakls, der nicht nur für diese Abschrift, sondern wohl auch für den Druck die Vorlage bildete, ist verschollen. Ferner bei den Gedichten Seele des Lebens und Traum des Bösen, aus deren frühesten, nicht überlieferten Versionen in Erinnerung an Georg Trakl zitiert wird.33 Anders verhält es sich beim Gedicht Melancholie II, dessen (erhaltene) Reinschrift Trakl als Druckvorlage betrachtet haben dürfte. Da jedoch das im Mai 1914 entstandene Gedicht zu Lebzeiten Trakls unveröffentlicht blieb und auch nicht im BrennerJahrbuch 1915 gedruckt wurde, muß man annehmen, daß Trakl den Veröffentlichungswunsch wieder zurückgezogen hat. Deshalb wird in der Entstehungsgeschichte des Gedichts auf den Druck in Erinnerung an Georg Trakl hingewiesen, aber dieser Druck wird nicht unter den Textzeugen verzeichnet.34 Generell ist bei den Veröffentlichungen von Trakls Dichtungen im Brenner davon auszugehen, daß der Druck auf Wunsch Trakls und aufgrund einer von ihm gelieferten Druckvorlage erfolgt ist. Außerdem hat Trakl im allgemeinen Korrekturfahnen erhalten oder hätte zumindest eine Überprüfung vornehmen können. Es gibt nur wenige Ausnahmen: Trakl dürfte jene handschriftlichen Reinschriften von Gedichten bzw.
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Ficker 1926 (Anm. 23). Georg Trakl: Aus goldenem Kelch. Die Jugenddichtungen. Hrsg. von Erhard Buschbeck. Salzburg, Leipzig 1939. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. I. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. I. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. IV.2, S. 191.
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Prosagedichten, die er im Sommer 1914 angefertigt hat (Die Schwermut, Die Heimkehr, Klage I, Nachtergebung und Im Osten; die von Offenbarung und Untergang ist verschollen), Ficker als Druckvorlagen für den nach der Sommerpause zu erwartenden, aber durch die Kriegsereignisse verschobenen und letztlich erst im Juni 1915 als Jahrbuch erschienenen Brenner übergeben haben. Beim Aphorismus Gefühl... bezeugt Fickers Bericht im Brenner von 1954 eine Übergabe unmittelbar vor Trakls Abfahrt an die Front; von einem Veröffentlichungswunsch ist dabei zwar nicht die Rede, er kann aber vorausgesetzt werden. Daß die Drucke aller im Brenner-Jahrbuch 1915 erschienenen Texte Trakls in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe mit „d" markiert sind,35 ist auf ein Mißverständnis zurückzufuhren. (Darauf werden wir im editorischen Bericht hinweisen.) Das betrifft auch Klage II und Grodek, bei denen der Veröffentlichungswunsch Trakls sogar schriftlich vorliegt: in seinem ersten Brief an Ficker vom 27. Oktober 1914 nennt er sie (in Anspielung auf das Gespräch über den nächsten Brenner bei Fickers Besuch in Krakau) die „versprochenen" Gedichte.36 Die Abweichungen des Drucks37 von der Druckvorlage gehen auf Lesefehler des Setzers oder auf eine Normalisierung durch Ficker zurück. Wahrscheinlich hatte Trakl kurz vor seinem Selbstmord gar nicht mehr mit Korrekturfahnen gerechnet, weshalb er sich bemühte, die Gedichte in lateinischer Schrift statt wie üblich in deutscher (Kurrent-)Schrift abzuschreiben, um eine zuverlässige Wiedergabe im Druck zu gewährleisten.38 Was den Band Aus goldenem Kelch betrifft, so gilt als erwiesen, daß Trakl Buschbeck im August/September 1909 eine Sammlung von Gedichten übergeben hat.39 Das dürfte mit der Bitte verbunden gewesen sein, sie einem im Literaturbetrieb Tätigen vorzulegen, und wohl auch mit der Hoffnung, wenigstens einzelne daraus zu veröffentlichen. Belegt ist nur Trakls Reaktion auf eine Mitteilung Buschbecks in seinem Brief vom 1./2. Oktober 1909: Ich danke dir herzlichst für die liebenswürdige Verwendung bei H. Bahr, die für mich unter allen Umständen ein bedeutsames Ereignis vorstellen wird, da sie meine Gedichte zum erstenmal einem bedeutsamen Kritiker zukommen läßt, dessen Urteil mir in jedem Fall von großem Wert erscheint, wie auch sein Urteil ausfallen möge. Alles, was ich von ihm erhoffe ist, daß seine geklärte und selbstsichere Art, meine ununterbrochen schwankende und an allem verzweifelnde Natur um etliches festigt und klärt. Und was auch könnte ich mehr erwarten, als dies! 40
Bahr veranlaßte wenig später die Veröffentlichung dreier Gedichte aus dieser Sammlung im Neuen Wiener Journal. Hingegen stellt sich die Frage, ob Trakl Buschbeck damals mit einer Veröffentlichung der Sammlung als ganzer beauftragt oder dies 35
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Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. IV.2, S. 49f., 215f„ 233f., 289f., 304f„ 319, 323, 327f. und 333f. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. V. Klage II: Punkt nach „Leib" V. 6; Grodek·. „Düster" statt „Düstrer" V. 4, Beistrich nach „wohnt" V. 8 und nach „Altäre" V. 15. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. IV.2, S. 333. Vgl. Hermann Zwerschina: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990 (Innsbrukker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. Bd. 41), S. 59ff. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. V.
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noch zu seinen Lebzeiten bekräftigt hat. Buschbeck behauptet in seinem Vorwort, daß diese Sammlung „für den Druck bestimmt" gewesen sei und „das Interesse eines Verlegers" habe wecken sollen. Außerdem behauptet er, Trakl habe die Sammlung sogar noch nach der Annahme seiner Gedichte durch Kurt Wolff (entgegen seiner sonstigen Gewohnheit bei .verworfenen' Gedichten) von ihm nicht zurückverlangt, sondern sie ihm mit der Bemerkung überlassen, daß er mit ihr nach seinem Gutdünken verfahren könne.41 Offenbar hatte Buschbeck Trakls Brief vom 27. Juni 1911 vergessen, in dem dieser die Sorge äußert, seine Schwester Greti könnte mit den Abschriften, die er ihm einmal „in einem Anfall von Kritiklosigkeit überlassen" habe, „phantastische Versuche" unternehmen, und die Bitte, „nichts aus der Hand zu geben, da ich nicht dulden kann, daß ohne meine Zustimmung irgend etwas unternommen wird, wozu ich die Zeit noch nicht gekommen erachte", sowie den Wunsch, ihm „diese verfluchten Manuskripte" zurückzuerstatten.42 Buschbeck kam diesem Wunsch nicht nach, jene Abschriften, mit denen die .Sammlung 1909' gemeint sein dürfte, wurden 1945 beim Brand des Burgtheaters vernichtet. Dieser Brief Trakls war nicht unter denen, die Buschbeck Ficker für den Sammelband Erinnerung an Georg Trakl zur Verfügung gestellt hatte, obwohl er diesem am 18. Oktober 1925 versichert hatte, das Übersandte sei alles, was er von Trakl an Korrespondenz besitze.43 Wahrscheinlich hatte er ihn nicht zu den Briefen Trakls gezählt, da es sich dabei eigentlich um ein Schreiben Ludwig Ullmanns handelt, dem Trakl nur etwas hinzugefügt hat. (Der Brief wurde erst von Killy/Szklenar veröffentlicht.) Außerdem spricht nichts dafür, daß Trakl seit der Annahme seiner Gedichte durch Kurt Wolff (1913) seine Sammlung früher Gedichte hätte veröffentlichen wollen; in seinen ersten Gedichtband Gedichte übernahm er aus ihr nur zwei ( Verfall II und Musik im Mirabell, beide in einer im Herbst 1912 erfolgten Überarbeitung). Dazu kommt, daß seit Sommer 1913 die Beziehung zwischen Trakl und Buschbeck gestört war, jedenfalls bricht die Korrespondenz abrupt ab. Das könnte in der Intensivierung der Freundschaft Buschbecks mit Bahr begründet sein, die Trakl „aus dem Blickwinkel von Kraus" habe ablehnen müssen, oder was der Trakl-Biograph Weichselbaum eher vermutet - mit einer Affäre zwischen Buschbeck und Trakls Schwester Greti, auf die Trakl „mit eisiger Ablehnung" reagiert habe.44 Entscheidend scheint mir der Widerspruch zwischen Buschbecks Erklärung zum Druck der Sammlung im Vorwort des Bandes Aus goldenem Kelch und seiner Aussage in seinem Brief an Ficker vom 17. November 1938 zu sein: in dem ihm von Trakl 1909 Übergebenen sehe er viel Unreifes, das Trakl verworfen hätte, aber auch manchen für dessen Werden charakteristischen Vers, weshalb er nie den Mut hätte, diese Blätter zu vernichten, sondern daran gedacht habe, maschinschriftliche Abschriften herstellen zu lassen und den germanistischen Seminaren einiger Universitäten zu
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Trakl, Aus goldenem Kelch (Anm. 31), S. 5. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. V. Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck, Signatur 5/4-1. Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1994, S. 150.
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Studienzwecken zu übergeben.45 (Diese Abschriften hatte Demmer in seinem Auftrag angefertigt.) Also kein Wort davon, daß Trakl ihn mit der Veröffentlichung der Sammlung beauftragt habe. Deshalb hat meines Erachtens Buschbecks Aussage, Trakl habe auch nach 1913 den Druck der ,Sammlung 1909' gewünscht, jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit verloren. Der als nicht autorisiert anzusehende Band Aus goldenem Kelch ist für uns nur bei Gedichten editorisch relevant, bei denen der Druck Stellvertreterfunktion hat, sei es daß er auf eine (verschollene) frühere Version zurückgeht oder den einzigen Textzeugen darstellt, sei es daß sonst nur noch ein von Trakl höchstwahrscheinlich nicht korrigierter Druck oder eine Abschrift vorliegt. Unsere Einschätzung des Bandes Aus goldenem Kelch hat etwa zur Folge, daß in der Entstehungsgeschichte des titellosen, auf einen Briefumschlag geschriebenen Gedichts Es geht ein alter Weg... daraufhingewiesen wird, daß Buschbeck das Gedicht in Aus goldenem Kelch unter dem nicht autorisierten Titel An Mauern hin veröffentlicht hat, aber dieser Druck nicht unter den Textzeugen verzeichnet wird.46 Die Veröffentlichung des Gedichts Abendlicher Reigen in der Wiener Tageszeitung Die Zeit vom 19. Oktober 1913 (Die Sonntags-Zeit. Belletristische Beilage) hat offenbar Trakls Ärger hervorgerufen, wie aus der „im Interesse und im Namen des Dichters" vorgebrachten Feststellung Fickers im Brenner vom 1. November 1913 hervorgeht: abgesehen davon, daß nach zwei Jahren „ein Abdruck kaum mehr zu gewärtigen" gewesen sei, stelle die Art dieser Veröffentlichung „eine Ungehörigkeit", einen Akt .journalistischer Willkür" dar, da „die wesentlichste Strophe", die einzige, um derentwillen „dem Verfasser das Gedicht heute noch der Veröffentlichung wert erscheinen könnte", „glattweg gestrichen" worden sei.47 Dieses Gedicht hatte Trakl vielleicht schon bald nach dessen Entstehung, im Herbst 1910, jedenfalls spätestens 1911 an die Redaktion der Zeit geschickt, Ende 1912 hatte er es vorübergehend für seinen ersten Gedichtband vorgesehen, im Oktober 1913 wollte er es offenbar nicht mehr veröffentlicht sehen, schon gar nicht in einer verstümmelten Version. (Vollständig erschien es erst posthum.) Seit Trakl sein Mißfallen am Druck in der Zeitung kundgetan hat - was man als Kritik oder als Widerruf bewerten kann - , ist nach Scheibes Definition dessen Autorisation erloschen.48 Und zwar unabhängig davon, daß Trakl seit der Übersendung der Druckvorlage von diesem Gedicht weitere, veränderte Textstufen verfaßt hat. Scheibe vertritt die Auffassung, für den Autor sei im Lauf des Produktionsprozesses nur die jeweils letzte von mehreren Textfassungen, „also die aktuelle Form des Textes", der „autorisierte Text", während die vorangehenden nur „erledigte Durchgangsstufen" seien, auf dem Weg zu einer „möglichst vollkommenen" Textfassung; das gelte allerdings nur bis zu seinem Tod, denn der beraube ihn der Fähigkeit, „eine
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Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1926-1939. Hrsg. von Walter Methlagl u.a. Innsbruck 1991 (Brenner-Studien. Bd. 11), S. 326f. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. II, S. 399. Außerdem wurde dort statt einem Beistrich dreimal ein Punkt und einmal ein Gedankenstrich gesetzt, zweimal ein Apostroph eingefügt und „Möwen" mit „w" statt mit „v" geschrieben. Scheibe 1997 (Anm. 1), S. 76f.
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erneute Willensentscheidung über seinen Text zu treffen". Für den Editor hingegen seien „alle diese zu ermittelnden Textfassungen gleichwertig", da er jede als „autorisierten Text" erkenne, der für den Autor „während eines bestimmten Zeitraums den Text seines Werkes" ausgemacht habe, mit anderen Worten: „da sie jeweils über einen bestimmten Zeitraum hin für den Autor gültig waren und für ihn das Werk repräsentierten"; außerdem ergäben sich für ihn bei der (produktionsästhetisch verfahrenden) Bestimmung der Autorisation keine Unterschiede zwischen Entwürfen und Druckvorlagen.49 Die Rekonstruktion der Entstehung des Gedichts Traum des Bösen ergibt einen überraschenden Befund. Abgesehen von einer verschollenen Version des wahrscheinlich Ende 1911/Anfang 1912 entstandenen Gedichts,50 die den Titel Traumsonett aufgewiesen haben soll,51 liegt das Gedicht in folgenden Textstufen vor: 1. als Korrekturfahne des Brenner (ein Probedruck mit handschriftlich nachgetragenem Titel), die Ende November/Anfang Dezember 1912 als Druckvorlage für den Band Gedichte verwendet worden sein dürfte; 2. als Druck in dem im Juli 1913 erschienenen Gedichtband; 3. als Überarbeitung (vor allem der 1. Strophe) in einem Exemplar dieses Bands, das Trakl einem seiner Bekannten im August 1913 geschenkt hat; 4. als Überarbeitung der 1. Strophe, die Trakl in seinem zweiten Brief vom 27. Oktober 1914 Ficker mitgeteilt hat. Die erstgenannte Überarbeitung ist dadurch gekennzeichnet, daß Trakl zwar einige Wörter bzw. Wortgruppen in manchen Versen .ungültig' machte, indem er sie strich und den ersetzenden Text daneben- und darüberschrieb, aber eine neue 1. Strophe unter dem gedruckten Text niederschrieb und die alte nicht strich, also nicht verwarf - und beide am Rand mit der Markierung „I. Str." versah. Die spätere Überarbeitung - Trakl nennt sie im besagten Brief „Korrektur", während er die vollständige Neufassung des Gedichts Menschliches Elend „Überarbeitung" nennt - hatte für ihn offenbar eine große Dringlichkeit, teilt er sie doch in seinem Abschiedsbrief mit, wie er es kurz zuvor mit Klage II und Grodek getan hat. Diese Änderungswünsche beziehen sich allerdings auf den Textstand im Band Gedichte, zielen also auf einen Neudruck eines bereits veröffentlichten Gedichts ab. (Das rechtfertigt im übrigen die Annahme, daß diese .Fassung letzter Hand' vielleicht schon Wochen später wieder .überholt' gewesen wäre, eine neue Version aber durch Trakls Tod nicht mehr realisiert werden konnte.) Die editorische Frage lautet: Soll man „einem edierten ,Werk' als notwendig fixiertem Endpunkt des Arbeitsvorgangs einen Apparat von gleichsam .schlechteren' Formulierungen und minderwertigen Artikulationsversuchen zur Seite" stellen, der dem Leser „den Eindruck einer allmählichen Verfertigung der optimalen Werkgestalt und einen quasi notwendigen Entwicklungsgang vermittelt", oder soll man „den Prozeß des Schreibvorgangs als ständig sich aus sich selbst gerierendes Hervorgehen von Sinn" präsentieren, in welchem Prozeß „der schließlich zum Druck gelangte Text 49 50 51
Scheibe 1997 (Anm. 1 ), S. 71 f. und 78. Vgl. Zwerschina 1990 (Anm. 39), S. 239. Die laut der Trakl-Ausgabe von Killy/Szklenar (Anm. 5, Bd. II, S. 73) durch Erwin Mahrholdt „bezeugte" Titel variante dürfte auf eine Erinnerung Fickers zurückgehen.
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einen relativ beliebigen Zustand bezeichnet"? 52 Nach unserer Auffassung besitzt eine flüchtige Niederschrift auf einem Zettel für einen gewissen Zeitraum - seien das Sekunden oder Monate - nicht weniger Gültigkeit und weist nicht mehr Vorläufigkeit auf als eine maschingeschriebene Reinschrift oder ein Druck. 53 Deshalb werden in der Innsbrucker Trakl-Ausgabe auch beim Gedicht Traum des Bösen alle Textstufen mit ihren Varianten geschlossen wiedergegeben. 54 In der Ausgabe von Killy/Szklenar hingegen kam hier das Prinzip der geschlossenen Wiedergabe der veröffentlichten Gedichtbände zum Tragen, sodaß Traum des Bösen in seiner sogenannten „1. Fassung" am Anfang von Band 1 und in seiner sogenannten „2." und „3. Fassung" unter .Doppelfassungen' am Ende von Band 1 wiedergegeben wird - und die dazugehörigen Varianten in Band 2.55 Dieser Befund wirft jedoch Fragen auf, die nicht mit seiner adäquaten Darstellung abgetan sind: Wieso hat Trakl in jenem GeÄcA/e-Exemplar nur dieses Gedicht überarbeitet? (Hat ihn der Beschenkte auf dieses Gedicht angesprochen? Bezieht sich Trakl in der Überarbeitung gar auf ihn?) Wieso nimmt er bei seiner letzten Überarbeitung nicht auf die vorangegangene Bezug? (Hatte er sie vergessen? Hielt er es nicht fur nötig, sie Ficker gegenüber zu erwähnen, weil sie damals nur fur den p r i vaten Gebrauch' gedacht war?) Wieso hat Ficker das Gedicht in seiner letzten Überarbeitung nicht im Brenner-Jahrbuch 1915 veröffentlicht? 56 Darüber hinaus scheint mir durch einen solchen Befund Scheibes Auffassung in Frage gestellt zu sein, der zufolge die Autorisation einer Textfassung „von der Niederschrift dieser Textfassung bis zu ihrer Ersetzung durch eine neue Textfassung oder bei einem Druck vom Zeitpunkt seines Erscheinens bis zur Publikation eines neuen Drucks, der gegebenenfalls einen vom Autor veränderten Text enthalten kann", bestehe. 57 Das würde nämlich bedeuten, daß die gedruckte Version fur Trakl seit der früheren Überarbeitung nicht mehr autorisiert gewesen, aber nach mehr als einem Jahr - unter Mißachtung der früheren Überarbeitung - in überarbeiteter Form wieder autorisiert worden wäre. Freilich könnte man sich bei der Bewertung dieses Befunds doch auf Scheibe stützen, der einräumt, daß auch fur den Autor „mehrere Textfassungen gleichberechtigt nebeneinander den verbindlichen Text enthalten können" 58 - sofern Scheibe das nicht nur auf das Nebeneinander von Original und Übersetzung oder von Druckfassung und Theaterfassung eines Dramas bezöge. Ein ähnliches Problem stellt sich beim Gedicht Musik im Mirabell: Im Oktober 1912 übergibt Trakl Ficker acht damals angefertigte Typoskripte zur Veröffentlichung im Brenner. Ein anderes damals entstandenes Typoskript, G 200 (Musik im 52
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Axel Gellhaus: Textgenese zwischen Poetologie und Editionstechnik. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Hrsg. von Axel Gellhaus zusammen mit Winfried Eckel, Diethelm Kaiser, Andreas Lohr-Jasperneite und Nikolaus Lohse. Würzburg 1994, S. 311-326, hier S. 313. Eberhard Sauermann: Dokumentation und Interpretation. Neue Möglichkeiten durch die Innsbrucker Trakl-Ausgabe. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116, 1997, S. 567-587, hier S. 568. Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. I. Trakl, Dichtungen und Briefe (Anm. 5), Bd. I, S. 29,358 und 359, Bd. II, S. 73-75. Erst bei der (posthumen) Wiedergabe des genannten Briefs in Erinnerung an Georg Trakl (Ficker 1926, Anm. 23, S. 167f.). Scheibe 1997 (Anm. 1), S. 76. Scheibe 1997 (Anm. 1), S. 77.
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Mirabell, Textstufe 4 T), hat er ihm jedoch nicht übergeben. (Es weist einige Änderungen gegenüber der Ende September/Anfang Oktober 1912 mit Bleistift vorgenommenen und wohl als Druckvorlage gedachten Überarbeitung der Textstufe 1 H, der noch unter dem Titel Farbiger Herbst stehenden Textstufe 3 H, auf.) Das könnte auf eine Unzufriedenheit mit dem letzten Textstand zurückzufuhren sein: wohl bald nach Niederschrift des Gedichts auf G 200 setzt Trakl neben die 4. Strophe, nur durch einen vertikalen Strich vom maschinschriftlichen Text getrennt, handschriftlich eine ebenfalls vierzeilige und im Kreuzreim geschriebene Strophe (Textstufe 5 H), ohne den früheren Textstand zu streichen - als ob er zuerst schauen wollte, in welcher Version das Gedicht wiederum eine .endgültige' Form finden könne. Offenbar war das eine nicht mehr und das andere noch nicht möglich: erst unter dem Titel Musik in Mirabell wurde das Gedicht wiederum für eine Veröffentlichung vorgesehen, die dafür gedachte maschinschriftliche Reinschrift (Textstufe 6 T) entstand im Zuge der Zusammenstellung der Druckvorlage der Gedichte für den Albert-Langen-Verlag Ende November/Anfang Dezember 1912. In der Innsbrucker Trakl-Ausgabe werden auch hier alle Textstufen mit ihren Varianten geschlossen wiedergegeben, sodaß solche ,Alternatiwarianten' ihren Eigenwert behalten.59
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Trakl, Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe (Anm. 7), Bd. I.
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Autor - Text - Aufführung F. Bruckners Stück Elisabeth von England und seine Wiener Inszenierung in der Regie von J. Gielen
Die Ausrichtung auf die szenische Auffuhrung ist ein wesentliches Gattungsmerkmal der Dramatik. Das konkrete dramatische Werk bedarf zwar nicht notwendig der szenischen Umsetzung und die theatrale Auffuhrung nicht der literarischen Vorlage, beide Kunstformen sind jedoch in der europäischen Tradition eng miteinander verbunden. Das Drama ist ohne das Theater kaum denkbar. Für die Dramenedition neuerer Autoren stellt sich dieser Zusammenhang als oft komplexe intermediale Beziehung dar. Sie bestimmt meist die Rezeptionsgeschichte der Dramen, erschöpft sich aber in vielen Fällen nicht darin. Denn häufig hat die Arbeit des Theaters bzw. die Arbeit des Autors mit dem Theater starke Auswirkungen auf die Textgenese und -geschichte von Dramen. Die aus solchen Arbeitszusammenhängen hervorgegangenen Textzeugnisse müssen bei der Edition auf ihre Relevanz geprüft und gegebenenfalls bei der Textkonstitution und bei der Verzeichnung der Varianten berücksichtigt werden. Authentizität und Autorisation sind dabei wichtige Kriterien für die Bewertung der Zeugnisse. Und es sind vor diesem Hintergrund auch weitreichende Entscheidungen über die Autor- und/oder Werkorientierung bei den Editionsprinzipien zu treffen. Bevor im folgenden diese Problemfelder anhand von Bruckners Elisabeth von England und ihrer Inszenierung am Wiener Burgtheater 1949 erkundet werden, sollen zunächst einige andere Beispiele aus der Bruckner-Edition einen Eindruck von dem Verhältnis des Autors zur Theaterpraxis vermitteln, denn dieses ist m.E. für seine Arbeitsweise und seinen Umgang mit den eigenen Texten von großer Bedeutung. Nach der Uraufführung des Stücks Krankheit der Jugend 1926 am Breslauer Lobe-Theater - Aufführungstitel war hierbei: Tragödie der Jugend - erhielt Bruckner einen Brief vom Regisseur, dem Intendanten der Vereinigten Theater Breslau. Er übersendet die ersten lokalen Kritiken und stellt bei dieser Gelegenheit das eigene Zutun und das seiner Truppe zum Erfolg der Aufführung pointiert hervor. Thalatta! Thalatta! - Wir haben's geschafft und ich und meine Mädeln und Buben, die gespielt haben, liegen vergnügt nebeneinander im rosaroten Wochenbettchen, während das neugeborene Brucknerische stolz und voll Lebenslust in die Welt kräht: ich bin da, Thalatta, Thalatta! Die „Volksbühnenhebamme", ohne die das Baby entschieden krepiert wäre, geht arrogant auf und ab, glücklich und provozierend, als ob sie gezeugt und geboren hätte - und nicht
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wir! - Also, Sie der Papa - Und kriegen noch Alimente! - Hoffentlich recht viel und von vielen Mama's! - Ihr herzlich ergebener Barnay'
Paul Barnay malt hier das geläufige Bild von Zeugung, Geburt und Geburtshilfe für die kollektive Hervorbringung des Theaterereignisses humorvoll aus. Bruckners Mitwirkung an der Inszenierung bestand nun ausschließlich darin, das Stück geschrieben und zur Verfugung gestellt zu haben. Eine scharf abgegrenzte Arbeitsteilung gab es jedoch beim Text insofern nicht, als die gespielte Textfassung an exponierter Stelle von der Vorlage Bruckners abwich, - zwar mit Einwilligung des Autors, aber in einer nicht von ihm gestalteten Form. Die idealtypische Konstellation von einem Autor, der den Text als Urheber allein verantwortet, und von Inszenatoren, die lediglich die szenische Realisierung bewerkstelligen, findet sich hier nicht. Um beim Bild zu bleiben: nicht alle Züge des kleinen ,,Brucknerische[n]" sind im einzelnen eindeutig dem Vater oder der Mutter zuzuordnen. Barnay hatte Bruckner in der Vorbereitungs- bzw. Probenphase der Inszenierung nach Breslau eingeladen. „Es liegt mir viel daran, dass Sie kommen", schreibt er und bittet dann um Stellungnahme zu folgenden Erwägungen: Der Stückschluss erscheint mir zu krass! Ich werde bemüht sein, ihn dramaturgisch und durch Regie so abzumildern, dass die Kraft bestehen bleibt und die Aufnahmefähigkeit des Publikums berücksichtigt wird. Vielleicht können Sie mir behilflich sein. 2
Bruckner nahm diese Einladung nicht an, wohl schon deshalb, weil er, bei diesem Stück erstmals sich hinter dem Pseudonym verbergend, seine Identität als der Berliner Theaterdirektor Theodor Tagger nicht preisgeben wollte; so griff er zu einer Ausrede. Er antwortet: Ich danke Ihnen sehr für die Einladung. Aber ich stehe in einem wichtigen Rigorosum. So sehr es mich zu Ihnen zieht, ich darf nicht gehen. Wegen des Stückschlusses vertraue ich mich Ihnen vollständig an. Ich bitte zu streichen, was Sie für zu krass halten. Vor allem Wendungen wie „Beiss in den Hals". Laden Sie auch die auswärtige Presse ein, Berlin und Wien? 3
Die Textfassung dieser Inszenierung ist nicht überliefert. Im Entwurfsmanuskript von 1925 wie auch im Erstdruck beim S. Fischer Verlag 1928 reizt die Hauptfigur Marie, von ihrem Lebensgefährten verlassen und durch den Selbstmord ihrer Freundin Desiree dann gänzlich seelisch zerrüttet, bewußt den sadistisch veranlagten Freder zum Lustmord. Sie fordert den Rasenden auf, ihr in den Hals zu beißen. Die Szene endet mit einem Schrei. Dieser Schluß wurde auch in Berlin 1928 am Renaissance-Theater gespielt. In der damaligen Theatermetropole stieß sich zwar ein Teil der Kritik an der Exaltiertheit des Schlusses, aber das Stück traf, vielleicht auch wegen der gezielten Tabubrüche, den Zeitgeschmack. Diese Berliner Erstaufführung unter der Regie von Gustav Härtung wurde ein sensationeller Erfolg und begründete Bruckners Ruhm als
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Brief von Barnay an Bruckner vom 18.10.1926; Ferdinand Bruckner Archiv, Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin (FBA) Sign. 909. Brief von Barnay an Bruckner vom 21.9.1926, FBA Sign. 909. Brief von Bruckner an Barnay vom 27.9.1926, FBA Sign. 909.
Autor - Text -
Auffuhrung
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Theaterautor. Die späteren Buchausgaben, die Ausgaben beim Wiener Sexl-Verlag 1948 und im selben Jahr beim Aufbau-Verlag, Berlin, enthalten den ursprünglichen Schluß. Erst ein späteres Bühnenmanuskript4 der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH gibt zusätzlich eine zweite Fassung der Schlußszene, in der fur Marie die Perspektive eines bürgerlichen Lebens an der Seite des brutalen und zynischen Freder angedeutet wird. Wie weit bei der Breslauer Inszenierung in den Text eingegriffen wurde, läßt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Die Änderungen müssen jedoch so gravierend gewesen sein, daß man Bruckners Einwilligung in einem Telegramm erbat, dort heißt es: „ermaechtiget durch depesche aenderung in tragoedie der jugend". 5 Eine Antwort Bruckners ist nicht überliefert, ein Hinweis auf ein Telegramm in einem Brief läßt jedoch die Annahme zu, daß er eine Reaktion nicht schuldig blieb.6 Legt man einen weiten, formalen Begriff der Autorisation zugrunde, wie ihn etwa Scheibe mit der „gesellschaftlichen oder kollektiven Autorisation" bestimmt und läßt man diese auch für Spielfassungen als Werkrepräsentanten gelten, muß die Breslauer Spielfassung als autorisiert gelten. Denn der Autor hat ausdrücklich „eine fremde Person veranlaßt, an seinem Text mitzuarbeiten".7 Es kann sogar vermutet werden, daß diese Fassung von ihm gebilligt wurde, obwohl nicht auszuschließen ist, daß im oben zitierten Telegramm lediglich erneut um eine pauschale Ermächtigung nachgefragt wurde. Authentisch in dem Sinne, daß der Text „allein vom Autor kommt", 8 ist die Fassung jedenfalls nicht. Die editorische Entscheidung, ob die Varianten dieser Fassung im Apparat der Ferdinand Bruckner-Ausgabe aufgenommen werden, ist wegen der Überlieferungslage nicht notwendig. Dieses Beispiel soll vielmehr Bruckners Einstellung zu Fragen seines geistigen Eigentums aufzeigen. Sie ist gekennzeichnet durch eine weitgehende Freigabe der Textgestalt seiner Stücke für das Theater. Diese Haltung findet sich nicht nur bei seinem vermeintlichen Debüt als Dramatiker, sondern auch auf der Höhe seines Erfolges gegen Ende der Weimarer Republik wie in den schwierigen Jahren des Exils und der Rückkehr. Einige seiner frühen Stücke waren bereits unter seinem bürgerlichen Namen Tagger mit mäßiger Beachtung aufgeführt worden. Als Direktor des Renaissance-Theaters und anschließend des Kurfurstendamm-Theaters führte er selbst Regie, 1924 kam er sogar auf ein Jahresergebnis von neun eigenen Inszenierungen. Nach dem Rückzug von seiner meist glücklosen Tätigkeit als Theaterdirektor im Jahre 1928 konzentrierte er sich auf die Arbeit als Stückeautor, behielt dabei aber stets engen Kontakt zum Theaterleben. Er hat nie ein eigenes Stück insze-
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Krankheit der Jugend. Bühnenmanuskript der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH, o.J. Telegramm vom 1.10.1926, FBA, Sign. 909. Brief Bruckners an Bamay vom 17.10.1926, FBA Sign. 909. Dort heißt es: „Das Telegramm werden Sie erhalten haben." Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio 4, 1990, S. 57-72, hier S. 71. Norbert Oellers: Authentizität als Editionsprinzip. In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikalischer und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Walther Dürr, Helga Lühning, Hartmut Steinecke. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie. 8), S. 4 3 57, hier S. 44.
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niert, gehört also nicht zu den Autor-Regisseuren, die editorisch ein Sonderproblem darstellen. Wie seine Tagebücher und Korrespondenzen belegen, versuchte er jedoch, wo es ihm geboten schien, Einfluß auf die Inszenierungen seiner Stücke zu nehmen. Er bemühte sich im Rahmen seiner Möglichkeiten vor allem dann einzugreifen, wenn die im Theaterbereich besonders wichtigen Entscheidungen über das Urauffuhrungstheater, die Positionierung im Spielplan, über den Regisseur und die Besetzung der Hauptrollen anstanden. Eine herausragende Bedeutung hatten für ihn in der Zeit der Weimarer Republik Aufführungen in Wien und Berlin, so wurde vertraglich geregelt, daß für Auffuhrungen in diesen beiden Städten das Einverständnis des Autors durch den S. Fischer Verlag einzuholen sei.9 Dort, wo sich Bruckner zu Inszenierungen seiner Stücke äußert, was in den Tagebüchern zeitweise häufig geschieht, wertet er hauptsächlich die Leistungen der Regie und der Schauspieler und registriert die Reaktionen des Publikums wie die Aufnahme durch die Kritik. Nur sehr selten finden sich Bemerkungen zum Umgang der Inszenatoren mit seinen Texten. Bei festgestellter Differenz von Text und Inszenierung werden dann nicht einzelne Textpartien, sondern der Gesamtcharakter oder zumindest Grundaspekte angesprochen. Unter dem 31.10.1930 notiert Bruckner anläßlich der Generalprobe zur Uraufführung der Elisabeth von England am Deutschen Theater, Berlin, in sein Tagebuch: „Vielfach verkleinert die Aufführung das Stück. Herrlich Werner Krauss, die Straub sehr gut. Gründgens sehr daneben. Wird das Stück für jene, die es nicht gelesen haben, erkennbar?" 10 Das ist eher ein vorsichtig geäußerter Zweifel an der Angemessenheit der Auffuhrung und kein Pochen auf strenge , Werktreue'. Der große Erfolg dieser Inszenierung von Heinz Hilpert scheint die Bedenken auch bald ausgeräumt zu haben. Seine Einstellung zu Strichen charakterisiert Bruckner in einem Brief an Gustav Härtung so: „sollte es irgend einen Autor geben, der über Striche unglücklich ist dieser bin ich nicht".11 Der Brief ist Teil einer umfangreichen Korrespondenz, in der sich Bruckner und der Regisseur Gustav Härtung über den Text und die Konzeption der Uraufführung von Bruckners erstem im Exil entstandenen Stück, Die Rassen, intensiv austauschen. Das Stück war vor seinem Abschluß angenommen worden, und Bruckner schickte aus Paris die jeweils fertiggestellten Szenen nach Zürich, wo mit den Proben bereits begonnen worden war. Kritik und Anregungen von Härtung und vom Direktor des Zürcher Schauspielhauses, Ferdinand Rieser, flössen in die Korrektur bereits bestehender Teile des Entwurfs wie in die Fortführung ein. Durch die Zwänge der räumlichen Entfernung ist diese Zusammenarbeit gut dokumentiert. Von den Inszenierungen am Deutschen Theater wissen wir, daß die Probenarbeit Auswirkungen auf Bruckners Überarbeitungen hatte, diese lassen sich aber meist nicht konkretisieren. Während bei den bisher angeführten Beispielen die Spielfassungen, also jene Textfassungen, die dem Publikum bei den Aufführungen vermittelt wurden, nicht erhalten sind, ist im Falle der Inszenierung der Elisabeth von England am Burgtheater, 9 10
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Vertrag zwischen Bruckner und dem Fischer Verlag, FBA Sign. 808. Tagebucheintrag vom 31.10.1930, FBA Sign. 1346. Brief von Bruckner an Härtung vom 12.11.1933, FBA Sign. 168.
Autor - Text - Aufführung
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Wien, im Jahre 1949 das Regiebuch 12 Josef Gielens überliefert. Das Stück hatte zu dieser Zeit bereits eine beachtliche Aufflihrungsgeschichte, schon die Uraufführung fand außer am Deutschen Theater in Berlin gleichzeitig in vier weiteren Städten statt. In Wien war es im Dezember 1930 am Volkstheater erstmals gegeben worden, und zahlreiche Übersetzungen und Auffuhrungen außerhalb des deutschsprachigen Raums hatten Bruckner eine gewisse internationale Bekanntheit verschafft. Die Rezeption Bruckners in der Nachkriegszeit ist stark durch dieses Stück geprägt. Vor allem in den fünfziger Jahren wird es häufig gespielt, mitunter sehr erfolgreich. Gielens Inszenierung steht am Anfang dieser Reihe, erst in den sechziger Jahre ebbt das Interesse an diesem Stück ab. Durch das Regiebuch können wir uns ein recht genaues Bild von der Regiekonzeption sowohl in szenischer wie in dramaturgischer Hinsicht machen. Es besteht aus einem eingestrichenen Typoskript des Textes - in der Fassung der Fischer-Ausgabe von 1930 - mit zwischengeschalteten Blättern, auf denen sich Anweisungen zur szenischen Gestaltung finden. Sie betreffen hauptsächlich das Bühnenbild, Positionen und Gänge, das gestisch-mimische Spiel und die Sprechweise. Auf den Typoskriptseiten sind neben den Strichen Zuordnungszahlen für die längeren Anweisungen auf den Zwischenblättern, Pausenzeichen, kurze Spielanweisungen, Unterstreichungen von Textpartien und von Regieanweisungen des Autors eingetragen. An wenigen Stellen wird, offenbar aus inhaltlichen Gründen, Text ersetzt oder eingefügt, so beginnt beispielsweise die Hofdame Anne das Gebet an die Heilige Jungfrau nicht wie in allen Buchausgaben mit „Heilige Mutter Maria" sondern mit dem Anfang des Ave Maria, „Gegrüßet seist du, Maria", und bei der Verkündung des Todesurteils über Essex wird aus „deren Gefangennahme versucht zu haben" verstärkend „deren Gefangennahme und Ermordung versucht zu haben". Die meisten Einfügungen und Umstellungen bringen jedoch lediglich durch Streichungen gestörte Satzkonstruktionen in eine grammatisch korrekte Form. Die Streichungen selbst dienen hauptsächlich der Straffung der Handlung. Sie sind sehr umfangreich, im ersten Akt sind etwa 10% des Textes gestrichen, im zweiten und dritten 30%, im vierten 50%, im fünften 60%. Die Verteilung der Kürzungen deutet an, daß man wahrscheinlich dem von Rezensenten mehrfach beschriebenen Spannungsabfall in der zweiten Hälfte entgehen wollte. Die Funktion der Striche im einzelnen ist schwer zu bestimmen. Wir können lediglich mehr oder weniger begründete Annahmen über die dramaturgischen Motive machen. In dem eingerichteten Text findet beispielsweise eine Konzentration auf die Haupthandlung statt, auf Dialoge von Nebenfiguren wird meist verzichtet. So sind etwa die Ausrufe der von Verschwörern angeheuerten Männer während der Verfolgungsszene Elisabeths, die ungefähr eine Druckseite einnehmen, gestrichen, und die Szene ist so auf Elisabeth und Essex fokussiert. Problematisch sind sicherlich Vermutungen über geschmackliche, weltanschauliche oder religiöse Gründe. In Gielens Regiebuch sind z.B. einige Passagen gestri-
Regiebuch zu Elisabeth von England, Regie J. Gielen, Dezember 1948, Archiv des Burgtheaters Wien, Sign. 857R.
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chen, die konfessionell problematisch erscheinen können. Folgende Stellen des Redetextes Philipps, der als Repräsentant des Katholizismus im Stück gelten kann, wurden nicht gesprochen: „Um das Bekehrungswerk an den englischen Säuglingen durch die rechtgläubige Milch sofort beginnen zu können, sind auf die Schiffe der Armada viertausend Ammen zu verteilen." Oder die Aufzählung der Reliquien, die er in einer feierlichen Prozession nach England schicken will, um das Land zu reinigen: „das Haar der heiligen Undine von Sizilien und das Bein vom heiligen Anastasius von Ferrer. (Lächelt) Mir bleiben dann immer noch neun." Die Reihe ließe sich fortsetzen. Ob die Striche aus Rücksicht auf die religiösen Empfindungen des Publikums gesetzt wurden oder um den bei Bruckner angelegten dämonischen Fanatismus Philipps nicht durch Lächerlichkeit abzuschwächen, läßt sich nicht endgültig entscheiden. Vielleicht spielten auch beide Erwägungen eine Rolle. Die allgemeine Rücksichtnahme von Seiten des Burgtheaters auf das katholische Publikum findet einen Ausdruck in der Aufnahme eines Aufsatzes von Dr. Otto Fritz in das Programmheft, dort heißt es: Selbstverständlich ist die Überzeichnung ins Pathologische des in seiner Idee aufgehenden Philipp [...] nur aus einem sehr ergiebigen dramaturgischen Gedanken heraus zu begreifen. [...] Daher kann Philipp niemals als Prototyp des katholischen Menschen zu verstehen sein. Wenn weiter Bruckner den Protestantismus - im Gegensatz zum Katholizismus - als die in jeder Hinsicht freiheitliche, die Bindungen lösende Geistesrichtung auffaßt und nicht den großen Kampf zweier gleichberechtigter Ideen darstellt, so mag der Einwand gemacht werden, daß es der Kalvinismus und Puritanertum gewesen sind, die die lebens- und genußfrohe Weltanschauung des Mittelalters gewandelt haben. 13
Bedenken konfessioneller Art hatten bereits einmal gravierende Folgen für die Inszenierung des Stückes: 1931 kündigte der Schauspieldirektor des Bayerischen Staatstheaters den Auffiihrungsvertrag fur die Elisabeth mit Hinweis auf die „örtlichen Gegebenheiten", er fuhr mit der Begründung fort: Die Verflechtung des Geschehens in den Rahmen gottesdienstlicher Handlungen, verbunden mit Willkürlichkeiten in der Kennzeichnung der dargestellten Kulte, lässt mit Bestimmtheit gewärtigen, dass das religiöse Empfinden jener Kreise, mit denen das Staatstheater rechnen muss, tiefgreifend verletzt wird. 14
Gielens Inszenierung wurde sowohl von einem Großteil des Publikum wie auch von der Kritik begeistert aufgenommen, sie wurde insgesamt 49mal gegeben. Ein Kritiker stellte zwar fest, daß Bruckners „Philipp ein halluzinierter Glaubensbegriff, weniger ein Mensch" 15 sei, eine antikatholische Tendenz wurde in der Theaterkritik aber nicht vermerkt. Bruckner selbst hat eine Auffuhrung wahrscheinlich erst im Mai 194916 gesehen, also fünf Monate nach der Premiere. Als die Inszenierung erarbeitet wurde, 13
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Otto Fritz: Bruckners „Elisabeth von England". In: Programmheft zur Aufführung Elisabeth von England, Burgtheater 8.1.1949. Brief der Generaldirektion des Bayerischen Staatstheaters an den S. Fischer Verlag vom 6.6.1931, FBA Sign. 808. Rudolf Holzer: „Elisabeth von England. Erstaufführung im Burgtheater". In: Die Presse, 11.1.1949. Tagebuch Bruckners, FBA Sign. 1376.
Autor - Text -
Auffuhrung
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hielt er sich in New York auf; mit Gielen, den er zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich kannte, gab es keine umfassende Korrespondenz. Zum hier interessierenden Zusammenhang ist lediglich ein Brief ermittelt, in dem Bruckner ihm seine Vorstellungen zu dem Stück unterbreitet. Dieser Brief ist leider verschollen. Maria Eis, die Darstellerin der Elisabeth, war zwar sehr gut mit Bruckner befreundet, sie hatte bereits mit ihm in Berlin am Renaissance-Theater gearbeitet, sie scheinen sich aber während der Proben nicht ausgetauscht zu haben. Bruckner hat bei dieser Inszenierung offenbar keinen Einfluß auf die Einrichtung der Spielfassung gehabt und sie, nach unserer Kenntnis, auch nicht explizit autorisiert, indem er Gielen oder einen Dramaturgen zu Streichungen oder anderen Änderungen ausdrücklich ermächtigt hätte. Eine Autorisation kann man wohl nur in dem Sinne als gegeben ansehen, daß die Inszenierung selbst mit seiner Zustimmung stattfand, vielleicht nur seiner pauschalen Zustimmung, geregelt etwa durch entsprechende Vereinbarungen mit dem Bühnenverlag. Angesichts von Bruckners anfangs dargelegter sehr pragmatischen Einstellung zum Umgang der Theater mit seinen Texten erscheint mir die Frage nach der Autorisation der Spielfassungen letztlich aber von untergeordneter Bedeutung für die autororientierte Edition. Denn die gleichberechtigte Wiedergabe aller autorisierten und authentischen Texte Bruckners halte ich in diesem Fall für nicht angemessen. Gleichwohl soll in der Bruckner-Edition die graduelle Unterscheidung von Autorisation in der Darstellung der Textgeschichte und -rezeption vorgenommen werden. Hier sind zumindest die wichtigsten Bearbeitungen und Spielfassungen zu dokumentieren und ihre Beurteilung durch Bruckner, falls entsprechende Äußerungen überliefert sind, anzuführen. Berücksichtigt werden sollen jedoch bei der Auswahl der Textgrundlage, bei der Textkonstitution und der Variantenverzeichnung ausschließlich authentische Fassungen und Bearbeitungen; also jene Autortexte, die persönlich, durch eigenhändiges Niederschreiben autorisiert sind, sowie die autorisierten Drucke. Bei Bruckner kann der Einfluß anderer Personen auf die für die Edition relevanten Textaspekte in den Drucken vernachlässigt werden, das heißt, die meisten Drucke können als sehr ,autornah' angesehen werden.
Roland Berbig
„diese Briefe [...] alle wie Partikel eines seiner Romanprojekte"1 Zum Problem von Autorisation und Erzählen bei Uwe Johnson
In seiner Einführung zu Fragen der Edition, die Norbert Oellers fur das Arbeitsbuch zur Einfiihrung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft verfaßt hat, hebt er den Unterschied zwischen der Herausgabe von Texten älterer und neuerer Autoren hervor. Geringfügiger nennt er die Probleme bei der Edition neuerer Autoren. Ihre .Originale', ob in Drucken oder Handschriften, seien in der Regel bekannt und leicht zugänglich, Entstehungsbedingungen ließen sich bequemer aufspüren als bei den älteren, und gleiches gelte für die editorische Rekonstruktion möglicher Autorenintentionen.2 Im Nachstehenden wird das Augenmerk gewissermaßen auf jüngste' Autoren gelenkt, d.h. auf Schriftsteller, deren Werk gerade erst durch den Tod abgeschlossen ist und das Schritt für Schritt möglichst sachgerecht ediert werden soll. Die verlegerischen Gepflogenheiten, die dem Tod eines bedeutenden Schriftstellers so unweigerlich folgen wie dessen Begräbnis und diesem am liebsten vorauseilen, sind bekannt. Rasch wird durchgesehen, was brauchbar erscheint; aus den publizierten Arbeiten fügt man kleinere Sammlungen oder gar Werkausgaben zusammen, deren Tauglichkeit so begrenzt ist wie ihr Schaden für Text und Werk groß. Handschriften, Typoskripte, oft in reichem Maß überliefert und nach Klärung der Rechtslage3 zugänglich, nutzt man dabei nur in Ausnahmefällen. Das Vorhandene und bequem Erreichbare genügt, die Mehrarbeit erzeugt Scheu, vermutete oder tatsächliche Unwägbarkeiten schrecken ab. Die Frage der Autorisation als Rechtsfrage wirft dabei kaum Probleme auf. Verlagsverträge regeln, was es zu regeln gilt. Anders und komplizierter stellen sich die Dinge dar, wird nach Unveröffentlichtem gefahndet, soll noch nicht Publiziertes ans Tageslicht befördert werden. Selbst wenn die juristische Sachlage geklärt ist, steht der Editor vor Entscheidungen, die unmittelbar mit den Schlagwörtern .Autorisation', ,Autorwille bzw. -intention' und (allerdings randständig) .Authentizität' zu tun haben. Ich möchte versuchen, am Beispiel des Schriftstellers Uwe Johnson Probleme, mit denen sich ein Herausgeber kon-
Peter Wapnewski im Gespräch mit Thomas Herold und Thomas Schulz, 14. April 2000 (unveröffentlicht). Ein Text, der auf Grundlage dieses Gespräches entstand und von Thomas Herold verfaßt wurde, ist erschienen in: Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Essays. Hrsg. von Roland Berbig, gemeinsam mit Thomas Herold, Gesine Treptow, Thomas Wild. Berlin, Zepernick 2002, S. 237-260. Vgl. Norbert Oellers: Edition. In: Dieter Gutzen, Norbert Oellers, Jürgen Petersen. Unter Mitarbeit von Eckart Strohmaier: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Berlin 6 1989 (1976), S. 108. Auf dieses schwierige Kapitel ist hier nicht einzugehen.
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frontiert sieht, zu diskutieren. Dabei gehe ich von konkreten Beispielen aus und hoffe, daß sie beispielhaften Charakter haben. 1995 gab Eberhard Fahlke als Band 5 der Schriften des Uwe Johnson-Archivs eine Sammlung von Texten Johnsons heraus, die er Inselgeschichten titelte. Der Klappentext druckt den Titel kursiv und charakterisiert das Gesammelte damit gleichsam als ein geplantes Vorhaben des Autors.4 Vier der Inselgeschichten seien schon zu Lebzeiten veröffentlicht worden. „Sie werden", schreibt der Herausgeber, „hier ergänzt durch Skizzen, Entwürfe und Materialien, die sich im Nachlaß fanden, so daß ein einprägsames Dokument zur Spätphase seines Werkes entsteht."5 Die Stichwörter sind Orientierung fur den Leser: Er darf vermuten, daß ihm mit dem Buch literarische Texte aus dem Nachlaß Johnsons präsentiert werden, die, beglaubigt von vier Veröffentlichungen zu Lebzeiten, Bestandteile eines in Aussicht genommenen, aber unvollendet gebliebenen Erzählprojekts des Autors sind. Erhärtet wird die Vermutung durch die inhaltlich schlüssige Textanordnung: Den Auftakt I. geben die Arbeiten, die Johnson noch selbst zur Veröffentlichung befördert hatte, ergänzt um diese Texte kommentierende Briefe des Autors. Unter II. finden sich dann jene erwähnten Funde aus dem Nachlaß, die der Herausgeber mit Überschriften versehen hat, sorglich durch eckige Klammern gekennzeichnet. Im Nachwort liefert Fahlke, vertraut mit der Faktenlage und biographisch unterrichtet wie wenige, die Umstände, die die voranstehenden Texte Johnsons erklären helfen und seine Auswahl rechtfertigen. Der Einfachheit halber liste ich diese Tatbestände durchnumeriert auf: 1. Johnson sprach 1979 im Rahmen des Begleitseminars zu den .Frankfurter Vorlesungen' von seiner Absicht, Geschichten aus der Grafschaft Kent aufzuschreiben. Gegenüber Max Frisch, dem er am 13. Januar 1975 eine Textprobe schickte, signalisierte Johnson Skrupel, Geschichten, die ihre Herkunft Begegnungen mit den arglosen Inselbewohnern verdanken, literarisch zu verwerten.6 2. Der Herausgeber gibt keinen Beleg, daß der Titel Inselgeschichten von Johnson stammt. Erwähnt indes wird ein eigener „Aktendeckel", in dem Johnson einige Skizzen aufbewahrte - „wie in einer Stoffsammlung fur Inselgeschichten".1
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Vgl. hierzu Gérard Genette: Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/Main, New York, Paris 1989. Genette akzentuiert, daß nicht das Buch so oder so heiße, sondern daß, wer korrekt sein will, von der Bestimmung ausgehen muß: ,Ich der Autor bzw. der Herausgeber beschließe, dieses Buch so oder so zu betiteln'; in diesem Sinne S. 17f., und weiter: „der Text ist Gegenstand einer Lektüre, der Titel aber, wie übrigens auch der Autorenname, ist Gegenstand einer Zirkulation oder, wenn man das vorzieht, eines Gesprächs" (S. 77). In diesem Zusammenhang ist der komplette Abschnitt in Genettes Buch, der sich mit dem Paratext .Titel' befaßt, lehrreich und steckt voller Einsichten, die auf das hier Verhandelte übertragbar sind. Klappentext. In: Uwe Johnson: Inselgeschichten. Hrsg. von Eberhard Fahlke. Frankfurt/Main 1995 (Schriften des Uwe Johnson-Archivs. 5). Uwe Johnson an Max Frisch, 13. Januar 1975. In: Der Briefwechsel. Max Frisch/Uwe Johnson 19641983. Hrsg. von Eberhard Fahlke. Frankfurt/Main 1999, S. 102f. „Die Geschichte ist wenig mehr als ein Test; es geht fast nur um die Bedenken" (S. 103). Die Anlage, die Johnson dem Brief beifügte, ist in Fahlkes Uwe Johnson: Inselgeschichten unter dem Titel 18:30 bis 20:30 veröffentlicht (Anm. 5), S. 86-89. Eberhard Fahlke: Auf der Suche nach „Inselgeschichten". In: Johnson, Inselgeschichten (Anm. 5), S. 197.
Zum Problem von Autorisation und Erzählen bei Uwe Johnson
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3. Indirekt wird Johnson zitiert: die „Nagelprobe für sein erzählerisches Vorhaben" sei erst erbracht, „wenn etwa ein Dutzend seiner in der Grafschaft Kent gesammelten Geschichten gedruckt vorlägen."8 Ohne Zweifel ein Indiz für seine Absicht. 4. Die vier veröffentlichten Texte werden aus höchst verschiedenartigen Kontexten heraus erklärt. So etwa entstand „Ach! Sie sind ein Deutscher?" für afrikanische Studenten an der Universität Ibadan in Nigeria, wurde dann im Januar bzw. Februar in der Süddeutschen Zeitung und der Zeit abgedruckt, ehe er in der Sammlung Deutschland, Deutschland. 49 Autoren der BRD und der DDR schreiben über ihr Land9 veröffentlicht wurde; Ein Vorbild schrieb Johnson für Nicolas Born und Rowohlts Literaturmagazin, und schlicht ,verrückt' ist die hier nicht zu wiederholende Geschichte um den Text Ein unergründliches Schiff, den Johnson für Jürgen Habermas' Anthologie Zur geistigen Situation der Zeit (Frankfürt/Main 1980) verfaßte.10 Ebenfalls eine Auftragsarbeit - für das Ressort .Modernes Leben' der Zeit - war Seien Sie vielmals bedankt. 5. Wie schon im Falle von Seien Sie vielmals bedankt stammen ausnahmslos alle unveröffentlichten Texte aus Briefen Johnsons: das Ergebnis einer herausgeberischen Recherche in Johnsons Korrespondenz. Fahlke teilt am Ende seiner Edition akkurat die Quellen mit. Der Brief sei, so erläutert Fahlke, die bevorzugte Gattung Johnsons gewesen, „um [...] sich fürs Erzählen .warmzuschreiben'"," und deutet damit zumindest ein gewisses literarisches .Vorstadium' der kleinen Erzählsequenzen an. Mögliche Glanzstücke also, aber auch Halbfabrikate, weder ,Fisch' noch .Fleisch' ... 6. Gesammelt und notiert habe Johnson die Geschichten in drei Gaststätten in Sheemess, seinem letzten Lebensort. Dort wußte man nichts von seiner Bedeutung als deutscher Schriftsteller. Während des Begleitseminars zu den Poetik-Vorlesungen erzählte Johnson, daß man ihn dort „Charles" bzw. „Charlie" getauft habe.12 [Einmal sei eine Dame gekommen,] die hatte etwas zuviel getrunken und war auf meinen Namen begierig. Ich sagte ihr, mein Name sei Charles. Sie sagte, das könne sie mir nie und nimmer glauben. Ich sagte ihr, mein Name sei Charles. Sie möge doch die Herrschaften hier rundum fragen. Die sagten ihr: .Sylvia, his name is Charles.' Aber sie ließ nicht lokker, so daß ich schließlich eingestehen mußte, ich sei ein finnischer Seemann. ,Ja ... und mein Name, mein Name?' Ich sagte: ,Wenn es sein muß, er ist Eikeohnei'. Und sie fragte die anderen. .Stimmt das?' Und die sagten: ,Ja, du hast es doch gehört, Sylvia. Sein Name ist zu schwierig für uns. Wir nennen ihn Charles.' [...] Das sind alles Dinge, die ich lieber nicht verloren gehen lassen möchte und deswegen gibt es zwar noch keinen Plan, aber eine Aussicht auf eine Zukunft mit Geschichten über diese Insel, die da aber nicht genannt werden wird."
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Fahlke 1995 (Anm. 7), S. 177f. Fahlke schreibt in einer Fußnote: „Uwe Johnsons Äußerungen wurden hier anhand von Aufzeichnungen zusammengefaßt, die sich der Herausgeber während des Begleitseminars zu den Frankfurter Vorlesungen am 14. Mai 1979 notiert hatte" (S. 179). Hrsg. von Jochen Jung. Salzburg 1979. Siehe hierzu Fahlkes Ausführungen im Nachwort zu Inselgeschichten (Anm. 5), S. 184-192. Fahlke 1995 (Anm. 7), S. 194. Fahlke 1995 (Anm. 7), S. 196. Fahlke zitiert hier offenbar wörtlich aus seiner Mitschrift oder einem Mitschnitt des Seminars vom 14. Mai 1979.
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Er habe, so Johnson in dem bereits erwähnten Brief an Frisch, den Leuten „dankbar zu sein für die Identität .Charlie'".14 Was nun ergibt sich, bindet man dieses editorisch durchaus verständliche Vorgehen zurück an die zu diskutierenden Begriffe? Die Autorisation im rechtlichen Sinne ist unbestritten. Die Texte sind vom Autor „eigenhändig geschrieben",15 und zwar mit der Schreibmaschine. Der Herausgeber hat als Vorlage für seine Edition die Durchschläge der Briefe Johnsons im Frankfurter Archiv benutzt und sie, soweit zugänglich, mit den abgeschickten Originalen verglichen. Das heißt: Johnson hat sich Durchschriften angelegt, er wollte kein Risiko eingehen, daß seine Briefe verloren gingen. Mit guten Gründen hat Kanzog zwischen der Niederschrift eines Textes, die „zunächst Privatangelegenheit"16 sei, und deren Freigabe zur Publikation unterschieden. Spricht man im ersten Fall von der Autor-Autorisation, so ließe sich im zweiten Fall von einer Herausgeber-Autorisation sprechen. Über ihre jeweiligen Kompetenzen gehen die Auffassungen auseinander. Machte Hans Zeller geltend, daß der Herausgeber keineswegs Testamentsvollstrecker eines literarischen Denkmals sei, und entwickelte eine Argumentationslinie, nach der der Autorwille nicht uneingeschränkt leitender Gesichtspunkt für die Textkonstitution sei, so gibt es eine nicht minder starke Fraktion, die gerade dessen Rekonstruktion als elementare Aufgabe des Editors begreift.17 Keine Frage, bei den Inselgeschichten haben wir es mit einer Herausgeber-Autorisation zu tun, deren Legitimation durch die authentische und unzweideutige Autorisation durch die überlieferte Niederschrift außer Zweifel steht. Sie ist reizvoll und Freude jedes Johnson-Lesers. Die Textstücke, die zur Veröffentlichung gekommen sind, passen unter das Dach, das gebaut wurde. Dieses Dach jedoch ist Konstrukt. Was als Spätwerk - Inselgeschichten als Neuanfang nach dem opus magnum Jahrestage'* - erscheinen könnte (und in einigen biographischen Abrissen als solches be-
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Uwe Johnson an Max Frisch, 13. Januar 1975. In: Briefwechsel Max Frisch/Uwe Johnson (Anm. 6), S.
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Christel Laufer: Von den Texten. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 66. Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 19 (Abschnitt: Textkritische Vorfragen 2. Autorwille und Autorisation). Klaus Hurlebusch spricht im ersten Fall von einem „Autor in der 3. Person" und der intentio obliqua, im zweiten von einem „Autor in der 2. Person" und der intentio recta. Für letztere gelte, „daß prinzipiell der Autor bestimmt, in welcher Fassung und welcher Anordnung seine Texte ediert werden sollen. Oder anders", fährt Hurlebusch fort, „Er will nicht, daß der Editor nach eigenem Gutdünken entscheide." Textkritisch relevant sei die zuerst aufgeführte, betreffe sie doch die Frage, „ob ein Text oder Textbestandteil, so wie er überliefert ist, vom Autor gewollt (gemeint) ist bzw. gewollt (gemeint) sein kann" (Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105, 1986, Sonderheft: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft, S. 4-42, hier S. 13f.). Genettes Erläuterungen hierzu am Beispiel der wechselvollen Geschichte des Titels von Prousts großem Werk A la recherche du temps perdu anhand der unterschiedlichen Ausgaben ist wiederum aufschlußreich, vornehmlich wenn er aus diesen den Haupttitel verwässernden editorischen und verlegerischen Praktiken ableitet: „Ich weiß nicht, was uns die verschiedenen künftigen Ausgaben bescheren werden, aber in gewisser Hinsicht wird die sich abzeichnende Mannigfaltigkeit, ja sogar Inkohärenz, dazu beitragen, diesen Text von einer heute allzu kanonischen Präsentation zu befreien und damit von einem durch seine Monopolstellung etwas zu gebieterischen Paratext" (Genette 1989, Anm. 4, S. 66).
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reits bezeichnet wird) und ein geschlossenes Bild abgibt, ist, um diese Wirkung zu erzielen, aus den ursprünglichen Kontexten gelöst worden. Ein Blick auf die Chronologie der Niederschriften, an die sich die Zusammenstellung nicht hält, als auch auf das ursprüngliche textliche Umfeld, die Briefe also,19 verdeutlicht das: Der früheste Text stammt aus dem Brief an Max Frisch vom 4. August 1974, der späteste aus einem Schreiben an Christa Wolf vom 11. Februar 1983. Eine Differenz also von beinahe neun Jahren. Was verständlich fur die Herausgeber-Autorisation ist, ist es gleichermaßen nicht für die Autor-Autorisation. Genauer: Was erfahren wir über den , Autor-Willen' im Hinblick auf die Gestalt eines Werks? Er bleibt, gerade in seiner uneindeutigen Verdecktheit, kenntlich, muß aber rekonstruiert werden. Ist überhaupt ein Editionsverfahren denkbar, das in Fällen wie diesen sowohl Autorintention - also die Entscheidungen hinsichtlich der Makrostruktur des Textes - als auch Textintention - also die Entscheidungen hinsichtlich der Mikrostruktur eines Textes - transparent faßt? Die Suche nach den Prämissen führt allein über die authentischen Texte, die Briefe, die Johnson an konkrete Adressaten schrieb und verschickte. Ihre Präsentation aus diesen Kontexten stellt Transparenz her über mögliche Adressatenbezogenheit bestimmter Themen und intendierter Wirkung. Bei einem biographie- und schreibbewußten Autor wie Johnson darf die Entscheidung, wer durch den Erhalt eines Briefes mit einer Geschichte vom Inselleben betraut wurde, nicht als zufällig oder beliebig behandelt werden. In dieser Entscheidung ist eine Delegierung der Autor-Autorisation zumindest angelegt; der Adressat gerät - möglicherweise - in einen werkgeschichtlichen Kontext, und zwar nicht als Informationsquelle, sondern in eigenwertiger Dazugehörigkeit. Welche Konsequenzen dieser Umstand in sich birgt, wird gleich noch am Beispiel eines Sonderfalls zu zeigen sein. Der zweite Sachverhalt, über den stolpert, wer nach dem ,Autorwillen' und nach einem diesem angemessenen editorischen Verfahren fahndet, ist das Problem der Identität. Der Geschichten von seinem englischen Lebensort erzählende Briefautor Johnson thematisierte unter konkretem Adressatenbezug den Gewinn einer ,neuen Identität': Charles, Charlie. Der sich seinen neuen Lebensort aneignet, schafft sich eine Gestalt, die die Aneignung lenkt, wenn nicht kanalisiert. Eine Art Einfallstor für Wirklichkeit. Würde es dem Autor Johnson in seiner privaten Lebensrealität darum gehen, als ,ein anderer' angesehen zu werden, brauchte er nicht das geschriebene Wort. Indem Johnson aber gleichsam einem exklusiv definierten Publikum (den Briefpartnern, einem klar bestimmten und ausgewählten Adressaten also) die Erfindung Charlies erzählt, wird aus dem passiven Akt der Namensverleihung20 ein aktiver. Der Brief in seiner Ganzheit und nicht als Rudiment spricht von Charlie und läßt Charlie sprechen resp. schreiben. Er demonstriert, was er erzählt. Während Johnson
Natürlich sind der Titel Inselgeschichten und die dahinter sich versammelnden Texte noch weit von solchen .Bedrohungen' entfernt. Die Adressaten, wie der Herausgeber aufmerksam vermerkt, lebten zum allergrößten Teil nicht in der Bundesrepublik, Max Frisch in Zürich, Christine Jansen in Ostberlin, Alice und Dorothy Hensan in Rostock, Joachim Menzhausen in Dresden, Helen Wolff und Hannah Arendt in den USA. Sie widerfuhr ihm und er fand sich in ihr, ob wieder, sei dahingestellt.
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einen Text durch Niederschrift autorisiert, schafft er im selben Zuge einen potentiellen Autor. Der allerdings erscheint, ihm nahverwandt, als Notierender, als Zuhörer, als einer, der nichts ist als der Name, den man ihm verlieh. Der Name tritt in den Dienst des Buches, oder richtiger: er wird dazu hergerichtet, ohne zu dem zu werden, was Genette unter dem Begriff der Onymität definiert.21 Das geht so weit, wie die an Frisch am 13. Januar 1975 mitgeschickten Probeblätter bezeugen, daß die Notierung einer Gesprächsmitschrift bis aufs Haar gleicht - Charlie als Medium. Unter diesem Schreiben bleibt der Brief nicht mehr Brief, er vollzieht - wieder als Ganzes - einen Wandel der vorgeblichen Gattung, für die der rechte Name fehlen will. Fahlke läßt das Pegel ausschlagen in Richtung .Erzählung' und kappt in der Textpräsentation die privaten Bezüge einschließlich der brieflichen Floskeln. Und er fällt die einsichtige Entscheidung, für die Präsentation der Texte den Namen ,Uwe Johnson' beizubehalten, kein harmloser Umstand, wie Genette unterstreicht, wiewohl ein naheliegender und begründeter, ist er doch .autorisiert'. 22 Der Schreib- und Arbeitsvorgang selbst scheint eher dafür zu plädieren, das Niedergeschriebene ungekürzt, ohne Schnitte mitzuteilen - zumindest aus strengerer Editorensicht. Ein Editor, heißt es sinngemäß bei Klaus Briegleb, werde nicht versehentlich' zum Autor, „insofern er Wissenschaftler ist; sich als Wissenschaftler selbst vermitteln, das ist seine Autorhandlung, wodurch allein erst seine Wissenschaft öffentlich strukturiert wird." 23 Der Adressat des Briefes war Anlaß, dauerhaft und ausschließlich gemeint indes war/ist er nicht.24 Der Übergang ist nicht verläßlich zu bestimmen; so bleibt der Angeschriebene, obwohl sein Profil zu schwinden scheint, präsent. Eine das fokussierende editorische Präsentation muß gewährleisten, daß der Kontext offensichtlich gehalten wird - daß also die sich möglicherweise vollziehende Selbsterfindung eines .Autors', eines .Erzählers' nicht vorweggenommen wird, sondern sich als ein Vorgang des Werdens vor den Augen des Lesenden abspielt: herausgewachsen aus einer traditionellen Gattung, aber noch nicht in einer neuen angekommen. Zu akzentuieren ist die Suche, nicht ein Gefundenhaben.
Der Begriff steht für das Verfahren, nach dem der Autor das Buch mit seinem amtlich verbürgten Namen, wie Genette schreibt, „signiert" (Genette 1989, Anm. 4, S. 43). Das Experiment mit .Charlie' wie schon das bei Johnsons erstem veröffentlichten Buch Mutmaßungen über Jakob, das beinahe aus Gründen seiner persönlichen Sicherheit unter dem Pseudonym Joachim Catt erschienen wäre, zeigen die Bereitschaft des Autors, sich auf diese literarische und in jedem Fall folgenreiche Möglichkeit, auf dieses paratextuelle Phänomen einzulassen. Nicht zufallig und bezeichnend genug entwickelt der Name .Joachim Catt' in seinem Erzählwerk ein Eigenleben. Die Frage, ob sich solche Ansätze auf eine Weise bei ihm hätten entfalten können, wie sie die Literatur kennt (zum Beispiel Pessoa oder, wenn auch anders gelagert, Kurt Tucholsky), muß unbeantwortet bleiben. Vgl. Genette 1989 (Anm. 4), S. 44. Wenn Genette argumentiert, daß das Beibehalten eines Namens kein harmloser Schritt sei, er verweist dabei auf die besonderen Schwierigkeiten schreibender Frauen, so ließe sich das ergänzen um die Feststellung, daß auch die Aufgabe des Namens, die sich bei Johnson im ernsten Spiel andeutet, alles andere als harmlos und fiir die Textherstellung äußerst folgenreich ist. Klaus Briegleb: Der Editor. Fünf Thesen zur Auswahlphilologie. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 91-116, hier S. 109. Briegleb attackiert in seinem Aufsatz unzulängliche Auswahleditionen am Beispiel des Werks von Friedrich Hölderlin. Dieser Schluß hat durchaus den Charakter einer These, die an dieser Stelle nicht zureichend diskutiert werden kann, m.E. aber als Tatbestand zu gelten hat.
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Auszudenken ist das ideale Verfahren für ein Edieren dieser Texte schwer. Es müßte ein Bild geben von den zeitlichen Verhältnissen der Niederschrift, es müßte die Paralleltexte des veröffentlichten Erzählwerks bzw. anderer Texte ins Leserwissen bringen, und es käme dann vielleicht tatsächlich zu einer Text-Vorstellung Johnsons, die seiner literarischen Arbeit den Spiegel vorhielte: als totaler Schreibvorgang. Das Spiel mit den Identitäten und der Multiplikation von Stimmen, das die Forschung bei Johnson längst vermutet und in seinen Erzähltexten auch gefunden hat, bekäme auf diesem Weg, der dezidiert über die Erschließung seines Briefwerks fuhrt - noch einmal: möglicherweise - bei angemessener und umfassender Darbietung der authentischen Texte seinen ursprünglichen Charakter als schrankenloser Experimentierraum zurück. Ich will die Tragweite, die sich abzeichnet und die nach einer geeigneten und sinnfälligen Editionsform sucht, an einem zweiten Beispiel demonstrieren. Gewogen mit diesem sind die Inselgeschichten, so will es scheinen, ein Kinderspiel. Wiederum handelt es sich um eine intentionale Delegierung der Autorisation, gleichsam postmortal - und zwar ohne jegliche Instruktion für den Autorisierten. Der, das zeigt die Nachgeschichte, mit dieser Ehre nichts Rechtes zu beginnen wußte und kein Hehl aus seiner Hilflosigkeit machte... Auch hier zuerst den Vorgang selbst und dann einige Schlüsse, oder doch wenigstens Fragen, die die Dokumente aufwerfen. Am 1. März 1970 schrieb Uwe Johnson an Gertrud Wapnewski, die Mutter des Mediävisten Peter Wapnewski, mit dem er Bekanntschaft geschlossen hatte. Wichtig: Johnson war der Frau zuvor noch nie persönlich begegnet! Ich zitiere aus dem Schreiben: Ihr Sohn Peter hat uns gebeten, Ihnen einen Bericht über seine Führung während eines Aufenthaltes in Berlin einzusenden. Wir bestätigen zunächst, dass er wirklich am 25. hier zu sehen war und dass er sich soeben ordnungsgemäss abgemeldet hat. Dabei behauptete er, er sei am Flughafen. Seine Schusseligkeit ist leider [ein?] wenig abgenutzt und wird ihm im künftigen Leben noch so manches vermasseln. So vergass er wiederum, uns einen Abend vorher anzurufen, wie ausgemacht war, und so sahen wir keinen Anlass, ihm ein Kalb zu schlachten. Er musste sich dann mit einem so genannten Sauerbraten zufrieden geben, von dem er bei Tisch auf eine mäklige Weise kleine Stücke zu sich nahm. Stunden später begab er sich unter einem Vorwand in die Küche und wurde von uns dabei betroffen, wie er grosse Scheiben des kalten Bratens aus der Hand ass. Mag man über seine Beherrschung der Tischsitten auch denken wie etwa über den goldenen Boden des Handwerks, Sie haben nun doch die Versicherung, dass zumindest an jenem Abend für seine Ernährung gesorgt war. Er ging dann, ohne dass wir ihn dazu aufforderten, zurück zu Herrn und Frau Kempinski, die ihm hier ein Bett gegeben haben. Über den Rest seines Besuches in dieser Stadt wissen wir im Grunde nichts, geben aber mit grossem Vergnügen die nichtsnutzigen Gerüchte wieder, die uns unter der Woche erreichten. Danach soll er zwar seine Inspektion der mannbaren Töchter aus vermögenden Häusern von neuem aufgelegt haben, und zwar mit der Tour, dass seine Dachkammer in Ettlingen nicht geheizt sei, jedoch sein anhängliches Wesen immerhin nicht von Pappe sei. [...] Seine Barmittel sind in einem nicht ganz glücklichen Zustande, was bei seiner Art von Lebenswandel Niemanden verwundert, nicht ein-
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mal uns. Es ist nun einmal seine Art: mit einer Million gibt er sich nicht ab, er will nun einmal drei davon. Deswegen auch haben wir ihn liebgewonnen und stellen Ihnen diese Gefälligkeitsbescheinigung zu. Ihr sehr ergebener Uwe Johnson Schreibmaschinenbesitzer.25 Und ein zweites Zeugnis, diesmal an Peter Wapnewski persönlich, aber keineswegs weniger eigenwillig. Johnson verfaßte es in Rom unter dem 26. Juli 1970. Es beginnt folgendermaßen: Wie du dich erinnerst waren wir für den Sommer zu einer Betriebsprüfung nach Rom angefordert, und wie du dir das denkst dachten wir diesen Job mit reichlich dekorativem Leben, fast überhaupt keiner Arbeit und einer fast vollständigen Austrocknung des Gemüts hinter uns zu bringen.26 Dieser Auftakt ist harmlos gegen das Folgende. Johnson schildert die Begegnung mit einem Konteradmiral der italienischen Marine, der vorgeblich Wapnewski gekannt habe - „von einer Nachtübung bei Messina".27 Jener Admiral nun habe im weiteren Wapnewski verleumdet, was Johnson Anlaß gewesen sei, dem Adressaten seine Freundschaft zu demonstrieren. Die Folge: „zwei Klagen wegen Sachbeschädigung, eine auf Körperverletzung, Entzug des Führerscheins und, was das Schlimmste ist, Lokalverbot."28 Der sich anschließende Bericht, in dem erzählt wird, was alles an Anwürfen gekommen sei, erwähnt eine Yacht „Jasmin", nennt den Namen Kindler und gipfelt in indirekten Zitaten Wapnewskis, die der Admiral weiterzuplaudern wußte: Du hättest gesagt, du wüsstest nicht, wohin du gehörst. [...] Ja, du hättest dir in Berlin keine Freunde gemacht, das war so die Art, wie du geredet hättest, keine Freunde hättest du dir gemacht in Berlin. [...] Du hättest dich gegen den Missbrauch des Geschlechtsverkehrs ausgesprochen. Darauf der Briefschreiber: „Peter, ich war noch ganz ruhig, ich kenn dich doch, du machst solche Sachen doch nicht. So schwer kommst du doch nicht ins Schleudern!"29 Und Du wärst über die Barrikaden gestiegen bei Nacht, und sechzehn Stunden hättest du an einem Telefon gehangen, und deine persönliche Freiheit hättest du dir beschränken lassen müssen. Dies hat mich ja nun, ehrlich gesagt, an etwas erinnert, aber ich mochte doch nicht annehmen, dass du solche innerlichen Sachen und Ansichten bei Jasmin sagst, wo noch der letzte italienische Konteradmiral ohne Schiff dich hören kann. Nee. Hatte mich bisher recht
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Uwe Johnson Uwe Johnson Uwe Johnson Uwe Johnson Uwe Johnson
an an an an an
Gertrud Wapnewski, 1. März 1970; Uwe Johnson-Archiv Frankfurt/Main, WAP-13. Peter Wapnewski, 26. Juli 1970; Uwe Johnson-Archiv Frankfort/Main, WAP-22. Peter Wapnewski, 26. Juli 1970; Uwe Johnson-Archiv Frankfijrt/Main, WAP-22. Peter Wapnewski, 26. Juli 1970; Uwe Johnson-Archiv Frankfurt/Main, WAP-22. Peter Wapnewski, 26. Juli 1970; Uwe Johnson-Archiv Frankfurt/Main, WAP-22.
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gut beherrscht. [...] Fängt er doch noch einmal an! Nämlich, und es wär nicht mal eine Veranstaltung für dich allein gewesen, sondern gleich hinter dir her wäre ein anderer aufgetreten, ein Waffenbruder von Gianfranco, ein Hauptmann Heinrich Buch, Kompaniechef und all das, und der hätte öffentlich die Tricks verraten, wie man die neu eingezogenen Wehrpflichtigen rumkriegt, gar nicht mit Gewalt, nur dass sie dann stolz sind, weil sie ein schweres Maschinengewehr tragen müssen statt lange Haare, w o sie so wie so in kleinen Dörfern und Städten kein Glück bei den Mädchen mit haben, und nu war ich scharf. War doch wirklich zu arg, war das doch. Sah den Kerl eisig an und fragte: wann, woans, wo. Hat der die Stirn zu sagen: am 16. Februar dieses Jahres. Wo ich doch genau weiß, dass du da bei uns in der Küche Sauerbraten geklaut hast, und hättest du doch wohl was von gesagt. Das war nichts als böse eitle dowe Nachrede, und ich hab dem Mann eine gelangt. Den Rest kennst du. Hättest du doch auch für mich getan, was Peter W.?
Hier ist - bei aller Verführungskraft der Dokumente - innezuhalten. 30 Der Text ist als kommunikativer Akt intendiert, sein Verfasser hat ihn abgesandt. Der Adressat ist eindeutig, er hat ihn erhalten und ihn über Anlaß und Umstand hinweg aufbewahrt. Eine Durchschrift befindet sich in Johnsons Nachlaß. Die Schwierigkeit, mit der es der Editor zu tun bekommt, bezieht sich auf die Begründung textkritischer Feststellungen „über das Gewolltsein (Gemeintsein) von Überliefertem". 31 Sie setzen Vertrautheit des Editors „mit den voluntativen und sprachlichen Verhaltensaspekten des Autors voraus". 32 Noch einmal Hurlebusch: „Die schriftstellerische Tätigkeit des Autors als solche hat einen Doppelaspekt: Sie ist zweckgebundenes Handeln, d.h. Produktion von Texten, einerseits und Ausdrucksverhalten, Sichäußern in Texten, andererseits. Entsprechend ist auch der .Autorwille' zu differenzieren." 33 Mit der Unterscheidung und Kopplung von textproduzierendem (das Gemeinte) und textkommunizierendem (das Gewollte) Willen des Autors im Blick können wir zu unserem Beispiel zurückkehren. Für den Adressaten, und nach dem Autor zweiten Leser, Peter Wapnewski, ist die Sache klar: „reine Literatur. Nichts davon ist in irgendeiner Form biographisch fixiert - ich nehme an, er war besoffen, in einem höheren Rauschzustand". 34 Agierte er als edierender .Testamentsvollstrecker', 35 so der Eindruck, verwandelte sich der Brief in einen literarischen Text, der in einer Ausgabe möglicherweise unter der Rubrik .Vermischte Schriften' einrangiert. Thomas Herold jedoch, der den Text von Johnson in Korrespondenz mit dem ursprünglichen Adressaten veröffentlichte und kommentierte, entdeckte durchaus biographische, aber höchst verklausulierte Spuren: .Jasmin' ist keine Yacht, sondern ein Magazin für die Frau. In ihm erschien just unter dem im Brief genannten 16. Februar 1970 ein Artikel von Wapnewski und danach ein Interview mit Heinrich Buch, seines Zeichens Kom30 3
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Siehe hierzu ausführlich Herold 2002 (Anm. 1 ). Hurlebusch 1986 (Anm. 17), S. 14. Hurlebusch 1986 (Anm. 17), S. 15. Hurlebusch 1986 (Anm. 17), S. 15. Zitiert nach Herold 2002 (Anm. 1), S. 256. Hierzu Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 23), S. 45-89, hier S. 52-54.
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paniechef. Wapnewski berichtete dort von der studentischen Besetzung des Germanistischen Instituts der Freien Universität Berlin 1968, mit der der Lehrbetrieb gestört worden war. Buch erläuterte dann im Nachstehenden, wie man mit den Hippies umgehe, die als Rekruten zum Bund kämen. Man belaste sie, wenn's ganz arg komme, setze man sie als Maschinengewehrschützen ein. Da seien sie am Abend zu müde, um irgendwelches Theater zu machen.. .36 Im Nachlaß von Johnson fand sich die Seite aus der Zeitschrift, ein kleine Abbildung von Wapnewski hatte Johnson von dort herausgeschnitten und auf den Brief an Wapnewski geklebt. Johnsons Brieftext verfremdet diese Sachlage durchgehend, ohne daß er zu erkennen gibt, welcher Zweck dabei verfolgt wird. Eine Kritik an Wapnewski? Oder an dem Offizier? Oder an den Verhältnissen, die extreme Situationen provoziert hatten, deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart 1970 reichen? Der Briefschreiber Johnson setzt einen Ich-Erzähler in Szene, mit dem er vorgeblich identisch ist, der sich aber in einem sprachlichen Gestus präsentiert, der in keinem Verhältnis zu dem .eigentlichen' oder angemessenen zwischen dem Schriftsteller Johnson und dem Germanisten Wapnewski steht. An einen bloßen Spaß ist so wenig zu denken wie an einen verqueren alkoholisierten Kopf. Das Gewollte gibt sich nicht zu erkennen. Was also kann ein Editor tun, um den Blick auf das Textphänomen frei zu halten? Er schließlich muß nicht deuten, muß aber alle Deutungszugänge unverstellt lassen. Die Lockerheit, das Unentschiedene des im Geschriebenen Intendierten darf nicht gefährdet, darf nicht eingeengt werden. Thomas Herold als Herausgeber verfährt unorthodox. Er stellt keinen Text her, dem er einen Apparat nachordnet, in unbestimmt-schwieriger Hoffnung, ihn dadurch ,zu erklären'. Ihm ist gelegen daran, den Text mit seinen unterschiedlichen Provenienzen zu konfrontieren: mit dem Umfeld des Johnson-Archivs, in dem als Textzeuge der Durchschlag Johnsons samt den beiliegenden Dokumenten (Zeitungsausschnitt etc.) überliefert ist, und mit dem Original aus dem Besitz des Adressaten Peter Wapnewski. Und indem er schließlich Wapnewski mit diesem Text gesprächsweise konfrontiert, stellt er neben die überlieferten Schriftzeichen das lebendige Wort, spontan, unverfälscht, aus der Tiefe der Erinnerung weniger die Fakten als die Stimmungslage, die Spezifik der persönlichen Begegnung hervorholend. Spricht man versuchsweise von einer delegierten Autorisation, nämlich der zur Publikation (gegebenenfalls einschließlich der vom so Autorisierten beigesteuerten Texte37), dann realisiert sich die unter der Regie des nun koordinierenden Herausgebers Herold. Indem Wapnewski nicht das letzte Wort haben will, nur eben seins - gesprochen in einer erheblichen zeitlichen Differenz zum Brieftext Johnsons und im Zitat, das der Herausgebende auswählt - , bewahrt sich in dieser natürlich alles andere als .strengen Edition' die Schwebelage, die Johnsons Text eignet und erzeugt. Es ist, könnte man meinen, eine editorische Entsprechung gefunden worden.
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Vgl. Herold 2002 (Anm. 1), S. 255. Peter Wapnewski hat sich offenbar gehütet, auch nur ansatzweise auf Johnsons Brief einzugehen. Er verweigerte, was diese Art Schreiben intendierte, darauf einzugehen, gegen- oder mitzuhalten, eine Korrespondenz zu entfalten, die sich im Literarisch-Real-Fiktiven, wenn es das denn geben mag, .austobte', abhebt, um es mit einem umgangssprachlichen Wort unserer Tage zu sagen.
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Für diese geglückte, aber doch .unsaubere' Lösung müßte, wer eine grundlegende Uwe-Johnson-Werkedition38 plant, einen Transfer finden, der diese Präsentation überfuhrt in die Modalitäten einer der .klassischen' Editionsformen. Unter den Begriffen ,Autor', .Autorisation', .Authentizität' oder .Autorintention', das ist bei diesen Stichproben gewiß deutlich geworden, wird dieser Transfer ein Kunststück - und wahrscheinlich eines, das diese Texte nur zurechtschneidet nach herkömmlichem Maß und nicht in dem Maß, das die Texte intendierten. Die Versuchung, den Brief als Brief zu edieren, ist groß, da doch alles dafür zu sprechen scheint. Ihn als literarische Erzählung zu nehmen und demgemäß einzurichten, wird sich kaum ein Editor entschließen können, wäre er doch gezwungen, mit dem Zeilenkommentar die Erzählung gleichsam ,zu vollenden'. Was Johnson in Briefgestalt an Peter Wapnewski auf den Weg brachte, was er an andere Adressaten sandte, es nutzt und unterläuft die Gattung, der es sich bediente. Systematisch wird ein Erzählraum kreiert, der den Angeschriebenen mitdenkt, einbezieht, zur Teilnahme ermuntert und provoziert, und der gleichzeitig ohne den Schutz der Gattungshülse nicht auskommt - oder doch: nicht auszukommen scheint. Herold folgert daraus, daß die Briefe Zeugnis davon abgeben, daß Johnson „seine eigene Literatur war".39 Und Wapnewski bringt es für den Zusammenhang, der hier beschäftigt, mustergültig auf den Punkt - ohne dabei aufkommen zu wollen fur die editorischen Folgen, nach denen seine Beobachtung verlangt: „Ich glaube, er [Johnson, Verf.] konnte das gar nicht trennen, es ist so, als ob er hier an seinen Geschichten oder Romanen weiterarbeitet mit gewissermaßen Seitentrieben, diese Briefe und Karten wirken alle wie Partikel eines seiner Romanprojekte."40 Daraus und hier zum Schluß die Konsequenzen: 1. Einerseits ist der Text, stellvertretend für eine große Anzahl vergleichbarer, ein authentischer und autorisierter Johnson-Text, der nicht zu subsumieren ist unter die Gattung ,Brief ' , sondern Bestandteil eines Großtextes und dem Erzählwerk zuzurechnen ist.41 2. Andererseits ist nicht abzusehen von der Gattung, die Johnson wählte, bewußt wählte und die seinen Text an einen (von ihm nicht zu berechnenden) fremden anschließt - jedenfalls in der Intention. Neue Wirklichkeit wird erzeugt, eine Edition muß diesem intendierten Verfahren Rechnung tragen. Unterläßt sie es, zimmert sie sich einen .Johnson' zurecht. Der ist vielleicht gut anzuschauen, aber weit entfernt von den Möglichkeiten, die Johnson in subtilster literarischer Arbeit eröffnet hat.
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Eine solche Edition ist übrigens an der Zeit. Die Voraussetzungen sind günstig, erste Vorarbeiten geleistet, und das anhaltende Interesse an dem Schriftsteller verspricht günstige Rahmenbedingungen. Herold 2002 (Anm. 1), S. 249. Zitiert in Herold 2002 (Anm. 1 ), S. 249f. Man ist bei diesem Ansatz erinnert an das erzählerische Mammutvorhaben Todesarten von Ingeborg Bachmann, freilich in einer Keimform, kaum über erste Konturen hinausgekommen, vorausgesetzt, das Archiv birgt nicht noch Bestände, die eine derartige These erhärten und ausbauen lassen. Vgl. Ingeborg Bachman: „Todesarten"-Projekt. Kritische Ausgabe. 5 Bde. Unter Leitung von Robert Pichl hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München, Zürich 1995.
Anschriften
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