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German Pages 382 Year 2017
B E I H E F T E finita in carnisprivio in Halverstad sub prioratu Hermanni de Duderstad. Amen. Explicit loyca magistri Alberti de Ricmerstorp finita Anno domini millesimo trecentesimo octuagesimo primo In die beati Mathiae apostoli. Vgl. auch Christoph Mackert: Wasserzeichenkunde und Handschriftenforschung. Vom wissenschaftlichen Nutzen publizierter Wasserzeichensammlungen. Beispiele aus der Universitätsbibliothek Leipzig. In: Piccard-Online. Digitale Präsentationen von Wasserzeichen und ihre Nutzung. Hrsg. von Peter Rückert, Jeanette Godau, Gerald Maier. Stuttgart 2007 (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg. Serie A, 19), S. 91‒118, hier S. 111‒118 mit Abb. 28‒30 aus Ms 1367. Zu dieser Handschrift siehe Albert von Sachsen 2010 (Anm. 2), S. LXXII, Nr. 21; S. LXXXV‒ LXXXVII; S. XCV. Vgl. dazu ebd., S. LXXXI‒LXXXIII.
Z U
Herausgegeben von Winfried Woesler
Band 35 41 Band
Textrevisionen Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, Graz, 17. bis 20. Februar 2016 Herausgegeben von Wernfried Hofmeister und Andrea Hofmeister-Winter unter redaktioneller Mitarbeit von Astrid Böhm
De Gruyter
ISBN 978-3-11-049571-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049505-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049308-5 ISSN 0939-5946 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Gewidmet Anton Schwob zum 80. Geburtstag
Inhaltsverzeichnis Vorwort und Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Ältere deutsche Literatur Daniel Könitz Rettungsversuche von späterer Hand. Die umfassenden Schreibereingriffe in der Bremer Sammelhandschrift msb 0042-02 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ylva Schwinghammer / Gerlinde Schneider swer so(e) gehoer gelese daz puech. Die deutschsprachige Marginalüberlieferung der Seckauer Margaretenlegende aus der Grazer Handschrift UB, Ms. 781 als Grundlage einer revisionssensiblen, lernerorientierten Digitalen Edition . . . . . . . . . . . . . 19 Holger Runow Edition als Revision zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Philologie. Zu einer Neuausgabe von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Judith Lange Wo bleibt denn da der Sinn? Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen in Regenbogens Langem Ton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Walter Kofler Neuzeitliche Abschriften als Primär- und Sekundärquellen. Rekonstruktionsversuche am Straßburger und Dresdener Heldenbuch . . . . . . . . . . . . . . . 61 Neuere deutsche Literatur Janina Reibold Textrevisionen in Hamanns Fliegendem Brief. Terminologische Überlegungen zur Unterscheidung von Änderungen in literarischen Entwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Winfried Woesler Versionen von Dramentexten, dargestellt am Beispiel von A. M. Sprickmanns Der Schmuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Walter Hettche „Ausstreichungen Einschaltungen etc.“ Zur Typologie der Textrevisionen in Adalbert Stifters Der Nachsommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
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Inhaltsverzeichnis
Nicole Streitler-Kastberger Ge-Schichten aus dem Wiener Wald. Die Komplexität der Werkgenese von Horváths Volksstück anhand exemplarischer Revisionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Anke Bosse Architextuelle und mediale Transposition als Agens der Textrevision. Werner Koflers Tanzcafé Treblinka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Gabriele Wix Editionsphilologie und Gegenwartsliteraturforschung: Montage als dichterische Praxis bei Marcel Beyer (1965) und Thomas Kling (1957–2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Walter Schübler „Druckfehler sind die Aphorismen der Setzmaschine“. Anmerkungen zum Edieren von Zeitungstexten der 1910er bis 1940er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Roland Berbig Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag). Stichproben bei Ingeborg Bachmann und Thomas Brasch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Bodo Plachta Unerlaubte Variantenvermehrung. Überlegungen zum textkritischen Umgang mit Nach- und Raubdrucken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Kathrin Nühlen / Jonas Wolf Ansichtssache. Möglichkeiten der Darstellung und Interpretation textgenetischer Varianz am Beispiel der historisch-kritischen Edition ‚Arthur Schnitzler digital‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Ariane Martin / Uta Störl Brieftextrevisionen in den Digital Humanities: Die Online-Volltextdatenbank für Briefe von und an Frank Wedekind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Markus Ender „In der Tat macht es ja genügt ja schon dieses ein Wort...“ Zum Umgang mit Textrevisionen in der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Roland Reichen Textstufen und ihre Auszeichnung in Jeremias Gotthelfs SchulmeisterManuskript . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Martin Vejvar Ödön von Horváths Quellenlagen. Briefe, Dokumente, Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Inhaltsverzeichnis
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Musikwissenschaft Ramona Hocker / Rainer J. Schwob Fux durchs Schlüsselloch. Komposition und Revision in Messvertonungen . . . . . . . 243 Ute Poetzsch Korrektur und Revision bei Georg Philipp Telemann – eine Annäherung . . . . . . . . . . 257 Silja Reidemeister „Analoge“ Edition mehrerer Entstehungsfassungen in der Musik – ein Vorschlag am Beispiel von Paul Juons Bläserquintett op. 84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Michael Matter Revisionen in Anton Weberns Klavierstücken aus der Studienzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Andrea Malnati Tebaldo e Isolina by Rossi and Morlacchi from Venice to Dresden: Authorial Variants in Tebaldo’s Gran Scena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Alice Tavilla Typologies of Structural Variants and their Transmission in Giovanni Pacini’s Il Barone di Dolsheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Anja Morgenstern „ein zusammengeknetetes Volumen von Abschriften, Citationen und Plagiaten“. Die Online-Edition der Biographie W. A. Mozart’s (Leipzig 1828/29) von Georg Nikolaus Nissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Margret Jestremski Richard Wagners Textrevisionen als kunstpolitisches Kalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Philosophie Harald Berger Text- und andere werkbezogene Revisionen: Fallbeispiele aus der spätmittelalterlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Niklas Hebing Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels Ästhetik-Vorlesungen. Ein Forschungsbericht zwischen Werkstattreferat und Editionstheorie . . . . . . . . . . . . . 337
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Inhaltsverzeichnis
Register Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Werkregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Quellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Vorwort und Einführung
Vom 17. bis 20. Februar 2016 fand die 16. internationale Plenartagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zum Thema „Textrevisionen“ an der Universität Graz statt.1 Der dazu nun vorliegende, von den beiden Veranstaltern herausgegebene Band vereint die fächerübergreifenden Tagungsergebnisse, genauer gesagt, deren editionsspezifische Vorträge (meist Sektionsvorträge), wogegen die (großteils im Tagungsplenum angesiedelten) Vorträge mit tendenziell editionsübergreifenden Themenstellungen in bewährter Manier für das Jahrbuch editio übernommen wurden: Bereits im Band 30 von editio erschienen sind u. a. die terminologiekritische Auseinandersetzung mit dem Textrevisionsbegriff durch Rüdiger Nutt-Kofoth mit Blick auf die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie die symbiotisch miteinander verknüpften Studien von Andrea Hofmeister-Winter und von Wernfried Hofmeister (gemeinsam mit Astrid Böhm und Helmut W. Klug) seitens der Älteren Deutschen Literaturwissenschaft.2 Speziell auf diese drei Beiträge sei hier deshalb explizit verwiesen, weil deren programmatische Ansätze – in Graz an den Beginn der Tagung gestellt – dabei dienlich waren, jene rege Begriffsdiskussion in Gang zu setzen, die sich in den hier abgedruckten Aufsätzen mitunter aufschlussreich widerspiegelt. Alle Beiträge verbindet ihre engagierte Einlassung auf den Call for Papers, der das Tagungsthema wie folgt auslobte: Das für diese Tagung ins Auge gefasste Thema ‚autornaher Textrevisionen‘ – im breiten Verständnis von der Änderung einer einzelnen Textstelle bis hin zur Neugestaltung eines gesamten Textes – fordert die Editorik auf ganz besondere Weise heraus, denn es berührt zum einen die heikle Verortung des sog. Autorwillens, wie er sich im Verbund mit verschiedenen ‚autorisierenden‘ Instanzen mehr oder minder offen zu erkennen gibt, vielleicht aber auch selbst in Frage stellt. Zum andern betrifft dieses tendenziell fluide Autorkonzept im Begriff der ‚Textrevision‘ jene expliziten Änderungen am Primärtext, welche als Spuren der Textgenese, ja sogar als Lebensspuren dokumentierbar sind und uns zugleich Einblicke in metatextuell selbstreflexive Prozesse oder gar autorspezifische Verschriftungsprozesse gewähren. Zugleich wäre aber der Begriff des Autors und des Autorwillens in Hinblick auf vom Autor beauftragte (und kontrollierte) Korrektoren im Sinne des Begriffes der Autorisation genauso in den Blick zu nehmen wie die Frage, was für eine Operation eine Revision im Schreib- und/oder Druckkontext überhaupt ist, von der rein orthographischen Korrektur bis zur sinnverändernden inhaltlichen Überarbeitung.3
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Unter http://www.ag-edition.org/PROGRAMM_final_Grazer_Textrevisionentagung_2016.pdf findet sich das Tagungsprogramm im Online-Archiv der Arbeitsgemeinschaft. Rüdiger Nutt-Kofoth: Zur Terminologie des textgenetischen Felds. In: editio 30, 2016, S. 34–52. Andrea Hofmeister-Winter: Beredte Verbesserungen. Überlieferungsphilologische Betrachtungen zu Phänomenologie und Sinnproduktion von Textrevisionen in mittelalterlichen Handschriften. In: editio 30, 2016, S. 3–13. Wernfried Hofmeister, Astrid Böhm, Helmut W. Klug: Die deutschsprachigen Marginaltexte der Grazer Handschrift UB, Ms. 781 als interdisziplinärer Prüfstein explorativer Revisionsforschung und Editionstechnik. In: editio 30, 2016, S. 14–33. Siehe den Ausschreibungstext unter http://www.ag-edition.org/Textrevisionen__Thema.pdf.
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Wernfried Hofmeister / Andrea Hofmeister-Winter
Um diesen Ansatz als ein generelles Forschungsdesiderat zu verdeutlichen, fand sich im Ausschreibungstext des offenen – über viele elektronische Verteiler bewusst breit gestreuten4 – Calls noch folgende Präzisierung; sie ging von einem prinzipiellen Wissen um die Relevanz von Textrevisionen aus, schränkte dann aber wie folgt (gezielt motivierend) ein: Doch aus dieser prinzipiellen Wertschätzung – so will es nun der produktive Zweifel, der das Tagungsthema motiviert hat – folgte bislang noch keine ausreichende oder gar systematische Präsentation relevanter Autor-Interventionen im editorischen Zusammenhang, sei es durch angemessen markierte (!) Wiedergaben von Autorkorrekturen direkt im Textus constitutus oder durch deren Kennzeichnung bzw. Erfassung im textkritischen Apparat bzw. in einem Kommentar. Ebenso unzureichend scheint die terminologische Abgrenzung zu sein, weil nach wie vor unentschieden ist, inwiefern sich eine Revision, Korrektur oder eine Änderung voneinander oder etwa von einer Variante unterscheiden. Was ferner in Vorbereitung auf die Tagung einen generellen Impuls liefern mag, sind explorative Betrachtungen, um die ganze Palette an Korrekturphänomenen im Umfeld von mittelalterlichen wie neuzeitlichen Autor-Instanzen in den Blick zu bekommen und auf der Grazer Tagung gerne erstmals zu präsentieren: Nicht zuletzt durch unsere jüngst vermehrten Zugriffsmöglichkeiten auf digitale Archive von Text- und Melodieüberlieferungen dürften hier für scharfe Augen wahre Schätze zu heben sein!5
In der Tat scheint es mit dieser Tagung gelungen zu sein, einerseits Defizite beim bisherigen editorischen Umgang mit Revisionen bewusst zu machen, andererseits Beispiele für bereits sehr ‚revisionssensible‘ Editionen ins Rampenlicht zu rücken bzw. ihre Herausgeber darin zu bestärken, historischen Überarbeitungsspuren mehr Gewicht beizumessen. In Summe zeichnet sich nämlich über alle Fachgrenzen hinweg ab, dass Textrevisionen ein zentraler erkenntnisreicher Ansatzpunkt speziell für das Erschließen textgenetischer Prozesse sind. Dieser Befund bestätigt zudem die Relevanz des von der Grazer Germanistischen Mediävistik vorgeschlagenen Tagungsthemas, welches eng mit der hierorts propagierten Überlieferungsphilologie zusammenhängt; denn zu deren Essenz gehört es, Werkgenesen und historische Werkrezeptionen durch genaueste Ergründung auch der allerkleinsten und unscheinbarsten Phänomene in möglichst plausible Szenarien einzubetten und darin editionstechnisch optimal zu erhellen.6 Wie selbstverständlich verknüpft sich ein solcher Ansatz mit –––––––— 4
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Gemäß dem traditionellen Fächerkanon der „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition“ war dieser Call in erster Linie auf die Germanistik ausgerichtet, aber direkt mit angesprochen wurden die edierenden Fachbereiche der Musikwissenschaften und der Philosophie in Hinblick auf ihre deutschsprachigen Quellen bzw. Werke. Diese Selektion stellt aber keineswegs in Abrede, dass noch in anderen Fächern und deren deutschsprachigen Quellen Textrevisionen vorkommen und von editorischer sowie sachkundlicher Relevanz sind, so etwa in den Geschichtswissenschaften. Ausschreibungstext (wie Anm 3). Vgl. Wernfried Hofmeister: Hightech-Quellenerschließung im überlieferungsphilologischen Spannungsfeld linguistischer und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen. Ein Annäherungsversuch aus editionspraktischer Sicht. Keynote-Vortrag für das interdisziplinäre Nachwuchskolloquium des Projekts LegIT: Der volkssprachliche Wortschatz der Leges barbarorum an der Universität Bamberg unter dem Titel „Handschriften als Quellen der Sprach- und Kulturwissenschaft. Aktuelle Fragestellungen – Methoden – Probleme“ (4.‒5.12.2015). In Druck für 2017 in der Reihe Interdisziplinäre Mittelalterstudien des Bamberger Zentrums für Mittelalterstudien.
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dem Einsatz modernster Technologien aus dem Anwendungsgebiet der EDV bzw. – modern gedacht – der Digital Humanities: Folgerichtig spielte dieser vielerorts heranwachsende Fach- und Kompetenzbereich in gleich mehreren Referaten eine zentrale Rolle, aber auch schon im Vorprogramm der Tagung (gestaltet vom Grazer geisteswissenschaftlichen Zentrum für Informationsmodellierung/Austrian Center for Digital Humanities7), und nicht zufällig, sondern angeregt von der Tagungsleitung, reifte am Rande der Grazer Plenartagung seitens der Leitung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition der Entschluss, ihre vormalige ‚EDV-Kommission‘ in Gestalt einer zeitgemäßen Kommission für Editionswissenschaft und Digital Humanities neu zu etablieren. Das letzte Wort zum Tagungskonzept gelte der Langen Nacht der Textrevisionen, auch um an dieser Stelle zum einen den zu später Stunde munter teilnehmenden Tagungsgästen, nicht minder herzlich zum andern den beteiligten Einrichtungen bzw. deren engagierten Präsentator/innen zu danken: Sie haben durch die anschauliche Ausbreitung ihrer Schätze zum Thema ‚Textrevisionen‘ viel dazu beigetragen, die Tagung gleichsam zu beseelen: So geschehen in der Nacht des 18. Februar 2016 in der Abteilung für Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Graz durch Ute Bergner, im Grazer Literaturhaus und Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung durch Daniela Bartens und in der Bibliothek der Kunstuniversität Graz durch Robert Schiller! Die nun folgenden Kurzzusammenfassungen aller Beiträge erklären indirekt auch den Aufbau des Bandes und mögen allen Leser/innen als rasche Orientierungshilfe willkommen sein. Zusätzlich bieten sie den Herausgeber/innen schon durch ihr verknüpfendes Konstellieren aller Aufsätze die Chance, deren verschiedene Zugänge zum Tagungsthema kompakt zu profilieren und das im Rückblick noch etwas prononcierter, als dies schon auf der Tagung dank einer ähnlich in Fächer gegliederten Panel-Einteilung der Vorträge möglich war. Insofern wollen und können diese knappen Abstracts den Leser/innen die eigene Lektüre nicht ersparen, sondern – eher im Gegenteil – Lust aufs Lesen machen, auch, um überprüfen zu können, ob nicht die eine oder andere Darstellung in den Resümees zu revidieren wäre. Den Auftakt des Bandes machen fünf editionskritische Beiträge zur älteren deutschen Literatur, wobei sich die ersten beiden explizit mit materiellen, also den sichtbaren Spuren von Textänderungen in der handschriftlichen Überlieferung des Mittelalters beschäftigen, die übrigen drei dieser mediävistischen Gruppe hingegen mit gleichsam impliziten Textrevisionen, sei es vor dem Hintergrund einer varianten Überlieferung oder im Lichte neuzeitlicher Textabschriften: Die Studie von Daniel KÖNITZ gilt den aufschlussreichen „Rettungsversuchen“ eines offenbar wachsamen –––––––— 7
Die editionswissenschaftliche Bedeutung dieses schnittstellenhaften und zugleich eigendynamischen Fachbereichs mag auch daraus erhellen, dass ein von dort ausgegangener Antrag zum Thema Kompetenz- und Wissensnetzwerk „Digitale Edition“ vom Österreichischen Wissenschaftsministerium Anfang 2017 genehmigt wurde. Damit können von Graz ausgehend österreichweit zahlreiche führende Einrichtungen ins Thema der Digitalen Edition mit eingebunden werden, darunter last but not least der mediävistische Fachbereich der beiden Bandherausgeber.
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Wernfried Hofmeister / Andrea Hofmeister-Winter
Korrektors, der sich in der Sprüche- und Novellen-Überlieferung der Bremer Sammelhandschrift msb 0042-02 bemüht zeigte, Lücken und Fehler des Hauptschreibers aufzufüllen resp. auszubessern. In den Spuren dieser anonymen Korrekturhand wird neben ihrer ‚Eigenmächtigkeit‘ eine bemerkenswerte Kennerschaft von Texttraditionen erkennbar, und zugleich relativiert sich im Lichte der überlieferungsnahen Untersuchung das vormals allzu herbe Urteil der Fachwissenschaft über den anonymen Hauptschreiber. – Ylva SCHWINGHAMMER und Gerlinde SCHNEIDER nehmen auf die schon oben genannten Terminologievorschläge zur Beschreibung mittelalterlicher Revisionsprozesse durch Andrea Hofmeister-Winter sowie Wernfried Hofmeister, Astrid Böhm und Helmut W. Klug Bezug, um darauf aufbauend in ihrem transdisziplinären Beitrag zu zeigen, wie eine Digitale Edition (im weiteren Sinn des Wortes) speziell für den Schulbereich ‚revisionssensibel‘ aufbereitet werden kann. Durch eine unterrichtsorientierte Optimierung der Textgestalt ihres herausfordernden Paradigmas, nämlich der „Grazer Margaretenlegende“ in Graz UB, Ms. 781, und die Verknüpfung ihrer Transliteration mit einem Digitalisat des singulären unikalen Überlieferungsträgers können sie im Zusammenspiel beider Darstellungsebenen mittels interaktiver Metainformationen sowie Kommentare die zahlreichen Revisionsspuren, aber auch die einst stehen gebliebenen ‚Fehler‘ unterrichtsorientiert visualisieren. Gute Gründe für eine ‚Revision‘ der mittlerweile methodisch überholten Partonopier und Meliur-Edition von Karl Bartsch liefert Holger RUNOW und bezieht dafür auch Beobachtungen zur historischen Gesamtüberlieferung und zur Textgenese dieses Werkes Konrads von Würzburg mit ein. Insbesondere in seiner Neubeurteilung der metrischen Prinzipien, wie sie heute minder verbindlich erscheinen, wird zum einen die fachwissenschaftliche Gratwanderung zwischen Normalisieren und Konjizieren deutlich und liefert der Autor zum andern – auch über seinen Einzelfall hinaus – ein starkes Plädoyer für eine Neuausgabe nach zeitgemäßen Maßstäben. – Einem Editionsprojekt zu Regenbogens Langem Ton gelten die Überlegungen von Judith LANGE. Gezeigt wird von ihr, wie die sorgfältige, auch ‚sinnlose‘ Strophen einschließende Präsentation aller Überlieferungsträger die Chance bietet, in den sich darin abbildenden Textunterschieden vorangegangene Revisionen zu erkennen, die wiederum auf verschiedene Aufzeichnungsprozesse verweisen können, etwa auf den des Diktats als einen auditiven Kopiervorgang. – Auf neuzeitliche Abschriften von historischen Handschriften konzentriert sich Walter KOFLER am Fallbeispiel des Straßburger und Dresdner Heldenbuchs und blickt dabei tief und kritisch in die Editionswerkstatt Friedrich Heinrich von der Hagens. Geschärft wird damit unser Bewusstsein, auf welch wackeligen Beinen Editionen oft stehen, die sich (aus arbeitstechnischen Gründen) einst nicht immer am Original, sondern gelegentlich nur an zeitgenössischen handschriftlichen ‚Kopien‘ orientiert haben. Zugleich wächst im Sinne des Verfassers die Einsicht, dass diese wenngleich fehlerbehafteten Abschriften sehr wohl unsere Anerkennung verdienen, weil sie unter denkbar mühsamen Bedingungen zustande kamen und heute mitunter die einzige Quelle für eine später verloren gegangene mittelalterliche Handschrift darstellen. Thematischen Schwerpunktsetzungen lassen sich auch die 14 Beiträge zu Textrevisionen in der Neueren deutschen Literatur grob zuweisen, wobei mitunter freilich
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Mehrfachzuordnungen in Frage kämen, zumal wenn der jeweils im Zentrum stehende Forschungsaspekt gleichzeitig mit der Erstellung einer (Neu-)Edition zusammenhängt. Analysiert und interpretiert werden einerseits Revisionspraktiken von Autoren, andererseits der Umgang mit Autormanuskripten durch Herausgeber und Verleger; eine dritte Gruppe konzentriert sich schließlich auf das Kerngeschäft der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, nämlich die Editionswissenschaft und deren optimale Berücksichtigung von Textrevisionen (des Autors oder anderer Instanzen). Vielschichtige Eindrücke von ganz unterschiedlichen Schreib- und Revisionsstrategien von Autor/innen, aber auch Überlegungen zu deren wissenschaftlicher Auswertung resp. Interpretation liefern die folgenden sechs Beiträge: Die Frage nach der Praktikabilität traditioneller Terminologie zum Phänomen Textänderungen in der konkreten Anwendung stellt Janina REIBOLD an den Beginn ihres Beitrags und entscheidet sich sodann für die vom römischen Rhetorik-Lehrer Marcus Fabius Quintilianus in seiner Institutio oratoria ursprünglich zur Klassifizierung von sprachlichen Normabweichungen, also Fehlern, eingeführten rhetorischen Termini für Textänderungen (adiectio – Hinzufügung, detractio – Wegnahme, transmutatio – Umstellung und immutatio – Ersetzung) und stützt sich hiefür auf die begriffliche Ausarbeitung durch Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik. Damit kann sie beispielhaft die Revisionsprozesse in Johann Georg Hamanns letztem Schreibprojekt Ein fliegender Brief beschreiben und daran zeigen, wie diese in ihre historisch-kritische Neu-Edition sämtlicher werkgenetisch relevanten Überlieferungen einfließen. – Einen das Tagungsthema etwas weiter fassenden Revisionsbegriff stellt Winfried WOESLER in seinem Beitrag vor: Seine Spurensuche gilt weniger dem Produktionsprozess bis zur Fertigstellung der autorisierten Druckfassung von Dramen, sondern jenen Texteingriffen, die mit oder ohne Zustimmung des Autors nachträglich an der Autorfassung vorgenommen werden, etwa von Regisseuren im Zuge der Einrichtung eines Stückes für die Aufführung. Anhand von Anton Matthias Sprickmanns Stück Der Schmuck erörtert Woesler mögliche Beweggründe für oft gravierende Texteingriffe und Bearbeitungen, die im konkreten Fallbeispiel auf den Autor selbst, Theaterregisseure (Aufführungsvarianten) und Sachzwänge (Zensur) zurückzuführen sind. – Mit den Schwierigkeiten der Interpretation komplexerer Revisionsfolgen in Stifters Roman Nachsommer setzt sich Walter HETTCHE auseinander und führt anhand prätextueller Stufen vor, wie der Autor durch Textrevisionen in der Satzvorlage der Druckausgabe eine distanziertere, minder emotionale Erzählposition einnimmt. Als Bearbeiter der Apparatbände zum Roman Nachsommer in der historisch-kritischen Stifter-Gesamtausgabe plädiert Hettche daher für eine sorgfältige editorische Sicherung solcher (und anderer) textgenetischer Spuren. – Auf Basis des in Band 3 der Wiener Ausgabe Ödön von Horváths erstmals vollständig edierten textgenetischen Materials demonstriert der Beitrag von Nicole STREITLER-KASTBERGER die Arbeitsweise des Autors an seinem Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald. Auch ihr geht es dabei weniger um punktuelle Revisionen, sondern um ganze Entstehungsschichten, die Zug um Zug freigelegt und durch die minuziöse Beobachtung von Phänomenen der ‚Materialwanderung‘ als makrostrukturelle Veränderungen der Textanlage interpretiert werden. – Geradezu intime Einblicke in die Schreibwerkstatt, ja in
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Wernfried Hofmeister / Andrea Hofmeister-Winter
kognitive Prozesse bei der kreativen Umgestaltung von Texten des 2011 verstorbenen Autors Werner Kofler gewährt Anke BOSSE und führt damit vor, wie Textrevisionen als poetisches Verfahren und (mitunter provokantes) Ausdrucksmittel eingesetzt werden, wenn Kofler eigene Texte gleich mehrfach recycelt und so sein Tanzcafé Treblinka durch Montage und Erweiterung sowie textinterne Revision von einem Prosamonolog zu einem Theatermonolog und schließlich zu einem Hörspielmonolog umarbeitet. – In den Zusammenhang einer für das 20. Jh. konstitutiven Poetik der Intertextualität stellt Gabriele WIX Textrevisionen. In ihrer Untersuchung solcher Schreibprozesse zeitgenössischer Autoren stehen Revisionen während des Schreibens aus der Perspektive von Thomas Kling und Marcel Beyer im Fokus, wofür ihr von Letzterem auch selbstreflektierende Aussagen vorliegen. Dass zeitgenössische Autor/innen immer öfter durch bewusste Selbstarchivierung für die Sicherung textgenetischer Daten sorgen, enthebe laut Wix die Editionswissenschaft keineswegs der Aufgabe, eigene Verfahren dafür zu entwickeln, diese Materialien so zu präsentieren, dass sie der Forschung zur Verfügung stehen. Revidierende Eingriffe von Lektoren, Setzern, Herausgebern und Verlegern in Autormanuskripte stehen im Fokus folgender drei Beiträge: Walter SCHÜBLER schildert die nicht immer konfliktfreie Beziehung zwischen Autor und Setzer in tagesaktuellen Medien anhand von Zeitungstexten Anton Kuhs. Im Zentrum des Beitrags stehen die mit spitzer Feder von Kuh eingeforderten Revisionen von Satzfehlern, die Schübler in seiner Edition der Werke dieses Autors unter Heranziehung erhaltener Druckvorlagen als in vieler Hinsicht beredte Zeugnisse so weit wie möglich sichtbar gehalten hat. – Roland BERBIG thematisiert das mitunter viel Ausdauer und Langmut erfordernde Geschäft von Verlegern als ‚Geburtshelfern‘ literarischer Texte im Lichte des Briefwechsels zwischen Thomas Brasch bzw. Ingeborg Bachmann und ihrem Verleger, Lektor und Inspirator Siegfried Unseld (Suhrkamp). Dabei wird erkennbar, wie sich revisionsartige Prozesse für den Lektor resp. Verleger keineswegs auf die ‚Oberflächenpolitur‘ fertiger Texte beschränken, sondern eine derart intensive „Teilhabe am Schöpferischen“ erreichen können, dass man geradezu von einer KoAutorschaft sprechen müsste. – Der in der Forschung noch zu wenig beachteten Sonderform von Revisionen bei der Herstellung von Raub- und Nachdrucken widmet sich der Beitrag von Bodo PLACHTA, indem er an Beispielen aus dem 18. Jh. zeigt, dass durch den Neusatz von ‚Originalausgaben‘ oftmals unbeabsichtigt Varianten produziert wurden. Illustriert wird dies speziell für die Goethe-Editorik im Fall des Werther, der die Literaturwissenschaft bis zum heutigen Tag vor erhebliche textkritische und darstellungstechnische Probleme stellt. Um dem für die Textüberlieferung, aber auch für die Geschichte des Buchdrucks, des Buchmarkts und des Urheberrechts noch immer unterschätzten Phänomen der Raubdrucke besser gerecht zu werden, plädiert Plachta für Neuausgaben, die darauf werkgenetisch eingehen. Mit Textrevisionen im engeren Sinn, also mit jenen materiellen Spuren in Textquellen, die gemäß dem Call for Papers im Zentrum der Tagung standen, beschäftigen sich in Hinblick auf deren editorische Erschließung, Archivierung und Präsentation im digitalen Medium die nachfolgenden fünf Beiträge: Um ihren experimentellen Umgang mit Darstellungsmöglichkeiten von textgenetischen und zugleich revisions-
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bezogenen Prozessen zu veranschaulichen, gewähren Kathrin NÜHLEN und Jonas WOLF Einblick in ihre Projektwerkstatt zu ‚Arthur Schnitzler digital‘. Dort wird daran gearbeitet, herkömmliche ‚statische‘ Apparatformen gedruckter historisch-kritischer Editionen durch ein anwenderfreundliches Benutzer-Interface zu ersetzen, das nicht nur neue Perspektiven auf Textzustände erlaubt und durch die Verknüpfung mit bisher kaum dokumentierbaren Informationen neues Wissen generiert, sondern darüber hinaus je nach spezifischem Erkenntnisinteresse interaktive Zugriffe auf die gebotenen Materialien zulässt. – Von einem ähnlichen Zugang ausgehend verdeutlichen Ariane MARTIN und Uta STÖRL für ihr Projekt ‚Online-Volltextdatenbank für Briefe von und an Frank Wedekind‘, dass außer der Usability (für die Datenauswertung) auch die Eingabe/Annotierung der mitunter sehr komplexen Meta-Informationen möglichst anschaulich und selbsterklärend gestaltet sein sollte. Zu diesem Zweck wurde auf Basis von etablierten Standards (XML, TEI) ein eigenes Annotationstool (WYSIWYG-Editor) entwickelt, dessen Vorzüge hinsichtlich des gesteigerten Erkenntniswertes auch für die Erfassung von Revisionsprozessen von den beiden Verfasserinnen exemplarisch vorgeführt wird. – Der Revisionspraxis einer kulturpolitisch zentralen Persönlichkeit des frühen 20. Jhs. widmet Markus ENDER seinen Beitrag und legt dabei den Schwerpunkt ebenfalls auf die technischen Probleme einer adäquaten Beschreibung von Revisionsphänomenen, diesmal aber angesiedelt im Übergang zwischen zwei Forschungsprojekten mit medial unterschiedlichen Ausrichtungen: Für das Projekt einer Online-Edition des gesamten Briefwechsels Ludwig von Fickers gilt es nämlich, mittels einer hybriden Strategie die seinerzeit mit MS Word erstellten Transkriptionen in XML zu konvertieren und nachträglich mit zusätzlichen Informationen anzureichern. – Um die Darstellung von Entstehungsschichten in einem Überlieferungsträger geht es im Beitrag von Roland REICHEN, der aus der Praxis eines Pilotprojektes zur geplanten Edition des Romans Leiden und Freuden eines Schulmeisters von Jeremias Gotthelf berichtet. Mittels TEI-Codierung werden jene Textanteile gesondert annotiert und in der digitalen Visualisierung, aber auch in der gedruckten Edition in allen Schichtdarstellungen farbig angezeigt, die gemäß den paläographischen und textkritischen Analysen im untersuchten Manuskript eine mehrheitlich klare Unterscheidung zwischen einer Grund- und zwei Korrekturschichten zulassen. – Martin VEJVAR widmet seinen Beitrag zur Quellenlage Ödön von Horváths der Revision einer Edition. Exemplarisch greift er dafür den Briefwechsel des Autors mit Franz Theodor Csokor heraus und zeigt daran die Notwendigkeit einer sorgfältigen Überprüfung und Neubewertung aller überlieferten Zeugnisse auf. Nach Abschluss eines dazu seit 2009 laufenden FWF-Projekts soll eine historisch-kritische Neuedition vorliegen, auf deren Grundlage wohl zumindest Teile der bisherigen Biographie Ödön von Horvaths zu revidieren sein werden. Sowohl in den Medien ‚Text‘ als auch ‚Melodie‘ bewegen sich die musikwissenschaftlichen Beiträge, indem sie dem Phänomen der Revision in Instrumental- oder Vokalkompositionen sowie in Künstlerbiographien und anderen musikhistorischen Schriftwerken nachspüren. An den Beginn gestellt sind hier vier quellenkritische Untersuchungen mit aufschlussreichen Erkenntnissen zur eigenhändigen Notenaufzeichnung durch Komponisten bzw. zu deren Schaffen zwischen der Barockzeit und
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der Moderne: Nach speziellen terminologischen Erwägungen verdeutlichen Ramona HOCKER und Rainer J. SCHWOB, wie anhand autographer Korrekturen und Revisionen in den Messvertonungen von Johann Joseph Fux eine Annäherung an seinen einstigen Kompositionsprozess möglich wird, und zwar für seine Notationen und Textunterlegungen. Diese augenfälligen Änderungsprozesse – darunter zahlreiche ‚minimalinvasive‘ Änderungen und so manche Sofortkorrektur – entpuppen sich in Summe als konstitutiver Teil einer gelebten und zugleich gelehrten, in vieler Hinsicht offenen Kompositionstechnik, welche es dementsprechend auch editorisch sichtbar zu halten gelte. – Vor dem Hintergrund einer schon vorhandenen Referenzedition zu Georg Philipp Telemann versucht Ute POETZSCH die bislang nicht hinreichend erschlossene Arbeitsweise dieses Komponisten näher zu beleuchten und bezieht sich dafür in dem (von ihr so genannten) Werkstattbericht auf ausgewählte Eigenschriften des Künstlers, in denen sich – blickt man über die Edition hinaus in die autographen Manuskripte – sowohl noten- als auch textbezogene Korrekturen bzw. Revisionen von werkgenetischer Bedeutung zeigen. In Summe scheinen Telemanns Eingriffe zum einen Verdeutlichungen des von ihm Gemeinten widerzuspiegeln, zum andern der Umsetzung konzeptueller Änderungen zu dienen. – Mit dem Ziel einer genetischen Buchedition vor Augen, die zugleich (sogar prima vista) spielbar ist, erläutert Silja REIDEMEISTER anhand diverser Änderungsvorgänge im Notenmaterial die Aufzeichnungstechnik des Komponisten Paul Juon am Beispiel seines Bläserquintetts op. 84. Editorisch mit einbezogen werden von ihr Musikernotizen im Notenmaterial, weil sich darin variante (Entstehungs-)Fassungen etablieren. – Ebenfalls eine zentrale Rolle spielen Revisionsakte für Michael MATTERs Konzept einer neuen Anton Webern-Gesamtausgabe; insbesondere die Online-Version soll möglichst viele werkgenetische Spuren sichtbar machen bzw. halten. Der zu erwartende Erkenntnisgewinn verspricht – über die Einzelwerke hinausreichend – Einblicke in generelle kompositorische Zusammenhänge, etwa in eine Schüler-Lehrer-Beziehung, welche u. a. Weberns frühe Klavierwerkentwicklung in Richtung Tonalitätsüberwindung geprägt zu haben scheint. Die folgenden beiden Aufsätze gehen der Aussagekraft von Revisionen in Opernlibrettos auf den Grund und enthüllen dabei ebenfalls Bemerkenswertes: So demonstriert Andrea MALNATI (in seinem englischsprachigen Beitrag) für den Opernkomponisten Francesco Morlacchi, wie dieser von Beginn weg für sein erfolgreiches Werk eigenhändig weitere Librettoverbesserungen vorgenommen hat, diese Optimierungen hernach von anderen fortgesetzt wurden und wie Morlacchi wenig später für eine ehrenvolle Dresdener Aufführung neuerlich selbst Verbesserungen vornahm, gegen die jedoch am Ende ein einflussreicher Sänger ein Veto einlegte, wohl, um die ihm bereits geläufigere ältere Fassung darbieten zu können. – Eine ganz ähnliche Einflussnahme durch Sänger illustriert (gleichfalls in englischer Sprache) Alice TAVILLA in ihrem systematisch durchstrukturierten, tabellen- und detailreichen Aufsatz am Beispiel von Giovanni Pacinis Überlieferung der Oper Il Barone di Dolsheim. Als editorisch besonders relevante Kristallisationspunkte werden in der Nachzeichnung des Kräftespiels zwischen dem Komponisten und den Ausführenden Typen von Libretto-
Vorwort und Einführung
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anpassungen erkennbar, die als langlebige (engl. permanent), sporadisch wiederkehrende (intermittent) oder nur kurzlebige (ephemeral) Elemente auftreten. Ganz dem Textmedium gewidmet sind die letzten beiden musikwissenschaftlichen Analysen zum Schaffen und Leben berühmter Komponisten: Im Mittelpunkt von Anja MORGENSTERNs Präsentation einer neuen Biographie, die in Form einer OnlineEdition auch auf Textrevisionen Bedacht nimmt, ja diese methodisch ins Zentrum rückt, steht Wolfgang Amadeus Mozart. Anders, als dies in der dafür aktuell maßgeblichen Buchedition (2010) möglich ist, sollen mittels elektronischer Darstellung signifikanter Revisionsvorgänge die diversen Quellenschichten besser erkennbar und u. a. von Einstreuungen plagiatsverdächtiger Elemente separierbar werden. – Ihre tragende Mitgestaltung an der (in Würzburg vorbereiteten) historisch-kritischen Ausgabe der Schriften von Richard Wagner nimmt Margret JESTREMSKI zum Ausgangspunkt, um zu veranschaulichen, wie anhand der vorgesehenen Einbeziehung von Textrevisionen (im kritischen Apparat) werkgenetische Prozesse nachvollziehbar gemacht werden können. Verdeutlicht wird das editorische Potenzial dieses aussichtsreichen Ansatzes an drei konkreten Werkstattbeispielen. Den thematischen Abschluss des Bandes bilden zwei Aufsätze zur Revisionsforschung aus dem Quellenfeld der Philosophie resp. ihrer Werkgeschichte. Beide Beiträge machen deutlich, dass auch in diesem Fachbereich Revisionen äußerst aufschlussreiche und somit editionsrelevante Phänomene darstellen. Darüber hinaus bereichern sie den Tagungsband durch ihre methodisch sowie zum Teil auch terminologisch anregenden Ansätze, aber auch durch die Einbeziehung ansonsten eher wenig beachteter Überlieferungsmedien aus dem historischen Kontext philosophischer Lehrverbreitung: Gestützt auf seine Unterscheidung zwischen den vom Verfasser intendierten und nicht-intendierten sowie in der Überlieferung effektuierten und nicht-effektuierten Revisionen gelangt Harald BERGER am Beispiel der (von ihm bereits edierten) philosophischen Schriften von Albert von Sachsen und Heinrich Totting von Oyta zu erhellenden Szenarien in Hinblick auf die historischen Entstehungs- und Aufzeichnungsumstände. Gleichsam hinter dem erhaltenen, uns vertrauten Text werden dabei auch die dokumentierten, jedoch offenbar nicht umgesetzten Werkpläne erkennbar. – Niklas HEBING nimmt seine Mitwirkung an einer neuen historisch kritischen Hegel-Ausgabe zum Ausgangspunkt dafür, den Stellenwert einer möglichst transparenten Erfassung von Textrevisionen für dieses Editionsprojekt zu beschreiben. Sein exemplarisches Hauptaugenmerk gilt dem Medium der Vorlesungsnach- bzw. -mitschrift zu Hegels Ästhetikvorlesung: Bislang in seiner Rolle und Nachwirkung offensichtlich unterschätzt, formt speziell dieses transmediale Bindeglied zwischen philosophischem Autor und seiner ‚Welt‘ eine Art Brücke, für deren Belastbarkeit nicht zuletzt die darin vorhandenen Revisionsspuren eine – um im Bild zu bleiben – tragende Rolle spielen. Am Ende des Sammelbandes findet sich ein Register, das von Astrid Böhm in Kooperation mit den Herausgebern gestaltet wurde. Dieses soll es erleichtern, nach Stichwörtern aus den Schlüsselkategorien Person (Autor/Komponist/Schreiber/historische
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Persönlichkeit), Werk (Werk-/Liedtitel) und Quelle (Vorlage/Überlieferungszeuge) zu suchen. Bleibt den Herausgebern am Ende ihres Vorworts der bekanntlich angenehmste Teil, nämlich das Aussprechen von Danksagungen. Schon im Rahmen der Tagung konnten wir dem Land Steiermark, der Universität Graz sowie der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition für ihre namhaften Unterstützungen danken, doch sei dies hier gerne und angemessen wiederholt: Ohne die vertrauensvolle Kofinanzierung von Seiten all dieser Stellen trotz bekanntlich ‚schwieriger‘ gewordener Zeiten hätten keineswegs alle eingeladenen Vortragenden den Weg zur Tagung und schließlich in diesen Sammelband finden können. Eine ganz besondere Danksagung verbindet sich mit der Widmung des Tagungsbandes an Anton SCHWOB: Er war es, der bei seiner Grazer Lehrstuhlübernahme 1982 sein editorisches Opus magnum der Herausgabe aller Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein8 aus Innsbruck mitbrachte und damit nicht nur die Grazer Mediävistik rasch zu einer der ersten Adressen für eine zeitgemäße Editorik werden ließ, sondern den damals noch jungen Herausgebern dieses „Textrevisionen“-Bandes schon früh dabei half, in der Editionswissenschaft auf internationaler Ebene Fuß zu fassen. Meilensteine auf Anton Schwobs Weg zum Ausbau seines Fachbereichs zu einer editorischen Hochburg im Süden des deutschen Sprachraums waren u. a. 1988 die große internationale Tagung „Historische Edition und Computer“9 und 1996 die von ihm erstmals nach Graz geholte Plenartagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zum Thema „Quelle – Text – Edition“.10 Dass genau 20 Jahre später – im Februar 2016 – die zweite Plenartagung in Graz wieder unter mediävistischer Ägide stattfinden konnte, hat somit eine lange, produktive Vorschichte. Umso mehr freut es die Herausgeber, Anton Schwob im Jahr seines 80. Geburtstages durch die Widmung dieses Tagungsbandes den gebührenden Dank aussprechen zu dürfen: Möge der bunte Beitragsstrauß ihm gefallen und darüber hinaus für viele andere zu einer fächerübergreifend willkommenen Inspirationsquelle im spannenden Forschungsfeld der editorischen Überlieferungskritik werden! Graz, im Juni 2017
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Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein: Edition und Kommentar. Hrsg. von Anton Schwob und Ute Monika Schwob. 5 Bde. Wien 1999–2013. Publiziert als: Historische Edition und Computer. Möglichkeiten und Probleme interdisziplinärer Textverarbeitung und Textbearbeitung. Hrsg. von Anton Schwob, Karin Kranich-Hofbauer und Diethart Suntinger. Graz 1989. Publikation der (Sektions-)Beiträge durch Anton Schwob und Erwin Streitfeld (Hrsg.): Quelle ‒ Text ‒ Edition. Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio. 9).
Daniel Könitz
Rettungsversuche von späterer Hand Die umfassenden Schreibereingriffe in der Bremer Sammelhandschrift msb 0042-02
Im Zusammenhang mit seiner 1834 veröffentlichten Freidank-Ausgabe urteilte Wilhelm Grimm über die heute in der Bremer Staats- und Universitätsbibliothek aufbewahrte Sammelhandschrift msb 0042-021, dass sie im Hinblick auf das darin überlieferte Freidank-Korpus „häufig einen bis zu völliger Unverständlichkeit verderbten Text“2 biete. In der 26 Jahre später veröffentlichten zweiten Ausgabe der FreidankTexte fällt das Urteil etwas milder aus: ich habe schon früher den wert der lesarten von D [Bremer Handschrift] und E [Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. 2.4 Aug. 2°] erkannt, die in nicht wenigen fällen allein das richtige gewährten, und habe daher die vermutung geäuszert dasz die quelle dieser umstellung dem ursprünglichen text am nächsten gestanden habe.3
Grimm schreibt dann aber doch wieder von „der rohen in D und E eingedrungenen verderbnis“. Und auch Hans-Friedrich Rosenfeld beklagt in seinen ‚Mittelhochdeutschen Novellenstudien‘ den „weit unerfreulicheren Eindruck“4 der Bremer Handschrift und spricht im Hinblick auf den Schüler zu Paris von „der Schlechtigkeit des Textes“5. Er macht dafür wesentlich den Schreiber verantwortlich, der teilweise „den Sinn überhaupt nicht verstanden hat“6, und wundert sich weiter, „wie ein Mensch es fertig bekam, Silben über Silben hinzuschreiben, ohne sich dabei irgendetwas zu denken“7. Eine Sonderstellung innerhalb der mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung erhält der Bremer Codex aber nicht nur aufgrund der zu bemängelnden Schreiberqualität. Die Handschrift enthält außerdem die unikal erhaltenen Texte Nachtigall A8 und Liebeswerbung9. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen sollen dagegen die umfangreichen, von einer zweiten Schreiberhand nachträglich ausgeführten –––––––— 1
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Ich danke an dieser Stelle herzlich Maria Hermes-Wladarsch von der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen für die freundliche Genehmigung, meinen Ausführungen Abbildungen aus dem Bremer Codex beifügen zu dürfen. Wilhelm Grimm (Hrsg.): Vridankes Bescheidenheit. Göttingen 1834, S. XIII. Wilhelm Grimm (Hrsg.): Freidank. 2. Ausgabe. Göttingen 1860, S. XXIII. Hans-Friedrich Rosenfeld: Mittelhochdeutsche Novellenstudien. I. Der Hellerwertwitz, II. Der Schüler von Paris. Leipzig 1927 (Palaestra. 153), S. 324. Rosenfeld 1927 (Anm. 4), S. 316. Ebd., S. 318. Ebd., S. 324f. Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: ‚Die Nachtigall A‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. 2Verfasserlexikon. Bd. 6 (1987), Sp. 842–844; www.handschriftencensus.de/werke/1710. Vgl. Ingeborg Glier: ‚Liebeswerbung‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. 2Verfasserlexikon. Bd. 5 (1985), Sp. 806f.; www.handschriftencensus.de/werke/1712.
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Texteingriffe stehen, mit denen sich die Forschung bisher nur am Rande beschäftigt hat. Die Bremer Verserzählungen wurden schon früh der Forschung bekannt gemacht,10 allerdings ausschließlich in der korrigierten Textgestalt und ohne detailliert auf die Schreiberkorrekturen einzugehen.11 Einen Eindruck der Bremer Überlieferung lieferte 1920 Heinrich Meyer-Benfey in seinen ‚Mittelhochdeutschen Übungsstücken‘, wo er den Bussard buchstabengetreu und mit Verzeichnung aller Streichungen und Korrekturen abdruckte.12 In seinen Studien zum Schüler zu Paris beschäftigte sich HansFriedrich Rosenfeld ausführlich mit dem von ihm als „Korrektor“ bezeichneten Schreiber. Er datiert ihn in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts und äußert im Hinblick auf die Texteingriffe die Vermutung, „ob der Korrektor hier ganz spontan geändert hat, oder ob er dafür eine Unterlage hatte“. Rosenfeld stellt dann die These auf, dass sich aus der Mehrzahl der Besserungen ergebe, dass der Korrektor „mit ziemlicher Bestimmtheit [...] eine schriftliche Vorlage nicht hatte“.13 Irene Stahl hebt in ihrer Katalogbeschreibung zum Bremer msb 0042-02 grundsätzlich und fehlerhaft (s. u.) hervor, dass einzelne Texte der Bremer Handschrift mit „Korrekturen von gleicher Hand“14 versehen wurden. Zuletzt wurden die Schreibereingriffe im Rahmen der Edition des Bussard behandelt.15 Eine qualitative und quantitative Analyse der unterschiedlichen Schreibereingriffe und Korrekturen für die gesamte Bremer Handschrift fehlte bisher. Im Folgenden wird nach einer kurzen Vorstellung der Bremer Handschrift zunächst ein Überblick über die Schreiberhände des Codex msb 0042-02 geboten. In einem eigenen Abschnitt folgen dann Beispiele für die Texteingriffe des „Korrektors“. Diese sollen belegen, dass die Bremer Handschrift von einem verständigen Schreiber zu einem späteren Zeitpunkt ohne Verwendung schriftlicher Vorlagen bearbeitet wurde. Rosenfelds These einer vorlagenunabhängigen Durchsicht würde somit über den Schüler zu Paris hinaus auch für die übrigen Texte der Handschrift Gültigkeit erlangen. In einem abschließenden Teil wird der Blick auf die überlieferungsgeschichtliche Bedeutung des Bremer Codex im Kontext der mittelalterlichen Tradierungspraxis gerichtet. Bei dem Bremer Sammelcodex msb 0042-02 handelt es sich um eine eher schmucklose Papierhandschrift, die aufgrund der verwendeten Wasserzeichen im zweiten –––––––— 10 11
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Nikolaus Meyer und Ernst Friedrich Mooyer: Altdeutsche Dichtungen. Quedlinburg/Leipzig 1833. In ihrem „Vorbericht“ schreiben Meyer/Mooyer in diesem Zusammenhang: „Daſs der Kodex im sechzehnten Jahrhundert von einem Andern revidirt wurde, ist aus den Verbesserungen, die hin und wieder vorgenommen wurden, und aus dem Hinzufügen ausgelassener Verse etc. ersichtlich. Der erste Abschreiber ist auſserordentlich nachlässig zu Werke gegangen: eine groſse Anzahl von Elisionen legt Zeugniſs davon ab; doch ist auch der Revisor nicht aufmerksam genug gewesen, denn man bemerkt noch, daſs viele Verse ganz fehlen, andere, oft sinnlos, entstellt sind“ (S. IXf.). Heinrich Meyer-Benfey: Mittelhochdeutsche Übungsstücke. 2. Aufl. Halle/Saale 1920, S. 112–131. Rosenfeld 1927 (Anm. 4), S. 320. Irene Stahl: Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen. Wiesbaden 2004 (Die Handschriften der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen. 1), S. 139–141. Vgl. Daniel Könitz (Hrsg.): Der Bussard. Edition, Übersetzung und Kommentar. Stuttgart 2017 (ZfdA. Beiheft. 24), S. 29–31.
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Viertel des 15. Jahrhunderts im alemannischen bzw. elsässischen Sprachraum angefertigt wurde.16 Mit einer Blattgröße von 215 × 140 mm und einem einspaltig mit meist 24 Zeilen großzügig beschriebenen Schriftraum von 145‒150 × 90 mm entspricht der Codex einem im Spätmittelalter verbreiteten Handschriften-Typ. Er enthält abgesehen von roten Lombarden und Streichungen kaum nennenswerte Rubrizierungen und weist auch bei Schrift und Einband eine einfache Ausstattung auf. Die in der Handschrift überlieferten Texte stellen eine interessante Zusammenstellung dar: Bl. 1r‒64r Bl. 64v‒96r Bl. 96v‒118v Bl. 119r‒125r Bl. 125r‒136v Bl. 137r‒151r Bl. 151v‒164v Bl. 164v‒169v Bl. 169v‒171v
Gesamtüberlieferung17 Freidank 195 Alexius F 2 Der Bussard 4 Jakob Appet: Der Ritter unter dem Zuber 4 Liebeswerbung 1 Schondoch: Die Königin von Frankreich 21 Der Schüler zu Paris A 4 Die Nachtigall A 1 Von eime trunken buoben (Des Buben Paternoster) 3
Die Überlieferungszahlen der in der Bremer Handschrift enthaltenen Texte belegen, dass wir es mit Ausnahme von Freidank und Schondochs Königin von Frankreich mit sehr schwach oder unikal überlieferten Texten zu tun haben. Die gemeinsame Überlieferung der einzelnen Verserzählungen ist außergewöhnlich. Von den acht Texten sind lediglich zwei ein weiteres Mal gemeinsam in einer uns bekannten Handschrift überliefert.18 Die Mitüberlieferung von Verserzählungen, Minnereden und geistlichen Verstexten zu sog. „gemischten poetischen Sammlungen“ beschreibt Arend Mihm in seinen Märenstudien.19 Die „gelegentlich[e]“ Kombination dieser Textsorten mit „größere[n] didaktische[n] Werke[n]“ wie z. B. dem Freidank gelten als „weniger augenscheinlich“, wenngleich der Forschung vergleichbare Überlieferungsverbünde aus dem 15. und 16. Jahrhundert bekannt sind.20 Als Erklärung für „diese ungewöhnlich erscheinenden Kombinationen“ verweist Mihm auf die im Spätmittelalter verbreitete Verwendung von kleineren Verserzählungen als „Exempel und Anschauungsbeispiele für richtiges oder falsches Verhalten“21. Berndt Jäger kommt in seiner –––––––— 16 17 18
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Zur Handschrift vgl. Stahl 2004 (Anm. 14), S. 139–141 sowie die Beschreibung im ‚Handschriftencensus‘ (www.handschriftencensus.de/2499). Zur Anzahl der Textzeugen vgl. die jeweiligen Werk-Einträge im ‚Handschriftencensus‘ (Stand: 01.02.2017). Einzig die Nürnberger Handschrift 5339a des Germanischen Nationalmuseums enthält neben dem Freidank noch den Ritter unter dem Zuber und Schondochs Die Königin von Frankreich. Mit Freidank überliefert sind der Bussard (Karlsruhe, Landesbibl., Cod. St. Georgen 86) und Von eime trunken buoben (Des Buben Paternoster) (Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 104). Arend Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967 (Germanische Bibliothek. 3. Reihe), S. 116–120. Vgl. ebd., S. 117f. – Einschlägig zur Freidank-Überlieferung ist das ‚Marburger Repertorium der Freidank-Überlieferung‘ (http://www.mrfreidank.de). Ebd., S. 118.
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Freidank-Studie22 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Freidank-Texte „weniger häufig [...] in Kollektionen mit Maeren-Schwerpunkt oder in Rede-Sammlungen“23 zu erwarten sind. Die in der Bremer Sammelhandschrift anzutreffende Verbindung von Reimpaarkleinformen mit Freidank war „in Stadtkreisen (Bürger, Patrizier) [...] den Sammelbecken verschiedenster Interessen und Gruppen“ beliebt, da dort ein „besonderer Bedarf an Belehrung und Orientierungshilfen“24 bestanden habe. Die Handschrift msb 0042-02 ist demnach ein Beispiel für die Freidank-Überlieferung „in der Umgebung von ‚Gattungen der weiteren Verwandtschaft‘ (bîspel – maere – rede u. s. w.)“, in der er eine „eigenständige, i. a. umfangreichere Gruppe“ darstellt.25 In der einschlägigen Katalogbeschreibung der Bremer Handschrift weist Irene Stahl darauf hin, dass die Texte Bussard, Liebeswerbung, Der Schüler zu Paris A, Die Nachtigall A und Des Buben Paternoster „Korrekturen von gleicher Hand“26 enthalten. Nach gründlicher Untersuchung des Bremer Codex stellt sich allerdings heraus, dass diese Beobachtung in zwei Punkten zu korrigieren ist: Zum einen finden sich auch in Jakob Appets Ritter unter dem Zuber zahlreiche Korrektureingriffe (s. u.), und zum anderen stammen die erwähnten „Korrekturen“ nicht vom Hauptschreiber, sondern von der späteren Hand des Korrektors. Es finden sich im Bremer Sammelcodex unterschiedliche Spuren von mehreren Schreiberhänden. Zum besseren Verständnis erscheint es daher angebracht, zunächst die einzelnen Schreiberhände vorzustellen und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Bremer Handschrift zu untersuchen. Ich unterscheide im Folgenden vier Schreiberhände, denen Eingriffe in die Textgestalt des Codex zugeordnet werden können. Die in der Sammelhandschrift enthaltenen Texte stammen alle von einer Hand. Diesen Hauptschreiber kann man aufgrund der in der Bremer Handschrift aufscheinenden Wasserzeichen mit einiger Sicherheit in das zweite Viertel des 15. Jahrhunderts datieren. Über die Qualität dieses Schreibers hat sich Rosenfeld „vielfach staunend“27 geäußert. In der Handschrift finden sich an zahlreichen Stellen Streichungen und Besserungen des Hauptschreibers, die zum größten Teil entweder auf fehlerhaftes Kopieren eines korrekten Textes oder aber auf das rein mechanische Abschreiben einer bereits fehlerhaften Vorlage zurückgehen.
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Berndt Jäger: „Durch reimen gute lere geben“. Untersuchungen zu Überlieferung und Rezeption Freidanks im Spätmittelalter. Göppingen 1978 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 238). Ebd., S. 139. Ebd., S. 142. Ebd., S. 144. Stahl 2004 (Anm. 14), S. 140f. Rosenfeld 1927 (Anm. 4), S. 324.
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Abb. 1: msb 0042-02, Bl. 8v
Abb. 2: msb 0042-02, Bl. 9r
Abb. 3: msb 0042-02, Bl. 23r
Abb. 4: msb 0042-02, Bl. 57v
Der Hauptschreiber erkennt häufig noch während des Abschreibprozesses sein Versehen, streicht das Fehlerhafte und notiert unmittelbar im Anschluss den ‚richtigen‘ Text. Dabei muss der Schreiber teilweise auf den Blattrand ausweichen. Die sich bei den verschriebenen Partien wiederholenden Buchstaben w, g und d belegen eindeutig die Schreiberidentität des Hauptschreibers und veranschaulichen seine Vorgehensweise während der Kopiertätigkeit. An einigen Stellen im Bremer Sammelcodex finden sich jedoch auch mit roter Tinte ausgeführte Korrekturen oder Streichungen, die auf den Rubrikator der Hand-
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schrift schließen lassen. Dessen Arbeit zeigt sich in der Handschrift ansonsten meist in mehrzeiligen Lombarden28 und der Auszeichnung von Zeilenanfängen.
Abb. 5: msb 0042-02, Bl. 127v
Abb. 6: msb 0042-02, Bl. 64v
Wenn man nicht davon ausgeht, dass der Hauptschreiber während seiner Kopiertätigkeit die Feder bzw. die Tinte gewechselt hat, dann muss man bei den Streichungen (Abb. 5) von einer nachträglich durchgeführten Korrektur ausgehen. Im Rahmen der mittelalterlichen Buchherstellung waren üblicherweise „das Schreiben des Textes und das Rubrizieren zwei verschiedene, zeitlich aufeinander folgende Arbeitsgänge“29: Ein Schreiber kopierte zunächst den Haupttext und ließ dabei beispielsweise für Initialen oder Lombarden am Zeilenanfang einen Leerraum. In der Folge füllte der Rubrikator diese Lücken aus und fügte dem Text ggf. weitere Auszeichnungen hinzu.30 –––––––— 28
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Einzeilige Lombarden finden sich vor allem, wenn sie, möglicherweise aufgrund ‚schlechter‘ Textplanung des Schreibers, in der letzten Zeile einer Seite stehen (z. B. Bl. 12v, 73v, 97r, 119r*, 144r). Einmal hat der Rubrikator eine Lombarde zu Seitenbeginn nicht ausgeführt (Bl. 150r), fehlerhaft sind z. B. die E-Lombarde gegen vorgezeichnetes D (Bl. 2v: EEr wiſen vn̄ der dom mē ſtrit), ein T (statt L) auf Bl. 53v (Tiegen triegen iſt ein ſÿt) sowie der mit einer W-Lombarde einsetzende erste Bussard-Vers WIr ſeit min ſinne vn̄ ouch mȳ můt (Bl. 96r) und eine V-Lombarde zu Beginn des Schüler von Paris A (Bl. 151r), die im Text wiederholt wird (Vvō min̄ e liſet mā dicke). Vgl. zu fast allen Beispielen grundsätzlich Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl. Tübingen 2009 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. Ergänzungsreihe. 8), S. 150–152. Vgl. ebd., S. 150. Ein anschauliches Beispiel für das nachträgliche Hinzufügen einer Lombarde zeigt sich im ersten Vers des Alexius F (Abb. 6). Hier übermalte der Rubrikator mit der O-Lombarde teilweise die ersten Buchstaben des Textes. Daneben scheint auch die Lombarde O falsch gewählt. Die leicht eingerückten ersten vier Zeilen des Alexius F weisen eher auf eine I-Lombarde. Dazu passt zum einen das in heſus fehlende
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Aufgrund des defekten Reims ſtat/mere werden die sorgfältig innerhalb des Schriftspiegels notierten letzten beiden Verse auf Bl. 127v gestrichen. Auf Bl. 128r folgen unmittelbar die Verse Ich ſprach ich ſtirbe an dirre ſtat / Su ſprach dʒ iſt wor wie det dir dʒ bat. Während der erste Vers identisch wiederholt wird, ist durch die Änderung von mir alſo mere zu wor wie det dir dʒ bat der Reim hergestellt. Mit großer Wahrscheinlichkeit stand das defekte Verspaar samt anschließender Berichtigung bereits in der Vorlage und wurde vom Hauptschreiber vollständig kopiert. Erst bei der Rubrizierung fiel der überflüssige fehlerhafte Text auf, der dann, anders als in der Vorlage, vom Rubrikator gestrichen wurde. Der einzige im engeren Sinn textkorrigierende Eingriff des Rubrikators findet sich in Schondochs Königin von Frankreich auf Bl. 146r. Hier wurde in Rot das semantisch notwendige Wort künig zwischen DEr und ſchrei über der Zeile ergänzt.
Abb. 7: msb 0042-02, Bl. 146r
Das vom Rubrikator nachgetragene Wort künig verdeutlicht zweierlei: Zum einen wird durch die Ergänzung belegt, dass die in unmittelbarer Nachbarschaft stehende DLombarde nicht rein mechanisch ausgeführt worden ist, sondern der dazugehörige Vers DEr ſchrei we mir ach vom Rubrikator als defekt erkannt wurde. Der rote Strich vereindeutigt zusätzlich die notwendige Textergänzung. Vergleicht man darüber hinaus die nur in dem Wort künig greifbare Schrift des Rubrikators mit der des Hauptschreibers (vgl. Abb. 5: klage und Abb. 6: keiſer), so zeigt sich anhand der markanten Buchstaben k und g, dass es sich in beiden Fällen um denselben Schreiber handelt. Der Hauptschreiber hat die Bremer Handschrift also in Personalunion auch rubriziert.31 Ein Schreibereingriff der besonderen Art findet sich im Alexius F auf Bl. 87r der Bremer Sammelhandschrift. Die Textstelle befindet sich im letzten Drittel der Dichtung und umfasst die Verse 1091‒1104.32 –––––––—
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i und zum anderen das deutlich über den Schriftraum hinausreichende O. – Textgeschichtlich interessant ist, dass in der Moskauer Parallelüberlieferung der Alexius F tatsächlich mit einer vierzeiligen O-Lombarde beginnt (Bl. 187r: O Jheſu criſt vil suſſer got). Schneider 2009 (Anm. 28), S. 150, stellt fest, dass in vielen vor allem spätmittelalterlichen Gebrauchshandschriften „nicht selten [...] Text und rote Überschriften von derselben Hand“ stammen. Die Versangaben beziehen sich auf Hans Ferdinand Massmann: Sanct Alexius Leben in acht gereimten mittelhochdeutschen Behandlungen. Quedlinburg/Leipzig 1843 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur. 9), S. 118–139 (Abdruck nach der Bremer Handschrift).
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Abb. 8: msb 0042-02, Bl. 87r
In Vers 1094 und 1096‒1101 fällt eine abweichende Schrift auf. Die Buchstaben sind kleiner und in einer gotisch gebrochenen Schreibweise notiert, die beim Majuskel-A in Alexius (1096) oder den w in waʒ (1098) und wag (1100) hervorsticht. Auch das Schaft-s und die sonst ‚runden‘ Buchstaben d, o und a weisen häufig Brechungen auf. Die Schrift unterscheidet sich deutlich vom übrigen Alexius-Text und stammt in jedem Fall nicht vom Hauptschreiber. Auch können diese Schriftabweichungen nicht mit einem Federwechsel o. ä. Veränderungen im Schreibprozess erklärt werden. Es muss ein zweiter Schreiber (mit Kanzlei-Hintergrund?) für wenige Verse ‚eingesprungen‘ sein und einen vom Hauptschreiber zunächst ausgesparten Leerraum nachträglich ausgefüllt haben. Während die Lücke nach Vers 1093 und 1095 sowie vor Vers 1101 aufgrund des jeweils unvollständigen Reimpaares für den Hauptschreiber zu erschließen gewesen ist, erstaunt der für exakt zwei Reimpaare erübrigte Freiraum zwischen Vers 1096 und 1100. Darüber hinaus haben wir es hier mit einer passgenauen Textergänzung zu tun, die beinahe wortwörtlich mit der nur aus einer Moskauer Handschrift33 (drittes Viertel 15. Jahrhundert) bekannten Parallelüberlieferung übereinstimmt. –––––––— 33
Die Handschrift mit der Signatur Fonds 181, Nr. 1354, Opis’ 15 befindet sich im Moskauer Russischen Archiv der alten Akten. Vgl. www.handschriftencensus.de/19848.
Rettungsversuche von späterer Hand
msb 0042-02 (Bl. 87r) Er leit es vil getulteclich vn̄ bat got vil erneſtlich ‒. . Fur die die yme die ſmocheit Tatent wonne in ſine erbeit Duhte in do vil cleine Alexius der reine Nam alle ʒit in ſinen ſin waʒ got erlitten hatte durch in Vnd durch alle criſten heit Do von wag er ſine arbeit Deſte ringer vnd ſin not Er gedohte an den bittern tot Den got an dem crutʒe nam
9 Fonds 181, Nr. 1354, Opisʼ 15 (Bl. 205r) Er leyd es vil gedulticlichen vnd bad got von hymelrÿchen Fur die die ÿm ſmacheÿt Tatentt wan ÿn ſin erbeit Duchte da vil kleÿne Alexius der reyne Nam alleczÿt in ſÿnen ſin was got der liden hette durch ÿn vnd durch alle die kriſtenheÿt do von wag er ſin erbeÿt Deſter geringer vnd ſin not Er gedachte alleʒÿt an den bittern dot Den got an dem crutʒe nam
Der vom Hauptschreiber der Bremer Handschrift eingetragene Vers 1095 deutet darauf hin, dass die Alexius-Vorlage bereits defekt war und die Vorlage sehr getreu z. B. mit enthaltenen Lücken kopiert wurde. Dass der ausgesparte Leerraum exakt dem fehlenden Text entspricht, könnte darauf hindeuten, dass der Hauptschreiber eine Vorlage verwendet hat, die der Bremer Handschrift kodikologisch ähnlich war. Nach einer ersten vergleichenden Analyse ist es jedoch unwahrscheinlich, dass es sich dabei um die Moskauer Alexius-Handschrift gehandelt haben könnte.34 Neben den unmittelbaren Berichtigungen des Hauptschreibers bzw. Rubrikators und den Ergänzungen des Alexius-Nachtragsschreibers lässt sich im Bremer msb 0042-02 noch eine weitere Schreiberhand identifizieren. Sie gehört einem Schreiber, den Rosenfeld als „Korrektor“ bezeichnet und in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert hat,35 und greift an zahlreichen Stellen unterschiedlich stark in die Gestalt der Bremer Texte ein. Diese Rettungsversuche von späterer Hand stehen im Mittelpunkt der folgenden Analyse. Die mediävistische Textkritik verfügt über mehrere Bezeichnungen, mit denen wir den Nachtragsschreiber der Bremer Handschrift benennen könnten:36 Redaktor37, mit–––––––— 34
35 36
37
Wenngleich man die Bremer (B) und Moskauer Handschrift (M) als kodikologische Schwesternhandschriften bezeichnen könnte (Papier; Blattgröße: 215 × 140 mm / 205 × 145 mm; Schriftraum: ca. 145‒150 × 90 mm / 150 × 90 mm; einspaltig; „in der Regel 24“ / 26‒40 [Alexius F ca. 32] Zeilen), so zeigt schon der kurze Textvergleich deutliche Abweichungen. Vgl. Rosenfeld 1927 (Anm. 4), S. 305. Die von Bonaventura um 1250 vorgeschlagenen Bezeichnungen scriptor, compilator, commentator oder auctor passen mit dem ihnen eigenen „charakteristischen Umgang mit Werkeinheiten“ nicht auf das Profil des Bremer Nachtragsschreibers. Vgl. Bonaventura. Opera omnia. Bd. 1: Commentaria Sententiarum Magistri Petri Lombardi. Ad Claras Aquas 1882, S. 14f., und Jürgen Wolf: Manuskript/Autograph/Typoskript – Antike/Mittelalter. In: Handbuch Medien der Literatur. Hrsg. von Natalie Binczek, Till Dembeck, Jörgen Schäfer. Berlin/Boston 2013, S. 411–417 (Zitat S. 415). Das von Thomas Bein umschriebene Profil eine Redaktors scheint hier nur bedingt erfüllt: „Das gefundene Textmaterial überantworten die Sammler dann wohl Redaktoren, die es ordnen und vorab lesen, die gegebenenfalls Korrekturen vornehmen, die – in Lyrikhandschriften häufiger zu finden – Platz für
Daniel Könitz
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denkender38 oder „fürsorglicher“39 Schreiber, Korrektor.40 Eine kategorische Trennung der einzelnen Funktionsträger ist für den Schreibbetrieb in den Skriptorien des 15. Jahrhunderts schwierig, da es vielfach zu Überschneidungen der ursprünglich getrennten Arbeitsfelder kam. Da für den vorliegenden Fall nicht zu erschließen ist, in welchem professionellen Umfeld die Bremer Handschrift angefertigt wurde, verwende ich im Folgenden für den Urheber der nachträglichen Korrekturen die von Rosenfeld eingeführte Bezeichnung „Korrektor“, da sie am treffendsten die Tätigkeit dieses Schreibers benennt. Die Texteingriffe des Korrektors lassen sich in der Bremer Handschrift an der von ihm verwendeten meist dunkleren Tinte erkennen. Die Schreiberhand zeichnet sich dabei durch eine kleine, weniger runde sowie stärker miteinander verbundene Schrift aus. Daneben finden sich von der Hand des Hauptschreibers abweichende Buchstabenformen (z. B. h).
Abb. 9: msb 0042-02, Bl. 102v
Die Korrektor-Eingriffe weisen eine große Bandbreite auf. Anhand unterschiedlicher Beispiele soll die Vorgehensweise des Korrektors aufgezeigt werden, mit der er bessernd in die meisten Texte eingreift. Für die Analyse maßgeblich ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Korrektor bei seinen Rettungsversuchen auf hand–––––––—
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39
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mögliche Nachträge freizulassen anordnen. Die Tätigkeiten dieser Redaktoren, das ist evident, ähneln derjenigen eines Editors modernen Zuschnitts. Die Redaktoren schließlich geben ihr Material in eine Schreibstube (ein Skriptorium) und lassen es dort in eine neue schriftliche Form überführen“ (Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil. Frankfurt/Main 2008, S. 24). Ebd., S. 24 differenziert hier verschiedene Schreiber-Typen, die über den mechanischen Abschreibeprozess hinaus „mitdenkend, verbessernd, zuweilen verschlimmbessernd“ in den abzuschreibenden Text eingreifen. Jürgen Wolf hat den Begriff „fürsorglich“ im Hinblick auf ganze Skriptorien eingeführt und beschreibt damit die Eigenschaft von Schreibwerkstätten, sich sehr sorgfältig um die inhaltliche wie äußerliche Qualität von mittelalterlichen Texten während des Abschreibeprozesses zu bemühen (vgl. Jürgen Wolf: Das „fürsorgliche“ Skriptorium. Überlegungen zur literarhistorischen Relevanz von Produktionsbedingungen. In: Das Mittelalter 7, 2002, H. 2, S. 92–109). Vgl. dazu Jürgen Wolf: Textreproduktion – Handschriftliche Überlieferung. In: Handbuch Medien der Literatur. Hrsg. von Natalie Binczek, Till Dembeck, Jörgen Schäfer. Berlin/Boston 2013, S. 179–189, hier S. 185: „In größeren Skriptorien setzte man Korrektoren zur Überprüfung der Schreibprodukte ein.“
Rettungsversuche von späterer Hand
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schriftliche Vorlagen zurückgegriffen oder eigenständig Änderungen vorgenommen hat. In zahlreichen Fällen ergibt sich für den Korrektor die Notwendigkeit, offensichtliche Verschreibungen oder Flüchtigkeitsfehler des Hauptschreibers zu korrigieren oder kleinere Ergänzungen vorzunehmen. Beispiele nachlässigen Abschreibens finden sich unter anderem in der Nachtigall A oder im Schüler zu Paris.
Abb. 10: msb 0042-02, Bl. 166r
Abb. 11: msb 0042-02, Bl. 169r
Im Fall der Nachtigall A (Abb. 10) ist das Versehen des Hauptschreibers offensichtlich. Er hat die Buchstabenkombination iun in dem Wort iuncherre der Vorlage fehlerhaft abgeschrieben. Anstelle von fünf Hasten hat er nur vier für die drei Buchstaben kopiert. Das so entstandene und im Text verbliebene sinnfreie Ergebnis (micherrē ?) bestätigt das oben zitierte Schreiberurteil Rosenfelds. Der Korrektor streicht das Versende und trägt im Anschluss junckhesren sowie das ursprünglich richtige vant ein. Einige Blätter später (Abb. 11) greift der Korrektor mittels der Ergänzung des Wörtchens dem ein (Si gie zů dem venſterlin), das der Kontext sowie die Syntax erforderlich machen. Auf derselben Seite finden sich noch weitere kleinere Verbesserungen wie die Änderung von knappe in knabe oder rauffet in roͧ ffet. Die vorgestellten Eingriffe sind leicht nachvollziehbar und für den Korrektor ohne Weiteres aufgrund der Lektüre bzw. ohne schriftliche Textvorlage durchzuführen. Ähnlich verhält es sich im Schüler zu Paris, wo der Korrektor das fehlerhafte Reimpaar haben/walten behebt. Die Verschreibung der inhaltlich ähnlichen Wörter
Daniel Könitz
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haben und halten, die möglicherweise auf eine Fehllesung der Vorlage von b für lt zurückgeht, macht es dem Korrektor in diesem Fall leicht.
Abb. 12: msb 0042-02, Bl. 156v
Die Beispiele bestätigen die von Rosenfeld beanstandeten Qualitäten des Hauptschreibers. Die vorgestellten Texteingriffe eignen sich allerdings nur bedingt zur Klärung der Frage nach der vorlagenunabhängigen Durchsicht des Korrektors, da die Berichtigung von Fehllesungen, Ergänzungen einzelner Wörter oder die Wiederherstellung eines defekten Reimpaares problemlos auch ohne Berücksichtigung einer schriftlichen Textvorlage hätten durchgeführt werden können. Umfangreichere Eingriffe des Korrektors zeigen sich an Stellen, wo ganze Verse ausgefallen oder in der abgeschriebenen Form zur Unverständlichkeit entstellt sind. Die in diesen Fällen vom Korrektor ergänzten Verse dürften so im Abgleich mit der bekannten Parallelüberlieferung der Bremer Texte eine verlässliche Auskunft darüber geben, ob überhaupt und wenn ja auf welcher Basis die Besserungen vorgenommen wurden. Vor diesem Hintergrund werden die nur unikal überlieferten Texte Nachtigall A und Liebeswerbung sowie die vom Korrektor nahezu unbearbeiteten Abschriften des Freidank und von Schondochs Königin von Frankreich für die weitere Analyse nicht berücksichtigt. Aufschlussreicher für unsere Fragestellung ist ein Korrektureingriff im Ritter unter dem Zuber41, von dem noch drei weitere Handschriften erhalten sind.42
–––––––— 41
42
Heinrich Niewöhner (Hrsg.): Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. 1. 2. Aufl. hrsg. von Werner Simon, mit den Lesarten besorgt von Max Boeters und Kurt Schacks. Dublin/Zürich 1967, S. 158‒169. Vgl. www.handschriftencensus.de/werke/650. Für den Textvergleich unberücksichtigt bleibt die verbrannte Handschrift Straßburg, Stadtbibl., Cod. A 94, von der keine Abschrift des Ritter unter dem Zuber existiert.
Rettungsversuche von späterer Hand
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Abb. 13: msb 0042-02, Bl. 123r
Der Defekt der Textstelle (Vers 262‒266) ist durch den fehlenden Reimpartner zum Vers Spiſe vn̄ öch den brůdern ſin offensichtlich und fordert somit eine Besserung seitens des Korrektors. Dieser ergänzt im Anschluss an den Vers die Formulierung Muſchgatell vnd ander win und vervollständigt somit das Reimpaar. Inhaltlich entsteht so die Situation, dass der Wirt Speisen und für seine Brüder zusätzlich noch mehrere verschiedene Weine herbeitragen lässt. Der formal tadellose vierhebige Rettungsversuch des Korrektors gibt keinerlei Anlass zur Beanstandung oder Skepsis und könnte bei der ursprünglichen Abschrift vom Hauptschreiber schlicht vergessen worden sein. Der Blick in die Parallelüberlieferung offenbart jedoch Erstaunliches. In den Handschriften München, Staatsbibl., Cgm 731 (Mü) und Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 5339a (N) stellt sich die Wirtshaus-Szene ganz anders dar: Cgm 731 (Bl. 117r) Der wirth hieſ pald tragen dar Speis vnd auch guten weyn Er vnd auch die pruder ſeyn Zu dem feur nu ſaſſen Vnd truncken vnd auch aſſen
Hs. 5339a (Bl. 213v/214r) Der wirt hies pald tragen dar Speis vnd auch guten wein Er vnd auch die prüder ſein Zu dem feuer ſie do ſassen Sie truncken vnd auch aſſen
Niewöhner der wirt hiez balde tragen dar ſpiſ und darzuo guoten win. er und ouch die brüeder ſin zuo dem viure ſazen und trunken unde azen.
Der vom Korrektor eingefügte Vers ist der Parallelüberlieferung völlig unbekannt. Der Vergleich zeigt weiter, dass Mü und N die Passage nahezu identisch überliefern und keine Ähnlichkeit mit der Bremer Handschrift aufweisen. Es handelt sich bei unserem Beispiel folglich um eine eigentlich verderbte Textstelle, die auf eine fehlerhafte Abschrift zurückgeht. Möglicherweise durch Augensprung wurde das Reimpaar wîn/sîn zu einem Vers zusammengezogen.43 Die dadurch entstandene Waise wird durch den Korrektor mit einem inhaltlich leicht zu erschließenden Neuvers aufgelöst. Er stellt damit die inhaltlich naheliegende und in den Parallelhandschriften überlieferte Einheit von spîse und wîn wieder her. Jedoch erfolgt die Ergänzung des unvollständigen Reimpaares in der Bremer Handschrift nicht unter Zuhilfenahme einer uns bekannten Textüberlieferung. Die in Mü und N stabile Textgestalt legt –––––––— 43
Die Frage, ob dem Hauptschreiber dieser Augensprung unterlaufen ist oder ob er die Textstelle schon so in seiner Vorlage vorfand, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die grammatikalische Unversehrtheit des Verses mit dem korrekten Dativ den brůdern statt z. B. die brůdern spricht für den letzteren Fall.
Daniel Könitz
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stattdessen den Schluss nahe, dass der Korrektor den neuen Vers selbst gedichtet hat, um die formal (nicht inhaltlich!) gestörte Textgestalt zu retten. Den bisher vorgestellten Texteingriffen des Korrektors gemeinsam war deren offensichtliche Notwendigkeit aufgrund einer Störung der formalen Integrität oder des Textverständnisses. Ein vermeintlich unnötiger Rettungsversuch des Korrektors bei semantisch wie syntaktisch einwandfreier Überlieferung soll abschließend vorgeführt werden. Es ergeben sich dabei aufschlussreiche Erkenntnisse über die literarische Kompetenz des Korrektors. Ein solches Beispiel findet sich im Bussard44 auf Bl. 100v der Bremer Handschrift. Die Verserzählung ist noch zweimal fragmentarisch, vollständig jedoch nur in der Handschrift Moskau, Russisches Archiv der alten Akten, Fonds 181, Nr. 1405, Opis’ 16 (erste Hälfte 15. Jahrhundert) erhalten.45 In der Erzählung (Vers 237‒240) treffen sich die französische Königstochter und der Sohn des englischen Königs zu einem vertraulichen Gespräch. In der Moskauer Handschrift (M) wird die Situation wie folgt beschrieben: Fonds 181, Nr. 1405, Opis’ 16 (Bl. 70v) Eines males gebort ſich da Daz in die junffrauwe wol gedan Sach an eynē finster ſtan Gar dugentlich er ſie vmb fing
Die schöne Königstochter sieht ihren Geliebten, der an einem Fenster steht. Daraufhin umarmt er sie vorbildlich. Die Moskauer Abschrift weist an dieser Stelle keinerlei Korrektureingriffe oder nachträgliche Schreiberspuren auf. Es ist daher davon auszugehen, dass die dort überlieferte Textgestalt nicht als korrekturbedürftig aufgefasst wurde. In der Bremer Handschrift dagegen hat der Korrektor eine ganze Reihe von Änderungen vorgenommen, wodurch die oben beschriebene Begegnung des Liebespaares neu inszeniert wird.
–––––––— 44 45
Vgl. Hans-Friedrich Rosenfeld: ‚Der Bussard‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. 2Verfasserlexikon. Bd. 1 (1978), Sp. 1145‒1148, sowie grundlegend Könitz 2017 (Anm. 15). Vgl. www.handschriftencensus.de/werke/1709. Zur Moskauer Bussard-Handschrift vgl. Daniel Könitz: Codex – Mikrofilm – Fragment – Codex. Zur forschungsgeschichtlichen Wahrnehmung der Moskauer ‚Bussard‘-Handschrift. In: Von mittelalterlichen und neuzeitlichen Beständen in russischen Bibliotheken und Archiven. Ergebnisse der Tagungen des deutsch-russischen Arbeitskreises an der Philipps-Universität Marburg (2012) und an der Lomonossov-Universität Moskau (2013). Hrsg. von Natalija Ganina u. a. Erfurt 2016 (Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Sonderschriften. 47. Deutsch-russische Forschungen zur Buchgeschichte. 3), S. 129–138.
Rettungsversuche von späterer Hand
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Abb. 14: msb 0042-02, Bl. 100v
Die vom Korrektor vorgenommene Umkehrung der Subjekt-/Objektzuordnung verändert die Begegnung der Geliebten deutlich: Nicht sie sieht ihn, sondern er trifft sie im Fenster stehend an, woraufhin nicht mehr er sie, sondern sie ihn als Reaktion auf sein Erscheinen initiativ umarmt. Der letzte Vers (gar tugentclich ſu v fing) bot dem Korrektor sogar zwei Optionen für seinen Eingriff: Er hätte z. B. vor dem ſu ein er ergänzen können, wodurch der Vers mit M übereingestimmt hätte. Mit dem inserierten in stellt er jedoch eine in der Parallelüberlieferung nicht belegte Formulierung her. Somit hat entweder die vom Korrektor möglicherweise verwendete Vorlage nicht den Moskauer Text überliefert oder, was wahrscheinlicher ist, der Korrektor hat hier aus der spontanen Lektüre heraus eigenständig die Entscheidung für seine Ergänzung getroffen. Und doch erscheint aus der Sicht des mediävistischen Literaturwissenschaftlers die Bremer Fassung literarisch ‚vertrauter‘. In den volkssprachigen Texten des höfischen Mittelalters ist es meist nicht der Ritter, sondern die Dame bzw. die unglücklich liebende Frau, die im venster stehend aus der Ferne von ihrem Geliebten erblickt wird.46 Daneben wirkt die in M etwas ‚sprunghafte‘ Umarmung im Anschluss an das Erblicken durch die Änderung von sach zu vand handlungslogischer. In literaturgeschichtlicher Hinsicht hat der Korrektor die Textstelle durch seine Änderungen höfischer gemacht, von seinem eigenen Standpunkt aus vielleicht nur ‚vertrauter‘. Durch dieses abschließende Beispiel verdichten sich die Anzeichen, dass die Überarbeitung der Bremer Handschrift tatsächlich mittels der von Rosenfeld angenommenen vorlagenlosen Durchsicht eines Korrektors erfolgt ist. Den Ausgangspunkt für die hier vorgelegte Untersuchung zu den Schreibereingriffen in der spätmittelalterlichen Bremer Sammelhandschrift msb 0042-02 stellte eine von Hans-Friedrich Rosenfeld formulierte Vermutung zur Vorgehensweise des im Bremer Codex greifbaren Korrektors dar. Demzufolge habe dieser Schreiber für seine Bes–––––––— 46
Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 11. Aufl. München 2005 (dtv. 30170), S. 148f.
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serungen des Schüler zu Paris keine schriftliche Vorlage verwendet. Diese Annahme galt es mittels weiterer exemplarischer Stichproben für die übrigen Texte der Bremer Handschrift zu überprüfen. Nach einem Überblick über die vielschichtigen Eingriffe unterschiedlicher Schreiberhände standen vor allem die Rettungsversuche des Bremer Korrektors im Mittelpunkt der Untersuchung. Über die gesamte Handschrift verteilte Fehlschreibungen, ausgefallene Wörter oder ganze Verse machen deutlich, dass der Hauptschreiber des Bremer Codex zu großen Teilen nicht sorgfältig gearbeitet hat. Daneben ist in Betracht zu ziehen, dass die Qualität der abgeschriebenen Textvorlagen bereits sehr schlecht gewesen sein könnte. Mit Ausnahme des Freidank und Schondochs Königin von Frankreich handelt es sich bei fast allen Texten der Bremer Handschrift aus heutiger Sicht um schlecht überlieferte Werke.47 Mit einiger Berechtigung kann eine ähnliche relative Verbreitung der Texte auch für das 15. Jahrhundert angenommen werden.48 Möglich wäre somit, dass für die meisten Texte der Bremer Handschrift die Verfügbarkeit von Textvorlagen im Allgemeinen und fehlerfreier Vorlagen im Besonderen gering war. Der Schreiber kopierte somit das, was ihm zur Verfügung stand. Gleichermaßen schwierig könnte sich die Situation auch für den Korrektor dargestellt haben, sodass dieser seine Durchsicht ‚unfreiwillig‘ ohne Vergleichsmaterial durchführen musste. Der Bremer Codex wurde vom Korrektor jedenfalls systematisch durchgesehen und an zahlreichen Stellen korrigierend bearbeitet. Durch den exemplarischen Vergleich mit der Parallelüberlieferung ist bei einzelnen Texten deutlich geworden, dass der Korrektor bei seinen Besserungen nicht auf uns bekannte Vorlagen zurückgegriffen hat oder sie ihm nicht zur Verfügung standen. Die Eingriffe tragen vielmehr „regelmäßig das Kennzeichen der eignen Mache an der Stirne“49 und lassen auf eine umfassende Schreib- und Texterfahrung, wenn nicht sogar eine gewisse Vertrautheit mit den in der Handschrift überlieferten Texten schließen. Neben der Verifizierung von Rosenfelds Vermutung für den gesamten Bremer Codex hat die Untersuchung noch einen weiteren Aspekt in den Blick gerückt. Soweit dies im Rahmen der vorliegenden Studie überprüft werden konnte, stimmen die Eingriffe des Korrektors weder mit der jeweils bekannten Parallelüberlieferung überein noch konnte bisher eine Abschrift der durch die Eingriffe ‚neu‘ entstandenen Bremer Texte ausfindig gemacht werden. Ob der Codex wegen der schlechten Textqualität vor und nach seiner Korrektur nie mehr abgeschrieben wurde oder wir es mit –––––––— 47
48
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Möglicherweise liegt in der breiten Überlieferung des Freidank (195 Handschriften) und Schondochs Königin von Frankreich (21 Handschriften) der Grund dafür, dass beide Texte in der Bremer Handschrift nahezu frei von Korrektureingriffen geblieben sind. Vgl. zu den Handschriftenverlusten im Mittelalter und bis heute Uwe Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte. 2 Bde. Wiesbaden 1998 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München. 61,1.2), Bd. 1, S. 72–85 und 104: „Die Zahl der heute existierenden Manuskripte kann somit, wenn sie auf einer ausreichend breiten Basis gewonnen wird, als Gradmesser für die jeweilige Popularität der Autoren und ihrer Werke herangezogen werden. Ihre heutige relative Verteilung spiegelt zudem trotz großer Verschiebungen immer noch die ehemaligen geographischen Schwerpunkte der Rezeption wider.“ – Kritisch zu Neddermeyers Studie äußert sich Jürgen Wolf (vgl. ZfdA 130, 2001, S. 211–217). Rosenfeld 1927 (Anm. 4), S. 321.
Rettungsversuche von späterer Hand
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einer ausschließlich für den Privatgebrauch und damit überlieferungsgeschichtlich isolierten Handschrift zu tun haben, bleibt so lange Spekulation, bis die ‚Rettungsversuche‘ von späterer Hand in Abschriften entdeckt werden. In jedem Fall gewährt uns die Bremer Handschrift einen aufschlussreichen Einblick in die Arbeit eines mittelalterlichen Korrektors und seinen Versuch, eine korrekturbedürftige Textsammlung zu ‚retten‘. Dass dies mittels einer vorlagenlosen Durchsicht geschehen ist, rückt eine Variante der mittelalterlichen Schreibertätigkeit ins Licht, die bei der Beurteilung handschriftlicher Tradierungsprozesse immer stärker mitberücksichtigt werden muss.
Ylva Schwinghammer / Gerlinde Schneider
swer so(e) gehoer gelese daz puech Die deutschsprachige Marginalüberlieferung der Seckauer Margaretenlegende aus der Grazer Handschrift UB, Ms. 781 als Grundlage einer revisionssensiblen, lernerorientierten Digitalen Edition
Vorliegender Beitrag skizziert den Versuch, auf Basis der Ergebnisse der Grazer Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zum Thema Textrevisionen (Graz, 17.–20. Februar 2016), insbesondere zweier Plenarvorträge aus dem Umfeld der Germanistischen Mediävistik und der Digital Humanities der Universität Graz,1 eine revisionssensible digitale Fassung der Seckauer Margaretenlegende2 aus dem Grazer Codex UB, Ms. 781 speziell für die Lehre an Schule und Universität herzustellen. Diese besondere mehrstufige Textausgabe soll es Schüler/innen und Studierenden erlauben, den mittelalterlichen Text über das Grazer didaktische Textportal zur Literatur des Mittelalters3 selbstständig auf unterschiedlichen Ebenen zu erschließen, den Weg von der handschriftlichen Überlieferung über Transliteration und normalisierte Lesefassung bis hin zur Übersetzung ins Neuhochdeutsche nachzuvollziehen und dabei einen Einblick in Revisionsprozesse und den editorischen Umgang mit ihnen zu erhalten. Das Textportal – als virtuelle Lernumgebung zur Erschließung älterer deutscher Texte – wurde von Gerlinde Schneider am 17.02.2016 auf der Tagung im Rahmen der Präsentation des Zentrums für Informationsmodellierung / Austrian Center for Digital Humanities zum Thema „Systematische Wege der Digitalen Edition im Grazer Forschungsdatenrepositorium GAMS (Geisteswissenschaftliches Asset Management System)“ vorgestellt. Die didaktisch orientierte Aufbereitung der Seckauer Margaretenlegende gründet auf Vorarbeiten von Ylva Schwinghammer als Koordinatorin des Sparkling Science Projektes Arbeitskoffer zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters: Neue Konzepte und Materialien zur Vermittlung älterer deutscher Texte4 in den Jahren 2012 bis 2014. Das große didaktische Potential des Revisionsthemas für –––––––— 1
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Andrea Hofmeister-Winter: Beredte Verbesserungen. Überlieferungsphilologische Betrachtungen zu Phänomenologie und Sinnproduktion von Textrevisionen in mittelalterlichen Handschriften. In: editio 30, 2016, S. 1–13 sowie Wernfried Hofmeister, Astrid Böhm, Helmut W. Klug: Die deutschsprachigen Marginaltexte der Grazer Handschrift UB, Ms. 781 als interdisziplinärer Prüfstein explorativer Revisionsforschung und Editionstechnik. In: editio 30, 2016, S. 14–33. Der nach seinem Aufbewahrungsort in der Fachliteratur auch Grazer Margaretenlegende genannte Text findet sich als Marginalnachtrag am oberen Rand des Codex Universitätsbibliothek Graz, Ms. 781 auf den Blättern 71v bis 110r. http://gams.uni-graz.at/lima [Stand vom 20.01.2017]. Näheres zum Sparkling Science Projekt sowie zum von Wernfried und Andrea Hofmeister initiierten namensgebenden ‚Mutterprojekt‘, den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters, findet sich unter: http://literaturpfade.uni-graz.at [Stand vom 20.01.2017].
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die Betrachtung mittelalterlicher Literatur und ihrem Entstehungs- sowie Überlieferungsprozess zeigte sich nicht zuletzt im Zuge der stärker an der Medialität literarischer Zeugnisse des Mittelalters orientierten zweiten Arbeitskoffer-Laufzeit mit dem Untertitel Die Vermittlung mittelalterlicher Texte im Spannungsfeld zwischen Wort, Schrift und Gedächtnis.5 Ein eindrucksvolles Produkt der schulischen Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Schreibprozessen, das im Rahmen des sogenannten ‚Experimentellen Skriptoriums‘ entstanden ist, stellt der Arbeitskoffer-Schaucodex dar, der noch bis zum 31.10.2017 im Eingangsbereich der Ausstellung #dichterleben – Mittelalterliche ‚tweets‘ aus der Steiermark6 im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz gezeigt wird. Mittelalterliche Texte aus der Steiermark wurden dabei von Schüler/innen als Quellen bzw. als Vorlagen für eigene Textfassungen verwendet und schließlich gemeinsam mit Studierenden nieder- bzw. abgeschrieben. Die Herausforderung der möglichst authentischen Planung, Herstellung und Gestaltung eines Codex nach mittelalterlichem Vorbild zeigte sich vor allem im Umgang mit Fehlern und darauffolgenden Revisionsprozessen, die so nicht nur hautnah miterlebt werden konnten, sondern den Beteiligten auch einen neuen – nunmehr gleichsam ‚revisionssensiblen‘ – Blick auf die handschriftlichen Textzeugen des Mittelalters boten. Es erschloss sich hier ein didaktisch spannendes Feld, mittelalterliche Texte (auch) in ihrem Entstehungsmoment und Überlieferungsprozess zu betrachten, das in herkömmlichen Textausgaben und Materialien für den Schulgebrauch in der Regel kaum Berücksichtigung findet. Der vorliegende Aufsatz und die hierin beschriebene digitale Textausgabe mögen als Beitrag verstanden werden, diese Lücke zu schließen.
1. Grazer didaktisches Textportal zur Literatur des Mittelalters Das Grazer didaktische Textportal zur Literatur des Mittelalters7 ist eine virtuelle Lernumgebung zur Erschließung älterer deutscher Texte, die nicht nur als Webportal gemäß der Definition aus dem Bereich der Informatik – also als Anwendungssystem, das seinen User/innen unterschiedliche Funktionen und Dienste bereitstellt, – sondern auch im ursprünglichen Wortsinn als ‚Eintrittspforte‘ in die Welt der mittelalterlichen Texte verstanden werden möchte. Im Zentrum steht dabei die Arbeit mit bzw. an originalsprachlichen Textzeugnissen der mittel- und frühneuhochdeutschen Sprachperiode. Ausgehend von ausgewählten Basistexten und Textausschnitten bietet es Lernenden eine spezielle Oberfläche, die mittels unterschiedlicher Hilfestellungen und Zusatzangebote einen möglichst selbstbestimmten hermeneutischen Zugang zu den mittelalterlichen Texten ermöglichen soll und neben der originalsprachlichen Lesefassung auch die Ansicht der neuhochdeutschen Übersetzung und teilweise der handschriftlichen Überlieferung erlaubt. Die mittel- und frühneuhochdeutschen Texte –––––––— 5
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Informationen zum kostenneutral bis ins Frühjahr 2017 verlängerten Sparkling Science Projekt bietet der Webauftritt des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft: http://www.spark lingscience.at/de/projects/show.html?--typo3_neos_nodetypes-page[id]=742 [Stand vom 20.01.2016]. Weiterführende Hinweise zur Ausstellung lassen sich hier abrufen: http://literaturpfade.uni-graz.at/de/ dichterleben [Stand vom 20.01.2016]. http://gams.uni-graz.at/lima [Stand vom 20.01.2017].
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sind mit zuschaltbaren Kommentarfenstern versehen, die Hilfestellungen zur sprachlichen Decodierung, literarisches Gattungswissen, Hinweise zur Kontextualisierung und kulturelles, sprachliches und realhistorisches Wissen miteinander verweben. Zusätzlich stehen in jedem Textbereich praxiserprobte Unterrichtsmaterialien für unterschiedliche Schulstufen sowie weitere mediale Angebote zu Verfügung, die im Rahmen von Schulworkshops entstanden sind. Für Konzeption und Umsetzung des Textportals zeichnen die beiden Verfasserinnen dieses Beitrags verantwortlich (Ylva Schwinghammer von der fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Seite, Gerlinde Schneider für die Entwicklung und technische Realisierung); die Inhalte des Portals wurden unter Mitwirkung von Projektmitarbeiter/innen am Institut für Germanistik, Studierenden der Universität Graz sowie Lehrer/innen und Schüler/innen mehrerer steirischer Bildungseinrichtungen erstellt.8 Ein Großteil der Textbereiche entstand auf Basis von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Erkenntnissen aus der praktischempirischen Zusammenarbeit mit Lehrer/innen, Schüler/innen und Studierenden im Rahmen der beiden genannten Sparkling Science Projekte in den Jahren 2012 bis 2016.9 Seit 2015 wird das Portal immer wieder im Rahmen von kleineren Schwerpunkten und universitären Lehrveranstaltungen10 um zusätzliche Bereiche und Materialien ergänzt. Ein Fortsetzungsprojekt unter dem Titel Arbeitskoffer zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters 3D: Literatur- und Wissensvermittlung im öffentlichen und digitalen Raum, das den Ausbau des Portals in den Jahren 2017 bis 2019 ermöglichen soll, wurde im Frühjahr 2017 bewilligt. 1.1 Inhalte, Aufbau und didaktische Zielsetzungen Hauptintention des Portals ist es, die Arbeit an der originalsprachlichen Literatur des Mittelalters anzuregen und vor allem auch solche Texte didaktisch aufzubereiten, die andernorts nicht für den Schulgebrauch zur Verfügung stehen – etwa, weil es von ihnen noch keine oder aber keine erschwinglichen und schüler- bzw. lehrergerechten Textausgaben gibt. Als Ergänzung zu den (wenigen und weniger werdenden) kanoni–––––––— 8
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Eine ausführliche Beschreibung der Arbeitsabläufen und Projektaktivitäten rund um das Textportal findet sich in Ylva Schwinghammer et al.: Das Sparkling Science Projekt Arbeitskoffer zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters: Die Welt des Mittelalters als Ausgangspunkt für regionale und digitale Literaturerlebnisse. In: Literatur-Erlebnisse zwischen Mittelalter und Gegenwart. Aktuelle didaktische Konzepte und Reflexionen zur Vermittlung deutschsprachiger Texte. Hrsg. von Wernfried Hofmeister und Ylva Schwinghammer. Wien 2015, S. 9–72. Vgl. Ylva Schwinghammer: „Alte Sprache – schwere Sprache?“ Empirische Erhebungen und praktische Erfahrungen zum Einsatz mittel- und frühneuhochdeutscher Texte im Unterricht. In: LiteraturErlebnisse zwischen Mittelalter und Gegenwart. Aktuelle didaktische Konzepte und Reflexionen zur Vermittlung deutschsprachiger Texte. Hrsg. von Wernfried Hofmeister und Ylva Schwinghammer. Wien 2015, S. 147–173. Zuletzt wurden in den von Wernfried Hofmeister und Ylva Schwinghammer geleiteten fachwissenschaftlichen bzw. fachdidaktischen ‚Tandem-Seminaren‘ zum Thema „Mittelalter und Frühe Neuzeit im schulischen Lektürekanon“ von den teilnehmenden Lehramtsstudierenden ‚Schulbuchseiten‘ mit Aufgabenstellungen zu ausgewählten kanonisierten mittelalterlichen Texten erstellt, die in Kürze über das Portal zum Download bereitstehen sollen.
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sierten mittelalterlichen Texten in schulischen Lehrwerken11 soll ein möglichst breitgefächertes Angebot an unterschiedlichen Textsorten geboten werden, das etwa auch Beispiele der sonst didaktisch eher vernachlässigten Artes-Literatur miteinschließt. Da das Portal im Rahmen der Sparkling Science Projekte zum Arbeitskoffer zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters entwickelt wurde, bietet es bisher vor allem Texte, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Literaturpfadschauplätzen und -autoren12 stehen oder einen anderweitigen regionalen Bezug zur Steiermark aufweisen. Von der breitest möglichen Definition ‚steirischer Literatur‘ ausgehend, die neben Texten von Autoren, die in der Steiermark bezeugt sind und Texten, die nachweislich in der Steiermark entstanden sind, auch Texte, die in der Region abgeschrieben und aufbewahrt wurden, mit einschließt, findet sich hier etwa auch ein Textbereich mit Ausschnitten aus Konrads von Megenberg Deutscher Sphaera, dem wohl populärsten mittelalterlichen Astronomielehrbuch, von dem sich eine Abschrift in den Handschriftenbeständen des Klosters Seckau befindet, die heute an der Universitätsbibliothek Graz aufbewahrt wird.13 Jeder Basistext verfügt über eine eigene Unterseite, auf der jeweils eine (normalisierte) mittel- oder frühneuhochdeutsche Lesefassung im Zentrum steht; bei Bedarf können in weiteren Teilfenstern die neuhochdeutsche Übersetzung, in einigen Fällen zusätzlich Faksimiles der handschriftlichen Überlieferung sowie ein Materialbereich mit PDF-Lesefassungen, Unterrichtseinheiten und weiteren Medienangeboten aktiviert werden. Hörproben ausgewählter Textstellen sind in einem weiteren Ausbauschritt geplant. Eine ‚Timeline‘ im unteren Seitenbereich zeigt neben Daten zu Entstehung und Überlieferung der Texte wichtige (literar-)historische Ereignisse und ermöglicht so eine chronologische ‚Verortung‘ der Textzeugnisse. Der originalsprachliche Text ist mit Annotierungen versehen, die zunächst an der Textoberfläche als farbig markierte Wörter und Phrasen hervortreten. Klickt man auf eine solcherart markierte Textstelle, öffnet sich ein Kommentarfenster in Form einer Sprechblase (siehe die Abb. 2 weiter unten): Auf lexikalischer Ebene werden dort Wörter erklärt, die sich im Zuge der praktischen Arbeit und den empirischen Erhebungen mit Schüler/innen und Studierenden als unverständlich oder schwierig zu entschlüsseln erwiesen haben, zusätzliche Informationen zum Textgegenstand gegeben, aber auch solche Begriffe näher betrachtet, die nur rein äußerlich vertraut erscheinen, aber einen signifikanten Bedeutungswandel zum Neuhochdeutschen hin durchlaufen haben. Wo eine kurze Erklärung nicht ausreicht oder sich interessante bzw. dem Textverständnis nützliche Zusatzinformationen anbieten, wird ein Link auf Artikel im projekteigenen Wiki14 gesetzt: Um etwa den in vielen mittelalterlichen Texten zentralen Gedanken –––––––— 11
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Den umfassendsten Überblick zu dieser Entwicklung liefert die diesbezügliche Auswertung von Leseund Sprachbüchern zwischen 1836 und 2006 in Thomas Möbius: Grundlegungen einer symmedialtextnahen Didaktik älterer deutscher Literatur. München 2010, S. 147–190. Z. B. Die Katze Herrands von Wildon, Rudolfs von Stadeck Minnelieder, das Soliloquium des Andreas Kurzmann, die Vorauer Novelle und die Seckauer Monatsregeln. Eine Übersicht aller Steirischen Literaturpfade des Mittelalters findet sich hier: http://literaturpfade.uni-graz.at/de/pfade/ [Stand vom 20.01.2017]. Abrufbar unter: http://gams.uni-graz.at/o:lima.9 [Stand vom 20.01.2017]. http://literaturpfade-arbeitskoffer.uni-graz.at/wiki [Stand vom 20.01.2017].
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von dienst und triuwe wirklich nachvollziehen zu können, benötigt man einen Einblick in Gesellschaftsordnung und Lehenswesen der Zeit. Texte, wie die Seckauer Monatsregeln, der Admonter Bartholomäus und die Grazer Kochrezeptsammlung Ms. 1609 verlangen Kenntnisse von Ernährungslehre sowie Humoralpathologie, Konrads Deutsche Sphaera setzt das Wissen über gewisse astronomische Vorgänge voraus, und Erzählungen wie jene Herrands von Wildon gewinnen erst im Kontext der politischen Situation ihrer Entstehungszeit wirklich Tiefe. Oft sind es aber auch einfach direkt oder indirekt erwähnte Orts- und Eigennamen, Gegenstände oder Ereignisse, die Erläuterungen notwendig machen oder das Interesse wecken, mehr über die Lebenswelt des Mittelalters zu erfahren. Jeder dieser von Schüler/innen und Studierenden verfassten Artikel im projekteigenen Wiki ist wiederum mit anderen Beiträgen vernetzt. Die Nutzerinnen und Nutzer können auf diese Weise in einen diskursiven Dialog mit dem Text treten, dessen Intensität und Tiefe sie selbst bestimmen. Die stetige Ausverhandlung von Bedeutungs- und Verständnisebenen wird dabei durch die digitale Textoberfläche unterstützt bzw. mitunter erst ermöglicht. Zunächst primär für den Schulbereich gedacht, wurde das Textportal in den vergangenen drei Jahren verstärkt auch in der universitären Lehre genutzt, um speziell in den ersten Studiensemestern den Umgang mit mittel- und frühneuhochdeutschen Texte zu üben. 1.2 Technische Umsetzung des Textportals In der technischen Realisierung dieses didaktischen Webportals war es von Beginn an angestrebt, einerseits eine auf die Bedürfnisse der diversen Benutzergruppen abgestimmte, flexible und interaktive Arbeitsumgebung zu schaffen, andererseits aber dabei nicht auf den Aufbau einer nachhaltigen und erweiterbaren Ressource zu verzichten. Aus diesen Gründen wurde schon in der Planungsphase beschlossen, auf eine bewährte digitale Infrastruktur und standardisierte Datenformate zurückzugreifen. Zur Speicherung, Verwaltung und Veröffentlichung der im Rahmen des Projektes entstehenden digitalen Inhalte wurde das am Zentrum für Informationsmodellierung entwickelte Forschungsdatenrepositorium GAMS (Geisteswissenschaftliches Asset Management System) herangezogen.15 Diese auf der Open-Source-Software FEDORA16 basierende, zertifizierte17 Infrastruktur ermöglicht neben einer Langzeitverfügbarkeit der archivierten Daten deren Bereitstellung über standardisierte Schnittstellen und über unterschiedliche Disseminationsmethoden. Viele für die Erstellung des Portals notwendige Funktionalitäten werden bereits standardmäßig vom GAMS angeboten. Von Bedeutung für das Textportal ist hier vor allem die Möglichkeit, –––––––— 15
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http://gams.uni-graz.at. Vgl. hierzu Elisabeth Steiner, Johannes Stigler: GAMS and Cirilo Client: Policies, documentation and tutorial. Zuletzt geändert am 04.11.2016. http://gams.uni-graz.at/doku [Stand vom 20.1.2017]. http://www.fedora.info/ [Stand vom 20.01.2017]. GAMS ist seit 2014 nach den Kriterien des Data Seal of Approval zertifiziert: http://www.datasealofapproval.org/ [Stand vom 20.01.2017].
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Daten als mittels TEI/XML modellierte Objekte zu speichern und in verschiedenen Ausgabeformaten zu publizieren. Die Richtlinien der TEI (Text Encoding Initiative) werden in vielen Gebieten geisteswissenschaftlicher Forschung genutzt, um Texte digital zu repräsentieren und vom Computer verarbeitbar zu machen.18 Im Bereich der Digitalen Edition haben sich die TEI-Guidelines zu einem weit verbreiteten Quasi-Standard entwickelt. Bei der Umsetzung des Textportals wurden sämtliche Texte TEI-konform ausgezeichnet. Metadaten, Transliteration, Lesefassung und Übersetzung wie auch Kommentare und eine Verknüpfung mit den Digitalisaten der Handschriften können so in einem XMLDokument gebündelt werden. Textstrukturen können markiert und in der Ausgabe entsprechend dargestellt werden. Auch eine Kennzeichnung der im Text vorkommenden Revisionen ist durch die Verwendung der TEI möglich und wurde von Hofmeister/Böhm/Klug anhand der Ms. 781 anschaulich erläutert.19 Die Vorgangsweise der Erstellung und Verwendung eines zentralen TEI-Datenmodells für die Umsetzung des Portals legt die Grundlage für eine einfache Erweiterung der Textbasis im Zuge nachfolgender Projekte und stellt die bearbeiteten Texte in einer standardisierten Form für deren Nachnutzung in anderen Kontexten bereit. Die auf dem Textportal verfügbaren Ansichten auf die jeweiligen Textbereiche werden mittels XSLT20 aus dem dazugehörigen TEI-Dokumenten generiert und einerseits in einer Druckansicht als PDF-Dokument ausgegeben, andererseits als Webseite im HTML5-Format. Bei der Umsetzung der Textbereiche spielte die Programmierung mit Javascript eine wichtige Rolle für die Interaktivität der Seiten. Ein benutzergesteuertes Ein- und Ausblenden der Übersetzungen, der Kommentierungen und der Materialbereiche wird dadurch ermöglicht. Die Navigation in der Zeitleiste geschieht unter Zuhilfenahme einer Javascript-Bibliothek. Auf die im Repositorium gespeicherten und in den TEI-Dokumenten referenzierten Faksimiles der Handschriften kann über eine definierte Schnittstelle, die in Übereinstimmung mit der Image API des International Image Interoperability Framework21 steht, zugegriffen werden. Dies ermöglicht den einfachen und schnellen Einsatz unterschiedlicher Werkzeuge zur Anzeige, zum Vergleich und zur Annotation von Bildern. Im Fall des Textportals können die Bilder mit Hilfe des Viewers Mirador22 betrachtet und verglichen werden. Dieses Beispiel illustriert sehr gut, wie die Heranziehung etablierter Schnittstellen und Standards die Umsetzung eines Projektes beschleunigen und im Endeffekt bereichern kann.
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http://www.tei-c.org/index.xml [Stand vom 20.01.2017]. Hofmeister/Böhm/Klug 2016 (Anm. 1), S. 27‒32. Extensible Stylesheet Language Transformations: http://www.w3.org/TR/xsl [Stand vom 20.01.2017]. http://iiif.io/api/image/2.1 [Stand vom 20.01.2017]. http://projectmirador.org [Stand vom 20.01.2017].
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2. Die Seckauer Margaretenlegende aus der Grazer Handschrift UB, Ms. 781 Die Seckauer Margaretenlegende bildet einen von vier Marginalnachträgen der Handschrift UB, Ms. 78123 und erzählt in einfachen Worten die Lebens- und Leidensgeschichte der antiken Märtyrerin und späteren Heiligen Margareta von Antiochien. Die dialoglastige Prosaerzählung enthält alle Elemente einer klassischen Hagiographie (Prolog, Kindheitserzählung, Widerstand gegen das Heidentum, Kampf mit dem Teufel, Martyrium, Tod, Himmelfahrt sowie postmortale Wunder und ein abschließendes Gebet), weist dabei aber mitunter eine speziell mittelalterliche und männerkritische Perspektive auf,24 was sie in vielerlei Hinsicht für den Schulgebrauch interessant macht. Die erste und bislang einzig vollständige Edition wurde von Joseph Diemer im Jahr 1851 erstellt.25 Eine stichwortartige Nacherzählung bietet Wernfried Hofmeister in seinem Beitrag zu den Literarischen Wissensspeichern aus dem Jahr 2009.26 Neu ediert und erstmals vollständig übersetzt wurde die Seckauer Margaretenlegende im Jahr 2013 von einer Gruppe Schüler/innen des Bundesgymnasiums Rein und Lehramtsstudierender der Karl-Franzens-Universität Graz unter der Leitung von Ylva Schwinghammer im Rahmen des Arbeitskoffer-Projektes. Die Textportalversion basiert auf dieser von Lernenden selbst erstellten Fassung. Aufgrund der besonderen Überlieferungssituation sowie der zahlreichen augenscheinlichen Revisionen bot sich die Margaretenlegende für die hier skizzierte revisionssensible lernerorientierte Digitale Edition besonders gut an. 2.1 Revisionssensible lernerorientierte Edition Die revisionssensible lernerorientierte Textfassung der Seckauer Margaretenlegende ist über das Grazer didaktische Textportal zur Literatur des Mittelalters unter http://gams.uni-graz.at/o:lima.11 abrufbar.27 Für den Text selbst stehen hier zwei grundlegende Ansichtsoptionen zur Verfügung: Die Hauptansicht bildet die gewohnte Textpräsentation im Rahmen des Portals, in der die normalisierte Lesefassung im Zentrum steht, welche schwierig zu entschlüsselnde sowie anderweitig erklärungsbedürftige Textstellen durch farbige Markierung ausweist. Durch einen Klick auf die entsprechende Stelle öffnet sich ein Kommentarfenster mit Übersetzungshilfen und kurzen Erläuterungen, in einigen Fällen wird auf weiterführende Artikel im Projektwiki verwiesen (siehe die Abb. 1 weiter unten). Eine neuhochdeutsche Über–––––––— 23 24
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Näheres zur Überlieferungssituation bietet der Beitrag von Hofmeister/Böhm/Klug 2016 (Anm. 1), S. 15ff. Vgl. hierzu auch: Wernfried Hofmeister: Literarische Wissensspeicher: Vertrauen in die Kraft des Wortes. In: Mittelalterliche Wissensspeicher. Interdisziplinäre Studien zur Verbreitung ausgewählten ‚Orientierungswissens‘ im Spannungsfeld von Gelehrsamkeit und Illiteratheit. Hrsg. von Wernfried Hofmeister. Frankfurt am Main 2009, S. 13–60, hier 40ff. Joseph Diemer: Legende von der heiligen Margaretha. In: Kleine Beiträge zur älteren deutschen Sprache und Literatur. 1. Theil. Hrsg. von Joseph Diemer. Wien 1851, S. 121–128. Hofmeister 2009 (Anm. 24), S. 37–40. Aktuell ist die Testversion nur über den Direktlink zu erreichen. Im Rahmen des geplanten Relaunch des Portals im Frühjahr 2017 soll der Textbereich dann auch in das Hauptmenü integriert werden.
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setzung kann bei Bedarf zugeschaltet werden. Durch Klick auf eine Textstelle kann in die zweite, im Folgenden ‚Revisionsansicht‘ genannte, Betrachtungsmöglichkeit gewechselt werden: In dieser Ansicht bildet die handschriftlich überlieferte Textstelle als Ausschnitt der Marginalüberlieferung am oberen Rand des jeweiligen Blattes den Mittelpunkt, direkt darunter finden sich eine Transliteration sowie die entsprechende Stelle aus der normalisierten Lesefassung (siehe unten Abb. 2). Zwei Buttons am linken oberen Rand ermöglichen es in dieser Ansicht, ‚Revisionen‘ und ‚Fehler‘ hervorzuheben. (Als Fehler werden hier offensichtliche Schreibfehler sowie anderweitig korrumpierte Textstellen bezeichnet, die keine Revisionen in der Handschrift nach sich zogen.) Vorerst lassen sich nur ausgewählte – besonders revisions- und fehlerlastige – Textstellen solcherart anzeigen. Ob es sinnvoll ist, den gesamten Text über alle 78 Handschriftenseiten in dieser Art darstellen zu können, sollen die geplanten Evaluierungen mit Schulklassen und Studierendengruppen im Frühjahr/Sommer 2017 zeigen. Wie im Falle der übrigen Bereiche des Portals kann auch hier ein Materialbereich zugeschaltet werden, der unterschiedliche PDF-Leseversionen des Textes und Unterrichtsmaterialien zum Download bereitstellt. Im angeschlossenen Medienbereich finden sich ein von Schüler/innen gedrehter Kurzfilm, der mit Motiven des mittelalterlichen Textes spielt, und eine von Lehramtsstudierenden und Schüler/innen der Bundesanstalt für Kindergartenpädagogik erstellte Kinderzeitung zum Thema „Margareta von Antiochien und Heiligenverehrung im Mittelalter“. Die Gesamtansicht der handschriftlichen Überlieferung wird durch einen integrierten Viewer ermöglicht, der ein Durchblättern des digitalisierten Codex erlaubt. Die im Folgenden nun näher beschriebene revisionssensible Fassung soll es künftig Lerner/innen ermöglichen, ein umfassendes Bild eines mittelalterlichen Textes in seinen unterschiedlichen Überlieferungs- und Darstellungsformen zu erhalten und Schritt für Schritt den Weg von der Handschrift zur Edition des Textes zu erschließen. Dabei soll vor allem der editorische Umgang mit Revisionen, korrumpierten und deutungsunsicheren Stellen nachvollziehbar gemacht werden. 2.1.1 Die normalisierte Lesefassung des Textes Im Zuge der sogenannten ‚Textverstehenserhebung‘ zum Umgang von Lerner/innen mit literarischen Zeugnissen der mittelalterlichen Sprachstufen, die im Rahmen der Vorarbeiten zum didaktischen Textportal mit mehreren hundert Proband/innen an Schule und Universität durchgeführt wurden, zeigte sich, dass auf die Zielgruppe zugeschnittene normalisierte Textfassungen am besten für die eigenständige Erschließung und Übersetzung mittelalterlicher Literatur geeignet sind,28 sofern – und das ist in der Regel der Fall – die inhaltliche und literarhistorische Erschließung sowie die Betrachtung ausgewählter ‚regelhafter‘ Sprachwandelerscheinungen das vordergründige Unterrichtsinteresse bilden. Für die Leseansicht wurde daher der Text der Seckauer Margaretenlegende den Bedürfnissen der Zielgruppe angepasst, was zahl–––––––— 28
Ausführlich hierzu: Schwinghammer 2015 (Anm. 9), S. 147–172.
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reiche normalisierende Eingriffe in die singulär überlieferte Textgrundlage beinhaltete. Teilweise wurden diese Anpassungen bereits in der ersten Phase der Texterschließung im Jahr 2013 am Bundesgymnasium Rein vorgenommen, wo sich eine Gruppe von acht Schüler/innen der Sekundarstufe 2 und mehrere Studierende ein Semester lang intensiv mit dem Text auseinandersetzten. Für die Umsetzung als revisionssensible Digitale Edition wurden die ursprünglichen Ergebnisse ausgewertet, kollationiert und adaptiert. Normalisierende Eingriffe in vorliegender Fassung stellen etwa das Einfügen von Interpunktionszeichen, die Großschreibung am Satzanfang, Vereinheitlichung der Schreibung von Einzelwörtern innerhalb des Textes, die einheitliche Großschreibung von Eigennamen, der Verzicht auf das sogenannten Schaft-s, die Regelung der u/vSchreibung (u für den Vokal, v/w/f für den Konsonanten) und die Darstellung des Prologes in Versform dar. Da die normalisierten Lesefassungen des Textportals in erster Linie als Grundlage für eigenständige Übersetzungen im Unterricht an Schule und Universität dienen sollen, erfolgten zusätzliche Anpassungen mit Blick auf gängige Nachschlagewerke.29 Bei mehreren möglichen Schreibvarianten wurde jene Schreibung gewählt, die den Wörterbüchern bzw. der heutigen Standardsprache näher steht. Dieser Vorgangsweise fielen zahlreiche Spezifika des bairischen Sprachraumes zum Opfer: Im Bereich des Konsonantismus wurde etwa auf das im Bairischen bis in die Neuzeit typische p (statt b) im Anlaut verzichtet. Auch die w/b-Schreibung wurde am heutigen Sprachstand sowie an den Hauptvarianten der einschlägigen Nachschlagewerke orientiert. Die ab dem 9. Jahrhundert im Bairischen für k, g stehende Affrikata /kx/, geschrieben zumeist ch, cch, kch, wurde je nach Umgebung entweder als g oder als c realisiert (z.B. manichvaltich, truech, ſtarch zu manigvaltig, trug, starc). Da sich der zugrundeliegende Text der Margaretenlegende auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datieren lässt und trotz der Orientierung an mittelhochdeutschen Nachschlagewerken eine Überführung des Texten in einen zeitlich früheren Sprachstand möglichst vermieden werden sollte, wurden die bairisch vorhandenen ueDiphthonge als monophthongierte Variante mut, gut (für muet, guet) näher an der heutigen Standardsprache dargestellt (anstatt in der wörterbuchkonformen, mittelhochdeutschen Variante muot, guot). All diese – im Einzelnen von rein fachlicher Seite sicherlich durchaus diskussionswürdigen – Entscheidungen führten zu einer hochgradig konstruierten und auf die Bedürfnisse der Nutzer/innen zugeschnittenen Lesefassung. Die Mehrschichtigkeit der vorliegenden digitalen Fassung ermöglicht jedoch in diesem Kontext die normalisierenden editorischen Eingriffe bis zur handschriftlichen Textgrundlage nachzuvollziehen und so den Text auch in einer sprachlich und orthographisch authentischen –––––––— 29
Beate Henning: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch. In Zusammenarbeit mit Christa Hepfer und unter redaktioneller Mitwirkung von Wolfgang Bachofer. 5., durchgesehene Auflage. Tübingen 2007 (sowie darauffolgende Auflagen); Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit Nachträgen von Ulrich Pretzel. 38., unveränderte Auflage. Stuttgart 1992 (sowie darauffolgende Auflagen) und Wörterbuchnetz. Center for Digital Humanities / Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier: 2011. Online unter: http://woerterbuchnetz.de/ [Stand vom 20.01.2017].
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Form zu betrachten. Zusätzliche Einblicke in die Sprachentwicklung werden durch themenspezifische Wiki-Artikel gewährleistet, die in Kommentarfenstern zu ausgewählten Textstellen verlinkt sind. 2.1.2 Übersetzung und Kommentierungen Um den Lerner/innen eine zusätzliche Hilfestellung bzw. Kontrollmöglichkeit zu bieten sowie den Lehrenden den Zugang zu den mittelalterlichen Texten für den Unterricht zu erleichtern, beinhalten alle Textbereiche eine bei Bedarf zuschaltbare neuhochdeutsche Übersetzung. Da die Nachvollziehbarkeit der eigenen Erschließungsversuche hierbei im Vordergrund steht, werden in diesen neuhochdeutschen Versionen Verszeilen und Satzstellung so gut wie möglich eingehalten, wie die nachfolgenden Zeilen aus dem Prolog der Seckauer Margaretenlegende illustrieren: Wie daz allez sei dergang, daz vernemet wol, weib und man. Nu freu sich weibes guete, daz under in funden sei ein starc gemuete. Gebezzert sein dabei die man. Gotes namen so heb wir an: [...]
Wie sich das alles genau zutrug, das erfahrt ihr nun, Frauen und Männer. Erfreuen soll sich nun die Weiblichkeit, dass sich unter ihnen ein so starkes Wesen fand! Geläutert werden sollen dabei die Männer! In Gottes Namen beginnen wir nun: [...]30
Im Rahmen des Entstehungsprozesses dieser Übersetzungen, die großteils gemeinsam mit Schülergruppen angefertigt und mittels teilnehmender Beobachtung auch empirisch begleitet wurden,31 konnten gleichzeitig auch jene Textstellen ausgewählt werden, die in weiterer Folge mit Kommentierungen versehen und teilweise mit Beiträgen im Projektwiki verlinkt wurden. Diese Wörter und Phrasen erscheinen in der normalisierten Lesefassung farbig markiert und lassen bei Klick auf die entsprechende Stelle ein Fenster mit Hinweisen zur Erschließung der Textstelle erscheinen. Klickt man beispielsweise in der untenstehenden Prologzeile der Seckauer Margaretenlegende auf das Wort gewalt wird eine Übersetzung des Wortes inklusive kurzer Erläuterung des Bedeutungswandels vom Mittel- ins Neuhochdeutsche gegeben (siehe unten Abb. 1). Möchte man mehr erfahren, kann man am unteren Ende des Fensters das Wort ‚Bedeutungswandel‘ anwählen und gelangt zum gleichnamigen Artikel im Projektwiki, das sich in einem neuen Fenster öffnet. Dort werden allgemeine Informationen zum Bedeutungswandel gegeben und es finden sich zahlreiche illustrierende Beispiele zu unterschiedlichen Wandelerscheinungen. Die meisten dieser Artikel, die man auch unabhängig vom Textportal direkt über das Arbeitskoffer-Wiki durchstöbern kann,32 wurden im Zuge von Schwerpunkten zum Vorwis–––––––— 30 31
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Ausschnitt der Lesefassung und Übersetzung eines Textausschnittes aus dem Prolog der Seckauer Margaretenlegende, UB Graz, Ms. 781 fol. 73v–74r. Ylva Schwinghammer: Teilnehmende Beobachtung. In: Empirische Erhebungs- und Auswertungsverfahren in der deutschdidaktischen Forschung. Hrsg. von Jan Boelmann. Baltmannsweiler 2016, S. 152–164, hier 159–163. http://literaturpfade-arbeitskoffer.uni-graz.at/wiki [Stand vom 20.01.2017].
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senschaftlichen Arbeiten an steirischen Gymnasien sowie in germanistisch-mediävistischen Lehrveranstaltungen an der Karl-Franzens-Universität Graz von Lernenden für Lernende erstellt.
Abb. 1: Normalisierte Lesefassung mit aufgeklapptem Kommentarfenster
2.1.3. ‚Lernerfreundliche Transliteration‘ und Kennzeichnung von Revisionen aus der Handschrift Die revisionssensible Digitale Edition der Margaretenlegende erlaubt es den Nutzer/innen, von der normalen Textansicht in eine weitere Ansichtsebene zu wechseln: In der sogenannten ‚Revisionsansicht‘ steht die jeweilige Textstelle aus der digitalisierten Handschrift im Zentrum. Darunter findet sich links eine Transliteration und rechts daneben die entsprechende Stelle aus der normalisierten Lesefassung der normalen Textansicht. Auch bei der hier angezeigten Transliteration handelt es sich um eine auf die Zielgruppe zugeschnittene Lesefassung: Während z. B. Zeilenumbrüche noch handschriftengetreu wiedergegeben werden, wurden etwa Abbreviaturen bereits aufgelöst, sind aber durch runde Klammern für die Leser/innen als ‚besondere‘ Textstellen in dieser Version im Gegensatz zur normalisierten Lesefassung noch sichtbar. Eine Ausnahme stellt dabei das Christusmonogramm xpi auf Blatt 74r dar, das – wiederum mit Blick auf die Zielgruppe – erst in der normalisierten Lesefassung zu christi aufgelöst und im Rahmen eines zuschaltbaren Kommentarfeldes näher erläutert wird. In dieser Ansicht können zwei zusätzliche Annotierungsebenen zugeschaltet werden: ‚Revisionen anzeigen‘: Es werden augenscheinliche Korrekturen und Änderungen angezeigt, die in der mittelalterlichen Handschrift vorgenommen wurden. ‚Fehler anzeigen‘: Es werden Fehler und Unstimmigkeiten in der mittelalterlichen Handschrift angezeigt, die im Rahmen des Editionsprozesses ‚bereinigt‘ wurden.
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Die beiden Ebenen können sowohl gleichzeitig als auch separat aktiviert werden. Revisionen erscheinen in Handschrift und Transliteration gelb hinterlegt; Fehlerstellen werden blau markiert. Durch Anklicken einer solcherart markierten Stelle (sowohl im Bild als auch im transliterierten Text darunter) erscheint über der betreffenden Handschriftenstelle eine kurze Erklärung (siehe Abb. 2). Die Benennung und Beschreibung der Revisionen folgt dabei der in den Beiträgen von Hofmeister/ Böhm/Klug sowie Hofmeister-Winter33 etablierten Terminologie. +
Interlineare Texteinfügung mit Einweisungszeichen (Wellenlinie): Das Wort herre wurd e nachträglich hinzugefügt
gaift. der aller guete ift ollauif der mich beifvnd lere. daz da e fei dein lob vnd dein ere. manichva ltich ift gebalt. vil groez ift dei n guete. du bif me in geni ft.
dein
geist der aller guete ist volleist der mich weis und lere, daz da herre sei dein lob und dein ere. Manigvaltig ist herredein gewa lt. vil groz ist deine guete. Du w is mein genist
Abb. 2: Revisionsansicht mit zugeschalteten Annotierungen und aufgeklapptem Kommentarfenster von UB Graz, Ms. 781 fol. 72r
Lerner/innen haben so die Möglichkeit, ausgehend von der Ebene der normalisierten Lesefassung in zwei Richtungen tiefer in den Text einzutauchen: Durch Zuschalten von Kommentaren und neuhochdeutscher Übersetzung inklusive Material- und Medienbereich wird der Text inhaltlich erschlossen sowie Gattungs-, Sprach- und Kontextwissen vermittelt. Der Wechsel in die Revisionsansicht erlaubt es, den Text bis in die handschriftliche Fassung zurückzuverfolgen und einzelne Revisionsschritte im Schreib- und Editionsprozess nachzuvollziehen. 2.2 Realisierung der revisionssensiblen Fassung im Rahmen des Textportals Bezüglich der Revisionsansicht wurde der Fokus auf die Faksimiles der Handschrift gelegt, um den Revisionsprozess direkt anhand des Überlieferungsträgers darzustellen.34 Transliteration und Lesefassung bieten eine Ergänzung zum besseren Verständnis. Zu diesem Zweck wurde ein auf Basis von Javascript, HTML5 und CSS3 realisiertes Visualisierungstool entwickelt, das in den jeweiligen Textbereich eingebettet werden kann und die Darstellung verschiedener visueller Merkmale einer Handschrift ermöglicht. Die Hervorhebung der Merkmale erfolgt sowohl im Bild der Originalhandschrift als auch in der Transliteration und stellt durch die gleichzeitige Aktivierung eine Verknüpfung dieser beiden Komponenten dar. Im Moment lassen sich Fehler und Revisionen in der Handschrift anzeigen. Beim Entwurf des Tools wurde allerdings auf Erweiterbarkeit geachtet, sodass jederzeit weitere Merkmalstypen implementiert werden können. –––––––— 33 34
Vgl. Hofmeister/Böhm/Klug 2016 (Anm. 1) sowie Hofmeister-Winter 2016 (Anm. 1). Vgl. hierzu die Überlegungen von Hofmeister/Böhm/Klug 2016 (Anm. 1), S. 14–33.
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Für die Anzeige der Faksimiles und der damit verbundenen Features wie Hervorhebungen und der interaktiv angezeigten Pop-ups und Kommentare wurde die Javascript-Bibliothek Leaflet35 herangezogen. Obwohl in erster Linie für den Einsatz mit geographischen Webanwendungen verwendet, eignet sich die Bibliothek aufgrund der vielen brauchbaren Funktionalitäten, die sie bereitstellt, auch als Grundlage für den Faksimile-Viewer. Zooming und die Handhabung von Overlays konnten beispielsweise unkompliziert umgesetzt werden. Der Viewer konsumiert alle für die Anzeige benötigten Daten über die vom GAMS zur Verfügung gestellten IIIF-Schnittstelle, was eine Interoperabilität mit der verwendeten Repositioriumsinfrastruktur gewährleistet und die Implementierung des Tools um ein Vielfaches vereinfacht. Mit Blick auf die Benutzer/innen wurde auch bei der Entwicklung dieser Komponente deren Kompatibilität mit mobilen Endgeräten wie Mobiltelefonen und Tablets als grundlegend erachtet.
3. Ausblick: Digitale Editionen für die Schule? Gerade in den letzten Jahren legt auch die Germanistische Mediävistik ihren Fokus immer stärker auf die Wissens- und Wissenschaftsvermittlung, wie unterschiedliche einschlägige Initiativen, Projekte, Publikationen und Tagungen illustrieren.36 Im Sinne eines erweiterten Didaktikbegriffes umfasst diese Vermittlung neben der Lehre an Schule und Universität auch eine Fülle an außerschulischen Bildungs- und Kulturangeboten für unterschiedlichste Alters- und Zielgruppen. Fachwissenschaftlich orientierte Editionen – sowohl in Print- als auch in digitaler Form – eignen sich zumeist nur sehr eingeschränkt für diese Zwecke, sofern sie für Laien überhaupt verfügbar sind. Um mittelalterliche Literatur innerhalb und außerhalb von schulischen Bildungskontexten zugänglich zu machen, benötigt es also speziell auf die Zielgruppen zugeschnittene Angebote. Das im Rahmen dieses Beitrages vorgestellte didaktische Textportal zur mittelalterlichen Literatur hat seinen Hauptfokus auf dem Unterricht in der Sekundarstufe 2 sowie auf der fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen universitären Lehre. Die dort zu findenden Inhalte richten sich an Schüler/innen, Studierende und vor allem auch an (zukünftige) Lehrer/innen. Um ein wirklich zielgruppengerechtes Angebot zu entwickeln, wurden nicht nur curriculare Anforderungen beachtet, sondern auch alle wesentlichen Schritte in der Konzeption empirisch abgesichert und durch Praxistests begleitet. Wo immer es möglich war, wurden Inhalte gemeinsam mit Schüler/innen, Studierenden und Lehrer/innen erarbeitet. Auch wenn sich diese Vorgehensweise im vorliegenden Fall bewährt hat und das Textportal bis dato durchwegs positiv auf- und angenommen wurde, werden hier gleichzeitig grundlegende Problematiken sichtbar: Bereits ohne diese zeitintensive Praxisarbeit und Feldforschung ist die Aufbereitung –––––––— 35 36
http://leafletjs.com [Stand vom 20.01.2017]. Ein aktueller Überblick über einschlägige Publikationen ab dem Jahr 2000 wird hier geboten: Petra Schebach: Weiterführende Auswahlbibliographie zu mittelalterlichen Themen und Texten im Deutschunterricht. In: ide 40, 2016, H. 3, S. 110–114.
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mittelalterlicher Texte ausgehend von ihrer handschriftlichen Überlieferung mit vergleichsweise großem Aufwand verbunden, der ohne entsprechende (Dritt-)Mittel kaum zu leisten ist. Erschwerend kommt hinzu, dass es zu diesem speziellen Bereich der Literaturdidaktik noch kaum empirische Untersuchungen und validierte didaktische Konzepte gibt.37 Allen Unken- und Klagerufen über das Verschwinden mittelalterlicher Literatur aus der Schule zum Trotz haben sich in jüngster Zeit einige germanistisch-mediävistische Initiativen im didaktischen Bereich formiert, die in ihrem jeweiligen Umfeld Erfolgsgeschichten schreiben konnten.38 Dazu zählen auch die beiden mehrfach genannten Sparkling Science Projekte zum Arbeitskoffer zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters. Mittelalterliche Texte und zeitgemäße Unterrichtsformen schließen einander also keineswegs aus, ganz im Gegenteil: Die Freiheit in der Textauswahl, die kompetenzorientierte Rahmenlehrpläne bieten, öffnet auch Texten abseits des engsten Kanons die Tür zum Unterricht, wenngleich das Schulbuch vorerst und wohl noch länger das maßgeblichste Werkzeug von Lehrerinnen und Lehrern bleiben wird. Die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten und ihre stetig voranschreitende Weiterentwicklung erlauben in der Zusammenarbeit mit den Digital Humanities ganz neue Wege in der Textaufbereitung, die auch den Schulunterricht bereichern können. Die hier vorgestellte revisionssensible Ausgabe der Seckauer Margaretenlegende versucht, genau dies zu leisten und Lernenden (wie auch Lehrenden) einen besonderen Blick auf den mittelalterlichen Text zu ermöglichen. Um diese Digitale Edition künftig auch wirklich im Unterricht der Sekundarstufe 2 einsetzen zu können, wird es nach Evaluierung der Funktionalitäten des Textbereiches mit der Zielgruppe weitere Begleitmaterialien benötigen, u. a. didaktisch fundierte, aber auch aus fachwissenschaftlicher Sicht vertretbare Aufgabenstellungen und zusätzliche angeschlossene Supportangebote, mit deren Hilfe sich die Lehrpersonen in das Thema einarbeiten können. Wenngleich in den vergangenen Jahren zahlreiche Onlineangebote zu den unterschiedlichen Teilbereichen des Deutschunterrichts entstanden sind, fehlen bisher noch die Erfahrungswerte über deren tatsächliche Nutzung in der Schule; auch in diesem Bereich warten also noch Herausforderungen.39 Ein großes Potential bieten die mittelalterlichen Texte und ihre digitalen wie medialen Repräsentationen allemal – nicht zuletzt im Rahmen eines integrativen Deutschunterrichts, dessen Desiderat sie in der Verknüpfung von Literatur, Sprache, Medialität und Performanz nahezu idealtypisch zu erfüllen vermögen. –––––––— 37
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Vgl. hierzu Andrea Sieber: Mittelalterliche Texte und Themen im kompetenzorientierten Deutschunterricht. In: ide 40, 2016, H. 3, S. 50–66, hier 52–54. Einen Überblick über bisherige Untersuchungen bietet Ylva Schwinghammer: Empirische Erhebungen zum Umgang mit älterer deutscher Literatur und Sprache im Unterricht. Eine vorläufige Bestandsaufnahme. In: ide 40, 2016, H. 3, S. 31–49. Eine aktuelle Auflistung bietet Sieber 2016 (Anm. 37), S. 52. Eine entsprechende Erhebung im deutschsprachigen Raum ist im Rahmen des Habilitationsprojektes von Ylva Schwinghammer unter dem Titel „Voraussetzungen und Dimensionen literarischen Lernens“ in den kommenden Jahren geplant. Eine Kurzbeschreibung des Projektes findet sich auf der Website des Habilitationsforums Fachdidaktik und Unterrichtsforschung unter: https://habilitationsforum-fachdidak tik.uni-graz.at/de/stipendiatinnen/ylva-schwinghammer [Stand vom 20.01.2017].
Holger Runow
Edition als Revision zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Philologie Zu einer Neuausgabe von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur
Konrads von Würzburg Partonopier fasziniert als exorbitante Erzählung zwischen Feenmärchen und höfischem Minne- und Aventiureroman mit Elementen der Chanson de geste. Sein ansprechender Plot mit kluger Figurenzeichnung, feiner Erotik und neckischen Dialogen machen ihn ebenso zu einer attraktiven Lektüre, nicht zuletzt auch im akademischen Unterricht, wie seine elegante Erzählweise. Was dem Text fehlt, ist eine moderne Ausgabe. Wir lesen ihn bis heute in der editio princeps von Karl Bartsch aus dem Jahr 1871.1 Solchen Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert stehen wir heute skeptisch gegenüber, denken an Karl Lachmann und seine textkritische Methode, an die ‚Kunstsprache‘ des Normalmittelhochdeutschen und weitere Schreckgespenster, auf die sich eine moderne Philologie nur mehr beruft, um sie abzulehnen. Eine Neuausgabe von Konrads Roman bedürfte insofern keiner weiteren Rechtfertigung. Doch auch wenn sich die theoretischen Prämissen seit dem 19. Jahrhundert grundlegend geändert haben, ist andererseits die Überlieferungslage des Textes noch dieselbe, und das philologische Wissen, das die Grundlage des Verstehens mittelhochdeutscher Texte bildet, ist zwar erheblich verfeinert worden, hat sich aber nicht grundstürzend verändert. Bartsch war ein versierter Philologe und erfahrener Editor, und so ist seine Partonopier-Edition als substantieller Beitrag zum Verständnis des Textes nicht leichthin als überholt und wertlos abzutun. Eine Neuedition wird demnach auch eine kritische Revision der alten Ausgabe sein müssen. Revisionsbedarf ergibt sich dabei auf mehreren Ebenen: (1.) in der erneuten Sichtung und Bewertung der Überlieferung, (2.) in der Kritik der theoretischen Prämissen sowie (3.) in der praktischen Anlage der neuen Ausgabe.
1. Revision der Überlieferung Der Partonopier ist nicht so breit, nicht so vollständig und insgesamt nicht so gut bewahrt worden, wie es zu wünschen wäre. Erhalten sind zwei Textzeugen:2 –––––––— 1
2
Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur – Turnier von Nantheiz – Sant Nicolaus – Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1871. Vgl. den Neudruck: Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth hrsg. von Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Rainer Gruenter in Verbindung mit Bruno Jöhnk, Raimund Kemper und Hans-Christian Wunderlich. Berlin 1970. Die folgenden Angaben beschränken sich auf das Notwendigste. Detaillierte Beschreibung der Handschriften bei Gruenter 1970 (Anm. 1), S. 339‒351.
Holger Runow
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A: Zwei beschnittene Pergamentdoppelblätter unbekannter Herkunft, heute unter der Signatur Ms. 184 Nr. XXVI und Nr. XXVII in der Zentralbibliothek Zürich. Sie stammen wohl noch aus dem 13. Jahrhundert und reichen damit an die Lebenszeit Konrads von Würzburg († 1287) heran. Die Schriftsprache weist ins Alemannische und damit auch auf seinen Wirkungsraum: Der Partonopier ist (wie der Trojanerkrieg) nach Auskunft des Prologs in Basel entstanden. Die Blätter bieten, jeweils mit Lücken, Passagen aus zwei verschiedenen Teilen des Romans3 und bieten wertvolles Vergleichsmaterial im Umfang von rund 450 (nur z. T. durch Beschnitt fragmentierten) Versen.4 Das entspricht gut zwei Prozent des erhaltenen Gesamtumfangs des Textes mit über 21.500 Versen.5 B: Einigermaßen vollständig ist der Roman nur in der Berliner – ehemals Riedegger – Papierhandschrift mgf 1064 erhalten. Sie enthält neben dem Partonopier Thürings von Ringoltingen Melusine und ist durch Schreiberkolophon lokalisiert und datiert: Heinrich Wincklär hat sie 1471 am zweiten Sonntag nach Mariä Himmelfahrt in Hall am Inn vollendet. Die Schriftsprache ist ein bairisch-tirolisches Frühneuhochdeutsch. Die Handschrift ist ohne physischen Verlust, der Text bricht aber auf fol. 185r mitten in der Handlung ab.6 Darunter folgt der Schreibervermerk, dann ein Dutzend leerer Blätter. Warum der Roman Fragment geblieben ist, wäre Gegenstand weiterer literarhistorischer Untersuchung;7 die Edition hat sich mit dem überlieferten Textbestand zu begnügen. Dieser bietet noch auf anderer Ebene Schwierigkeiten: Ein ‚schleichender‘ Textverlust zieht sich durch die Handschrift, da immer wieder ohne jede Lücke auf der Seite einzelne Verse fehlen. Mit dem Verlust einer Reimzeile ist in aller Regel auch ein inhaltlicher und syntaktischer Bruch verbunden (dazu s. u.). Soweit die Heuristik. Was lässt sich über die Eigenheiten und die Qualität der Handschriften sowie ihr Verhältnis zueinander sagen, wie ist ihr textkritischer Wert? – Klar ist erstens, dass B als Codex unicus für 98 Prozent des Textbestandes die Grundlage der Edition sein muss; das ist alternativlos, aber nicht ohne Probleme, denn, dies vorweg, die Handschrift ist (auch über den erwähnten Versausfall hinaus) nicht immer zuverlässig. Zweitens aber ist dort, wo beide Handschriften den Text parallel bieten, deutlich, dass nicht von verschiedenen Fassungen auszugehen ist. Beide Manuskripte überliefern, trotz Unterschieden im Detail, mit großer Übereinstimmung denselben Text. Abweichungen zwischen beiden Handschriften gibt es drittens dennoch. Allermeist hat dabei A den erkennbar besseren, d. h. vermutlich entstehungsnäheren Text. B hat die Sprachgestalt an frühneuhochdeutsche Gepflogen–––––––— 3 4 5 6
7
Nr. XXVII: Passagen aus der Entdeckungsszene nach dem Tabubruch sowie der Auftritt von Meliurs Schwester Irekel; Nr. XXVI: Teile aus der Vorbereitung auf das Turnier um Meliurs Hand. (Teil-)Abbildung bei Gruenter 1970 (Anm. 1), S. 372 und 374; zum genauen Versbestand ebd., S. 342. In der Ausgabe: 21784 Verse, der überlieferte Textbestand ist etwas geringer (dazu s. u.). Nach dem erfolgreichen Wiedergewinn Meliurs im Turnier brechen neue Streitigkeiten aus, in denen Partonopier sich als kämpfender Herrscher bewähren muss. In der Schilderung einer Belagerungssituation hört der Text mitten auf der Seite auf. Bereits Konrads französische Vorlage war unvollständig geblieben; vgl. dazu Wolfgang Obst: Der Partonopier-Roman Konrads von Würzburg und seine französische Vorlage. Diss. Würzburg 1976, S. 68‒75.
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heiten angepasst und zeigt insgesamt weniger Gespür für Form und Inhalt. Das sei knapp anhand weniger Textvergleiche aufgezeigt. Beispiel 1. Nach dem Tabubruch drängen am Morgen die Hofdamen in die Kemenate und beschimpfen zunächst Meliur (V. 8456ff.): [Text nach A:] waz moͤ ht ein laſter grozer ſin ſo daz ir manegen werden kvnec vf der erden verſprochen hant ze manne vnde ivch zekebſe dann tvͥ ten liezent diſen kneht
[Text nach B:] Was möchte ain laſter groſſˀr ſein So daz ir manigen werdn̄ man Chunig auff erden ſchon Verſprochn̄ habt zemāne Vnd euch ze chebeſſe dāne Trauttn̄ lieſſent diſen knecht
Im zweiten und dritten Vers sind in B gegenüber A Syntax und Reim zerstört: erklärbar vielleicht zunächst durch Augensprung vom zweiten auf den übernächsten Vers, wodurch die Ergänzung zu „werden man“ zustande kam, was dann aber syntaktisch unauflösbar mit „chunig“ kollidierte und nur notdürftig durch unreinen Reim auf „schon“ geflickt ist. A ist der Vorzug zu geben.8 Beispiel 2. In einer Beschreibung prächtiger Gewänder heißt es (V. 14158ff.): [A:] von endian von vztrieht von kriechen vnde von heiden lant waſ in ze ſtiure dar geſant vil manec edel ſamit
[B:] Von endian vnd aus chriecht Von chriechn̄ vnd von haidenlant Was jn zu ſtewre dar geſant Vil manig edel ſameit
B hat offenbar mit „ûztrieht“ (‚Utrecht‘) nichts anfangen können. Zudem mag der Blick in den nächsten Vers mit „kriechen“ verderbend eingewirkt haben. A hat sicher das Richtige bewahrt, zumal die auffällige Paarung „Endiam und Ûztrieht“ auch in Konrads Trojanerkrieg vorkommt.9 Beispiel 3. Meliur bricht der Angstschweiß aus (V. 8502f.): [A:] dc ir der angeſtbere ſweiz von der blanken hvͥ te ſeic
[B:] Daz ir angſware ſwais Von der planckn̄ hande ſaig
–––––––— 8
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Nur auf den ersten Blick scheint im letzten Vers A fehlerhaft. B hat mit „trautten“ (zu mhd. triuten bzw. trûten) sicher das Richtige, „tiuten“ (A) ergibt keinen Sinn. Mehrere Vergleichsstellen in A zeigen indes, dass hier kein Fehler vorliegt, sondern die besonders in alemannischen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts verbreitete paläographischen Praxis, ein r durch das Hochstellen des folgenden Vokals zu kürzen (vgl. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. 2., überarbeitete Aufl. Tübingen 2009, S. 88). „tvͥ ten“ ist also ebenfalls als triuten zu lesen (ebenso V. 9197 und 9306 „tuͥ we“ für triuwe). Vgl. Konrad von Würzburg: ‚Trojanerkrieg‘ und die anonym überlieferte Fortsetzung. Kritische Ausgabe von Heinz Thoelen und Bianca Häberlein. Wiesbaden 2015, V. 17614.
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Dass der Schweiß in B speziell von der blanken ‚Hand‘ läuft und nicht überhaupt von der ‚Haut‘ wie in A, scheint ungewöhnlich. Die Erklärung dürfte sein, dass B von einer Handschrift mit bereits diphthongiertem Lautstand abgeschrieben hat, wo also nicht (umlautloses) „hute“ stand, sondern „haute“. War zudem die Vorlage, wie zu schließen ist, eine Textura (textualis formata) oder auch (frühere) Bastarda mit vielen gleichförmigen Schäften, ist die Verwechslung von paläographisch sehr ähnlichem u und n schnell passiert. Die Vermutung lässt sich an weiteren Stellen erhärten und ist übertragbar auch auf Fehler in B, zu denen A keinen parallelen Vergleichstext bietet, z. B. in Konrads Selbstaussage gegen Ende des Prologs (V. 194): „dicz märe danckt jn alſo guet“. Statt „danckt“ ist das Präteritum „dûcht(e)“ zu erwarten, in der Vorlage also von diphthongiertem „daucht(e)“ auszugehen. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Was verraten sie über das Verhältnis der Handschriften zueinander und ggf. im Hinblick auf den Archetyp? Beide Handschriften bezeugen eine Textfassung; die Möglichkeit, dass die jüngere Handschrift B eine direkte Abschrift von A wäre, wurde ausgeschlossen, da B wohl Abschrift einer (Textura-)Vorlage auf diphthongiertem Lautstand ist, während A die alten Monophthonge erhalten hat und auch nicht die Gleichförmigkeit der Schäfte aufweist, die zu den dargelegten Abschreibefehlern geführt haben dürften. Stemmatologisch wäre der Befund etwa so darzustellen: x A *B (wohl 14./15. Jh.) B
2. Revision der Prämissen Wenn bisher gezeigt wurde, dass A nicht nur die ältere, sondern auch die qualitativ bessere Handschrift ist, was ist mit dem Befund eigentlich gewonnen? Schließlich muss B Grundlage der Edition sein. Diese kann aber durchaus unterschiedlich ausfallen. Das hängt wiederum davon ab, welchen textuellen Status man der Leithandschrift beimisst, wie groß das Vertrauen in ihre spezifische Qualität ist, aber auch in welchem ‚Zustand‘ der Text abgebildet werden soll – und für wen.10 Es ist also eine Frage der Prämissen, d. h. unhintergehbarer (deswegen aber nicht beliebiger11) der Edition vorgängiger Grundsatzentscheidungen, die ihrerseits zu begründen wären. Ausgangspunkt hierfür ist neben der Überlieferungslage auch deren Bewertung, die ihrerseits dem Wandel jeweils vorherrschender Fachkulturen unterworfen ist. Eine –––––––— 10 11
Vgl. dazu Holger Runow: Wem nützt was? Mediävistische Editionen (auch) vom Nutzer aus gedacht. In: editio 28, 2014, S. 50‒67. Vgl. Nathanael Busch: „lumpenpapierhandschriften“. Zum editorischen Umgang mit unikal, spät und schlecht überlieferten Texten. In: editio 24, 2010, S. 96‒116, hier 114.
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von der ‚New Philology‘-Debatte nachhaltig wachgerüttelte, aber bereits viel früher vorsichtiger und methodisch differenzierter gewordene Mediävistik hat den „Rekonstruktionsoptimismus“12, mit dem Editoren im 19. Jahrhundert ans Werk gegangen sind, massiv in Frage gestellt. Demgegenüber werden längst die Handschriften als Überlieferungsträger (wieder) ernster genommen, wobei seit der ‚New Philology‘ die früher kategoriale Unterscheidung zwischen ‚Text‘ und ‚Überlieferung‘ wenn nicht ganz aufgegeben, so doch zumindest in ihren Implikationen für die Vorstellungen von mittelalterlicher Textualität und Autorschaft gründlich neu überdacht worden sind. Jede einzelne Handschrift repräsentiert demnach nicht nur einen Text, sie selbst ist Text. Solche Überlegungen rütteln ganz grundsätzlich am Verhältnis von Texttheorie, Literaturgeschichte und Editionspraxis. Von ihren Kritikern musste sich die New Philology allerdings vorwerfen lassen, sie habe unter den Schlagworten vom ‚offenen‘ Text, von ‚Mouvance‘ und ‚Variance‘ einen ganz bestimmten Spezialfall mittelalterlicher Textüberlieferung zu deren Standard erklärt.13 Es empfiehlt sich, nüchtern zu bleiben und vom jeweiligen Einzelfall auszugehen: „tous les cas sont spéciaux“, hatte schon vor mehr als einem halben Jahrhundert Karl Stackmann14 auch für die Editoren mittelalterlicher deutscher Texte angemahnt. Für unseren Kasus, wo es im Wesentlichen nur eine Handschrift gibt und zudem die punktuelle Parallelüberlieferung keine erkennbare Fassungsdivergenz aufweist, greifen Textualitätskonzepte von ‚Mouvance‘ und ‚Variance‘ nicht. Will man konsequent unter der Prämisse arbeiten, dass Handschrift gleich Text ist, wird die Edition denkbar einfach: Man muss dann im Wesentlichen die erhaltene Handschrift getreu abdrucken. Das ist indes keinesfalls die einzig mögliche oder gar nötige Prämisse. Vielmehr war ja zu beobachten, wie B einen (schlechteren) Zustand des gleichen ‚Textes‘ darstellt, den auch A transportiert. Dieser Text, daran soll als literarhistorischer Prämisse festgehalten werden, stammt von Konrad von Würzburg und ist im späteren 13. Jh. in Basel entstanden, wie auch aus dem Prolog hervorgeht (vgl. bes. V. 186 und 192). Konrad aber ist für den Literarhistoriker nicht irgendein Autor, sondern der profilierteste deutsche Autor des 13. Jahrhunderts mit einem breiten Œuvre von hohem Wiedererkennungswert.15 Akzeptiert man diese Prämisse, erlaubt, ja fordert sie weitere Schlussfolgerungen: Die frühneuhochdeutsche bairische Handschrift B ist nicht der Konrad’sche Text, sondern sie repräsentiert ihn. Der Versuch, ihn (den Text) von ihr (der Handschrift) zu abstrahieren und – annäherungsweise – so wiederzugeben, wie er wohl abgefasst worden ist, sollte erlaubt sein. Dabei hilft dreierlei: –––––––— 12 13
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Florian Kragl: Kritik des Apparats. Anlässlich der neuen Ausgabe der ‚Laurine‘. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 136, 2014, S. 601‒623, hier 602. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der New Philology vgl. etwa Rüdiger Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio. 8), S. 61‒95. Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hrsg. von William Foerste und Karl Heinz Borck. Köln/Graz 1964, S. 240‒267, hier 241. So ist es kaum Zufall, dass Jacob Grimm und Karl Lachmann in den Züricher Fragmenten schon vor der Entdeckung der Riedegger Handschrift ein Werk Konrads erkannten, vgl. Bartsch 1871 (Anm. 1), S. V.
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(1.) die Reimgrammatik unter der Prämisse eines zeitgenössischen Stilprinzips des mittelhochdeutschen reinen Reims, das man gerade von Konrad gut kennt;16 (2.) die alten Fragmente, die deutlich näher an Ort und Zeit der Abfassung heranreichen und somit von höchstem textkritischen Wert sind; (3.) das breite Vergleichsmaterial, das Konrads weitere Werke bieten: Der (über Text- und Gattungsgrenzen hinweg) Konrad eigene, bisweilen vorhersehbare Stil kann im Einzelfall als Argument zur Textherstellung herangezogen werden.17 Die derart formulierten Folgerungen, die letztlich auf den Konrad’schen Text ‚hinter‘ der Überlieferung zielen, decken sich weitgehend mit jenem Ansatz, nach dem Bartsch seine Ausgabe angefertigt hat. Das Verfahren ließe sich, bezogen auf die Handschrift B, mit den programmatischen Begriffen von ‚Normalisierung‘ und ‚Rekonstruktion‘ beschreiben. Beides wird weiterer Begründung und methodischer Rechtfertigung bedürfen, sofern die Edition nicht einfach eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert sein soll (was sie keinesfalls sein will). Zur Normalisierung kann auf Florian Kragls jüngst vorgelegten „Theorieentwurf“ verwiesen werden.18 Sein Fazit lautet, sehr verkürzt, dass man dort normalisieren kann und darf, wo es ohne größere Probleme möglich ist, d. h. wo im Normalisieren die dialektale und diachrone Abweichung gegenüber dem ‚Normalmittelhochdeutschen‘ beherrschbar bleibt, so dass nicht die sprachliche Konsistenz und letztlich die Ästhetik der Texte zerstört würden. Das ist bei Konrad von Würzburg kaum der Fall; die von Kragl formulierte Lizenz gilt im Wesentlichen für oberdeutsche literarische Texte des Hochmittelalters (die den Ausgangspunkt für das ‚Lachmann-Idiom‘ bildeten). Normalisierung dient dann als vereinheitlichende Lesehilfe.19 – Zu verweisen wäre im Übrigen auf die Kontingenz der Überlieferung:20 Wäre die Situation umgekehrt, wäre A vollständig erhalten und hätte man dazu ein paar jüngere Fragmente aus B, dann gäbe es das methodische Problem des Normalisierens kaum, denn A bietet einen nahezu ‚normal‘-mittelhochdeutschen Text. Jedenfalls wird man mit Augenmaß vorgehen müssen. Dazu nur wenige Beispiele, die zugleich auch noch offene Fragen benennen: –––––––— 16
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Es ist für den Partonopier gut dokumentiert, vgl. Otto Kunz: Reimwörterbuch zu Konrads von Wuerzburg Partonopier und Meliur. Vers 1‒10050. Diss. masch. Wien 1952; Alexander Hofböck: Reimwörterbuch zu Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur, II. Teil, V. 10051‒21784. Diss. masch. Wien 1955; s. a. Rudolf Raab: Reimwörterbuch zu Konrads von Würzburg Engelhard. Diss. masch. Wien 1955. Zu ergänzen wäre – mit Einschränkungen – der Vergleich mit dem französischen Partonopeu, genauer der Handschrift P (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. 386), die den Überlieferungszweig repräsentiert, dem Konrad folgt. Er übersetzt allerdings großzügig anreichernd und umformulierend; vgl. dazu Obst 1976 (Anm. 7), S. 98‒104. Florian Kragl: Normalmittelhochdeutsch. Theorieentwurf einer gelebten Praxis. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 144, 2015, S. 1‒27. Weniger als Verständnis- denn vielmehr im konkretesten Sinne als „Vor- und Laut-Lese-Hilfe“ (ebd., S. 25). Zum Argument vgl. auch Ricarda Bauschke: Die Edition von Herborts von Fritzlar Liet von Troye. Vorüberlegungen zum Projekt einer Neuausgabe. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.‒3. April 2004. Hrsg. von Martin J. Schubert. Tübingen 2005 (Beihefte zu editio. 23), S. 119‒131, hier 127.
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Mehr als einmal reimt im Text das mhd. Verbum verlieren auf den Akkusativ des Titelheldennamens Partonopieren, so dass sich die Normalisierung zu verliesen verbietet. Andererseits reimt aber auch verliesen auf kiesen. Offenbar reimt Konrad in einer Phase des Übergangs zu den Ausgleichsformen nach Bedarf. – Ähnliches ist beim Ind. Prät. von haben / hân zu beobachten (Hs. immer het(t)e, selten hate), das sowohl auf kurzes brete wie auch auf langes stæte reimt. Beides muss man zulassen; im Versinnern wäre zu überlegen, ob man sich für eine Leitform entscheidet. Überhaupt ist zu fragen, wieviel Einheitlichkeit erzielt werden muss. Wenn in der Handschrift etwa lenisiertes wolde neben der nicht lenisierten Form wolte steht, kann man ohne weiteres beides zulassen; wichtiger als eine grundsätzliche Entscheidung wäre wiederum das Augenmerk auf die Reimbelege (vgl. etwa V. 13187f. randen : Irlanden), die man ggf. anpassen sollte.21 Wie soll man außerhalb des Reims verfahren mit kontrahierten und assimilierten Formen wie diser vs. dirre; einem vs. eime; haben vs. hân etc.? Tendenziell sind jene die älteren und oft in A zu finden, wo B dann die jüngeren dissimilierten Formen hat. Erlaubt das aber, alles in B entsprechend ‚zurückzusetzen‘? Auch hier ist ja im 13. Jahrhundert einiges im Übergang und existiert bereits nebeneinander. Das betrifft auch die verallgemeinernde Form der Pronomina und Partikeln, also swer, swie, swâ, swenne etc. – Eine mittelhochdeutsche Spezialität, die im 15. Jh. aus der Mode gekommen ist. A hat sie oft, B dann meistens nicht. Man ist geneigt, die älteren Formen herzustellen, was dem Text aber auch einen anderen, sentenzhafteren Duktus verleiht, den man dann für ein Stilelement Konrads halten möchte; aber trifft das immer das Richtige? Und ist das eigentlich noch Normalisierung oder schon Konjektur?22
Solche Beobachtungen führen zu einer Reihe mehr oder weniger konsequenter Einzelregelungen, die einander in der Tendenz sogar widersprechen können, was dann geklittert und unbefriedigend wirkt. Andererseits sind auch die Handschriften selbst nicht immer in sich einheitlich. Grundsätzlich hilft jedoch, dass man mit A eine verlässliche und relativ ‚autornahe‘ Handschrift hat, an der man sich – unter der genannten Textualitätsprämisse – tendenziell auch für die Normalisierung von B orientieren kann. Was die ‚Rekonstruktion‘ betrifft, ist die Sache noch prekärer, unterstellt doch die (Behauptung der) Notwendigkeit zur Rekonstruktion eine grundsätzliche Defizienz, die nicht nur durch größeren diachronen und diatopischen sowie ggf. stilistischen, sondern auch qualitativen Abstand zwischen dem ‚Text‘ und seiner Überlieferung in –––––––— 21
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Systematischer könnte man bei der Auslautverhärtung vorgehen. In B ist sie nicht immer, aber weitgehend zurückgenommen, in A hingegen überwiegend – wenn auch nicht ausnahmslos (vgl. V. 8504 lag; V. 8507 leid; V. 9221f. lib : wib) – erhalten, zudem gibt es Reimbelege wie V. 991f. blank : lank. Gerade die beiden letztgenannten Beispiele zeigen eine wesentliche Grenze der Normalisierung auf, nämlich immer dann, wenn die Schwelle von der Phonologie zur Morphologie überschritten wird.
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Erscheinung tritt. Das bedarf gesonderter Rechtfertigung. Betrachten wir als Beispiel die Anfangsverse in B, die nicht durch Parallelüberlieferung in A gedeckt sind (das wird ja der Normalfall beim Edieren sein): Wie ‚schlecht‘ und rekonstruktionsbedürftig ist die Überlieferung in B tatsächlich?23
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es iſt gar vil nucz ding Das ain peſchaidn̄ iūglīg Geticht geren höre Vnd er nÿemant ſnüre Der ſingen vnd reden chān
Allein an diesem ersten Satz wäre Verschiedenes auszusetzen, zumal wenn man dem Text einen strikten Stilwillen unterstellt, also von metrisch glatten vierhebigen Reimpaarversen ausgeht. Und schließlich erwartet man gerade von Konrad von Würzburg nicht weniger als das „eleganteste Mittelhochdeutsch, das uns überliefert ist“.24 – Offensichtlich ist zunächst, dass in V. 4 Reim und Sinn beeinträchtigt sind: „ſnüre“25 passt nicht als Reimwort auf „höre“. Die Ungereimtheit ist ebenso offensichtlich zu beheben: dass ein Jüngling geticht gerne hœre / und er nieman stœre, der singen und reden kann, dürfte gemeint sein. Das ist niedrigschwelliger Rekonstruktionsoptimismus. Anderes hingegen ist weniger offensichtlich. Am ersten Vers etwa rührt sich im geschulten Stilempfinden ein gewisses, methodisch schwieriger zu begründendes Unbehagen: Es fehlt die metrische Glätte. Leicht könnte man sie herstellen, indem man statt mhd. nutz zweisilbiges nütze liest: „és iſt gár vil nǘcze díng“.26 Doch würde man nicht auch einen Artikel erwarten: Es ist ein gar vil nütze ding? Das würde dem Vers auch zum Auftakt verhelfen, ihn so insgesamt ‚geschmeidiger‘ machen.27 Doch darf man den Artikel einfügen allein im Sinne einer unterstellten Klangästhetik? Muss man ihn gar setzen, weil er syntaktisch unabdingbar ist? – Bartsch hat ergänzt (wozu auch ich neigen würde). Wenige Verse später heißt es über den dreifachen Nutzen von Rede und Sang: 10
Das ain iſt das ir ſüeſzer klanck Das ore frawt vnd genucht Das ander iſt hoffczucht Ir lere einē herczen virt
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Die Frage steht weiterhin unter der oben aufgestellten Prämisse. Ginge es darum, den textus receptus des 15. Jahrhunderts zu greifen, hätten andere Bewertungsmaßstäbe zu gelten. Gert Hübner: wol gespræchiu zunge. Meisterredner in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. In: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven. Hrsg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher. Berlin 2011 (Historische Dialogforschung. 1), S. 215‒234, hier 233 (vgl. dort auch den Zusatz „– in der Überlieferung einiger anderer Werke glücklicherweise auch unbeschadeter als beim Partonopier.“). Die Lesart ist unsicher; Bartsch (Anm. 1), S. 3, liest stattdessen swäre. Hier zeigt sich das methodische Dilemma ebenso wie die pragmatische Offensichtlichkeit beim Normalisieren, indem etliches anders gelesen werden kann oder muss, als es da steht. Die Normalisierung stellt aus der schriftlichen Überlieferung einen „mündlichen Text“ her (vgl. Kragl 2015 [Anm. 18], S. 25). Vgl. Bartsch (Anm. 1), S. 403.
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Das dritte iſt das dÿ czūnge wˀt Geſprachn̄ sere von in czain
Der Sinn ist zu erahnen, man muss ihn aber gleichsam aus dem Wortlaut der Handschrift erst noch herauspräparieren. Der erste Nutzen: Ihr (der Rede und des Sanges) süßer Klang und Üppigkeit erfreuen das Ohr. Zweitens: sie verhelfen dem Herzen zu hovezuht. Drittens wird von beiden die Zunge sprachgewandt (?). Um den Gedanken im Mittelhochdeutschen zum Ausdruck zu bringen, muss man, sofern man den Text nicht unverständlich und ungrammatisch belassen will, konjizieren. Abgesehen davon, dass in V. 12 ein Anschluss mit „daz“ fehlt (analog zu V. 10 und V. 14), bleibt das „virt“ in V. 13 unverständlich. Es muss das Prädikat zum vorausgegangenen Subjekt „hoffzucht“ sein. Ein mhd. Verbum virn gibt es nicht, doch löst ein leichter Eingriff zu „birt“ das Problem: hovezuht birt einem herzen ir lêre. Weiterhin wäre in V. 14 „wˀt“ konventionell zu „wert“ aufzulösen. Das ergibt hier keinen Sinn, außerdem muss der Vers auf „birt“ reimen, also ist „wirt“ zu lesen – eine Kleinigkeit. Was „wirt“ die Zunge also? Auch das folgende „geſprachn̄ “ bleibt undeutlich und ist doch leicht zu bessern zum mhd. Adj. gespræche (‚redegewandt, eloquent‘28). „von in czain“ schließlich ist sicher ein fahrlässiger Buchstabenausfall: „von in zwein“ (Rede und Sang) muss es heißen. Normalisiert, gebessert und interpungiert heißt der Satz dann: 10
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daz ein ist, daz ir süezer klanc daz ôre fröuwet und genuht, daz ander ist, daz hovezuht ir lêre eime herzen birt, daz dritte ist, daz die zunge wirt gespræche sêre von in zwein.
Mit fünf Eingriffen in einem Satz29 besteht erheblicher Rekonstruktionsbedarf. Das Beispiel könnte leicht um sehr viele ähnlich gelagerte vermehrt werden, in denen – auch ohne Parallelüberlieferung – das Zusammenspiel aus Reim, Metrik, Syntax, Semantik und Kontext den Weg zum vermutlich ‚richtigen‘ Text weist. Dieser bleibt freilich, das muss man sich bewusst halten, als Ergebnis hermeneutischer Operationen ein Konstrukt: „Edieren heißt Interpretieren.“30 Insgesamt ist die Überlieferung des Partonopier in B vielfach mangelhaft; das macht eine Edition nicht hoffnungslos, doch sie erfordert eben Rekonstruktionen. Die im Beispiel aufgezeigten Mängel dürften auch für einen Leser des 15. Jahrhunderts bestanden haben, ungeachtet auch der Frage, ob dieser Leser ad hoc dieselben hermeneutischen Operationen leisten konnte und so den Text dennoch verstanden hat. –––––––— 28
29 30
Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hrsg. von Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller und Karl Stackmann. Bd. 1: a – êvrouwe. Stuttgart 2013, Sp. 586. Bartsch hat zudem noch in V. 11 „und“ durch „mit“ ersetzt. Joachim Heinzle: Zur Logik mediävistischer Editionen. Einige Grundbegriffe. In: editio 17, 2003, S. 1‒ 15, hier 15.
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Es wäre nicht so schlimm, wenn die Nachlässigkeiten der Überlieferung sich auf das bis hierher beschriebene Maß beschränken würden. Es gibt aber gravierendere Mängel. Am augenfälligsten ist das dort, wo ganze Verse ausgefallen sind. Das Phänomen wurde oben erwähnt, nicht aber seine Dimensionen. Allein in der ersten Hälfte des Textes sind es über 100 Verse, Stichproben für den zweiten Teil machen einen Gesamtverlust von über 200 Versen, also einem guten Prozent des Romans, wahrscheinlich. Wie soll die Edition damit verfahren? Offensichtlich greift das an den Eingangsversen vorgeführte hermeneutische Verfahren hier nicht mehr. Allenfalls wird man auf der Grundlage des breiten Vergleichsmaterials, das Konrads Œuvre bietet, und nicht zuletzt aufgrund seines bisweilen baukastenartig wiederkehrenden Beschreibungsstils noch hier und da das zu erwartende Reimwort ergänzen können.31 Bartsch ist in seiner Ausgabe weiter gegangen und hat freimütig ganze Verse ergänzt. Demgegenüber würde man heute in der Füllung ganzer Verslücken wohl eine unüberschreitbare Grenze sehen – oder sie zumindest als solche markieren (dazu unten mehr).
3. Revision der Ausgabe Wie ist auf der Grundlage der beschriebenen Voraussetzungen eine Neuausgabe von Konrads Partonopier zu gestalten, wie vor allem kann und soll sie sich von derjenigen Bartschs unterscheiden? Die Frage ist von erheblichem Gewicht. Wurde bis hierher eine Neuedition projektiert, deren editorisches Vorgehen (Normalisierung und Rekonstruktion) und deren grundlegende Prämisse (Partonopier als Konrad’scher Text ‚hinter‘ der Überlieferung) denjenigen von Bartsch sehr nahe sind, wird man einwenden, dass man ebenso gut bei Bartschs Edition bleiben könnte. Braucht es also überhaupt eine solche Neuedition? Hier ist noch einmal anzusetzen, denn natürlich gibt es gute Gründe für eine mehr als nur oberflächliche Renovierung der alten Ausgabe, abgesehen auch davon, dass die Revision vollständig neu aus der Überlieferung erarbeitet wird und dabei alle editorischen Entscheidungen Bartschs auf den Prüfstand stellt. Die oft bemängelten Unzulänglichkeiten seiner Transkription und Apparatgestaltung sind zu beheben, eine Reihe jüngerer Besserungsvorschläge zu beachten.32 Das ist eine Selbstverständlichkeit. Daneben käme es mir vor allem auch darauf an, das eingangs erwähnte Unbehagen an den Editionen des 19. Jahrhunderts weiter zu differenzieren. Dass man ihre Prämissen auch heute noch begründen kann (ohne dass man ihnen zwingend folgen müsste), war oben zu zeigen; mir will es so scheinen, dass das Unbehagen sich nicht eigentlich (nur) auf heute überwunden geglaubte ‚schlechtere‘ Methoden gründen kann, sondern dass seine wiederholte Äußerung (auch) Teil einer Polemik ist, derer es als Begründungsfigur bedarf, um sich von Überholtem abzusetzen und sein eigenes Tun zu rechtfertigen. Die eigentliche Begründung dürfte auf anderer Ebene –––––––— 31 32
Vgl. dazu die in Anm. 16 genannten Reimwörterbücher. Vgl. Gruenter 1970 (Anm. 1), S. 354f., 358‒363.
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liegen, nämlich bei den grundsätzlich gewandelten Anforderungen an und Einschätzungen von Status, Eigenanspruch und Gestaltung einer Edition. Schaut man auf das Layout von Bartschs Edition, wird das Problem deutlich: Zwar bietet der Apparat den nötigen Nachweis seiner Eingriffe und den jeweiligen Wortlaut der Handschrift, doch weist der kritische Editionstext selbst keinerlei Auszeichnungen auf, die den Benutzer darauf hinweisen würden, wann ein Blick in den Apparat geraten wäre, um die editorische Entscheidungen nachzuvollziehen. Gerade das ist ein wesentliches Merkmal der Editionen alten Typs, von dem es sich abzusetzen gilt. Sie setzten einen kritischen Benutzer voraus, der von sich aus immer den Apparat mitkonsultiert; erfahrungsgemäß befördern sie aber im Gegenteil einen solchen, der sich selbstverständlich auf die editorische Leistung verlässt. Die bloße Präsenz des Apparats suggeriert Verlässlichkeit.33 Damit gibt man sich leicht einer Täuschung hin, und das gilt vielleicht für heutige Benutzer von Editionen noch mehr als für frühere, weil unsere Rezeptionshaltung gegenüber mediävistischen Editionen längst anders konditioniert ist. Wegweisend hatte schon Stackmann gefordert, dass eine Edition beim Benutzer gerade nicht das Gefühl von Sicherheit erzeugen soll, sondern im Gegenteil „ein höchstes Maß an Unsicherheit“.34 Das kann ein stummer, marginalisierter Apparat, der das Tun des Editors als abgeschlossenes dokumentiert, nicht leisten. Der edierte Text selbst muss dem Benutzer die Unsicherheiten vor Augen führen, ihn so zum Mitdenken herausfordern, den mittelalterlichen Text als ‚Aufgabe‘ an ihn weitergeben. Wenn aktuellere Ansätze demgegenüber vor allem größtmögliche Handschriftennähe einfordern, auch bei nur unikal, spät und mangelhaft überlieferten Texten, suspendiert das eine zentrale Funktion, die dem Medium Edition zukommt:35 Editionen vermitteln auf der Basis möglichst allen verfügbaren philologischen Wissens historische und damit fremd gewordene Texte an moderne Benutzer. Das tun sie auch und gerade dadurch, dass sie einen Teil der historischen Fremdheit und Verfremdungen, welche überhaupt erst die Vermittlungsbedürftigkeit begründen, abbauen (ohne sie ganz verschwinden zu lassen). Ein diplomatischer oder ‚bereinigter‘ Handschriftenabdruck leistet das kaum, sondern gibt die Überlieferung ungefiltert und ohne Anleitung komplett als Aufgabe an den Benutzer weiter; eine Aufgabe, mit der nur derjenige nicht überfordert ist, der solcher Vermittlungsleistungen nicht bedarf. Aufgabe der Editorik muss es aber (auch) sein, Texte für eine große Spannweite unterschiedlichster Erkenntnisinteressen zu erschließen. Für die hier projektierte Edition soll gelten, dass der Editor als philologischer Sachwalter des Textes notfalls auch gegen seine Überlieferung36 in die Verantwortung tritt. Dabei darf allerdings das Prozesshafte und Unabschließbare nicht verdeckt werden, sondern soll gerade ausgestellt werden. So wird die Darstellungsweise gegen–––––––— 33 34 35 36
Vgl. dazu auch Kragl 2014 (Anm. 12), bes. S. 601f. Stackmann 1964 (Anm. 14), S. 25. Vgl. Runow 2014 (Anm. 10), bes. S. 56f. In Anlehnung an eine kritische Formulierung bei Karl Stackmann: Autor – Überlieferung – Editor. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg/Schweiz 1998, S. 11‒32, hier 12.
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über Bartsch radikal anders sein. Transparenz und ein differenziertes Auszeichnungssystem sind geboten, um den Text auf seine Überlieferung hin durchlässig zu machen. Das ist nicht revolutionär, man muss die Darbietungsform aber an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen. Angesichts der vielfach defekten späten Überlieferung des Partonopier sind in einem dreistufigen System folgende Auszeichnungen vorgesehen:
Einfache Kursivierung bei niedrigschwelliger Besserung offensichtlicher Schreiberversehen, d. h. ungrammatischer Text ist durch einfache Ergänzung, Umstellung, Tilgung einzelner weniger Buchstaben zu heilen.37 – Die Abgrenzung zur Normalisierung ist bisweilen graduell, ebenso die zum Folgenden: Besserungen in Konjekturklammern: Kursiv in spitzen Klammern stehen Ergänzungen, Zusätze, Umstellungen, die den überlieferten Wortkörper auf morphologischer und/oder meist auch semantischer Ebene verändern und also besonderer Rechtfertigung bedürfen, d. h. auch in stärkerem Maße durch den Blick in den Apparat eine kritische Überprüfung der editorischen Entscheidung fordern. – Eckige Klammern zeigen Tilgungen ganzer Wörter oder Wortteile an; Umstellungen von Wörtern, Versen oder Teilen davon stehen im Sperrdruck zwischen hochgestellten Häkchen. Besonders heikel sind schließlich Zusätze ohne Entsprechung in der Handschrift (wie z. B. der im ersten Vers ergänzte Artikel, s. o.). Sie stehen kursiv in geschweiften Klammern und sind so ihrem Status nach unmittelbar von den zuvor genannten ändernden Eingriffen am überlieferten Wortmaterial zu unterscheiden: Stehen Schweifklammern, weiß der Benutzer, dass es keinen überlieferten Text gibt.38
Mit Letzterem wäre man wieder angekommen bei den erwähnten Fehlversen. Ihre Ergänzung fiele unter die Auszeichnung mit Schweifklammern. Zwar bleibt die Vorstellung, ganze Verslücken zu füllen, prekär, man wäre, anders als bei der Ergänzung einzelner Wörter, vollends im Bereich der ‚Nachdichtung‘ gleichsam ‚im Geiste des Textes‘.39 Dennoch soll die Neuedition aus zwei Gründen nicht ganz auf den Versuch der Ergänzung verzichten: (1.) Weil ich meine, dass man ihn in einem gewissen Rahmen, mit allen nötigen Kautelen und unter striktem Transparenzgebot, wagen –––––––— 37
38
39
Z. B. Änderung der Deklinationsendung von Pronomina oder Artikeln: im zu in, den zu dem und umgekehrt, d. h. Fehler, die z. B. durch Fehlinterpretation etwa eines Nasalstrichs entstanden sein können. – Zu fragen wäre, ob etwa auch kleinere Eingriffe metri causa so zu behandeln wären. Zudem entlastet bzw. differenziert das Verfahren den Apparat. Für solche Zufügungen braucht es keinen Eintrag im text- bzw. überlieferungskritischen Apparat, wodurch dort auch der unglückliche und ontologisch durchaus fragwürdige Hinweis entfallen kann, dass in der Handschrift „fehlt“, was ohnehin nicht bezeugt ist. Die Formulierung in Anlehnung an Klaus Grubmüller: Wider die Resignation: Mären kritisch ediert. Einige Überlegungen am Beispiel der ‚Halben Birne‘. In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.–29. Juni 1991. Plenumsreferate. Hrsg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner unter Mitwirkung von Volker Mertens, Ulrich Müller und Anton Schwob. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio. 4), S. 92‒106, der, nicht ohne es selbst „anstößig“ zu finden, vom „Geist des Werkes“ (S. 102) spricht.
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kann;40 (2.) weil damit bereits in der Edition, und nicht erst in einem Kommentar, die Diskussion um Überlieferungsdefekte fortgeführt werden kann. Als Teil eines ernsthaften Bemühens um Konrads Text sind Bartschs Ergänzungen nicht nur zu dokumentieren, sondern als Anstoß zur kritischen Überprüfung, aber auch zum Neu- und Weiterdenken zu würdigen. Vor allem aber kommt ihnen in der Neuedition nicht mehr der Status einer Restitution des verlorenen Autororiginals zu, sondern sie sind (als solche klar markierte) editorische Interpretamente, die sich um die Konsistenz und Sinnhaltigkeit von erkennbar gestörtem Text bemühen. In diesem Sinne sollte es ein revidierendes Bestreben sein, immer auch anders als Bartsch zu konjizieren,41 Alternativen zu erproben und die Diskussion lebendig zu halten. Das sei abschließend an zwei Beispielen illustriert. Beispiel 1. Partonopier jagt im Anfang des Romans einem Wildschwein nach: 375
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Als ain helt aus erchoren Dem ſwein er pald engegē rait Daz cham gelaufen ſo man ſait Zu wer ſich harte ſecztte * Dÿ zende daz der ſchaw̅ darabe Floz auch wolt ſich der knabe Lenger hÿe nicht ſawmen
Der fehlende Reim auf „setzte“ im Kontext des wilden Keilers, der irgendetwas mit seinen Zähnen tut, so dass es schäumt, ist nicht schwer zu erraten: wetzte. Zudem wäre der syntaktische Anschluss von v. 377 (auch metrisch) glatter, wenn man auf „cham gelaufen“ bezogene partizipiale Ergänzung ze wer sich harte setzende unterstellt; daran schließt in der Folge gut wetzende / die zene an. Entsprechend hat Bartsch rekonstruiert: „daz kam geloufen, sô man seit, / ze wer sich harte setzende / und grimmiclichen weztende / die zene […]“. Daran ist nichts auszusetzen, doch wäre mit Verweis auf eine Parallelstelle in V. 592742 folgende Variante zur Diskussion zu stellen: grisgrammende unde wetzende / die zene […]. Beispiel 2. Wenig später geht Partonopier erneut im Wald verloren: 520
Den tag er drine gar vˀtreib Pis auff die nacht vil timper Nicht anders wān gezimber *
–––––––— 40
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Darin bricht sich auch ein (subjektives und ganz vortheoretisches) Bedürfnis Bahn nach einem vollständigen und gut lesbaren Text, dessen Lektüre nicht immer nur fordernde Aufgabe ist, sondern auch ästhetisches Vergnügen sein dürfen sollte. Das ist nicht immer ungezwungen möglich. Oft sind Bartschs Ergänzungen so überzeugend, dass man kaum zu anderen Ergebnissen kommt. Doch liegt gerade darin die größte Herausforderung: immer wieder diese suggestive Kraft des Faktischen – was da steht, leuchtet ein, weil es dasteht – zu durchbrechen. Dort heißt es in einem ritterlichen Zweikampf vergleichend: „Dy grīme ſchlege pitter / Sluegen ſy da paide / Vnd giengn̄ auff der haide / Sich ze ſtreit ſeczende / Griſgramende vnd wezende / Sam czwen eber mit den zendn̄ “.
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Dÿ hochen pawm er do ſach Egedechſen vn̄ wilde tier
Es fehlt ein Reim auf sach. Unklar bleibt, wie „Nicht anders wan̄ gezimber“ fortzusetzen wäre, v. a. das offenbar exzipierende wan scheint den Sachverhalt zu verdrehen. Näher läge der Gedanke ‚er hatte kein anderes gezimber wan …‘, nämlich außer jenem ‚Zimmer‘, das er im Wald und im verlorenen Vers vorfand. Bartschs Gedanke geht wohl von dem wan aus, das wegen einer Ähnlichkeit im folgenden Vers verrutscht sein könnte und zum Ausfall geführt haben mag; seine Rekonstruktion erstreckt sich zudem auf den nächsten Vers: „niht ander wongezimber / wan hôhe boume was sîn dach. / ûf den boumen er do sach / egedechsen […]“. Dabei stößt das als Einfall ebenso kongeniale wie im Mittelhochdeutschen höchst seltene Wort wongezimber auf. BMZ kennen es nicht, Lexer weist es nur einmal nach, und zwar an genau dieser Stelle.43 Das Wohnzimmer im Mittelhochdeutschen ist mithin eine Erfindung von Bartsch. Das klingt harmlos und berührt nicht die Interpretation des Textes. Das Problem liegt in der Gefahr des Zirkelschlusses. Editionen dienen auch als Grundlage für Wörterbücher, lexikologische Studien usw. Bei der ‚Erfindung‘ neuer Wörter muss man besonders sensibel sein. Zu leicht gerät man sonst in die Falle, die Konjektur für bestätigt zu halten, weil das Wort im Wörterbuch erscheint, und neue Wörterbücher verzeichnen es, weil es ja einen Textbeleg gibt. – Diese Logik gilt es unbedingt zu durchbrechen, was den ansonsten arbiträren Rekonstruktionsvorschlag bestimmt: nicht anderz [ ] gezimber / {er hete wan der bleter dach.} / ‹ûf› hôhen boum‹en› er dô sach / egedehsen.44 Das hat nicht den Anspruch, besser oder authentischer zu sein, aber es verhindert die Erfindung von Wörtern und mögliche Folgeunfälle. Es ging mir darum zu zeigen, dass man verabschiedet geglaubte Prämissen auch heute noch für eine Edition rechtfertigen und damit ähnliche Ergebnisse erzielen kann. Doch kommt der neuen Edition ein grundsätzlich anderer Status zu, weil sie sich ein gänzlich verändertes, verunsichertes und stets zweifelndes Reflexionsniveau abverlangt und sich als prinzipiell unabschließbare Arbeit am Text zu erkennen gibt. Das kann frustrieren, denn dem Editor wird man immer vorwerfen, er hätte es anders machen können, sollen, müssen (was er aber auch selbst schon wusste). Als Antrieb kann in unserem Fall dennoch der Anreiz dienen, mit Konrads Partonopier einem faszinierenden Text zu neuer Geltung zu verhelfen. Er hat es verdient.
–––––––— 43
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Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke – Müller – Zarncke. 3 Bde. Leizpig 1872‒ 1878, hier Bd. 3, Sp. 975. Ein Vergleichbares Kompositum wonzimber (ohne Infix) ist ebenfalls nicht belegt. Denkbare Alternativen (der Sinn bleibt unberührt): {wan der walt was dô sîn dach} oder nicht anderswâ gezimber / {er vant wan in der bleter dach.} / die hôhen böume er dô sach, / egedehsen und wildiu tier.
Judith Lange
Wo bleibt denn da der Sinn? Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen in Regenbogens Langem Ton
1. Vorbemerkung Das von der DFG geförderte Projekt Edition der in Regenbogens „Langem Ton“ überlieferten Lieder1 hat im Juni 2015 seine Arbeit an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Ziel ist die modellhafte Edition der insgesamt ungefähr 180 anonym überlieferten Lieder in Regenbogens Langem Ton. Als modellhaft darf das Projekt insofern gelten, als dass erstmals ein geschlossenes TonKorpus vollständig und autorunabhängig hybrid erschlossen wird.2 Die Überlieferung dieses Korpus deckt den Zeitraum zwischen 1350 und 1750 ab und kann sowohl für den vor- als auch den nachreformatorischen Meistergesang als repräsentativ gelten.3 Vollständigkeit bedeutet in diesem Falle, dass die Lieder nach allen relevanten Handschriften ediert und online zugänglich gemacht werden. Während die Fülle des Materials in der digitalen Darstellung extensiv und überlieferungsnah wiedergegeben wird, ist für die Druckausgabe eine einschränkende Gruppierung mit wechselnden Leithandschriften angestrebt. Von allen Tönen der alten Meister ist der Lange Ton derjenige, der „im 15./16. Jh. am häufigsten benutzt wurde“4; die reiche Überlieferung legt davon Zeugnis ab. Den Reiz des Tons machte zum einen wohl aus, dass er mit insgesamt 23 Versen viel Raum bietet, sein Tonschema dabei aber nicht überkomplex ist. Zum anderen ist die Ursache für die weite Verbreitung des Tons in seiner Verwendung für überwiegend heilsgeschichtliche und anderweitige religiöse Inhalte zu suchen.5 Ein Blick auf die Überlieferung zeigt, dass sorgfältiges, verständiges Kopieren nicht selbstverständlich ist. Bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Lieder fällt auf, –––––––— 1 2
3
4
5
http://www.bbaw.de/forschung/regenbogen/uebersicht Die unter dem Namen des Spruchdichters Regenbogen überlieferten Töne gehören zu den am breitesten tradierten Liedformen des Mittelalters und bilden noch immer das größte noch nicht systematisch bearbeitete Feld der Meisterliedüberlieferung. Vgl. Judith Lange: Die Verslegende Veronica II. Hybridedition und Studien zur Überlieferung. Frankfurt am Main, Bern u. a. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung. 27), S. 13. Eine knappe Gattungsgeschichte zum Meistergesang findet sich im: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, Bd. 1. Hrsg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. Tübingen 1994, S. 1–7. Frieder Schanze: Regenbogen. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7. Hrsg. von Kurt Ruh, Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger und Franz Josef Worstbrock. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin, New York 1989, Sp. 1077–1087, hier 1084. Die häufigsten Motive bilden Johannesvisionen, Trinitätsbeschreibungen und Marienpreise. Vgl. zur Motivbildung auch Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, Bd. 1. Untersuchungen. München 1983 (Münchener Texte und Untersuchungen. 82), S. 70.
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dass sie auf die uns überlieferten Melodien nicht mehr sangbar sind. Die Metrik ist nur in wenigen Handschriften konsequent beibehalten und in vielen Fällen ist nicht einmal das Reimschema intakt geblieben. Über- oder unterfüllte Verse sowie unreine Reime sind keine Seltenheiten. Wird den Meistersingern selbst ein ausgesprochenes Formbewusstsein nachgesagt, scheint dies für die Kopisten der Meisterlieder nicht im selben Maße zu gelten. Diejenigen Texte, um die es hier allerdings geht, weisen über metrische Ungenauigkeiten hinaus vor allem mehr oder weniger umfangreiche Sinnentstellungen auf. Sie zeichnen sich durch Textrevisionen bzw. fassungsrelevante Lesarten aus, die darauf hinweisen, dass die auftretenden Sinnentstellungen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Liedüberlieferung geschehen sein dürften. Weder metrische Abweichungen noch fragwürdiger Text scheinen die Beliebtheit dieser Lieder geschmälert oder ihre Vervielfältigung verhindert zu haben. Vielmehr lassen sich innerhalb der Überlieferung Korrektur- oder Änderungsversuche einzelner Schreiber ausmachen, die auf eine rege Auseinandersetzung mit den Texten und Revisionsfreude hinweisen. Unterscheiden lassen sich dabei planvolle Revisionen, aus denen sich ein dichterischer ‚Gestaltungswille‘ ablesen lässt, und eher durch den Kopiervorgang verursachte Störungen. Mitunter finden sich Hinweise auf Versuche, eine fehlerhafte Vorlage zu bessern. Diese Revisionen wirken sich nicht selten nachteilig auf das Metrum der Texte aus, da Korrekturen in über- oder unterfüllte Verse münden.
2. Textrevisionen in Regenbogens Langem Ton – Fallbeispiele6 2.1 1Regb/4/548 Ein Beispiel für verschiedene Formen von Textrevisionen finden sich im Lied mit der RSM-Nr. 1Regb/4/548. Überliefert ist es in zwei Handschriften: auf den Bll. 18r–19v des Heidelberger cpg 680 (p1) sowie auf den Bll. 377ra–378rb der in München liegenden Kolmarer Liederhandschrift cgm 4997 (k).7 In ihrer Edition der Sammlung von Meisterliedern im cpg 680 von 1993 entscheidet sich Elisabeth Wunderle dazu, den Bar „aufgrund größerer Verderbnisse“8 in –––––––— 6
7
8
Aus Raumgründen muss auf einen Abdruck der vollständigen Lieder verzichtet werden. Die Strophenabdrucke geben den Text der Handschrift in leicht normalisierter Form, aber weitestgehend ohne korrigierende editorische Eingriffe wieder. i/j und u/v sind nach ihrem Lautwert normiert und Schaft-s wird als s wiedergegeben. Darüber hinaus ist die Groß- und Kleinschreibung vereinheitlicht: nur Eigennamen und die Strophenanfänge werden systematisch groß geschrieben. Unleserlicher oder durch Blattbeschnitt verlorener Text ist in spitzen Klammern ergänzt oder, falls eine Rekonstruktion unmöglich ist, mit gekennzeichnet. Die Siglierung folgt der im Regenbogen-Projekt vorgenommenen Bezeichnung. In älterer Literatur findet sich die Kolmarer Liederhandschrift auch unter der Sigle t, für cpg 680 findet sich auch die Bezeichnung Meisterliederhandschrift p. Elisabeth Wunderle: Die Sammlung von Meisterliedern in der Heidelberger Handschrift cpg 680. Edition und Kommentar, Göppingen 1993 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 584), S. 352. Der Bar ist sowohl in p1 (5 Str.) als auch in k (7 Str.) namenlos überliefert. Die Strophen VI und VII in k sind vielleicht spätere Zusätze. Dafür spricht das Fehlen des Spiels mit Rede und Gegenrede, welches die
Wo bleibt denn da der Sinn? Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen in Regenbogens Langem Ton
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p1 in der Version der Kolmarer Liederhandschrift abzudrucken. Dennoch weist auch die sonst durch große Sorgfalt bestechende Kolmarer Liederhandschrift auffällige Störungen in der Reimbindung sowie in der Semantik auf. Die Überlieferung des Liedes war mit ziemlicher Sicherheit zu Zeiten der Niederschrift von k weitläufig durch Verderbnisse beeinträchtigt, so dass vielleicht keine fehlerfreie Vorlage verfügbar war.9 1
1
k 377ra–377rb] Ü: V lieder von der geschopfft und von dem val der engel etc.
[p1 18r–18v] Regenpog slecht langer donn
I Got mit der gotheyt koset schone der geyst mit got in got gotliches wesen hat der son mit geist nach siner art die dry ein got die hant ein gantz vermugen
I Got mit der gothayt khoset schone der gaist m gaist götleich sein wesen hat der sun mit sun verainet wart die tzwen di hond in got ein gantz vermugent
got swebet in sym wesen frone
do got wont in seinem wesen frone
da müst er von ym selber nemen wisen rat der son mit geist vereinet wart und swebet hoch by got in gestes flügen
d must der vatter von im selber nemen rat der gaist m sun nach seiner art und schwebet hoch pey got im ares flügen
die gotheit schüff den tag, die nacht und sprach ein wesen wil ich mir formigen daz ewig ist nie wart gemacht uss den wir wesen han ist von uns dryen got schüff sunn steren und die mon geziert in ewikeit
do got beschuff tag unde nacht er sprach ein wesen wil ich uns tziren freie das ewig ist und wart nie gemacht darin wir ie gewont habm all dreie do schueff er sun, sper unde mon und tziert sein ewikeit
15
mit listen schuff got waz die spere treit daz firmament und die agsper parlellen glich gewegen daz centrum ein laüffet minr daz ander mer und eins mit crafft tribet daz ander umb
mit warten sch er das den himel dreit planeten siben di asper parillen firmament das tzentrum hat ain laufft minder das ander mer darum das tzentrum nit stille stat
20
daz recht centrum daz stille stat er sprach fiat da stunt es schon gemeyt min kor die mogen nit zergan ret got in got mit got in der gotheyt
[…] fiat sprach sich hies von stat geweit nëwn khörn di sunllent nicht tzergan rët got mit geist der sun mit der gothait
Regb/4/548a
5
10
Regb/5/548b
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Strophen I–V bestimmt, sowie die Hinwendung an das Publikum und die Gebetshaltung. Beide Punkte sind in den Strophen I–V ebenfalls nicht anzutreffen. Vgl. ebd., S. 352. Die wichtigsten jüngeren Erkenntnisse zu den Vorlagenverhältnissen sowie Datierungs- und Lokalisierungsfragen zu cgm 4997 lieferte Schanze 1983 (Anm. 5), S. 35–55.
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Der Inhalt des Bars10 und besonders der Themenkomplex der hier in den Blick genommenen ersten Strophe stellte vor allem den Schreiber des Heidelberger Codex (oder vielleicht auch den Schreiber seiner Vorlage) vor größere Schwierigkeiten. Es zeigen sich sowohl Fehler, die ihre Ursache in mangelnder Kenntnis der Thematik haben, als auch planvolle Eingriffe in den Text. Beides führt zu starken Störungen in der Semantik des Liedes. Die erste Strophe des Bars verbindet Überlegungen zur Gestalt der Trinität mit Ausführungen zum Aufbau der Welt und des Kosmos. Beide Wissensrichtungen wurden speziell im Meistergesang aufgrund ihrer Komplexität immer wieder thematisiert: Wenn die Grenzen menschlichen Wissens zum Thema wurden und man diese Grenzen konkretisieren wollte, dann blickten die volkssprachlichen Dichter mit Vorliebe auf die Kosmologie und auf die Theologie mit ihren schwer verständlichen Aussagen zur Trinität und Inkarnation; denn hier scheint man dem Wunder von Gottes Schöpfung und der Unbegreiflichkeit seines Seins und Handelns am nächsten zu kommen.11
Eben dieser Wunsch, die Grenzen des menschlichen Wissens zu verdeutlichen, ist in der Kolmarer Liederhandschrift in den ersten acht Versen der Strophe deutlich spürbar. Das Problem der Einheit der drei göttlichen Personen wird mit den Bezeichnungen Sohn und Geist (Vater fehlt als Eigenname) und der für alle geltenden Bezeichnung Gott als nomen proprium explizit gemacht.12 Die Komplexität des Trinitätsgedankens wird durch die ambivalente Bedeutung des Begriffes got besonders hervorgehoben: In Vers I,1 wird got für Gott Vater verwendet, in I,2 zunächst für den Sohn, dann – und so auch in den Versen I,4f. und 8 – für die Trinität.13 Der Heilige Geist wird als derjenige beschrieben, der in besonderem Maße die Einheit der göttlichen Personen vermittelt. Der Text bedient sich also des Mittels der obscuritas, um den mystischen Charakter der Vereinigung von Sohn, Vater und Geist in der Dreifaltigkeit auch sprachlich zu unterstützen. Erst mit dem Verständnis für die Ambivalenz des Gottesbegriffs wird der Text verständlich, lässt sich dann aber ohne inhaltliche Brüche aufschlüsseln. In p1 zeigen sich nun im Vergleich mit der Parallelüberlieferung in k Versuche, den komplizierten Text zu vereinfachen. In Vermeidung des ambivalenten Begriffs got werden die Bezeichnungen Sohn und Geist genutzt, wobei der überlieferte Text jedoch unter Sinnverlust leidet. –––––––— 10
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Der Bar beginnt mit einem Überblick über die Trinität (I,1–8) und führt über die Ereignisse der Heilsgeschichte bis zur Erschaffung der Welt (I,9–II,4); es folgt die Erhebung und der Fall Luzifers (I,5‒ V,4). Nach der Erschaffung des Menschen und der übrigen Lebewesen (V,5–18) erfolgt der Abfall Adams und Evas von Gott (V,19–23). In den zwei zusätzlichen, nur in k überlieferten Strophen VI und VII wird abschließend ein kurzer Überblick über die weiteren Ereignisse der Heilsgeschichte bis zum Jüngsten Tag geboten. Burghart Wachinger: Wissen und Wissenschaft als Faszinosum für Laien im Mittelalter. In: Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. Georg Wieland zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Cora Dietl und Dörte Helschinger. Tübingen, Basel 2002, S. 13-29, hier 13. Wunderle 1993 (Anm. 8), S. 352. Vgl. ebd.
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Schief wird das Trinitätsbild durch die Formulierung der gaist mit gaist götleich sein wesen hat | der sun mit sun verainet wart. Geist und Sohn verkörpern jeweils nur eine Wesenheit innerhalb der Trinität14 und das Motiv einer Vereinigung mit sich selbst kann nicht sinnvoll auf die Verschmelzung der drei Wesenheiten Gottes in der Dreifaltigkeit rückbezogen werden. Die Zielsetzung der Revision liegt dennoch auf der Hand: erreicht werden soll eine Vereinfachung der Trinitätsbeschreibung. In der Lesart der Handschrift p1 liegt also eine klassische lectio facilior vor: Der für alle drei Wesenheiten geltende Begriff got wird durch die Einführung der Konkreta gaist und sun abgelöst. Ob es sich bei der in der Heidelberger Handschrift überlieferten Lesart um eine Änderung des Schreibers der Handschrift handelt oder er eine Vorlage kopierte – die ggf. auch schon defekt war –, muss offen bleiben. Aber die gezeigte Störung ist gut mit einem Augensprung im Abschreibprozess erklärbar und ließe sich durch den Tausch eines gaist aus Vers 2 mit einem sun aus Vers 3 einfach auflösen. Der so entstehende Text böte eine inhaltlich korrekte, vereinfachte Lesart zu den Versen der Kolmarer Liederhandschrift: der gaist mit sun götleich sein wesen hat, | der sun mit gaist verainet wart. Der Sinnverlust erscheint hier also als Folge einer unglücklichen, auf Vereinfachung zielenden Revision. Dieselbe Art der Textänderung findet sich auch im Vers 23. Hier ist der Begriff got an zweiter und dritter Stelle durch geist und sun ersetzt. Diese ergibt durchaus Sinn, wenn auch der Begriff gothait in dieser Lesart nicht mehr eindeutig mit der Trinität identifiziert werden kann.15 Weitere Vereinfachungstendenzen finden sich in den Versen 12f. Während in k mit der Formulierung uss den wir wesen han ist von uns dryen wohl indirekt auf die prima causa Gottes angespielt wird, formuliert p1 ganz konkret und spricht von der Ewigkeit der Welt.16 Bei allen Eingriffen im Aufgesang handelt es sich um Formen der Revision, denen Joachim Bumke wohl einen ‚Gestaltungswillen‘17 attestieren würde und die als fassungsrelevant gelten dürfen. Sie sind zwar korrekturbedürftig, aber mittels stark begründeter Konjekturen ‚heilbar‘. Diese Änderungen machen den Eindruck, als habe es eine ursprünglich korrekte Fassung gegeben, die im Laufe des Kopiervorgangs fehlerhaft wurde. Ein anderes Bild zeigt sich in den Versen 13–20, die sich mit dem Weltenaufbau befassen. Sie sind in beiden Handschriften gestört und als Zeugnisse der Unwissen–––––––— 14 15
16 17
Vgl. Johannes Brinktrine: Die Lehre von Gott. Bd. 2: Von der göttlichen Trinität. Paderborn 1954, S. 151 und 157f. Um den Begriff gotheit als Bezeichnung für die Trinität entzündete sich gegen Ende des 15. Jhs. ein Streit unter den Nürnberger Meistersingern Hans Folz und Fritz Zorn, der in Folzens Lied mit der RSMNr. 1Folz/53 seinen Niederschlag fand. Der Streit zeigt, dass die Meistersinger an sich und ihre Mitsänger durchaus den Anspruch hatten, auch komplizierte theologische Thematiken präzise wiederzugeben und so ihre Gelehrtheit zur Schau zu stellen. Vgl. hierzu Wunderle 1993 (Anm. 8), S. 352, Anm. 304. Vgl. Joachim Bumke: Die vier Fassungen der „Nibelungenklage“. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen. 8 [242]), S. 32.
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heit beider Schreiber in Bezug auf die Kosmologie-Diskurse der Zeit zu werten.18 In V. 13 ist in p1 die Systematik der Aufzählung der lichtspendenden Gestirne durchbrochen:19 Die Handschrift überliefert sper (Sphären) statt des korrekten steren (k, V. 13). Aber auch in anderer Hinsicht erweisen sich die Verse 15–22 in p1 als sowohl inhaltlich als auch grammatisch verderbt. Durch Ausfall von Vers 19 (gezählt nach k) kommt es zu Eingriffen in den Reim, die wiederum Auswirkungen auf den Sinn nach sich ziehen. Es wird nötig, Vers 17 an das Reimwort in V. 20 anzupassen, und in der Folge kommt es in cpg 680 zu einem Ausfall der Waise (V. 20). Neben der Revision des Reimschemas finden sich auch tiefergreifende inhaltliche Änderungen, die die Semantik des Textes stören: Die Aussage, das Firmament bilde das Zentrum des Universums und dieses sei noch dazu in ständiger Bewegung, ist vor dem Hintergrund des geozentrischen Weltbildes der Zeit nicht korrekt. Wie in k formuliert, ist es gerade das Zentrum, das stillsteht; die Erde befindet sich unbeweglich im Zentrum des Weltalls. Die Verse 21 und 22 weisen erneut starke grammatische Störungen auf, die den Sinn verzerren: fiat sprach sich hies von stat geweit | newn khörn die sullent nicht tzergan. Selbst mit Kenntnis der Parallelüberlieferung in k bleibt der Abgesang der Strophe in p1 nahezu unauflösbar gestört. Zwar kann durch Emendation von er vor oder hinter sprach zumindest die metrische geforderte Silbenzahl hergestellt werden, aber die Passage sich hies von stat geweit newn khörn bleibt unverständlich. newn khörn ließe sich durch Tilgung der Dativendung an die wörtliche Rede die sullent nicht tzergan anschließen. Wie bereits erwähnt, kommt es nicht nur in p1 zu Störungen der Semantik. Auch in k ist die Systematik der Beschreibung des Weltenaufbaus – erst die Erschaffung des Himmels, dann die Beschreibung der einzelnen Teile wie Firmament und Sphären – defekt. In V. 15 ist der korrekte himel (p1) durch spere (k) ersetzt. Die Wendung mit listen schuff got waz die spere treit zeigt, dass die Abgrenzung zwischen theologischem Diskurs und astronomischem Wissen verwischt ist.20 Im Folgenden füllt k (anders als p1) zwar das Versschema aus, aber der gedankliche Zusammenhang wird durch Reihung der Verse 17–19 gestört: V. 19 bezieht sich auf das Firmament und die Planetensphäre, welche in 15 und 16 besprochen werden. Wunderle schlägt daher an dieser Stelle eine geänderte Versfolge vor und vertauscht in ihrer Edition die Verse 17 und 19.21
–––––––— 18
19 20 21
Ein Großteil der Meisterlieder mit kosmologischem oder astrologischem Inhalt speist sich aus dem deutschen Lucidarius, seltener finden sich Anklänge an lateinische Traditionen. Vgl. zur Wissensvermittlung astrologisch-kosmologischer Inhalte im Meistergesang Dietlind Gade: Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie und Astronomie in der meisterlichen Lieddichtung des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts. München 2005 (Münchener Texte und Untersuchungen. 130); Johannes Siebert: Meistergesänge astronomischen Inhalts. In: ZfdA 83, 1952, S. 181–235, sowie ders.: Himmels- und Erdkunde der Meistersänger. In: ZfdA 76, 1939, S. 222–253. Vgl. auch Wunderle 1993 (Anm. 8), S. 352. Dass diese Vermischung nichts Ungewöhnliches darstellt, zeigt Siebert 1939 (Anm. 18), S. 238. Vgl. Wunderle 1993 (Anm. 8), S. 72 und S. 352, Anm. 303.
Wo bleibt denn da der Sinn? Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen in Regenbogens Langem Ton
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2.2 1Regb/4/500 Das zweite Beispiel für Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen ist eine Strophe aus einem dreistrophigen Bar mit der RSM-Nr. 1Regb/4/500. Der Bar ist in insgesamt drei Handschriften überliefert: dem Baseler Codex O IV 28 (b), dem Münchener cgm 351 (m1) und in k. Mit b und m1 ist er in zwei von drei Überlieferungsträgern zu finden, die im Regenbogenprojekt als ‚Altüberlieferung‘ gelten.22 m1 ist die älteste erhaltene Meisterliederhandschrift und um 1420/25 in Nürnberg entstanden. Es handelt sich bei ihr somit um das früheste Zeugnis des Nürnberger Meistergesangs. Die etwa gleich alte Handschrift b (um 1430) aus dem alemannisch-schwäbischen Sprachraum wurde von Karl Stackmann als das früheste Zeugnis für die Existenz von Singschulen gedeutet;23 diese Ansicht wurde allerdings von Frieder Schanze zu Recht stark in Zweifel gezogen.24 Die besondere Herausforderung (für Schreiber, Rezipient und Editor gleichermaßen) liegt in der Häufung lateinischer Einsprengsel und der Aufzählung zahlreicher Gottesnamen in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Interessant ist der Bar deshalb, weil der Sinn der Strophe in der Altüberlieferung sich über weite Teile überhaupt erst durch die Textüberlieferung in der jüngsten der Handschriften (k) erschließen lässt. Beide alten Handschriften überliefern einen sehr stark verderbten Text, dessen Sinn sich auch den Schreibern entzogen haben muss. Dies ist gerade für Hs. b erstaunlich, da sich die Handschrift eigentlich durch große Sorgfalt auszeichnet. Schwer verständliche oder metrisch unzulängliche Gedichte werden durch einen Nachtragsschreiber korrigiert, dessen Änderungen „von intensivem und sachverständigem Gebrauch“25 zeugen. Im Falle des vorliegenden Bars finden sich keine korrigierenden Eingriffe; offenbar war hier auch der Nachtragsschreiber überfragt. m1 verfolgt ein grundsätzlich anderes Sammlungsinteresse. Ohne Rücksicht auf die Qualität der Vorlagen zu nehmen, wurde niedergeschrieben, was sich nur finden ließ.26 Diesen Eindruck bestätigen „die wiederholt vorkommenden Gruppen von Liedern in gleichen Tönen“, die wohl auf abwechselnde Vorlagen hinweisen dürften.27 1
1
Regb/4/500b
[m1 191v]
II
Hely riff an dem creucz mit grymme der e sal dritt gar crefftickleichen und wesen heliam tetragramitam [sabot summet manet Carrettus ich dich nenne
Regb/4/500c
[b 22r]
II
Elij ruͤ ff an din cruͤ cz mit grimme er selb dritt gar krefteclich der starke gott Elij Tetragramaton Emanicas Karatos ich in nenne
–––––––— 22 23
24 25 26 27
Altüberlieferung bezeichnet im Kontext des Regenbogen-Projektes alle Handschriften, die bis zum ersten Viertel des 15. Jahrhunderts datiert sind. Vgl. zu beiden Hss. Schanze 1983 (Anm. 5), S. 87–100. Vgl. Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. 1. Abteilung: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21. Erster Teilband: Einleitung, Text der Bücher I–IV. Hrsg. von Karl Stackmann. Berlin 1959, S. CLIX. Vgl. Schanze 1983 (Anm. 5), S. 98–100. Ebd. S. 95. Vgl. ebd., Anm. 28. Ebd.
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anne wile leben stymme auditus yschiros deus du vil starker got der hy die marter fur uns nam alphia Jhesus ich dir bekenne
und tu es vere trinitas primus ein prophet ein grosser swere der vil pey deiner marter was do dich Longinus stach mit eim spere seritus und auch aries primo und genitus 15 ein junckfraw gab dir alz tot manchen küß do dich Joseph Adonay trug von dem creucz mit wunden ane zal do want ein junckfraw nohent pey gar cleglichen in jamer si do qual 20 ffiet iudex primus Criste elumparels ch altissimus dich sull wir ymer loben dez dein gespunst und arge lus 10
1
Regb/4/500a
[k 333va–333vb] III Hely rieff an dem crütz mit grymme der ye wesende creftenriche sabaoth on heloy tetragramathon humanitas in carnatus yn nenne 5
Emanüel in lewes stymme in excelsis caro was der zarte got der vor uns weint vil mangen trahen alpha et o Jhesus ich yn herkenne
ego sum Cristus caritas et flos una propheta in der swere der vil vor diner marter was ee dich longinus stach mit einem spere miserator cur mories du primo genitus 15 do dir din muter tot gab mangen kuss und dich Joseph von Armathy nam ab dem crütz mit wunnen ane zall Maria die stund nach da by manig tusent leyt ir durch ir sele qual 20 vide inde prima Crist verbumma potens altissimus gelobet sistus ymmer des menschlichs dodes primus et ultimus 10
Emanahel illuastimme ays grud wer da leijd der starke gott deus meus, alpha et o vil man ich bin es angesan ich derkenne ita vere danacas vomi non trophet der din an schwere der vil an diner martel was do dich Login stach mit sinem spere […] misahel permonitus do geb dir maria dot vil manchen kuss do in Josep von Armatin nam von dem cruͤ cz mit wonden one zal do stond Maria nachet bij mit grossem iamer sij darume qual vide aude mesijus Crist vomi non moni pent und altissimus venes wir gelouben uͤ mer des das er menschlichin doͤ des archangelas.
Wo bleibt denn da der Sinn? Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen in Regenbogens Langem Ton
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Die ersten fünf Verse des Aufgesangs der ersten Strophe spiegeln in beiden älteren Überlieferungsträgern deutliche Verständnisschwierigkeiten. Die lateinischen Passagen sind in beiden Textzeugen unverständlich, und in b sind auch die zwei einleitenden deutschen Verse gestört. Der erste Vers in b ist hinsichtlich der Passionserzählungen der Bibel inhaltlich falsch; der darauffolgende Vers ist in seinen Bezügen unklar. Nicht Christus ruft am Kreuz hängend Gott Vater, also Elii (Hely), an, sondern Gott Vater wird aufgefordert, sein Kreuz grimmig anzurufen. Vers 2 fährt mit einem zum vorangegangenen din unpassenden er fort. Im Vergleich dazu bietet m1 in Vers 1 inhaltlich korrekten Text, weist aber in Vers 2 eine Textergänzung auf, die zum einen unverständlich ist und zum anderen den Vers mit zwei Silben überfüllt. Das Ziel der Revision ist unklar, eine ursprüngliche Lesart lässt sich kaum erschließen; sie wird erst in der Kolmarer Liederhandschrift greifbar, die eine dritte, fehlerfreie Lesart bietet: der ye wesende, creftenriche sabaoth. Die Überlieferungssituation gibt zur Vermutung Anlass, es könnten schon früh zwei Fassungen des Gedichtes in Meistersingerkreisen zirkuliert haben. In Handschrift b wird die trinitarische Wesenheit Gottes (selb dritt […]) in den Fokus gestellt, während in k die Ewigkeit Gottes, und damit Christi Weiterleben nach dem Tod, betont wird. m1 bietet eine Mischredaktion, bei der es durch die Kombination beider Fassungen zur Überfüllung des Verses kommt. In beiden alten Überlieferungsträgern geht es unverständlich weiter. Der b-Schreiber betitelt Gottvater in den Versen 4 und 5 mit Emanicas Karatos und setzt hinzu Emanahel illuastimme. Anstelle dieser seltsamen Anrede findet sich in m1 ein ebenso eigenartiger, lateinisch anmutender Teilsatz (summet manet Carrettus ich dich nenne), dem sich mit der Formulierung leben stymme (‚Löwenstimme‘) wohl eine Anspielung auf Vers 11,10 aus dem Buch des Propheten Hosea anschließt.28 In beiden Handschriften sind die Verse unheilbar gestört, und ein ursprünglicher Sinn lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Wahrscheinlich ist aber, dass es sich wohl um ursprünglich lateinische Namen oder Phrasen gehandelt haben dürfte. Gleiches gilt für die Verse 20– 22, die ebenfalls eine Mischung aus Latein und ‚Pseudo-Latein‘ bieten. Über die Ursachen – vor allem der b-Fehler – lässt sich nur mutmaßen, aber es ist nicht abwegig, sie in auditiven Kopierverfahren zu suchen.29 Es ist leicht denkbar, dass ein lateinunkundiger Schreiber durch Verhören aus primo und genitus (m1, V. I,14) – wohinter sich unschwer ein primo unigenitus vermuten lässt –, oder du primo genitus (k, V. III,14) permonitus (p1, V. 14) werden lässt. Das vorangehende misahel hat in m1 keine Entsprechung, könnte aber auf ein in k überliefertes miserator cur mories (k, V. III,13) zurückgehen.30 –––––––— 28 29
30
Es heißt in Os 11,10: post Dominum ambulabunt quasi leo rugiet quia ipse rugiet et formidabunt filii maris. Vgl. zu den gängigen mittelalterlichen Kopierverfahren Jan Christian Gertz, Sandra Schultz, Jakub Simek: Abschreiben und Kopieren. In: Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Hrsg. von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer. Berlin, München, Boston 2015, S. 585– 597, zu den auditiven Verfahren vgl. besonders S. 586f. Möglich wäre aber ebenso, dass sich die Stelle auf die Erzählung vom biblischen Misahel bezieht. Dieser sollte als Strafe in einem Ofen verbrannt werden, wurde jedoch von Gott gerettet (vgl. Dn 1,6– 19). Auch permonitus wäre bei solch einer Deutung nicht als ‚Fehler‘ zu werten. Da Vers 13 in b fehlt, muss aber auch diese Deutung Spekulation bleiben.
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Insgesamt lassen sich viele der ‚sinnlosen‘ Lesarten der älteren Handschriften nur unter Zuhilfenahme der Überlieferung in k erklären. Erst zu diesem späten Überlieferungszeitpunkt findet sich für Regb/4/500 eine Textgestalt, die über ein nahezu fehlerfreies Metrum und eine über weite Strecken verständliche Semantik verfügt.31 Besonders in den lateinischen Passagen hebt sich k von der Altüberlieferung ab und bietet einen deutlich besser verständlichen Text, wie ein direkter Vergleich der oben zitierten Verse 20–22 zeigt. Beispiele lassen sich auch in den anderen Strophen des Liedes nachweisen,32 aber in keiner weiteren so gehäuft.
3. Editorischer Umgang mit verderbtem Text im Regenbogen-Projekt Wie ist editorisch mit solchen Textbefunden umzugehen? Das Korpus des ‚Langen Tons‘ wird im Editionsprojekt auf hybride Weise erschlossen. Für die digitale Edition der Lieder nutzt das Projekt die zurzeit noch nicht öffentlich zugängliche Plattform des in seiner Pilotphase ebenfalls von der DFG geförderten Erlangen-Stuttgarter Projektes Lyrik des deutschen Mittelalters (ehem.: Lyrik des hohen Mittelalters) unter der Leitung von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl. Auf der später frei zugänglichen Website ist es möglich, zwischen verschiedenen Textschichten (Handschriftenfaksimile, Transkription, handschriftennahe Edition, normalisierter Text) frei zu wählen. Zusätzlich können über ein Auswahlmenü auch einzelne Normalisierungsschritte oder etwa die Interpunktion aus- und wieder eingeschaltet werden. Um die Überlieferungsträger optimal miteinander vergleichen zu können, werden verschiedene Optionen der synoptischen Anzeige geboten.33 Grundsätzlich wird allerdings in dieser digitalen Ausgabe jeder Textzeuge für sich stehend ediert, d. h. ohne auf Basis der Parallelüberlieferung in die Texte einzugreifen, um diese zu ‚bessern‘. Aus dieser Prämisse ergibt sich eine relativ konsequente Vermeidung von Konjekturen und Emendationen. Es heißt im Handbuch des Projekts in Bezug auf den Umgang mit Fehlern: 2. Als Fehler gelten zuvorderst ungrammatische Phänomene der Morphologie, seltener der Lautlehre oder der Syntax. […] Die Editoren sind gehalten, bei jedem Eingriff zu erwägen, ob die überlieferte Form nicht auch als kalkulierter Normverstoß oder als früher Beleg von Sprachwandel gerechtfertigt sein kann. 3. ›Inhaltliche‹ Fehler oder Auffälligkeiten (z. B. ein ›fehlendes‹ Wort oder die Ersetzung eines Wortes durch ein anderes) werden grundsätzlich nicht korrigiert; Ausnahmen müssen im Apparat eigens begründet werden. Die Stellung im Reim kann eine solche Ausnahme rechtfertigen.
–––––––— 31
32 33
Dass es sich bei 1Regb/4/500 um das erste Lied in Regenbogens Langem Ton in k handelt und die zum Ton gehörenden Neumen als Orientierungsmaßstab auf dem vorhergehenden Blatt verzeichnet sind, dürfte nicht unwesentlich zur Korrektheit der metrischen Form des Liedes beigetragen haben. So etwa in den Versen bm1 III,1–4 mit k II,1–4 oder bm1 III,9–14 mit k II,9–14. In einer Liedsynopse können alle Texte in der Strophenreihenfolge ihrer Handschriften nebeneinander angezeigt werden. Eine Strophensynopse bietet die Möglichkeit, identische Strophen nebeneinanderzustellen.
Wo bleibt denn da der Sinn? Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen in Regenbogens Langem Ton
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4. Die formale Gestalt der handschriftlichen Texte wird nicht beanstandet, es wird also nicht eingegriffen metri causa.34
Mit möglichst wenigen Eingriffen wird im LDM-Projekt also aus den Transkriptionen eine Lesefassung erstellt, die weitestgehend auf Emendationen und Konjekturen verzichtet. Da das Regenbogen-Korpus das erste dezidiert spätmittelalterliche Korpus im LDM-Projekt ist, treten hier neue Phänomene auf, für die das Vorgehen teils angepasst werden muss. Wie gezeigt, sind die Texte mitunter so stark entstellt, dass sich ohne größere Eingriffe kein Sinn mehr ausmachen lässt. Aus diesem Grund wurde für das Regenbogen-Projekt beschlossen, überall dort in die Texte einzugreifen, wo aus ‚sinnlosen‘ Lesarten mittels „argumentativ begründbare[r] Vermutung[en] über den richtigen Text“35 eine ursprüngliche Bedeutung wiederhergestellt werden kann. Wo ein Text unauflösbar gestört ist und kein Sinn wiederhergestellt werden kann, wird mit Cruces (†) ausgezeichnet und im Apparat umfangreich kommentiert. Als Beispiel soll 1Regb/4/548b dienen: I Ü:
Regenpog slecht langer donn Got mit der gothayt khoset schone. der gaist mit sun götleich sein wesen hat, der sun mit gaist verainet wart. die tzwen di hond in got ein gantz vermugent.
5
do got wont in seinem wesen frone, da must der vatter von im selber nemen rat, der gaist mit sun nach seiner art und schwebet hoch pey got im ares flügen. do got beschuff tag unde nacht,
10
er sprach: ›ein wesen wil ich uns tziren freie, das ewig ist und wart nie gemacht, darin wir ie gewont habn all dreie.‹ do schueff er sun, stern unde mon und tziert sein ewikeit.
15
mit warten schuff er, das den himel dreit, planeten siben, di acht sper, parillen. firmament das tzentrum hat. ain laufft minder, das ander mer, darum das tzentrum nit stille stat. [...]
20
–––––––— 34 35
Zitiert nach dem vorläufigen, unveröffentlichten Handbuch des DFG-Projekts Lyrik des deutschen Mittelalters, Stand: 24.04.2016, S. 24f. Rüdiger Nutt-Kofoth: Textkritik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 602–607, hier 603f.
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58 ›fiat‹ sprach er, †sich hies von stat geweit.† ›newn khör di sullent nicht tzergan‹, ret got mit geist, der sun mit der gothait.
__________________________________________ 2 mit] m++. sun] gaiſt. 3 gaist] ſun. 6 da] d+. 7 mit] m++. 12 habn] habm. 13 stern] ſper. 14 ewikeit] e gebessert aus +. 15 schuff] ſch+++. 16 acht sper] aſper. 18 minder] minde+. 21 er] fehlt. 22 khör] khörn. sullent] ſunllent.
__________________________________________ 2f. Die vorgenommenen Konjekturen empfehlen sich, da die Aussage der Handschrift nicht aufzuschlüsseln ist. Die Namen hl. Geist (I,2) und Sohn (I,3) kommen jeweils nur einer trinitarischen Person zu (vgl. Brinktrine 1954, S. 151.157f.; Wunderle 1993, 5 wesen stN. ›Aufenthaltsort‹ (vgl. Le36 III, Sp. 800), hier besonders der S. 352). 7 Im ›Aufenthaltsort Gottes vor der Schöpfung‹ (vgl. Wunderle 1993, S. 353). Vergleich zur Parallelüberlieferung in k sind die V. I,3 und 7 vertauscht, dadurch ergeben sich syntaktische und semantische Schwierigkeiten für V. 7. Denkbar ist: ›Gott musste sich beraten, der Geist und der Sohn (mussten sich beraten)‹ 8 und hier Relativum (vgl. PKSW37 S. 224). 13 Das sper der Handschrift durchbricht die Aufzählung der lichtspendenden Gestirne; daher empfiehlt sich die Konjektur zu stern. 17‒19 parillen = parlelle swF. ›Parallelen‹ (Le II, Sp. 207); gemeint sind wohl die vier Parallelkreise zum Himmelsäquator: die Kreise der Winter- und Sommersonnenwende, der nördliche und der südliche Polarkreis (vgl. Siebert 1952, S. 184f.). Insgesamt ist die Aussage der Verse, dem geozentrischen Weltbild der Zeit folgend, nicht korrekt. Die unbewegliche Erde steht im Zentrum, und nicht (wie hier) ein immer in Bewegung befindliches Firmament. 21f. sich ... khör] Die Passage ist unverständlich. Durch Emendation des Dativs khörn kann die Wendung nëwn khör an die wörtliche Rede in V. 22 angeschlossen werden.
Es werden sowohl die Störungen in den Versen 2 und 3 als auch die durchbrochene Systematik in Vers 13 durch Konjekturen gebessert. Die unverständliche Passage in Vers 21f. hingegen ist mit Cruces markiert, da sich hier selbst bei Einbezug der Parallelüberlieferung keine sinnvolle Lesart erschließen lässt. Hier wäre möglich, wie von Karl Stackmann vorgeschlagen, den Gebrauch der Cruces noch zu erweitern, indem innerhalb einer durch Cruces bereits aufgegebenen Passage noch Besserungen vorgenommen werden.38 In diesem Falle würde newn khörn (V. 22) zwar zu newn khör gebessert, stünde aber dennoch mit dem vorausgehenden sich hies von stat geweit (V. 21) in Cruces. Eine abschließende Entscheidung, wie mit derartigen Stellen zu verfahren ist, steht noch aus. –––––––— 36 37 38
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. 3 Bde. und Nachträge. Stuttgart 1992. Thomas Klein, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera: Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik. Neu bearbeitete 25. Aufl. Tübingen 2007. Frauenlob (Heinrich von Meißen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. 2. Bde. Hrsg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. Göttingen 1981, S. 188. Vgl. auch Martin Schubert: Das Kreuz mit der Crux. Zur altgermanistischen Editionspraxis. In: Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Kai Bremer, Uwe Wirth und Irmgard M. Wirtz. Göttingen 2010, S. 97–106, hier 104.
Wo bleibt denn da der Sinn? Textrevisionen ‚sinnloser‘ Strophen in Regenbogens Langem Ton
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Die Verderbnisse in 1Regb/4/500bc sind, abgesehen von Vers 1, wiederum alle als ‚unheilbar‘ einzustufen. Dass es in so einem Fall zu einer massiven Häufung von Cruces kommt, wird zugunsten der Repräsentation des Überlieferungsstandes in Kauf genommen. Fehlverse werden grundsätzlich nicht ergänzt. Diese relativ interpretationsfreie Edition in der online-Ressource hat auch Auswirkungen auf die Printausgabe. Sie erlaubt zum einen die Reduktion des in der Printausgabe edierten Materials und zum anderen erlaubt sie stärkere, auch divinatorische Eingriffe in die Leithandschriften der Edition. In der Regel wird k der Vorzug vor der Parallelüberlieferung gegeben, da sie sich durch „regelmäßige konservative Züge“39 auszeichnet, und sowohl durch metrische als auch syntaktische und semantische Genauigkeit besticht.40 Die hochwertige Sammlung stellt die beste Möglichkeit bereit, um bei Parallelüberlieferungen die überlieferungsgeschichtliche Textentwicklung zu verfolgen. Existieren von einem Gedicht unterschiedliche Fassungen, werden diese separat ediert. Eine Ausnahme bilden Gedichte und Strophen mit sinnlosem Text. Diese werden in der Print-Edition auch dann nicht als Fassungen abgedruckt, wenn sich in ihnen die Existenz eines Gestaltungswillens oder Hinweise auf die Existenz verschiedener Überlieferungszweige widerspiegeln sollten. Solche ‚unsinnigen‘ Strophen sollen stattdessen in Form von Kommentaren erschlossen und mit Verweisen auf die online-Ressource markiert werden. Grundsätzlich soll auch in die Texte der Leithandschriften der Printausgabe nur dann korrigierend eingegriffen werden, wenn offensichtliche Fehler auftreten. Aber die überlieferungsnahe Textwiedergabe in der online-Ausgabe ermöglicht – wie bereits angemerkt – bei stärker gestörten Texten auch stärker einzugreifen und, wenn nötig, auch divinatorisch zu konjizieren. Dies ist mitunter nötig, um gegen die Überlieferung einen alten Sinn zu entschlüsseln und wiederherzustellen. Ebenso wird in der Druckausgabe moderat versucht, das Metrum wieder herzustellen, wo es gestört scheint. Diesem Ziel dient neben Konjektur und Emendation auch der Einsatz von Elisionspunkten. Es bleibt zuletzt die Frage nach dem Sinn der Edition sinnloser Strophen. Der Nutzen einer Repräsentation der vollständigen Überlieferung, die auch sinnlose Strophen mit einschließt, liegt nicht zuletzt darin, dass sich durch sie Phänomene beobachten lassen, die bisher noch einer eingehenderen Erforschung harren. So ließe sich etwa an die zweite Strophe des Liedes 1Regb/4/548 durchaus die Frage herantragen, wie es zu den seltsamen Entstellungen der Gottesnamen und der lateinischen Passagen kommen konnte. Man ist geneigt sich vorzustellen, dass es sich maßgeblich um Resultate einer durch Diktat entstandenen Abschrift handelt und die Fehler auf auditivem Weg entstanden sind. Auch im Hinblick auf die Kolmarer Liederhandschrift können sich nur im Kontext der Gesamtüberlieferung neue Hinweise auf die Revisionstätigkeit –––––––— 39
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Michael Baldzuhn [Rez.]: Elisabeth Wunderle: Die Sammlung von Meisterliedern in der Heidelberger Handschrift cpg 680. Edition und Kommentar. Göppingen: Kümmerle 1993 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Bd. 584.). In: Daphnis 24, 1995, S. 544-550, hier 546. Vgl. hierzu auch Wunderle 1993 (Anm. 8), S. XVI.
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ihrer Schreiber eröffnen. Denn erst im Vergleich mit der Gesamtüberlieferung lässt sich einschätzen, inwieweit die Schreiber der Kolmarer Liederhandschrift planvoll in ihre Vorlagentexte eingriffen, um das Metrum, aber auch den Sinn wiederherzustellen. Allein durch seinen Umfang ist das Korpus des Langen Tons zweifelsfrei besonders geeignet, derartige neue Fragestellungen an alte Texte zu richten.
Walter Kofler
Neuzeitliche Abschriften als Primär- und Sekundärquellen Rekonstruktionsversuche am Straßburger und Dresdener Heldenbuch
Ohne neuzeitliche Abschriften wären die frühen Editionen mittelhochdeutscher Texte schlichtweg undenkbar. Verwiesen sei hier beispielhaft auf die beiden frühesten ‚Nibelungenlied‘-Ausgaben von 1757 und 1782, die auf Kopien aus dem Besitz von Johann Jacob Bodmer (1698‒1783) basieren.1 Heute wecken Abschriften allenfalls noch ein forschungsgeschichtliches Interesse – außer die Vorlagen wurden zwischenzeitlich zerstört oder stark in Mitleidenschaft gezogen: In diesen Fällen müssen die Abschriften gänzlich oder partiell für die Originale stehen. Dass Abschriften nur sehr eingeschränkt ein Original ersetzen können, muss nicht extra betont werden: Die Textanordnung und das Schriftbild können nur bedingt wiedergegeben – oder besser gesagt, angedeutet – werden.2 Hinzu kommen Normalisierungen am Text, die oft stillschweigend durchgeführt wurden, sowie Abschreibfehler. Da die Abschriften mitunter als direkte Druckvorlagen von Textausgaben dienten, wurden etwa Lesarten aus anderen Handschriften oder Drucken darin vermerkt und diverse ‚Besserungen‘ und Markierungen angebracht. Die Möglichkeiten und Grenzen der Verwendung von Abschriften zur Textrekonstruktion möchte ich anhand zweier spätmittelalterlicher Sammelhandschriften demonstrieren: dem Straßburger und dem Dresdener Heldenbuch.3 Ich habe beide Sammlungen 1999 bzw. 2006 herausgegeben.4 Verstärkte Aufmerksamkeit erhielten sie erneut durch das Dietrichepik-Projekt von Elisabeth Lienert: Für die Ausgaben von ‚Laurin‘, ‚Rosengarten‘, ‚Sigenot‘ und ‚Virginal‘ ist sie auf Texte aus diesen –––––––— 1
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Vgl. Chriemhilden Rache, und die Klage; zwey Heldengedichte aus dem schvvæbischen Zeitpuncte. Samt Fragmenten aus dem Gedichte von den Nibelungen und aus dem Josaphat. Darzu kœmmt ein Glossarium. Zyrich 1757 und Christoph Heinrich Myller (Hrsg.): Der Nibelungen Liet. Ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Iahrhundert. Zum ersten Male aus der Handschrift ganz abgedruckt. Berlin 1782 (Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Iahrhundert. Band 1/1). – Die Herausgeber benutzten im Titel bewusst altertümelnde Schreibweisen, darunter auch Zyrich und Myller anstatt Zürich und Müller. Daher wurden mitunter Durchzeichnungen von kurzen Textpartien angefertigt. Vgl. ehem. Seminarbibliothek Straßburg, Heldenbuch und Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Mscr. Dresd. M 201. Vgl. Walter Kofler (Hrsg.): Das Straßburger Heldenbuch. Rekonstruktion der Textfassung des Diebolt von Hanowe, 2 Bde. Göppingen 1999 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 667) und Walter Kofler (Hrsg.): Das Dresdener Heldenbuch und die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Edition und Digitalfaksimile. Stuttgart 2006. – Angaben zu den Handschriften sowie zur Handschriftengeschichte werden im Folgenden nicht im Detail nachgewiesen. Vielmehr verweise ich generell auf die Angaben in den beiden Editionen sowie die Beschreibung der Dresdener Handschrift durch Werner Hoffmann (http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31603871).
Walter Kofler
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Handschriften angewiesen.5 Doch hat sie dabei das Straßburger Heldenbuch – weil es nur noch in Abschriften erhalten ist – dezidiert als Leithandschrift ausgeschlossen.6 Auf das stark beschädigte Dresdener Heldenbuch kann Lienert allerdings nicht verzichten, da es mitunter unikale Textfassungen überliefert. Können hier die Abschriften zur Rekonstruktion des Textes beitragen? Das Straßburger Heldenbuch wurde vermutlich zwischen 1476 und 1479 vom Straßburger Goldschmied Diebolt von Hanowe geschrieben, der 1495 nach Ungarn auswanderte und 1501 starb.7 Es umfasste neun Texte auf zuletzt 372 Blättern.8 Am 24. August 1870 wurde das Buch – mitsamt der Neuen Kirche – nach dem Beschuss von Straßburg durch preußische und badische Artillerie zerstört (die Stadt- und die Seminarbibliothek waren im abgemauerten Chor der Neuen Kirche bzw. einem Anbau untergebracht). Da auch der Handschriftenkatalog der Seminarbibliothek verbrannte, kennen wir nicht einmal die Signatur dieser Handschrift.9 Das Dresdener Heldenbuch entstand offensichtlich in mehreren Etappen: Zu Ostern 1472 beendete Kasper von der Roen aus Münnerstadt (Unterfranken) seine Schreibarbeit an sechs Texten. Bald darauf wurden diesem einheitlichen Textblock zwei Texte vorgesetzt und die Handschrift mit Titelminiaturen und Schmuckinitialen versehen. Mit etwas zeitlichem Abstand wurden drei Texte (die derselbe Anonymus geschrieben hatte wie die beiden Stücke zuvor) teils in die bestehenden Lagen einmontiert, teils hinten an die Handschrift angehängt. Wieder wurden Titelminiaturen angefertigt, deren Stil sich – wie auch jener der eingemalten Initialen – positiv von den übrigen Arbeiten abhebt. Die Sammelhandschrift umfasst noch 352 Originalblätter,10 hat aber zu Ende des Zweiten Weltkriegs schwere Wasserschäden davongetragen: Durch die alliierten Bombenangriffe auf Dresden (bes. 13.‒15. Februar 1945) wurde das Japanische Palais (in dem sich die Sächsische Landesbibliothek damals befand) schwer beschädigt. Das Dresdener Heldenbuch lagerte zwar in einem bombensicheren Tiefkeller, dieser war jedoch mit Lösch-, Sicker- und Elbehochwasser vollgelaufen. Durch die Auswaschung der Tinte und der Bilderfarben wurden etliche Seiten der Handschrift fast unleserlich. Besonders gelitten hat dabei der vorletzte (= zehnte) Text der Sammlung: das Dietrichepos ‚Virginal‘ (Bl. 314r‒344r).
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Vgl. Elisabeth Lienert, Sonja Kerth und Esther Vollmer-Eicken (Hrsg.): Laurin. 2 Bde. Berlin/Boston 2011 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 6); Elisabeth Lienert, Sonja Kerth und Svenja Nierentz (Hrsg.): Rosengarten. 3 Bde. Berlin/München/Boston 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 8) und Elisabeth Lienert, Elisa Pontini und Katrin Schumacher (Hrsg.): Virginal. Goldemar. 3 Bde. Berlin/München/Boston 2017 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 10). – Die Ausgabe von ‚Sigenot‘ ist in Vorbereitung. Vgl. Lienert u. a. 2011 (Anm. 5), Teilband I, S. LXVIII, Anm. 41 und Lienert u. a. 2015 (Anm. 5), Teilband I, S. LXVIII‒LXIX. Die Handschrift entstand mit ziemlicher Sicherheit nach dem Johanniter-Heldenbuch (1476) und vor der ersten Druckausgabe des Straßburger Heldenbuchs (1479). Von Bl. 216 war nur ein kleiner Rest erhalten, am Ende der Handschrift fehlten zumindest fünf Blätter. Der Handschriftenkatalog der Seminarbibliothek wurde 1861 fertiggestellt. Zuvor besaß das Straßburger Heldenbuch keine Signatur. Zwei Blätter mit Titelminiaturen (ein ungezähltes am Buchanfang und Bl. 192) gingen verloren.
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1. Abschriften und Ausgaben Sowohl das Straßburger wie auch das Dresdener Heldenbuch haben früh das Interesse der Forschung geweckt: Die Dresdener Handschrift wurde erstmals 1714 erwähnt, die Straßburger Handschrift 1728.11 Etwa zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und 1861 gaben namhafte Forscher Abschriften in Auftrag oder schrieben sie selbst. Dresdener Heldenbuch: SLUB Dresden, Mscr. Dresd. M 202 (vor 1766) unbek. Schreiber – sechs Texte (7. ‚Wunderer‘, 10. ‚Virginal‘, 9. ‚Laurin‘, 6. ‚Sigenot‘, 3. ‚Eckenlied‘, 4. ‚Rosengarten‘) – Nachlass Johann Christoph Gottsched (1700‒1766) SB Berlin, Ms. germ. qu. 1 / Ms. germ. qu. 2 (vor 1806) unbek. Schreiber – alle Texte (1. ‚Ortnit‘, 2. ‚Wolfdietrich‘, 3. ‚Eckenlied‘, 4. ‚Rosengarten‘, 5. ‚Meerwunder‘, 6. ‚Sigenot‘, 7. ‚Wunderer‘, 8. ‚Herzog Ernst‘, 9. ‚Laurin‘, 10. ‚Virginal‘, 11. ‚Jüngeres Hildebrandslied‘) – Nachlass Johann Christoph Adelung (1732‒1806) SB Berlin, Nachl. Tieck 7. Mp 10 / Nachl. Tieck 13. Fasz. 10 (nach 1802) Schreiber (in eigener Sache): Ludwig Tieck (1773‒1853) – ein Text (2. ‚Wolfdietrich‘ – großteils verschollen)12 SB Berlin, Ms. germ. qu. 766 / Ms. germ. qu. 767 (1806) Schreiber 1 (in eigener Sache): Friedrich Heinrich von der Hagen (1780‒1856) – sechs Texte (1. ‚Ortnit‘, 2. ‚Wolfdietrich‘, 3. ‚Eckenlied‘, 5. ‚Meerwunder‘, 8. ‚Herzog Ernst‘, 11. ‚Jüngeres Hildebrandslied‘) und ein unbek. Schreiber – fünf Texte (4. ‚Rosengarten‘, 6. ‚Sigenot‘, 7. ‚Wunderer‘, 9. ‚Laurin‘, 10. ‚Virginal‘) Straßburger Heldenbuch:
SB Berlin, Ms. germ. qu. 768 / Ms. germ. qu. 781/1 (1806‒1807)
Schreiber: Johann Jacob Jundt (1768‒1817) – acht Texte (1. ‚Heldenbuchprosa‘, 2. ‚Ortnit‘, 3. ‚Wolfdietrich‘, 4. ‚Rosengarten‘, 5. ‚Laurin‘, 6. ‚Sigenot‘, 7. ‚Pfaffe Amis‘, 8. ‚Salomon und Markolf‘-Episode) – Auftraggeber: Friedrich Heinrich von der Hagen SB Berlin, Ms. germ. qu. 921/1 (1817) Schreiber: Christian Moritz Engelhardt (1775‒1858) – ein Text (4. ‚Rosengarten‘) – Auftraggeber: Jacob Grimm (1785‒1863) und Wilhelm Grimm (1786‒1859) SB Berlin, Ms. germ. fol. 845/3 (1841) Schreiber (in eigener Sache): Franz Roth (1811‒1869) – ein Text (5. ‚Laurin‘) UB Heidelberg, Heid. Hs. 43 (1860‒1861) Schreiber: Carl Schmidt (1812‒1895) – zwei Texte (2. ‚Ortnit‘, 3. ‚Wolfdietrich‘) – Auftraggeber: Franz Pfeiffer (1815‒1868) UB Tübingen, Md 1064 (1861) Schreiber (in eigener Sache): Adolf Holtzmann (1810‒1870) – ein Text (6. ‚Sigenot‘)
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Vgl. Heinrich Gottlieb Titz und Johann David Köhler: Disquisito de inclyto poetico Theuerdanck. Altdorf 1714, S. 33‒34 und Johann Schilter: Thesaurus antiquitatum Tevtonicarum, ecclesiasticarum, civilium, literarium. Band 3. Ulm 1728, S. XXXIX‒XL. Die Berliner Blätter umfassen Eingang (Str. 1‒8) und Schluss (Str. 311‒333) von ‚Wolfdietrich‘. Der (jetzt verschollene) Hauptteil von Tiecks ‚Wolfdietrich‘-Abschrift wurde 1857 aus Hagens Nachlass verkauft: Vgl. R. Friedländer & Sohn (Berlin): F. H. v. d. Hagen’s Bücherschatz (Auktion vom 18.05.1857), S. 12, Nr. 298.
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Überdies liegen zum Straßburger Heldenbuch noch vereinzelt Durchzeichnungen, Textproben und Lesarten vor. So blieben vom letzten Text, dem Fragment ‚Die undankbare Wiedererweckte‘ (Nr. 9 – Bl. 371r‒372v), zumindest die Überschrift und die ersten drei Verse erhalten:13 Wie eim manne sin elich wip starp vnd er sú also dott by ym hieltt lange zitt Hae [sic] vormals ein erber man in einer stat die ich nit kan mit namen wol genemen hie [...]
Textabschriften muss man mitunter – wie bereits erwähnt – von zwei Seiten betrachten: Zum einen als (möglichst genaue) Kopie des Originals, zum andern als Druckvorlage einer Ausgabe. Die Abschrift spielt dabei die Rolle eines Mittlers zwischen Original und Textabdruck – und weist dementsprechend Gebrauchsspuren auf. Die älteren Abschriften des Dresdener Heldenbuchs blieben praktisch ungenutzt. Einzig Hagen trug in seine Kopie Zusatzstrophen aus anderen Textzeugen ein (vgl. ‚Eckenlied‘ und ‚Sigenot‘). Dagegen weisen alle Abschriften des Straßburger Heldenbuchs – ausgenommen Holtzmanns ‚Sigenot‘-Kopie – Einträge aus Paralleltexten auf. Doch das Textmaterial wurde recht unterschiedlich genutzt: Neben Lesartenverzeichnissen und Übersetzungen – auf die hier nicht näher eingegangen wird – wurden zunächst Textproben aus beiden Sammelhandschriften geboten.14 Während Hagen schließlich das gesamte Dresdener Heldenbuch herausgab,15 veröffentlichte er aus dem Straßburger Heldenbuch nur die kurze ‚Salomon und Markolf‘-Episode (1808) und die ‚Heldenbuchprosa‘ (1855).16 Dabei hatte es 22 Monate gedauert (von November 1805 bis September 1807), bis alle bestellten Texte aus Straßburg bei Hagen eintrafen.17 Die Beschaffung einer Abschrift des Dresdener Heldenbuchs ging hingegen recht einfach vonstatten: Innerhalb von vier Wochen (April/Mai 1806) war das gesamte Heldenbuch abgeschrieben. Im Folgenden möchte ich die Bearbeitungstendenzen und Varianten innerhalb der Abschriften von drei Texten erörtern: Neben den einzig von Hagen abgedruckten –––––––— 13 14 15 16
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Schilter 1728 (Anm. 11), S. XL. Vgl. Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching: Literarischer Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert. Berlin 1812. Friedrich Heinrich von der Hagen und Alois Primisser (Hrsg.): Der Helden Buch in der Ursprache. 2 Bde. Berlin 1820‒1825. Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching (Hrsg.): Deutsche Gedichte des Mittelalters. Band 1. Berlin 1808, ‚Salomon und Morolf‘, S. 95‒96 und Friedrich Heinrich von der Hagen (Hrsg.): Heldenbuch. Band 1. Leipzig 1855, S. CXI‒CXXVI. Später wurde Jundts Abschrift zu einer wichtigen Leitvorlage – vgl. Georg Holz (Hrsg.): Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms. Halle an der Saale 1893; Georg Holz (Hrsg.): Laurin und der kleine Rosengarten. Halle an der Saale 1897 und August Clemens Schoener (Hrsg.): Der jüngere Sigenot nach sämtlichen Handschriften und Drucken. Heidelberg 1928 (Germanistische Bibliothek. 6). Dagegen weicht Elisabeth Lienert bewusst auf andere Textzeugen aus, um das Straßburger Heldenbuch nicht als Leithandschrift einsetzen zu müssen (vgl. Anm. 6).
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Teilen des Straßburger Heldenbuchs – ‚Salomon und Markolf‘-Episode und ‚Heldenbuchprosa‘ – greife ich einen der elf Texte des Dresdener Heldenbuchs heraus. Die Wahl fällt dabei auf die ‚Virginal‘. Das hat vor allem damit zu tun, dass – wie schon eingangs erwähnt – dieser Text stark von den Wasserschäden betroffen ist und die Abschriften eventuell etwas zur Rekonstruktion des Textes beitragen können. – Für den Vergleich der Varianten zum Straßburger Heldenbuch werden folgende Abkürzungen benutzt: H1 HaE HmN JuA JuB MoP
Erste Druckausgabe des Straßburger Heldenbuchs [Straßburg: Johann Prüss, 1479]18 Edition durch Hagen (1808 bzw. 1855)19 Nachträge von Holtzmann (1865)20 Abschrift von Jundt (1806‒1807): SB Berlin, Ms. germ. qu. 768 und 781/1 Brief von Jundt an Hagen (25.06.1807): SB Berlin, Ms. germ. qu. 768, Bl. 4r‒7v Textprobe von Mone (1821)21
2. Buchstäblich: Die ‚Salomon und Markolf‘-Episode Bei der Veröffentlichung der ‚Salomon und Markolf‘-Episode (1808) – sie trägt den Titel Wie der dúfel zwey elitt verwurtte und stand auf Bl. 369r‒370v des Straßburger Codex – kann man kaum von einer ‚Ausgabe‘ sprechen: Der Text findet sich im Apparat von Hagens Gemeinschaftsedition von ‚Salman und Morolf‘ (Epos) und ‚Salomon und Markolf‘ (Spruchgedicht) nach Hs. E.22 Der „buchstäblich[e]“ Abdruck (S. 95) unterscheidet sich nur marginal von Jundts Abschrift (SB Berlin. Ms. germ. qu. 781/1, S. 81‒84). – Die folgenden Zeilenangaben beziehen sich auf meine Ausgabe (siehe Anm. 4): 4: vmb dreip JuA] vmb dreib HaE. – 83: woltte JuA] wollte HaE.
Wobei man allerdings anmerken muss, dass ein ‚buchstäblicher‘ Abdruck der Abschrift keineswegs eine ‚buchstäbliche‘ Wiedergabe des Originals bedeutet. Jundt kopierte das Original zwar relativ genau, löste aber – wie die meisten der übrigen Kopisten – fast alle Abkürzungen auf. Eine Ausnahme ist lediglich Franz Roth, der in seiner ‚Laurin‘-Abschrift alle Abbreviaturen verzeichnete; überdies existieren noch Durchzeichnungen aus dem Anfangsbereich von ‚Ortnit‘ und ‚Laurin‘.23
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Faksimile von Joachim Heinzle (Hrsg.): Heldenbuch. Nach dem ältesten Druck in Abbildung. 2 Bde. Göppingen 1981‒1987 (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte. 75) und unter http://tudigit. ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iii-27. Siehe Anm. 16. Adolf Holtzmann (Hrsg.): Der grosse Wolfdieterich. Heidelberg 1865, S. XVIII‒XIX. Franz Joseph Mone (Hrsg.): Otnit. Berlin 1821, S. 73‒75. Vgl. Hagen/Büsching 1808 (Anm. 16), ‚Salomon und Morolf‘ (mit eigener Seitenzählung von S. 1‒99). Vgl. SB Berlin, Ms. germ. qu. 768, Bl. 3r.
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3. Dreifach nachkontrolliert: Die ‚Heldenbuchprosa‘ Wie von der ‚Salomon und Markolf‘-Episode (und dem ‚Pfaffen Amis‘) existiert auch von der ‚Heldenbuchprosa‘ (Bl. 1r‒12r der Straßburger Handschrift) nur eine einzige vollständige Abschrift (Ms. germ. qu. 768, Bl. 10r‒17v). Im Gegensatz zu jenen fünf Texten, die durch zwei Abschriften bezeugt sind (‚Ortnit‘, ‚Wolfdietrich‘, ‚Rosengarten‘, ‚Laurin‘, ‚Sigenot‘), fehlt also ein Korrektiv bei der Suche nach dem ‚originalen‘ Textbestand – allerdings nur vordergründig: Denn zum einen wurde die 1806 von Jundt erstellte Abschrift nachkontrolliert. Zum andern wurde auch der 1855 von Hagen publizierte Abdruck der ‚Heldenbuchprosa‘ erneut einer Kontrolle anhand des Originals unterzogen. Jundt selbst nahm an seiner Abschrift – neben einigen Abänderungen von Buchstaben im Fließtext – 21 Verbesserungen in Form von Streichungen bzw. Zusätzen vor: 21: diener. – 189: also vil viel. – 229: lieber. – 236: mit sim wip wib. – 242: wurmen. – 268: siner sún sien. – 268-269: von wolff dietrichs brŭd’ waszmŭt vnd bogen (am Rand nachgetragen). – 272: bertting. – 316: hiesz hiesz. – 330: in dem schlo sloff. – 367: by king gy gibichez. – 378: heilden heren vnd heild. – 465-466: en weg do go do. – 482: stund stont vff. – 531: alle heilden. – 554: slag slach. – 561: gewar er wartt. – 571: all al fier. – 573: liegen (erstes e gestrichen). – 582: heilden. – 584: sinen.
Eine mit Tinte ergänzte Zeile könnte von Jeremias Jacob Oberlin (1735‒1806) stammen, der die Abschreibarbeit überwachte, da er Jundt als Schreiber engagiert hatte: 418: ez mohtt nit gond do wartt aber ein hoff gemahtt (am Rand zugesetzt).
Andere Korrekturen (mit Bleistift) stammen offenbar von Hagens Hand, der auch eine Bleistift-Foliierung (unterhalb von Jundts Paginierung) anbrachte. Bekannt ist, dass Hagen 1817 Straßburg besuchte.24 Es ist wahrscheinlich, dass er damals die Abschrift anhand des Originals nachkontrollierte: 181: edelin zu edelm (m am Rand zugesetzt). – 398: also do (am Rand zugesetzt). – 439: hend zu heild (il am Rand zugesetzt). – 487: vil (am Rand zugesetzt).
Im Detail gehen Abschrift und Abdruck der ‚Heldenbuchprosa‘ mitunter deutlich auseinander. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Druckerversehen25 Auslassungen stillschweigende Besserungen.26
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25 26
Vgl. Friedrich Heinrich von der Hagen (Hrsg.): Der ungenähte graue Rock Christi. Wie König Orendel von Trier ihn erwirbt, darin die Frau Breiden und das heilige Grab gewinnt, und ihn nach Trier bringt. Berlin 1844, S. XXIII und Hagen 1855 (Anm. 16), Band 1, S. XLI. Fünf Mal sind u und n vertauscht (Z. 147: iu, Z. 197: zoruig, Z. 216: onch, Z. 465: sŭu, Z. 507: kameu). So schreibt Jundt den Heldennamen konsequent ottint anstatt ottnit, was Hagen natürlich korrigiert.
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Da aber das Original zerstört ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob Hagen immer ‚korrigierte‘ oder mitunter auch ‚normalisierte‘. In einigen Fällen lässt sich dies jedoch auf indirektem Weg erweisen: Denn Holtzmann hatte 1861 das Straßburger Heldenbuch nach Heidelberg entliehen und verglich Hagens Edition von 1855 mit dem Original. Die von ihm bemerkten Abweichungen veröffentlichte er 1865.27 Weiters kommt auch die Teilveröffentlichung der ‚Heldenbuchprosa‘ (1821) durch Franz Joseph Mone (1796‒1871) als Korrektiv in Betracht, wobei dieser aber den Text leicht normalisierte.28 Anhand des Textmaterials von Holtzmann und Mone lassen sich einige Versehen von Jundt aufdecken. Zum Vergleich werden auch Lesungen des ersten Drucks des Straßburger Heldenbuchs (Sigle H1) angeführt: 30: der HmN] fehlt JuA; der H1. – 147: rafen HmN] rasen JuA, raben HaE; Rafen H1. – 176: hiesz HaE/MoP] hiess JuA. – 181: edelm HaE/MoP] edelin JuA; edelem H1. – 192: wuste HmN/MoP] fehlt JuA; wiste H1. – 221: ottnid HmN/MoP] fehlt JuA. – 228: woltt MoP] wollt HaE, soltt (aus woltt verbessert) JuA; wolt H1. – 239: heiden JuB/MoP] heide JuA, heyde HaE; heiden H1. – 244: starp HmN/MoP] starb JuA.
Interessant sind auch jene Passagen, in denen Hagen gegen Jundt ändert und Holtzmann bzw. Mone zurückverbessert: 17: schŏnste HmN/JuA] schŏnstte HaE. – 93: land HmN/JuA] fehlt HaE. – 151: mentinger HmN/JuA] mentiger HaE. – 197: von HmN/JuA/MoP] fehlt HaE. – 217: rŏmsch JuA/MoP] rŏmsche HaE. – 240: soltte JuA/MoP] sollten HaE.
Einzig durch Holtzmanns Angaben kam auch ans Licht, dass eine andere (jüngere) Hand Streichungen und Überschreibungen am Original vorgenommen hatte. Jundt hatte die Varianten (nur unvollständig) zwischen zwei Schrägstriche gesetzt. – In der Regel handelt es sich dabei um sprachliche Abwandlungen: 27: lŭge ast (ludegast darübergesetzt). – 51: berge (búrge darübergesetzt). – 164: elberich (alberich darübergesetzt). – 233: surgenland (davor sun durchgestrichen, friden [HmN] oder nider [JuA] darübergesetzt). – 240: ling wurme (lint darübergesetzt). – 253: biderwer (biderbe darübergesetzt). – 254: merian (meron [HmN] oder meren [JuA] darübergesetzt). – 255: sien (sŭn darübergesetzt). – 256: sienne (sŭne darübergesetzt). – 261: dŭschan (duskan darübergesetzt).
Die dreifache Nachkontrolle (zunächst wahrscheinlich durch Oberlin und Hagen, schließlich durch Holtzmann) garantiert zwar keinen ‚fehlerfreien‘ Text, stellt aber die Rekonstruktion des Wortlauts auf etwas sicherere Fundamente. Strenggenommen kann erst ab drei Textzeugen – wie dies bei kurzen Passagen von ‚Ortnit‘ (Str. 1‒155),
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Vgl. Anm. 20. Vgl. Anm. 21. – Ähnlich wie bei Hagen sind auch hier Buchstaben vertauscht (acht Mal sṅ statt sú: Z. 164, 167, 172, 179, 182, 238, 240, 241).
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‚Wolfdietrich‘ (Str. 1‒69) und ‚Laurin‘ (V. 1‒540) der Fall ist – eine relative Sicherheit bei der Rekonstruktion des Textes erzielt werden.29
4. Diplomatisch genau vs. normalisiert: ‚Virginal‘ Die Situation bezüglich Original und Abschriften ist beim Dresdener Heldenbuch grundlegend anders als beim Straßburger Heldenbuch. Da die Handschrift noch vorhanden ist, können die Abweichungen der Abschriften überwiegend nachkontrolliert werden. Nur bei schwer beschädigten Partien gewinnen die Abschriften eine eigenständige Bedeutung. Doch nicht alle Abschriften können gleichermaßen zur Rekonstruktion des Originals herangezogen werden. Dies hat einen relativ obskuren Grund: Die Abschriften sind voneinander abhängig! Die Teilabschrift aus Gottscheds Besitz – dieser besaß ab 1748 die Originalhandschrift – verzeichnet nur die Dietrich-Epen. Die Reihung widerspricht zwar der Anordnung im Dresdener Heldenbuch, folgt aber offenbar einem ‚biografischen‘ Schema: Dietrichs erste kämpferische Bewährung in ‚Wunderer‘ und ‚Virginal‘, der jugendliche Held Dietrich in ‚Laurin‘ und ‚Sigenot‘ sowie der gereifte, zögerliche Dietrich in ‚Eckenlied‘ und ‚Rosengarten‘.30 Sowohl bei der Anfertigung der Adelung’schen wie auch der Hagen’sche Abschrift diente die Gottsched’sche Kopie als Teilvorlage. Die weiteren Texte wurden offenbar nach der Originalhandschrift kopiert. Daraus erklärt sich auch die Schnelligkeit bei der Erstellung von Hagens Abschrift (innerhalb von vier Wochen): Hagen erhielt am 4. April 1806 (Karfreitag)31 das Dresdener Heldenbuch und die Abschrift Mscr. Dresd. M 202 vom Dresdener Bibliothekar Carl Wilhelm Dassdorf (1775‒1812) zugesandt. Er selbst schrieb zunächst alle Stücke ab, die nicht in der Abschrift enthalten waren, ein beauftragter Schreiber sollte nach der Abschrift kopieren. Allerdings legt der Schriftduktus nahe, dass Hagen auch das ‚Eckenlied‘ selbst abgeschrieben hat, obwohl es in Mscr. Dresd. M 202 enthalten ist. Das geschah wohl deshalb, weil der Hilfsschreiber einschließlich des ‚Eckenlieds‘ 461 Originalseiten abzuschreiben hatte, während Hagens Anteil nur 227 Seiten betrug. Wahrscheinlich war Hagen schon bedeutend früher fertig und übernahm deshalb auch die Abschrift des ‚Eckenlieds‘ (119 Seiten). Die ‚Virginal‘-Abschriften aus Adelungs und Hagens Besitz weisen damit zwangsläufig dieselben Fehler, Ungenauigkeiten und Normalisierungen wie die Gottsched’sche Abschrift auf – und überdies die von den Kopisten zusätzlich verursachten –––––––— 29
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Die Textproben wurden vorab von Jundt für Hagen angefertigt; erst später schrieb er diese Texte vollständig ab. Die Passage ‚Wolfdietrich‘ 1,1‒6,2 ist sogar in vier unterschiedlichen Abschriften bzw. Textproben erhalten. Doch auch hier kann es zu Pattsituationen – je zwei Bestätigungen für eine Variante – kommen. Auch Hagen, der die „wohl gegründete Ordnung“ lobte (Ms. germ. qu. 766, Bl. 2v), wählte für seine Ausgabe (1820‒1825) eine abweichende Anordnung der Texte: 1. ‚Ortnit‘, 2. ‚Wolfdietrich‘, 7. ‚Wunderer‘, 3. ‚Eckenlied‘, 6. ‚Sigenot‘, 10. ‚Virginal‘, 9. ‚Laurin‘, 4. ‚Rosengarten‘, 11. ‚Jüngeres Hildebrandslied‘, 5. ‚Meerwunder‘, 8. ‚Herzog Ernst‘. Also exakt 334 Jahre nachdem Kasper von der Roen seine Textpartie abgeschlossen hatte (Ostersonntag, 29. März 1472).
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Abweichungen. Im Normalfall würde man daher allenfalls die Gottsched’sche Abschrift zur Absicherung von Lesungen des Originals heranziehen und alle übrigen beiseitelassen. Doch die Hagen’sche Abschrift hat zwei Alleinstellungsmerkmale: Zum einen kontrollierte Hagen die Abschrift anhand des Originals nach, bevor er die Vorlagen zurück nach Dresden schickte. Zum andern war er der Einzige, der die Abschrift als Druckvorlage benutzte. Im Folgenden möchte ich die Probe aufs Exempel machen und den Textbeginn der ‚Virginal‘ (Str. 1,1‒2,3) näher beleuchten.32 Bereits der Eingang zeigt, wie wichtig Hagens Korrekturen waren: Denn der Hilfsschreiber weicht innerhalb von 16 Zeilen sechs Mal von der Gottsched’schen Vorlage ab:33 1,3: lies zu lis. – 1,5: manchem zu manchen. – 1,9-10: Verse ausgelassen. – 1,12: her wuchs zu herwuchs. – 1,13: Des vater zu des vates. – 2,1: Es wuchs zu Er wuchs.
Zum Vergleich: Auch der Schreiber der Adelung’schen Abschrift verursachte sechs Abweichungen: 1,5: manchem zu manchen. – 1,7: hein zu heim. – 1,8: speisse zu speise. – 1,9: die was zu was. – 1,10: weisse zu weise. – 2,3: manchem zu manchen.
Hagen strebte zunächst eine möglichst exakte Erfassung des Originals an34 – was allerdings auf Basis einer zweifachen Abschrift schwierig zu bewerkstelligen war. Ich gehe davon aus, dass alle Veränderungen am Text der Abschrift von Hagen stammen: Drei der sechs Abweichungen von der Gottsched’schen Abschrift wurden also korrigiert: 1,3: lis (e übergesetzt). – 1,5: manchen (n zu m gebessert). – 1,9-10: Verse von Hagen ergänzt.
Darüber hinaus gab es aber weitere Eingriffe in den Textbestand der Abschrift: Hagen brachte eine Blattzählung an (314. a.–344. a.), stellte die Abkürzungen wieder her und änderte an zwei weiteren Stellen: 1,3: vinden zu vindē. – 1,4: gethan zu gethā. – 1,7: man zu mā. – 1,13: vates (-es unterstrichen und unterstrichenes r am Blattrand). – 1,13: thun zu tun. – 2,2: achtzehen zu achtzehē.
Diese überarbeitete Textform wurde zur Vorlage für die Textproben, die Hagen 1812 veröffentlichte. Dabei versah er zudem die Zeilenanfänge mit Versalien (wie im Original). – Allerdings widersprach dieses Vorgehen der späteren Editionspraxis für seine Gesamtausgabe (1820‒1825). Um die Abschrift als Druckvorlage nutzen zu können, musste Hagen Normalisierungen anbringen. Das bedeutete zum Beispiel, –––––––— 32 33 34
Im Original steht die Textpartie auf Bl. 314r, in der Gottsched’schen Abschrift auf Bl. 29r, in der Adelung’schen Abschrift auf Bl. 205r und in der Hagen’schen Abschrift auf S. 853. In dieser Passage weist die Gottsched’sche Abschrift keine Abweichungen vom Original auf – abgesehen von der Auflösung der Abkürzungen. Tendenziell schrieb Hagen sorgfältiger ab als sein Hilfsschreiber. Allerdings übersah er während seiner Abschreibarbeit Str. 17 des ‚Herzog Ernst‘.
Walter Kofler
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dass er die zunächst rekonstruierten Abkürzungen wieder strich und ausschrieb. Zudem änderte er bei Eigennamen auf große Anfangsbuchstaben (Terevas, Cristenlichen), trug Satzzeichen ein und ergänzte den Titel (Dietrich und seine Gesellen.). Die beiden Bearbeitungvorgänge lassen sich anhand der Farbe der Tinte unterscheiden: Die ‚Besserungen‘ in Richtung Original von 1806 erscheinen in schwarzer Tinte, die ‚Normalisierungen‘ für die Gesamtausgabe in roter Tinte. – Hier zum Vergleich die behandelte Passage in den Fassungen von 1812 und 1825: Hagen/Büsching 1812 (S. 46f.)
Hagen/Primisser 1825 (S. 144)
Hye vor ein ein alter heidenn sas, Der was geheissen Terevas, Also lies er sich vindē, Der hat mordes vil gethā An manchem cristenlichen man, An weib vnd auch an kinden; Wo mā die vant, man pracht yms hein Bereit zu einer speisse; Die speis die was doch vngemein; Er lebt ins teuffels weisse. Er het nit mer, den einen sun: Der alt der starb, der jung her wuchs, Des vater weis wolt er auch tun.
Hye vor ein alter heidenn sas, der was geheissen Terevas, also lies er sich vinden, der hat mordes vil gethan an manchem Cristenlichen man, an weib vnd auch an kinden: wo man die vant, man pracht yms hein, bereit zu einer speisse; die speis die was doch vngemein: er lebt ins teuffels weisse. er het nit mer, den einen sun: der alt der starb, der jung her wuchs, des vaters weis wolt er auch tun.
Es wuchs der heiden, das ist war, Volkumlichen achtzehē iar, Zu schaden manchem mane
Er wuchs, der heiden, das ist war, volkumlichen achtzechen iar, zu schaden manchem mane;
Es finden sich widersprüchliche Varianten wie auch Lesungen, die durch die (‚korrigierte‘) Abschrift nicht gedeckt sind. Vor allem fällt auf, dass Hagen zunächst die korrekten Lesungen Es wuchs und achtzehē bringt, während er in die Ausgabe Er wuchs (wie die Abschrift) und achtzechen (in der Abschrift undeutlich) setzt. Die Änderung zu vaters könnte man als Normalisierung abtun, zumal Hagen in den „Anmerkungen und Verbesserungen“ die Schreibweise der „Urschrift“ (S. 39) anführt: vates. Aber die Angabe ist falsch! Korrekt wäre die Variante vater. – Völlig unverständlich ist allerdings sein Eingriff bei thun. Denn die Variante thun ist ganz deutlich lesbar. Vor allem bleibt die Änderung insofern rätselhaft, als er ja nicht generell th zu t ändert. Von besonderem Gewicht ist noch eine andere Stelle: Hagen ändert den Ländernamen Zeragein (Str. 3,1) in Zertugein. Der Name findet sich allerdings nur im Dresdener Text (= Version II). Ein Vergleich mit den übrigen Textzeugen der ‚Virginal‘ ist fruchtlos, da die Partie in Version I (Haupthandschrift UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 324) gar nicht vorkommt und in Version III (Einzelhandschrift ÖNB Wien, Cod. 15478) der Name Arabin (vgl. Str. 2,1) lautet.
Neuzeitliche Abschriften als Primär- und Sekundärquellen
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Auch mit Hilfe einer Ultraviolett-Lampe ist eine sichere Entscheidung anhand des Originals nicht zu erzielen.35 Fest steht zumindest, dass Zertugein in jedem Fall falsch sein muss, da das Wort einen Aufstrich zu viel aufweist und eine Verkürzung zu Ze’tugein weder in der Handschrift üblich noch durch Autopsie sichtbar ist. Überdies hätte Hagen eine vorhandene Abkürzung markiert. So bleiben also drei mögliche Namensvarianten: Zeragein Zercigein Zertigein Eine sichere Entscheidung lässt sich jedoch über einen Umweg erzielen: Denn Ludwig Tieck fertigte neben der eigenhändigen ‚Wolfdietrich‘-Abschrift36 auch eine Abschrift37 und eine Übersetzung38 von ‚Laurin‘ an – sowie eine ‚Virginal‘-Übersetzung.39 Und diese bringt: Es war ein Land, hieß Zertigein. Der Text muss auf einer verschollenen Abschrift Tiecks basieren. Eine direkte oder indirekte Abhängigkeit der Übersetzung von einer der bekannten Abschriften ist auf Grund der Lesungen auszuschließen. Überdies entstand Tiecks Abschrift mit ziemlicher Sicherheit vor der Hagen’schen Kopie: Gottsched
Adelung
Tieck
Hagen
Str. 2,1
Es wuchs
Es wuchs
Es wuchs
Er wuchs
Str. 2,5
kint
kint
Land
kint / lant
Str. 3,1
zeragein
zeragein
Zertigein
zeragein / Zertugein
5. Fazit Abschriften sind zwar geeignet, den Text eines Werkes zu bewahren, doch ist das Material weitaus weniger belastbar als das Original. Viele Details bleiben unsicher, und man muss daher stets mit Fehlern oder Normalisierungen rechnen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hat man Abschriften bedenkenlos als Editionsvorlagen verwendet – sei es für kritische Abdrucke oder normalisierte Ausgaben. Wie parallele Abschriften zeigen, ist in vielen Fällen mit Abweichungen vom Original zu rechnen, auch wenn die Varianten nur selten weit auseinanderliegen.40 Lienerts gänzliche Ablehnung von –––––––— 35 36 37 38 39 40
Freundliche Mitteilung von Werner Hoffmann (Leipzig) und Elisa Pontini (Bremen). Vgl. Anm. 12. Vgl. Verkaufskatalog Friedländer 1857 (Anm. 12), S. 13, Nr. 299 [verschollen]. SB Berlin, Nachl. Tieck 7. Mp. 10, Bl. 37‒50 [unvollständig]. SB Berlin, Nachl. Tieck 7. Mp. 10, Bl. 5‒36. Der Anteil der Verse ohne abweichende Varianten liegt im Straßburger Heldenbuch bei 60 Prozent, variiert aber stark: in ‚Ortnit‘ und ‚Rosengarten‘ sind es 54%, in ‚Wolfdietrich‘ 57%, in ‚Laurin‘ 65% und in ‚Sigenot‘ 74%.
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Abschriften als Leittext ist zwar konsequent, führt aber auch dazu, dass mitunter der bloß ‚zweitbeste‘ Textzeuge zur Leithandschrift aufsteigt. Für das Straßburger Heldenbuch sind die Abschriften unentbehrlich für die Rekonstruktion des Textes, für das Dresdener Heldenbuch können sie immerhin mithelfen, unsichere Textpassagen zu entschlüsseln – selbst wenn (wie im Fall der ‚Virginal‘) eine Abschrift verschollen und nur noch eine Übersetzung vorhanden ist. Und trotz aller Unzulänglichkeiten muss man den Abschreibern für ihre mühevolle Arbeit aufrichtig Respekt zollen.
Janina Reibold
Textrevisionen in Hamanns Fliegendem Brief Terminologische Überlegungen zur Unterscheidung von Änderungen in literarischen Entwürfen
1. Entstehungsgeschichte von Hamanns Fliegendem Brief Das Jahr 1785 war für Johann Georg Hamann ein Jahr schriftstellerischer Unproduktivität. Seit der Veröffentlichung seiner Schrift Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten1 im Sommer 1784 fehlte es ihm, so kann man in zahlreichen Briefen aus jener Zeit lesen, an „Materie“ zum Schreiben.2 Das Hamann’sche Schreiben ist ein Schreiben, das sich immer mit etwas anderem, einem anderen Text, einem anderen Autor, kritisch auseinandersetzt, auf diesen im Vollsinn ‚re-agiert‘. Dies, also der Mangel an ‚Schreibmaterie‘, änderte sich schlagartig, als Hamann Ende November 1785 eine destruktive Rezension seiner Schrift Golgatha und Scheblimini! zu Gesicht bekam.3 Sie war in der von Friedrich Nicolai herausgege–––––––— 1
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[Johann Georg Hamann]: Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten. O. O. [Riga: Hartknoch] 1784. Vgl. – jedoch mit zahlreichen editorischen Mängeln – auch: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 6 Bde. Hrsg. von Josef Nadler. Wien 1949–1957 [im Folgenden zitiert als N], hier: N III, S. 291–320. Vgl. Johann Georg Hamann: Briefwechsel. 7 Bde. Hrsg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden, Frankfurt am Main 1955–1979 [im Folgenden zitiert als ZH], sowie Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Reihe I, Bd. 4/5. Hrsg. von Walter Jaeschke. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003/2005 [im Folgenden zitiert als JBW I 4 / I 5]. Etwa Hamann an Herder, 1. August 1785: „Ich kann weder denken, noch schreiben, noch reden – alles ist ein Tohuvabohu in und um mir. Gott sieht den Grund, den tiefsten Grund des Herzens – und die Sympathie unserer Seelen überhebt mich alles eckeln und matten details. Der Buchstabe tödtet und ist selbst tod.“ (ZH VI, S. 40); Hamann an Scheffner, 16. September 1785: „Aber gegenwärtig geht es mir nach den Anfangsworten Agurs – und in meiner Lage hab ich weder Lust den Mund aufzuthun, noch durch meine Gänsekiele zur Menschenverklügerung oder zum Weh ihres Aergernißes eine Zeile beyzutragen.“ (ZH VI, S. 65); Hamann an Jacobi, 28. September / 3. Oktober 1785: „Meine Lage ist und bleibt einförmig, giebt mir also nicht die geringste Materie zu schreiben. Die geringste Veränderung, die kleinste Ausnahme würde auch mein GedankenSystem und meinen Plan ändern. […] Wenn ich je noch Etwas zu schreiben im stande seyn sollte: so wird es in Rücksicht seyn. Bisweilen verzage und verzweifele an mir selbst.“ (ZH VI, S. 73, 78 | JBW I 4, S. 188, 193). Eine erste Ankündigung der Rezension liest Hamann bereits am 5. November 1785 (vgl. ZH VI, S. 118 | JBW I 4, S. 230 [Anm. 2]), erst am 27. November trifft jedoch ein Exemplar derselben bei ihm in Königsberg ein. Dazu Hamann an Jacobi, 28. November 1785: „Gestern erhielt zum ersten Advent die Berl. Bibl. und die ganze ausführl. Recension ist nichts als ein ridiculus mus – da ich mich auf gantz andere Dinge gefreut, und fast Schlößer darauf gebaut. Hätten Sie mich namentlich aufgeführt und gewiße Stellen mir vorgerückt: so wär der Henker los gewesen und meine Dido hätte Himmel und Erde aufgeboten. Ich hätte reinen Wein eingeschenkt, aber auch zugl. reinen Tisch gemacht und was wäre das Ende vom Liede gewesen? DI bene fecere. Auf nichts läßt sich nichts antworten.“ (ZH VI, S. 151 | JBW I 4, S. 254 [Anm. 2]) und dann wenig später Hamann an Jacobi, 4. Dezember 1785: „Weil diese Sache aber gemeinschaftlicher für uns beyde ist, als für diejenige, welche draußen sind: so theile ich Ihnen meinen eigenen Plan mit. Ich bin fest entschloßen mit Gottes Hülfe die politische Recension zu
Janina Reibold
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benen Berliner Rezensionszeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek (AdB) erschienen.4 Der Rezensent, der statt mit seinem Eigennamen mit dem Autorenkürzel „F.“ signierte,5 setzte sich nicht – wie es nach Hamann seine Aufgabe gewesen wäre – kritisch mit Golgatha und Scheblimini! auseinander, sondern wetterte lediglich polemisch gegen Hamanns schwer verständliche Schreibart, die ihm mehr Ver- als Bekleidung zu sein scheine: Ein Prediger in der Wüsten, an Kleidung und Sprache sonderbar und fremd! Aber auch eben darum unverständlich und räthselhaft. Wir können diesen Prediger leicht an seinem Kleide und an seiner Sprache von seinen Brüdern unterscheiden. Man ist sie schon an ihm gewohnt, und wir haben sie bisher ertragen, ob sie gleich den meisten nicht gefiel, weil sie mehr Verkleidung als Bekleidung schien.6
Hamann fasste daraufhin den Plan, sich an dieser Rezension in einer letzten Schrift zu rächen,7 und so erwachte bereits zum Jahreswechsel 1785/86 bei ihm das ‚Autorfieber‘: Ich nehme jetzt meine Abschiedsaudientz von Niemand dem Kundbaren [so lautet die Widmung der Sokratischen Denkwürdigkeiten von 1759], und der Keßel meines brennenden Gehirns schäumt so entsetzlich, daß ich beyde Hände nöthig habe den Unrath abzuschäumen und das Ueberlaufen zu verhindern. So was Panisches [vgl. hierzu die Titelvignette seiner Kreuzzüge des Philologen von 1762] haben Sie weder gelesen, noch im Rabelais oder Tristram Shandy gefunden – Es ist nicht mehr die Stimme eines Predigers in der Wüsten [d.i. das Pseudonym Hamanns in Golgatha und Scheblimini!], sondern des dreyköpfichen Höllenhundes Cerberus. Es ist eine wahre Feuertaufe, die über Philosophen und Chaldäer in Babel regnen wird. Kein Jupiter pluvius wie in der Beylage der Sokr. Denkw. sondern ein Schwefelregen über Sodom u Gomorrah. Ich liege beynahe der Wuth unter, die in allen meinen Adern pocht und tobt, und erschrecke vor meiner eigenen Kraft, die einem hitzigen Fieber ähnlich ist, und mir selbst nicht natürlich vorkommt.8
Schon am 29. Dezember 1785 schickte Hamann an seinen Freund Friedrich Heinrich Jacobi den ersten Entwurf des Titelblatts seiner neuen Schrift: „Fliegender Brief / an / NIEMAND den Kundbaren / die / Entkleidung und Verklärung / eines / Predigers /
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6 7 8
vereiteln und ich weiß noch selbst nicht was? oder wie? oder wenn? ihr entgegen zu setzen. Mein Haß gegen die Berliner und ihre Ungerechtigkeit soll mich nicht hindern ihre Klugheit nachzuahmen, da ich mehr Ursache habe als Sie, mich vor ihnen zu fürchten.“ (ZH VI, S. 162 | JBW I 4, S. 264 [Anm. 2]). Allgemeine deutsche Bibliothek. Des drey und sechzigsten Bandes erstes Stück. Hrsg. von Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1785 [im Folgenden zitiert als: AdB 63], S. 33–37. Hinter dem Kürzel „F.“ in Fraktur verbarg sich Johann August Eberhard, der in zweiter Nachfolge Wolffs seit 1778 die Professur in Halle innehatte. Vgl. Gustav Parthey: Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842, S. 6f., 38. AdB 63 (Anm. 4), S. 33. Vgl. den Brief Hamanns an Jacobi vom 4. Dezember 1785 (Anm. 3). Hamann an Jacobi, 24. Dezember 1785 (ZH VI, S. 194f. | JBW I 4, S. 293 [Anm. 2]).
Textrevisionen in Hamanns Fliegendem Brief
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betreffend / Non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare LVCEM / Cogitat — — — Horat.“9 Mit dem Projekt Ein fliegender Brief10 verfolgte Hamann verschiedene Stoßrichtungen. Zunächst beabsichtigte er die Rezension in der AdB als haltlos darzustellen. Zugleich entwarf er den Text als eine Apologie, also Verteidigungs- und Rechtfertigungsschrift, einerseits in Bezug auf Golgatha und Scheblimini!, andererseits in Bezug auf seine gesamte bisherige Autorschaft. Zusätzlich sollte diese letzte Schrift für ihn als eine Art ‚Bekennerschreiben‘ dienen, in dem Hamann sämtliche von ihm veröffentlichte Texte von den Sokratischen Denkwürdigkeiten 1759 bis zu Golgatha und Scheblimini! 1784 – also aus insgesamt 25 Jahren – anführte und die Zusammengehörigkeit dieser sehr divergenten, allesamt pseudonym veröffentlichten Texte aufzuzeigen versuchte. Zugleich zielte Hamann im Fliegenden Brief darauf, seine spezifische Schreibweise, seinen dunklen Stil und das Verfahren der indirekten Mitteilung explizit zu begründen. Beim Verfassen des Fliegenden Briefs wandte Hamann ein eher unkonventionelles Schreibverfahren an: Er arbeitete nicht für sich allein in Königsberg, sondern in unablässigem brieflichen Gespräch mit Friedrich Heinrich Jacobi in Düsseldorf. Über einen Zeitraum von fast anderthalb Jahren, von Januar 1786 bis April 1787, schickte Hamann Dutzende von Entwürfen zum Fliegenden Brief an Jacobi, meist im Umfang eines Quart- oder Oktavdoppelblatts.11 Hamann arbeitete dabei nicht an einem kompletten ‚Textzusammenhang‘, sondern immer nur an einzelnen kleineren Abschnitten, die er „Fortsetzungen“ nannte und an denen er sich Stück für Stück ‚entlanghangelte‘. Jacobi kam bei diesem Schreibverfahren die Aufgabe zu, die Entwürfe zu redigieren, zu kommentieren, Abschriften anzufertigen sowie sie sukzessive für den Druck setzen zu lassen. Am 24. Dezember 1785 skizzierte Hamann Jacobi seinen gewünschten Arbeitszusammenhang: Es ist nicht Schertz sondern Ernst mit dem ich Ihnen, lieber Jacobi, die Schwachheiten meines Herzens anvertraue. Sie wißen meinen ganzen Plan, und ich habe Sie zum Theilnehmer, zum innigsten deßelben gemacht, und erwarte auch Ihren Beystand zur Ausführung. Aut – aut – Stillschweigen stockstill – oder Himmel und Erde bewegen. Das erste steht noch immer in meiner Gewalt und beruht auf meiner Willkühr – […] Ich beschwöre Sie also bey aller unserer Freundschaft, lieber Jonathan, mir mit der ersten Post
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Hamann an Jacobi, 29. Dezember 1785 (ZH VI, S. 204f. | JBW I 4, S. 304 [Anm. 2]). Ab Februar 1786 lautete der vollständige Titel dann: „Entkleidung und Verklärung / Ein / Fliegender Brief / an / Niemand den Kundbaren / HORATIVS / Non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare LVCEM / Cogitat – – – / – – Conuiua satur – – / JAM SATIS EST! – – : עתה רב/ B. der Kön. XIX.4.“ Vgl. die Photographie des Manuskripts in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 42-1. Es liegen bislang zwei Editionen vor, die das vollständige ‚Textmaterial‘ zum Fliegenden Brief berücksichtigen: Reiner Wild: ‚Metacriticus bonae spei‘. Johann Georg Hamanns ‚Fliegender Brief‘. Einführung, Text und Kommentar. Bern 1975, sowie die von jenem überholte Ausgabe von Josef Nadler: N III (Anm. 1), S. 347–407. Vgl. hierzu ausführlich Janina Reibold: Beilage II. Hamanns „Fliegender Brief“. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel 1786. Nr. 1307–1608. Beilagen. Kommentar von Irmgard Huthmacher unter Mitwirkung von Rebecca Paimann und Janina Reibold, hrsg. von Walter Jaeschke. 2 Teilbde. StuttgartBad Cannstatt 2014 (Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Reihe II, Bd. 5) [im Folgenden zitiert als JBW II 5], S. 728–746.
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zu melden wo Ihr Spinoza Büchlein gedruckt worden, und ob Sie das Herz und die Barmherzigkeit dieses letzten Freundschaftsdienstes für mein noch ungebornes Kindlein zu übernehmen, es mit aller nur mögl. menschlichen Vorsicht und Verschwiegenheit zur Welt zu bringen. […] Machen Sie auf allen Fall, alles fertig zur pünctl. Execution meines letzten Autorwillens, und werden Sie mir keine feige Memme aus Freundschaft oder Superklugheit. Ein Mann, der sich 25 Jahre bedacht hat, ist befugt, peremtorisch u ein wenig dictatorisch zu Werk zu gehen bey einer so bösen und kurzen Zeit. Der letzte Schlag ist dem Helden vielleicht näher als mir, oder wir sind beyde gleich reif. Ich werde eilen – und Sie auch, als mein GeneralLieutnant.12
Vor allem die von Jacobi in Auftrag gegebenen Abschriften von fremder Hand sowie die Probebogen sollten es Hamann ermöglichen, seine „eigenen Gedanken mustern zu können“.13 Diese durchgesehenen Abschriften und Druckbogen lösten bei Hamann neue Überarbeitungsprozesse aus und führten zu erneuten eigenen, aber immer veränderten Abschriften: „Ich ändere, so oft ich abschreibe,“14 erläuterte er Jacobi in einem Brief ein Spezifikum seines Produktionsprozesses. Hamann exekutierte keinen vorher gefassten Plan, sondern arbeitete sich von Entwurf zu Entwurf vor – und zurück. Er überließ sich dabei dem Schreibprozess und formulierte sein Programm folgendermaßen: Materie hängt von Umständen ab und Form von Schäferaugenblicken, die eben so wenig in meiner Gewalt sind. Weder meine Tenne noch Kelter haben Vorraths gnug – Schwert und Bogen hilft auch nicht. Die Sache muß sich also durch ihr eigen Gewicht fort wälzen und mich mit sich reißen – daß es nolens volens geht.15
Ein solches Schreibverfahren bringt aber ebenso mit sich, dass die Arbeit immer wieder stockte – Hamann verglich sein Schreiben dabei gerne mit Ebbe und Flut16 sowie mit Durchfall und Verstopfung.17 Eine Krise erreichte der Produktionsprozess beispielsweise bei der Arbeit an der sechsten Fortsetzung, von der acht Entwürfe überliefert sind, deren erste drei die Überschriften: „VI. Fortsetzung“, „VI. Fortsetzung, noch einmal“ und „VI. Fortsetzung, zum dritten, Gott gebe, letzten mal“ tragen.18 Hamanns Fliegender Brief fand auch nach anderthalb Jahren keine endgültige Gestalt, 42 Dokumente (Auto-, Apographen sowie annotierte Druckbogen) sind zu –––––––— 12 13 14 15 16 17
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Hamann an Jacobi, 24. Dezember 1785 (ZH VI, S. 195f. | JBW I 4, S. 293f. [Anm. 2]). Hamann an Schenk (d. i. der Sekretär Jacobis), 9. Juli 1786 (ZH VI, S. 457 | JBW I 5, S. 291 [Anm. 2]). Hamann an Jacobi, 8. Juni 1786 (ZH VI, S. 419 | JBW I 5, S. 237 [Anm. 2]). Hamann an Jacobi, 9. April 1786 (ZH VI, S. 353 | JBW I 5, S. 149 [Anm. 2]). Vgl. bspw. Hamann an Jacobi, 28. Dezember 1785: „Seit 3 Tagen hab keine Feder wider ansetzen können. Ebbe u Fluth wechselt immer bey mir.“ (ZH VI, S. 202 | JBW I 4, S. 302 [Anm. 2]). Vgl. bspw. Hamann an Jacobi, 5. Januar 1786: „Ich bin wider aus dem Ton heraus, und kann nicht wider auf die rechte Spur kommen. Das macht mich trostlos und bringt mich beynahe zur Verzweifelung an mir selbst. Mein verfluchter Wurststil, der von Verstopfung herkommt, und von L. [d. i. Lavaters] Durchfall ein Gegensatz ist, macht mir Eckel u Grauen.“ (ZH VI, S. 217 | JBW I 5, S. 9 [Anm. 2]). Vgl. die Photographien der Manuskriptseiten in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 50-1, 50-2 und 50-6, sowie Wild 1975 (Anm. 10), S. 420.
Textrevisionen in Hamanns Fliegendem Brief
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diesem letzten Schreibprojekt Hamanns überliefert. Der Fliegende Brief befand sich permanent in einem Revisionsprozess, der nie abgeschlossen wurde. Das letzte überlieferte Manuskript bricht mitten im Text ab und endet mit der Zeile „usw. ich kann nicht mehr“.19
2. Die vier Änderungskategorien Im Folgenden möchte ich versuchen, Textrevision wie wir sie in Hamanns Fliegendem Brief finden, begrifflich zu fassen. Hierbei möchte ich auf eine rhetorische Terminologie zurückgreifen, die Quintilian in die Tradition eingeführt hat. Er unterscheidet im ersten Buch seiner Institutio oratoria20 recht lakonisch vier Weisen, durch welche sich die Entstehung von Barbarismen, also Fehlern auf Ebene der Einzelwörter, beschreiben lässt: ‚adiectio‘ (Hinzufügung), ‚detractio‘ (Wegnahme), ‚transmutatio‘ (Umstellung) und ‚immutatio‘ (Ersetzung).21 Diese vier Änderungsweisen sind bei Quintilian also zunächst ein System zur Klassifizierung von Verstößen und Abweichungen gegen das rhetorische Sprachideal der ‚latinitas‘, deren sprachkreatives Potential er aber an einzelnen Stellen immer wieder hervorhebt, so vor allem in Bezug auf die Entstehung der rhetorischen Figuren.22 Begrifflich ausgearbeitet wurden die vier Änderungskategorien aber eigentlich erst von Heinrich Lausberg in seinem 1960 erschienenen Handbuch der literarischen Rhetorik,23 wie auch Joachim Knape in seinem Artikel in Uedings Historischem Wörterbuch der Rhetorik betont.24 Ich stützte mich daher zu ihrer Beschreibung hauptsächlich auf § 462 von Lausbergs Handbuch, wo sie als eine „grundlegende Einteilungsmöglichkeit der als Veränderung aufgefaßten Unterschiede von Phänomenen“ definiert werden.25 Als veränderbares „Phänomen“ versteht Lausberg dabei ganz allgemein „z. B. ein Haus, eine Strecke, eine Wortform, ein[en] Satz, eine Satzfolge“.26 Adiectio (Hinzufügung) Eine Änderung, die durch Hinzufügung eines oder mehrerer neuer Bestandteile entsteht, wird als ‚adiectio‘ bezeichnet. Der neue Bestandteil hat dem bisherigen Zusammenhang noch nicht angehört und kommt diesem gewissermaßen von außen hinzu. Lausberg veranschaulicht die ‚adiectio‘ durch das Bild des Hauses, dem ein oder mehrere Steine hinzugefügt werden. Bei Phänomenen –––––––— 19 20 21 22 23 24 25 26
Vgl. die Photographie der Manuskriptseite in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 49-9.2, sowie Wild 1975 (Anm. 10), S. 461. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Lateinisch–Deutsch. 2 Bde. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. 3. Auflage. Darmstadt 1995. Vgl. ebd., I 5, 38–41 (Bd. I, S. 74–77). Vgl. ebd., IX 3, 2–27 (Bd. II, S. 318–331). Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart 1990 (zuerst 1960). Joachim Knape: Änderungskategorien. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 549–566, hier v. a. 549. Lausberg 1990 (Anm. 23), S. 250–254, hier v. a. 250. Ebd.
Janina Reibold
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mit linearer Ausdehnung wie Sätzen kann zusätzlich noch die Position des eingefügten Bestandteils beschrieben werden, bspw. eine Hinzufügung am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Satzes.27 Detractio (Wegnahme) Die ‚detractio‘ stellt konträr zur ‚adiectio‘ eine Änderung durch Wegnahme eines Bestandteils von einem bisherigen Zusammenhang dar, so zum Beispiel das Entfernen eines Steines aus einem Haus. Auch bei der ‚detractio‘ kann in linearen Zusammenhängen ergänzend unterschieden werden, an welcher Stelle die Tilgung erfolgt.28 Transmutatio (Umstellung) Eine Änderung, die aufgrund eines Platzwechsels eines oder mehrerer Bestandteile geschieht, wird als ‚transmutatio‘ bezeichnet. In Lausbergs Bild liegt dieser Sachverhalt vor, wenn ein Stein aus einem Haus entnommen und derselbe an einer anderen Stelle des Hauses wieder eingemauert wird. Bei der ‚transmutatio‘ kann zusätzlich zwischen einer Vertauschung und einer Verschiebung unterschieden werden. Bei ersterer wechseln zwei Steine in einem Haus ihren Platz, während bei der Verschiebung ein Stein an eine andere Stelle versetzt wird.29 Immutatio (Ersetzung) Die vierte Änderungskategorie, die ‚immutatio‘, bezeichnet eine Änderung, bei der ein bestehendes Teil durch ein oder mehrere von außen kommende neue, dem Ganzen bisher nicht angehörende Teile ersetzt wird. Die ‚immutatio‘ vereinigt somit die ‚detractio‘ und ‚adiectio‘. Bildlich wird ein Stein aus einem Haus entnommen und an dessen Stelle ein neuer, bisher nicht zum Haus gehörender Stein eingesetzt. Die ‚immutatio‘ ist nach Lausberg somit „die am tiefsten in die Qualität des Ganzen eingreifende Änderung“, da potentiell alle Bestandteile ersetzt werden können.30
3. Änderungen in Hamanns Fliegendem Brief In Hamanns Fliegendem Brief lassen sich vier Ebenen unterscheiden, auf denen Textrevisionen stattfinden: 1. Änderungen auf der Makroebene der Textteile, den sogenannten Fortsetzungen, 2. Revisionen auf Ebene der Absätze, 3. Änderungen auf Ebene der Sätze bzw. Perioden innerhalb eines Absatzes und 4. Revisionen auf der Mikroebene der Satzteile oder Wörter innerhalb einer Periode. Grundsätzlich kann man auf jeder dieser vier Textebenen alle vier der oben skizzierten Änderungsweisen beobachten.31 –––––––— 27 28 29 30 31
Ebd., S. 251. Ebd., S. 251f. Ebd., S. 252f. Ebd., S. 253f. Die Notwendigkeit der Einführung einer klaren wissenschaftlichen Begrifflichkeit zur Beschreibung von Änderungen in literarischen Texten, wie ich sie hier skizziert habe, resultiert direkt aus meiner philologischen Praxis. In meiner historisch-kritischen Neu-Edition von Hamanns Fliegendem Brief, die 2018 erscheinen wird, ediere und kommentiere ich erstmals sämtliche Auto- und Apographen sowie Druckbogen zu Hamanns letztem großen Schreibprojekt in ihrem Entstehungszusammenhang. Die Edition der Manuskripte erfolgt dabei mit einer diplomatischen Umschrift, in der sämtliche Überarbeitungen wie Einfügungen, Streichungen, Ersetzungen und Umstellungen typographisch wiedergegeben
Textrevisionen in Hamanns Fliegendem Brief
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So wird eine neue Fortsetzung entweder hinzugefügt, stellt also ein Beispiel für eine ‚adiectio‘ dar, oder sie ersetzt eine bisherige Fortsetzung, das wäre dann die ‚immutatio‘ (so zum Beispiel bei der sechsten Fortsetzung). Sehr häufig werden bei Hamanns Überarbeitungen des Fliegenden Briefs ganze Absätze oder Sätze ergänzt oder gestrichen, ersetzt oder innerhalb eines Textteils verschoben. Indes finden die meisten Revisionen auf der Mikroebene der Satzteile oder Wörter innerhalb eines Satzes statt. Zahlreiche Wörter werden innerhalb eines Manuskripts oder von Entwurf zu Entwurf hinzugefügt oder getilgt. Die Ersetzung eines Wortes durch ein anderes, also die typische paradigmatische Ersetzung, stellt eine der häufigsten Überarbeitungen auf Mikroebene dar. Aber auch die ‚transmutatio‘, die Umstellung von Wörtern oder Satzteilen, kommt sehr regelmäßig im Fliegenden Brief vor; beispielsweise vertauscht Hamann bei Reihungen häufig die Reihenfolge der Elemente. Dies zeigt sich etwa an folgendem Textbeispiel, bei dem Textrevisionen innerhalb einer Periode, also auf der Ebene der Satzteile und Wörter stattfinden. In der ersten Entwurfsschicht lautet die Stelle: Nunmehr hebt sich die Entkleidung und Verklärung meiner fünf Bogen mit ihrer Aufschrift an, welche aber von einem Flacius Fulbert, auf allgemeiner Schädelstätte deutscher Köpfe, so verstümmelt und verheilt worden, daß keine Spur von dem doppelten Motto, der wesentlichsten Hauptstätte des ganzen corpusculum delicti und meiner Miniaturautorschaft übrig geblieben ist; sondern es auch hier geheißen hat: Rein abe, rein abe, bis auf ihren Boden! Ψ CXXXVII.7.32
Die Periode steht am Beginn des Absatzes, der sich mit der Rezension von Golgatha und Scheblimini! (den „fünf Bogen“) in der AdB33 (der „allgemeine[n] Schädelstätte deutscher Köpfe“) auseinandersetzt bzw. sich an dieser rächen will. Die Rezension in der AdB wurde nicht mit Klarnamen, sondern lediglich mit dem Autorenkürzel „F.“ unterzeichnet.34 Dieses Kürzel nimmt Hamann in dem fiktiven Eigennamen „Flacius Fulbert“ mit doppelt unterstrichenem „F“ auf. Er spielt damit einerseits auf den lutherischen Theologen Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) an, von dem erzählt wird, dass, als er „seinen berufenen Catalogum Testium veritatis[35] schrieb, er als ein Mönch verkleidet in verschiedene Klosterbibliotheken gieng, manches, was ihm –––––––—
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werden. Für den Leser ermöglicht diese Edition Einsichten in die spezifische Arbeitsweise Hamanns, der seine Texte, wie man an den Revisionsprozessen im Fliegenden Brief exemplarisch studieren kann, nicht als ‚Kopfgeburten‘, sondern in intensiver Arbeit am und mit dem Text verfasst hat. Vgl. die Photographie der Manuskriptseite in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 34-1, sowie Wild 1975 (Anm. 10), S. (34) [316]. Auf die Wiedergabe des Zeilenfalls sowie auf die Auszeichnung des Schriftwechsels von deutscher Kurrent zu lateinischer Schreibschrift wird hier verzichtet; Geminationsstriche wurden stillschweigend aufgelöst. Vgl. demgegenüber die diplomatische Umschrift des ersten Entwurfs in diesem Beitrag auf S. 81. Vgl. Anm. 4. Vgl. Anm. 5. Hamann findet bis zu seinem Tod – trotz ausgiebiger Recherchen – nicht heraus, wer hinter dem Kürzel steht. Matthias Flacius Illyricus: Catalogus testivm veritatis, qvi ante nostram aetatem reclamarunt Papae. 2. erw. Auflage. Basel 1762 (zuerst 1556).
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taugte, aus den Codicibus mit seinem verborgenen Messer (Cultellus Flacianus) [a]usschnitt, und es unter seinen weiten Aermeln mit sich fortnahm“,36 sowie auf Fulbert, den Onkel von Héloise, der Peter Abaelard entmannen ließ. In der Rezension der AdB war der Titel (die „Aufschrift“) von Golgatha und Scheblimini! nicht vollständig angeführt worden, denn der Rezensent hatte die zwei Motti auf dem Titelblatt unerwähnt gelassen. Hamann bezeichnet die Titelnennung in der Rezension daher als „verstümmelt und verschnitten“. Der Titel einer Schrift stellt für Hamann den ‚nucleus‘, den Kern eines Textes dar. In ihm, so der Hamann’sche Anspruch, ist der gesamte folgende Text bereits angelegt und wird im Verlauf nur noch systematisch entfaltet37 – daher die Rede vom Titel als der „Miniaturautorschaft“. In Reaktion auf die Rezension in der AdB, die Hamanns Text gewissermaßen als literarisches Verbrechen anprangert, bezeichnet Hamann seinen Text selbstironisch als ‚corpus delicti‘, den Gegenstand des Verbrechens. Psalm 137 erinnert aus der Perspektive des babylonischen Exils an den Untergang Jerusalems 586 v. Chr. Der hier in Teilen zitierte Vers 7 erinnert konkret an die Zerstörung Jerusalems, während der die Babylonier ausgerufen haben sollen: „rein abe, rein abe, bis auf ihren Boden“.38 Der von Hamann nicht explizit angeführte, aber im Hintergrund stehende Vers 8 kündigt die erwartete Rache Gottes für die Zerstörung an. Dieser Satz ist in insgesamt vier autographen Entwürfen Hamanns überliefert und findet sich in einem beständigen Revisionsprozess, der einerseits innerhalb eines Manuskripts durch mehrfache Überarbeitungen, andererseits zwischen den Entwürfen, also von Abschrift zu Abschrift, stattfindet.
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Verzeichniß einiger Büchermerkwürdigkeiten aus den sechzehnten und siebenzehnten Jahrhunderten, […]. Brixen 1790, S. 122. Vgl. hierzu auch ausführlich Johann Balthasar Ritter: Eigentliche und umständliche Beschreibung Des Lebens, Handels und Wandels, Der Streiten und Schrifften, wie auch endlich des Todes M. Mat. Flacii, Illyrici, [...]. Frankfurt am Main 1723, S. 43–45, Anm. (f). Vgl. hierzu u. a. den folgenden Absatz: „Ein Schriftsteller, der in artis seuerae effectus verliebt […] giebt dem Gewande seiner Blöße und Nothdurft eine solche Präcision, daß keine Beschneidung, geschweige Verschneidung ohne Gewaltsamkeit füglich angeht. Ueberschrift seines Werks ist zugleich Unterschrift seines Namens, und beÿder Character ein Abdruck des Siegelrings am Gottesfinger der schönen Natur; welche alles aus einem runden Eÿ und dem Minimo eines Senfkorns zur Lebensgröße entwickelt, […] Ein solcher Titel nun ist ein tÿpischer Saamen, ein orphisches Eÿ, worin die Muse ein Gezelt u Hütte für ihren Genius bereitet hat […]“ (vgl. die Photographie der Manuskriptseite in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 34-1, sowie Wild 1975 [Anm. 10], S. (36) [318]). So die Übersetzung in der letzten zu Luthers Lebzeiten erschienenen Ausgabe von 1545. [Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Nachdruck München 1972–1973.] In den Luther-Übersetzungen nach 1912 (und auch noch 2017) lautet Ps 137,7 nun: „Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!“
Textrevisionen in Hamanns Fliegendem Brief
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Erster Entwurf Der erste überlieferte Entwurf zu der Stelle entstand vor dem 13. Mai 1786 und lautet in diplomatischer Umschrift folgendermaßen:39
Die ersten Änderungen des Satzes erfolgen durch Überarbeitungen innerhalb des Manuskripts: „Hauptstätte“ wird zunächst durch „Hauptlade“ bzw. „Hauptkrone“ ersetzt, wobei sich der semantische Schwerpunkt sukzessive von der juristischen Richtstätte (Hauptstätte/Hauptlade) auf ein Symbol der Herrschaft (Hauptkrone) verschiebt. Offen bleibt dabei, welche der beiden Ersetzungen ‚gilt‘ – der Text bekommt durch diese Unentschiedenheit eine Mehrstelligkeit. Darüber hinaus wird deren Bezug durch die Ersetzung „des ganzen corpusculum delicti“ durch das Possessivpronomen „meines“ personalisiert. In einem zweiten Überarbeitungsschritt streicht Hamann die attributive Ergänzung „der wesentlichsten Hauptstätte/lade/krone“ und ersetzt diese durch „und Diadem“. Die oben genannte semantische Mehrstelligkeit wird durch diese Änderung zugunsten der Herrschaftssymbolik entschieden. Zusätzlich wird die Reihenfolge von „meines ganzen corpusculum delicti und meiner Miniaturautorschaft“ zu „meiner Miniatur autorschaft u ihres corpusculum delicti“ vertauscht. In einem letzten Schritt werden diesen neu angeordneten Bezeichnungen noch die Adjektive „ganzen“ und „neuesten“ hinzugefügt. –––––––— 39
Vgl. die Photographie der Manuskriptseite in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 34-1, sowie Wild 1975 (Anm. 10), S. (34) [316]). Aus Platzgründen wird hier auf die Wiedergabe eines Faksimiles der Handschrift verzichtet und lediglich die von mir angefertigte diplomatische Umschrift der jeweiligen Stelle angeführt sowie auf die zukünftige historisch-kritische Ausgabe verwiesen (s. Anm. 31). In der Transkription wird der Schriftwechsel von deutscher Kurrent zu lateinischer Schreibschrift durch den Wechsel einer Serifen- zu einer serifenlosen Schrift wiedergegeben; Streichungen werden gestrichen, Unterstreichungen unterstrichen, Wiederherstellungspunkte unterpunktet dargestellt; Verschleifungen am Ende des Wortes grau gekennzeichnet; Einweisungszeichen schematisch wiedergegeben. Überschreib[ungen]ungen durch eckige Klammern und Kursivierung kenntlich gemacht. Nachträgliche Einfügungen werden durch fettere Typen (in zwei Stufen) hervorgehoben; sofern die nachträgliche Einfügung innerhalb einer Zeile stattgefunden hat, wird sie nicht durch fettere Typen, sondern durch ┌halbe eckige Klammern┐ kenntlich gemacht.
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Zweiter Entwurf Im zweiten überlieferten Entwurf, der dem Brief Hamanns an Jacobi vom 13. bis 15. Mai 1786 beigelegt war,40 lautet die Stelle:41
Bei der Abschrift der Periode ersetzt Hamann gegenüber dem letzten Überarbeitungsstand des ersten Entwurfs das dort nachträglich ergänzte Adjektiv „neuesten“ durch „jüngsten“ und fügt Anführungszeichen um das Psalm-Zitat hinzu. In der einzigen manuskriptinternen Überarbeitung nimmt er dann das gerade ersetzte „jüngsten“ durch Streichung wieder weg.
Dritter Entwurf Im dritten überlieferten Entwurf dieser Stelle, der auf Ende 1786 / Anfang 1787 datiert werden kann, überarbeitet Hamann die Stelle noch einmal intensiv:42
Die stärkste Änderung erfährt die Stelle bei dieser erneuten Abschrift dadurch, dass der ursprüngliche Satzbeginn durch mehrere Perioden ersetzt wird. Erst in der zweiten und v. a. dritten Periode erkennt man die ursprüngliche Stelle durch sprachliche Ähn–––––––— 40 41 42
ZH VI, S. 387–393 | JBW I 5, S. 203–208 (Anm. 2), sowie JBW II 5 (Anm. 11), S. 364. Vgl. die Photographie der Manuskriptseite in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 35-1, sowie Wild 1975 (Anm. 10), S. (34) [316]. Zur Transkription s. Anm. 39. Vgl. die Photographie der Manuskriptseite in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 45-4 und 45-5, sowie Wild 1975 (Anm. 10), S. (35) [317]. Zur Transkription s. Anm. 39.
Textrevisionen in Hamanns Fliegendem Brief
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lichkeit wieder. Diese umfangreiche Ersetzung des ursprünglichen Satz- und Absatzbeginns, die nun zusätzliche Anspielungen auf Lk 1,57–64, Mendelssohns Wahrheitsdefinition in seinen Morgenstunden,43 2Tim 4,14 und Lk 11,52 enthält, erfährt wiederum zahlreiche manuskriptinterne Revisionen (Ersetzungen und Wegnahmen), auf die ich an dieser Stelle jedoch nicht im Einzelnen eingehen möchte. Im ursprünglichen ‚Kernsatz‘ wird gegenüber dem vorhergehenden Entwurf das „und Diadem“ wieder getilgt und parallel zur oben erwähnten Streichung des Adjektivs „jüngsten“ nun auch das „ganzen“ weggelassen. Beide Adjektive wurden im selben Überarbeitungsschritt hinzugefügt. Die im zweiten Entwurf ergänzten Anführungszeichen um das Psalmzitat sowie dessen Quellenangabe fehlen in diesem dritten Entwurf. Der zu diesem hinführende Nebensatz „sondern es auch hier geheißen hat“ wird durch „sondern wie geschrieben steht“ ersetzt und damit der Schriftcharakter der biblischen Quellen betont.
Vierter Entwurf Den vierten überlieferten Entwurf zu dieser Stelle sandte Hamann als Beilage zum Brief vom 14./15. März 1787 an Jacobi:44
Erneut betreffen die offensichtlichsten Änderungen gegenüber dem dritten Entwurf zunächst den Absatzbeginn, wo Hamann den Bezug auf die Schilderung der Geburt Johannes’ des Täufers und der Problematik des ‚richtigen‘ Namens sowie den Verweis auf Mendelssohns Wahrheitsdefinition durch Anspielungen auf Leibniz’ Konzept der prästabilierten Harmonie sowie auf Horaz’ De arte poetica45 ersetzt. Im ursprünglichen ‚Kernsatz‘ wird der zum Psalmzitat hinführende Nebensatz „sondern –––––––— 43
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Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Erster Theil. Berlin 1785, S. 5–7. Vgl. auch Ders.: Schriften zur Philosophie und Ästhetik III,2. Bearb. von Leo Strauss. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974 (Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 3,2), S. 10. Vgl. die Photographie der Manuskriptseite in der ULB Münster: N. Hamann, Kapsel I 48-1, sowie Wild 1975 (Anm. 10), S. (35) [317]. Zur Transkription s. Anm. 39. Hor. ars 119. Vgl. Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und übers. v. Bernhard Kytzler. Stuttgart 2006, S. 636f.
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wie geschrieben steht:“ durch ein lakonisches „sondern alles:“ ersetzt; die Quellenangabe sowie die Anführungszeichen für Ps 137,7 werden wieder hinzugefügt. Darüber hinaus wird gegenüber sämtlichen vorangehenden Entwürfen in diesem letzten überlieferten Entwurf noch die Reihenfolge der Elemente der Syndese „so verstümmelt und so verheilt“ zu „so verheilt und so verstümmelt“ vertauscht. Die Unterscheidung der vier Änderungsweisen Hinzufügung, Wegnahme, Umstellung sowie Ersetzung kann nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in literarischen Handschriften als terminologisches Handwerkszeug zum Verstehen von Revisionsprozessen dienen. In Bezug auf die Materialien, die im Zusammenhang mit Hamanns Arbeit an seinem letzten Schreibprojekt Ein fliegender Brief überliefert sind, hat sich diese begriffliche Unterscheidung für mich bewährt: Sie ermöglicht eine differenzierte Beschreibung von Textrevisionen und bietet damit eine notwendige Grundlage für die interpretatorische Arbeit.
Winfried Woesler
Versionen von Dramentexten, dargestellt am Beispiel von A. M. Sprickmanns Der Schmuck
Es geht mir um die Veränderungen von Dramentexten. Ich will zunächst etwas Grundsätzliches sagen und dann am Beispiel von Sprickmanns Lustspiel Der Schmuck (Wien 1779, Münster 1780) ins Detail gehen.* Autorenversionen gibt es in allen Gattungen. Oft haben Dramendichter nach der Entstehungsphase ihre Texte noch geändert. Die Gründe sind vielfältig: Sie können ästhetischer Art sein, Goethe und Schiller zum Beispiel veränderten in kurzem Abstand die Prosatexte ihrer Dramen in Verse. Es können auch ideologische Gründe sein: Brecht stellte seinem Stück Der Jasager (1. und 2. Fassung, 1930) später den Neinsager (1931) zur Seite; die geschichtliche Entwicklung zwang denselben Autor seinen Galilei zu revidieren: Am Ende des Nationalsozialismus und angesichts der Nuklearbomben verlor die Figur des sich wegduckenden Wissenschaftlers für Brecht an Reiz. Es gibt darüber hinaus einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Lektüre und Theatererlebnis. Manche Dichter haben von Dramentexten bewusst zwei Versionen geschaffen: Eine, die als Buch erschien, und eine Bühnenfassung. Dürrenmatt sagt hierzu: „Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten“; er, der sehr oft seine Dramen änderte, unterscheidet von den inszenierten Texten eine „dichterische Fassung“; diese könne zum Beispiel „eine Zusammenfassung verschiedener Versionen“ sein.1 Die Buchfassung erschien früher sogar nicht selten erst nach der Uraufführung. Schiller wiederum veröffentlichte von der Jungfrau von Orleans zunächst einen Kalenderdruck (1801) als Lesefassung, diese hat zum Beispiel am Anfang den Hinweis des Autors, das Stück spiele in Frankreich „um 1430“, und in Akt II eine große historische Fußnote – was natürlich beides nicht bühnenwirksam ist. Später (1805) ließ er seine Theaterfassung ohne Jahreszahl und ohne diese Fußnote verbreiten.2 Dahinter steckten letztlich auch banale finanzielle Erwägungen. Die möchte ich eben–––––––— *
1 2
Vortrag gehalten am 19. Februar 2016 auf der von Wernfried und Andrea Hofmeister geleiteten Tagung „Textrevisionen“ der „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition“ in Graz. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Vgl. Friedrich Dürrenmatt: Allgemeine Anmerkungen zu der Endfassung 1980 meiner Komödien. In: F. D.: Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Bd. 5. Zürich 1998. [Vorbemerkung]. Theater von Schiller. Die Huldigung der Künste. Don Karlos. Die Jungfrau von Orleans. Tübingen 1805. – Zitiert wird im Folgendem nach: Schillers Werke: Nationalausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen [...]. Hrsg. von Norbert Oellers, Redaktor: Georg Kurscheidt. Bd. 9, Neue Ausgabe, Teil II: Die Jungfrau von Orleans, hrsg. v. Winfried Woesler unter Mitarbeit von Christine Hellmich mit einem Beitrag von Beate Agnes Schmidt. Weimar 2012 (NA 9 II).
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falls bei anderen Autoren, z. B. für einige Theaterfassungen Dürrenmatts, unterstellen. Interessant ist übrigens, dass Schiller den Sprechtext in beiden Fassungen, von Kleinigkeiten abgesehen, unverändert ließ. In einem gewichtigeren Punkt allerdings weicht die Druckfassung der Jungfrau von Orleans von der ersten Bühnenfassung ab: Erstere hat eine Szene (III, 1) mehr, die Schiller – wohl auf Anraten Goethes – zur besseren Begründung des Geschehens noch nachträglich an den Verleger geschickt hatte. Um ein Bühnenstück lebendig zu halten, muss es immer wieder neu inszeniert werden. Es bedarf der aktuellen Neuinterpretation und damit der Revision. Die Autoren selbst können veränderte Neuauflagen veranlassen, manche dulden sogar, dass verschiedene Fassungen nebeneinander gespielt werden. Ein Punkt ist in der Editionswissenschaft m. E. bisher zu wenig beachtet worden: Viele Autoren haben schon vor dem Erscheinen des Druckes Bühnenmanuskripte aus der Hand gegeben, wodurch ermöglicht wurde, dass die Theater zeitnah zum Erscheinen im Buchhandel oder schon vorher mit einer Inszenierung aufwarten konnten. Das heißt, die Texte der Erstaufführungen können einen anderen, älteren autorisierten Stand des Werkes repräsentieren als die Erstdrucke. Der Autor kann nämlich noch unabhängig vom Beginn der Proben an seinem Text – zum Beispiel in den Fahnen – weiterarbeiten. Wie gesagt, diese frühen Bühnenmanuskripte sind bislang kaum in den Blick der Germanisten geraten – und sie sind längst nicht alle verschollen. Diese, wie auch spätere Bühnenmanuskripte, können für die Rezeptionsgeschichte eine Bedeutung haben, weil sie keineswegs selten selbst nach Vorliegen des Druckes noch an andere Bühnen weitergegeben und so noch jahrelang verwendet wurden. Neben den verschiedenen Versionen der Autoren gab es im 18. und 19. Jahrhundert auch Fremdeingriffe, besonders staatlicherseits, die Eingriffe der Zensoren. Über die Zensur im 18. Jahrhundert hat uns ausführlich Bodo Plachta informiert.3 Sie betraf besonders die Bereiche Politik, Religion, Moral. Stärker als Bücher waren Theateraufführungen betroffen, denen die Obrigkeit eine größere Öffentlichkeitswirksamkeit zutraute. Oft brauchte der Zensor gar nicht direkt einzugreifen, es wirkte schon vorher die ,Schere‘ im Kopf, und zwar sowohl beim Autor als auch beim Regisseur. Als zum Beispiel der Leipziger Theatermanager Christian Wilhelm Opitz die Uraufführung der Jungfrau von Orleans (1801) vorbereitete, hat er angesichts der strengen Zensur die Rolle des Erzbischofs von Reims mit Rücksicht auf das katholische sächsische Königshaus in die eines Seneschall verwandelt,4 was dann auch später noch von mehreren Bühnen außerhalb des sächsischen Königreichs übernommen wurde. Und die Autoren fügten sich. Wie gingen sie sonst mit der Zensur um? Sie konnten dasselbe sagen, nur geschickter, es hieß, Zensur verfeinere den Stil. Im deutschen Sprachraum gab es noch –––––––— 3 4
Bodo Plachta: Damnatur, Toleratur, Admittitur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1994 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 43). So schreibt Christian Wilhelm Opitz an Schiller am 1. August 1801 (NA 39 I, 96): „ob Sie es wol genehmigen würden, wenn der Erzbischof von Rheims, nicht in d i e s e r , sondern in einer etwas untergeordnetern Würde auf unserm Theater erschiene.“
Versionen von Dramentexten, dargestellt am Beispiel von A. M. Sprickmanns ‚Der Schmuck‘
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eine andere Möglichkeit: Man wich in ein anderes Territorium aus. Zensurbedingte Eingriffe wirkten aber oft auch dort nach. Die Eingriffe betrafen vielfach Nebensächlichkeiten, seltener den Kern. Wedekinds Stücke wurden dagegen z. T. so entstellt, dass man sie heute in dieser verfremdeten Form nicht mehr drucken möchte. Der Wiener Zensor änderte den Titel von Schillers Jungfrau von Orleans wohl mit Rücksicht auf die Jungfrau Maria in Jeanne d’Arc. Der Name Schiller wurde in Wien übrigens auf den Theaterzetteln unterdrückt.
Veränderungen anlässlich von Aufführungen Viele Autoren wirkten an den Inszenierungen ihrer Stücke selbst mit. Kaum ein Regisseur akzeptiert einen Bühnentext so, wie er ihm vorliegt; und es kommt – wenn der Autor beteiligt ist oder konsultiert wird – sogar zu autorisierten Eingriffen. Schiller zum Beispiel schrieb für die Hauptdarstellerin der Jungfrau von Orleans in Weimar, Amalie Malcolmi, auf deren Wunsch einige Verse hinzu. Diese Verse galten natürlich nur für diese Inszenierung, nicht für spätere. Mit dem Einverständnis Schillers wurden zum Beispiel in Hamburg die – ethisch problematischen – drei Montgomery-Szenen gestrichen: Die Jungfrau fordert den jungen Engländer, der sich ergeben hat, erneut zum Kampf auf und tötet ihn. Solche drastischen Eingriffe erlaubten sich die Regisseure sogar ohne Rücksprache mit dem Autor. Denn mit der Bühnenfassung oder dem Druck hatte dieser damals das Stück rechtlich aus der Hand gegeben. Ein Regisseur wird zwar heute kaum Text hinzudichten, aber er wird insbesondere streichen und zusammenlegen, etwa Szenen und Personen, und nicht selten müssen die Übergänge neu formuliert werden. Eine Menge von Regie-Eingriffen kann man ohne Weiteres als Revision bezeichnen. Fast jede Neuinszenierung ändert, schon durch die Kulissen und Akzidenzien; Iphigenie z. B. saß bei Peymann in Bochum mit einer Schreibmaschine auf der Bühne. Doch wir wollen uns hier auf Texteingriffe beschränken. Heute können auch die Erben der Autoren auf Urheberrechte pochen, das war bei älteren Texten noch nicht der Fall. Peymann zum Beispiel, der den Zuschauern ein Textheft der Iphigenie an die Hand gab, in dem all seine Streichungen markiert waren, hatte dadurch entgegen der Intention Goethes den Sprachrhythmus des Blankverses wieder der Prosa angeglichen.
Zum konkreten Beispiel: Sprickmanns Der Schmuck Es handelt sich um ein Familien- und Heiratsstück im Stil der Comédie larmoyante. Der Erstdruck (D1) erschien 1779 in Wien, nachdem das Stück bei einem Wettbewerb den ersten Preis der dortigen Theaterkommission erhalten hatte. Am 20. November 1779 erfolgte die Uraufführung am Kaiserlich-königlichen Theater. Der Erstdruck war der Wiener Zensur unterworfen worden. Über das Ergebnis war der Autor so empört, dass er sich entschloss, seinen Text in Münster 1780 erneut drucken zu lassen (D2),5 er nannte den zweiten Druck „Originalausgabe“.6 Übrigens sind beide Versio–––––––— 5
Zitiert wird im Folgenden, falls nicht anders angegeben, nach D2.
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nen des Stückes weiterhin gespielt worden, zum Beispiel in Hamburg, Weimar und Berlin noch Jahre später in der Wiener Fassung. Der Schmuck war in beiden Versionen sehr erfolgreich. Es wurden zahlreiche Inszenierungen bis 1808 ermittelt, z. T. mit vielen Aufführungen. Außerdem hat Kim Schmidt (Osnabrück) noch drei Bühnenmanuskripte gefunden: Zwei in Wien (W1 und W2), eins in Hamburg (S). Dazu später. Die jüngere Originalausgabe D2 bietet also den ursprünglicheren Text, d. h. der Erstdruck ist eine Revision des eingereichten Originals, das wir heute nur in der Gestalt des Zweitdruckes kennen. Der Zensor Gottlieb Stephanie d. J. trat selbst auch bei den ersten Aufführungen sogar selbst als Schauspieler auf. Der Druck von D1 ist nicht sorgfältig durchgesehen, wie zahlreiche Druckfehler zeigen. Dem Schreiber oder Zensor unterlaufen wenige regionale Eigenheiten: z. B. heißt es: er lauft, er verlauft. Doch auch ein niederländisches/niederdeutsches Wort Sprickmanns wie Nabarschaft wird in Nachbarschaft ‚korrigiert‘, sein Cofee in Cafe. Bei der Überarbeitung von Bühnenmanuskripten können Kürzungen vorgenommen werden. Dies ist bei D1 allerdings nur in ganz geringem Maße der Fall. Stephanie geht es meist um Streichung von Ausdrücken und Formulierungen. Oft versucht er auch Ersatzformulierungen zu finden, sogar bei längeren Passagen, damit der Umfang nicht beeinträchtigt wird,. Umgekehrt gestattet sich der Zensor auch kleine Eingriffe. Die ‚Wort-Höflichkeit‘ ist in Wien offenbar ein größeres Gebot als im Münsterland, womit wohl die Zurückdrängung – manchmal Ausmerzung – einiger deftiger Ausdrücke zu erklären ist. Ein markiger Satz des Vaters an seine Tochter (S. 102): krepier in der Schindgrube wird in Wien gemildert: komm um auf dem freyen Felde, oder in irgendeiner Grube! Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass Sprickmann dem ‚Sturm und Drang‘ nahe stand, der ja keine Auswirkungen in Österreich hatte.7 Die für den ‚Sturm und Drang‘ typischen Interjektionen im Drama werden aber kaum zurückgedrängt, jedoch die Endlossätze Sprickmanns durch eine neue Interpunktion zerkleinert. Von den drei von der Zensur genauer beargwöhnten Bereichen Politik, Religion, Moral bietet der erste bei Sprickmann keinerlei Angriffsfläche, sieht man davon ab, dass regelmäßig das Wort Regierung durch Justiz und einmal Thron durch Macht ersetzt wird. Viele, aber nicht gravierende Eingriffe gibt es im Bereich der Religion;8 das Wort Gott wird oft – keineswegs immer – gestrichen, also statt um Gotteswillen heißt es um Himmelswillen, gestrichen wird Katechismus und Pfaffengeschwätz. Am Schluss gehen die Paare zur Hochzeit nicht in die Kirche, sondern nur zur Trauung. –––––––— 6
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Der Zensor Gottlieb Stephanie d. J. hatte allerdings für seine Revisionsarbeit die Zustimmung Sprickmanns erhalten; dieser schrieb missmutig an Heinrich Boie am 16. Juli 1779: „ich habe sie [die Verbesserungen] noch nicht gesehen; das weiß ich aber doch wol, daß ich nicht zufrieden damit seyn kann. ich wünsche also wol, das Stück so drucken zu lassen anderswo, wieʼs mein Stück ist. ich hab mir das ausdrücklich vorbehalten, eh ich ins B e s s e r n einwilligte?“ Zitiert nach: Jochen Grywatsch (Hrsg.): „... ewig in diesem Himmel die Hölle leiden“. Anton Mathias Sprickmann – Heinrich Boie. Briefwechsel 1775–1782. Bielefeld 2008 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. 30. Texte. 12), S. 97. Solche stilistischen Eingriffe sind damals in Wien auch unter dem Aspekt der Sprachpflege zu sehen. Manchmal genügte eine Wortauslassung: statt S. 111 „Engel des Herrn“ heißt es einfach „Engel“. Wortersetzungen sind häufiger.
Versionen von Dramentexten, dargestellt am Beispiel von A. M. Sprickmanns ‚Der Schmuck‘
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Auch der erste Vers des Vaterunsers darf nicht zitiert werden und auf der Bühne kein Schauspieler eine Gebetshaltung einnehmen. Am unverdrossensten stutzt der Zensor ‚unmoralische‘ Auswüchse, offensichtlich in dem Bestreben, junge Zuschauerinnen vor zu großer Sinnlichkeit zu schützen. So küssen sich die Liebenden nicht, sondern umarmen einander. Gestrichen wird die Lippen zum Küssen, zum Küssen. Verkürzt wird (S. 7) das ist Ihnen ein Schmachten da aus den Augen heraus zu das sind mir Augen. Ich verzichte auf weitere Beispiele, nur eines noch: Aus der Regiebemerkung (S. 99) der Vater nimmt seine Tochter auf den Schoos wird setzt sie auf einen Stuhl neben sich. Ein gravierender Eingriff Stephanies im Bereich der Moral empörte besonders. In Wien durfte keine uneheliche Mutter auf der Bühne stehen, der wichtigen weiblichen Figur Louise wurde stattdessen von Stephanie ein anderer – für die damalige bürgerliche Gesellschaft kaum minderer (?) – Fehler angehängt, sie hatte einen Diebstahl begangen: Sie war dem Vater entlaufen, nachdem sie ihm 1000 Dukaten entwendet hatte, um ihrem Geliebten zu helfen. Im Grunde wurde damit das Stück entkernt, denn Sprickmann hatte darin das Thema des damals modernen Bürgerlichen Trauerspiels bzw. des englischen Familienromans aufgegriffen: Ein Herr verführt ein Mädchen, dieses entläuft seinem Vater, bekommt ein Kind und endet tragisch. Sprickmann hatte aber diesem Stoff – wie schon vorher Lenz in Der Hofmeister – einen versöhnlicheren Schluss gegeben. Der Verführer Friz heiratet schließlich das Mädchen Louise; so wurde das Trauerspiel zur Komödie. Da das Thema des unehelichen Kindes wohl nicht nur dem Zensor, sondern auch dem Wiener Publikum zu viel war, veränderte Stephanie – wie gesagt – die Figur der ‚verführten Unschuld‘ in die einer Diebin. Konsequent sind von ihm als Zensor alle Stellen, die auf das nach damaligen Vorstellungen unmoralische Verhalten Louises hinweisen, verändert oder gestrichen und – was den Diebstahl angeht – mit neuem Text versehen. Umso weniger plausibel – zumindest für uns – wirken jetzt die exaltierten Klagen des Vaters. Sprickmanns Urteil war hart, er schreibt an Heinrich Boie am 16. Juli 1779: „ich habe mir müssen gefallen laßen, daß Herr Stephanie das Stück verbessert hat. Schwangere Mädchen werden auf Wiens keuscher Bühne nicht gut gethan.“9 Als Sprickmann 1780 in Münster den unzensierten Text veröffentlicht hatte, schrieb ihm Sophie von La Roche im August: „Ihr S c h m u k ist mir recht werth u[nd] Dank sey Ihnen das Sie es liessen wie es aus Ihrer feeder kam Luise zur Diebin zu machen – u[nd] nicht lassen wie man sie fand das ist ja caracteristisch –“.10 Eine größere Kürzung betrifft auch ein Zitat Sprickmanns aus Goethes Singspiel Erwin und Elmire, das in Wien nur in einer Bearbeitung aufgeführt werden durfte;11 mag sein, dass darin zu viel von Liebe die Rede war. Interessant sind gerade auch Stephanies Änderungen, die nicht in das engere Gebiet der Zensur fallen. Der selbstbewusste Stephanie hat sich bei seiner Revision nicht an die von Sprickmann verwendete Orthographie und Interpunktion des Originals ge–––––––— 9 10 11
Zitiert nach Grywatsch 2008 (Anm. 6), S. 97. Zitiert nach Heinz Jansen: Sophie von La Roche im Verkehr mit dem geistigen Münsterland. Münster 1931, S. 65. Vgl. Plachta 1994 (Anm. 3), S. 180.
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halten. Ohne Skrupel gestattete er sich auch geringfügige Eingriffe in den Wortlaut, sei es absichtlich oder aus Unbekümmertheit. Er ändert z. B. in den Sprecherrollen die Namen des Präsidenten Wiesenthal in Rebenthal, des Gastwirts Kappler in Wippler und dessen Frau Ursel in Ursul, ohne dass sich ein Grund dafür ausmachen ließe. Einmal, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, ändert er gar Sprickmanns Wort verdrießlich (S. 5) in die entrundete Form verdrüßlich und wenige Zeilen später umgekehrt Sprickmanns verdrüßlich (S. 6) in verdrießlich. Schwerer wiegen einige massivere Eingriffe wie Neuformulierungen. Skrupel wegen einer Verletzung der Urheberrechte kennt er nicht. Den Text Sprickmanns betrachtet er fast als eine herrenlose Sache, in die er nach Gutdünken eingreifen darf. Es scheint, als wolle er seinerseits insgesamt eine weiter gehende Umarbeitung, als sie tatsächlich vorliegt, vortäuschen. Möglicherweise fühlte er sich durch den Auftrag, das Zensorenamt auszuüben, selbstbewusst, glaubte dadurch eine Position über dem Autor einnehmen zu können. Er betrachtete die Neufassung wohl auch als sein Werk. Die Revision eines Dramentextes durch den Zensor ist nicht die einzige fremdbestimmte. In der Praxis wird für jede Inszenierung der Text durch den Regisseur verändert. Nur hat man sich um diese Zeugnisse bisher wenig gekümmert. Sie liegen vor in Regiebüchern, Inspektionsbüchern, Soufflierbüchern, Rollenmanuskripten. Um sie zu finden, ist meist eine flächendeckende Recherche an allen Orten im deutschsprachigen Raum sinnvoll, an denen die Stücke zu Lebzeiten eines Autors aufgeführt wurden, also besonders in deren Theaterbibliotheken und Archiven. Ich habe das für Schillers Jungfrau von Orleans versucht. Im Falle des Schmucks war – wie bereits erwähnt – Kim Schmidt bereit, diese Arbeit zu machen. Sie fand ein Soufflierbuch in Hamburg (S) und zwei Bühnenmanuskripte in Wien (W1, W2), dort Zensurbuch und Soufflierbuch genannt, was mich nicht ganz überzeugt – aber Bühnenmanuskripte können auch unterschiedliche Funktionen gehabt haben. Alle drei beruhen auf dem zensierten Druck von 1779 (D1). Dazu einige allgemeine Anmerkungen: Maßgebend für jede Inszenierung ist das Regiebuch mit den Anweisungen des Regisseurs. Die Vorlage der anderen Bühnenmanuskripte war grundsätzlich entweder das Regiebuch oder eine Abschrift davon, wohl nur selten der Druck selbst. Neben dieser ersten Revision gibt es gelegentlich noch weitere; der Regisseur sieht während des Einstudierens das für ihn abgeschriebene Regiebuch noch einmal eingreifend durch. Ein handschriftliches Regiebuch diente nicht nur mehreren Aufführungen, sondern möglicherweise mehreren Inszenierungen – etwa wenn der Regisseur wechselte. Dann wurden neue Änderungen eingetragen, die den gespielten Text u. U. immer etwas weiter vom Autor entfernten. Im Fall des Hamburger Inspektionsbuches der Jungfrau von Orleans ließen sich selbst in jahrelanger Kleinarbeit nicht mehr alle nachträglich eingreifenden Hände richtig zuordnen.12 –––––––— 12
Vgl. Christine Hellmich: Die Hamburger Bühnenmanuskripte von Schillers Drama „Die Jungfrau von Orleans“. Bern 2014 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 7).
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Hier sei ein editionswissenschaftlicher Einschub gestattet. Die Materialität der Zeugen, die uns Editoren so oft beschäftigt, ist nämlich bei Bühnenmanuskripten uninteressant geworden: Schreibstoff, Papierformat, Papiersorte interessieren nicht mehr. Schreiberkorrekturen sind so gut wie uninteressant, es geht nur um das gesprochene Wort – das Akustische; Regiebemerkungen z. B. sind häufig gekürzt. Den meisten Bühnenmanuskripten ist eigen, dass sie die Orthographie und die Interpunktion vernachlässigen. Füllwörter können wegfallen oder eingefügt, schwer verständliche Wörter durch bekanntere ersetzt werden. Wenn der Regisseur sich schon größere Eingriffe erlaubt, kommt es auch den Abschreibern und den Schauspielern auf philologische Kleinigkeiten nicht mehr an. Das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts war ja auch vom Kampf gegen das Stegreifspielen bestimmt: hier zogen übrigens einmal Politik und anspruchsvolle Literaten an einem Stricke. Ungebundene Rede verführt die Abschreiber von Bühnenmanuskripten schon zu einem etwas sorglosen Umgang mit dem Text. Hinzu kam, dass den Komödianten bei ungebundener Rede das Improvisieren kaum zu untersagen war. In einem Punkt freilich liefern viele Bühnenmanuskripte gegenüber den Drucken zusätzliche Informationen: Von den Schauspielern – entsprechend der Inszenierung – zu betonende Wörter, Passagen sind hervorgehoben, meist durch Unterstreichungen. Solche Eigenarten sind auch für die Bühnenmanuskripte des Schmucks charakteristisch. Die beiden Wiener Bühnenmanuskripte, gehen auf den zensierten Erstdruck zurück, wahrscheinlich wurden in ein verlorenes Exemplar von D1, also D1*, die Varianten für die Bühnenmanuskripte eingetragen. W2 dürfte eine 1808 ausgeführte Abschrift von W1 sein. W1 und W2 zeigen D1 gegenüber viele gemeinsame, inhaltlich aber wenig relevante Abweichungen. Zu Beginn des 2. Auftritts von Aufzug II z. B. lautet die einleitende Aufzählung der auftretenden Personen in D1 und D2 : Karl, ein Bedienter, Franziska an der Thür. In W1 aber: Ein anderer Bedienter. Karl. Franziska an der Seitenthür horchend und entsprechend in W2: Ein anderer Bedienter. Carl. Franzisca an der Seitenthür horchend. Das Hamburger Soufflierbuch (S) beruht – wie gesagt – ebenfalls auf D1. Die größten Eingriffe der Regisseure sind seit je Kürzungen. Im Hamburger Soufflierbuch hat das Stück nur vier Akte. Auch in Hamburg war seit dem 17. 12. 1779 bis 1784 die zensierte fünfaktige Fassung gespielt worden. Der berühmte und für den großen zeitgenössischen Erfolg des Stückes verantwortliche Schauspieler und Theaterprinzipal Friedrich Ludwig Schröder spielte vielerorts die Rolle des Vaters Wegfort. Er selbst übernahm am 19. 4. 1786 die Direktion des Hamburger Theaters und schon am 3. Mai erfolgte dort die erste Aufführung in vier Akten. Diese Entfernung von Sprickmanns Text ist aber keineswegs nur ein Nachteil. So wurden dort z. B. Nebenhandlungen, die Schilderung von Karls Befindlichkeiten und seiner geplanten Italienreise, Franziskas Reflexionen, entscheidend gekürzt, sodass insgesamt die Handlung gestrafft erscheint. Eine Verbindung gibt es insofern zwischen den verschiedenen Inszenierungen, als Schröder schon am 2. Mai 1780 auch in Wien die Rolle des Wegfort übernommen hatte. Schröder zog dann mit dieser Rolle übrigens wieder im Juli nach Hamburg und von dort 1781 über Berlin, wo dann auch die von D1 abgeleitete vieraktige Fassung gespielt wurde, also zu einer Zeit, als die „Originalfassung“ längst erschienen war,
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nach Wien weiter. In Weimar war 1784, 1785, 1788 die entstellte/zensierte Fassung D1 gespielt worden, und zwar von der Bellmonoischen Truppe, die auch noch woanders auftrat. Erst 1800 wurde in Weimar unter der Theaterintendanz Goethes das Drama nach der „Originalausgabe“ aufgeführt. Das Hamburger Soufflierbuch war das Handexemplar Schröders, darin finden sich – vornehmlich in den Sprechpartien des Wegfort – eigene handschriftliche Textänderungen.13 Beobachten wir einige dieser Veränderungen: Auf S. 72 streicht er ja, siehst du; er kürzt und formuliert um; ebenfalls auf S. 72 ersetzt er das im Norden nicht gebräuchliche Schimpfwort Pudel durch Teufel; auf S. 72f. kürzt er die Passage: Teufel, wenn Du darüber sterben sollst zu Teufel. Er pointiert: Der Hauptmann von Wegfort sagt nicht, wie in den Drucken I, 9: Ja, ja der Hauptmann von Wegfort, der bin ich, sondern bühnenwirksamer: Ja, ja der Hauptmann von Wegfort. Aus einem schwachen I, 9: Und wie es ist, wird ein Nicht wie es scheint, wie es ist. S ‚korrigiert‘ natürlich nicht nur Sprickmanns Text, sondern – seltener – auch die von Stephanie formulierten Passagen, zum Beispiel: Als Wegfort Louise als ein ehrlich Mädchen (S. 70) anredet, weist sie das bei Stephanie zurück: Das bin ich nicht. Theatralisch wirksamer schreibt Schröder das bin ich. Während Stephanies Eingreifen insgesamt wohl auch seiner Eitelkeit diente, kommt es Schröder darauf an, den Wortlaut des Stückes zum Bühnenwirksameren zu verändern. Manche stilistischen Abweichungen vom Autortext sind also nicht als eine Verschlechterung zu bewerten, sondern als Verbesserung eines Spieltextes. Bei anderen Gattungen, z. B. epischen Texten, wurde bei Nachdrucken und Neuauflagen mit abnehmender oder auch ohne Mitwirkung des Autors von einer allmählichen ‚Verwitterung‘ gesprochen. Das ist beim Schmuck nicht der Fall, denn das große Interesse an diesem Stück erlosch schon bald mit der letzten ermittelten Aufführung 1808 in Wien. Bei den Dramen der Klassiker besteht heute das Problem der Verwitterung ebenfalls nicht, weil Regisseure meist auf die autorisierten Drucke zurückgreifen und sie jeweils neu interpretieren, gegebenenfalls stellenweise auch umformulieren. Am Schluss möchte ich einige m. E. editionswissenschaftlich interessante Punkte zusammenfassen: 1. Druck- und Bühnenfassung können zwei Textversionen sein. 2. Stücke unterliegen bei Neuinszenierungen in der Regel Veränderungen. 3. Bei Inszenierungen zu Lebzeiten ist manchmal mit einer Einflussnahme des Autors auf den Spieltext zu rechnen, die aber in der Regel nicht dauerhaft gilt. 4. Bühnenmanuskripte zu Lebzeiten des Autors sind für die Forschung wichtig, mag ihr Text auch im Vergleich zum Autortext weniger zuverlässig sein. 5. Für Bühnenmanuskripte gelten andere editorische Prinzipien als für WerkHandschriften. –––––––— 13
Freundliche Auskunft von Jürgen Neubacher in der Handschriftenabteilung der SUB Hamburg an Kim Schmidt.
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6. Die Rezeption in der zeitgenössischen Kritik stützt sich u. U. auf eine Version, die mehr oder weniger weit von dem heute maßgebenden Druck entfernt ist. 7. Manche Veränderungen, die ein Theaterpraktiker im Autor-Text vornimmt, sind Verbesserungen.
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„Ausstreichungen Einschaltungen etc.“ Zur Typologie der Textrevisionen in Adalbert Stifters Der Nachsommer Johannes John zum 16. Februar 2017 Die mittlerweile 36 Bände umfassende Historisch-Kritische Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters1 ist eine im vor-digitalen Zeitalter konzipierte und begonnene ,klassische‘ Buch-Edition.2 Bei der editorischen Bewältigung der umfangreichen und komplexen handschriftlichen Überlieferung sind die Grenzen herkömmlicher Apparatmodelle sehr bald deutlich geworden, so dass es flexible Editionsformen zu entwickeln galt, die auch im Medium Buch eine gleichzeitig überlieferungsadäquate und – relativ – einfach benutzbare Darstellung der Textgenese ermöglichen. Für den Nachsommer ist eine Mischform gewählt worden: Ein Werkstellenapparat erfasst die Varianz zwischen der handschriftlichen Satzvorlage H und dem Text der Erstausgabe, in einem integralen Apparat werden die ausgeschiedenen Handschriftenseiten (die sogenannten ‚Abgelegten Blätter‘) sowie die Anmerkungen ediert, in denen Stifter einzelne Stichwörter, Probeformulierungen und arbeitsorganisatorische metatextuelle Notizen festgehalten hat.3 Die Revisionsprozesse werden in beiden Apparaten mit einem notwendigerweise komplexitätsreduzierenden Zeichensystem4 dargestellt, in dem beispielsweise auf Positionsangaben verzichtet wird. Eine Überprüfung der editorischen Entscheidungen wird durch die auf einer beigelegten CD-ROM sowie im Internet verfügbaren Digitalisate der Autorhandschriften ermöglicht. –––––––— 1
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Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere Deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald [seit 2001: Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte]. Stuttgart [u. a.] 1978ff. Künftig: HKG. Nachdem am 27. November 1964 auf einer Auktion bei Hauswedell in Hamburg ein großer Teil des handschriftlichen Nachlasses von Adalbert Stifter versteigert wurde und von der Bayerischen Staatsbibliothek in München sowie dem Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich in Linz erworben werden konnte, wurde 1968 auf einem Stifter-Symposion im österreichischen Bad Hall die Erarbeitung einer historisch-kritischen Gesamtausgabe beschlossen. Vgl. im Einzelnen Jens Stüben: Stifter-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 403–431, hier 406f. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Apparat. Von Walter Hettche (HKG 4,4 und 4,5, Stuttgart 2014). Für den vorliegenden Beitrag sind nur die folgenden Zeichen relevant: [abc] Streichung [[[abc]] def] Streichung innerhalb eines gestrichenen Textes [abc] Soforttilgung Streichung mit Bleistift [abc]b ┌ abc┐ Einfügung ┌ [abc]┐ Gestrichene Einfügung
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Korrekturen vs. Revisionen In einem Brief an seinen Verleger Gustav Heckenast vom 21. Dezember 1861 schildert Stifter während der Arbeit am Witiko seine schriftstellerische Verfahrensweise: Zuerst Hauptidee im Gedanken, 2. Ausarbeitung von Einzelheiten in Gedanken 3. Abriß von Einzelheiten Säzen Ausdrüken Scenen auf lauter einzelnen Zetteln mit Bleistift. (Hiezu müssen die erlesensten Stunden benüzt werden) 4. Textirung mit Dinte auf Papier. 5. Durchsicht dieser Textirung nach einiger Zeit mit viel Ausstreichungen Einschaltungen etc. 6. Durchsicht der Durchsicht nach geraumer Zeit. Verschmelzung mit dem Ganzen. Reinschrift.5
Stifters nicht schriftlich fixierte „Gedanken“ entziehen sich naturgemäß unserer Beobachtung, aber auch von den papierenen Zeugen des Produktionsprozesses ist nicht alles erhalten geblieben. Die Handschriften zum Nachsommer sind ausschließlich den Punkten 4 bis 6 dieses Ablaufplans zuzuordnen; die in den „erlesensten Stunden“ entstandenen einzelnen Zettel sind nicht überliefert. Andererseits gibt es unter den Handschriften des Nachsommer wie schon im Fall der Bunten Steine6 eine Gruppe von Textträgern, die Stifter in seiner Liste gar nicht erwähnt, nämlich die 98 Seiten umfassenden Anmerkungen während des Schreibens des Nachsommers. Während die 233 Seiten der eigenhändigen Satzvorlage und die im Arbeitsprozess aussortierten ‚Abgelegten Blätter‘ bereits an verschiedenen Orten genauer vorgestellt und analysiert wurden,7 konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf einige Spezifika der handschriftlichen Überlieferung, nämlich zum einen auf die Korrekturen und Revisionen innerhalb der handschriftlichen Druckvorlage und der ‚Abgelegten Blätter‘, zum andern auf die Funktion der Anmerkungen. Dabei verwenden wir in der Stifter-Edition den Begriff ‚Revision‘ – der anglistischen Terminologie folgend – für die „textverändernde auktoriale Überarbeitung“, im Gegensatz zur Korrektur, die „nur Behebungen von Überlieferungsverderbnis“ (und von Verschreibungen) meint.8 Revisionen generieren neue Textfassungen, Korrekturen dagegen nicht; das ist der kategoriale Unterschied zwischen den beiden Operationen. Alternativ könnte man mit Klaus Hurlebusch statt von ‚Revision‘ auch von ‚Variation‘ sprechen; entscheidend ist, dass der KorrekturBegriff nur noch in der genannten engen Bedeutung verstanden wird.9 –––––––— 5
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Adalbert Stifters sämmtliche Werke. Bd. 20: Briefwechsel. Mit Benutzung der Vorarbeiten von Adalbert Horcicka hrsg. von Gustav Wilhelm. Prag 1925 [Prag-Reichenberger Ausgabe], S. 65. – Zitate aus dieser Ausgabe künftig mit der Sigle PRA, Band- und Seitenzahl. Vgl. Adalbert Stifter: Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil II. Von Walter Hettche (HKG 2,4, Stuttgart [u. a.] 1995), S. 235–323, sowie Walter Hettche: „... die lezte Ausfeile ist das feinste, und bedingt die Schönheit allein.“ Stifters Arbeit an den „Bunten Steinen“ und ihre Dokumentation in der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe. In: Germanistische Mitteilungen/VASILO 1994, S. 77–85, und Walter Hettche: Fassungen des Autors und Materialien des Erzählers: Die Textzeugen zu Stifters Granit und Bergmilch. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes 4, 1997 [erschienen 2000], S. 36–44. Zuletzt ausführlich in HKG 4,4, S. 30–59. Vgl. Hans Walter Gabler: Optionen und Lösungen: Zur kritischen und synoptischen Edition von James Joyces „Ulysses“. In: editio 9, 1995, S. 179–213, hier 182, Anm. 8. Zu diesen terminologischen Fragen vgl. grundsätzlich Rüdiger Nutt-Kofoth: Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zur Terminologie und Editionspraxis in der Neugermanistik. In: Editorische Begriff-
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Revisionen (oder ‚Variationen‘) im engeren Sinn sind das Ergebnis späterer ReLektüre, wobei ,später‘ einen beliebigen Zeitraum meinen kann. Entscheidend für die Identifikation des Zeitpunkts eines Überarbeitungsschritts als ‚spät‘ ist die Position der Notate: Jede Texterweiterung oder Textersetzung, die interlinear, am Rand, auf der Rückseite oder auf beigelegten Blättern erfolgt, gilt in der Stifter-Ausgabe als ,spät‘; ,sofort‘ sind alle auf Zeilenniveau currente calamo durchgeführte Tilgungen, Ersetzungen etc. In diesem Verständnis gibt es auch ‚Spätkorrekturen‘, also die Berichtigung von Schreibversehen, die erst bei einer späteren Lektüre erkannt und zum Beispiel interlinear berichtigt werden. Henning Boetius hat zur genaueren Differenzierung den Begriff „Baldkorrektur“ eingeführt, mit dem er „all jene Änderungen an Wörtern“ meint, „deren Folgetext auf der Grundstufe noch relativ kurz ist“;10 im Internet-Editionslexikon edlex wird der Terminus definiert als „Korrektur, die bei der Niederschrift erfolgt ist, bevor der Text abgeschlossen wurde.“11 Wegen der semantischen Unschärfe, die sich schon im Gebrauch des Zeitadverbs ‚bald‘ und in der Umfangsangabe „noch relativ kurz“ niederschlägt, scheint der Begriff kaum praktikabel, zumal es nahezu unmöglich sein dürfte, zu bestimmen, ob eine Textänderung vor oder nach Abschluss des Textes vorgenommen wurde – ganz abgesehen von der Frage, ob ein Text überhaupt als „abgeschlossen“ bezeichnet werden kann, solange daran noch „Korrekturen“ vorgenommen werden. Mit der Unterscheidung zwischen ‚Korrektur‘ und ‚Revision‘ beziehungsweise ‚Variation‘ wird nicht zuletzt auch die Reichweite des Begriffs ‚Sofortkorrektur‘ eingeschränkt. Unter ‚Sofortkorrektur‘ werden nach der Definition von Bodo Plachta immer noch ausnahmslos alle Textänderungen subsumiert, „die bei der unmittelbaren Niederschrift erfolgt“ sind, „und zwar noch vor der Niederschrift des auf die Sofortkorrektur folgenden Textes“,12 also auch solche, die nicht bloß Schreibfehler korrigieren, sondern den Text lexikalisch, grammatisch, oder auch nur orthografisch verändern. Ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel von vielen: „belebte jedes Angesicht] Sofortkorrektur aus Bestärkt der Mattesten Brust“ (Gellert).13 Derart massive Änderungen sollte man fortan als Sofortrevisionen oder Sofortvariationen bezeichnen, aber keinesfalls mehr als Sofortkorrekturen. Bei Stifter – einem Autor, der in seinen als Satzvorlage gedachten Manuskripten grundsätzlich auf ein möglichst sauberes und gut lesbares Schriftbild achtet – be–––––––—
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lichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Hrsg. von Gunter Martens. Berlin/Boston 2013 (Beihefte zu editio. 36), S. 113–124, sowie Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck [u. a.]. Hrsg. von Horst Gronemeyer [u. a.]. Berlin/New York 1974ff., Abteilung Addenda, Bd. 2: Klopstocks Arbeitstagebuch. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Berlin/New York 1977, S. 196f. Henning Boetius: Textqualität und Apparatgestaltung. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 233–250. [22.06.2016]. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 2. Aufl. Stuttgart 2006, S. 138. Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Bernd Witte. Bd. 2: Gedichte, Geistliche Oden und Lieder. Hrsg. von Heidi John, Carina Lehnen und Bernd Witte. Berlin/New York 1997, S. 479.
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gegnet man echten Sofortkorrekturen nur sehr selten: „[Tühr] Thür“,14 „[Braubar] Brauchbarkeit“,15 „[Wik] Wirkung“16 oder „[eintat] eintraten“.17 Nicht immer ist zu erkennen, wozu ein abgebrochener Schreibansatz ursprünglich führen sollte. Im 3. Kapitel des 1. Bandes ist von den Rosen die Rede, die „mit ihren Zweigen in die Fenster des oberen Geschosses hinein sahen“.18 Das Wort „sahen“ ist das Ergebnis des folgenden Korrekturvorgangs: „[ragten.] ┌hinein [sch] sahen.┐.“19 Das sofort gestrichene „sch“ ist wahrscheinlich ein Ansatz zu „schauten“, aber es kann ebenso gut eine Verschreibung für die ersten drei Buchstaben des Wortes „sah(en)“ sein. Bei der Besichtigung des Rosenhauses im 4. Kapitel des 1. Bandes sind Heinrich und Risach „an das Ende der Treppe [gek] gelangt“;20 auch hier ist nicht klar, ob „gek“ ein Ansatz zu „gekommen“ oder ein getilgtes Schreibversehen am Anfang des eigentlich intendierten Partizips „gel(angt)“ ist. Bei ersatzlosen Tilgungen ist die Unterscheidung zwischen Sofort- und Spätkorrekturen nur möglich, wenn verschiedene Schreibgeräte oder -stoffe verwendet werden (zum Beispiel Bleistift in Tintenkontext): „Dann hielt der Hofmeister noch ihre schöne [weiße]b Hand in der seinigen.“21 Man kann darüber streiten, ob man derlei Korrekturen in einem textgenetischen Apparat nachweisen soll. Für Briefeditionen hat Ulrich Joost auf diese Frage eine eindeutige Antwort gegeben: „Nur werden solche Ausgaben (überflüssigerweise) teurer[,] aber nicht lesbarer durch eine Textkritik, die jede noch so winzige Einfügung (,ü. d. Z. mit Einweisungsstrich‘), jeden gestrichenen Wortanfang, jede Sofortkorrektur, die allesamt nicht mehr Stilbewusstsein als das eines Quartaners verraten, mitteilt.“22 Bei der Herausgabe poetischer Werke würde wohl auch Joost etwas vorsichtiger argumentieren, aber auch in Editionen von Briefwechseln oder amtlichen Schriften ist die Verzeichnung von Sofortkorrekturen keineswegs überflüssig. So hätte Joost über Storms quartanerhaftes Stilbewusstsein gar nichts wissen können, wenn die besprochene Edition die Sofortkorrekturen unterschlagen hätte, und im Falle Stifters könnte man beispielsweise nicht untersuchen, ob er bei der Arbeit an seinen poetischen Werken konzentrierter zu Werke geht als beim Schreiben von Briefen und bei diesen wiederum sorgfältiger oder nachlässiger als beim Verfassen seiner amtlichen Berichte und Schulakten. Im Übrigen hat die präzise Dokumentation von Sofortkorrekturen sicherlich den geringsten Anteil an dem gewiss beklagenswerten Umstand, dass Buch-Editionen immer ‚teurer‘ werden. –––––––— 14 15 16 17 18 19 20 21 22
HKG 4,1, Stuttgart [u. a.] 1997, S. 87,13; HKG 4,4, S. 262. HKG 4,2, Stuttgart [u. a.] 1999, S. 243,10; HKG 4,4, S. 445. HKG 4,3, Stuttgart [u. a.] 2000, S. 155,18; HKG 4,4, S. 544. HKG 4,3, S. 197,4; HKG 4,4, S. 553. HKG 4,1, S. 47. HKG 4,4, S. 205. Ebd., S. 253. HKG 4,5, S. 15. Ulrich Joost [Rez.]: Theodor Storm – Constanze Esmarch. Briefwechsel (1844–1846). Kritische Ausgabe. Hrsg. von Regina Fasold. Berlin 2002. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2005, S. 189–193, hier 192.
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Von den Sofortkorrekturen sind die Sofortrevisionen zu unterscheiden. Bei diesen kann sich die genetische Varianz im Bereich weitgehender semantischer Kongruenz bewegen, etwa von „weilen“ zu „wohnen“ oder von „errichten“ zu „erbauen“: „bei den Menschen [wohnende] ┌[weil]┐ ┌wohnende┐ Vögel“;23 „ein ganz kleines Häuschen eigens [errichtet] erbaut“;24 „Mitgebrachtes in eine Ordnung zu [legen.] [reihen.] richten“;25 „Die Donner erschallten jezt lauter, u [zeigt] verkündeten sich bald an dieser Stelle des Himmels bald an jener“.26 Mit einer Sofortrevision kann ein Wechsel von der mittleren zur höheren Stilebene (und umgekehrt) vollzogen werden: „[…] wie ich oft beim Zeichnen bemerkt hatte, daß […] feine [Kindergesichtchen] Kinderangesichtchen, wenn sie von Pelzwerk umgeben sind, noch feiner aussehen“,27 „[...] löschte ich das Licht aus [u übergab mich der Ruhe] u richtete mich zum Schlafen.“28 Eine Sonderform zwischen Sofortkorrektur und Sofortrevision resultiert aus dem zeitweiligen Verlust der Orientierung des Autors in der von ihm konstruierten erzählten Welt. In den ‚Anmerkungen‘ hält er gelegentlich solche Unsicherheiten fest und mahnt die gegebenenfalls notwendige Korrektur eines logischen Fehlers an: „Hat der Vater gerathen, daß ich im Winter zu Risach gehe? wenn nicht muß der Beginn der Winterreise in der Correctur geändert werden.“ In diesem Fall erwies sich die Sorge als unbegründet, so daß Stifter später nachtragen konnte: „Ja der Vater hat gerathen.“29 In einem ähnlichen Fall wäre es für eine Korrektur fast zu spät gewesen. An Heckenast schreibt Stifter am 31. August 1857: Der Fürst der Finsterniß hat es gefügt, daß im 2ten Bande des Nachsommers Seite 404, zweite Zeile von unten, steht: „sah mich mit den hellen braunen Augen an ...“ (Natalie). Nun hat sie aber braune Haare und schwarze Augen. Im ganzen Werke wird unaufhörlich von ihren schwarzen oder dunklen Augen geredet, und in der Bundesscene stehen helle braune. Das habe ich in Steyr niedergeschrieben, und bei uns zu Hause sagt man Steyrerstükl statt Hirschauerstükl. […] Was ist zu thun? Es sind drei Wege: 1. Wenn die Auflage noch nicht gedrukt ist, statt hellen braunen das Wort dunkeln hinein sezen (aber sie wird schon gedrukt sein). 2. Hinterher in den noch ungedrukten Bogen sezen: Nataliens Augen seien auch manchmal in einem braunen Schimmer gesehen worden (aber da es vor S. 404 II nie steht, so ist beim Lesen der üble Eindruk da, und die spätere Ausrede hilft uns nichts mehr und schadet Natalien, die dann bald schwarze, bald braune Augen hat). 3. Einen Zettel vor den Titel in II kleben und sagen: In Seite 404, 2. Zeile von unten, ist statt hellen braunen das Wort dunkeln zu lesen.30
Der Brief hat den Verleger gerade noch rechtzeitig erreicht, so dass auch an der fraglichen Stelle Natalie „dunkle“ Augen hat.31 –––––––— 23 24 25 26 27 28 29 30 31
HKG 4,4, S. 215. Ebd., S. 445. Ebd., S. 478. Ebd., S. 243. Ebd., S. 354. Ebd., S. 256. HKG 4,5, S. 473. PRA 19, S. 58f. Vgl. HKG 4,2, S. 259.
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Besondere Schwierigkeiten bereitet Stifter (und seinem Lesepublikum) das Zurechtfinden in den fiktiven Handlungsräumen. Von dem Haus des Obristen in der Mappe meines Urgroßvaters lässt sich „auch bei Kenntnis lokaler Bauformen“32 weder Plan noch Grundriss erstellen, und auch das Innere des Rosenhauses im Nachsommer ist voller Widersprüche: „So gelangt man aus einem Zimmer, das an der Nordwestecke des Hauses liegt [...], direkt an die Südseite des Hauses. Lese- und Bilderzimmer scheinen, folgt man der Wiedergabe des ersten Rundgangs, an der Ostseite des Hauses zu liegen, aber dort befinden sich angeblich auch die Gästezimmer und die Räume der Frauen.“33 Als Risach im 4. Kapitel des 1. Bandes seinen Besucher Heinrich Drendorf im Rosenhaus herumführt, gelangen die beiden vom Kleiderzimmer in das Schlafgemach, aber in der geradezu labyrinthischen inneren Organisation des Gebäudes hat sich Stifter manchmal selbst nicht mehr ausgekannt; sogar die Reihenfolge der betreffenden Textänderungen in einem der ‚Abgelegten Blätter‘ ist nicht eindeutig zu rekonstruieren:
In der historisch-kritischen Ausgabe ist der Änderungsvorgang so verzeichnet: „Die Thür, die von dem [[[Schlafzi]] ┌Arbeits┐] Kleiderzimmer herein führte“;34 es könnte aber auch sein, dass Stifter zunächst „[Schlafzi] Kleiderzimmer“ schrieb, dann über dem gestrichenen Wort „Arbeits“ einfügte und sofort wieder tilgte, als er bemerkte, dass „Kleiderzimmer“ doch die richtige Ersetzung war.35
Die ‚Abgelegten Blätter‘ Die ‚Abgelegten Blätter‘ sind ein Archiv der verschiedenen Stadien, die Stifters Text während seiner Produktion durchlaufen hat. Darin sind auch Elemente der erzählten Welt aufbewahrt, die in der publizierten Fassung des Romans nicht mehr explizit genannt werden, aber gleichwohl zum Text des Werkes mit dem Titel Der Nachsommer gehören. Besonders signifikante Beispiele für solche Textteile, die im Laufe der Arbeit aus der Diegese verschwinden, sind die in den früheren Fassungen noch vorhandenen, später aber getilgten Affekt-Äußerungen der handelnden Figuren. Die im Prozess der Überarbeitung wahrnehmbare Tendenz zur Milderung, zum neutralen Erzählverhalten und zum Verbergen von Gefühlen legt ein Charakteristikum der Er–––––––— 32 33 34 35
Adalbert Stifter: Studien. Kommentar. Von Ulrich Dittmann. (HKG 1,9, Stuttgart [u. a.] 1997), S. 266. Sabine Schmidt: Das domestizierte Subjekt. Subjektkonstitution und Genderdiskurs in ausgewählten Werken Adalbert Stifters. St. Ingbert 2004, S. 240. HKG 4,5, S. 161. Abbildung des Ausschnitts aus Stifters Handschrift mit freundlicher Genehmigung des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich, Linz. Vgl. dazu im Einzelnen Walter Hettche: Die gemischten Zimmer. Ordnung und Chaos in Adalbert Stifters Handschriften. In: Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hrsg. von Sabina Becker und Katharina Grätz. Heidelberg 2007, S. 235–259.
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zählkunst Stifters offen, das man seiner Prosa immer schon attestiert hat. Während die Spannung zwischen dem an der Oberfläche Gesagten und dem in der Tiefe des Unsagbaren Verborgenen im Buch allenfalls als Gegebenes erahnbar ist, öffnen die Handschriften den Blick auf die Dynamik der Genese solcher Widersprüche. In den verworfenen, aber archivierten Frühfassungen gestatten sich die Figuren nämlich durchaus noch gefühlsbetonte Wertungen und leidenschaftliche Gefühlsentladungen. In der Buchausgabe ist Heinrich „jedes Fortfahren von den Angehörigen in der Nacht sowie das Antreten irgend einer Reise in der Nacht sehr zuwider“;36 in der früheren Fassung „haßte“ er es „noch recht bitterlich“,37 ebenso, wie sein Vater „die mittelmäßige Hausmusik [...] sehr haßte“,38 die man aus Gesellschaftsrücksichten im Hause Drendorf aufführt. In der Buchausgabe steht demgegenüber nur noch distanziert und kommentarlos: „Es kamen Leute zu uns, es wurde Musik gemacht, vorgelesen, wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man sich ebenfalls mit Musik und ähnlichen Dingen unterhielt“.39 Die Wörter „Hass“ und „hassen“ kommen im gesamten Buch kein einziges Mal vor. Auch im „Bund“-Kapitel, in dem Heinrich und Natalie endlich bewusst wird, dass sie einander schon lange lieben, bleibt die Buchfassung auf der Ebene des erzählerischen Diskurses im Vergleich zu älteren Entwürfen sachlich und unterkühlt. Nachdem Natalie und Heinrich sich am Schluss dieses Kapitels voneinander verabschiedet haben, heißt es in einer früheren Textstufe: als ich die Gestalt, die mir angehörte, fortgehen sah, schwamm mir das Herz in tiefen Gefühlen, sie ging neben den grünen Büschen hin, ich sah ihr nach, so lange ich sie erbliken konnte, bis das hellgraue Seidenkleid im Grün des Gartens verschwunden war.40
In der Grundschicht der handschriftlichen Druckvorlage lautet die Stelle: Ich sah ihr nach, so lange ich sie sehen konnte, bis das hellgraue Seidenkleid um eine grüne Gartenheke verschwunden war. Dann ging ich in mein Zimmer.41
In der Buchfassung wird an dieser Stelle von Heinrichs „Herz“ und seinen „Gefühlen“ nichts mitgeteilt: Ich sah ihr nach, sie blickte noch einmal gegen mich um, ging dann durch das Pförtchen, und das graue Seidenkleid verschwand unter den grünen Hecken des Grundes. Ich ging in das Haus, und begab mich in meine Wohnung.42
Auch in Risachs eigener Liebesgeschichte bleibt die erzählerische Vermittlung erotischer Verstrickungen auf wenige kurze Passagen im Zentrum der Handlung begrenzt, –––––––— 36 37 38 39 40 41 42
HKG 4,1, S. 208. HKG 4,5, S. 342. Ebd., S. 326. HKG 4,1, S. 187. HKG 4,5, S. 476. HKG 4,4, S. 463. HKG 4,2, S. 268.
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auf das eigentliche Liebesverhältnis und die Katastrophe seines Endes. In der Latenzphase davor sprechen Risach und Mathilde ebenso wie Heinrich und Natalie über die nebensächlichsten Dinge, über Wasser und Edelsteine, über Zeichnungen und Musik; jede Andeutung einer erwachenden Neigung wird peinlich vermieden. Als Risach in seinem Rückblick erzählt, wie er in Heinbach Mathildes Zeichnungen verbessern half, lautet die Stelle in der Grundschicht der handschriftlichen Satzvorlage: „Ich sah öfter ihre Zeichnungen an, und gab ihr einen Rath, den sie sehr gerne verlangte, und befolgte. Sie erröthete sehr, wenn das Veränderte dann viel besser aussah“.43 Noch in der Handschrift streicht Stifter das zu viel innere Bewegung verratende Verb „erröthen“ und ersetzt es durch eine viel weniger affektive Wendung: „Sie freute sich sehr.“44 Dabei ist zu bedenken, dass es sich in beiden Fällen, in Heinrichs Erinnerungsbericht ebenso wie in demjenigen Risachs, um nachträgliches Erzählen handelt. Das Verschweigen von Emotionen ist also kein Ausdruck von Nichtwissen, sondern eine spätere absichtsvolle Bearbeitung des immer schon Gewussten. Umso eindringlicher wirkt daher die in Risachs „Rückblick“ (3. Band, 4. Kapitel) in wörtlicher Rede wiedergegebene, nachgerade exaltierte Verzweiflung, mit der die junge Mathilde Makloden auf die so kühl und rational begründete Beendigung des Liebesverhältnisses reagiert.45
Die Anmerkungen Am 31. August 1857 schreibt Stifter an Gustav Heckenast: „Ich führe während des Schreibens eines Buches Vormerkung über alle Merkmale, diese Vormerkung liegt immer vor mir“.46 Damit meint er nicht die in seinem Ablaufplan erwähnten „einzelnen Zettel“, die der eigentlichen „Textirung“ vorausgehen. Die Anmerkungen sind vielmehr während der wiederholten ‚Durchsicht‘ des bereits Geschriebenen festgehalten worden, sie sind ein Protokoll, in dem das noch zu Erledigende notiert wird, und gleichzeitig ein Ideenreservoir im Hinblick auf eine Neufassung der gerade in Bearbeitung befindlichen Seiten. Im Einzelnen sind sechs verschiedene Formen von ‚Anmerkungen‘ zu unterscheiden: 1. 2.
Nichtsprachliche Zeichen, die der Orientierung des Autors dienen und seine Aufmerksamkeit auf noch zu bearbeitende oder sonst problematische Stellen lenken sollen, oft mit Rotstift ausgeführt (#, ??, Wellenlinien, NB usw.). Metatextuelle Anmerkungen, mit denen der Autor die Tendenz der beabsichtigten Revisionen skizziert: „Scene gut arbeiten“;47 „gelegentlich wieder vorbringen“;48 „Über Juwelen muß später noch etwas vorkommen“.49
–––––––— 43 44 45 46 47 48 49
HKG 4,4, S. 551. HKG 4,3, S. 185. Vgl. ebd., S. 205–209. PRA 19, S. 59. HKG 4,5, S. 407. Ebd., S. 393. Ebd., S. 406.
„Ausstreichungen Einschaltungen etc.“
3. 4.
5. 6.
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Platzhalter wie „etc“, drei Punkte oder beides: „sie lächelte sehr fein, richtete die klaren lieben Augen auf mich, und sagte etc ...“50 Vorläufige Paraphrasen des noch nicht ausgearbeiteten neuen Textes, markiert durch Klammern oder durch die Verwendung infiniter Verbformen: „bei der Nimphe mit Natalien, (sehen fliehen traurig sein)“;51 „Vater sagt, sein Sohn habe sich hier weit entwikelt. (Antwort des Greises)“;52 „Vor der Reise zur Fürstin gehn, ihr meine Verbindung sagen“;53 „Dem Gastfreunde von den Mauerbekleidungen erzählen Roland beauftragen ..... dieser nichts entdeken“.54 Ausgearbeiteter Erzählertext (im Präteritum): „Ich sah den Mann an und es zeigte sich ein leichtes Erröthen in seinem Angesichte.“55 Figurenrede: „Und habt ihr dieses Haus ┌hier┐ gleich als Schreinerwerkstätte gebaut? ... Ja, nachdem wir einmal hierin so weit waren etc, uns bei uns selber einzurichten“.56
Die Anmerkungen enthalten zahlreiche Ansätze, die Stifter nicht ausgeführt, aber auch nicht getilgt und nicht durch ‚Variationen‘ ersetzt hat. Es handelt sich dabei um einmal erwogene, aber im Roman nicht realisierte Handlungselemente: „Kupferstecher kömmt einmal (einflechten)“,57 vermerkt Stifter, aber im ausgearbeiteten Text tritt diese Figur nie in Erscheinung. Ein „Landhaus am Meeresufer“58 findet sich außer in den ‚Anmerkungen‘ nirgendwo sonst in der gesamten Nachsommer-Überlieferung, und Stifter selbst scheint nicht recht gewusst zu haben, wozu ein solches Gebäude in seiner erzählten Welt hätte dienen können; jedenfalls hat er die Notiz mit einem roten Fragezeichen markiert. Auf Seite 32 der Anmerkungen steht – in einer für diesen Textzeugen auffallend sorgfältigen Schrift und mit Rotstift eingerahmt – ein elegisches Distichon von der Hand Stifters, dessen mögliche Funktion im Roman unklar bleibt: Ist aus Rede versucht ein Schmuk, wie Rosen des Hages Sorglich u achtsam gereiht um ein erblühendes Haupt.59
Ähnlich wie in den ‚Abgelegten Blättern‘ sind auch in den Anmerkungen Ausbrüche von Affekten und Emotionen gespeichert, die in der Buchfassung des Romans entweder nur angedeutet oder ganz verschwiegen werden. Zu Risachs Lebensbeichte im 4. Kapitel des 3. Bandes skizziert Stifter: „Mat. wurde immer schöner (feiner) wie die Rosen gern zu Rosen gehen [...] Es war eine unklare aber vollständig glükselige Zeit –––––––— 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Ebd., S. 407. Ebd., S. 394. Ebd., S. 402. Ebd., S. 403. Ebd., S. 421. Ebd., S. 425. Ebd., S. 425. Ebd., S. 479. Ebd., S. 462. Ebd., S. 432.
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[...] ich liebte die Kinder unsäglich.“ Mitten unter diesen Notaten steht das Partizip „berauscht“, das Stifter schon unmittelbar nach der Niederschrift als zu dionysisch für die aseptisch kühle Nachsommer-Welt vorgekommen sein mag, so dass er es am Blattrand mit einem Fragezeichen versehen hat.60 Nur ein einziges Mal kommt das Wort im Nachsommer vor, in Risachs eher theoretischen Ausführungen über die „Glanzstellen der Jugend“, die dem Alter „schon sehr ferne liegen, wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und Grenzenlosigkeit, oder wie die holde und berauschende Seligkeit der Gegenliebe“.61 Als Risach später die sehr persönliche Erinnerung an seine eigene Jugendliebe vor Heinrich offenbart, vermeidet er den Gebrauch des emotional aufgeladenen Verbs: Selbst wenn es, wie in den Anmerkungen, aus der Gegenwärtigkeit der Verlaufsform „berauschend“ in das perfektische „berauscht“ transponiert wird, wäre es im Kontext von Risachs Lebensbeschreibung ein allzu intimes Bekenntnis. Stifter hat seinen Figuren ein Eigenleben außerhalb des Buchtextes zugebilligt und sie mit Eigenschaften und biografischen Details ausgestattet, die sie zwar besitzen, von denen Heinrich aber nichts erzählt. Dabei kann es sich um nebensächliche Details handeln, die Stifter in den Anmerkungen zwar festhielt, aber „[n]icht in den Text aufnehmen“ wollte, wie etwa die Information, dass Mathilde „keinen Oheim“ hatte und die Brunnennymphe im Sternenhof „von einem entfernten Verwandten“ stammt.62 Aber auch Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen, die seine Figuren in einem schlechten Licht erscheinen lassen würden, bleiben im Archiv der Anmerkungen versteckt. In einer Anwandlung von Eifersucht und Kontrollwahn hat Heinrich „[m]it Natta zwei Winter eine Reise gemacht um sie mit andern Männern zusammen zu bringen, u sie zu erproben“,63 wovon im gedruckten Roman nicht das Geringste verlautet, und auch eine häufig wiederkehrende Nebenfigur hat ihre verheimlichten dunklen Seiten, nämlich der „Jägersmann“, der in der Buchfassung zwar als „ein Herumstreicher“ eingeführt, aber doch als „der fertigste und berühmteste Zitherspieler“64 gerühmt wird, von dem Heinrich später die Beherrschung des Instruments lernt. Bei einem der Besuche Heinrichs im Oberland ist der Musikant plötzlich „fort, und so gut wie verschollen. Kein Mensch wusste etwas von ihm“,65 aber später taucht er wieder auf: „Mein Zitherspiellehrer, der einige Zeit gleichsam verschollen war, war wieder da“,66 und es wird von ihm etwas kryptisch gesagt, wenn er spiele, sei er „ein anderer Mensch“ und greife „in seine und in die Tiefen anderer Menschen, und zwar in gute“.67 Was sich hinter dem „anderen“ verbirgt, geht aus dem publizierten Text des Romans nicht hervor, aber in den Anmerkungen schreibt Stifter: „Zitherspieler unbegreiflicher Mensch ... so tief und gut ja sogar edel spielen und (doch ein Lump –––––––— 60 61 62 63 64 65 66 67
Ebd., S. 396. 2. Band, 1. Kapitel („Die Erweiterung“), HKG 4,2, S. 40f. HKG 4,5, S. 430. Ebd., S. 497. HKG 4,2, S. 10. Ebd., S. 182. Ebd., S. 244. Ebd., S. 245.
„Ausstreichungen Einschaltungen etc.“
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sein)?“68 Die Klammern und das Fragezeichen signalisieren bereits den Vorbehalt, mit dem Stifter das Wort „Lump“ niederschreibt, und wenig überraschend hat er es im Roman schließlich nicht benutzt. Wie die „bösen Feind[e]“ unter den Vögeln, die Sperlinge und Rotschwänzchen, aus dem Bezirk des Rosenhauses verbannt werden, damit sie andernorts ihr Unwesen treiben,69 wird das Universum des Romans von den Details gebrochener Lebensläufe („Lump“) und anderweitig abweichenden Verhaltens oder anstößiger Handlungen freigehalten. In den Anmerkungen sind derlei StörElemente nicht getilgt, sondern als latentes Gefahrenpotential konserviert, das im Prozess der Arbeit am Romantext jederzeit hätte manifest werden können. Von ihrer Existenz wusste bis zum Wiederauftauchen der Nachsommer-Handschriften über hundert Jahre nach dem Erscheinen des Romans nur Adalbert Stifter, aber seit dem Erscheinen der beiden Nachsommer-Apparatbände in der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe sind diese lange gehüteten Geheimnisse auch den Leserinnen und Lesern unserer Zeit zugänglich. Wer das für indiskret hält, muss diese ehemals sekretierten Texte nicht lesen, aber er versagt sich damit einen Blick in die bedrohlichen Abgründe unter der glatten Oberfläche des Romans von 1857.
–––––––— 68 69
HKG 4,5, S. 440. HKG 4,1, S. 169f.
Nicole Streitler-Kastberger
Ge-Schichten aus dem Wiener Wald Die Komplexität der Werkgenese von Horváths Volksstück anhand exemplarischer Revisionsprozesse
Werkgenese Das überlieferte genetische Material zu Horváths wohl berühmtestem Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald von 1931 umfasst, wenn man alle Textträger, auch Durchschläge, einberechnet, über 800 Blatt. Dementsprechend komplex ist die Werkgenese, die mit dem 2015 erschienenen Band 3 der Wiener Ausgabe erstmals in vollem Umfang nachvollziehbar wird.1 Der Band versammelt alle handschriftlichen Entwürfe und einen Großteil der maschinenschriftlichen Ausarbeitungen zu dem Werkprojekt und präsentiert diese in einer argumentativ abgesicherten genetischen Reihung. Die lange und komplexe Werkgenese des Stückes wird in WA 3 in zwei Vorarbeiten und fünf Konzeptionen unterteilt. Sie beginnt mit den sogenannten „Frühen Schönheiten“, Die Schönheit von Fulda und Elisabeth, die Schönheit von Thüringen, die als Vorarbeiten 1 klassifiziert wurden und wahrscheinlich schon im Frühjahr oder Sommer 1930 entstanden sind. Es handelt sich dabei um äußerst fragmentarische Ausarbeitungen in wenigen Entwürfen und nur einer Textstufe. Ihnen folgt oder läuft parallel die Vorarbeit 2, Ein Fräulein wird verkauft, die ebenfalls auf das Frühjahr und den Sommer 1930 zu datieren ist und von der die ersten zwei Bilder des wahrscheinlich auf sieben Bilder angelegten Stückes in einer endfassungsähnlichen Form überliefert sind. Daran schließen sich die Konzeptionen 1–5, die in WA 3 mit den teilweise von Horváth stammenden Titeln Die Schönheit aus der Schellingstrasse, „Früher Zauberkönig“, „Hofrat“, „Zauberkönig in sieben Bildern“ und „Zauberkönig in drei Teilen“ versehen wurden.2 Sie sind zwischen Sommer 1930 und Sommer 1931 entstanden und bilden das Gros des genetischen Materials.3 Aus rein thematischem Blickwinkel müsste man die Werkgenese von Geschichten aus dem Wiener Wald jedoch sogar bis zu der frühen Posse Rund um den Kongreß von 1929 und den fragmentarischen Ausarbeitungen zu den Werkprojekten Die –––––––— 1
2
3
Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hrsg. von Erwin Gartner und Nicole StreitlerKastberger unter Mitarbeit von Charles-Onno Klopp, Kerstin Reimann und Martin Vejvar. Berlin u. a. 2015 (Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 3). In der Folge wird dieser Band mit der Sigle WA 3 und unter Angabe der Seitenzahl zitiert. In der Folge wird für Konzeptionen die Sigle K, für Vorarbeiten die Sigle VA, jeweils mit entsprechendem Index, verwendet. Zum Begriff Konzeption (K) vgl. weiter unten, zum Begriff der Vorarbeit (VA) vgl. die ‚Editionsprinzipien‘ in WA 3, 931–938, hier 936. Vgl. das Vorwort in WA 3, 1 und 7–27.
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Mädchenhändler und Von Kongress zu Kongress (1929/30) zurückreichen lassen. Sie alle fließen nämlich durch Motive und einzelne Repliken in das spätere Volksstück ein. Zentrale Thematik aller dieser Werkprojekte ist der Mädchenhandel, eine spezifische Obsession der 1920er Jahre, die insbesondere durch den Film Mädchenhandel. Eine internationale Gefahr (D 1927, R: Jaap Speyer) weiter angeheizt wurde.4 Man hat es also bei den genannten Mädchenhandel-Stücken – zu denen auch Geschichten aus dem Wiener Wald zu rechnen ist – mit einem spezifischen „Textcluster“ zu tun.5 Die Grenzen zwischen den verschiedenen Werkprojekten um das Jahr 1930 verschwimmen. Letztlich zehren auch die Volksstücke Kasimir und Karoline (1932) und Glaube Liebe Hoffnung (1932) noch vom Einflussbereich der Geschichten und des Mädchenhandel-Komplexes.
Revisionsprozesse Eine wichtige Bestandsaufnahme des genetischen Materials zu Geschichten aus dem Wiener Wald und seiner Überarbeitungsprozesse hat Klaus Kastberger 2001 mit seinem Aufsatz ‚Revisionen im Wiener Wald‘ geliefert.6 Er konstatiert darin, dass Horváth von seiner Arbeitsweise her ein „moderner Autor“ gewesen ist, „der an seinem Textmaterial herumgeschnitten, es immer wieder neu zusammengeklebt und vielfach überarbeitet hat“.7 Diese inzwischen als „Cut-and-Paste-Verfahren“8 bezeichnete Arbeitsweise kennzeichnet auch und insbesondere das genetische Material von Geschichten aus dem Wiener Wald. Exemplarisch zeigt sich an diesem Stück, dass Horváth keineswegs ein Autor war, der seinem „Unbewußten, Dichterischen […] freien Lauf“9 ließ, wie Alfred Polgar noch vermutete, sondern einer, der sehr bewusst sein Material immer wieder bearbeitete und revidierte. Dabei kann man einen „Emanzipationsprozeß“10, ja einen Prozess der zunehmenden Verfeinerung und Verdichtung beobachten, durch den die Dialoge immer geschliffener und pointierter und die politischen Gehalte weniger plakativ, sondern indirekter formuliert werden.11 So findet sich etwa in K1 von Geschichten aus dem Wiener Wald mit dem Titel Die Schönheit aus der Schellingstrasse noch die in vielen Werkprojekten Horváths anzutreffende, unmittelbar politische Figur Schminke.12 Dieser Protagonist äußert in –––––––— 4 5 6
7 8
9 10 11 12
Vgl. Klaus Kastberger: Nachwort. In: Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hrsg. von Klaus Kastberger und Nicole Streitler. Stuttgart: Reclam 2009, S. 220–243, hier 222. Ebd. Klaus Kastberger: Revisionen im Wiener Wald. Horváths Stück aus werkgenetischer Sicht. In: Ödön von Horváth: Unendliche Dummheit – dumme Unendlichkeit. Hrsg. von Klaus Kastberger. Wien 2001 (Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs. 8), S. 108–130. Ebd., S. 108. Vgl. Kerstin Reimann: Clean Cuts. Schnitt- und Klebekanten als materialer Ausdruck eines Entstehungsprozesses und ihre Darstellung in der Wiener Ausgabe sämtlicher Werke und Briefe Ödön von Horváths. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin u. a. 2010 (Beihefte zu editio. 32), S. 107–120. Zit. n. Kastberger 2001 (Anm. 6), S. 108. Ebd. Vgl. ebd., S. 108f. Vgl. ebd., S. 112.
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K1/TS3 gegenüber dem Vater Agnes’, dem Vorläufer des späteren Zauberkönigs, folgende Sätze: Sie sehen das von einer viel zu privaten Warte aus, ich muss Ihnen doch sagen, dass die Scherzartikel eigentlich etwas vollkommen Überflüssiges sind[,] in dem klassenlosen Staat der Zukunft wird es keine Scherzartikel mehr geben. Da können Sie dann heute die schönsten Scherzartikel erfinden, es wird garkeine Nachfrage mehr bestehen. Wir haben viel ernstere Ziele, es dreht sich hier um die Umwandlung des inneren Menschen. (K1/TS3/BS 37 a [1], Bl. 9, abgedruckt in: WA 3, 143)13
Gegenüber Agnes insistiert er auf folgender Überzeugung: „Ich habe es Ihnen auseinander gesetzt, dass ein junges Mädchen in der heutigen Zeit nicht heiraten soll, sondern sich auf seine eigenen Beine stellen soll.“ (K1/TS3/BS 37 a [1], Bl. 9, abgedruckt in: WA 3, 144) Und in der ‚Agnes-Schminke-Szene‘ äußert er: „Ich bin ein Mensch, der sich ganz auf das gesellschaftliche Problem konzentriert hat. Bei mir geht die Oekonomie vor der Erotik.“ (K1/TS4/BS 37 a [1], Bl. 18, abgedruckt in: WA 3, 147) Die Figur Schminke verschwindet mit K1 aus dem Werkprojekt, findet sich also in keiner der Konzeptionen, die unter dem Titel Geschichten aus dem Wiener Wald stehen. Die gesellschaftspolitischen und gendertheoretischen Ansichten Schminkes bleiben jedoch im Stück bis zu den beiden Endfassungen K4/TS24 und K5/TS12 erhalten. Zentrale Motive derselben bilden die gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisensituation sowie die Frage nach der beruflichen Selbstständigkeit der Frau. Die Gespräche über die berufliche Selbstständigkeit der Frau zwischen Schminke und Agnes (vgl. K1/TS3 und TS4), aber auch zwischen Alfred und Agnes (vgl. K1/TS5) gehen schließlich in das Verlobungs-Bild ein, das zweite Bild der Fassung in sieben Bildern (K4/TS24) bzw. das zweite Bild des ersten Teiles der Fassung in drei Teilen (K5/TS12). Die dort und erstmals in K4/TS7/A22/BS 37 f [2], Bl. 25 von Marianne geäußerte Replik „Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus“ und die von Alfred darauf gemünzte Gegenreplik „Ich bin kein Politiker, aber glauben Sie mir: auch die finanzielle Abhängigkeit des Mannes von der Frau führt zu nichts Gutem. Das sind halt so Naturgesetze“ (WA 3, 354) liegen in puncto sprachlicher Raffinesse deutlich über den Parolen Schminkes.14 Sie spiegeln darüber hinaus auch rein dramenökonomisch eine Entwicklung, werden doch die gesellschaftspolitischen Ansichten in die eigentlich handelnden (Haupt-)Figuren verlegt und nicht mehr von einer eigens dafür geschaffenen Polit-Marionette geäußert.
–––––––— 13 14
TS ist die Sigle für ‚Textstufe‘ in der Wiener Ausgabe, E jene für ‚Entwurf‘; zur Definition und Handhabung dieser Begriffe vgl. die ‚Editionsprinzipien‘ in WA 3, 931–938, hier 936. Die Passage bleibt bis in die beiden Endfassungen erhalten, vgl. K4/TS24/BS 37 h, Bl. 18 (abgedruckt in: WA 3, 458) und K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 28 (abgedruckt in: WA 3, 593).
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Schichtung Es sollen hier jedoch nicht so sehr Revisionen in einzelnen Sätzen oder Repliken beleuchtet werden, sondern ein anderer Aspekt von Textrevision, den man als Schichtung bezeichnen könnte, deshalb auch der Titel „Ge-Schichten aus dem Wiener Wald“. Horváth hat im genetischen Prozess immer wieder auf Material aus früheren Konzeptionen zurückgegriffen und dieses für die jeweils aktuelle Phase der Werkgenese adaptiert.15 So sind es im Fall des Volksstücks Geschichten aus dem Wiener Wald – ähnlich wie bei dem unmittelbar zuvor entstandenen Roman Der ewige Spießer (1930) – vor allem die Materialwanderungen, die faszinieren. Diese spezifische „Produktionstechnik Horváths“16 ist aufgrund seiner eigenhändigen Eintragungen in den Typoskripten relativ gut nachvollziehbar, vor allem deshalb, weil sich der Autor dabei meist unterschiedlicher Schreibmaterialien (verschiedene Tintenfarben, Bleistift, Kopierstift und roter Buntstift) bedient, durch die die Schichtung der Revisionsprozesse unmittelbar erkennbar wird. Verschiedene Korrekturschichten legen sich so übereinander. Sie sind mitunter Teil unterschiedlicher Konzeptionen, also unterschiedlicher Phasen der Werkgenese. Der Begriff ‚Konzeption‘ wird in der Wiener Ausgabe folgendermaßen definiert: Als Konzeption (K) gilt eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei Teile/sieben Bilder/etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt. (WA 3, 935)
Wie bereits deutlich wurde, unterscheiden sich K4 und K5 durch ihre makrostrukturelle Anlage (sieben Bilder vs. drei Teile bzw. 15 Bilder). Ein weiteres wichtiges Kriterium bei der Segmentierung der einzelnen Konzeptionen stellt die Verwendung unterschiedlicher Figurennamen dar. Die folgende Tabelle zur Genese der Figurennamen in Geschichten aus dem Wiener Wald macht diese nominellen Revisions- und Transformationsprozesse deutlich und dient auch zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen über die Phänomene der Schichtung im genetischen Material zu dem Volksstück: K 1: K 2: K 3:
Die Schönheit aus der Schellingstrasse: Vater – Anna/Irene/Agnes – Frau Kramel/Krammel Früher Zauberkönig: Zauberkönig – Agnes/Marianne – Luise Hofrat-Konzeption in sieben Bildern: Hofrat – Marianne – Luise
–––––––— 15 16
Vgl. Kastberger 2001 (Anm. 6), S. 114. Ebd.
Ge-Schichten aus dem Wiener Wald
K4: K5:
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Zauberkönig-Konzeption in sieben Bildern: Zauberkönig – Marianne – Mathilde Zauberkönig-Konzeption in drei Teilen: Zauberkönig – Marianne – Valerie17
Den höchsten Revisionskoeffizienten erreichen dabei die Figuren der Marianne und der Valerie, die beide vier Namensformen durchlaufen: Die spätere Figur der Marianne wandelt sich von Anna über Irene und Agnes zu Marianne (ab K2/E12), jene der Valerie heißt zunächst Frau Kramel/Krammel, dann Luise, sodann Mathilde und schließlich Valerie (erstmals in K5/E9). An zweiter Stelle – mit einem Revisionskoeffizienten von 3 – landet der Vater der weiblichen Hauptfigur, der sich vom schlichten Vater über den Hofrat zur letztlich gültigen Form Zauberkönig wandelt. Betrachtet man nun etwa Ausarbeitungen zum späteren zweiten Bild der Fassung in sieben Bildern (K4/TS24) von Geschichten aus dem Wiener Wald, so kann man Materialwanderungen von K1 bis K4 beobachten. Die Blätter BS 37 a [1], Bl. 5–7 enthalten den Beginn des Verlobungs-Bildes, das das erste Bild von K1 Die Schönheit aus der Schellingstrasse darstellt (vgl. K1/TS3). Hier finden sich gemäß den oben genannten Figurennamen: Vater, Agnes und Frau Kramel (manchmal auch Kramer geschrieben). Die erwähnten Blätter wandern ohne handschriftliche Korrekturen ins Verlobungs-Bild der Hofrat-Konzeption K3/TS3. Der Übergang von BS 37 a [1], Bl. 7 zu dem in K3/TS3 folgenden Blatt BS 37 e [4], Bl. 1 erfolgt über das getrennte Wort „ma-“ „chen“, dessen zweiter Teil sich nicht nur auf BS 37 a [1], Bl. 8 (aus K1/TS3), sondern auch auf BS 37 e [4], Bl. 1 (aus K3/TS3) findet. Bereits durch diesen textgenetischen Befund lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die Blätter aus der Schellingstrassen-Konzeption K1 in die Hofrat-Konzeption K3 weiterwandern. Dass die Blätter der Mappen BS 37 e [3] – BS 37 e [5] zur Hofrat-Konzeption K3 zählen, wird allein schon daraus ersichtlich, dass auf ihnen statt des Figurennamens Vater von K1/TS3/BS 37 a [1], Bl. 5–7 bereits der Name Hofrat für den Vater der Marianne verwendet wird. Diese heißt so seit K2/E12, weshalb sich auch auf den Blättern der Mappen BS 37 e [3] – BS 37 e [5] überall der Name Marianne findet. Den Namen Agnes, den Horváth auf den Blättern BS 37 a [1], Bl. 5–7 aus K1 noch verwendet hat, adaptiert er bei der Wiederverwendung dieser Blätter in K3 nicht; der Name Agnes bleibt deshalb auch in der Transkription von K3/TS3 in diesem Teil der Textstufe erhalten. Doch damit ist der Prozess der Materialwanderung der Blätter BS 37 a [1], Bl. 5–7 noch nicht abgeschlossen. Sie werden von Horváth auch im Rahmen von K4, dem „Zauberkönig in sieben Bildern“, noch einmal zur Hand genommen. Der Autor trägt dabei mit schwarzblauer Tinte Korrekturen ein, die eindeutig auf K4 verweisen. So wird der Name Agnes hier durchgängig zu Marianne, jener der Frau Kramel zu Mathilde korrigiert. Statt des Hofrats findet sich hier fast überall der Name Zauberkönig (BS 37 a [1], Bl. 6; vgl. Abb. 1). Auch an einzelnen Sätzen feilt Horváth. Zur Replik des Neffen von K1 bzw. K3, der in K4 schon Erich heißt, „Meiner Meinung nach hört die Literatur allmählich auf, –––––––— 17
Vgl. ebd., S. 117.
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weil wir in einem sachlichen Zeitalter leben“, notiert der Autor alternativ die Äußerung „Ich interessiere mich für das dramatische Theater, aber leider leben wir in einem Zeitalter des Untermenschentums“ (BS 37 a [1], Bl. 5), die in weiterer Folge von K4 in der Form „Ich interessiere mich nämlich für das dramatische Theater“ (K4/TS7/A16/BS 37 f [1], Bl. 21, abgedruckt in: WA 3, 350) wiederauftaucht. Besonders intensiv fallen die Korrekturen im Dialog über die Seelenwanderung aus. Hier notiert Horváth am linken Seitenrand einen ganzen Dialogverlauf, der eine Variante zu jenem der maschinenschriftlichen Grundschicht auf BS 37 a [1], Bl. 6 darstellt. Die Grundschicht lautet folgendermaßen: OSKAR Die Buddhisten behaupten, dass die Seele eines Menschen, wenn er gestorben ist, in ein Tier eingeht, z. B. in einen Hund oder in eine Schlange. FRAU KRAMEL Alfred behauptet immer, ich wäre sicher einmal eine Wildkatze gewesen. ALFRED Oder ein Leopard. FR. KRAMEL (zu Alfred) Und Du? ALFRED Ich? Wahrscheinlich ein Rennpferd. FR. KRAMEL Du bist ja auch ein Genie am Rennplatz, Alfred gewinnt immer. VATER Und was würde ich denn werden? OSKAR Das ist nicht so einfach zu sagen. Du hast überhaupt einen komplizierten Charakter. Vielleicht würdest Du mal ein Tier werden, das aber eigentlich schon ausgestorben ist. AGNES Und Oskar? VATER Ein Lamm. OSKAR Nein, ich bin kein Lamm. Agnes wird sicher mal ein Lamm. Agnes heisst ja auch „Lamm Gottes“. AGNES Man leidet oft unter seinem Namen und wird falsch eingeschätzt. Ich denke mir, dass ich überhaupt nicht den richtigen Namen hab. Aber man kann ja nichts für seinen Namen. Was ist eigentlich ein Vampyr? VATER Das ist Film. OSKAR Ein Vampyr ist ein Werwolf. (K1/TS3 bzw. K3/TS3/BS 37 a [1], Bl. 6, vgl. Abb. 1, zitiert inklusive der Emendationen von WA 3, 140f.)
Die handschriftlichen Korrekturen, die Horváth im Rahmen von K4 auf BS 37 a [1], Bl. 6 einträgt, führen indes zu folgendem, wesentlich geänderten Dialogverlauf: ERICH Die Buddhisten behaupten, dass die Seele eines Menschen, wenn er gestorben ist, in ein Tier eingeht, z. B. in einen Hund oder in eine Schlange. MATHILDE Herr Skankowski behauptet immer, ich wäre sicher einmal eine Wildkatze gewesen. ZAUBER Das weniger. MATH Sondern? ZAUBER Dann schon ein Leopard, ein {reizender} (lacht) MATHILDE Prost! Papa Zauberkönig, ich glaub, ich krieg einen Schwipps! 1. TANTE Und ich? 2. TANTE Und ich? OSKAR Und ich? ERICH Und ich? EIN KIND Und ich?
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ALFRED Und das Fräulein Braut? (Stille) OSKAR Ein Lamm. MAR Das würde Dir so passen. ALFRED Nein. Das Fräulein Braut ist ein Tier mit grossen Augen. Eine Gazelle, wie sie die schwermütigen Wüsten Afrikas beleben. ZAUBER Na und ich? MATH Ein Hirsch. Ein alter Hirsch. (Grosses Gelächter) (BS 37 a [1], Bl. 6, Korrekturschicht in WA 3 nicht gedruckt, vgl. Abb. 1)
Die „Wildkatze“ und der „Leopard“, mit denen Frau Kramel bzw. Mathilde identifiziert werden, sind bereits in K1 bzw. K3 da. In der handschriftlichen Überarbeitung von K4 lenkt Horváth jedoch den Dialog immer stärker in Richtung der witzigen Figuren Zauberkönig und Mathilde, während der frühere Dialog auf Agnes und Oskar fixiert war, die beide nicht gerade durch Komik punkten. Außerdem enthält der frühere Dialog noch die Idee, den Namen Agnes mit „Lamm Gottes“ zu übersetzen, was sich so schon in Horváths frühem Roman Sechsunddreißig Stunden (1929) mit Bezug auf dessen Hauptfigur Agnes Pollinger findet.18 Da in K4 von Geschichten aus dem Wiener Wald der Name Agnes bereits durch Marianne ersetzt ist (seit K2/E12), wird auch die Namensdeutung in Richtung „Lamm Gottes“ obsolet, weshalb die Bigotterie Oskars durch den alkoholgetränkten, anzüglichen Witz Mathildes und des Zauberkönigs bzw. durch die romantischen Kommentare Alfreds ersetzt wird. Die Passage, in der Oskar Marianne zwar noch mit einem „Lamm“ assoziieren will, diese aber mit „Das würde Dir so passen“ kontert, stellt einen Kipppunkt innerhalb des Dialogs der Korrekturschicht von BS 37 a [1], Bl. 6 dar. Die Marianne von K4 ist kein Lamm mehr, sondern eine rebellische junge Frau, die wenig später gegen die von Vater und Verlobtem arrangierte Verlobung aufbegehrt. Dies deutet sich in den zwei Repliken Oskars und Mariannes bereits in subtiler Art und Weise an. Zugleich macht sich Alfreds Interesse an Marianne bemerkbar, wenn dieser in poetischeindringlicher Art formuliert: „Das Fräulein Braut ist ein Tier mit grossen Augen. Eine Gazelle, wie sie die schwermütigen Wüsten Afrikas beleben.“ Zugleich verschwindet die Idee, Alfred mit einem Rennpferd zu assoziieren und jene, über den Begriff des Vampirs die Konversation auf den Film zu lenken. Das letzte Wort hat nun der Zauberkönig, der die durch Alfred hergestellte romantische Situation mit einem brutalen „Na und ich?“ zerstört, auf das Mathilde ironisch „Ein Hirsch. Ein alter Hirsch“ repliziert. Daraufhin bricht die ganze Gesellschaft in „[g]rosses Gelächter“ aus. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Horváth das Personal des Seelenwanderung-Dialogs in den Korrekturen auf BS 37 a [1], Bl. 6 ganz wesentlich erweitert. Es soll nun die gesamte Verlobungsgesellschaft inklusive Tanten und Kinder an dem Vergleich zwischen Mensch- und Tierwelt teilhaben. Die Korrekturen von BS 37 a [1], Bl. 6 gehen zunächst in die Fassung des zweiten Bildes von K4 ein. In –––––––— 18
Vgl. WA 14/K2/TS5/BS 5 a [5], Bl. 9.
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K4/TS7/A22, dem ersten Ansatz, in dem der Seelenwanderungs-Dialog überliefert ist, lautet die entsprechende Passage: ZAUBER Aber das eine steht doch glaub ich fest, dass wir Menschen mit der Tierwelt verwandt sind. Ueberhaupt sind wir ja zuguterletzt alle miteinander verwandt. Seit Adam und Eva! MATH Herr Zentner behauptet immer, ich wär in meinem früheren Leben eine Wildkatz gewesen. MARIANNE (horcht und blickt fragend auf Alfred) ZAUBER Oder gar ein Leopard! MATHILDE (lacht) Prost Papa Zauberkönig! Ich glaub, ich hab schon einen Schwipps! OSKAR Marianne hat doch etwas von einer Gazelle an sich, nicht? ALFRED Stimmt. OSKAR (fixiert Alfred) Waren Sie schon in Afrika? ALFRED Nein. ZAUBER Die Tante Henriett ist ein Fabelwesen, und die Josephin hat was von einem Känguruh an sich und der Onkel Ferdinand ist ein japanischer Affenpintscher! (Grosses Gelächter) ZAUBER Na und ich?! MATH Ein Hirsch! Ein alter Hirsch! Prost alter Hirsch! (Brüllendes Gelächter) (K4/TS7/A22/BS 37 f [1], Bl. 36; gedruckt in: WA 3, 356)
Bemerkenswerterweise wird in dieser Fassung des Dialogs die Identifikation Mariannes mit einer „Gazelle“ von Oskar vorgenommen, worin ihm Alfred zustimmt. Dies nimmt Oskar zum Anlass, Alfred mit der offensiven Frage „Waren Sie schon in Afrika?“ lächerlich zu machen. Wieder ist es der Zauberkönig, der die Situation entschärft, indem er auch die Tante Henriett, die Josephin und den Onkel Ferdinand mit tierischen Vergleichen versieht. So wird die Idee der Erweiterung des Personals des Seelenwanderungs-Dialogs in K4/TS7/A22 umgesetzt. Den Abschluss bilden wieder die auf BS 37 a [1], Bl. 6 handschriftlich ausgearbeitete Frage des Zauberkönigs „Na und ich?!“ und die darauf gemünzte Replik Mathildes: „Ein Hirsch! Ein alter Hirsch!“ Die Verlobungs-Gesellschaft bricht daraufhin in „[b]rüllendes Gelächter“ aus, was ebenfalls eine Steigerung gegenüber der früheren Fassung bedeutet. Der Großteil des Seelenwanderungs-Dialogs wird im Laufe von K4 vom Verlobungs-Bild, dem zweiten Bild, in das Maxim-Bild, das fünfte Bild, verschoben. Dabei greift Horváth merklich auf die Notizen auf BS 37 a [1], Bl. 6 und auf K4/TS7/A22 zurück. In K4/TS24, der Endfassung in sieben Bildern, die die einzige vollständige Überlieferung des fünften Bildes von K4 darstellt, lautet die Passage dann folgendermaßen: ZAUBER (zum Rittmeister) Aber was redens denn da, Herr? Also das steht doch schon felsenfest, dass wir Menschen mit der Tierwelt verwandt sind! RITT Das ist Auffassungssache! ZAUBER Oder glaubens denn gar noch an Adam und Eva? RITT Wer weiss! DER MISTER (zu Mathilde) Du Wildkatz!
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ZAUBER Wildkatz! Oder gar ein Leopard! MATH Prost Zauberkönig! ZAUBER Der Herr Rittmeister sind ein Fabelwesen und Du hast was von einem Känguruh an Dir und der Mister ist ein japanischer Affenpintscher! DER MISTER (lacht keineswegs) Fabelhafter Witz, fabelhafter Witz! ZAUBER Na und ich?! MATH Ein Hirsch! Ein alter Hirsch! Prost alter Hirsch! (Brüllendes Gelächter -- nun klingelt das Tischtelephon -- Stille) (K4/TS24/BS 38 f [6], Bl. 24f., abgedruckt in: WA 3, 484f.)
Das Personal des Seelenwanderungs-Dialogs wird hier noch einmal einer Revision unterzogen. Oskar und Alfred, die – anders als im Verlobungs-Bild – im HeurigenBild in dieser Phase der Werkgenese nicht mehr anwesend sind, werden durch den Rittmeister und den Mister ersetzt. Der verbale Konflikt ereignet sich hier zwischen dem Zauberkönig und dem Rittmeister, den Ersterer mit dem Hinweis auf „Adam und Eva“ der Lächerlichkeit preisgibt. Nun ist es der Mister, der Mathilde als „Wildkatz“ apostrophiert, während der Zauberkönig am „Leopard[en]“, der auf K1 zurückgeht, festhält. „Fabelwesen“, „Känguruh“ und „japanischer Affenpintscher“, die allesamt bereits in K4/TS7/A22 vorkommen, werden – entsprechend der Transformation des Personals – nun auf den Rittmeister, Mathilde und den Mister bezogen. Der Mister kommentiert diese Vergleiche mit „Fabelhafter Witz, fabelhafter Witz!“, wohlgemerkt, ohne dabei zu lachen, wie die Regieanweisung betont. Am Schluss stehen wieder die Frage des Zauberkönigs nach dem eigenen Symboltier und die darauf gemünzte Replik Mathildes, in der sie ihn als „alte[n] Hirsch“ bezeichnet. Die Szene schließt wie in K4/TS7/A22 durch „[b]rüllendes Gelächter“ und wird mit dem Hinweis auf das klingelnde „Tischtelephon“ sogleich in die nächste (komische) Szene rund um den Zauberkönig übergeleitet. Der auf BS 37 a [1], Bl. 6, dessen Grundschicht zu K1/TS3 und K3/TS3 zählt, in der handschriftlichen Korrektur eingetragene Familienname „Skankowski“ für Alfred, der später (erstmals in K4/TS7/A16) zu „Zentner“ revidiert wird, findet sich in K4/TS7/ A2/BS 37 f [1], Bl. 2 bereits in der maschinenschriftlichen Grundschicht, was ein Hinweis darauf ist, dass die handschriftliche Bearbeitung von BS 37 a [1], Bl. 6 tatsächlich im Übergang von K3 zu K4 stattgefunden hat (vgl. auch die Ausführungen zu BS 37 e [3], Bl. 1 weiter unten und Abb. 2). Bemerkenswert sind ferner die Blätter BS 37 e [3], Bl. 1–3, die den nur fragmentarisch überlieferten Beginn des Verlobungs-Bildes (K3/TS3) der Hofrat-Konzeption K3 enthalten. Horváth skizziert auf dem Blatt BS 37 e [3], Bl. 1 (vgl. Abb. 2) mit schwarzblauer Tinte einen kompletten Alternativtext zum Dialog zwischen Alfred und Luise. Besonders eindrücklich ist die Tatsache, dass eine Replik, die in der maschinenschriftlichen Grundschicht noch von Alfred geäußert wird, durch die bloße Korrektur des Figurennamens zu Mathilde übergeht, die in der maschinenschriftlichen Grundschicht auf diesem Blatt noch Luise heißt (vgl. den oberen Teil des Blattes). Horváth überschreibt dabei den maschinenschriftlich fixierten Figurennamen Alfred mit schwarzblauer Tinte durch „Math“ und rahmt diesen Figurennamen in einem
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weiteren Bearbeitungsvorgang mit rotem Buntstift ein. Der Name Mathilde ist wieder ein deutliches Indiz für K4, während Luise noch für K3 spricht. Außerdem verschiebt der Autor eine weiter unten auf dem Blatt befindliche Dialogpassage zwischen Luise und Alfred zu Marianne und Alfred, indem er Luise durch „Mar“ für Marianne ersetzt. Es handelt sich dabei um folgende Passage: LUISEMAR Ich glaub, ich bin Dir hörig. ALFRED Das verzieht sich. (K3/TS3/BS 37 e [3], Bl. 1, abgedruckt in: WA 3, 246, vgl. Abb. 2)
Zusätzlich versieht Horváth diese Passage mit rotem Buntstift mit der Markierung „III.“. Wenn damit das dritte Bild der Fassung in sieben Bildern (K4/TS24) gemeint wäre, so würde es sich dabei um das Bild „Im Stephansdom“ handeln. Dort findet sich aber im überlieferten genetischen Material keine Passage, die der zitierten entspräche. Das Motiv der Hörigkeit taucht jedoch im dritten Bild des zweiten Teiles der Fassung in drei Teilen K5/TS12, „Kleines Café im zweiten Bezirk“, auf. Dort äußert Alfred, wieder in einer Umkehrung des Geschlechterverhältnisses, zum Hierlinger Ferdinand: ALFRED […] Meiner Seel, ich glaub, ich bin ihr hörig! DER HIERLINGER FERDINAND Hörigkeit ist eine Blutfrage. Eine Temperaturfrage des Blutes. ALFRED Glaubst Du? DER HIERLINGER FERDINAND Bestimmt. (K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 57, abgedruckt in: WA 3, 609)
Demnach würde die Markierung mit rotem Buntstift aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, nämlich aus K5, in der Horváth das Stück von sieben auf fünfzehn Bilder erweitert und eine Gliederung in drei Teile vornimmt. Dies würde also bedeuten, dass die Korrekturschicht mit rotem Buntstift später zu verorten ist als jene mit schwarzblauer Tinte. Zugleich hieße das, dass auch das vorliegende Blatt BS 37 e [3], Bl. 1 in drei Konzeptionen (nämlich K3–K5) verwendet bzw. bearbeitet wurde. Noch deutlicher wird die Materialschichtung im Falle der Textstufen zum fünften Bild, dem bekannten Heurigen- und Maxim-Bild. Dieses wird in K4 aus zwei Textstufen der Hofrat-Konzeption kompiliert, aus K3/TS5, dem vierten bzw. HeurigenBild von K3, und aus K3/TS7, dem fünften bzw. Maxim-Bild von K3. In K4 wachsen diese beiden Bilder von K3 gewissermaßen zusammen. Die Blätter K3/TS5/BS 38 f [3], Bl. 1–6 weisen mehrere Korrekturschichten auf, die auf unterschiedliche konzeptionelle Phasen deuten. Aufgrund verschiedener Schreibmaterialien (schwarzblaue und violette Tinte sowie Kopierstift) sind diese Korrekturschichten relativ leicht differenzierbar. Die Korrekturschicht mit schwarzblauer Tinte dürfte die erste gewesen sein und markiert bereits den Übergang von K3 zu K4. Dies wird insbesondere durch ein paar Eintragungen auf BS 38 f [3], Bl. 1 klar, wo mit schwarzblauer Tinte bereits der Name Mathilde notiert ist, der auf K4 verweist. Die Markierungen mit Kopierstift sind demgegenüber später zu verorten und zeugen von einem
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weiteren Überarbeitungs- oder zumindest Auswahlprozess, der jedoch ebenfalls noch im Übergang von K3 zu K4 geschehen sein dürfte. Die dritte Korrekturschicht, jene mit der charakteristischen violetten Tinte, wurde noch später eingetragen und stammt aus der Phase der Adaptierung des vorliegenden Bildes im Rahmen von K4. Bemerkenswert ist dabei die Revision der Szene, in der der Rittmeister und Erich aufeinandertreffen. Auf BS 38 f [3], Bl. 3 (vgl. Abb. 3) skizziert Horváth mit violetter Tinte einen neuen Dialog, der in beide Endfassungen eingehen wird. Er beginnt mit der bekannten Replik Erichs „Sie sind Österreicher. Fesch, aber feig!“, die fast zum Duell zwischen ihm und dem Rittmeister führt. Diese Szene ersetzt eine viel harmloser wirkende der maschinenschriftlichen Grundschicht von K3, in der Erich und der Rittmeister über Gedichte und Bridgespiel debattieren. Der Dialog lautet in der Grundschicht: RITT Was hat er denn? LUISE Ein Gedicht. RITT Ojweh! ERICH Lachen Sie nicht! Sie können natürlich keine Gedichte machen! Aber meine Gedichte werden im Lokalanzeiger gedruckt! RITT Scho gut! ERICH Ist immer noch besser als wie Scherzartikel zu erfinden, Gesellschaftsspiele und alten Jüdinen [sic!] das Bridgespiel beibringen! LUISE Erich! ERICH Es gibt Dinge, über die ich keinen Spass vertrag! RITT Ich versteh einen Spass, beruhigen Sie sich nur, gnädige Frau! Dieser Mensch hat in seinem ganzen Leben noch keine fünf Groschen selbst verdient! ERICH Herr! LUISE Nur kein Duell, bitte! ERICH Satisfaktionsfähig wären Sie ja. RITT Wollen Sie vors Ehrengericht? LUISE Ruhe, die Leut schaun schon?!! ERICH Ich lass mich nicht beleidigen. RITT Mich kann man garnicht beleidigen. Sie nicht. LUISE Also versöhnt Euch doch wieder, ich bitt Euch! Beim Heurigen! RITT Ich lass mir doch von diesem Preussen keine solchen Sachen sagen. Wo waren denn Ihre Hohenzollern? Als unsere Habsburger schon Kaiser waren, waren Ihre Hohenzollern noch im Wald!! ERICH Jetzt ist es ganz aus. RITT Da habens zwanzig Groschen und lassen Sie sich mal den Schopf abschneiden, Sie Kakadu! (K3/TS5/BS 38 f [3], Bl. 3, abgedruckt in: WA 3, 260f., vgl. Abb. 3)
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In der Korrekturschicht findet sich folgender Dialogverlauf: ERICH Sie sind Österreicher. Fesch, aber feig! MATHILDE Erich! RITT Was hat er gesagt? ERICH Ich habe gesagt, dass die Österreicher im Kriege schlappe Hunde waren – wenn wir Preussen nicht gewesen wären – RITT Hätten wir überhaupt keinen Krieg gehabt! ERICH Und Serajewo? RITT SieWas {verstehen} Sie denn schon vom Krieg, Sie Grünschnabel? Was Sie in der Schul gelernt haben, sonst nichts! (BS 38 f [3], Bl. 3, in WA 3 nicht gedruckt, vgl. Abb. 3)
Der Text setzt dann mit der Grundschicht von BS 38 f [3], Bl. 3 bei Erichs Einwurf „Herr!“ fort. Die auf BS 38 f [3], Bl. 3 handschriftlich notierte Passage findet sich in ganz ähnlicher Form in der Endfassung in sieben Bildern K4/TS24 im fünften Bild, dem Heurigen- und Maxim-Bild, wandert dann aber in der Endfassung in drei Teilen K5/TS12 in das sechste Bild des zweiten Teiles „Und wieder in der stillen Strasse im achten Bezirk“.19 Dies ist ein Charakteristikum des Überarbeitungsprozesses von der ersten zur zweiten Endfassung. Bilder werden geteilt, Teile von Bildern wandern in andere oder neue Bilder und neue Bilder werden hinzugefügt. Diese Materialwanderungen und Bildrevisionen im Übergang von der ersten zur zweiten Endfassung lassen sich durch die in Band 3 der Wiener Ausgabe erstellte Übersichtsgrafik leicht nachvollziehen (vgl. Abb. 4 und 5). Besonderes Augenmerk sei dabei auf die Transformationen des vierten und fünften Bildes der Fassung in sieben Bildern (K4/TS24) im Übergang zur Fassung in drei Teilen (K5/TS12) gelegt. Es handelt sich um die Bilder „Und wieder in der stillen Strasse“ und „Beim Heurigen“. Zunächst fällt auf, dass Teile des vierten Bildes „Und wieder in der stillen Strasse“ in vier verschiedene Bilder der Fassung in drei Teilen (K5/TS12) weiterwandern, und zwar in die Bilder II.1. „Wieder in der stillen Strasse“, II. 6. „Und wieder in der stillen Strasse“, III.1. „Beim Heurigen“ und III.3. „Und abermals in der stillen Strasse“. Zugleich wird der weiter oben beschriebene Streit zwischen Erich und dem Rittmeister („Sie sind Österreicher. Fesch, aber feig!“) vom Heurigen-Bild, dem fünften Bild der Fassung in sieben Bildern (K4/TS24), in das sechste Bild des zweiten Teiles „Und wieder in der stillen Strasse“ der Fassung in drei Teilen (K5/TS12) verlagert. Diese Bildrevision entschärft gewissermaßen das Heurigen-Bild in der Fassung in drei Teilen und lässt der Maxim-Szene mit dem Auftritt der nackten Marianne keinen anderen Skandal vorausgehen, wodurch die Szene im Nachtlokal zur wahren Klimax des für das Stück so zentralen Heurigen- bzw. MaximBildes wird.
–––––––— 19
Vgl. K4/TS24/BS 38 f [6], Bl. 20f., abgedruckt in: WA 3, 480f., und K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 72f., abgedruckt in: WA 3, 618.
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Conclusio Die genannten Beispiele haben gezeigt, wie stark Horváth bestehenden Text noch bearbeitet, umarbeitet und mitunter auch verschiebt. Auf manchen Blättern legen sich so mehrere Schichten übereinander: Materialschichten, Korrekturschichten, Gliederungsschichten. Allesamt sind dies Textschichten, die den Text in den unterschiedlichsten Phasen der Werkgenese als geschichteten Hypertext erscheinen lassen. Die Werkgenese und vor allem die Endfassungen von Geschichten aus dem Wiener Wald hat man sich so als eine Art Schicht-Torte vorzustellen, etwa eine Esterházy-Torte, wie sie in der Donaumonarchie in Mode kam und bis heute in Österreich, Ungarn, aber auch in Deutschland gerne gegessen wird. Schicht für Schicht legt der Autor im Zuge der Werkgenese übereinander, und der Editor trägt die Schichten wieder ab.
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Abb. 1: IN 221.000/1 – BS 37 a [1], Bl. 6, Nachlass Ödön von Horváth, Wienbibliothek im Rathaus, Wien.
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Abb. 2: IN 221.000/22 – BS 37 e [3], Bl. 1, Nachlass Ödön von Horváth, Wienbibliothek im Rathaus, Wien.
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Abb. 3: IN 221.000/64 – BS 38 f [3], Bl. 3, Nachlass Ödön von Horváth, Wienbibliothek im Rathaus, Wien.
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Abb. 4: Textvergleich der beiden Endfassungen von Geschichten aus dem Wiener Wald K4/TS24 und K5/TS12 (Ausschnitt), Quelle: WA 3, 925.
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Abb. 5: Textvergleich der beiden Endfassungen von Geschichten aus dem Wiener Wald K4/TS24 und K5/TS12 (Ausschnitt), Quelle: WA 3, 926.
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Architextuelle und mediale Transposition als Agens der Textrevision Werner Koflers Tanzcafé Treblinka In memoriam Fabjan Hafner Kofler war eine unserer Gemeinsamkeiten Eine von vielen Kunst muß die Wirklichkeit zerstören, so ist es, die Wirklichkeit zerstören statt sich ihr zu unterwerfen, auch was das Schreiben anlangt … Aber das Entsetzliche, müssen Sie wissen, das Entsetzliche ist: Die Wirklichkeit […] schert sich keinen Deut um die Zerstörung, die ihr in der Kunst zugefügt wird, […]. Immer wieder sage ich: Komm her, du Wirklichkeit, jetzt wird abgerechnet, ich traktiere sie auch, Sie wissen nicht wie – und doch: Sie macht um so unverfrorener weiter … […] ein Wirklichkeitszerstörer wie ich bleibt ohnmächtig am Schreibtisch sitzen […].1
Diese Schlüsselpassage aus Werner Koflers Prosasammlung Am Schreibtisch von 1988 ist die meistzitierte seines Werks – zu Recht. Denn zum einen spricht hier ein Rollen-Ich, ein Alter Ego des schreibenden Autors, von seinem hochfliegenden Anspruch, durch Schreiben/Kunst die Wirklichkeit zu zerstören … und daran zu scheitern. Zum anderen aber ‚siegt‘ eben dieses Sprechen durch seinen persuasiven Wortfuror: Wir Lesenden können uns der faszinierenden Wortgewalt des Koflerʼschen Texts nicht entziehen. Denn er scheint uns direkt anzusprechen: In ein Double-Bind verschlungen, werden wir erst zu Mitwissenden gemacht („müssen Sie wissen“), dann zurückgestoßen („Sie wissen nicht wie“). Koflers große Kunst ist es, die akustische Körperlichkeit und unmittelbare Präsenz von Sprache zu restituieren, die in Schriftlichkeit verloren geht. Über eine Mimikry des Oralen holt er den ‚toten‘ Buchstaben der Schrift in die Performativität menschlicher Sprache zurück: ins Sprechen. So etabliert er zwischen den Textstimmen und uns, den Lesenden, jene unmittelbare KoPräsenz, wie sie sonst nur im direkten Gegenüber von Sprecher und Hörer existiert.2 Es ist also konsequent, dass Kofler neben Prosatexten vor allem Hörspiele verfasste.3 Aber warum interessiert sich ein Autor, dessen Texte virtuose Stimmenkunst sind und Ko-Präsenz simulieren, so wenig für die Kunst, die beides zwingend verlangt: das Theater? Es gibt tatsächlich nur ein einziges Theaterstück aus der Feder –––––––— 1 2
3
Werner Kofler: Am Schreibtisch. Alpensagen / Reisebilder / Racheakte. Reinbek 1988, S. 81–82. Kofler hintergeht damit die medienkulturgeschichtliche Entwicklung seit der Erfindung der Schrift: die Dominanz des Sehens über das Hören. Mit der Erfindung der Schrift soll das ‚stille‘, ‚stumme‘ Lesen entstanden sein. Doch Lesen ist nur äußerlich still, und gar nicht stumm. Denn Lesen besteht nicht nur im visuellen Entziffern von Buchstaben, sondern auch im innerlichen Mitsprechen dieser Buchstaben. Erst so entsteht ein Kontinuum. Lesen ist nach innen verlagerte Oralität. Eine allerdings irreführende Genrebezeichnung, denn Hören ohne Sprechen geht nicht. Es müsste also eigentlich Sprech- und Hörstücke heißen. Zu Koflers Hör-/Sprechstücken gibt es bisher nur eine Wiener Diplomarbeit: Eva Lugbauer: Die Hörspiele von Werner Kofler. Wien 2012.
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Werner Koflers, das dieser bezeichnenderweise Sprechstück nannte: Tanzcafé Treblinka. Es wurde 2001 am Stadttheater Klagenfurt uraufgeführt und steht im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags. Denn Tanzcafé Treblinka nimmt in Koflers Gesamtwerk nicht nur eine Sonder-, sondern auch eine Schlüsselposition ein. Es wurde nämlich 11 Jahre vor seiner Entstehung imaginiert – just durch das eingangs zitierte Alter Ego des Autors als Beispiel dafür, wie Kunst Wirklichkeit doch noch zerstören könnte: […] aber wissen Sie was? […] Ich habe ja schon zwei Sprechstücke, zwei Theatervernichtungsstücke geschrieben, allerdings bin ich daran und damit gescheitert. […] diesmal werde ich schlauer sein, diesmal schreibe ich ein Sprechstück mit Musik, das Stadttheater heißen wird. […] Für mein Sprechstück mit Musik werde ich […] auf meine Klagenfurter Theaterpraxis zurückgreifen; […] Der Theaterbrand als Weltenbrand, habe ich schon notiert, der Weltenbrand als Theaterbrand. […] eine große Sache, die ich da vorhabe! […] In meinem Sprechstück mit Musik – hören Sie? – werde ich […] auf die sogenannte Grenzlandtheaterzauberflöte [zurückgreifen]. […] An dieser Volkswohlfahrt- und Gaupropagandazauberflöte werde ich das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit abhandeln, […].4
Diese Phantasmagorie schwankt zwischen hochfahrender Ermächtigung und abstürzender, sich selbst entlarvender Entmächtigung. Die „große Sache“ ist auf dem besten Wege zu verpuffen. Ungefährlich für die Wirklichkeit … Doch 1999, elf Jahre später, wird das hier bloß Imaginierte Realität. Es ist exakt das hier angespielte „Stadttheater“ Klagenfurt, dessen Vergangenheit als nationalsozialistisches „Grenzlandtheater“ angegriffen wird, das sich an Werner Kofler wendet und ihn einlädt, im Rahmen der Autorenwerkstatt „ein Stück zum Thema ‚Kärnten‘“ zu schreiben.5 Es bedurfte offensichtlich dieses Impulses von außen, denn er nimmt das Angebot an und schreibt – just an einem „Sprechstück mit Musik“. Es ist dieses Sprechstück-Projekt, das im Rückgriff auf die Phantasmagorie von 1988 auf das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit zielt und darin den Kern des Koflerʼschen Gesamtwerks trifft. Dieses Projekt soll jetzt die Form des einzigen Theaterstücks annehmen, das Kofler je geschrieben hat. Daher die Sonder- und Schlüsselposition von Tanzcafé Treblinka. Bloß wie realisiert Kofler sein Projekt? Die Phantasmagorie von 1988 reicht da nicht. Zu Recht wird immer wieder auf die komplexe Intertextualität der Texte Werner Koflers verwiesen, insbesondere auf die intertextuellen Verschlingungen seiner Texte untereinander6 – Verschlingungen, die sich immer wieder um obsessiv wiederkehrende Themen verknäueln. Wer Kofler liest, hat des Öfteren das Erlebnis eines déjà-lu (schon gelesen). Doch bisher unterbelichtet blieb, dass und wie diese werkinternen Verschlingungen bereits in der Textgenese zustande kommen. Koflers Texte entstehen –––––––— 4 5 6
Kofler 1988 (Anm. 1), S. 70, 72, 80. Jahresheft Stadttheater Klagenfurt 2000/2001, S. 17. Vgl. dazu insbesondere: Marina Corrêa: Polyphonien in Werner Koflers ‚Der Hirt auf dem Felsen‘. Wien 2004. – Claudia Dürr: Die hohe Schule der Anspielung. Intertextualität im Prosawerk Werner Koflers. Frankfurt/M. 2009.
Architextuelle und mediale Transposition als Agens der Textrevision
Abb.: Entstehungsgeschichte von Tanzcafé Treblinka
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zu einem Gutteil durch Textrevisionen eigener früherer Texte, sozusagen durch deren Recycling. Dies gilt auch für Tanzcafé Treblinka. Dazu liegt im Robert Musil-Institut / Kärntner Literaturarchiv, das ich seit Oktober 2015 leite, ein durchaus reichhaltiger Nachlass.7 Durch Textzeugenvergleich habe ich die Entstehungsgeschichte rekonstruieren können (s. Abb.). Betreten wir also die Koflerʼsche ‚Schreibszene‘.8 Siehe da: Der älteste Textzeuge T 28 liegt nicht in den ‚Kofler‘-Kisten,9 sondern im Vorlass von Maja Haderlap. Sie war seinerzeit Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt und Leiterin der Autorenwerkstatt, die die Einladung an Kofler aussandte. Das Typoskript T 28 ist ein schon sehr elaborierter, aber noch titelloser Entwurf.10 Er zeigt uns, wie Kofler erstmals das Neuland des Theaterstücks betritt. Er nimmt zwei eigene frühere Prosatexte auf und revidiert sie architextuell, nämlich mit Blick auf das für ihn neue Genre des Theater- bzw. Sprechstücks: Am Schreibtisch von 1988 und Bilder, Beschreibung, Irrtum von 1993.11 Beide Prosatexte sind Sprechmonologe eines körperlosen Ich, das dringlich ein Gegenüber anspricht, welches körper- und stimmlos bleibt. Daher fühlen wir Lesende uns als dieses Gegenüber angesprochen. Doch beim architextuellen Wechsel von der Prosa zum Sprechstück muss Kofler neben der auditiven Präsenz nun auch eine visuelle Präsenz herstellen.12 Er erfindet zwei anonyme Figuren und übernimmt das Setting der beiden Prosatexte: dem Monologisierer „A“ stellt der den angesprochenen, stummen „B“ gegenüber. Anfangs allerdings bleibt Kofler in seinen
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Betroffen sind insgesamt sieben Bestände. Zwei Bestände Haderlap (Bestand Haderlap II [= Kofler (II)] – 1, Sign. 53 und Bestand Haderlap II [= Kofler (II)] – 2, Sign. 53) sowie fünf Bestände Kofler (Bestand 125/W 24, Bestand 125/W 25, Bestand 125/W 26, Bestand 125/W 27, Bestand 125/ Bestandserweiterung). Zum Begriff der ‚Schreibszene‘ vgl. u. a. Martin Stingelin: ‚Schreiben‘. Einleitung. In: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin. München 2004, S. 7–21, insbes. S. 8. Die Textzeugen haben keine Archiv-Sigle, weswegen ich sie behelfsweise gemäß Medium und Seitenanzahl benannt habe: T = Typoskript, 28 = 28 Seiten. T 28 präsentiert uns Koflers wichtigstes Schreibinstrument, das schon beim Entwerfen zum Einsatz kommt: seine mechanische Schreibmaschine. „Mehrere Schreibmaschinen verschiedenen Kalibers“ habe er: zur Waffe stilisierte Instrumente der „Wirklichkeitsvernichtung“ und „Verbrechensbekämpfung“ (Kofler 1988 [Anm. 1], S. 125). Mit dieser ‚Waffe‘ hämmert Kofler seine Texte, auch im Entwurfsstadium. Wir sehen dies an seinen Sofortkorrekturen und Soforteinfügungen in den Typoskripten selbst. Ihnen gegenüber haben mögliche frühere handschriftliche Notizen nicht annähernd denselben Stellenwert: er hebt sie nicht auf, während er von seinen Werken oft mehrere Typoskript-Fassungen aufbewahrt. Koflers Flächenmanagement bei Typoskripten ist: Zeilenabstand lassen für kleinere Einfügungen, die Hälfte oder sogar 2/3 eines Blattes freilassen für mögliche größere Einfügungen. Die nächste Schreibphase besteht dann darin, diese Flächen zu füllen: das Typoskript wird handschriftlich überarbeitet, in der ersten Phase meist mit einem grauen Tintenbleistift, der sich dann leicht lila verfärbt, dann mit schwarzem oder blauem Kugelschreiber. Kofler 1988 (Anm. 1) und Werner Kofler: Bilder, Beschreibung, Irrtum. In: ders.: Aus der Wildnis. Verstreute Prosa. Wien 1998, S. 69–77. Erstabdruck: Wespennest 93, 1993, S. 5–8. Theater kommt von altgr. théatron, ‚Schaustätte‘, und ist abgeleitet vom Verb theáomai ‚aufmerksam anschauen‘.
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früheren Prosatexten hängen, in deren Recycling für den Monolog von A.13 Er übernimmt aus Am Schreibtisch Satzfetzen, so dass eine Art gesprochener stream of consciousness entsteht: Am Schreibtisch, S. 80
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[…] In meinem Sprechstück mit Musik – hören Sie? – werde ich […] auf die sogenannte Grenzlandtheaterzauberflöte [zurückgreifen]. […]
[…] Damals übrigens nicht Stadttheater, damals Grenzlandtheater, damals Grenzlandtheaterzauberflöte … […]
[…] Es müssen wundervolle Abende gewesen sein, male ich mir manchmal aus, Abende im Advent, die Führersehnsucht der Klagenfurter ist gestillt, der Kriegswinter ins Land gezogen, der Gaupropagandaleiter hat begeistert Beifall gespendet; nach der Vorstellung, male ich mir aus, ist man ins Tanzcafé Lerch gegangen, ein zu jeder Zeit hoch angesehenes, florierendes Etablissement […].
[…] Es müssen wundervolle Abende gewesen sein … Glanzvolle Premieren Anfang Dezember, genußreiche Theaterabende in entbehrungsreicher Zeit ... […] Abende im Advent … die Führersehnsucht der Klagenfurter gestillt, der Kriegswinter ins Land gezogen …Nach der Vorstellung ist man wahrscheinlich ins Tanzcafé Lerch gegangen … […] ein zu jeder Zeit hoch angesehenes, florierendes Etablissement […].
Für die Fortsetzung des Monologs greift Kofler auf seinen Prosamonolog Bilder, Beschreibung, Irrtum zurück. Dort kommentiert ein Rollen-Ich seinem Gegenüber SWFotos, die nun im Sprechstück-Entwurf theaterspezifisch als SW-Dias auf eine Leinwand projiziert werden. Aus dem Prosamonolog – und zwar von dessen Anfang an – übernimmt Kofler über 30 Stellen für den Monolog von A. Der Monolog von A ist also quasi selbst eine Textrevision, eine neue Fassung des früheren Prosamonologs. Nur zwei Beispielstellen in synoptischer Gegenüberstellung: Bilder, Beschreibung, Irrtum, S. 69, 72
Tanzcafé Treblinka, T 28
Hier ich, 1932, als SA-Mann, vor dem Parkhotel, anläßlich des Gauparteitages, da, sehen Sie, meine Armbinde und meine Schirmkappe; […] haha, eine solche Schirmkappe hätten Sie wohl auch gerne gehabt, die Schaftstiefel sind leider nicht im Bild … Das glänzende Kopfsteinpflaster, sehen
[…] Ich als SA-Mann … Sehen Sie nur, meine Schirmkappe, sehen Sie? Eine solche Schirmkappe hätten Sie wohl auch gerne gehabt … Und das Kopfsteinpflaster, wie es glänzt unter den Schaftstiefeln … sehen Sie? […]
–––––––— 13
Der Monolog des Rollen-Ich in Am Schreibtisch zitiert wiederum aus der völkischen Monatsschrift Getreuer Eckart – eine intertextuelle Tiefenstaffelung, auf deren Grund originale Dokumente liegen. Dieser – immer entlarvend eingesetzte – Dokumentarismus ist ein weiteres Kennzeichen des Koflerʼschen Schreibens.
130 Sie, nein, nicht wegen des Aufmarsches glänzt es, es muß geregnet haben damals, […]. […] Aber sagen Sie – nein, sagen Sie nichts – sagen Sie, wieso komme ich überhaupt auf SA? Ich war ja gar nicht bei der SA, ich war bei der SS, so war es, ein Irrtum […]
Anke Bosse
[…] Sagen Sie, wie komme ich überhaupt auf SA? Ich als SA-Mann? Das muß ein Irrtum sein […] SS, hier, DER werde ich gewesen sein […].
An der Figur A exemplifiziert Kofler, wie Identität imaginiert, manipuliert, austauschbar, annullierbar ist – und damit auch Verantwortlichkeit und Schuld. Ab hier vertieft Kofler ein Thema, das ein regelrechter ‚Wiedergänger‘ seiner Texte und eng mit dem Anspruch verbunden ist, Kunst müsse die Wirklichkeit zerstören: Aus den Monologfetzen der Figur A schält sich das Klagenfurter Tanzcafé Lerch als Brutstätte des Holocaust heraus, als Treffpunkt führender Kärntner Nazis, darunter Odilo Globočnik und Ernst Lerch. Diese standen an der Spitze der „Aktion Reinhard“, des Prototyps industrieller Judenvernichtung in Belzec, Sobibor und … Treblinka – „Gesamtbilanz mehr als zwei Millionen“14 ermordete Juden. Einer der größten Holocaust-Verbrecher, Globočnik, war lange außerhalb des Wahrnehmungsradars der Öffentlichkeit, ist aber zusammen mit Lerch ein Wiedergänger, Untoter in Werner Koflers Texten.15 Anhand der überlieferten Autographen konnte ich rekonstruieren, dass Kofler in insgesamt 12 Schüben16 Anlauf nimmt mit Hilfe früherer, eigener Texte, indem er sie revidierend recycelt. Agens dabei ist der architextuelle Wechsel zum Sprechstück und dessen Zielperspektive, die mediale Transposition in die Theateraufführung. Koflers nächster Schritt ist der Versuch, von den eigenen früheren Prosatexten loszukommen. Daher gibt er der changierenden Identität seiner Figur A eine neue Richtung: Er verschiebt sie vom möglichen Mittäter zu jemandem, der den Drang hat, seinem Gegenüber die Geschichte des Holocaust nahezubringen. Eine Mission. Doch wer ist dieses Gegenüber? Offensichtlich die Figur B. Doch T 28 enthält nur den Part von A, B bekommt weder Stimme noch Körper. B bleibt eine Geisterexistenz. Der Grund: Kofler hängt noch zu sehr in seinen früheren Prosatexten fest, die ja nur ein monologisierendes Ich sprechen lassen, dessen jeweiligen Adressaten aber keine Stimme geben. Erst im genetisch nachfolgenden Typoskript T 45 lässt sich erkennen, dass Kofler nun resolut den architextuellen Wechsel zum Theaterstück voll–––––––— 14 15 16
T 28, S. 15‒17. Teile der Nachlassbibliothek Werner Koflers liegen ebenfalls im Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv. Vgl. Anm. 21. T 28, S. 1–4; 5–8, 9–10, 11–12, 13–14, 15, 16–19, 20–22, 23–24, 25, 26, 27–28. Sie umfassen maximal 4 Seiten, oft nur eine Seite, und werden zum Ende hin immer kürzer. So belegt schon die Makrostruktur von T 28 dessen Entwurfcharakter. Dieser zeigt sich natürlich auch auf der Mikroebene: an beim Tippen eingefügten Zusätzen, an unentschiedenen Alternativen, an Textstellen, die mit Klammern als provisorisch markiert sind, u. v. m.
Architextuelle und mediale Transposition als Agens der Textrevision
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zieht, indem er zwei Typoskriptseiten mit ausführlichen Bühnen- und Regieanweisungen vorschaltet. Sie zeigen, dass Kofler nicht beabsichtigt, einen theatralen Dialog zwischen A und B zu kreieren. Die Beleuchtung soll so sein, „dass offen bleibt, ob der angesprochene B […] tatsächlich auf der Bühne ist, oder nicht (im zweiten Teil, wenn B spricht, umgekehrt mit A […]).“17 Er plant zwei hintereinandergeschaltete Monologe, um deutlich zu machen, dass hier zwei Figuren fundamental aneinander vorbeireden. Dabei wird es bleiben: Nicht dialogisch (kommunikativ, dramaturgisch) aufeinander bezogen, sondern verschoben, ‚zeitversetzt‘; zwei Theaterwelten, -melodiken, Sprechdukti, Tonlagen, die nicht mehr aufeinanderprallen, sondern nacheinander – aneinander vorbei – vorgeführt werden; […].18
Interessant auch, dass Kofler in T 45 erstmals ein Titelblatt für sein „Sprechstück“ bietet. Der Titel Tanzcafé Treblinka verbindet einen Anfangspunkt des Holocaust, das Tanzcafé Lerch, mit einem seiner Endpunkte, Treblinka.19 Einen Ort des Vergnügens mit einem Ort des Grauens. Und dann, endlich: Auftritt für B – auf 16 völlig neuen Typoskriptseiten! Ein entscheidender neuer Schub in der Genese von Tanzcafé Treblinka. B’s Monolog wiederholt im Grunde Fetzen des Monologs von A, um zu negieren, zu destruieren. B ist A’s negatives Echo: NEIN!!!! / NEIN, nie gehört! / Nichts gehört, nein! / Nein und nochmals nein! / REICHSKRISTALLNACHT – nein! / SA – Nein! / […] – wundervolle Abende gewesen sein … Kriegswinter ins Land gezogen … / […] – Theater! / Alles Theater!20
B’s Monolog ist genau genommen eine textinterne Revision des Monologs von A. Dann ‚mutiert‘ B weiter zur Stimme derer, die sich als überfüttert sehen vom Thema Nationalsozialismus und Holocaust, um es dann aktiv zu löschen, zum „Schnee vom vergangenen Jahrtausend“ zu erklären. A berichtet vom Genozid, B will den Mnemozid. B will unbelasteten ‚Fun‘. Dafür setzt sich Kofler mit einem 1999 neuen Klagenfurter Phänomen auseinander, das statt des Tanzcafés Lerch eine neue Vergnügung setzt: das Beachvolleyballturnier. Kofler stößt auf den ersten Turnier-Flyer und –––––––— 17 18
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T 45, Vorspann. Ebd. Koflers Verfahren beim Monolog von A (wie auch zuvor in den Prosatexten) ähnelt dem, was Bachtin „versteckte Dialogizität“ nannte. Gemeint ist ein Dialog zweier Menschen, bei dem die Repliken des zweiten Partners weggelassen sind. „Der zweite Gesprächspartner ist unsichtbar anwesend, seine Worte fehlen, doch die tiefe Spur dieser Worte bestimmt alle anwesenden Worte des ersten Gesprächspartners.“ (Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt/M. 1990, S. 124). Das Tanzcafé Lerch war Treffpunkt des Nazi-Trios Friedrich Rainer, Odilo Globočnik und Hubert Klausner noch zu Zeiten, als die NSDAP in Österreich illegal war; ihre Karriere nimmt hier ihren Ausgang: diese „Alten Kämpfer“ standen an der Spitze der Kärntner Nationalsozialisten; im Tanzcafé verkehrten auch Ernst Kaltenbrunner und der Sohn des Inhabers, Erich Lerch, später rechte Hand Globočniks, des Leiters der „Aktion Reinhard“ im Rahmen der sog. „Endlösung“; Lerch war nach dem Krieg Weiterbetreiber des Tanzcafés Lerch bis Anfang der 1970er Jahre. Die gegen ihn angestrengten Prozesse verliefen im Sande – laut offizieller Verlautbarung gegenüber der Presse mangels ZeugInnen. T 45, S. 29‒45.
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Anke Bosse
konfrontiert in der Figur B die Happy-Peppy-Szenerie des Beachvolleyballs mit dem Holocaust. Collage als Kollision: Rassehygiene – / Der Sand ist hell! / Vergasungswagen – / Der Sand ist hell! / Gaskammer – / Der Sand ist hell! / Das Tanzcafe ist geschlossen! / Wannseekonferenz ‒ / Der See ist blau! / Endlösung – / Der See ist blau! […]21
Kofler lässt T 45 ins Reine schreiben und am Nadeldrucker ausdrucken: P 43. Eine Kopie verlässt nun erstmals Koflers Wiener Schreibszene Richtung Klagenfurt, in die Hände Maja Haderlaps, verantwortlich für die Autorenwerkstatt. Kofler agiert in einem für ihn ungewohnten Feld. Die an der Textentstehung und -revision beteiligten Akteure sind nicht mehr im Buchverlag zu finden, sondern im Theater. Haderlap setzte auf das Titelblatt die Bleistiftnotiz „Sereny“. Gitta Sereny hat 1979 die Aufzeichnungen ihrer Gespräche mit Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, veröffentlicht.22 Diese befinden sich in Koflers Nachlassbibliothek, und wer Koflers Markierungen und Notizzetteln folgt, merkt: Haderlap gab den Anstoß dafür, dass Kofler für Tanzcafé Treblinka das Holocaust-Thema so gründlich vertiefte wie nie zuvor. Er stützt sich nun auf Zeugenaussagen der Täter. Er unterlegt den Monolog von A mit authentischen Dokumenten, etwa zu den sog. „Sportveranstaltungen“ des stellvertretenden Lagerkommandanten von Treblinka, Kurt Franz. „Dieser Kommandant hatte übrigens einen Hund darauf abgerichtet, Menschen zu zerfleischen, und zwar von den Genitalien ausgehend.“23 Ebendieser Kurt Franz hat dafür gesorgt, „dass von Treblinka nicht viel mehr geblieben ist als sein Fotoalbum mit der Aufschrift SCHÖNE ZEITEN […].“24 Der Part von A, schon bisher doppelt so lang wie der von B, schwillt weiter an. Das Ungleichgewicht ist auch der Dramaturgin Haderlap aufgefallen. Als Akteurin an der medialen Schnittstelle zwischen Text und – heranrückender – Theateraufführung urgiert sie eine Erweiterung des Parts von B. Mit Erfolg. In einem Fax von Februar 2000 schickt Kofler ihr ein neues, achtseitiges Typoskript zum Part von B – T 8.25 –––––––— 21 22
23 24 25
T 45, S. 52. Gitta Sereny: Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka. Überarb. Neuausgabe. 3. Aufl. München, Zürich 1997. Kofler hat zuvor schon, aber besonders ab jetzt weitere Quellen genutzt. In seiner Nachlassbibliothek finden sich außer Sereny weitere, für Tanzcafé Treblinka einschlägige, markierte und durchgearbeitete Bücher zum Holocaust: Israel Gutman/Eberhard Jäckel u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. 4 Bde. München, Zürich 1998, insbes. Artikel Aktion 1005, Aktion Reinhard, Belzec, Globočnik, Lublin, Treblinka. – Eugen Kogon: Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation. Frankfurt/M. 1995. – Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat. Frankfurt/M. 1982. – Siegfried J. Pucher: „... in der Bewegung führend tätig“. Odilo Globočnik – Kämpfer für den „Anschluß“, Vollstrecker des Holocaust. Klagenfurt/Celovec 1997. – Oliver Rathkolb: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien 1991. – Ausgabe der Zeitschrift profil vom 13. März 1979 mit dem Titelthema „Österreichs Anteil an der Endlösung“ (im Bestand Haderlap II [= Kofler (II)] – 2, Sig. 53). P 51, S. 28. Ebd. Er sandte es auch per Post und schrieb auf die beigelegten Karten „ergänzende Entwürfe, inoffiziell / Gruß, K.“ sowie „Noch nicht zur Weitergabe bestimmt! / Gruß, K.“
Architextuelle und mediale Transposition als Agens der Textrevision
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Von Haderlap ermutigt, integriert Kofler T 8 in sein Sprechstück.26 Er macht jetzt nur noch wenige Korrekturen, die dann in einen neuen Nadeldruckprint übernommen werden: P 51. Dies ist die Fassung, die im Studio des Stadttheaters Klagenfurt am 12. Mai 2001 uraufgeführt wurde27 und die in den Druck ging. Sie erschien 2001 im Deuticke-Verlag.28 Obwohl von der Kritik begeistert aufgenommen, geriet Koflers einziges Theaterstück in Vergessenheit. Doch er selbst sorgte für seine ‚Wiederauferstehung‘ in anderer Form: als Hörspiel. Hier befand er sich auf vertrautem Terrain. Die mediale (und finanzielle) Mehrfachvermarktung seiner Werke praktizierte Kofler seit Beginn seiner literarischen Karriere. Noch vor der Klagenfurter Uraufführung seines Sprechstücks hat er die Fassung P 51 an ihrem Ende, im Monolog von B, um zwei Seiten erweitert und dabei den Konnex zum Beachvolleyball noch einmal verstärkt. Doch das Stadttheater entschied sich gegen diese Fassung P 53. Nun nutzte Kofler sie, um sie mit Blick auf einen erneuten architextuellen Wechsel zu revidieren: hin zum Hörspiel und zu dessen Transposition in die rein auditive Aufführung im Radio. Kofler war HörspielProfi. Die Revision seines Sprechstücks plante er genau. So erweiterte er den Titel um „Stadttheater“. Denn einerseits entfällt im Hörspiel der autoreferentielle Bezug, den das Sprechstück zum Theater herstellen konnte. Andererseits will Kofler die Schlüsselrolle des Stadttheaters/Grenzlandtheaters Klagenfurt auch im Hörspiel bewahren. Alle visuellen und theaterbühnenbezogenen Passagen arbeitet er systematisch für das Hörspiel um: die Bühne wird zum „Innenraum“, die „Projektionsleinwand“ und die Beleuchtung werden eliminiert, da im Hörspiel nicht umsetzbar. Visuelle Effekte werden zu auditiven konvertiert, z. B. der Projektor zum „Bildwechselgeräusch“. Vor allem entschließt sich Kofler zu umfänglichen Kürzungen im Monolog von A. Gut ein Fünftel des Monologs entfällt – mit nur minimalen Auswirkungen auf den Monolog von B. Dieser hingegen profitiert von der Erweiterung in P 53. Der offensichtlich anvisierte, doppelte Effekt ist: Der Monolog von A strapaziert in gekürzter Form die Geduld der HörerInnen weniger. Und der Monolog des jungen B ist stärker auf den Beachvolleyball und damit auf Aktuelles bezogen. Die englischen Fachwörter des Beachvolleyballs haben – gerade für das Hörspiel – einerseits lautmalerische Effekte: „DIG SMASH BLOCK / KONG BLOCK / CUT SHOT / SUN SERVE / POKY.“29 Andererseits aber sind sie wirkungsvolle Mittel für B’s Mnemozid, die sprachliche Löschung des Holocausts: Das Grauen hinter Kurt Franz’ „Schönen Zeiten“ verschwindet hinter einem „Schönen POKY“. Der Holocaust wird krass kontrastiert mit –––––––— 26 27 28 29
Über ihre Rolle bei der Entstehung von Tanzcafé Treblinka habe ich mich intensiv mit Maja Haderlap ausgetauscht, auch anhand des Kofler-Nachlasses sowie ihres eigenen Vorlasses. In Haderlaps Vorlass liegt die Aufführungsvorlage der Regisseurin Vera Sturm, die eindeutig auf P 51 beruht. Werner Kofler: Tanzcafé Treblinka. Geschlossene Vorstellung. Sprechstück mit Musik. Wien u. a. 2001 (Deuticke LeseZeichen). Laut dem Flyer, der Kofler zur Verfügung stand, bedeuten diese: Dig = „verteidigter ball“; Smash = „harter angriffsschlag; Block = „am netz abgewehrter smash“; Kong Block = „einhändiger block“; Cut Shot = „extrem diagonaler shot“; Sun Serve = „extrem hoch aufgespielter Aufschlag“; Poky = „mit den fingerknöcheln gespielter shot“.
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Anke Bosse
der Happy-Peppy-Szenerie des Beachvolleyballs: „Belzec – / Der See ist blau, blau ist der See. / Sobibor – / Hell ist der Strand, der Strand ist hell. / Treblinka – / Blau ist der See, der See ist blau.“30 Dieser provozierende Kontrast hat Wirkung. Denn Kunst kann die Wirklichkeit nicht zerstören, wohl aber die Wirklichkeit der Leserin, des Lesers verändern – ihr Bewusstsein. Es wird deutlich: Agens der Textrevision ist im vorliegenden Fall der architextuelle, genrespezifische Wechsel vom Prosamonolog zum Theatermonolog und dann zum Hörspielmonolog – jeweils mit Blick auf deren mediale Transposition auf der Bühne bzw. im Radiostudio.
–––––––— 30
P 45, S. 39‒53.
Gabriele Wix
Editionsphilologie und Gegenwartsliteraturforschung: Montage als dichterische Praxis bei Marcel Beyer (1965) und Thomas Kling (1957–2005)
Von möglichen und unmöglichen Dingen Was vor 20 Jahren noch als „ein Ding der Unmöglichkeit“ galt, ist heute Programm, die Gegenwartsliteraturwissenschaft.1 Damit sind auch die Schreibprozesse zeitgenössischer Autoren im Fokus der Editionswissenschaft, und epistemologisch wie methodologisch ergibt sich die Notwendigkeit der Überprüfung der editionswissenschaftlichen Begrifflichkeit auf ihre Tauglichkeit zur Beschreibung von Schreibverfahren, die zwar, wie zu zeigen sein wird, nicht neu sind, sondern in der Tradition der Avantgarde stehen, aber dennoch Begriffe und Beschreibungssprache der Editionswissenschaft herausfordern. Gleichzeitig stellen sich Fragen, die sich nicht isoliert aus editionsphilologischer Perspektive betrachten lassen, sondern im Kontext des grundlegenden Wandels der philologischen Wissenschaftskultur zu sehen sind: Aktuelle Gegenwartsliteraturforschung findet in einer institutionellen Gemengelage statt, die Rollenkonflikte und Distanzprobleme produziert: Wenn Autoren im Hörsaal über Poetik dozieren und an Fachtagungen teilnehmen, wenn Philologen diese Autoren moderieren, ihre neuen Titel rezensieren und eigens erstelltes Interviewmaterial in ihren Aufsätzen zitieren, ergeben sich Fragen nach den Prämissen und Verfahren philologischer Wissensproduktion, und damit auch nach deren Kriterien und Standards.2
Die Forderung nach einer „praxeologisch motivierten Reflexivität“3 steht im Raum: Veränderte akademische Kontaktzonen für Schriftsteller und Forscher bieten Möglichkeiten der Recherche, Datensammlung und Evidenzstiftung, die es zu reflektieren gilt; neuartige Para- und Epitexte müssen beschrieben und bezüglich ihres epistemischen Status definiert
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Thomas Steinfeld: Am Ende der Philologie. In: Merkur 51, 1997, H. 3, S. 204–214, hier 213. Vgl. auch Carlos Spoerhase: Literaturwissenschaft und Gegenwartsliteratur. In: Merkur 68, 2014, H. 1, S. 15–21. Zum Begriff des Zeitgenössischen aus soziokultureller Perspektive vgl. Rudolf Stichweh: „Zeitgenössische Kunst“: Eine Fallstudie zur Globalisierung. In: Merkur 68, 2014, H. 10, S. 909–915, hier 909: „In einer Reihe von Funktionszusammenhängen der heutigen Gesellschaft wird das Moment des Gegenwärtigen, des Zeitgleichen, des Zeitgenössischen immer stärker betont: Contemporary History, Contemporary Art, zeitgenössische Musik, zeitgenössischer Tanz, zeitgenössische Literatur. Der Gegenbegriff zu zeitgenössisch oder contemporary ist dann typischerweise der der Moderne. Diese Gegenbegrifflichkeit deutet darauf hin, dass die Durchsetzung dieser Semantik ein Indikator eines epochalen Wandels sein könnte, in dem eine Konstellation, die ‚Moderne‘ hieß, durch eine neue soziokulturelle Konstellation abgelöst wird, die sich mit dem Begriff des Zeitgenössischen verbindet.“ Julika Griem: Standards für die Gegenwartsliteraturforschung. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 65, 2015, H. 1, S. 97–114, hier 101. Ebd., S. 99.
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Gabriele Wix
werden; die Praxis des Vorlasses eröffnet neue Möglichkeiten der Werkdeutung und Werkpolitik.4
Thomas Kling und Marcel Beyer, Dichterkollege und Freund des früh verstorbenen Autors, bilden mit ihren Arbeiten auf unterschiedliche Art und Weise, aber dennoch auf einer gemeinsamen poetologischen Basis die besonderen Herausforderungen und Chancen der Gegenwartsliteraturforschung ab, vor deren Hintergrund die folgenden editionswissenschaftlichen Überlegungen stehen.
Fallstudien: Montage, Réécriture, Rewriting, Revision, Variants Klings Dichtung markiert das Ende der Neuen Innerlichkeit, die das literarische Geschehen in den 1970er Jahren bestimmte. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Lyrik, wenngleich er auch als Performer, Essayist, Übersetzer und Herausgeber einer Lyrikanthologie mit dem programmatischen Titel Sprachspeicher5 wirkte und in seiner Funktion als Kritiker und als Kurator des Literatentreffens „Hombroich : Literatur“ maßgeblich auf die Entwicklung der deutschsprachigen Lyrik Einfluss genommen hat. Sein Nachlass ist auf der Raketenstation Hombroich verblieben, dem Ort, an dem er in den letzten zehn Jahren seines Lebens wohnte und arbeitete.6 Marcel Beyer lebte – wie zeitweise auch Kling – in Köln, bevor er 1996 nach Dresden zog. Er wurde vor allem bekannt durch seinen 1995 erschienenen zweiten Roman Flughunde, der 2013 in der Gestaltung von Ulli Lust als Graphic Novel eine Neuinterpretation erfuhr.7 Begonnen hat Beyer 1980 mit Lyrik, die er kontinuierlich veröffentlicht. In seinem 2014 erschienenen Gedichtband Graphit sind Gedichte aus 14 Jahren versammelt.8 Darüber hinaus schreibt Beyer Opernlibretti sowie Essays, in denen er zu politisch-gesellschaftlichen Fragen Stellung bezieht, und er befasst sich transdisziplinär mit Formen des Forschens, die das literarische Schreiben mit einschließen. Beide Autoren erhielten zahlreiche Auszeichnungen, Beyer zuletzt den Georg-Büchner-Preis 2016. Beyers und Klings Arbeiten waren Gegenstand verschiedener textgenetischer Projekte an der Universität Bonn.9 Hierbei handelte es sich um die ersten systematischen Annäherungen an die Genese exemplarisch ausgewählter Lyrik der beiden Autoren mit dem Ziel, Schreibprozesse sichtbar und auch hörbar zu machen.10 –––––––— 4 5 6 7 8 9 10
Ebd., S. 101. Thomas Kling: Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Köln 2001. Das Thomas Kling Archiv, Stiftung Insel Hombroich verdankt sich einer Schenkung von Klings Frau Ute Langanky, die weiterhin die Nutzungsrechte innehat. Marcel Beyer: Flughunde. Frankfurt am Main 1995; Marcel Beyer und Ulli Lust: Flughunde. Berlin 2013. Marcel Beyer: Graphit. Gedichte. Berlin 2014. Ute Langanky und Marcel Beyer sei an dieser Stelle ausdrücklich für die fortwährende großartige Zusammenarbeit gedankt. Vgl. Thomas Kling. geschmolzener / und wieder aufgeschmo- / lzner text. Universitätsmuseum Bonn, WS 2013/14. Begleitpublikation: Kerstin Stüssel und Gabriele Wix (Hrsg.): Thomas Kling. Zur Leitcodierung. Manhattan Schreibszene. Göttingen 2013; vgl. https://www.germanistik.uni-bonn.de /studium/poetikdozentur/ausstellungsprojekt-1 (21.02.2017). Kling und Pastior. Text – Stimme – Bild. Akademie der Künste Berlin im Rahmen des Poesiefestivals der Literaturwerkstatt Berlin. Juni 2014;
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Die Ausgangslage für die Untersuchungen ist hinsichtlich der beiden Autoren gänzlich verschieden, was vor allem in dem frühen Tod Klings begründet ist. Sein Nachlass ist der Forschung „in seltener Vollständigkeit“ auf der Raketenstation in seiner ehemaligen Arbeitsbibliothek zugänglich.11 Bis auf Bücher, Bildobjekte, Schreibgeräte und Erinnerungsstücke wurde er von Ende 2008 bis Mitte 2011 weitgehend erschlossen und digital verzeichnet. Die Textzeugen selbst sind nicht digitalisiert und sollen es in absehbarer Zeit auch nicht werden. Die Festplatten sind in Bearbeitung, Ton- und Filmdokumente werden nach und nach veröffentlicht.12 Beyer hat exemplarisch in die Entstehung zweier Gedichte seines 2014 erschienenen Gedichtbands Graphit Einblick gegeben. Die Veröffentlichung der Texte und die Möglichkeit der Rekonstruktion des Entstehungsprozesses liegen damit zeitlich ungewöhnlich dicht beieinander. Klings und Beyers dichterische Tätigkeit umfasst den Zeitraum vor und nach der Arbeit mit dem Computer. Die Methode der textgenetischen Untersuchung hängt damit maßgeblich von der Entstehungszeit der Texte ab. Kling hat um 1993 begonnen, am Computer zu arbeiten, Handschrift und Rechner laufen jedoch weiter parallel. Der in der Bonner Faksimile-Edition dargestellte Manhattan-Gedichtkomplex ist 1995 und 2001 entstanden.13 Die Anzahl der handschriftlich überlieferten Textzeugen ist inner–––––––—
11 12
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vgl. http://www.haus-fuer-poesie.org/de/poesiefestival-berlin/archiv-poesiefestival-berlin/archiv-2014/ programm-2014/gesamtuebersicht-2014/kling-und-pastior-text-stimme-bild (21.02.2017). Schreibprozesse hörbar machen. Marcel Beyer, Das Rheinland stirbt zuletzt. Lesewerkstatt der Uni Bonn in Kolumba, Kunstmuseum des Erzbistums Köln, 05.11.2015; vgl. http://www.kolumba.de/? language=ger&cat_ select=1&category=1&artikle=626 (30.06.2016). Die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Ausstellung von Literatur – die schon mit der Frage anfangen, was überhaupt der Gegenstand ist, der ausgestellt werden soll – spitzen sich hier insofern zu, als der dichterische Schreibprozess nicht gegeben, sondern auf Grundlage der materialen Überlieferungsspuren erst herzustellen ist. Das bedeutet, einen rekonstruierten zeitlichen Verlauf in die Sichtbarkeit, d. h. in Berührungen im Raum zu überführen. Erfolgen Präsentationen ortsspezifisch, lässt sich beispielsweise in einem Universitätsmuseum, das sich der Geschichte wissenschaftlicher Praktiken widmet, die Darstellung des dichterischen Schreibprozesses mit dem wissenschaftlichen Procedere seiner Rekonstruktion und der Praxis des Aus-Stellens in dem Museum überblenden. In einer Akademie der Künste lassen sich unter der Thematik: „Text – Stimme – Bild“ Originalhandschrift und diplomatische Transkription, die „Partitur“, als gerahmte Bilder an der Wand präsentieren. Oder es lässt sich im akustischen Freilegen der Schreibschichten eines Reportage-Gedichts der Herausforderung einer Kunstausstellung „Der rote Faden – Ordnungen des Erzählens“ in einem Museum begegnen, dessen Architekt Peter Zumthor alle Spuren der bis in die Antike zurückreichenden Geschichte des Baus bewahrt hat. Zu den einzelnen Präsentationen vgl. die Links oben. Vgl. auch Gabriele Wix: Wort-Raum Lyrik. Schreibprozesse sichtbar machen. Zur Ausstellung „Th. Kling. geschmolzener und/wieder aufgeschmo/lzner text.“ In: Interférences littéraires / Literaire interferenties. Multilingual e-Journal for Literary Studies. Nr. 16: Ce que le musée fait à la littérature. Muséalisation et exposition du littéraire. Hrsg. von Marie-Clémence Régnier. Juni 2015, S. 159–172; http://www.interferenceslitteraires.be/en/nr16 (05.01.2017). Alina Scharfschwert: Das eingepflegte Archiv. In: Frieder von Ammon u. a.: Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings. Göttingen 2012, S. 383–389, hier 383. Ulrike Janssen und Norbert Wehr (Hrsg.): Thomas Kling. Die gebrannte Performance. Lesungen und Gespräche. 4 CDs und ein Begleitbuch. Düsseldorf 2015; Boscher Theodor (Hrsg.): kling ungelöscht. Spurensicherung einer Lesung / Performance von Thomas Kling. DVD und Booklet. Köln 2015. Thomas Kling: „Manhattan Mundraum“ und „Manhattan Mundraum Zwei“: Faksimile-Edition mit diplomatischer Transkription. In: Stüssel und Wix 2013 (Anm. 10), S. 6–45. Textdokumente: Thomas Kling Archiv, Stiftung Insel Hombroich.
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halb dieser Zeitspanne deutlich zurückgegangen. Was eine digitale forensische Analyse der Festplatten aus Klings Rechner an Forschungsmöglichkeiten bereitstellen wird, zeichnet sich bereits exemplarisch ab.14 Beyer hat die ausgewählten Texte ausschließlich am Computer oder Laptop geschrieben. Für die textgenetischen Untersuchungen stellte er einen 89 bzw. 21 Seiten umfassenden Computerauszug zur Verfügung. Die Seiten sind unterschiedlich dicht beschrieben, da der Autor in der Regel nach jeder Abspeicherung eine neue Seite beginnt: „– das kommt noch vom alten Arbeiten mit der Schreibmaschine her: Wenn’s nicht weitergeht, wird das Blatt aus der Maschine gezogen, ein neues Blatt eingespannt, die neben der Maschine liegende Textstufe abgetippt bzw. korrigierend weiterentwickelt.“15 Entscheidende Gemeinsamkeiten gibt es hinsichtlich des poetologischen Ansatzes: Auch in der Lyrik kein Subjektivismus, keine neue Innerlichkeit, sondern eine dezidierte Hinwendung zu den „Realien“ in einer von Kling weit gefassten, die Sprache mit einbeziehenden Bedeutung: Wir haben es mit der Schwierigkeit des Übersetzens zu tun, des Übersetzens von Wirklichkeiten, von Realien; von geschichtlichen, kultur- und zeitgeschichtlichen Realien. Wir haben es mit den Realien der gesprochenen und toten Sprachen zu tun. Das Durchtauchen all der vorhandenen, seienden Sprachräume.16
Beide Dichter scheinen auch jenseits konkreter Schreibprojekte in permanenter Alarmbereitschaft, was das Erforschen von Sprachräumen anbetrifft. In diesem unaufhörlichen Prozess der Wachsamkeit recherchieren und sammeln sie, sei es in den Medien, in Gesprächen, in Literatur, sei es – systematischer – in Wörterbüchern und Enzyklopädien, Archiven und Museen. Kling hält seine Recherchen auf fliegenden Zetteln, Blöcken oder in Notizheften fest, darunter kleine Skizzenbücher aus dem Künstlerbedarf, die auch Beyer benutzt; einige Seiten hat er in XX, seinen Göttinger Poetikvorlesungen, veröffentlicht.17 Die ausgewählten Gedichte sind, wie oben erwähnt, ausschließlich am Computer geschrieben und weitgehend im Internet, aber auch in der Augenzeugenschaft recherchiert. Nimmt man die Gemeinsamkeiten in der poetologischen Ausrichtung der beiden Dichter als Ausgangspunkt, ist der Blick auf die Genese der Texte von einem klar umrissenen Erkenntnisinteresse geleitet, das sich im Spannungsfeld zwischen Literatur- und Editionswissenschaft auf die folgenden Fragen richtet: Wie manifestiert sich der Fokus auf die ‚Realien der Sprache‘ im Schreiben der Autoren? Wie fügt sich das Material in eine Form? Auf welche Begriffe, welche Beschreibungssprache kann die Darstellung des Schreibprozesses rekurrieren? Einen weiteren Fragenkomplex eröffnet die Frage nach dem Archiv und dem Autorkommentar, auf die im zweiten Teil –––––––— 14
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Über erste Ergebnisse hat Thorsten Ries auf der Tagung ‚Textrevisionen‘ in Graz referiert unter dem Titel ‚Thomas Klings Skulpturen aus Ozeanien (1997; Rhapsoden am Sepik, 2001). Rekonstruktion des digitalen Schreibprozesses mit Hilfe digitalforensischer Werkzeuge und Methoden‘. Marcel Beyer: E-Mail an die Verfasserin vom 10.02.2015. Thomas Kling: Sprachinstallation Lyon. In: von Ammon u. a. 2012 (Anm. 11), S. 11. Marcel Beyer: XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen. Göttingen 2015.
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dieses Beitrags eingegangen wird. Zum ersten Fragenkomplex werden nachfolgend vier kurz kommentierte Beispiele aus der Lyrik der beiden Autoren vorgestellt. Das Zitat des impressionistischen Dichters Max Dauthendey in der 11. Strophe von Klings Gedicht „Manhattan Mundraum“ aus dem 1996 erschienenen Gedichtband morsch ist – zudem akademischer Praxis entsprechend mit Autorenangabe und in Anführungszeichen gesetzt – ein eindeutiges Signal für die Übernahme von fremdem Sprachmaterial in den eigenen Text und zugleich für die Distanz zur ‚Erlebnis‘-Lyrik, wenngleich das Gedicht im Zusammenhang mit dem ersten und einzigen Besuch des Dichters in New York im November 1995 entstanden ist: gingkos. geriffelter slang, der die bödn bedeckt. eins tiefer (dautendey: „der bühnenraum ist ein gehirn“) trieft wasser, unablässig aus den rostschrundn, 34th, pennsylvania station, von vonne subwaywände; rostplackn, -blattern, vermorschtes rohrsystem; ein drippeln, schneller, aus di deckn. die zunge gkürzt, ein tag unter tags, unter vielen18
Über das sinnfällige Zitat hinaus besteht diese Strophe ebenso wie das gesamte Manhattan-Gedicht zu einem großen Teil aus zusammengefügten Bruchstücken von Notizen aus New York. Allein in dieser einen Strophe sind wortwörtliche Übernahmen von insgesamt fünf verschiedenen Notizbuchseiten und einem Blatt aus einem Schreibblock nachweisbar.19 Ebenfalls in morsch, jedoch in dem Kapitel „romfrequenz“, ist das nachfolgend vollständig zitierte Gedicht veröffentlicht. s. caecilia (keyb.) was ist am marmor das verdrehte? was zeigt man dieses LUSTMORDABBILD hier? der mädchenkörper kalt, in indirektm licht, und seltsam schief, was sagt der augnschein, schnitte am hals, was sagt der obduktionsbericht? nur hinterkopf zu sehn, das paßt doch alles nicht zusammen. kein tatwerkzeug, kein blut, kein nichts; was sagt der arzt, gibt’s sperma-
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Thomas Kling: Manhattan Mundraum, 11. Strophe. In: morsch. Gedichte. Frankfurt 1996, S. 12. Zu Einzelnachweisen vgl. Gabriele Wix: Stratigraphic Soundings: A Genetic Approach to the German Poet Thomas Kling. In: Variants 12–13, 2016, S. 125–147, online: http://lodel.revues.org/10/variants/ 334 (01.06.2017).
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Gabriele Wix
spuren, und voll bekleidet; was sagt der obduktionsbericht I’M GOING TO GET THEM FOR THIS / SOMEBODY DID THIS TO MY DAUGHTER / SOMEBODY DID VOODOO AND WITCHCRAFT TO HER / 20
Die englische Sprache und die auch hier akademisch geprägte Zitierweise mit Schrägstrichen als Markierung des Zeilenendes geben im Text selbst fast überdeutliche Hinweise auf das ihm zugrundeliegende Schreibverfahren des Zusammenfügens disparater Materialien. Gefunden hat Kling das Zitat in der New York Post während seines Aufenthalts in New York. Mit Datum und Quellenangabe notiert er es in sein New Yorker Notizbuch, um es dann aber nicht in dem Manhattan-Gedicht, sondern in dem mit „romfrequenz“ betitelten Teil seines Gedichtbands zu verwenden. Der Vergleich des handschriftlichen Notats mit dem Druck macht deutlich, dass Kling in einem Verfahren purer und lustvoller Selbstreferentialität die Schrägstriche entsprechend dem Zeilenumbruch seiner New Yorker Notiz gesetzt hat.21 Beide Beispiele zeigen, dass der Schreibprozess weniger durch Überschreiben des Geschriebenen gekennzeichnet ist als vielmehr durch Montage der eigenen Notizen und des gesammelten Materials, das heißt, die Genese der Texte läuft primär nicht über ein Netz von Varianten. Die Erfassung und Darstellung von Varianten steht üblicherweise jedoch im Zentrum textgenetischer Untersuchungen. Alle Operationen, die in den geschriebenen Text eingreifen, werden – von der critique génétique ausgehend – unter dem Begriff der „réécriture“ gefasst und unter „variants“ oder „rewriting“ in der angelsächsischen Tradition.22 Ein auf der Poetik der Montage basierender Schreibprozess entspricht jedoch nicht der „réécriture“ oder dem rezent wieder in den Diskurs gebrachten Begriff der Revision. Zwar bestünde eine mögliche Alternative darin, die Montageverfahren auf dem Hintergrund der Intertextualitätstheorie als eine besondere Form der „réécriture“ zu begreifen. Dieses Verständnis von „réécriture“ aber wäre terminologisch schwer abzugrenzen von „réécriture“ als dem Prozess der Überarbeitung des eigenen Texts. Der Eindeutigkeit und Präzision wegen wird dem Begriff „Montage“ hier der Vorzug gegeben, auf dessen Gebrauch in Literatur- und Editionswissenschaft unten noch einzugehen ist. Montage ist auch der Schlüsselbegriff für die Schreibverfahren Beyers in dem vorliegenden Material. Das erste Beispiel stammt aus dem Reportage-Gedicht „Das Rheinland stirbt zuletzt“, 2014 veröffentlicht in dem Gedichtband Graphit. Gegenstand ist der Zusammensturz des Kölner Stadtarchivs: –––––––— 20 21 22
Thomas Kling: s. caecilia (keyb.). In: Kling 1996 (Anm. 18), S. 102. Thomas Kling: AUGN ZEUGN. Notizbuch NYC. Manhattan 13.–23.11.1995. Thomas Kling Archiv, Stiftung Insel Hombroich (nicht archiviert), S. 34. Faksimile in: Stüssel und Wix 2013 (Anm. 10), S. 18. Zu Differenzen im Begriffsverständnis von „réécriture“ und „rewriting“ auch in Bezug auf den Terminus „variants“ vgl. Wout Dillen: The ‚Mulitlemma‘ of a Multilingual Lexicon of SE. In: http:// uahost.uantwerpen.be/lse/index.php/the-multilemma-of-a-multilingual-lexicon-of-se/ (30.06.2016).
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Südstadt. Im Flutlicht liegt das größte Lawinenfeld nördlich der Alpen. Ein buch-, ein buchstabenübersäter Lawinengarten. Muskatplüts Hofton ist hier unbekannt, ...23
Als „Spurendichtung“24 erscheint dem Dichter die Sicherung der Trümmer aus dem Schutt. „Spurendichtung“ ist aber auch sein Text im Verweben von Materialien aus den Medien mit Zitaten aus den verschütteten Archivalien und eigenen Beobachtungen, hier die ersten drei Strophen aus dem siebten Teil des insgesamt acht Teile umfassenden Gedichts. VII Einer der beiden Huskies nimmt Witterung auf, steigt in die Halde, dort zwischen Stahlbeton und Ofenrohr und Mörtelstaub und Inkunabeln: sein Arbeitsfeld. Ich hab der Welt lang aufgetischt, Gedicht um Gedicht für schlappen Lohn. Der erste Hund schlägt an. Und der dies schrieb heißt Muskatplüt.25
Die Klagen des Sprechers über seine schlecht bezahlte Arbeit sind – die letzten beiden Verse benennen die Quelle – Zitate aus einem Marienlied des höfischen Dichters Muskatplüt aus dem frühen 15. Jahrhundert, dessen Handschriften aus den Trümmern des in Köln zusammengestürzten Stadtarchivs geborgen wurden. Seine von Beyer ins Neuhochdeutsche übertragenen Verse werden mit der Darstellung der Spürarbeit der Huskies verwoben, in sie hineinmontiert, gleichsam als Dichtung, deren Spuren es sicherzustellen gilt. Die dritte Strophe aus dem 18. Marienlied Muskatplüts ist Bestandteil der Materialsammlung in Beyers dossier génétique, weitere Zitate aus den nachfolgenden Strophen dieses Marienlieds finden sich integriert in die Schreibarbeit.26 –––––––— 23 24
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Marcel Beyer: Das Rheinland stirbt zuletzt, Teil VI. In: Graphit 2014 (Anm. 8), S. 23. Die Wortneuschöpfung geht zurück auf ein Verlesen, wie Beyer notiert: „Verleser: Spurendichtung (statt Spruchdichtung)“. In: Marcel Beyer: Das Rheinland stirbt zuletzt. Textstufen. Digital übermitteltes dossier génétique, S. 4. Marcel Beyer: Das Rheinland stirbt zuletzt, Teil VII. In: Graphit 2014 (Anm. 8), S. 24. Marcel Beyer: Das Rheinland stirbt zuletzt. Textstufen (Anm. 24), S. 9ff.
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Gabriele Wix
Ebenfalls in Graphit hat Beyer das dreiteilige Gedicht „Alphabet Oberlippe“ aufgenommen, ein Porträt des österreichischen Dichters Georg Trakl, das 2006 nach einem Besuch in Salzburg entstand. Elektrisierend sind – zumindest für Trakl-Kenner – die Wörter: „angestrudelt“ und „Bauer“. „angestrudelt“ findet sich in der dritten Strophe des ersten Teils: ... Ich wollte Sprache sein, mein Leibgericht war mir ins Blut geschossen, ich knirschte, wurde angestrudelt und versuchte mich als Blume. ...27
„Bauer“ in der zweiten Strophe des zweiten Teils: ... Die Beine, und sein Hals: ein Bauer, der mit Sand nichts anzufangen weiß.28
Tatsächlich hat Beyer den Briefwechsel Trakls konsultiert, wie aus dem dossier génétique hervorgeht, und die beiden Briefstellen festgehalten: Trakl zu Wien, Ende Oktober 1908: „Man wird allerorten in der schamlosesten Weise angestrudelt.“ (Fühmann: Trakl, S. 443) Trakl an Irene Amtmann, Salzburg, Frühherbst 1910 oder 1911: „Verzeihen Sie diesem grantigen Sonderling, der lieber in einen Bauer [! Bauer!] fahren möchte“ (Fühmann: Trakl, S. 454)29
Das Montageverfahren bedeutet nicht den Ausschluss von Überarbeitungen und Varianten, die Bestandteil des Schreibens bleiben, aber nicht dessen charakteristisches Merkmal sind. Insgesamt betrachtet ist die Montage ein für die Gegenwartsliteratur zentrales Schreibverfahren, wenngleich dessen Entwicklung – ungeachtet historischer Vorläufer – bereits auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Als Prototyp eines in der Montagetechnik geschriebenen Romans gilt Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz von 1929, dem Jahr, in dem Max Ernst in Paris seinen ersten Collagenroman La femme 100 têtes veröffentlichte, während John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer, auf den sich Kling explizit in seinen New Yorker Notizen beruft, bereits vier Jahre zuvor erschienen war.30 Auch wenn vor allem Franz Mon in den 1960er Jahren für die Übernahme des Collage-Begriffs aus der bildenden Kunst in die Literatur plädierte, hat sich in der Literaturwissenschaft der Begriff Montage als –––––––— 27 28 29 30
Marcel Beyer: Alphabet Oberlippe. Teil I. In: Graphit 2014 (Anm. 8), S. 101. Marcel Beyer: Alphabet Oberlippe. Teil II. In: Ebd., S. 102. Marcel Beyer: Alphabet Oberlippe. Textstufen (Anm. 24), S. 2. Thomas Kling: AUGN ZEUGN (Anm. 21), S. 30. Faksimile in: Stüssel und Wix 2013 (Anm. 10), S. 16.
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künstlerisch-ästhetische Kategorie durchgesetzt.31 In der Editionswissenschaft wird er zur Charakteristik von Schreibverfahren seltener gebraucht. Hier ist von besonderer Relevanz der Beitrag von Georg Schiffleithner aus der Handke-Forschung. Die Rolle von Phantasie und Erfindung bleibt im Produktionsprozess relativ eingeschränkt, es handelt sich vornehmlich um die Neuanordnung und -verknüpfung vorhandenen Materials. Man kann mit vollem Recht von einer Montagetechnik sprechen, die Handke konsequent anwendet, vom Arrangement der eigenen Notizbucheinträge bis zum mehr oder weniger stark markierten Einsatz von Fremdmaterialien. Die daraus resultierende Kleinteiligkeit der Erzählung fällt beim Lesen auf und man kann sie durchaus auch kritisch betrachten, wie etwa Waltraud Wiethölter es tut, wenn sie meint: „beim Lesen entsteht [...] der Eindruck, als würde man der allmählichen Verfertigung eines aus Selbstzitaten bestehenden Flechtwerks beiwohnen.“32
Die auf der Montagetechnik gründenden Kritikpunkte von eingeschränkter „Phantasie und Erfindung“ sowie „Kleinteiligkeit“ gegen Handkes Erzählung können für Klings und Beyers Gedichte nicht geltend gemacht werden, im Gegenteil: Die Dichte des lyrischen Sprechens bringt die montierten Elemente zur Reibung und lässt das heterogene, gewaltsam gefügte Sprach-Wirklichkeits-Material knirschen und kraken. Kein Material ist zudem von sich aus vorhanden. Der Akt der Auswahl fremder Materialien ist eine Frage der „personnalité du choix“, deren Bedeutung in den künstlerischen Produktionsprozessen des Zitierens, Collagierens oder Montierens zentraler Gegenstand im surrealistischen Diskurs ist.33 Die Konsequenzen des Montageverfahrens für die textgenetische Erschließung der Texte liegen auf der Hand: Die Zuordnung einzelner Dokumente zur Genese eines bestimmten Textes gehen an der Arbeitsweise eines Autors vorbei, der Sprache sammelt, um sie ‚irgendwann‘ einmal zu nutzen. Ein Dokument kann Quelle für zeitlich und inhaltlich weit auseinanderliegende Texte sein, sodass ein materialbasiertes Editionsverfahren unabdinglich ist. Eine solche Arbeitsweise setzt eine entsprechende Archivierung der Materialien voraus, die den Zugriff auf die Überlagerung und Vernetzung des Materials ermöglicht. Solange beispielsweise im Fall von Kling die –––––––— 31
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Franz Mon: Collage in der Literatur. In: Prinzip Collage. Hrsg. vom Institut für moderne Kunst Nürnberg. Neuwied/Berlin 1968, S. 50–62. Vgl. auch Jürgen Wissmann: Collagen oder die Integration von Realität ins Kunstwerk. In: Immanente Ästhetik. Hrsg. von Wolfgang Iser. München 1966, S. 327– 360; Volker Klotz: Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst. In: Sprache im technischen Zeitalter 60, 1976, S. 259–277; Volker Hage: Collagen in der deutschen Literatur. Zur Praxis und Theorie eines Schreibverfahrens. Frankfurt a. M./Bern 1984, und Hanno Möbius: Montage und Collage: Literatur, bildende Kunst, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München 2000. Georg Schiffleithner: Gehen, sehen, schreiben. Zur Entstehung von Peter Handkes „Die Lehre der Sainte-Victoire.“ Originalbeitrag Handkeonline (Datum der Veröffentlichung: 18.11.2013). http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/schiffleithner-2013.pdf. (30.06.2016). Vgl. Werner Spies: Das Desaster des Jahrhunderts. In: Ders. (Hrsg.): Max Ernst. Une semaine de bonté. Die Originalcollagen. Köln 2008, S. 10–71, hier 21: „Aragon erkennt als einer der ersten die unerhörte Fähigkeit Max Ernsts, an die Stelle des freien Zeichnens und Malens das Zitat und die Verarbeitung von Zitaten zu setzen. Er spricht von einer ‚personnalité du choix‘, von einer Persönlichkeit, die – sich gegen die Überfülle abgrenzend – eine Auswahl trifft. Aragon greift zu einem Ausdruck, den Breton 1922 herangezogen hatte. Breton will mit dieser Charakterisierung die Rolle definieren, die die Kombinatorik mit Objekten im künstlerischen Schaffen übernehmen kann. Breton führt Marcel Duchamp als Stifterfigur dieser neuen künstlerischen Strategie ein ....“
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Handschriften nicht digitalisiert und transkribiert sind, bleibt die Recherche mit vielen Unsicherheitsfaktoren versehen.34 Dagegen ist die Rekonstruktion des Schreibprozesses eines wie bei Beyer ausschließlich am Computer entstandenen Textes auch mit Verfahren des „distant reading“ möglich, das allerdings nach jetzigem Standard in der Regel nicht bis in die Mikroebene der digitalen forensischen Analyse führt, sondern bei den einzelnen Abspeicherungen des Autors seine Grenze erfährt.
Antizipatorische Selbstarchivierung Dass die Schreibprozesse zeitgenössischer Autoren noch nicht so lange im Fokus der Editionsphilologie stehen, mag in Anbetracht der ausgeprägten Gegenwartsorientiertheit der Literaturwissenschaft verwundern, liegt aber in der Natur der Sache begründet: Das Edieren von urheberrechtlich geschütztem Nachlassmaterial bedeutet erhebliche zusätzliche Anstrengungen, und eine große Auswahl an Vorlassmaterial stand bisher nicht zur Verfügung. Das hat sich grundlegend geändert, und inzwischen haben die gestiegene Zahl von Vorlässen sowie die Ankaufspraxis der Literaturarchive eine teils äußerst polemisch geführte Debatte ausgelöst.35 „Mit der ‚Selbstarchivierung‘ der Schriftsteller (wie bereits Thomas Mann sie praktizierte) verändern sich die Kultur und die Institution des Nachlasses, die sich im Deutschland um 1800 herausgebildet haben“,36 konstatiert Julika Griem unter Berufung auf Carlos Spoerhase, der den Wandel zu „anthumer“ Werkpolitik hin resümiert: Die erhöhte Aufmerksamkeit, die der Institution des Nachlasses in der Moderne zugefallen ist, hat nicht dazu geführt, dass diese werkkritische Entsagungspoetik postumer Publikation sich durchgesetzt hätte. Ganz im Gegenteil: Im Rahmen einer Verstaatlichung und Verwissenschaftlichung der Dichterverehrung sind postume Papiere, um einen Neologismus Gérard Genettes zu benutzen, für viele Autoren heute längst zu einem wichtigen Aspekt anthumer, das heißt bereits zu Lebzeiten erfolgender Werkpolitik geworden. Der Wunsch, frühzeitig kulturelle Vorsorge im Medium des literarischen Vorlasses zu betreiben, erklärt sich also nicht nur aus dem Bedürfnis, die eigene Altersvorsorge aus dem Verkauf des Vorlasses zu bestreiten, sondern muss als eine Geste verstanden werden, die auf eine Ausweitung der aktuellen Verfügungsgewalt des Schriftstellers über das eigene veröffentlichte Werk hinaus auf alle seine Schriftstücke zielt.37
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Exemplarisch war es möglich, von der materialbasierten Faksimile-Edition des Manhattan-Gedichtkomplexes aus Querverweise auf andere Texte zu erarbeiten, vgl. Gabriele Wix: Leitcode Manhattan. In: Stüssel und Wix 2013 (Anm. 10), S. 49–76, hier 62f. und 69f. Vgl. Alois Schöpf: Wenn Dichter nehmen. Über das Vorlass-Kartell. Innsbruck 2014. Die Distanz zwischen Drucklegung und Archivierung scheint sich von der Tendenz her zu verringern, in der Reihenfolge sogar zu verkehren, vgl. Carlos Spoerhase: Postume Papiere. Nachlass und Vorlass in der Moderne. In: Merkur 68, 2014, H. 6, S. 502–511, hier 511: „Dass neuerdings literarische Manuskripte schon vor ihrer Drucklegung das Marbacher Archiv erreichen, weiß dessen Leiter Ulrich von Bülow ebenso zu berichten wie den Umstand, dass manche Autoren ihre literarischen Arbeiten schon wenige Tage nach der Abfassung an die Archivare am Neckar schicken: Bei elektronischen Texten tendiere der Abstand zwischen Niederschrift und Archivierung sogar ‚potentiell gegen Null‘.“ Griem 2015 (Anm. 2), S. 102. Spoerhase 2014 (Anm. 35), S. 511.
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Die Strategien antizipatorischer Selbstarchivierung sind – lange vor diesem Diskurs – auch Teil von Klings Selbstverständnis als Schriftsteller und im Rahmen der Thematik dieses Beitrags in erster Linie hinsichtlich ihres textpoetischen Bezugs relevant. In expliziter motivischer Wiederaufnahme des ersten Manhattan-Gedichts verwebt Kling 2001 in „Manhattan Mundraum Zwei“ die mediale Rezeption des Terrorakts 9/11 in den endlosen Loops mit seiner Augen- und Ohrenzeugenschaft bei dem sechs Jahre zurückliegenden Besuch in New York. Verlinkt sind die Gedichte untereinander durch ein Zitat aus der Eingangsstrophe des ersten Manhattan-Gedichts als eines der beiden Mottos für „Manhattan Mundraum Zwei“: „die / ruinen, nicht hier, die / zähnung zählung der / stadt!, zu bergn, zu verbergn!“38 Der intertextuelle Ansatz und das Verflechten von Motiven und Wendungen durch das Werk hindurch sind Ausdruck des poetologischen Ansatzes des Dichters, der den Loop in „Manhattan Mundraum Zwei“ nicht nur als mediales Instrument thematisiert, sondern auch als selbstreferentiellen Verweis einsetzt. Die Frage nach der Bedeutung dieses rätselhaften Eigenzitats bringt einen für die Beziehung zwischen Archiv und textgenetischer Edition wesentlichen Punkt ins Spiel, das Auffinden scheinbar zufällig aufbewahrter Dinge, denen im Nachvollzug der Genese eine Schlüsselbedeutung zukommen kann, sofern sich die Spuren entziffern lassen. In diesem Fall ist es eine Kinokarte, die sich zwischen den Seiten des Notizbuchs aus New York findet.39 Sie dokumentiert Klings Besuch des Films Epidemic von Lars Trier während seines Aufenthalts in New York. Die Aussage „die / ruinen, nicht hier“ bezieht sich auf eine Sequenz im Film über die Zerstörung Kölns im zweiten Weltkrieg, aber dies geschieht von New York aus, worauf das deiktische Adverb „hier“ bzw. dessen Negation „nicht hier“ verweist.40 Die Bedeutung dieser Quelle aufgedeckt zu haben, ist das Verdienst von Beyers akribischer Analyse der Faksimile-Edition aus der Begleitpublikation zur Kling-Ausstellung anlässlich eines Gastvortrags im Universitätsmuseum Bonn.41 In „Manhattan Mundraum Zwei“ erhalten die im Motto zitierten Verse mit der Antizipation der terroristischen Zerstörungen in New York eine neue Bedeutungsebene. Der scheinbar zufällige Fund der Kinokarte enttarnt sich als vom Autor gezielt platzierter Hinweis auf ein ganzes Netz von im Text verborgenen Bezügen. Das Fundstück gibt Zeugnis von der Arbeitsweise eines Dichters, der im gezielten Aufbewahren von Dokumenten das Archiv bereits im Blick hatte, sei es eine Kinokarte, sei es ein Zettel von einem Kellnerblock.42 Das bedeutet –––––––— 38 39 40
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42
Thomas Kling: Sondagen. Gedichte. Köln 2002, S. 9. Abbildung in: Stüssel und Wix 2013 (Anm. 10), S. 9. Vgl. eine der Notizen Klings unter der Überschrift „NYC TEXTUS“: „ – Kino: Lars v. Trier → Aachener Weiher/Udo Kier“. In: Thomas Kling: Loses Blatt mit Wasserzeichen. Thomas Kling Archiv, Stiftung Insel Hombroich (HHI.2008.D.KLING.2964). Faksimile in: Stüssel und Wix 2013 (Anm. 10), S. 28. Marcel Beyer. Thomas Kling. New York State of Mind. Vortrag am 29.11.2013 im Universitätsmuseum Bonn. https://www.youtube.com/watch?v=MRC5hWIyX04. (30.06.2016). Abgedruckt in: Sprache im technischen Zeitalter, H. 209, März 2014, S. 123–135 und in: Marcel Beyer. Sie nannten es Sprache. Berlin 2016, S. 166–181. Die Notizen auf einem Zettel aus einem Kellnerblock (Thomas Kling Archiv, Stiftung Insel Hombroich (HHI.2008.D.KLING.2964), Faksimile in: Stüssel und Wix 2013 (Anm. 10), S. 20, bilden eine Gelenkstelle zwischen zwei unterschiedlichen Publikationen. Vgl. Wix 2013 (Anm. 34), S. 55.
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aber auch, dass der Ort, an dem Kling geschrieben hat, nicht erst postum zum Archiv geworden ist, sondern immer schon Archiv war. Den damaligen Zeitgenossen war das nicht bewusst. Dazu Beyer: Auch der Archivierung eigener Manuskripte und Vorarbeiten konnte Thomas Kling nichts abgewinnen, erinnere ich mich, ja, in seiner späteren Bemerkung, er hebe doch nicht jedes Zettelchen auf, schwang grundsätzliches Misstrauen mit – aber wem oder was gegenüber? Demjenigen, den die Genese einer Arbeit ebenso in Bann schlägt wie das abgeschlossene Werk? [...] Umso erstaunlicher war es, nach seinem Tod, zu sehen, welche Fülle an Material der Fintenleger Thomas Kling aufbewahrt, gesammelt hatte, von seinen frühesten, Anfang der siebziger Jahre entstandenen Gedichten an [...].43
Speed aufnehmen Unter den Vorzeichen der Postmoderne erweist sich in der Gegenwartsliteraturforschung und Editionswissenschaft der Rekurs auf den Autorkommentar epistemologisch und methodologisch als die vielleicht umstrittenste Entscheidung. Die Frage der Quellenkritik bildet im Hinblick auf den noch zu definierenden epistemischen Status „neuartiger Para- und Epitexte“44 einen der zentralen Punkte im aktuellen Diskurs. Nur sind Autoren wie Beyer auf dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion, anders gesagt: Sie kennen den Diskurs um die Rolle des ‚Autors‘ und reflektieren ihr Tun als ‚Schreiber‘. Detaillierte Erläuterungen zum Austausch mit Beyer über die Genese der beiden Gedichte würden den Rahmen des Beitrags sprengen. Zitiert sei jedoch eine Passage aus einer E-Mail Beyers, die sich auf eine Anmerkung bezieht, der Schreibprozess im zweiten Teil des Entwurfs sei mir nicht greifbar, während sich im ersten Teil Ansätze und Neuansätze durchaus erschlössen. Es gibt ja für mich im Schreibprozeß keine Position des neutralen Beobachters, wie wir sie jetzt beide einnehmen, da wir die Arbeitsmaterialien vor uns haben. Aha, hier wurde diese Entscheidung getroffen, und aha, dort wurde jener Ansatz weiterverfolgt. Im in eine unbestimmte Zukunft gerichteten Schreibprozeß (wird aus diesen Ansätzen etwas oder nicht?) ist ständig die Hauptfrage: Wie dynamisiere ich dieses Material – ist dies ein Wort, das andere Wörter nach sich zieht – wie kann ich ein Stop & Go entstehen lassen, dessen jeweilige Endpunkte / Löcher / Pausen eben nicht endgültige Löcher / Enden ergeben, sondern selbst wieder eine Spannung aufbauen, die in weiteren Textverlauf mündet? Man will ja beim Schreiben nichts anderes als: Schreiben. Insofern trifft man natürlich Entscheidungen – aber doch Entscheidungen weniger der Art von: „mit diesem Ansatz komme ich nicht weiter, also wähle ich einen anderen“, es läuft also gar nicht souverän ab, sondern eher wie: „aha, hier könnte ich vielleicht rasch etwas probieren.“
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Marcel Beyer: Thomas Kling: Herz. In: Das brennende Archiv. Hrsg. von Ute Langanky und Norbert Wehr. Berlin 2015, S. 175–187, hier 177. Spoerhase 2014 (Anm. 1), S. 21; vgl. Griem 2015 (Anm. 2), S. 101ff.
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Ich habe also vielleicht drei Zeilen geschrieben – mir kommt in den Sinn: vielleicht könnte die ganze Sache gleich viel mehr Speed aufnehmen, wenn ich das zuletzt geschriebene Wort (oder den Halbsatz oder den Vers) an den Anfang stellen würde – gut, probiere ich das rasch einmal aus, speichere aber zur Sicherheit den bisherigen Ansatz ab, falls sich das Ausprobieren als Sackgasse erweist, denn ich möchte ja womöglich zum ersten Ansatz zurück. Klar unterscheiden sich solche Ansätze dann mitunter nur in einem Wort, oder gar nur darin, daß der Zeilen- / Versumbruch an einer anderen Stelle vorgenommen wird, aber auf diesen Minimalentscheidungen liegt im Moment des Schreibens die GANZE Hoffnung (nämlich in diesem Sinne: Ich glaube, wenn ich dieses letzte Wort in der Zeile an den Anfang der nächsten Zeile setzen würde, ergäbe sich eine Dynamik für alles, was noch kommen mag (von dem ich aber zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht weiß)).45
Der Schlüsselsatz für eine Reflexion der editionswissenschaftlichen Tätigkeit ist: „ergäbe sich eine Dynamik für alles, was noch kommen mag (von dem ich aber zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht weiß)“. Die Begrifflichkeit der Editionswissenschaft lässt genau diese futurische Perspektive außen vor, was die Vorsilbe „re-“ der einschlägigen Termini deutlich akzentuiert. Nur ist der Schreibprozess nicht rückwärtsgerichtet, und auch Re-Lektüre und réécriture haben für den Autor den Impetus nach vorne; sie wenden sich in der Regel nicht einem abgeschlossenen Prozess erneut zu, sondern sind im Schreiben von etwas begriffen, das es noch zu schreiben gilt. „Man will ja beim Schreiben nichts anderes als: Schreiben.“ Beyer hebt deutlich auf die Asymmetrie zwischen dem schreibenden Autor und dem kommentierenden Autor oder Forscher ab. Es stellt sich von daher die Frage, wie aussagekräftig die Versuche sind, einen Schreibprozess zu charakterisieren, wenn die der Textgenese nachforschende Wissenschaft von einem – zumindest derzeitigen – Ende ausgeht, das es aber im Moment des Schreibens noch gar nicht gab. Es gab auch kein Ziel, sondern nichts als eine Offenheit „für alles, was noch kommen mag“ – „alles“, sagt Beyer.
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Marcel Beyer: E-Mail an die Verfasserin vom 16.01.2016.
Walter Schübler
„Druckfehler sind die Aphorismen der Setzmaschine“ Anmerkungen zum Edieren von Zeitungstexten der 1910er bis 1940er Jahre
In der Wiener Wochenzeitung Der Morgen findet sich in der Ausgabe vom 6. Oktober 1919 folgende mit dem Kürzel „–uh“ – das ist Anton Kuh – gezeichnete „Berichtigung“: Das vorwöchentliche Referat über „Sie lacht“1 hatte nicht mich, sondern den Nachtsetzer zum Autor. Aus der Handvoll richtiggesetzter Worte sei Zeile 2 „Bundestreue“ und Zeile 5 „Frechheit“ hervorgehoben. Die übrigen waren Druckfehler.2
Direkt unter Anton Kuhs Berichtigung steht unter der Spitzmarke „Berichtigung der Berichtigung“ zu lesen: Das vorwöchentliche Referat über „Sie lacht“ hatte nicht mich, sondern meinen mangelhaft entwickelten Geruchssinn zum Autor. Aus der Handvoll leserlich geschriebener Worte sei Zeile 2 „Bundestreue“ und Zeile 5 „Frechheit“ hervorgehoben. Die übrigen waren unleserlich. Schani, Setzerlehrling und Prügelknabe im „Morgen“. P.S.: Das nächste Referat von –uh erscheint als Manuskript im Faksimile unter der Rubrik „Preisrätsel“.3
In der Werkausgabe wird dieses „vorwöchentliche Referat“ im Kommentarteil ,faksimiliert‘, soll heißen in diplomatischer Abschrift wiedergegeben, um auf kleinstem Raum zu demonstrieren, wie fehlerhaft Zeitungsdrucke dieser Zeit sind.4 Die 17-zeilige Theaterkritik (auf einer dreispaltigen Seite) bietet nämlich so ziemlich alle Schikanen, die sich für die Einrichtung eines Texts denken lassen; von offensichtlich flüchtigkeitsbedingten Satzfehlern (versehentliche Buchstabenwiederholung, Buchstabenverlust, Buchstabendreher, verdruckter Buchstabe, Wortauslassung, fehlender Wortabstand, fehlende und inkorrekte Interpunktion, fehlende An- und Abführungen, fehlende öffnende und schließende Klammer, fehlende Satzschlusszeichen, orthographische –––––––— 1
2 3 4
[–uh] [d. i. Anton Kuh]: Josefstädter Theater. („Jeanne qui rit“) („Sie lacht“. Lustspiel in 3 Akten von Maurice Soulié und Charles Darantière). In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Jg. 10, Nr. 39, 29. 9. 1919, S. 3. [–uh] [d. i. Anton Kuh]: Berichtigung. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Jg. 10, Nr. 40, 6. 10. 1919, S. 4. Anonym: Berichtigung der Berichtigung. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Jg. 10, Nr. 40, 6. 10. 1919, S. 4. Anton Kuh: Werke. Hrsg. v. Walter Schübler. Göttingen 2016, Bd. 7, S. 189.
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Walter Schübler
und Interpunktionsfehler usw.), die stillschweigend emendiert, bis zu sinnwidrigen Textstellen, die, im Kommentar jeweils erläutert, konjiziert wurden. Sämtliche Texte wurden für die Werkausgabe nicht nur druckfehler-, sondern auch fehlerbereinigt konstituiert. ,Fehlerbereinigt‘ will heißen: Die Texte, 1908 bis 1941 erschienen, wurden auf Grundlage der jeweils aktuellen Auflage des Konrad Dudenschen Orthographischen Wörterbuchs der deutschen Sprache resp. des Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter unter Hinzuziehung der zweiten Auflage des Buchdruckerduden5 (die allerdings gegenüber der ersten Auflage von 1903, welche dem Wunsch des Buchdruckergewerbes nach Invarianz weitgehend entsprochen hatte, einen starken Anstieg von Varianten verzeichnet) resp., je nach Druckort, der jeweils aktuellen Auflage des österreichischen Regelwerks, der Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis (Große Ausgabe). Einzige, vom k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht autorisierte Ausgabe (Wien 1902) resp. Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis (Ausgabe mit einheitlichen Schreibweisen). Zum Gebrauche für Lehrer und Schüler (Wien 1911 u. ö.), ,minimal-invasiv‘ Korrektur gelesen. Eine 1:1-Wiedergabe dieser fehlergespickten Drucke hätte eine mit distanzierenden „[sic]“ gepflasterte Edition ergeben. Bei der Textgestalt der Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge Anton Kuhs handelt es sich mitnichten um eine autorspezifische Orthographie und Interpunktion, die der stilistischen Nuancierung dienten oder rhetorische Funktion hätten und also grundsätzlich unangetastet zu bleiben hätten. Ein Vergleich der einzelnen Druckorte – die Manuskripte wurden jeweils von vielen und vielerlei Händen ‚zum Druck befördert‘ – erweist vielmehr, dass manche Redaktionen orthographisch versiert waren, andere wiederum nicht eben sattelfest. Das Mitschleppen der Fehler wäre die sprichwörtliche ‚Anbetung der Asche‘ gewesen – Auswuchs einer, polemisch gesprochen, ,Philological Correctness‘, die noch den banalsten Satzfehler und das letzte typographische Versehen als ,Original‘ fetischisiert –, und darum war es mir bei der Anton-KuhWerkausgabe am allerwenigsten zu tun. Aus der zeitlichen wie räumlichen Streuung von Anton Kuhs Werk ergibt sich synchron – je nach Druckort und damit österreichischem oder deutschem Regelwerk – wie diachron – durch Änderungen im Regelwerk – eine geringfügige orthographische Varianz. Beim Verdacht einer bewussten Abweichung von den orthographischen und syntaktischen Regeln oder bei Verwendung historisierender Schreibweisen blieb der Textstand der Druckvorlage gewahrt, fallweise wurde dies durch einen Hinweis im lemmatisierten Stellenkommentar signalisiert. Lässt der Wortlaut bei sinnwidrigen Textstellen einen Überlieferungsfehler vermuten, aber nicht eindeutig nachweisen, wird im Kommentar darauf hingewiesen, eine Korrektur unterblieb jedoch. –––––––— 5
Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache. Auf Anregung und unter Mitwirkung des Deutschen Buchdruckervereins, des Reichsverbandes Österreichischer Buchdruckereibesitzer und des Vereins Schweizerischer Buchdruckereibesitzer herausgegeben vom Bibliographischen Institut, bearbeitet von Dr. Konrad Duden, Geheimem Regierungsrat. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig und Wien 1907.
„Druckfehler sind die Aphorismen der Setzmaschine“
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Zurück zum „Setzerlehrling Schani“: Der hatte mit der Sauklaue Anton Kuhs zwar seine liebe Not, ihm lag aber immerhin ein Manuskript vor. Des Öfteren indessen gab Kuh seine Berichte von Wiener Premieren unmittelbar nach der Aufführung telefonisch an auswärtige Blätter durch – Stichwort ,akustische Übertragungsfehler‘ –, und da steht dann etwa am 9. Juni 1917 unter der Spitzmarke „Die ,Räuber‘ im Burgtheater“ im Prager Tagblatt zu lesen: In unserem telephonischen Referat über die „Räuber“ im Burgtheater6 hat das Wort „prosaisch“ eine unangenehme Rolle gespielt. Es stand in dem Bericht zweimal zu lesen, wo es überhaupt nicht hingehörte. An der einen Stelle soll es dort, wo von Herrn Gerasch die Rede ist, statt „mit prosaischem Schwung jugendlich“ „mit Provinzschwung jugendlich“ und an der anderen Stelle statt „ein prosaischer Räuber“ „ein Pensionatsräuber“ heißen.7
Ein anderes Mal wird eine Schauspielerleistung fälschlich als „ungenügsam“ beschrieben,8 berichtigt lautet sie dann „einprägsam“.9 Gelegentlich schwangen sich die jeweiligen Redaktionen zu einer Berichtigung ihrer Fauxpas auf, wie etwa im Berliner Börsen-Courier: Herr Anton Kuh, der Verfasser unseres gestrigen Feuilletons „Der Benedikt“,10 bittet uns, wenigstens die beiden schlimmsten, sinnentstellenden Druckfehler in seiner Arbeit richtigzustellen. Im Gegensatz zu dem Setzkastenkobold, der offenbar eine heilige Scheu vor gewissen kleinen Lebewesen hat, schrieb er von einer „verwanzten (nicht verwandten) Tapetenkultur“, und es lag ihm auch fern, etwa einen neuen Mönchsorden erfinden zu wollen, wie aus dem ihm unterschobenen Wort „Ottrapist“ hätte gefolgert werden können, vielmehr wollte er sich auf den feststehenden Begriff „Ostrazist“ beschränken.11
Das Prager Tagblatt rückt am 15. November 1921 folgende Berichtigung ins Blatt: In Anton Kuhs Sonntagsblattbetrachtung über den „Reigen“-Prozeß12 haben sich zwei Druckfehler eingeschlichen, von denen der eine Sinn in Irrsinn und der andere einen Gedanken in sein Gegenteil kehrt. Es soll nämlich heißen: „a) und b) ist die Hosengescheitheit der Rockentartung“ (nicht „Rockantwort“) und an der anderen Stelle, wo von der Sinnlichkeit die Rede ist, daß sie das „Urgöttliche“ (nicht das „Ungöttliche“) ist.13
Hie und da ringt sich auch Anton Kuh eine launige, manchmal sarkastische Berichtigung ab. So etwa 1927 gegenüber dem Neuen Wiener Journal: –––––––— 6 7 8 9 10 11 12 13
[–uh] [d. i. Anton Kuh]: Die „Räuber“ im Burgtheater. In: Prager Tagblatt, Jg. 42, Nr. 156, 9. 6. 1917, Morgen-Ausgabe, S. 4. Anonym: Die „Räuber“ im Burgtheater. In: Prager Tagblatt, Jg. 42, Nr. 159, 12. 6. 1917, MorgenAusgabe, S. 5. [–uh] [d. i. Anton Kuh]: Neue Wiener Bühne. „Der wienerische Hanswurst“, Alt-Wiener Possenspiel von Armin Friedmann. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Jg. 9, Nr. 16, 22. 4. 1918, S. 7. Anonym: Ohne Titel. In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, Jg. 9, Nr. 17, 29. 4. 1918, S. 4. Anton Kuh: Der Benedikt. In: Berliner Börsen-Courier, Jg. 52, Nr. 145, 26. 3. 1920, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 5 [Nachruf auf den langjährigen Herausgeber der „Neuen Freien Presse“, Moriz Benedikt]. Anonym: Ohne Titel. In: Berliner Börsen-Courier, Jg. 52, Nr. 147, 27. 3. 1920, 1. Beilage, S. 6. Anton Kuh: Die Sachverständigen. Eine Glosse zum Berliner „Reigen“-Prozeß. In: Prager Tagblatt, Jg. 46, Nr. 266, 13. 11. 1921, S. 8–9. Anonym: „Die Sachverständigen“. In: Prager Tagblatt, Jg. 46, Nr. 267, 15. 11. 1921, S. 4.
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Sie reproduzieren in Ihrer Osternummer meine Antwort auf die von der Berliner „Literarischen Welt“ veranstaltete Rundfrage: „Wie soll Ihr Nekrolog aussehen?“ Ich möchte Sie nun darum ersuchen, festzustellen, daß meine im Gegensatz zu den glanzvollen, ausgefeilten Elaboraten meiner Rundfragekollegen nur mündlich erteilte Antwort durch einen Druckfehler um ihren Sinn gekommen war. Ich sagte nämlich nicht, es gäbe „nur eine Form zu überlegen, nämlich, daß die Leute das Gefühl haben usw.“, sondern es gäbe „nur eine Form zu überleben usw.“ Wenn ich in meinen Nekrologwünschen schon so schlecht wegkomme, was habe ich dann erst von meinem Nekrolog zu erwarten!?14
Anders als Kuhs Zuschrift nahelegt, weist der Erstdruck in der Literarischen Welt den Druckfehler nicht auf. Kuh im Postskriptum zu einer Nachlese auf die Salzburger Festspiele des Jahres 1931 im Prager Tagblatt: Was die Bewohner und das Volk dieser Stadt betrifft: ich sagte im letzten Bericht, seine Grandezza, Freude, Sinnlichkeit, Liebenswürdigkeit mische sich zu einer Art „romanischer Deutschheit“. Die Schreibmaschine machte daraus: romantische Deutschheit; das „Prager Tagblatt“ aus dem Manuskriptfehler: romantische Deutlichkeit. Ich schreibe die Berichtigung im vollen Bewußtsein hin, daß die nunmehrige letzte Fassung meines Bonmots in den Spalten dieses Blattes lauten wird: rheumatische Dicklichkeit.15
Dass ein verdruckter Buchstabe „eine Nuance“, gleichzeitig aber auch ein Problem sein kann, spricht Anton Kuh in einer Zuschrift an die Wiener Tageszeitung Die Stunde an: Ich nannte in meinem gestrigen Referat16 Raimund „augenrollend überheizt“. Der Druckfehler machte daraus „überreizt“. Aber gerade die Sinnähnlichkeit erschwert diesen Fall. Zwischen h und r, in der Wirkung gleich, ist hier nämlich ein Unterschied wie zwischen Genialität und übler Laune.17
Anton Kuh selbstironisch gegenüber der Neuen Weltbühne, in der im März 1936 in der Rubrik „Antworten“ zu lesen steht: Anton Kuh: Wir bestätigen Ihnen, dass in Ihrer Glosse über den Lord Londonderry18 ein Druckfehler enthalten gewesen ist, der den Sinn entstellte. Der Reporter, von dem Sie schrieben, stand vor dem hochgestellten Portier mit einem „Buckerl“ und nicht mit einem „Bücherl“ da. Sie sagen dazu: „Bücherl erinnert zwar angenehm an Prostitution19 und trifft damit einen Teil des Reporterberufs, aber die Devotion vor dem allerhöchsten Portier drückt das Buckerl besser aus.“20
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Anton Kuh: [Spitzmarke] (Wie soll Ihr Nekrolog aussehen?). In: Neues Wiener Journal, Jg. 35, Nr. 12.000, 20. 4. 1927, S. 8. Anton Kuh: Salzburger Sensationen. In: Prager Tagblatt, Jg. 56, Nr. 193, 20. 8. 1931, S. 2. Anton Kuh: Der „Alpenkönig“ im Burgtheater. Generalproben-Bericht. In: Die Stunde, Jg. 2, Nr. 316, 22. 3. 1924, S. 5. [–uh] [d. i. Anton Kuh]: „h“ oder „r“. In: Die Stunde, Jg. 2, Nr. 317, 23. 3. 1924, S. 6. Anton Kuh: Personally. In: Die neue Weltbühne, Jg. 32 [der Weltbühne], Nr. 10, 5. 3. 1936, S. 314–315. Bü(a)chel: umgangssprachliche Bezeichnung für das Prostituierten-Gesundheitsbuch. Anonym. In: Die neue Weltbühne, Jg. 32 [der Weltbühne], Nr. 11, 12. 3. 1936, S. 348.
„Druckfehler sind die Aphorismen der Setzmaschine“
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Was, wenn einem eine Berichtigung – Sonderfall einer nachgereichten Revision, zumeist die Revision einer Kontamination – entgeht? Und nichts leichter als das bei gewöhnlich drei bis fünf Zeilen in 10-Punkt-Fraktur, versteckt in den grauen Letternwüsten einer sechsspaltigen Zeitungsseite im Broadsheet- (375 x 600 mm) oder im Nordischen Format (400 x 570 mm). – Dann werden eben Druckfehler weitergeschleppt, bisweilen gravierende: In der Vorrede zu Anton Kuhs Buch Börne, der Zeitgenosse21 ist in jedem Wiederabdruck, in jeder Neuauflage von einem „brüskierten Jugendgefühl“ zu lesen, wo es „brüskiertes Judengefühl“ heißen sollte. Dem Buch lag ein Errata-Zettel mit einem halben Dutzend Berichtigungen bei, und der ist offenbar in den allermeisten Fällen verloren gegangen. Anton Kuh sah das eher locker: In einer „Selbstanzeige“ seines Aperçus-Bandes Physiognomik22 – die Bezeichnung ,Aphorismus‘ verabscheute Kuh ebenso wie überhaupt dieses ganze „sentenziöse Lirumlarum“, das doch allermeist mit billigen Paradoxien operiere, weswegen zugleich mit dem Aphorismus „der sogenannte produktive Druckfehler geboren“ worden sei – äußert sich Kuh folgendermaßen: Die Setzer, an die wackere Gradheit der Sprache gewöhnt, […] standen vor der Erscheinung des Paradoxen ratlos. Doch das schadete vorerst nichts. Es stellte sich damals heraus, dass Aphorismen durch Druckfehler an Sinn nur gewinnen, nicht verlieren können ... Immerhin dauerte es einige Zeit, bis die Setzer darauf kamen, dass Umkehrung und Gegenteil des Witzes Würze sind. Aber dies Gesetz blieb ihnen dann in Fleisch und Blut. Ihr Wahlspruch war: wir sind auf alles gefasst. […] Auf mich waren sie nicht gefasst ... O wär ich doch in ihrem Sinne paradox geblieben! Hätte ich mich zu der alten Aphorismenform bekannt, wonach zweimal zwei fünf ist – jeder Korrektor hätte mich verstanden. So halte ich einen Schritt weiter – bei mir ist zweimal zwei schon wieder vier: Gipfel der Verwirrung! Dass ich mich so auf eigene Paradoxienfüsse stellte, statt mit denen der Vorzeit zu marschieren, hat mein Buch zum Schlachtfeld aufeinanderprallender Interpretationen und Gesinnungen gemacht. Man war um mein Geistes- und Seelenheil besorgt, man wollte mir wohl, ich weiss es. Die Schwester des leitenden Prokuristen im Verlag sah, dass da etwas über Revolutionäre geschrieben stand – nein, sagte sie sich, das meint der Autor gewiss nicht, das ist ein Druckfehler – und sie merzte ihn aus. „Oho!“ rief der sozialistisch gesinnte Metteur entgegen, „da kennt ihr ihn schlecht ... wenn z. B. auf pagina 94 steht, dass Robespierre seinen Wahrheitseifer nur der Unruhe über die Dantons dankt, wie Rousseau seine Tugend bloss dem Neid auf die Voltaires – so ist das gewiss nicht seine wahre Ansicht: Rousseau und Robespierre stehen diesem Fanatiker zu hoch – er meint gewiss das Umgekehrte.“ Und änderte entsprechend die Namen um. Dann griff eine Tante des zweiten Compagnons ein. Der Umbruchkorrektor widersprach ihr. Das Gefecht wurde hitzig, eine Einigung war nicht zu erzielen, Druckfehler bedeckten die Walstatt. Bloss in einem herrschte ungeteilte Eintracht: im Respekt vor meiner paradoxen Artung. Sie sahen „Phentesilea“ statt „Penthesilea“, „Apamantus“ statt „Apemantus“. „Nee“, sagten sie, „lassen wir’s stehen, bei dem Kuh kann man nie wissen, was gemeint ist – wahrscheinlich ist das schon der Aphorismus.“
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Anton Kuh: Vorrede. In: Börne, der Zeitgenosse. Eine Auswahl, eingeleitet und herausgegeben von Anton Kuh. Leipzig, Wien 1922, S. I–XXV. Physiognomik. Aussprüche von Anton Kuh. München o. J. [1931].
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Ich beschloss, als ich das Werk sah, meinen nächsten Band unter dem Titel „Druckfehler“ zu edieren. (Motto: „Druckfehler sind die Aphorismen der Setzmaschine.“)23
Der Physiognomik waren die Berichtigungen wenigstens beigebunden und nicht bloß beigelegt. Die Druck- und Satzfehler waren somit in der Anton-Kuh-Werkausgabe hier ohne weiteres und vor allem ohne Skrupel zu bereinigen, was klarerweise auch bei allen Zeitungstexten geschehen ist, jeweils unter In-extenso-Anführung der Berichtigungen im Kommentarteil. Bei den Konjekturen sinnwidriger Stellen in den Zeitungstexten hingegen kann ich nur hoffen, dass es am Ende – Stichwort: ,produktiver Editionsfehler‘ – nicht heißt: „Konjekturen sind die Aphorismen des Herausgebers.“
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Anton Kuh: Du sollst nicht paradox sein! Eine Selbstanzeige. In: Berliner Tageblatt, Jg. 60, Nr. 474, 8. 10. 1931, Morgen-Ausgabe [S. 2].
Roland Berbig
Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag) Stichproben bei Ingeborg Bachmann und Thomas Brasch
1. Der „Titan der deutschen Nachkriegsliteratur“,1 wie Roland H. Wiegenstein den Verleger Siegfried Unseld 2015 titulierte, er hat es mit seiner Autorenschaft nicht leicht gehabt. Sie hat ihn berühmt und reich gemacht, aber sie hat ihm auch zugesetzt. Gäbe das Bild eines Boxringes etwas her, dann war Unseld ein Steher, einer, der einzustecken verstand und dessen Horrorvision ein geworfenes Handtuch war. Jene Passagen aus dem Briefwechsel mit Thomas Bernhard, die in Unselds „[…] Ich kann nicht mehr.“ und der Replik Bernhards „Ich war sicher einer der unkompliziertesten Autoren, die Sie jemals gehabt haben“,2 gipfelten, sind deshalb legendär. Wer nach einem Punkt sucht, auf den Unseld zu bringen sei, der wird scheitern. Schulterschluss und gekreuzte Schwerter spiegelt die Bildergalerie, die die Geschichte seiner Autorenbeziehungen zeigt. Sein Charakter und seine Arbeitsweise sind tief in die Literatur eingedrungen, der er sich verschrieben hatte und – an der er mitschrieb. „Aber jetzt“, rief Peter Handke in seinem Abrechnungsbrief Februar 1981 mit gewissermaßen bebender Stimme, „ist der Tag, da ich endlich eingreifen muss und mich als der Herr meiner Schufterei, meiner Kunst […] zeigen muß.“3 Empörte sich Handke hier gegen die Vermarktung seiner Geisteskinder, die er willenlos ausgeliefert sah? Oder witterte er einen Anspruch Unselds auf die Erzeugnisse seiner eigensten intellektuellen –––––––—
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Für die so freundlich erteilte Zitiererlaubnis aus den Archivbeständen von Ingeborg Bachmann, Thomas Brasch und dem Suhrkamp Verlag gilt mein ausdrücklicher Dank: Dr. Heinz Bachmann, Dr. Raimund Fellinger (Suhrkamp Verlag), Annette Maennel, Isolde Moser und Dr. Rainer Weiss. Dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, namentlich Dr. Anna Kinder (Siegfried Unseld Archiv), und dem Literaturarchiv Salzburg, Forschungszentrum von Universität, Land und Stadt Salzburg, namentlich Dr. Irene Fußl-Pidner und Dr. Silvia Bengesser-Scharinger, danke ich für kompetente und liebenswürdige Unterstützung. Mit umstandslos erteilten Auskünften waren Dr. Michael Hansel (Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien), Prof. Dr. Holger Helbig, Dr. Katja Leuchtenberger (Universität Rostock), Prof. Dr. Dirk Göttsche (University of Nottingham) und Prof. Dr. Hans Höller (Universität Salzburg) behilflich. Besonderen Dank schulde ich Dr. Hannah Markus (Zentrum für Literaturforschung, Berlin). Roland H. Wiegenstein: Der bedeutendste Verleger unserer Zeit. http://www.deutschlandfunk.de/buchder-woche-siegfried-unseld-der-bedeutendste-verleger.700.de.html?dram:article_id=310357 [28.12.2015]. Siegfried Unseld an Thomas Bernhard, 24. November 1988. In: Thomas Bernhard – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger, Martin Huber u. Julia Ketterer. Frankfurt am Main 2009, S. 805 u. 806. Peter Handke an Siegfried Unseld, 25. Februar 1981. In: Peter Handke – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger u. Katharina Pektor. Frankfurt am Main 2012, S. 432.
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Arbeit? Gäbe es überhaupt eine Minimalbasis für Ansprüche dieser Art? Wenn das Wort Einschreibung seines modischen Zugs entkleidet wird, bleibt das Phänomen – aber handelt es sich bei Lektorats- und Verlegerarbeiten um eben dieses Phänomen? Unseld schildert in seinem Reisebericht Paris, 11.–13. April 1976 die intensive Arbeit am Manuskript Die linkshändige Frau: „Wir gingen Seite für Seite durch. Es war ein angenehmes Arbeiten. Wenn ihm eine Kritik einleuchtete, war er sofort bereit, zu ändern, […]“, selbst wo Handke anfangs „hartnäckig, ja aggressiv auf seinen Formulierungen“ bestanden hatte, habe man „dann doch noch einige Änderungen gemacht“.4 Kaum zu zählen sind Diskussionen um Titel. So beugte sich Handke 1988 Unselds Vorschlag, seinen Text Die Kunst des Fragens doch besser Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum Sonoren Land zu nennen.5 Und als Handke 1994 den Untertitel von Mein Jahr in der Niemandsbucht gestrichen hatte, Unseld ihn aber „bezeichnend schön“ fand, zögerte der Autor nicht, die Streichung rückgängig zu machen.6 Titelsuche, stellvertretend für andere Textarbeit, nimmt nicht selten die Gestalt eines kollektiven Aktes zwischen Autor, Verleger und Verlagsmitarbeiter an. Das Beispiel Handke ist prominent, aber es ist in diesem Falle auch beliebig, fast austauschbar. An ihm lässt sich andeuten, worauf der kleine Vortrag zielt – den Verleger als Textrevisor vorzuführen, als einen, der mitwirkt am Textganzen, auf signifikante Weise, unsichtbar und sichtbar in einem. Ein letztes Mal Handke: „Du bist und warst wie selten einer zum stillen, wohltätigen Dasein und Mitgehen (und Vorausschwimmen) fähig.“7 Die beiden ausgewählten Beispiele Thomas Brasch und Ingeborg Bachmann sind nicht weniger prominent. Beide verbindet eine unverwechselbare Beziehung zu Unseld, beide kamen zum Suhrkamp Verlag über andere Verlagshäuser und beide provozierten durch monumentale Schreibprojekte, geeignet, sich selbst, Verleger, Lektoren und Leserschaft in Zweifel und Verzweiflung zu versetzen.
2. Am 25. November 2001, 22 Tage nach Braschs Tod, veranstaltete das Berliner Ensemble eine dem Toten gewidmete Matinee. Auch Siegfried Unseld stand auf der Rednerliste, und er zögerte nicht, das Brunke-Großprojekt anzusprechen, die Geschichte eines Mädchenmörders aus dem Jahr 1906, für die Brasch sein letztes Lebensjahrzehnt und die Verlagsbindung hingegeben hatte. Aus weit über 10.000 Manuskriptseiten8 war ein schmales Buch mit 97 großzügig gedruckten Seiten ge–––––––— 4 5
6 7 8
Peter Handke an Siegfried Unseld, 2. April 1976 (Kommentar). In: Handke – Unseld (Anm. 3), S. 301. Peter Handke an Siegfried Unseld, 4. Oktober 1988 (Kommentar). In: Handke – Unseld (Anm. 3), S. 551. Im Weiteren kritisierte Unseld dann den Untertitel selbst wieder, aber Handke bestand, mit Verweis auf Raimund, auf ihn (S. 552). Siegfried Unseld an Peter Handke, 2. März 1994 (Brieftext u. Kommentar). In: Handke – Unseld (Anm. 3), S. 629. Peter Handke an Siegfried Unseld, 21. September 1999. In: Handke – Unseld (Anm. 3), S. 697. Die Angaben zum Umfang variieren. Der Spiegel spricht in einem Artikel 2011 von „fast 14.000 Manuskriptseiten“. Elke Schmitter: Heldengedenken. Kritik: Ein Film und ein Buch erinnern an
Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag)
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worden, dessen erster Satz – nach einem kursivierten Motto – lautet: „Ich war offensichtlich an den Folgen jenes Unglücks gestorben, das ich erwartet hatte, seit mir das Lieben abhanden und ich mir auf diese Weise vor Jahren vollständig abwesend geworden war.“9 Das Verlagsurteil, es bei diesem Büchlein zu belassen, rechtfertigte der Verleger, seiner gewiss gegenüber der Ungewissheit seines Autors, erneut mit dem Verdikt ‚Formlosigkeit‘ – und kassierte, als er auch noch Werk, Autor und ausgeglichenen Kassenstand koppelte, dafür Buh-Rufe eines verdrossenen Auditoriums. Katharina Thalbach ergriff, stellvertretend, das Wort, ein klageführendes. Der Verleger habe Braschs Brunke in Selbstüberschätzung bagatellisiert, der Autor sei ihm ausgeliefert gewesen wie das Werk, das um seine Dimension gebracht worden sei. Andere Zeiten würden entscheiden, ob die Brunke-Geschichte ein Kunstunglück sei oder nicht doch ein künstlerischer Glücksfall. Zwei Jahre vor Braschs Tod, November 1999, hatte Thalbach mit dem Dichter aus dem ungedruckten Konvolut gelesen – ganz so, als sei man gewillt, auf diese Weise das angestrebte Werkprofil zu restituieren, das Verlag und Verleger vereitelten bzw. nach eigenem Gusto gestalteten.10 Insa Wilke, die ein kluges, informationsdichtes Brasch-Buch geschrieben hat, skizziert die dramatische Textgeschichte von Brunke. Sie dokumentiert Braschs Zustimmungsbrief März 2000 an Unseld nach seiner überstandenen Herzoperation bei Professor Hetzer, die in dem Satz gipfelt: „hättest du nicht auf der zwangsentbindung des buches drei monate zuvor bestanden, wäre der zwischenfall anders d. h. tödlich verlaufen.“11 Ausklammern musste sie große Teile des Dialogs zwischen Verlag und Brasch.12 Doch erkennt sie schon aus ihrem Zugangswinkel, wie „[p]roblematisch […] die Autorschaftsfrage oder besser, Braschs Autorschaftsverständnis“13 sei, ohne ihr/ihm nach- oder auf den Grund gehen zu können. Ist es einerseits, wie Wilke an–––––––—
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Thomas Brasch, den Dichter, der aus der DDR in den Westen ging und auch da nicht heimisch wurde. In: Der Spiegel Nr. 44 vom 31. Oktober 2011, S. 126. Die verlässlichste Bestandsaufnahme findet sich in Insa Wilke: Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch. Berlin 2010, S. 179–181. Die Zahl 14.000 nennt Brasch im Filmportrait „Thomas Brasch. Dichter, Schriftsteller, Filmemacher“ von Christoph Rüter (im Auftrag von 3sat, 2005). Das Bestandsprofil, das Wilke zeichnet, gibt ein ausgesprochen heterogenes Bild, das sich mit der ersten Sichtung nach dem Tod von Brasch deckt und das nach Rainer Weiss „viele Varianten des uns bekannten ‚Brunke‘-Stoffes“ umschließt. Wolfgang Kaußen, Suhrkamp Verlag, spricht in einer Verlagsnotiz vom 12. November 2001 davon, dass es sich bei dem eingesehenen Bestand „weniger um den gemutmaßten Riesentorso“ handele „als vielmehr um eine Addition von Abschriften und Bearbeitungen“. DLA Marbach. SUA [Siegfried Unseld Archiv] Suhrkamp 01 VL. Autorenkonv. Brasch, Thomas – Suhrkamp-Verlag (Frankfurt am Main). Briefwechsel mit Brasch, Thomas. Auf dieses Konvolut wird im Nachstehenden wiederholt verwiesen, ihm liegt noch das Archivierungsprinzip des Verlags zugrunde. Die chronologisch geordneten Einzeldokumente haben keine gesonderte Signatur. Thomas Brasch: Mädchenmörder Brunke. Frankfurt am Main 1999, S. 8. Brasch hatte drei Kladden bei dieser Lesung neben sich liegen – eine Lesung, die das Prädikat „hinreißend“ verdient. Zitiert nach Wilke 2010 (Anm. 8), S. 175. Einsehbar waren Wilke bei der Niederschrift ihrer Studie „nur die im Archiv [der Akademie der Künste Berlin, die den Nachlass von Thomas Brasch besitzt – R. B.] zugänglichen Briefe und Briefentwürfe. Die Einsicht in die im Verlag archivierte Korrespondenz wurde von der Erbengemeinschaft leider nicht gestattet.“ Wilke 2010 (Anm. 8), S. 303. Ebd., S. 179.
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deutet, ein auf Braschs strategische Schreibpraxis bezogenes Problem, so ist es andererseits eins, das das Mit- und Gegeneinander von Autor und Verlag betrifft. „Solange ich in diesem Hause atme, habe ich eine spezifische Haltung zu Autoren. Ich möchte ihr Partner sein, und dies in allen Bereichen, in denen wir arbeiten, und ich wünsche mir auch, daß die Autoren diese Beziehung so sehen. […]“14. Derart schwergewichtig hatte Unseld bereits Ende 1984 auf die immer krisenhaftere Entwicklung der Beziehung zu Brasch reagiert, der darauf (in einem Klammersatz) einräumte, er kenne „die Qualität des Verlegers wie des Verlags“.15 Seit Oktober 1986 betreute Rainer Weiss Brasch,16 und er war es, dem das Brunke-Vorhaben erstmals signalisiert wurde. Weiss berichtete Unseld davon am 9. April 1992. Bei seinem letzten Besuch bei Brasch habe dieser ihm einen Leitz-Ordner mit Gedichten gemischter Qualität gegeben: „Ich könnte aus diesen Texten“, schreibt Weiss, „und aus solchen, die ich in den letzten fünf Jahren Brasch ‚entrissen‘ habe, durchaus ein kleines Bändchen komponieren, […]“.17 Eher beiläufig, im Zuge plastischer Krisen- und Kampfschilderung mit Brasch, fällt der Hinweis auf „ganz ungeheure Pläne für eine Prosa, weshalb er mich möglichst umgehend sehen müßte […]“. Weiss war skeptisch, bestand Braschs kreative Arbeit doch mittlerweile aus Übersetzungen – und einem sprudelnden Quell von Plänen, die zu realisieren er wie der Verlag sich außerstande sahen. „Vielleicht“, schließt er die Information an Unseld, „sehen Sie ja Licht, wo ich nur Dunkel sehe.“18 In einem Protestbrief Braschs vom Dezember 1992, der fünf Gesprächsabsagen „über mein vor fünf Monaten übersandtes Manuskript BRUNKE“ beklagt, erklärt der Autor, dass er „auf ein weiteres Gespräch darüber [verzichte]“, kündigt für den 30. März 1993 „das Manuskript für ein zweibändiges Buch BRUNKE“ an und erwartet, „daß beide Bände in einem Schuber im Herbst 1993 erscheinen.“19 Als der Verleger Mitte Januar 1993 Brasch im Zuge einer Berlin-Reise besuchte, kam es zu einem ausführlichen Brunke-Gespräch: Er hätte den Stoff schon in seinem Stück „Lieber Georg“ erwähnt – ein Kleist-Schicksal: Ein 18-jähriger, der sich als Schriftsteller gescheitert fühlt, erschießt zwei Töchter, die nicht weiter leben wollen und hat dann doch nicht die Kraft, sich selbst zu erschießen. Ein Schriftsteller wird also zum Mörder. Das ist ein Thema eines bestimmten Teils der Gedichte
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Siegfried Unseld an Thomas Brasch, 30. November 1984, SUA (Anm. 8). Thomas Brasch an Siegfried Unseld, 4. Dezember 1984, SUA (Anm. 8). Unseld unterrichtete Brasch davon unter dem 16. Oktober 1986, SUA (Anm. 8). Rainer Weiss an „Dr. S. Unseld“, Information, 9. April 1992, SUA (Anm. 8). Ebd. Thomas Brasch an Suhrkamp Verlag, z. Hd. Burgel Zeeh „mit der Bitte um Weiterleitung an Siegfried Unseld“, 2. Dezember 1992, SUA (Anm. 8). Bei den beiden Bänden handelte es sich um „1. Band ein Kurzroman über den Kriminalfall 1905, 2. Band (weitgehend identisch mit dem vorliegenden Manuskript) Gedichte und Erzählungen, die den Brunke-Fall kommentieren, paraphrasieren, aktualisieren. […]“ (wie oben). Weiss’ Hausnotiz am 14. Dezember 1992 teilte mit, dass der Brasch-Titel „Brunke weint, Brunke wohnt, Brunke will was“ nicht, wie angekündigt, im Frühjahr, sondern erst im Herbst erscheinen werde (SUA, Anm. 8).
Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag)
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und das ist das Thema des Kurzromans oder der Novelle, an der im Augenblick scheibt [!]. 20 Es würde ein kühl, Lenz-haft, geschriebener Text, und der läge uns bis zum 30. März vor.
Unseld strahlte Zuversicht aus. Aus der Notiz geht die Verlags-Lenkung beinahe mustergültig hervor: eine Tötungsgeschichte, der Schriftsteller als Mörder, Novelle und Büchners Lenz als Maß, dessen Schreiben als Modell. Weiss ahnte, was auf ihn zukam; er hatte verfügbar zu sein, immer, zu jeder Tagund Nachtzeit.21 Als der verabredete März-Termin verstrichen war, kam es zu einer Begegnung mit Brasch in Frankfurt, über die Weiss einen atemberaubenden Bericht verfasste, erschüttert und entnervt „von der kriminellen Energie, die ich [bei Brasch – R. B.] erlebt hatte, […]“.22 Der Sachbefund: Die Novelle war „noch unfertig, es fehlen Passagen, chronologisch geht es durcheinander“, doch sei der Fall „so spannend […], daß der Text den Leser ‚packt‘. Er ist natürlich eine Montage und inwieweit der oder jener Satz von Brasch, der andere aus einer alten Zeitungsmeldung, wieder ein anderer von wiederum anderswo ist, vermag ich (noch) nicht zu beurteilen.“23 Am 21. Mai 1993 meldete Weiss seinem Chef den Eingang der beiden Brasch-Manuskripte, „beide schmal […], aber die Erzählung ist über große Strecken bestechend (oder einfach nur: schön geworden). […] Im Ton, finde ich, nahe bei Büchner […]“. Ihr einziger „Makel“ sei, „daß sie sich so kurz gibt; ich hätte gerne mehr gelesen.“24 Als Unseld sechs Tage später dem Autor schreibt, tut er dies in Weiss’ Worten: die Prosa sei „bestechend. Ein Lenz von heute.“25 Der Satz, er hätte „gerne mehr gelesen“, sollte Weiss bald tief gereuen: Brasch sprengte nämlich fortan systematisch jede Verabredung, jeden Termin, jede Übereinkunft – und vor allem, er sprengte das nur dem Anschein nach so gut wie fertige Manuskript. Darüber verlor sich, abgesehen von einem kurzen Intermezzo November 1994, jeder Verlagsglaube an „das definitive Manuskript“26 vom Mädchenmörder Brunke und darüber erfand sich Brasch Fassung auf Fassung „unseres Sorgenkindes“.27 Nur einmal, Anfang November 1994 – der Text war an seinen von Weiss und Unseld begrüßten Ausgangspunkt zurückkehrt („in die Fassung, die Du mir damals so nahe zu meinem Lenz-Büchner gerückt hast“28) –, glimmte ein Hoffnungsschimmer. Ihn löschte im Sommer 1995 ein „Riesenkonvolut, das inzwischen entstanden“29 war, unförmig, ausufernd. Es zwang Unseld, ein Ultimatum zu stellen: „ist es [das publi–––––––— 20 21 22 23 24
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Siegfried Unseld: Auszug aus „Reisebericht Dr. Siegfried Unseld: Bonn, Berlin 14.–16. Januar 1993, SUA (Anm. 8). Vgl. Rainer Weiss an „Dr. S. Unseld“, Information, 9. April 1992, SUA (Anm. 8). Rainer Weiss an „Herrn Dr. S. Unseld“, 28. April 1993, SUA (Anm. 8). Ebd. Rainer Weiss an Siegfried Unseld, 21. Mai 1993, SUA (Anm. 8). Am 25. Mai 1993 fertigte Wolfgang Kaußen eine brillante Textanalyse zu Brunke an, in der er den Bezügen zu Büchners Leonce und Lena wie Dantons Tod auf den Grund ging. Siegfried Unseld an Thomas Brasch, 27. Mai 1993, SUA (Anm. 8). Siegfried Unseld an Thomas Brasch, 19. Oktober 1993, SUA (Anm. 8). Thomas Brasch an Siegfried Unseld, 18. November 1993, SUA (Anm. 8). Thomas Brasch an Siegfried Unseld, 5. November 1994, SUA (Anm. 8). Siegfried Unseld an Thomas Brasch, 23. Juni 1995, SUA (Anm. 8).
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zierbare Manuskript – R. B.] am 10. Juli nicht da, wollen wir uns von dem Manuskript verabschieden […]“.30 Und es zwang Brasch, sich ultimativ Brunke zu unterwerfen: Unselds im Druck, seinem unter Druck befindlichen. Hier ist nicht der Ort, die weitere beidseitige Tortur zu verfolgen, nur das Beidseitige ist zu betonen. Brasch produzierte bei schwindendem Urteilsvermögen Brunke-Textmassen, die Weiss für Verlag und Verleger entgegennahm, sichtete, redigierte, ordnete und von denen er Unseld Bericht erstattete. Es gelang nicht, worauf der Dichter hoffte: „sich als Autor nämlich wiederzufinden.“31 Der Akt des „Kenntlich-Machen[s]“,32 den Brasch als des Verlegers Part 1994 beschrieben hatte, verlagerte sich. Nun sollte der Verlag aus den Wort- und Satzmassen erkennen, was das Kenntlich-Machen überhaupt erst gewährt und ermöglicht. In Versen für Weiss dichtete Brasch März 1995: „Er ist schuld daß Brunke noch lebt.“ Ohne ihn, Weiss, so schließt der Text, „wär ich ein Absender ohne Adresse / Bleib mir das Maß, an dem ich mich messe.“33 Die Verlagsseite wurde zum Regulator erkoren für das eigene Schreiben – oder als Diktator, der allem Schreiben den Atem nimmt. Erfleht wurde eine mitwirkende Anwesenheit, er selbst sei sich, schrieb Brasch an Weiss, „noch nie […] so [eingefügt: abwesend]“34 gewesen. Gleichzeitig mit dieser Rollenzuweisung ging eine verwandte Mystifizierung Unselds einher, ebenfalls unter dem Siegel einer Adressatenschaft. Der Verleger, der nur über Weiss vermittelt das Manuskriptschicksal und das Leben dessen verfolgte, der sich dem Text verschrieb, war nun erklärter Zielpunkt, nicht der Leser – ja, mehr noch: er solle ihn, den Dichter, „verlegen“ machen „und also zum mitteilen bereit“.35 „[A]uch für Dein Seelenheil“,36 hieß es schon im Juni 1995. Die juristischen Vertragspartner sollten sich als einen poetischen Pakt begreifen. Je unwilliger Unseld wurde, sich in diesen verhängnisvollen Malstrom zwingen zu lassen, umso maßloser wurden Braschs Gegenschläge.37 Das Ringen, das sich bis zur Drucklegung qualvoll vollzog, galt letzthin nur noch jener Fassung, „die Rainer Weiss mit Dir hergestellt hat“.38 Ein Gemeinschaftsprodukt, im tatsächlichen Sinn des Wortes. Da half kein weiteres 700-seitiges Konvolut im Spätsommer 1997, da half nichts. Das bindende Wort des Verlegers hatte das entfesselte des Dichters gebändigt, domestiziert und rubriziert im Verlagsprofil. Der Werkrealisator saß im Verlagssessel, der Wortimprovisator stand am Spreeufer. Das Maß des Textverwerters obsiegte über –––––––— 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Ebd. Rainer Weiss: Notiz für Siegfried Unseld, 11. Juli 1995, SUA (Anm. 8). Thomas Brasch an Siegfried Unseld, 5. November 1994, SUA (Anm. 8). Thomas Brasch an Rainer Weiss, 8. März 1995. In: Akademie der Künste / Berlin. Thomas BraschArchiv. Brasch-Thomas 146. Thomas Brasch an Rainer Weiss, 21. März 1995. In: Akademie der Künste / Berlin. Thomas BraschArchiv. Brasch-Thomas 146. Thomas Brasch an Siegfried Unseld, 27. Juni [1996]. In: Akademie der Künste / Berlin. Thomas BraschArchiv. Brasch-Thomas 146. Thomas Brasch an Siegfried Unseld, 23. Juni 1995, SUA (Anm. 8). Belegstücke finden sich in seinem Nachlass. Brasch hat sie, soweit sich sehen lässt, nicht abgesandt. Siegfried Unseld an Thomas Brasch, 29. August 1997, SUA (Anm. 8).
Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag)
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dem des wertverunsicherten Wortwägers. Am 9. Februar 1999 gab Brasch sein Einverständnis zur „veröffentlichung der bereits in druck gegangenen BRUNKEfassung“.39 Fortan stand dem verlegenden Textrevisor der Autor als Ausleger gegenüber. Legendär und Legende in einem. Im letzten Versuch, noch eine nachhaltige Änderung anzubringen, schlug Brasch im Oktober 1998 einen neuen Titel vor: THOMAS BRASCH B. SUHRKAMP40
Dass dieser Vorschlag vom Verlag abgelehnt wurde, besagt nichts: Er traf den Nagel auf den Kopf und die Sache ins Herz.
3. Ganz anders die Konstellation zwischen Siegfried Unseld und Ingeborg Bachmann. Sie hatten sich bereits Sommer 1955 während des Seminars „Harvard Summer School of Arts and Sciences and of Education“ in Cambridge (Mass.) näher kennen gelernt, sie 29, er 31 Jahre alt. Man blieb danach im Kontakt, anfangs vertraut, später freundlich. Bachmann war mit sieben Gedichten in der von Walter Höllerer im Suhrkamp Verlag herausgegebenen Lyrikanthologie Transit (Frankfurt am Main 1956) vertreten. Sie verfolgte Unselds Aufstieg im Verlag nach dem Tod Peter Suhrkamps 1959. Kleinere Hilfs- und Verlagsangebote Unselds nahm sie unbekümmert an, ihre Bindung an den Piper Verlag hinderten sie nicht daran. 1961 erschien bei Suhrkamp ihre Ungaretti-Übersetzung in einer zweisprachigen Ausgabe. „[I]ch sehe“, schreibt ihr Unseld im Juli 1960, „man muß eben Lektor sein, um bei Dir Erfolg zu haben! […]“.41 Im Verlauf der sechziger Jahre, in denen Bachmann schubweise schrieb und das Publizieren weitgehend einstellte, warb der Verleger, nicht der vormals Befreundete zunehmend um ihre Gunst.42 Doch es war, wie sie Unseld im Juli 1965 schrieb, gerade die „Freundschaft“, die sie lange gegenüber einem „Arbeitsverhältnis“ reserviert hielt. Ausweichen wollte sie den dann unausweichlichen Konflikten. Das Schreiben, das sie im Sinn hatte, setzte Freiheit absolut: Wenn ich aber meinen künftigen Büchern trauen kann, meinem vehementen Willen, alles einzusetzen, um etwas Gutes zu schreiben, dann kann das nichts mehr zu tun haben mit
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Thomas Brasch an Siegfried Unseld, 23. Februar 1999, SUA (Anm. 8). Was entfesselt weiterfloss, flutete den zukünftigen, näher rückenden Nachlass, der bereits seinen Ort in der Akademie der Künste gefunden hatte. Er gab ihn telefonisch am 14. Oktober 1998 Burgel Zeeh durch, die ihn Rainer Weiss weiterreichte. Siegfried Unseld an Ingeborg Bachmann, 14. Juli 1960. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/11. Behutsamkeit war nicht zuletzt deshalb vonnöten, weil mit Max Frisch der ehemalige Lebenspartner Bachmanns zu den maßgeblichen Autoren des Verlagshauses gehörte. Ihre Trennung hatte zu einer tiefen psychischen und physischen Krise der Dichterin geführt.
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Verlegen, Umschlägen, Klappentexten, Rückhalt und der richtigen Umgebung. Dann muss und werde ich darüber hinaus sein.43
Als der Piper Verlag ihr einen Vertrag vorlegte, dessen gefährdenden Punkt Bachmann in der „‚Beschlagnahme‘ meiner ganzen Produktion“44 sah, holte sie Unselds Rat ein. In dessen Umformulierung des Paragraphen, der die Rechte und Freiheiten der Autorin erweiterte, wurde auch „das Werk ‚Todesarten‘“45 erwähnt. Damit war eine Verlagsfluchttür installiert, sie erwies sich schon ein Jahr später als Rettung. Bachmanns Widerwille, mit dem nationalsozialistischen Autor Hans Baumann unter einem Verlagsdach publiziert zu werden,46 kappte das Piper-Seil. Alle Flickversuche Pipers47 scheiterten. Ende Juli 1967 berichtete der Spiegel über den Fall, schilderte Pipers Ringen um Bachmann und ihren Todesarten-Roman und machte die Bemerkung der Autorin, bei dem Titel werde es sich um „einen Zyklus aus mehreren Büchern“ handeln, „an dem sie noch lange (‚für immer, denke ich‘) schreiben werde“, ebenso öffentlich wie ihren Wunsch, ihn „in Siegfried Unselds Suhrkamp-Verlag erscheinen“ zu lassen.48 Was Unseld unter verlegerischer Heimstatt verstand, erläuterte er Bachmann am 30. März 1967 so: Du brauchst einen Verlag, der 1) nur auf Literatur eingestellt ist, und zwar nicht nur heute und jetzt, sondern auch später, immer auch dann, wenn andere Häuser aus Konjunkturgründen von Literatur absehen. 2) einen Verlag, dessen Möglichkeiten ausschließlich auf das Machen von Literatur eingestellt sind, und zwar in all seinen Abteilungen, in der Herstellung, wie in Vertrieb und Werbung, in der Rechtsabteilung, wie in der Abteilung der Lizen-
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Bachmann an Unseld, 28. Juli 1965. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/34-35. Bachmann an Unseld, 2. Juni 1966. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/64. Unseld an Bachmann, 14. Juni 1966. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/65. Überliefert sei, schreibt Weigel, ein „Konvolut hinterlassener Prosafragmente, Romanentwürfe und Erzählansätze […], an denen die Autorin seit etwa 1963/64 gearbeitet hat.“ Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999, S. 509. Der Piper Verlag hatte im Herbst 1967 einen Band der russischen Dichterin Anna Achmatowa unter dem Titel Gekreuzte Regenbogen herausgegeben. Hans Baumann, während der NS-Zeit äußerst erfolgreich als Texter nationalsozialistischer Lieder für die Hitler-Jugend, hatte die Auswahl und die Nachdichtungen besorgt. Nach einem Warnbrief an Klaus Piper (14. Februar 1967) erfolgte unter dem 18. März 1967 Bachmanns Verlagskündigung: „Ich gehe weg. […] Nicht Herr Baumann, sondern der Verlag macht mich seit Wochen krank. […]“. Zitiert nach: Elke Schlinsog: Berliner Zufälle. Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 80 (Fußnote 155). Eben diese Wendung gab auch ein Artikel, den der Spiegel in seiner Ausgabe vom 24. Juli 1967, S. 95– 96 unter dem Titel „Bachmann / Baumann. Gekreuzte Regenbogen“ abdruckte, wieder (S. 95). 1966 hatte Bachmann für die geplante Achmatowa-Lyrikauswahl, was zur Sache gehört, ohne Glück Paul Celan als Nachdichter empfohlen. Vgl. hierzu Bachmann an Unseld, 5. Juli 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/11. Er nahm den Achmatowa-Band aus dem Programm, reiste zu Bachmann nach Rom und warb öffentlich um ihre Gunst. [Ungez.]: Bachmann / Baumann. Gekreuzte Regenbogen. In: Der Spiegel Nr. 31 vom 24. Juli 1967, S. 95.
Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag)
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zen und Nebenrechte. 3) einen Verlag, der Dir auf jedem Gebiet ein Partner sein kann. Meine Einstellung zu Deinen Arbeiten kennst Du über ein Jahrzehnt. Der Lektor hier im Hause für Dich würde Walter Boehlich sein, und Martin Walser wäre gerne bereit „mitzulesen“.49
Walter Boehlich, von unzweifelhaftem Rang, übernahm das Lektorat – und hatte in der Folgezeit, zu Unselds Kummer, wenig Kummer damit: Die Autorin lieferte nicht, Geschriebenes blieb unversandt, Gespräche und Begegnungen verschoben.50 Der schon Ende 1966 begonnene Roman Malina, der „seit Mitte 1967 in Absprache mit Bachmanns neuem Verleger Siegfried Unseld ins Zentrum ihres Schreibens“51 gerückt war, wuchs sich erst zu einer Chimäre, dann zu einem Monster aus. Unter Leitung von Robert Pichl haben Monika Albrecht und Dirk Göttsche in einer penibel und groß angelegten Edition alle überlieferten Texte zu diesem Roman im Kontext der Todesarten publiziert und kommentiert.52 Im Überblick zur Entstehung von Malina wird sorgsam referiert, in welchen Schüben und Unterbrechungen (etwa durch den Simultan-Band oder die Erzählung Gier) sich die Arbeit vollzog, die – nach einem Besuch Unselds in Rom (10.–13. Oktober 1970) – Herbst/Winter 1970 an äußerster Rasanz und Intensität gewann. Noch Ende September 1970 hatte Unseld, sehnsüchtig das Manuskript erwartend, keinen „Eindruck vom Text“ gehabt, der ihm „über all meine passionierte Neugier hinaus“,53 verlegerisch wichtig sein musste. Als er Mitte Oktober 1970 endlich eine Malina-Fassung in den Händen hielt,54 war er „sehr, sehr angetan“, griff jedoch die Titelfrage auf und Bachmanns Entscheidung behutsam-bestimmt an. Der Name allein sollte es sein – und der Name allein war es am Ende. Die Behutsamkeit war angezeigt: Bachmann hatte Ende Oktober einen –––––––— 49
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Unseld an Bachmann, 30. März 1967. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/77–79. Vgl. auch Siegfried Unseld Chronik 1971. Bd. 2. Hrsg. von Ulrike Anders, Raimund Fellinger u. Katharina Karduck. Berlin 2014, S. 9. Unseld referierte anlässlich Bachmanns Frankfurt-Aufenthalts im Januar 1971 die „Vorgeschichte“ (S. 8) dieser Verlagsbeziehung und der Entwicklung des Malina-Manuskripts, S. 9–11. Statt Eigenem sichtete Bachmann Fremdes, schlug nicht-deutschsprachige Titel für den Verlag vor und empfahl sich als Lektorin. Monika Albrecht, Dirk Göttsche: Art. 5.3. „Todesarten“-Projekt. 5.3.1. Überblick. In: M. Albrecht / D. Göttsche (Hrsg.): Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2002, S. 128. Ingeborg Bachmann. „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe unter Leitung von Robert Pichl hrsg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. Band 3: Malina. Bearbeitet von Dirk Göttsche unter Mitwirkung von Monika Albrecht. München 1995. [Band 3.1: Text, Band 3.2: Kommentar.] Dass es die Autorin einem solchen Vorhaben durch ihre nur schwer berechenbare Arbeitsweise über die Maßen schwer gemacht hat, muss angesichts der nicht leicht zu handhabenden Edition nachdrücklich betont werden. Zur kritischen Würdigung dieser Edition vgl. Sigrid Weigel: Entwicklungslogik statt Spurenlektüre. Zur Edition von Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt. In: Merkur 50, 1996, H. 565, S. 350–355. Vgl. weiterhin: Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann (Anm. 45), Kapitel X: Die „Todesarten“, S. 509–558 (bes. S. 510–513). Weigel relativiert vor allem die unterlegte Dimension eines solchen Projektes und kritisiert „die Aufnahme der einzelnen Fragmente“ seit 1963, indem dieses Konvolut als „‚Bestandteil‘ des „Todesarten“-Projekts“ (S. 511) deklariert und überhaupt das „Kontinuum eines einzigen großen Projekts“ (S. 512) unterstellt würde. Von einem Projekt dieses Titels könne erst ab 1967 gesprochen werden (vgl. S. 513). Unseld an Bachmann, 23. September 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/193. Unseld schilderte in seinem Reisebericht Rom vom 10.–13. Oktober 1970 die Lektüre erster Manuskriptteile. Zitiert in: Siegfried Unseld Chronik 1971 (Anm. 49), S. 10–11 (Fußnote 1).
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schweren Sturz mit Schlüsselbeinbruch und lädierten Rippen erlitten. Sekretärinnen halfen, Manuskriptteile wurden von ihnen und in Frankfurt abgeschrieben. Immerhin war zu diesem Zeitpunkt mit Unseld schon über die äußere Gestalt des zukünftigen Buches korrespondiert worden, Bachmann hatte absolut präzise Vorstellungen und wollte als Titel noch „Das Buch / MALINA / Roman. / S. Verlag“: „Der Name allein geht für mich doch nicht, aus Gründen, die [Du] dann hoffentlich auch einsehen wirst.“55 Im November 1970, ein weiterer wesentlicher Umstand, hielt sich Martin Walser, dessen Mitwirkung Bachmann erbeten hatte, bei ihr auf.56 Walser las, redigierte, strich und fügte hinzu. Als Unseld sie wegen ihres Unfalls angerufen habe, schrieb Bachmann, beinahe verschmitzt, dem Freund nach Überlingen (Bodensee), habe er ihr „auch gute Nachrichten gegeben, sagen wir, er hat mich mit einigen Sätzen, die von Dir stammen, gestreichelt. Und das war natürlich sehr wohltuend, […].“57 Bachmanns Malina nahm Fremdes von Befreundeten auf und schmolz es ein – oder es schmolz sich ein.58 Die „wahnwitzige Situation“, in der sich die Dichterin sah, fiel wie ein Schatten oder vielleicht auch wie ein Licht auf die Gestalt, die das flickenartige Manu- bzw. Typoskript annahm. „Unvermeidlich“ werde es sein, so Bachmann am 5. November 1970 an Unseld, „daß ich einige kleine Übergänge danach selber schreibe, denn gerade diese Kleinigkeiten muss man allein machen, […]“.59 Sie erzeugte, scheint es, einen Schreibfluss, die Lektorierenden zogen die Dämme ein und glichen den Lauf der Bewegung an. Am 1. Dezember 1970 das Wunder: Das Manuskript wurde als „fertig“60 gemeldet, zwei Exemplare sollten per Luftfracht nach Deutschland gehen (wurden dann aber wegen der unsicheren Lage doch zurückbehalten), und am 16. Dezember 1970 schickte Bachmann dezidierte Besserungen für den Werbetext und ging, nach erster distanzierter Roman-Lektüre, auf Walsers Lektorat ein: Sie –––––––— 55
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Bachmann an Unseld, 17. Juni 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/186–187. Sie habe sich, heißt es zuvor, über den Titel „den Schädel ohne Ende zerbrochen“, als sie „zu meinem allerersten zurückgekehrt“ sei, war „meine Sicherheit […] wieder da.“ Vgl. Ingeborg Bachmann. „Todesarten“-Projekt. Band 3.2 (Kritischen Ausgabe unter Leitung von Robert Pichl hrsg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche). Malina. Bearbeitet von Dirk Göttsche unter Mitwirkung von Monika Albrecht. München: Piper 1995, S. 800. „[I]ch war sehr glücklich über die Stunden mit dem Martin, weil es so gut gegangen ist, besser hätte es gar nicht gehen können. Für ihn muss es freilich eine mordsmässige Anstrengung gewesen sein, […]“. Bachmann an Unseld, 27. November 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/218–220. Bachmann an Walser, 12. November 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B486/6. Auch Uwe Johnson war zum Mittun eingeladen worden, man hatte ihm bereits Manuskriptteile zugesandt. Aber zu einem tatsächlichen Lektorat war es nicht gekommen. Im Uwe Johnson-Archiv (Rostock) findet sich eine „Malina-Mappe“, allerdings auch ohne Johnson-Eingriffe. Am 14. Januar 1971 erwähnte Bachmann gegenüber Johnson dessen „gewaltigen Einwurf“, der Konsequenzen gehabt habe. Dankenswerte Information von Dr. Katja Leuchtenberger (Mail an R. B. vom 8. Januar 2016). Bachmann an Unseld, 5. November 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/211. Bachmann an Unseld, 1. Dezember 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/221.
Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag)
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willige „in die Striche am Anfang des 3. Kapitels“ ein, „dass also die Wien-Rundreise wegfällt und auch die darauffolgenden Seiten […] und die Geschichte von den drei Gymnasiasten […], es fängt jetzt mit den Postbeamten an, […]“. Man müsse halt, schrieb sie, verzichten können, „wenn es die Sache erfordert.“61 Unseld war bis zu dieser Phase verlegerischer Koordinator, Beiseiteräumer von Hindernissen, Finanzier für Lektoratsarbeiten und Lenkender in Gestaltungsfragen. Seine Textarbeit beschränkte sich – immer Kernpunkt und Chefentscheid – auf hartnäckiges Titelwägen. Das änderte sich Anfang Januar 1971. In seiner Chronik hielt Unseld unter dem 1. Januar 1971 „ausschließliche Lektüre des Umbruchs Malina von Ingeborg Bachmann“62 fest. Zu deren notwendig werdendem Frankfurt-Aufenthalt, zwischen dem 2. und 7. Januar 1971, diktierte er einen Sonderbericht. Der hatte es in sich und neben Bachmann einen Hauptakteur: den Verfasser selbst. Detailliert schilderte Unseld, wie und in welchem Maße er für unsterbliche, jedenfalls ungeheuerliche Augenblicke zum Co-Autor Malinas wurde. Es begann relativ harmlos mit der Änderung einer Kapitelüberschrift („Glücklich schlafen mit Ivan“ zu „Glücklich mit Ivan“). Maß für Unselds vorgeschlagene Kürzungen war, „wenn das verstehbare Pathos in ein irrationales umschlug.“63 „Hauptanliegen“ indes war ein heißes Eisen, das anzufassen Walser „mir dringlich abgeraten hatte“: „die Änderung des Schlusses“. Neben Titel und Anfang wiegt das Ende eines Buches am schwersten – wer da in Nicht-Eigenes eingreifen möchte, muss einen festen Griff haben. Und Unseld hatte ihn. 395 ich höre noch Schritte, immerzu Malinas Schritte, leiser die Schritte, leiseste Schritte. Ein Stillstehen. Es fühlt sich an, als übertünchte er den Riss in der Wand. Ich höre Keinen [k > K] Alarm, keine Sirenen, ich höre [hs. darüber: es kommt] niemand zuhilfe kommen, die Rettung nicht und nicht die Polizei. Ich bin vermauert, ich bin am Ersticken, in der Wand und eingemauert, Es [e > E] ist eine sehr alte, eine sehr starke Wand, aus der ich nichts [nicht > nichts] fallen kann, die ich nicht [hs. darüber: niemand] aufbrechen kann, aus der nie mehr etwas laut|werden kann. Es war Mord.64
Der „heftige[] Widerstand“, auf den Unseld gefasst war, blieb aus – und er genoss die stille Freude, das Ereignis chronikalisch gewichtig zu verankern, mundgerecht für die Nachwelt: „Der Schluß des Buches geht nun auf meine Formulierungen zurück.“65 Als Martin Walser von diesen „Kooperationsnachrichten“ hörte, war er „erschrocken –––––––— 61 62 63 64
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Bachmann an Unseld, 16. Dezember 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/231–235. Eintrag: 1. Januar 1971. In: Siegfried Unseld Chronik 1971 (Anm. 49), S. 7. Anlage. Ingeborg Bachmann. 2.–7. Januar 1971. In: Siegfried Unseld Chronik 1971 (Anm. 49), S. 8. Hier zitiert nach: Kopie in Salzburg, Literaturarchiv. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. Malina 3–5 (auf Umschlag), 263 4923. VON DEN LETZTEN DINGEN. Sign. N6766. Leicht abweichend davon siehe das Faksimile des Umbruchs, offensichtlich mit Unselds Änderungs- und Korrekturvorschlägen. In: Siegfried Unseld Chronik 1971 (Anm. 49), S. 45. Anlage. Ingeborg Bachmann. 2.–7. Januar 1971 (Anm. 63), S. 8.
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[…], weil ihr am Schluß herumgedoktert habt“, „ein wenig, aber doch deutlich“. Bei so „schwebenden Sachen“, war seine Auffassung, sei es unmöglich, besser zu sein „als bei der 1. Hinschrift.“66 Jetzt könnten sie nur hoffen, schrieb Walser, und er hatte sattelfeste Gründe, diese Hoffnung in der ersten Person Plural auszusprechen … Dem weiteren Ablauf im Detail zu folgen, scheint unnötig. Malina wurde für Verlag und Autorin der erhoffte Bestseller, Bachmann war mit einem Schlag wieder präsent, unangefochten – trotz der zum Teil vernichtenden Kritik, die der Roman durch professionelle Rezensenten erfuhr. Die Lektoren und partiellen Co-Autoren verblieben im Verdeckten, die Eingeweihten – etwa die ausgewählte Leserschaft der Unseld’schen Chronik – wussten Bescheid. Niemand ging mit seiner Beteiligung hausieren, für Bachmann wog das Ganze, der nächste Schritt eines Lebenswerkes, das ihr Dasein bestimmte. Der einzelne Satz, das Einzelwort – sie waren wichtig bei der Niederschrift, im Schreibprozess. Standen sie auf dem Papier, durfte geformt, beschnitten, getilgt, umgestellt werden. Von eigener, unsicherer Hand – misstrauisch, von fremder, akzeptierter – „verständig“.67 Für andere, schrieb sie Walser, diesem nun ihrerseits Lektoratshilfe anbietend, könne sie es, „[n]ur für mich selber kann ichs leider nicht.“68 Damit hätte es sein Bewenden haben können, das Buch war gedruckt und auf dem Markt. Weder Verleger noch Lektor noch Autorin konnten daran rütteln. Konnten sie es wirklich nicht? Hier setzt ein Nachspiel ein, das bislang noch keine angemessene Bühne gefunden hat. Dabei hat die Gründlichkeit von Göttsche/Albrecht den Finger auch auf diesen Posten gelegt. Im Suhrkamp Archiv befindet sich nämlich ein Exemplar des 21. bis 30. Tausend (Juli 1971), „das neuerlich Streichungen und vor allem am Ende des Vorkapitels und im I. Kapitel (Mühlbauer-Interview) erhebliche Kürzungen aufweist […]“.69 Diese Änderungen seien jedoch „in die weiteren Auflagen der Erstausgabe zu Lebzeiten Ingeborg Bachmanns […] nicht mehr eingegangen und können daher nicht als Grundlage der Textkonstitution dienen, […]“.70 Wer die Spur aufnimmt und sich aus dem Marbacher Suhrkamp-Archiv dieses Exemplar erbittet, dem verschlägt es die Sprache. Unter dem Vermerk in roter Tinte „letzte von Ingeborg korrigierte Fassung / Übertragen in Exemplar II“71 folgen – zählt man die Einlagezettel mit – 38 Korrektur- und Tilgungswünsche. Darunter sind eine Reihe kleinerer Änderungsvorschläge, kaum der Rede wert. Aber ins Auge stechen kompakte, über mehr als eine Seite gehende Streichungen. Sie rigoros zu nennen, ver–––––––— 66 67
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Martin Walser an Ingeborg Bachmann, 27. Januar 1971. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1834/20. Anlage. Ingeborg Bachmann. 2.‒7. Januar 1971 (Anm. 63), S. 8. Unseld schreibt: „Doch [als er seinen Vorschlag trotz der Warnung Walsers unterbreitet hatte – R. B.] sie war sehr verständig und akzeptierte meine Vorschläge.“ Bachmann an Walser, 29. November 1970. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B486/8. Göttsche/Albrecht in: Ingeborg Bachmann. „Todesarten“-Projekt (Anm. 52), Band 3.2, S. 801. Ebd. DLA Marbach. Suhrkamp Archiv. SUA: Suhrkamp. Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. 21. bis 30. Tausend 1971. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1971.
Der Verleger als Text- und Werkrevisor: Siegfried Unseld (Suhrkamp Verlag)
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harmlost. Hier nur ein Beispiel, um einen Begriff vom Ausmaß zu geben. Herausgenommen werden sollten etwa folgende Passagen: Aber selbst wenn vier Personen durcheinanderreden, kann ich Ivans Stimme noch heraushören, und solange ich ihn höre und mich von ihm gehört weiß, bin ich am Leben.72
Im Mittelstück jener Partie hofft das Ich, nie beim Telefonieren mit Ivan überrascht zu werden, „wie ich niederfalle vor dem Telefon, wie ein Moslem auf seinen Teppich“,73 und endet erst – nach fast vier Druckseiten – mit den vielzitierten, wie ein Gedicht gedruckten Zeilen: Ich denke an Ivan. […] Es ist unheilbar. Und es ist zu spät. Aber ich überlebe und ich denke. Und ich denke, es wird nicht Ivan sein. Was immer auch kommt, es wird etwas anderes sein. Ich lebe in Ivan. Ich überlebe nicht Ivan.74
Göttsche/Albrecht begründeten ihre Entscheidung, die allerletzten Streichungen von Bachmann, die sie im 21.‒30. Tausend von Malina vorgenommen hat, für ihre Ausgabe „nicht als Grundlage der Textkonstitution“75 zu verwenden, damit, dass „erläuternde Briefzeugnisse mit verbindlichen Aussagen zu dem Status der Überarbeitung derzeit nicht zur Verfügung stehen“.76 Die doppelte Ungeheuerlichkeit, Bachmanns radikalen Änderungswillen einerseits und Unselds radikalen Unwillen, dem zu entsprechen, andererseits, dämpft das nicht. An der Rechtslage gab es gewiss nichts zu deuteln. Hatte die Verfügungsgewalt über das Manuskript bei der Autorin gelegen, lag die über das Buch beim Verlag. Alle latent ambitionierte Co-Autorschaft verlor sich vor den Realitäten verlegerischer Praxis. Zu Recht. Zu Recht? Dem Verleger musste das Ansinnen abwegig erscheinen, dem Verlag undurchführbar. Das ändert nichts, gar nichts am Raum, den diese letzte Tilgungsorgie der Autorin für Analyse und Auslegung öffnet.
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Zitiert nach: Ingeborg Bachmann: Malina (Anm. 71), S. 40. Vgl. Ingeborg Bachmann. „Todesarten“Projekt (Anm. 52), Band 3.1, S. 318. Zitiert nach: Ingeborg Bachmann: Malina (Anm. 71), S. 41. Vgl. Ingeborg Bachmann. „Todesarten“Projekt (Anm. 52), Band 3.1, S. 319. Zitiert nach: Ingeborg Bachmann: Malina (Anm. 71), S. 43. Vgl. Ingeborg Bachmann. „Todesarten“Projekt (Anm. 52), Band 3.1, S. 322–323. Diese Zeilen beschäftigten Bachmann während des Entstehungsprozesses wiederholt. Ingeborg Bachmann. „Todesarten“-Projekt (Anm. 52), Band 3.2, S. 801. Ebd.
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Roland Berbig
4. Siegfried Unseld agierte nicht allein in der Rückschau, wie es das Wort Revision (prüfende Wiederdurchsicht) nahelegt. Er griff ein, wo es ihm erforderlich schien, wagte Teilhabe am Schöpferischen, wo sie ihm nicht verwehrt wurde, und demonstrierte Kreativität, wo er sie im Autorendialog in sich spürte. Sie trat latent, bescheiden, aber zuweilen auch bestimmend wie bestimmt auf, notfalls sogar in Konkurrenz zu der des Autors/der Autorin. War es eine Form „kollektiver Kreativität“77 oder kollegialer Annäherung? Blieb Ingeborg Bachmanns Schreiben bis zum Schluss unmittelbare Chefsache, setzte Unseld bei Thomas Brasch früh hochkarätige Lektoren als Mittler zwischen sich und dem Dichter ein. Unselds Hand lag schwer auf dem Schalthebel, der unstete Werkprojektionen in stabile Werkwirklichkeit zu verwandeln – oder zu verhindern vermochte. Bei der einen wie bei dem anderen. Sein Wille war ihr Werk und seines auch. Das Pendel seines Wirkens schlug wechselweise zwischen dem Einzelwort und einem Werkganzen: ihm zu eigen und sein Eigentum doch nicht. Im zweiten, dem Traum-Kapitel von Malina hat Bachmann Unseld literarisch verewigt – als rufende Stimme: […] und ich sehe hinauf, wo sie, die anderen, in der warmen Welt wohnen, und der Große Siegfried ruft mich, erst leise, und dann doch laut, ungeduldig hör ich seine Stimme: Was suchst du, was für ein Buch suchst du? Und ich bin ohne Stimme. Was will der Große Siegfried? Er ruft von oben immer deutlicher: Was für ein Buch wird das sein, was wird denn dein Buch sein?78
Ob sie, als der Satz aufs Papier kam, dessen aus der Ferne hallende Doppelsinnigkeit mitgehört hat? Vielleicht, indes: Es war ihr so gleichgültig wie Thomas Brasch bitter. „Ich freue mich sehr“, schreibt Unseld, als Bachmanns Malina in Druck gegangen war, „daß unsere Arbeit so gut verläuft.“ 79
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Vgl. zu diesem Begriff: Stephan Porombka: Literaturbetriebskunde. Zur „genetischen Kritik“ kollektiver Kreativität. In: Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 1, 2006, S. 72–87. Ingeborg Bachmann. „Todesarten“-Projekt (Anm. 52), Band 3.1, S. 505. Unseld an Bachmann, 18. Januar 1971. Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Sign. 423/B1980/241–242.
Bodo Plachta
Unerlaubte Variantenvermehrung Überlegungen zum textkritischen Umgang mit Nach- und Raubdrucken
1. Ich kann mich noch gut an den Abend in einer Münsteraner Studentenkneipe im Herbst 1979 erinnern, als mich ein Kommilitone verschwörerisch fragte, ob ich preiswert ‚verbotene‘ Bücher kaufen wolle. Er öffnete eine Plastiktüte und zeigte mir kleinformatige Taschenbücher, unter denen sich auch ein Titel befand, der mir damals noch nichts sagte und bei dem es sich um Klaus Manns Roman Mephisto handelte. Die Neugierde siegte und ich kaufte für ein paar Mark das Taschenbuch. Dass es sich tatsächlich um ein verbotenes Buch handelte, wurde mir beim Durchblättern schnell klar, denn in einem Anhang war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1971 beigefügt, das das Verbot eben dieses Romans durch die Vorinstanzen als verfassungskonform bestätigte. Ich hielt in der Tat den unerlaubten Nachdruck eines in der Bundesrepublik Deutschland verbotenen Romans in Händen, der gleich zweimal geltendes Recht brach. Der Raubdruck verstieß ja nicht nur gegen ein höchstrichterliches Verbot, sondern verletzte in seiner Form als unerlaubter Nachdruck auch das Urheber- bzw. das Verlagsrecht. Deshalb ist er weder bibliographisch erfasst noch in einschlägigen Sammlungen zur Schriftstellerfamilie Mann vorhanden; ganz wenige Exemplare werden im Internet angeboten. Erst Jahre später – mein Mephisto-Raubdruck war längst im hinteren Teil des Bücherregals verschwunden – wurde mir bei der editorischen Beschäftigung mit diesem Text deutlich,1 was für einen brisanten Titel ich damals erworben hatte und welcher historische und politische Kontext in diesen Raubdruck eingeschrieben war. Bei diesem Raubdruck handelt es sich um die verkleinerte fotomechanische Reproduktion der ersten, 1965 in der Bundesrepublik erschienenen Neuausgabe des Romans in der in München ansässigen Nymphenburger Verlagshandlung.2 Obwohl der Mephisto bereits 1936 in Amsterdam, wo Klaus Mann im Exil lebte, im legendären Querido-Verlag erschienen war, und der Ost-Berliner Aufbau-Verlag 1956 mit Zustimmung von Erika Mann, der Schwester des 1949 verstorbenen Autors, einen Neudruck auf den Markt gebracht hatte, tat man sich in der Bundesrepublik mit einer Wiederveröffentlichung schwer, während wir den Roman heute als ein Hauptwerk der literarischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur würdigen. Klaus Manns Mephisto, der als „Roman einer Karriere“ den erfolgreichen und skrupellosen Aufstieg des
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Klaus Mann: Mephisto. Roman einer Karriere. Text und Dokumentation. Hrsg. v. Bodo Plachta. Berlin, Boston 2013 (Exempla Critica. 3). Klaus Mann: Mephisto. Roman einer Karriere. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1965.
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opportunistischen Schauspielers Hendrik Höfgen zum Vorzeigekünstler des NSRegimes schildert, löste schon bei seiner Vorabpublikation in der Pariser Tageszeitung einen skandalträchtigen Wirbel aus. Aus Marketinggründen hatte man ihn als Schlüsselroman angekündigt und die Exil-Leserschaft identifizierte die Romanfiguren nun erst recht als prominente Vertreter aus Politik und Kultur Nazi-Deutschlands. Allen voran erkannte man in Gustaf Gründgens das Vorbild für den Romanprotagonisten Hendrik Höfgen. Gründgens amtierte damals als Intendant des Preußischen Staatstheaters in Berlin. Berühmt war er durch seine Darstellung des Mephisto in der Faust-Inszenierung im Winter 1932/33 geworden, wozu besonders die spektakuläre Maske beigetragen hatte, die er für die Teufelsfigur erfand. Diese Maske ziert auch das Cover des Raubdrucks.
Abb.: Umschlag des Mephisto-Raubdrucks von 1979
Das Titelbild verweist damit nicht nur auf den historischen Kontext, sondern nimmt auch Bezug auf die juristische Auseinandersetzung, die Gustaf Gründgens’ Erbe im Zusammenhang mit der Wiederveröffentlichung des Romans initiiert hatte. Dieser befürchtete nämlich, dass mit einer Veröffentlichung das Andenken des 1963 nach einer Überdosis Schlaftabletten verstorbenen Gründgens, der bald nach Kriegsende
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auf der Theaterbühne als schnell ‚entnazifizierter‘ Schauspieler und Regisseur wieder Triumphe gefeiert hatte, beschädigt werden könnte. Erstinstanzlich wurde aus diesem Vorwurf kein Verbot abgeleitet und der Roman konnte mit einer salvierenden Vorbemerkung, die ihn als Dokument der Zeitgeschichte charakterisierte, wie geplant in der Nymphenburger Verlagshandlung erscheinen. Die Revisionsinstanzen und abschließend das Bundesverfassungsgericht sahen dagegen das Ansehen Gründgens’ durch den Roman als verunglimpft an und stuften den Schutz der Persönlichkeitsrechte höher ein als die Freiheit der Kunst. Das ‚Mephisto-Urteil‘ des Bundesverfassungsgerichts bestimmt seitdem die Debatte um die Auslegung des Grundgesetzartikels 5, zuletzt wieder beim Verbot von Maxim Billers Roman Esra im Jahr 2007. Der Mephisto-Raubdruck reagierte nicht nur auf das Verbot, sondern gehörte auch zur „Raubdruckbewegung“ und den politisch-subversiven Strategien der Studentenbewegung.3 Mit der Parole „Laßt 1000 Raubdrucke blühen!“ überschwemmten die Schriften Walter Benjamins, Horkheimers und Adornos oder überhaupt die der linken ‚Klassiker‘ und viele belletristische Bestseller-Titel den Markt. Sie waren nun als billige Raubdrucke in einfacher Aufmachung, mit Pappumschlag und auf schlechtem Papier fotokopiert, „sozialisiert“ und galten als Antwort auf die hohen Buchpreise und das ‚Profitsystem‘ Buchbranche.4 Welche philologischen Konsequenzen mit diesen Raubdrucken verbunden waren und auf welche Weise die verbreiteten Ausgaben die Editionspolitik von Verlagen etwa bei der Neupublikation der Schriften Benjamins provozierten oder die Rezeption manipulierten, ist nur annähernd bekannt und mehrheitlich unerforscht, aber wohl nicht zu unterschätzen. In textkritischer Hinsicht ist der Mephisto-Raubdruck ebenso unwichtig wie auch die Ausgabe von 1965, die er fotomechanisch reproduziert und die wiederum auf dem seinerzeit sorgfältig produzierten Erstdruck von 1936 beruht. Aber text- und rezeptionsgeschichtlich ist er deshalb bedeutsam, weil er den Boden für die Neuausgabe des Romans 1981 im Rowohlt-Verlag5 bereitete und damit das nach wie vor bestehende Verbot untergrub. Auf dem Titelblatt wird als fingiertes Impressum eine in Frankreich (hinterer Umschlag: „Printed in France“) beheimatete „Edition du Soleil“ genannt, womit auf das Théâtre du Soleil angespielt wird, wo Ariane Mnouchkine im Mai 1979 eine viel beachtete Dramatisierung des Mephisto auf die Bühne brachte, die 1980 auch in mehreren deutschen Städten zu sehen war.6 Das ins Deutsche übersetzte Textbuch dieser Aufführung wurde in hoher Auflage in der Bundesrepublik vertrieben und als eine „Art Ersatz-Mephisto“ gelesen.7 Seit dem Herbst 1979 kursierte dann auch der Raubdruck.8 Als sein Urheber gilt Daniel Cohn-Bendit, damals bekannter Frontmann
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Albrecht Götz von Olenhusen: „Der Weg vom Manuscript zum gedruckten Text ist länger, als er bisher je gewesen ist.“ Walter Benjamin im Raubdruck 1969 bis 1996. Lengwil am Bodensee 1997, S. 14. – Vgl. auch Ders.: Entwicklung und Stand der Raubdruckbewegung. In: Literaturbetrieb in Deutschland. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart, München, Hannover 1971, S. 164–172. Götz von Olenhusen 1997 (Anm. 3), S. 13, 15. Klaus Mann: Mephisto. Roman einer Karriere. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981. Vgl. Bodo Plachta: Erläuterungen und Dokumente. Klaus Mann: Mephisto. Stuttgart 2008, S. 234–236. Eberhard Spangenberg: Karriere eines Romans. Mephisto, Klaus Mann und Gustaf Gründgens. Ein dokumentarischer Bericht aus Deutschland und dem Exil 1925–1981. München 1982, S. 202. Vgl. den Hinweis: Mephisto als Raubdruck. In: Der Spiegel, Nr. 35 vom 25.08.1980, S. 144.
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der Studentenbewegung und später Abgeordneter der französischen ‚Grünen‘ im Europaparlament. Diese Urheberschaft kennen wir, weil Cohn-Bendit sich an den Verleger Berthold Spangenberg, der damals die Rechte an dem Roman besaß, gewandt hatte und quasi um Erlaubnis für den Raubdruck bat, was der Verleger natürlich ablehnte. Spangenberg machte sich unter dem Datum des 20. September 1979 folgende Notizen über ein Telefongespräch mit Cohn-Bendit: C.-B. wollte ein Expl.: ‚Sie müssen ja den ganzen Keller voll haben‘. Ich erklärte ihm, daß kein Exemplar mehr vorhanden sei. Er war in Paris, ist stark beeindruckt von der Mnouchkine-Aufführung. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß er einen Raubdruck plane. […] Er findet, daß das Buch erscheinen müsse; er wolle mir kein Geschäft wegnehmen. Ich sagte ihm, daß ein Raubdruck nicht in meinem Interesse als Inhaber der Verlagsrechte liegt, außerdem, daß ich schon eine Reihe anderer ‚Anfragen‘ wegen eines Raubdrucks hatte, aber daß wir beabsichtigen, den Roman im nächsten Jahr wieder herauszubringen, und ich gegen einen Raubdruck vorgehen müsse.9
Der Raubdruck, besonders aber die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft trotz Anzeige des Verlags sowie damals zahlreich anhängiger Ermittlungsverfahren gegen die „Raubdruckbewegung“ nicht aktiv wurde und auch die Gründgens-Erben von rechtlichen Schritten gegen den Raubdruck absahen, signalisierte, dass die Zeit für eine Neuausgabe des Mephisto reif war. Schon das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil festgestellt, dass das „Schutzbedürfnis“ der Persönlichkeitsrechte von Gustaf Gründgens in dem Maße nachließe, wie die Erinnerung an dessen Person im Laufe der Zeit verblasse.10 Der Mephisto-Raubdruck ist nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument und ein typisches mediales Produkt der 68er-Bewegung, sondern enthält bis auf den heutigen Tag kontroverses Potential für die Debatte um die Kunstfreiheit in Deutschland. Er sagt außerdem viel über den damaligen bornierten Umgang mit der Exilliteratur und ihren Protagonisten aus.
2. Raubdrucke, das zeigt das Mephisto-Beispiel, sind ein kultur- und mediengeschichtliches Phänomen und aus der Geschichte des Buchdrucks, Buchmarkts und des Urheberrechts nicht wegzudenken.11 Der gesamte Komplex der Nachdruckpraxis ist ein zentraler Aspekt bei der Ausdifferenzierung eines modernen medialen Feldes und der auf ihm handelnden Akteure. Raubdrucke galten schon immer als Provokation bestehender Strukturen. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass bis auf den heutigen Tag unerlaubte Nachdrucke, Raubkopien, alle Formen von Produktpiraterie oder
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Spangenberg 1982 (Anm. 7), S. 203. BVerfGE 30, 173 (196); http://sorminiserv.unibe.ch:8080/tools/ainfo.exe?Command=ShowPrint Version&Name=bv030173 (19.08.2015). Vgl. zur Einführung in das Themengebiet Jörn Göres (Hrsg.): Lesewuth, Raubdruck und Bücherluxus. Das Buch in der Goethe-Zeit. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf Anton-und-KatharinaKippenberg-Stiftung. Düsseldorf 1977.
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Tauschbörsen im Internet, ja sogar das Prinzip des ‚open access‘ reflexartig als obskur oder als ‚Diebstahl‘ bewertet werden, weil sie die legitimen Interessen von Urhebern schädigen. Obwohl jeder einzelne Fall seinen spezifischen Kontext hat, lässt sich festhalten, dass jede Form von Piraterie meist ein untrügliches Zeichen für Erfolg und Popularität ist, unabhängig davon, ob es sich um einen Roman, einen Musiktitel, ein Kleidungsstück, ein Parfüm oder eine Handtasche handelt. Piraterie war und ist Teil unseres kulturellen Handelns, wie man das juristisch oder moralisch auch bewertet. Für die Medienlandschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der der Nachdruck seine höchste Blüte erlebte und auf die ich mich nun konzentrieren möchte, sind folgende Rahmenbedingungen zu beachten:12 Das starre Interessengefüge von Autoren, Verlegern, Buchdruckern und Lesern sowie die berufsständischen Strukturen gerieten in Bewegung. Wirtschaftspolitische Liberalisierungen, eine nie dagewesene Nachfrage nach Lektüre, Monopolbildungen und unterschiedliche regionale Absatzmärkte beschleunigten das Nachdruckwesen. Nachdrucker konnten oftmals nicht nur auf politische Duldung, sondern auch auf Unterstützung vertrauen, sofern sich aus ihrem Handeln wirtschaftliche Vorteile ergaben oder sich politisches Kapital schlagen ließ, denn der Buchmarkt wurde gern als Plattform zur Austragung politischer Interessen benutzt. Gleichzeitig verschärften professionelle Nachdrucker die ohnehin schon harte Konkurrenz, fügten Verlegern, Buchhändlern und Autoren wirtschaftlichen Schaden zu. Trotz schlechterer Druckqualität ermöglichten sie durch niedrige Preise auch denjenigen Lesern Buchbesitz und Lektüre, die sich die teuren Originalausgaben nicht leisten konnten; schon damals wurde das Original durch den Nachdruck „sozialisiert“ und belebte die Nachfrage.13 Umgekehrt wurde der Nachdruck auch aus Marketinggründen eingesetzt. Einzelne Nachdrucker betrieben sogar regelrechte ‚Markt‘- und Leserforschung, um etwa im Ausland erschienene Titel auf ihre „kommerzielle Tauglichkeit“ hin zu überprüfen.14 Christian Friedrich Himburg richtete seinen Werther-Raubdruck an den sprachlichen Usancen des Berliner Publikums aus. Das war damals eine durchaus übliche Verlegerstrategie und der Verkaufserfolg gab Himburg letztlich recht. Ebenso häufig machten Autoren und Nachdrucker gemeinsame Sache. Voltaire, heißt es, habe 1770 hinter dem Rücken seines Genfer Verlegers Gabriel Cramer Fahnen der Questions sur l’Encylopédie an einen Nachdrucker verkauft, um ein doppeltes Geschäft zu machen.15 Nur allmählich entstand ein Bewusstsein dafür, dass Nachdrucke nicht mehr als Kavaliersdelikt geduldet, sondern vielmehr als „Betrug“ und „strafbares falsum“ eingestuft wurden.16 Die Dringlichkeit, die Strukturen des Buchmarktes und die Autor-Verleger-Beziehung
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Hierzu u. a.: Ludwig Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845. Göttingen 1995, S. 157–201; Reinhard Wittmann: Der gerechtfertigte Nachdrucker? Nachdruck und literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert. In: Giles Barber, Bernhard Fabian (Hrsg.): Buch und Buchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 4), S. 292–320. Walter Bappert: Wege zum Urheberrecht. Frankfurt/Main 1962, S. 265. Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart 2009, S. 259. Robert Darnton: Die Wissenschaft des Raubdrucks. Ein zentrales Element im Verlagswesen des 18. Jahrhunderts. München 2003, S. 34f. Carl Ludwig Wilhelm von Grolman: Grundsätze der Criminalwissenschaft. Gießen 1798, § 334.
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zu reformieren, war ebenso ein Punkt auf der politischen Agenda wie die Notwendigkeit, mit neuen Gesetzen lässliche Mechanismen zum Schutz des „schriftstellerischen und künstlerischen Eigenthum[s]“17 zu schaffen. Begleitet von langwierigen, polemischen und stets mit harten Bandagen geführten Debatten entstanden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein prinzipieller Rechtsschutz für das geistige Eigentum und Regeln für seine Vermarktung. Die Nachdrucker waren inzwischen sogar auf Titelblättern als wilde Bestien bloßgestellt worden, die hemmungslos über ihre Beute, den Autor, herfallen.18 Nachdrucker wie der Berliner Buchhändler Himburg ließen sich von öffentlicher Kritik kaum beeindrucken und verkauften ohne Bedenken sogar Karikaturen, in denen die Resultate ihres Wirkens als „Wercke der Finsterniss“ dargestellt werden: Während die wohlgenährten Nachdrucker dem rechtmäßigen Verleger das sprichwörtlich letzte Hemd rauben, befindet sich Justitia im Tiefschlaf, wie es 1781 der berühmte Kupferstich von Daniel Nikolaus Chodowiecki zeigt.19 Bis sich die Rahmenbedingungen wirklich veränderten, wurden Nachdrucke weiterhin kostengünstig, schnell und meistens ohne große buchdruckerische Sorgfalt produziert, denn nur so konnten sie auf die aktuelle Nachfrage reagieren und auf dem Markt bestehen. Vielfach bahnten sie so fehlerhaften Texten den Weg ins Lesepublikum. Die Textqualität ließ in der Tat häufig zu wünschen übrig, so dass die Textaussage durch die Masse der Druckversehen und sinnentstellenden Fehler zuweilen erheblich litt oder sogar komplett zerstört wurde. Der Autor verlor vielfach die Kontrolle über sein Werk. Nachdrucke bescherten deshalb späteren Editoren gigantische und wild wuchernde Variantenhalden. Es ist dabei über Kuriosa hinaus auch von drastischen Beispielen zu berichten. Kurios war der Nachdruck des ersten Göttinger Musenalmanachs für das Jahr 1770, der eher auf dem Markt war als das Original, weil der Leipziger Nachdrucker Engelhard Benjamin Schwickert sich die Aushängebögen durch Bestechung der Buchdruckergesellen zu beschaffen wusste, einen Großteil der Beiträge in Windeseile nachdruckte und so dem Original um Längen zuvorkam, während der eigentliche Verleger das Nachsehen hatte.20 Extreme Folgen ließ aber der Raubdruck des sechsten Bandes der Oekonomischen Encyklopädie von Johann Georg Krünitz durch den in Brünn ansässigen Verleger und Drucker Johann Georg Traßler befürchten, so dass er in Preußen verboten und verfolgt wurde. Im April 1789 sah sich nämlich der Berliner Verleger Joachim Pauli, bei dem das Originalwerk erschienen war, veranlasst, eine umfangreiche Fehlerliste im Intelligenz-Blatt des Journals des Luxus und der Moden zu publizieren, weil im Nachdruck schwerwiegende Fehler „bey den Recepten wider Menschen- und Vieh-Krankheiten vorkommenden medici-
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Protokolle der deutschen Bundesversammlung. Frankfurt/Main 1837, S. 782e (http://reader.digitalesammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10492488_00927.html, 26.04.2016). Auf S. 136 von Aloys Blumauers Virgils Aeneis (2. Bd. Wien 1785) findet sich die Erläuterung dieser Titelvignette in Versform, in der es u. a. heißt: „Allein nichts fand er gräßlicher | Im ganzen Höllengrunde, | Als eine Koppel wüthiger | Ergrimmter Fleischerhunde, | Die mit heißhungriger Begier | Aus einem Menschenschädel hier | Das Hirn, ganz warm noch, frassen.“ Abbildung s. http://www.bildindex.de/obj67102660.html#|home (26.04.2016). Vgl. Kalender? Ey, wie viel Kalender! Literarische Almanache zwischen Rokoko und Klassizismus. Katalog und Ausstellung: York-Gothart Mix. Wolfenbüttel 1986 (Ausstellungskataloge der HerzogAugust-Bibliothek. 50), S. 17, 19f.
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nischen Gewicht-Zeichen“ entstanden und tödliche Folgen „bey der Verfertigung und dem Gebrauche der Arzneyen“21 nicht auszuschließen waren. Unerlaubte Nachdrucke konnten also lebensbedrohlich sein! Aber es lassen sich auch sehr sorgfältige Nachdrucke finden, die zwar ebenfalls nicht autorisiert waren, aber doch durch ein umsichtiges Layout, eine ansprechende Ausstattung und manchmal durch die Beigabe künstlerisch hervorragender Kupferstiche Seriosität vermittelten. Der Himburg’sche Raubdruck von Goethes Götz von Berlichingen aus dem Jahr 1775 etwa ist so gesehen ein bibliophiles Schmuckstück. Gutes Papier, klare Typen, schöne ChodowieckiKupfer und eine zuverlässige Textqualität strafen jedes Raubdruck-Vorurteil Lügen. Auch dieser Raubdruck imitiert, wie es für das Medium typisch ist, das Layout der Vorlage und verschleierte damit geschickt seine Herkunft. Diesen ‚Trick‘ wandten aber auch Drucker und Verleger an, wenn sie ohne Zustimmung des Autors die Nachfrage mit Doppeldrucken bedienten, die äußerlich kaum einen Unterschied zwischen Original und Nachdruck erkennen ließen, deren Druck aber ganz oder teilweise auf Neusatz beruhte und das Entstehen von Fehlern oder unautorisierten Textvarianten beförderte.22 Der damalige Buchmarkt war schon für diejenigen, die das Metier seriös betrieben, ein unübersichtliches Terrain mit diffizilen Fußangeln. Er wurde aber zusehends zu einem Tummelplatz für jede Art von Glücksrittern und für alle, die mit einer fast manischen Lust jeder Form von geistreicher oder dummer Maskerade frönten.
3. Wohl auch deshalb klagt Michael Bernays 1866, „dass der Text unserer classischen Dichterwerke sich in einem verwahrlosten Zustand befinde“, um zu einer Philippika gegen die Nachdrucker und ihr „räuberisches Handwerk“ auszuholen: Man weiß, daß Goethes Schriften von den Nachdruckern mit besonders zärtlicher Aufmerksamkeit behandelt wurden. Kaum war ein neues Werk ans Licht getreten, so eilten die Mitglieder dieser unsaubern Zunft, sich alsbald des lockenden Gutes zu bemächtigen. Gewissenlos bereicherten sie sich in der Ausübung dieses räuberischen Handwerks; ja, bei schicklicher Veranlassung wußten sie sogar ihre damals noch nicht überall verpönten, an manchen Orten selbst durch eigene Privilegien geschützten Thaten dem Publicum als verdienstlich anzupreisen. Zuerst begnügten sie sich damit, aus dem unrechtmäßigen Abdruck der einzelnen Werke ihren Gewinn zu ziehen; als aber die Fruchtbarkeit des Goetheschen Genius ihnen einen
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Joachim Pauli: Nachricht an das Publikum, den Traßlerischen Nachdruck der Encyklopädie des Hrn. D. Krünitz betreffend. In: Intelligenz-Blatt des Journals des Luxus und der Moden 4, April 1789, S. LXIV–LXVI, hier LXIV. Wilhelm Kurrelmeyer (Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgeschichte von Wielands Werken. Berlin 1913) fasst zusammen: „Die Reinheit des Textes der Dichtung leidet stets durch das Veranstalten von Doppeldrucken. Der Verleger nimmt zwar an, daß der Nachschuß genau mit dem Originaldruck übereinstimmen werde, dies ist jedoch niemals der Fall. Dem Käufer wie auch dem Herausgeber einer künftigen Ausgabe wird also ein Falsifikat untergeschoben“, zitiert nach: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 66f.
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ansehnlicheren Vorrath von Dichtungen geliefert hatte, verfuhren sie in der Ausbeutung des fremden Gutes mit mehr Umsicht und Methode. Sie glaubten, ihrem eigenen Vortheil und dem lebhaften Verlangen des Publicums würde am besten dadurch entsprochen, daß sie alles, was von den Schriften des Lieblingsautors sich nur erraffen ließ, in einigen Bänden zusammendruckten und sich somit in den Stand setzten, ein großes Ganzes auf den Markt zu liefern.23
Bernays, der erste Editor, der sich mit der Raubdruck-Problematik bei Goethe auseinandersetzte, war von dem Ausmaß der „Corruptionen“ derart schockiert,24 dass er dem Dichter das Zeugnis ausstellte, er sei an diesen „zusammengestoppelte[n] Machwerk[en]“ „ganz unschuldig“ gewesen.25 Die Aufregung scheint übertrieben, denn natürlich kannte Bernays die PR-reifen Scharmützel, die sich Goethe und Himburg wegen der Raubdrucke des Verlegers geliefert hatten. Ebenso kannte er Goethes Abrechnung mit dem seiner Meinung nach skrupellosen Nachdrucker in Dichtung und Wahrheit26 und er zitiert aus dem Gedicht, mit dem Goethe sich über die unerlaubte Werkausgabe (drei Auflagen: 1775/76, 1777, 1779) bei Frau von Stein empörte. Bei einem Autor wie Goethe, der sich stets darum bemühte, die Verfügungsgewalt über seine Werke als Teil seiner „Werkpolitik“27 in Händen zu behalten sowie die Kontexte und Umstände der Veröffentlichung zu bestimmen, waren Nachdrucke per se eine Provokation; Goethe kannte aber auch ihr Potential, Aufmerksamkeit zu erregen. Deshalb waren seine Reaktionen differenziert, denn wir wissen auch, dass sich Nachdrucke durchaus stimulierend auf die Text- und Ausgabenproduktion bei Goethe, Wieland und anderen Autoren auswirkten. Um Nachdrucke zu unterlaufen, wurden Texte für neue Ausgaben überarbeitet, vollendet oder überhaupt erst verfasst. Gelassen reagierte Goethe auch auf den Nachdruck des Götz, weil dieser positive Auswirkungen auf die Rezeption versprach, während ihn die Werther-Nachdrucke wegen ihrer Massenhaftigkeit dann doch echauffierten. Seinem Ärger über „Druckfehler[], und ander[e] Mängel[] und Unschicklichkeiten“28 machte er hingegen nur verbal Luft und überließ das Handeln seinen rechtmäßigen Verlegern, die allerdings ebenfalls keine Unschuldslämmer waren und im Nachdruckgeschäft kräftig mitmischten.29 Anders als zu erwarten kümmerte sich Goethe nicht immer mit der gebotenen Aufmerksamkeit um die Drucklegung seiner Texte. Nach Abgabe der Druckvorlage für die Ausgabe seiner Schriften im Göschen-Verlag etwa ließ er dem Geschehen seinen Lauf, denn er war schon auf dem Weg nach Italien. Er empfahl dem Verleger vielmehr, „ein kluger Korrektor muß am Ende doch das beste thun“,30
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Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866, S. 22f. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 23. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887–1919, Abt. I, Bd. 29, S. 16 (im Folgenden zitiert mit der Sigle WA). Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007 (Historia Hermeneutica. Series Studia. 3), bes. S. 464–466. Briefentwürfe an Friedrich Justin Bertuch und Georg Joachim Göschen, Ende Juni 1786; WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 234. Vgl. Siegfried Unseld: Goethe und seine Verleger. Frankfurt/Main 1991, S. 64f. Brief an Göschen, 2. 9. 1786; WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 15.
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übertrug Herder die Korrektur der Druckfahnen und benannte ihn auch als denjenigen, der bei allfälligen Rückfragen zu konsultieren sei; mehr kann man nun wirklich nicht delegieren und sollte sich später nicht über entstandene Fehler wundern!31 Trotzdem stellte sich Bernays schützend vor den Autor. Obwohl das positive Bild, das er vom schaffenden Autor Goethe hatte, nach Analyse der Werther-Raubdrucke erheblich ins Wanken gerät, weil der Philologe Bernays erkennt, dass Goethe eben den extrem überfremdeten Raubdruck-Text des Werther aus der Produktion Himburgs als Druckvorlage der Schriften bei Göschen (1787/90) heranzieht,32 nimmt er den Autor in Schutz: Goethe „war nicht dazu aufgelegt, seinem eigenen Werke gegenüber den K r i t i k e r zu spielen, der mit scharf prüfendem Blick gerade das Einzelne durchdringt um überall das Aechte, das verloren oder verdrängt worden, wiederherzustellen.“33 Sicherlich, Goethe war kein Textkritiker. Er erwies sich dennoch als überraschend arglos bei der Auswahl von Vorlagen für Neubearbeitungen seiner Werke, obwohl er um die Qualität der benutzten Ausgabe wusste, zumindest aber wissen konnte. Wilhelm Kurrelmeyer geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, einen unerlaubten Nachdruck als Druckvorlage für neue Ausgaben zu benutzen, zunimmt, je größer der zeitliche Abstand zum Originaldruck wird.34 Warum Goethe (anders als Wieland) wiederholt so unbekümmert mit der beschädigten Textgestalt seiner Werke weiterarbeitete, sich ansonsten aber bei der Durchsetzung seiner Wünsche und Interessen gegenüber Verlegern knallhart zeigte und schließlich den höchstmöglichen Schutz der Ausgabe letzter Hand vor unerlaubtem Nachdruck durch ein kaiserliches Privileg durchsetzte, ist mir schleierhaft; es könnte mir eigentlich auch egal sein. Es ist nicht die Aufgabe des Editors, wie Bernays meint, den vom Autor selbstverschuldeten Schaden wiedergutzumachen und den überfremdeten Text etwa des Werther mit Hilfe klassischer Textkritik zu heilen! Sämtliche Heilungsversuche blieben daher weitgehend erfolglos. Obwohl Bernhard Seuffert in der Weimarer Ausgabe erstmals die Druckvorlage (H) der Werther-Bearbeitung für die Göschen-Ausgabe der Schriften (S) als textkritisches Korrektiv für seine Edition heranzog,35 weil diese Handschrift „den höchsten Anspruch auf Echtheit und dauerhafte Geltung“ beanspruchte,36 tat er sich mit dieser Entscheidung schwer. Die Handschrift – so notiert auch er entrüstet – gehe auf einen der „eigenmächtigsten“ und „nachlässigste[n] aller Nachdrucke“ zurück und jeder Editor sei hilflos, Goethes „blindes Missgeschick“ un-
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Bei der Übersendung der Druckvorlage des Tasso für die Publikation im sechsten Band der Schriften ermahnte Goethe den Verleger am 22. Juni 1789: „Nun empfehle ich die allerstrengste Fürsorge bei den Correcturen. Die vorigen Bände sind leidlich, doch nicht ohne Mängel; bei diesem Stücke werde ich auch den geringsten Fehler durch einen Carton zu verbessern bitten. Bei der höchsten Sorgfalt, die ich auf dieses Stück gewendet, wünsche ich auch, daß es ganz rein in die Hände des Publicums komme“ (WA, Abt. IV, Bd. 9, S. 134). Vgl. auch Stephan Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit. Berlin, New York 1999 (Georg Joachim Göschen. Ein Verleger der Spätaufklärung der deutschen Klassik. 1), S. 206f. Zur Drucküberlieferung des Werther vgl. im Einzelnen Waltraud Hagen: Die Drucke von Goethes Werken. Berlin 1971, S. 110–118. Bernays 1866 (Anm. 23), S. 27. Kurrelmeyer 1913 (Anm. 22), S. 67. Vgl. WA, Abt. I, Bd. 19, S. 351. WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334.
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geschehen zu machen.37 Diese Hilflosigkeit, Ordnung in das „Wertherknäuel“38 zu bringen, zeigt sich schon in den textkritischen Prinzipien: „Rückgängig“ gemacht werden alle Änderungen, die aus dem Raubdruck in die Handschrift „hineingerathen sind“. Unangetastet bleiben nur die Fälle, die ausdrücklich durch Herders und Wielands Redaktion bestätigt sind, auch wenn sie an diesen Stellen ebenfalls dem überfremdeten Raubdrucktext aufgesessen sind. Seuffert gesteht sogar ein, dass es bei diesem Verfahren nicht „ohne subjectives Urtheil“ abgeht, ja, er hält zu weit gehende Eingriffe selbstkritisch für ein „Verbrechen“.39 Weiterhin kapituliert er vor der Masse der Varianten, die allein zwischen Raubdruck, Handschrift und der Göschen-Ausgabe die Zahl von 1000 übersteigt.40 Er wertet zwar insgesamt 17 Überlieferungsträger aus, präsentiert aber Varianten nur in Auswahl, so dass allenfalls ein ungefähres Bild der Textgenese entsteht. Es war der schlechte Ruf, der Raubdrucken anhaftete und der Editoren dazu veranlasste, dieses machtvolle mediale Phänomen mit Hilfe von Textkritik zu entmachten und letzte Rückstände in Variantenapparaten zu entsorgen. Trotz vieler Inkonsequenzen ist Seufferts Werther-Edition ein editorischer Meilenstein. Sein Verfahren legte nämlich schon damals offen, wie prekär die textliche Qualität der Ausgabe letzter Hand war. Aber man zog daraus noch keine Konsequenzen und es dauerte Jahrzehnte, bis diese Einsichten das legendäre „Erdbeben“41 der GoethePhilologie auslösten und man sich endgültig von der Ausgabe letzter Hand als ausschließlicher Editionsgrundlage verabschiedete. Wenn man seitdem Fassungen früher Hand favorisierte, hoffte man auch, aus dem Teufelskreis der überfremdeten Revisionen herauszukommen, in dem Seuffert gefangen war. Und zu dieser Erkenntnis haben die buchhistorischen Analysen der Nachdrucke erheblich beigetragen, die die Akademie-Ausgabe von Goethes Werken erstmals in Angriff genommen hatte. Sie unterzog die „g e s a m t e handschriftliche und druckgeschichtliche Überlieferung“42 nicht nur einer strengen Recensio, sondern man edierte nun stark voneinander abweichende Fassungen synoptisch. Im Fall des Werther präsentierte man den Erstdruck und die überarbeitete Fassung von 1787;43 die Ausgabe letzter Hand spielte bei
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Ebd., S. 327. – Den prägnantesten Überblick dieser Problematik gibt Gunter Martens: Der wohlfeile Goethe. Überlegungen zur textphilologischen Grundlegung von Leseausgaben. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 2), S. 74–91, bes. 75–79. So in einem Brief von Erich Schmidt an Edward Schröder, 5. März 1906; zitiert nach: Klaus Gerlach: Bernhard Seuffert und Wielands gesammelte Schriften. Das Problem der Institutionalisierung von Editionen unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen. In: Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext. Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren. Hrsg. v. Roland S. Kamzelak, Rüdiger NuttKofoth und Bodo Plachta. Berlin, Boston 2011 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 3), S. 113–127, hier 118, Anm. 19. WA, Abt. I, Bd. 19, S. 351. Ebd., S. 335. Günter Müller: Goethe-Literatur seit 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26, 1952, S. 377–410, hier 378. Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe (1950). In: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. v. Ernst Grumach. Berlin 1959 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 16), S. 1–34, hier 31. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Die Leiden des jungen Werthers. Bearb. von Erna Merker. Berlin 1954.
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der Textkonstitution keine Rolle mehr. Während man mit der synoptischen Edition eine neue Richtung einschlug, scheiterte die Akademie-Ausgabe aber insofern, als das methodische Festhalten an den Prinzipien altphilologischer Textkritik eine wirkliche ‚Reform‘ noch verhinderte. Bei ihrer Edition des Werther entschied sich die Akademie-Ausgabe – wie gesagt – für eine Synopse der Fassungen von 1774 und 1787. Im Fall der Überarbeitung wählte sie mit der handschriftlichen Druckvorlage den autornächsten Repräsentanten als Basis der Edition,44 griff in diese aber mit Hilfe des Schriften-Drucks von 1787 ein und emendierte nicht nur offenkundige Schreibversehen. 1954 waren Editoren noch davon überzeugt, dass man die Druckvorlage mit Hilfe des Göschen-Drucks kritisch bearbeiten müsse, um einen vermeintlich ‚besten‘ Text45 zu generieren und – so die nicht abwegige Vermutung – um das einstige „blinde Missgeschick“46 des Autors mit Hilfe strenger ‚recensio‘ wenn nicht ungeschehen zu machen so doch abzumildern. Das geht soweit, dass Textausfall, der durch den Raubdruck entstanden ist und zu einer stilistischen ‚Verschlechterung‘ geführt hat, aber von Goethe und seinen ‚Mitarbeitern‘ Herder und Wieland nicht beanstandet wurde, zwar nicht restituiert, aber durch eine ins Auge springende Lakune im laufenden Text markiert wurde. Schauen wir uns dieses Verfahren an einer Stelle genauer an.47 Im Erstdruck heißt es: Ha! nicht die große seltene Noth der Welt, diese Fluthen, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich.
In der Fassung von 1787, die die Akademie-Ausgabe dem Erstdruck parallel gegenüberstellt, heißt der Text nun: Ha! nicht die große seltne Noth der Welt, diese Fluthen Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich;
diese
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Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, dass die Druckvorlage der zweiten Fassung als Editionsbasis zugrunde liegt. Das hat sicherlich nicht nur mit dem fehlenden Apparatband zu tun, sondern auch mit der Faksimilierung von Titelblatt und Vorsatz der Göschen-Ausgabe, die der Wiedergabe der ErstdruckTitelei gegenübergestellt wird. Das ist zweifellos gut gemeint, aber ein irreführendes Signal. Grumach 1959 (Anm. 42), S. 6. – Dabei ist keineswegs, wie gemutmaßt wurde, ein ‚Mischtext‘ entstanden, sondern vielmehr – wie in der Altphilologie üblich – eine Fassung im Hinblick auf etwaige Verderbnisse textkritisch bearbeitet worden, ein Verfahren, das zwar mit Blick auf eine neuzeitliche Textüberlieferung und einen anderen Fassungs- und Fehlerbegriff kritisch zu hinterfragen, aber dennoch nicht verwerflich ist. Vgl. hierzu kritisch Herbert Wender: Probleme der Werther-Edition. In: Goethe nach 1999. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Matthias Luserke. Göttingen 2001, S. 23–30, hier 24: „Wenn etwa beim Werther-Roman in der Gestalt von 1786/87, die man früher mit einer Bezeichnung ‚Zweite Fassung‘ nennen durfte, Druckvorlage und Druck als je eigene ‚Fassung‘ zu behandeln sind, führt die Textkonstitution nach der früheren Maxime, den Text ‚unter Berücksichtigung der gesamten Überlieferung‘ herzustellen, selbst dann zu einer ‚Kontamination verschiedener Fassungen‘, wenn die Interpunktion des Drucks nach derjenigen der Druckvorlage ‚berichtigt‘ wird. Mit einer gewissen Konsequenz heißt dann in der Sprache der Neuerer das von den Altvorderen Hergestellte ‚Mischtext‘.“ Vgl. ebenso Johann Wolfgang Goethe: Leiden des jungen Werthers. Edition der Handschrift von 1786. Hrsg. von Matthias Luserke. Weimar 1999, S. 134f. WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334. Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (Anm. 43), S. 61. Ähnlich auch S. 7, 58, 102, 143.
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Der Verlust des Relativsatzes geht wohl auf ein Setzerversehen im Raubdruck zurück. Was sagt diese Darstellung aus? Mit Hilfe der Synopse kann der Leser die durch den Raubdruck verursachte Störung nicht nur erkennen, sondern auch – wenn er will – mit Hilfe des Erstdrucks „kompensieren“.48 Die Lakune hat dabei eine große Signalwirkung für die Lektüre. Aber ob dieses Verfahren sinnvoll ist, gilt es zu diskutieren. Die ebenfalls mit einer Synopse arbeitende Reclam-Studienausgabe von Matthias Luserke verzichtet an dieser Stelle auf eine entsprechende Weißfläche;49 andere Ausgaben verfahren hier eher widersprüchlich bzw. uneinheitlich.50 Da der Apparatband der Akademie-Ausgabe nicht erschienen ist, bleiben viele textkritische Entscheidungen im Dunkeln, so auch die Absicht, die sich hinter dieser eingeblendeten weißen Fläche verbirgt. Aber der hier angemerkte Umgang mit den autorisierten Veränderungen im Raubdrucktext scheint Ernst Grumachs editorischem Credo zu folgen, das besagt: „Die Güte eines Textes richtet sich aber nicht allein nach der Sorgfalt, die ihm bei seiner Drucklegung zuteil wird. Sie wird entscheidend bestimmt von den Quellen, aus denen er geflossen ist, und der Geschichte die er bereits durchlaufen hat“.51 Zweifellos ist das eine richtige Perspektive, um Textverderbnissen auf die Spur zu kommen, wobei noch einmal zu betonen ist, dass die durch die prekäre Überlieferung entstandene „Textbeschädigung“52 mit der Revision des Gesamttextes durch den Autor nachträglich sanktioniert wurde. Aber die Akademie-Ausgabe stellt ihre Emendationspolitik auf den Kopf, wenn sie den Benutzer durch eine Markierung ausdrücklich vor dem Text, vielmehr dem Textträger und seiner vermeintlich zweifelhaften Qualität warnt. Oder ist dieses Verfahren als Eingeständnis zu bewerten, dass der ‚beste‘ Text doch nur eine Chimäre ist? In dem Fall wäre diese Werther-Fassung eine Kompilation aus verschiedenen Überlieferungsträgern und nach unseren heutigen strengen Emendationsregeln „Makulatur“, wie schon Herbert Wender befürchtet hat.53 Das Prinzip des ‚besten‘ Texts wurde erst Ende der 1950er Jahre durch die Formulierung der Grundlagen der Goethe-Ausgabe radikal aufgegeben. Im Zentrum kritischen Edierens steht seitdem die Dokumentation historischer Textfassungen. Diese Prinzipien hat Siegfried Scheibe später in seinen Grundprinzipien aufgegriffen und fortgeführt.54 Wäre der Werther auf Grundlage der neuen Prinzipien ediert worden,
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Wender 2001 (Anm. 45), S. 25. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen 1774 und 1787. Hrsg. von Matthias Luserke. Stuttgart 1999, S. 108f. Die Frankfurter Goethe-Ausgabe (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Friedmar Apel [u. a.]. 40 Bde. Frankfurt/Main 1985–2013) folgt der AkademieAusgabe (Abt. I, Bd. 8, S. 109 u. 19, 103, 175, 243). Die Münchner Ausgabe (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter [u. a.]. 21 Bde. in 33. München 1985–1998) präsentiert beide Fassungen separat und restituiert zweimal ausgefallenen Text in der handschriftlichen 1787er Fassung in Spitzklammern mit Hilfe des Erstdrucks (Bd. 2.2, S. 394 und 392). Grumach 1959 (Anm. 42), S. 31. Wender 2001 (Anm. 45), S. 25. Ebd., S. 24. „Der Edierte Text beruht […] auf der vollständig überlieferten Druckvorlage zum autorisierten Erstdruck […] unter der Voraussetzung[,] daß der Autor nachweislich keine Korrekturbogen gesehen bzw. korrigiert hat“ (Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In:
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hätte sicherlich neben dem Erstdruck die unemendierte handschriftliche Druckvorlage als Basis des edierten Textes gedient,55 ein Verfahren, das seitdem bei der Textkonstitution konsequent zur Anwendung kommt und als methodischer Konsens gilt. Erst im Goethe-Jahr 1999 erschien eine Edition der handschriftlichen WertherRevision,56 die es nun ermöglicht, den Grad der Überfremdung des Textes durch den Himburg’schen Raubdruck ab- und einzuschätzen. Eine wirklich kritische WertherEdition ist noch immer ein Desiderat und bleibt zudem eine Herausforderung im textkritischen Umgang mit prekären Revisionen. Der methodische Rahmen steht, denn wir haben uns längst daran gewöhnt, den Werther in mehreren Einzelfassungen zur Kenntnis zu nehmen, und zwar in der Fassung des Erstdrucks von 1774, in der der Druckvorlage von 1786 für den ersten Band von Goethes Schriften aus dem Jahr 1787 und ‚last but not least‘ in der Ausgabe letzter Hand. Jede andere Lösung führt m. E. wieder in den eben beschriebenen Teufelskreis, zumal die Darstellung der Textgenese auf Grund der zu verzeichnenden Textelemente bzw. Varianten unbenutzbar und unbenutzt bliebe, wenn sie sich nur auf einen zentralen edierten Text beziehen müsste. Peter Shillingsburg hat diese Position zwar als „unoriginell“ bezeichnet, weil sie einen historischen Textzustand erneut „sklavisch“ reproduziert, womit dem „künstlerischen oder ästhetischen Objekt“ Werther kein Gefallen getan würde.57 Aber nur eine strikt historische Dokumentation mit einer Konzentration auf Fassungen als Scharniere einer langen und prekären Überlieferung gibt vielleicht überhaupt erst eine Antwort auf die Frage, warum der tote Werther in der Druckvorlage einen „grauen Frack mit gelber Weste“ trägt,58 während die Frackfarbe in allen anderen Fassungen, die Raubdrucke eingeschlossen, „blau“ ist.59
4. Es sollte deutlich geworden sein, dass ich für eine stärkere buchhistorische und textkritische Berücksichtigung von sog. „Nebenausgaben“60 als medien- und rezeptions-
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Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1–44, hier 38f.). „Der Edierte Text beruht im Fall einfachen Abdrucks auf der vollständig überlieferten Druckvorlage zum autorisierten Erstdruck, der kein Teildruck sein darf, unter der Voraussetzung, daß Goethe nachweislich keine Korrekturbogen gesehen bzw. korrigiert hat“ (Grundlagen der Goethe-Ausgabe. In: Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin 1997, S. 245–272, hier 250). Goethe: Leiden des jungen Werthers. Edition der Handschrift von 1786 (Anm. 45). Peter Shillingsburg: A Resistance to Contemporary German Editorial Theory and Practice. In: editio 12, 1998, S. 138–150, hier 146: „Of course the resulting text accurately represents the historical facts, but the historical facts can be accurately presented in ways other than a slavish reproduction of a text that already exists.“, S. 144: „The key ist to be honest about the process so that no reader of the edition is misled about the foundation documents or about the edited document – the artifact or the aesthetic object.“ Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (Anm. 43), S. 128 und 133. Ebd., S. 157. Die Akademie-Ausgabe korrigiert die Druckvorlage entsprechend der übrigen Überlieferung zu „blau“. Marie-Elisabeth Fritze: Untersuchungen zur vierbändigen „geringeren“ Ausgabe von Goethes Werken bei Göschen 1787–1791 (S2). Diss. masch. Berlin 1964, S. 66.
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geschichtliche Phänomene plädiere, weil sie für die Textüberlieferung, aber auch im Literaturbetrieb eine wichtige Rolle spielen.61 Raub- und Doppeldrucke waren in der Drucküberlieferung des 18. Jahrhunderts keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel. Ihre Erforschung ist in der heutigen Editorik – anders als noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – allenfalls eine Randerscheinung, vermutlich weil die Autopsie schwierig ist, erhebliche Kollationsarbeit mit entsprechenden Variantenmengen mit sich bringt und weil ihnen nach wie vor der Geruch des Unerlaubten anhängt. Zuverlässige Aussagen über den Wert von Raub- und Nachdrucken für die Textgeschichte oder über deren Auswirkungen auf die Rezeption lassen sich jedoch erst auf Basis dieser Materialerhebung machen; das haben in letzter Zeit die minutiösen buchanalytischen Untersuchungen in den Editionen von Lessings Emilia Galotti62 oder von Moritz’ Anton Reiser63 gezeigt. In beiden Fällen war der Kollationsaufwand zwar groß, doch beide Male gelang es, den Erstdruck und damit die Editionsgrundlage aus einer unübersichtlichen Drucküberlieferung mit zahlreichen unerlaubten Nachdrucken eindeutig herauszufiltern, während die zu verzeichnenden Varianten – anders als bei der Werther-Überlieferung – den Rahmen nicht sprengten, aber erhellende Schlaglichter auf die Verfahren zeitgenössischer Buchproduktion warfen. Mir ist natürlich bewusst, dass die Frage, wie man mit größeren Mengen an Revisionen und Varianten, wenn sie zudem aus unrechtmäßigen Nachdrucken stammen, umgehen soll, heikel ist. Aber man sollte sie nicht vorschnell als „totes Gewicht“ abqualifizieren.64 Weder eine komplette Dokumentation des „kleinsten Tüttelchen[s]“65 noch eine Auslagerung in eine – sagen wir – editorische ‚bad bank‘ ist realistisch, auch der Hinweis auf die grenzenlosen Möglichkeiten der digitalen Welt löst das Problem nur quantitativ und keineswegs qualitativ. Trotzdem macht es nur wenig Sinn, „vergleichbare Sachverhalte“ wie Orthographie- und Interpunktionsvarianten oder Druckereigenheiten in einem Variantenapparat unendlich zu wiederholen, worauf schon vor inzwischen 40 Jahren Erhard Weidl in einem viel zitierten, allerdings nur wenig beherzigten Zwischenruf hingewiesen hat.66 Weidl plädierte seinerzeit für die Erarbeitung „kommentierter Variantenextrakte“, um dem Benutzer exemplarisch vorzuführen, worin die Bedeutung von Varianten für die Überlieferung und Genese liegt und inwiefern sie für das Textverständnis relevant
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Dass solche Perspektiven auch dazu beitragen, die Editorik als Mediengeschichte zu profilieren, darauf hat Rüdiger Nutt-Kofoth bereits hingewiesen: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio 20, 2006, S. 1–23. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Von Elke Monika Bauer. Tübingen 2004. (Gotthold Ephraim Lessing. Werke in Einzelausgaben); davon abgeleitet: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Studienausgabe. Hrsg. von Elke Bauer und Bodo Plachta. Stuttgart 2014. Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Anneliese Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann und Christof Wingertszahn. Bd. 1: Anton Reiser. Hrsg. von Christof Wingertszahn. Tübingen 2006, bes. T. 2, S. 476–481. Jonas Fränkel: Zum Problem der Wiedergabe von Lesarten (1959); zitiert nach: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition (Anm. 22), S. 221. Friedrich Beißner: Hölderlin. Reden und Aufsätze. Weimar 1961, S. 253. Erhard Weidl: Das Elend der Editionstechnik. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5, 1975, H. 19/20: Edition und Wirkung, S. 191–199, hier 197.
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sein können. Benutzerführung ist heute ein weit verbreitetes Schlagwort. Gute Benutzerführung entscheidet häufig über den Erfolg oder Misserfolg bei der Suche nach Informationen und Inhalten. Dass sich auch Editionen diesem Fragenkomplex nicht verschließen, zeigt die breite Diskussion über „Nutzungsweisen gedruckter und digitalisierter Textbestände“ ebenso wie die Verfahren neuerer Editionen, der Datensammlung bei der Präsentation nur so viel Raum zuzugestehen, wie er zur Erläuterung der „abweichenden Vorkommnisse“ in einem reich überlieferten Text notwendig ist.67 In einem solchen exemplarischen und kommentierenden Präsentationsmodus schmilzt sogar die ‚unerlaubte Variantenvermehrung‘ auf ein Normalmaß zusammen, wenn man sich auf die Aspekte konzentriert, die den jeweiligen Überlieferungsträger in medialer und textkritischer Hinsicht charakterisieren. Aber dazu braucht es die Bereitschaft, mit einem philologischen „Bohrungsprozeß“68 in die Tiefe des Materials vorzudringen – von der notwendigen „strenge[n] sorgfalt“69 einmal ganz zu schweigen.
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Michael Stolz: Benutzerführung in digitalen Editionen. Erfahrungen aus dem Parzival-Projekt. In: Digitale Edition und Forschungsbibliothek. Beiträge der Fachtagung im Philosophicum der Universität Mainz am 13. und 14. Januar 2011. Hrsg. von Christiane Fritze, Franz Fischer, Patrick Sahle und Malte Rehbein. Wiesbaden 2011 (Bibliothek und Wissenschaft. 44), S. 49–80, hier 76, 54. Thomas Mann: Meine Arbeitsweise. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2., durchges. Aufl. Frankfurt/Main 1974, Bd. XI, S. 747. Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, mit Anmerkungen von G. F. Benecke und K. Lachmann. 2. Ausgabe. Berlin 1843, S. V (Vorrede).
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Ansichtssache Möglichkeiten der Darstellung und Interpretation textgenetischer Varianz am Beispiel der historisch-kritischen Edition ‚Arthur Schnitzler digital‘
Sollte in zwanzig Jahren meine Persönlichkeit und mein Werk noch im Gedächtnis der Nachwelt leben, so ergibt sich alles weitere von selbst, und berufene Männer […] werden zu entscheiden haben, was vertilgt zu werden, was vielleicht weiter zu leben verdient.1
Mit dieser Selbstreflexion erfasst Arthur Schnitzler (1862–1931) noch fast 100 Jahre nach seinen testamentarischen Überlegungen die aktuelle Editionssituation: Um sein Werk für die „Nachwelt“ zu konservieren und zu dokumentieren, erarbeitet das deutsch-britische Forschungsprojekt ‚Arthur Schnitzler digital‘ die Werke des Wiener Schriftstellers von 1904 bis 1931.2 Ziel ist die Entwicklung einer innovativen historisch-kritischen ‚born digital‘-Edition im Rahmen einer öffentlich zugänglichen Online-Plattform. Das Projekt wird von Wissenschaftlern der Bergischen Universität Wuppertal, der University of Cambridge, dem University College London und der University of Bristol in Kooperation mit der Cambridge University Library und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie mit dem Trier Center for Digital Humanities3 durchgeführt. Das deutsche, Anfang 2012 begründete, auf 18 Jahre angelegte und von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften finanzierte Teilprojekt befasst sich mit Arthur Schnitzlers Werken ab 1914. Im umfangreichen, über 30.000 Seiten umfassenden Werknachlass des österreichischen Autors liegt sowohl Material zu publizierten als auch zu unveröffentlichten Texten vor. Vom ersten Einfall bis zur Publikation vergehen häufig mehrere Jahrzehnte.4 Zum Teil schließen sich an die veröffentlichten Werke noch Eigenadaptionen in Form von Skripten für den Film an, u. a. zu Liebelei, Der junge Medardus und Spiel im Morgengrauen, womit der jeweilige Stoff durch Schnitzler selbst eine weitere mediale Bearbeitung und narrative Umformung erfährt.5 Folglich ist das vorliegende textgenetische Material Arthur Schnitzlers sehr reichhaltig und mitunter
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Aus den testamentarischen Bestimmungen Arthur Schnitzlers vom 16. August 1918. Zitiert nach Gerhard Neumann und Jutta Müller: Der Nachlass Arthur Schnitzlers. München 1969, S. 37. Schnitzlers Frühwerk wird als historisch-kritische Buchausgabe von der Wiener Arthur SchnitzlerGesellschaft unter der Leitung von Konstanze Fliedl bearbeitet (Berlin, De Gruyter 2011ff.). http://kompetenzzentrum.uni-trier.de/de/ (22.06.2016). Z. B. bei der Traumnovelle: Erste Ideen hierfür entwickelte Schnitzler bereits Ende der 1880er Jahre, doch bis zum Bucherstdruck 1926 erfährt das Sujet verschiedene Arbeitsstadien. Ähnlich verhält es sich mit der Erzählung Flucht in die Finsternis, die sogar erst 1931 veröffentlicht wurde. Bei vielen anderen Werken aus Schnitzlers später Schaffensphase ist der Entstehungszeitraum ähnlich lang. Vgl. Arthur Schnitzler: Filmarbeiten. Drehbücher, Entwürfe, Skizzen. Hrsg. v. Achim Aurnhammer u. a. Würzburg 2015.
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komplex zu entschlüsseln, beispielsweise wenn sich innerhalb der Werkgenese ein Gattungswechsel vollzieht (z. B. vom Drama zum Roman) oder wenn gar werkübergreifende genetische Beziehungen bestehen und sich ein Stoff verzweigt bzw. zwei Stoffe eine Fusion eingehen.6 Neben der Vereinigung von Archiv und Edition ermöglicht ‚Arthur Schnitzler digital‘ erstmals die (virtuelle) Zusammenführung der physisch separierten Archivbestände. Im Zentrum des Projekts stehen die traditionellen Aufgaben einer historisch-kritischen Edition wie die Textkonstitution, Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte, Kommentierung etc. sowie besonders die Erschließung und Darstellung textgenetischer Phänomene durch einen Perspektivenpluralismus. Im Folgenden stellen wir diesen anhand einer dokumentarischen Ansicht und zweier verschiedener textgenetischer Ansichten dar, die jeweils einen anderen Blickwinkel auf den Text und dessen Varianten erlauben.7 Jede Perspektive erfüllt dabei einen bestimmten Zweck und wurde auf der Basis des gesichteten Materials und der spezifischen Arbeitsweise Schnitzlers erstellt, da die Edition einen individuellen Einblick in den dichterischen Schaffensprozess ermöglichen soll. Die große Vielfalt an vernetzbaren digitalen Darstellungsoptionen darf allerdings nicht den Nutzen für die Rezipienten aus den Augen verlieren und muss für eine optimale Benutzerfreundlichkeit maßvoll eingesetzt bzw. sinnvoll begrenzt sein. Bei der Entwicklung entstanden verschiedene Konzepte, die getestet, z. T. verworfen und neu konzipiert werden mussten, da das angelegte theoreische System nicht praktikabel war bzw. zur uneinheitlichen Bearbeitung führte oder die Anschaulichkeit fehlte. Die Kombination einer deskriptiven und einer interpretierenden Darstellung8 scheint, da hierbei genetische und materielle Informationen gleichzeitig transportiert werden müssen, je nach Komplexität des überlieferten Materials schwer realisierbar oder zumindest durch die große Vielzahl der verwendeten diakritischen Zeichen ohne lange Einarbeitungszeit für den Benutzer abschreckend, sodass im Buchmedium meist die Entscheidung für das eine oder andere getroffen werden muss. Das digitale Medium kann mehrere spezialisierte Ansichten anbieten, die jeweils nur das leisten müssen, was sie leisten sollen. Ein dynamisches und somit gleichzeitiges Arbeiten ist in allen verfügbaren Ansichten möglich bzw. über verschiedene Arbeitsfenster realisierbar. Der Vorteil liegt darin, dass so die einzelnen Darstellungsformen eine größtmögliche Reduktion von Komplexität erlauben und dennoch in ihrer Kombination sämtliche Informationen bestmöglich lesbar und interpretierbar anbieten können, getreu nach Friedrich Beißner: Es ist die „Pflicht des Her-
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Dazu genauer Thomas Burch, Stefan Büdenbender, Kristina Fink, Vivien Friedrich, Patrick Heck, Wolfgang Lukas, Kathrin Nühlen, Frank Queens, Michael Scheffel, Joshgun Sirajzade, Jonas Wolf: Text[ge]schichten. Herausforderungen textgenetischen Edierens bei Arthur Schnitzler. In: Textgenese und digitales Edieren. Wolfgang Koeppens ‚Jugend‘ im Kontext der Editionsphilologie. Hrsg. v. Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo, Eckhard Schumacher. Berlin u. a. 2016 (Beihefte zu editio. 40), S. 87–105, hier 87. Vorgestellt werden hier die drei mikrogenetischen Ansichten. Die Projektwebsite wird zusätzlich makrogenetische Ansichten zur Verfügung stellen, wie etwa die ‚paradigmatisch-syntagmatische Gesamtmatrix‘, s. Burch u. a. 2016 (Anm. 6), S. 103ff. Vgl. Hans Zeller: Die Typen des germanistischen Varianten-Apparats und ein Vorschlag zu einem Apparat für Prosa. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105, 1986, Sonderheft: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft. Besorgt von Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 42–69, hier 45.
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ausgebers ein Verfahren zu finden, das bei letzter Vollständigkeit doch die Übersicht wahrt.“9 Ansonsten verkehren sich die Darstellungsvorteile des elektronischen Mediums leicht in einen Nachteil und der Nutzer verliert sich in einem Gewirr von Links und Relationen. In den nachfolgenden Ausführungen werden die aktuellen Ergebnisse und z. T. verworfene Überlegungen zur Visualisierung der Textgenese vorgestellt, die besonders im Hinblick auf Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit entwickelt wurden (und weiterhin werden).10
1. Dokumentarische Ansicht Verhältnismäßig werthvoller, zum mindesten interessant […] erachte ich manche Vorarbeiten, unverwendete Scenen, Absätze u. dergl. zu meinen bei Lebzeiten veröffentlichten Werken; – („entworfenes und verworfenes“ könnte man es nennen) […]11
Um eben dieses ‚Interessante‘ angemessen zu präsentieren, bietet es sich an, größere bzw. kleinere Betrachtungsausschnitte für den Nutzer bereitzustellen, was besonders für die textgenetische Dimension von Bedeutung ist. In dem Projekt ‚Arthur Schnitzler digital‘ meint dies, dass je nach Darstellung des textgenetischen Materials spezifische textgenetische Phänomene in unterschiedlicher Granularität zur Geltung kommen. Anhand eines bestimmten Satzes aus der Monolognovelle Fräulein Else wird nun exemplarisch ein Varianten-Paradigma sowohl durch verschiedene Arbeitsstadien Schnitzlers als auch durch unterschiedliche textgenetische Ansichten hindurch begleitet. Die Erzählung aus Sicht der Protagonistin Else entstand hauptsächlich zwischen August 1921 und September 1924, bis sie erstmals in der Neuen Rundschau12 (5FJ)13 und dann im Zsolnay Verlag14 (6FD) publiziert wurde. Zu den überlieferten Dokumenten gehören ein maschinenschriftlicher Plan mit handschriftlicher Bearbeitung Schnitzlers15 (1ST), ein Entwurf in Maschinenschrift16 (2ST) sowie eine
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Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Gedichte bis 1800. Lesarten und Erläuterungen. 1. Bd. 2. Teil. Hrsg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1947, S. 318. Alle Abbildungen und die vorgestellten Funktionen spiegeln den Stand der gegenwärtigen Diskussion und haben vorläufigen Status. Neumann/Müller 1969 (Anm. 1), S. 36. Fräulein Else. Novelle von Arthur Schnitzler. In: Neue Rundschau, 35. Jg., 10. H., Oktober 1924, S. 993–1051. Die Form der Siglierung ist noch nicht final. Sie gliedert sich bislang in drei Stellen: Die Ziffer beschreibt die chronologische Abfolge der Überlieferungsträger; der Großbuchstabe klassifiziert das Konvolut als Fassung, Skizze oder Notiz; der tiefgestellte Buchstabe gibt Auskunft über die Art der Überlieferung als Typoskript, Manuskript, Journaldruck oder Buchdruck. Arthur Schnitzler: Fräulein Else. 1.–11. Tsd. Berlin, Wien, Leipzig 1924. Cambridge University Library (CUL), Item A141,1. Ein Blatt, undatiert. Maschinenschrift, die wahrscheinlich auf einer nicht überlieferten handgeschriebenen Vorlage basiert. Der eigentliche Entstehungszeitpunkt ist nicht eindeutig rekonstruierbar. CUL, Item A141,2. Drei Blätter, beidseitig beschrieben. Auf der ersten Seite handschriftliche Datierung Schnitzlers auf das Jahr 1921.
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Manuskript-17 (3FM) und eine Typoskriptfassung18 (4FT). Die beiden Fassungen sind parallel entstanden, d. h., es gibt Verschränkungen in ihrer Genese: Durch Eintragungen im Tagebuch lässt sich rekonstruieren, dass Schnitzler vorzugsweise am Nachmittag am Manuskript arbeitete und diesen geschriebenen Abschnitt dann am nächsten Vormittag seiner Sekretärin Frieda Pollak diktierte. Aufgrund dieses steten Wechsels in der fortlaufenden Textentwicklung kann es durchaus geschehen, dass im Diktat vorgenommene Änderungen wiederum im nächsten Manuskriptabschnitt aufgenommen werden, z. B. eine Namensänderung. Ein Motiv, das in jedem Bearbeitungsstadium zu finden ist, lautet: „Ich will Sie nackt sehen!“ (s. Abb. 119), und zwar in Bezug auf die geforderte Gegenleistung Herrn von Dorsdays, der für seine finanzielle Unterstützung Elses prekäre Situation ausnutzen will: Sie benötigt dringend Geld, um ihren verschuldeten Vater auszulösen.
Abb. 1: Das Varianten-Paradigma des Beispielsatzes
Besonders in der Typoskriptfassung sind die mikrogenetischen Entwicklungen bei diesem Satz bemerkenswert. Schnitzler diktiert nach seiner Manuskriptniederschrift: „Ich will nichts anderes, Else, als Sie nackt sehen“. Im Korrekturgang ändert er den Satz jedoch: er streicht „nackt“ und ersetzt das Wort durch drei Gedankenstriche. Dadurch wird Dorsdays unsittliche Forderung im Text zu einer Art Konnotationsraum des Unausgesprochenen, einer Leerstelle, die es erlaubt, die Forderung Dorsdays in unterschiedlichen Formen zu imaginieren.
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CUL, Item A140. 160 Blätter, beidseitig von Arthur Schnitzler beschrieben. Entstehungszeitraum von Dezember 1922 bis April 1923. CUL, Item A141,3. 87 Blätter, beidseitig beschrieben. Mit handschriftlichen Korrekturen Schnitzlers. Entstehungszeitraum von Dezember 1922 bis April 1923. Copyright Cambridge University Library.
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Eine Möglichkeit der Darstellung dieser textgenetischen Varianz samt ihrer temporalen Rekonstruktion bietet der Zugang über die Dokumentarische Ansicht (s. Abb. 2), in der durch die archivalische und genetische Ordnung der überlieferten Seiten geblättert werden kann. Jede edierte Seite20 wird mit ihren jeweiligen Textzuständen21 und Änderungsoperationen dargestellt; dies inkludiert auch seitenübergreifende Änderungsakte.22 Die Synopse in dieser Ansicht besteht aus einem Faksimile und einer dynamisch generierbaren semidiplomatischen Umschrift, die den Text zeilengetreu, jedoch linear konstituiert, d. h. Interlinear- und Marginaltext werden an betreffender Stelle in die Zeile eingeordnet. Bei Identifikation eindeutig unterscheidbarer Schichten23 ist die Angabe von Bearbeitungszuständen (Grundzustand plus schichtinterne Varianten) möglich. Daher gibt es die Option, nicht nur den letztgültigen Textzustand,24 sondern auch die vorhandenen Bearbeitungszustände interaktiv anzuwählen. Bei Typoskriptseiten ist zusätzlich der Grundzustand (inklusive Sofortänderungen) anzeigbar, d. h. die zusammenhängende maschinenschriftliche Niederschrift. Bei Manuskriptseiten lässt sich mangels materiell unterscheidbarer Schichten kein gesicherter Grundzustand isolieren: Dort können nur stellenweise Aussagen über Änderungsprozesse getroffen werden, da, bezogen auf eine gesamte Manuskriptseite, Änderungszusammenhänge nicht ohne Spekulation zu rekonstruieren sind. Wir unterscheiden zwischen bloßen Fehlerkorrekturen durch die Sekretärin bzw. durch Schnitzler und Varianten, die für die Textentwicklung relevant sind.25 In Transcribo wird auf dem Digitalisat um jedes Wort, graphische Element und Satzzeichen ein Rahmen (= Transkript) gezogen, wodurch das Programm bereits die
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Die Texterfassung und Annotation wird mit dem graphischen Editor Transcribo durchgeführt: Mit diesem Werkzeug werden sämtliche materiellen und genetischen Phänomene eines digitalen Überlieferungsträgers erfasst. Die hinterlegten Daten lassen sich zudem in TEI-konformen Standard überführen. Siehe http://transcribo.org/de/. Textzustände werden pro Überlieferungsträger definiert und entsprechen jeweils dem Stadium des Textes zu einem bestimmten Zeitpunkt; sie sind das logisch-textuelle Resultat von beliebigen Änderungsakten (ob bloße Fehlerkorrekturen oder genetische Varianzen) und entsprechen oft, aber nicht zwangsweise, einer materiell definierten Schicht (s. Anm. 23). Z. B. iterativ oder singulativ miteinander korrelierte Änderungsakte wie die durchgehende Ersetzung eines Namens durch einen anderen in einer Niederschrift oder auch einmalige seitenübergreifende Tilgungen etc. Eine Textschicht ist rein graphisch-materiell definiert nach Hand und Beschreibstoff pro überlieferter Seite. Die Grundschicht wäre im idealtypischen Fall (bis auf Sofortänderungen) ein von Korrekturen freier Text, der in einem Zug von derselben Hand und mit demselben Schreibwerkzeug niedergeschrieben wurde. Vgl. Burch u. a. 2016 (Anm. 6), S. 90. Hierbei handelt es sich um linearisierten Text, in dem sämtliche Bearbeitungszustände umgesetzt sind, d. h. vorgenommene Tilgungen, Umstellungen und Ersetzungen werden ausgeführt. Wir orientieren uns an Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Kap. II: „Textveränderungen“. Berlin 1963. Die hier relevanten Passagen sind neu abgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 243–251, hier 249. Zur Terminologie s. auch Rüdiger Nutt-Kofoth: Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zum Problem der Synonyme in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Hrsg. von Gunter Martens. Berlin u. a. 2013 (Beihefte zu editio. 36), S. 113–124, sowie Klaus Hurlebusch: „Editionsprinzipien“, Kap. A: „Typologische Änderungsbefunde und ihre Termini“. In: F. G. Klopstock: Werke und Briefe. Hist.-krit. Ausgabe. Abtlg. Addenda II: Klopstocks Arbeitstagebuch. Berlin 1977.
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genauen Koordinaten anlegt und sich die Transkription positionsgenau auf dem Faksimile ein- und ausblenden lässt.26 Zusätzlich sind Faksimile und Umschrift über eine Text-Bild-Verlinkung miteinander verknüpft, um eine schnelle Orientierung zu gewährleisten: Fragt sich der Nutzer z. B. im konstituierten Text, wo ein bestimmtes Wort im Faksimile ist, muss er es nur anwählen, und der entsprechende Transkriptrahmen wird hervorgehoben. Diese Markierung funktioniert auch vice versa. Zudem kann bis zu den graphengenauen Annotationen ‚herangezoomt‘ werden, sodass sich pro Transkript am Faksimile prüfen lässt, welche Auszeichnungen im Einzelnen vorgenommen wurden. Im Hinblick auf die Zitierbarkeit ist zudem ein fester Zeilenzähler beigegeben. Um auf das oben genannte Varianten-Paradigma zurückzukommen: Abb. 2 zeigt Pagina 64 aus der Fräulein Else-Typoskriptfassung in der Dokumentarischen Ansicht.
Abb. 2: Typoskriptfassung, S. 64 von Fräulein Else in der Dokumentarischen Ansicht
In Zeile 8 wird der Beispielsatz aus Abb. 1 konstituiert. Zu den dynamischen Darstellungsprinzipien gehört, dass Textzusätze bzw. -änderungen pro Textzustand sowohl auf dem Faksimile als auch auf der Umschrift blau und reine Fehlerkorrekturen gelb hervorgehoben werden. In diesem Fall ist der erste Bearbeitungszustand ausgewählt. Zwischen dem Grundzustand in Maschinenschrift (inklusive Sofortänderungen durch die Sekretärin) und dem ersten Bearbeitungszustand nahm Schnitzler handschriftliche Änderungen in Form von Durchstreichungen, marginalen und interlinearen Ergänzungen sowie Ersetzungen vor, darunter auch die Ersetzung
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D. h. beim Einblenden der Transkription wird das Faksimile transparent.
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von „nackt“ durch „– – –“. Würde zum nächsten Bearbeitungszustand gewechselt, verlöschten die jetzigen blauen Markierungen und die zu diesem nächsten Zustand gehörenden Änderungen, hier die handschriftlichen Unterstreichungen des Autors zur Redemodusmarkierung, kämen stattdessen blau gefärbt hinzu. Die Darstellung der Bearbeitungszustände ist somit additiv und die Referenzebene des ausgewählten Zustandes ist jeweils der chronologisch vorhergehende. Durch die Verwendung konventioneller oder selbsterklärender Zeichen ist ein intuitiver Zugang zum konstituierten Text möglich: Jegliche Art von Tilgung wird beispielsweise einheitlich als durchgestrichener Text wiedergegeben.27 Graphische Elemente sind im konstituierten Text nicht nachgebildet, aber auf dem Faksimile (samt Annotationen) einsehbar. Bereits die Dokumentarische Ansicht demonstriert das angestrebte Prinzip der Multiperspektivität: Die Perspektive 1) der genetischen Dimension, die durch die verschiedenen Textzustände deutlich wird; 2) der materiellen Ebene, die die graphische Manifestation im Schreibraum berücksichtigt, und 3) der textuellen Ebene, in der im letztgültigen Zustand der (un-)emendierte28 Text mit den umgesetzten genetischen Änderungsprozessen zu lesen ist. Letztlich entscheidet dabei der Nutzer selbst über die jeweilige Perspektive auf den überlieferten Zeugen. Er kann sich den Text dynamisch anzeigen lassen, wodurch Beißners Anliegen eines „mitgehende[n] und mitdichtende[n] Betrachten[s]“29 frei von teleologischen Implikationen möglich wird.
2. Textgenetische Ansichten Wir differenzieren zusätzlich zu der Dokumentarischen Ansicht zwei rein Textgenetische Ansichten, die beide unterschiedliche Textbestandteile in den Fokus rücken und einander logisch ergänzen. Die erste umfasst einen größeren Ausschnitt im linearen Textsyntagma, jedoch einen kleineren im chronologisch-textgenetischen Paradigma; die zweite beschränkt sich im Textsyntagma auf nur einen Satz, aber in chronologisch-textgenetischer Ausdehnung zeigt sie die Gesamtüberlieferung. Die Daten für beide Ansichten werden in dem am Trier Center for Digital Humanities eigens für das Projekt entwickelten Kollations-Werkzeug erfasst. Dieses beinhaltet die Funktionen zweier bereits bestehender Programme (TEI-Comparator30 und CollateX31) sowie eine auf die Bedürfnisse des Projekts zugeschnittene WYSIWYG-Benutzerschnittstelle, die mit den Designs der textgenetischen Ansichten arbeitet. Hier werden alle überlieferten und kollationierbaren Fassungen eines Werks auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verglichen. Eine kollationierbare Fassung meint in diesem Fall Textbestandteile auf Satzebene, die eine hinreichende lexikale Identität aufweisen. Dies betrifft einerseits linear verfasste Niederschriften,32 die zu einem bestimmten Zeit-
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Es werden noch weitere ausgewählte Annotationen auf der Umschrift graphisch umgesetzt, u. a. Ersetzungen, Überschreibungen, Unterstreichungen und indistinkte Graphe. Der Text lässt sich sowohl mit kursiviert ausgezeichneten Editoreingriffen anzeigen als auch ohne die Emendationen. Hölderlin 1947 (Anm. 9), S. 319. http://tei-comparator.sourceforge.net (22.06.2016). http://collatex.net (22.06.2016). Vgl. Seiffert 1963 (Anm. 25), S. 15.
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punkt das entsprechende Werk in seiner Gesamtheit repräsentieren, aber z. T. auch Entwürfe, die einzelne Sätze enthalten, die Schnitzler in eine spätere Niederschrift einfließen lässt.33 Da sich diese zumeist durch einen hohen Anteil an Metatext sowie einen häufig wechselnden Schreibmodus – von der notizhaften Zusammenstellung von Handlungssequenzen bis hin zur passagenweisen Niederschrift – auszeichnen, werden hierbei nur diejenigen Bestandteile kollationiert, die in Werkniederschriften eine syntaktische Entsprechung besitzen; „bedeutungsmäßig, aber nicht syntaktisch beziehbar[e]“34 Einheiten sind nicht Teil dieser Kollation. Eine rein motivische Ähnlichkeit reicht demnach nicht aus. Zudem hat die Erweiterung des zu betrachtenden Kontextes im Vergleich zu der Dokumentarischen Ansicht nicht nur in vertikaler Richtung des Textsyntagmas, sondern auch in horizontal-temporaler Richtung des Varianten-Paradigmas in den Textgenetischen Ansichten eine Ausblendung materieller Phänomene zu Gunsten rein textgenetischer Phänomene zur Folge. Dies bedeutet nicht, dass der Nutzer auf Informationen verzichten muss; sie sind lediglich in derjenigen Ansicht aufbereitet, die für deren Darstellung die optimalen Mittel bereithält. Bestimmte Einzelphänomene, die den genauen Arbeitsprozess Schnitzlers indizieren (etwa den Akt der Überschreibung oder topographische Angaben zu Textzusätzen etc.), werden nicht mehr angezeigt, sondern nur das Ergebnis dieser Arbeit. Im Folgenden werden die Textgenetischen Ansichten I und II vorgestellt. 2.1 Textgenetische Ansicht I: Satzebene Das aktuelle Konzept sieht vor, dass in der Textgenetischen Ansicht I verschiedene Fassungen auf Satzebene miteinander verglichen werden (s. Abb. 3). Diese können auf einer chronologisch sortierten, horizontalen Schnellnavigationsleiste frei ausgewählt werden. Das vertikal fortlaufende Textsyntagma wird in einzelnen Spalten und in Einzelsätzen angeordnet. Der Benutzer hat die Möglichkeit, aus allen Niederschriften bis zu drei Grundzustände und letztgültige Textzustände für den Vergleich zu wählen. So können Fassungen in direkter chronologischer Reihenfolge, aber auch weit voneinander entfernte Entstehungsschichten betrachtet werden. Seitenumbrüche und Absätze sind durch eingezogene Linien gekennzeichnet. Korrelierende Sätze sind durch Linien zwischen den Spalten verbunden, welche die textgenetische Entwicklung verdeutlichen. Fusionen (zusammenlaufende Linien), Teilungen (sich spaltende Linien), Umstellungen (sich überkreuzende Linien), Tilgungen und Hinzufügungen (leere Satzfelder rechts oder links) können so auf einen Blick erfasst und interpretiert werden. Leerfelder sind nicht nur aus rein synoptischen Gründen nötig, sondern auch um beispielsweise anzeigen zu können, dass ein Satz in Fassung 1 noch existent war, in Fassung 2 jedoch entfiel und schließlich in Fassung 3 wieder eingefügt wurde. Ohne leere Satzfelder gäbe es in diesem Fall keine Verbindung der einzelnen Sätze und somit für den Benutzer auch keine bzw. nur unzureichende und zeitaufwendige
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Zur Definition von Fassung im Projekt ‚Arthur Schnitzler digital‘ vgl. Burch u. a. 2016 (Anm. 6), S. 91. Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. v. Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1–44, hier 20.
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Möglichkeiten, diese eigentlich vorhandene Verbindung zu finden. Durch Doppelklick auf einen Satz werden alle Spalten aligniert, sodass korrespondierende Sätze auf einer Höhe stehen. Zusätzlich bieten einblendbare genetische Kommentare und, wo vorhanden, autoreferentielle Schreibanweisungen Arthur Schnitzlers in den Spalten zwischen den Fassungen einen tieferen Einblick in den Entstehungsprozess. Das Anzeigen von schichtinterner Varianz ist hier nicht mehr möglich, da jeder Satz eine andere Anzahl an ‚Einzelfassungen‘ (1+n) aufweisen kann und so eine Synopse in dieser Form nicht aufrechterhalten werden könnte.35
Abb. 3: Textgenetische Ansicht I 36
Im ersten Entwurf dieser Ansicht konnten lediglich zwei genetisch direkt aufeinanderfolgende Fassungen – hier waren zur Auswahl bislang nur die letztgültigen Textzustände vorgesehen – angezeigt werden, die jeweils eine eigene Spalte einnahmen und gleichzeitig als Lesetext dienten. Alle varianten Stellen wurden mit einem Farbmarker versehen und in einer dritten, mittleren Spalte kleinteilig mit allen Zwischenschritten erläutert. Da Schnitzler dazu neigte, seine Niederschriften z. T. sehr stark zu überarbeiten – zehn und mehr Überarbeitungen einer Einzelstelle oder eines Satzes in einer einzigen Niederschrift sind z. B. in Flucht in die Finsternis keine Seltenheit –, kam die Darstellung in der mittleren Spalte schnell an ihre Grenzen. Auch war keine übersichtliche Möglichkeit vorhanden, Umstellungen, Tilgungen und
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Zur weiteren Funktionsweise dieser Ansicht vgl. Burch u. a. 2016 (Anm. 6), insb. S. 94–105. Zur Siglierung vgl. Anm. 13. Die zweite Ziffer (1 oder 2) beschreibt den Grund- bzw. Endzustand einer Niederschrift. Unter „1–2“ (s. Abb. 4) werden stellenbezogen die Varianten zwischen Grund- und Endzustand subsumiert, wodurch also keine eigene Fassung des kompletten Satzes konstituiert wird.
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Hinzufügungen ganzer Sätze zu beobachten, was insgesamt zu einer Revision des erstellten Konzeptes führen musste. Erschwerend kam die unterschiedliche Auszeichnungstiefe von textträgerinterner Varianz und Varianz zwischen verschiedenen Textträgern hinzu, was zwei unterschiedliche, in einer Ansicht schwer zu vereinbarende Beschreibungsarten von Varianten zur Folge hätte. Für die Darstellung der Varianten, die zwischen einem Grundzustand und einem letztgültigen Textzustand auftreten, wurde die Textgenetische Ansicht II entwickelt. 2.2 Textgenetische Ansicht II: Lexemebene Einen genauen Überblick über den Transformationsprozess eines Satzes in sämtlichen Niederschriften und Skizzen kann sich der Nutzer in der Textgenetischen Ansicht II verschaffen. Diese inkludiert neben den fassungsübergreifenden auch alle textträgerinternen Varianten, wie sie etwa durch Korrekturen, Textzusätze oder Streichungen entstehen. Diese Mischung der Variantenformen stellte uns auch hier vor verschiedene Herausforderungen. Ziel war und ist es, diese in einer möglichst einfach les- und interpretierbaren Ansicht zu vereinen, ohne dass dabei wichtige Informationen verlorengehen oder die Ansicht durch ein Übermaß an diakritischen Zeichen überladen wird.
Abb. 4: Textgenetische Ansicht II
Die Darstellung erfolgt in einer Tabellenstruktur (s. Abb. 4), die aus Segmenten varianter und nicht-varianter Satzbestandteile gebildet wird. Der so entstandene synoptische Kolumnenapparat37 enthält sämtliche überlieferten Varianten über den kompletten Entstehungszeitraum. Die fassungsübergreifenden Varianten einer Einzelstelle sind in chronologischer Reihenfolge untereinander geordnet; fassungsinterne Varianten können stellenweise – via Klick auf Zellen mit fett markiertem Rahmen – ein- und ausgeblendet werden. Hierbei wird nur die betreffende Zelle und nicht die ganze Zeile erweitert, um keine Gleichzeitigkeit von Änderungen an anderen Stellen zu suggerieren. Eine Ausnahme hiervon bilden eindeutig zusammenhängende Änderungsakte, bei denen mehrere Zellen gleichzeitig erweitert und hervorgehoben werden. Die so genutzte Dynamik des Mediums ermöglicht es, jede Fassung linear zu lesen, ohne dass der Benutzer Treppen, darstellungsbedingte Wiederholungen oder diakritische Zeichen im Geiste ein- und ausblenden, überbrücken oder auf- bzw. entschlüsseln muss. Bei längeren Sätzen kann ein Umbruch in der Tabelle generiert werden, wodurch ein
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Wir folgen in Grundzügen dem genetischen Apparatmodell von Hans Zeller, vgl. Conrad Ferdinand Meyer. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Hans Zeller und Alfred Zäch. Bern 1963ff.
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umständliches vertikales Hin- und Herscrollen vermieden wird. Dieses Konzept ist das Ergebnis verschiedener Darstellungsmodelle, die intensiv getestet wurden. Zunächst versuchten wir die textuelle Varianz auf Lexemebene mithilfe der vier klassischen Operatoren adiectio, detractio, transmutatio und immutatio38 sowie mit den aus der Textgenetischen Ansicht I bekannten Verbindungslinien darzustellen, was zunächst philologisch gute Ergebnisse lieferte. Die zu vergleichenden Texte wurden linear und horizontal untereinander angeordnet und jedes Lexem einer Fassung mit einem oder mehreren Lexemen der anderen Fassung verbunden sowie mit einer der vier genannten Eigenschaften (oder ex negativo mit der Eigenschaft ‚ohne Varianz‘) versehen. Für kurze Sätze oder auch Verse erwies sich dies als eine gute Möglichkeit zur Darstellung von Änderungen. Doch schon bei etwas längeren Sätzen wurde die Ansicht durch einander überlagernde Linien und das Überschreiten der Bildschirmgrenzen, was wiederum ein umständliches horizontales Scrollen erforderte, sehr unübersichtlich. Gerade bei stark überarbeiteten Sätzen, die womöglich auch eine differierende Extension besitzen, zeigten die eigentlich zur Verbesserung der Übersicht eingeführten Verbindungslinien ein chaotisches Bild (s. Abb. 5a). Nicht nur die Benutzung dieser Ansicht, sondern auch deren Erstellung durch den Bearbeiter würde unter diesem Umstand erschwert. Abhilfe sollten auch hier Leerstellen schaffen, die bei adiectio und detractio die Synopse der Lexeme auf horizontaler Achse aufrechterhalten (s. Abb. 5b). Das Ergebnis war eine Art Tabellenstruktur bzw. eine um 90° gedrehte Textgenetische Ansicht I. Die Linien konnten nun zwar (außer bei transmutatio) parallel zueinander verlaufen, was eine große Verbesserung der Lesbarkeit bedeutete, allerdings verlängerte sich durch die zusätzlichen Felder das Textsyntagma so stark, dass diese scheinbar gewonnene Ordnung in der Darstellung wiederum nur für kürzere Sätze galt.
Abb. 5a und 5b: Textgenetische Ansicht II, verworfene Darstellungskonzepte
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Vgl. Klaus Hurlebusch: Edition. In: Fischer Lexikon Literatur. Bd. 1 A–F. Hrsg. v. Ulfert Ricklefs. Frankfurt a. M. 1997, S. 457–487, hier 466.
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Problematisch war zudem die Interpretation von Inter-Dokumentrelationen. Bei textträgerinterner Varianz können die vier Operatoren hingegen sehr gut angewendet werden, da sich der Vorgang der Änderung materiell manifestiert. Vergleicht man allerdings verschiedene Textträger, wie z. B. den Journaldruck und den Buchdruck von Fräulein Else, entfällt diese materielle Ebene zur Interpretation von Varianz. Es stellte sich heraus, dass Änderungen, die zwei oder mehr Wörter betreffen, v. a. die Operatorenkombination ‚Tilgung und Hinzufügung‘ gegenüber der ‚Ersetzung‘, von Bearbeiter zu Bearbeiter anders interpretiert und ausgezeichnet wurden, wie das folgende fiktive Kollationierungsbeispiel (s. Abb. 6a) illustriert.
Abb. 6: Interpretationsmöglichkeiten bei der Kollationierung
Allein bei dem Vergleich dieser beiden Sätze und ihrer Elemente gibt es zahlreiche Interpretationsspielräume. Im Fall b) werden die Lexeme positionsbezogen und einzeln nach ihrer lexikalischen Identität verglichen. Hier fällt die Wahl hauptsächlich auf die Operatoren detractio und adiectio, da die immutatio nur für lexikalisch ähnliche Positionen in Betracht kommt. Dadurch werden die Zusammenhänge der einzelnen Änderungsvorgänge nicht deutlich, denn die Veränderung eines Lexems kann Auswirkungen auf andere Satzelemente haben. Die Veränderung von ‚b‘ zieht hier
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notwendig die Veränderung von ‚j‘ und ‚k‘ nach sich, was jedoch durch das Kollationierungsprinzip in b) nicht erfasst wird. Im nächsten Beispiel c) ist allein die syntaktische Funktion der Lexeme für den Vergleich von Bedeutung. Da nun mehrere Lexeme aufeinander bezogen werden müssen, ist es notwendig, den Satz nach Satzgliedern in Segmente zu unterteilen. Die sprachwissenschaftliche Satzanalyse zeigt zwar den Zusammenhang der Elemente ‚jk‘ und ‚p‘, doch die lexikalische Identität von ‚de‘ und ‚qde‘ wird durch die Änderung des syntaktischen Status nicht miteinbezogen, was dem angestrebten Vergleich auf der textuellen Satzebene widerspräche. In d) werden die Sätze nach den Faktoren ‚wortidentisch‘ und ‚-variant‘ in Segmente unterteilt. Die Segmentzuordnung erfolgt über die lexikalische und grammatikalische Bedeutung der Segmente sowie deren Position innerhalb des Satzes. Je nachdem, welchem dieser Kriterien der Vorzug gegeben wird, ändert sich die Art der angewendeten Operatoren. Hier könnte z. B. die Gruppe ‚jk‘ nach dem grammatikalischen Kriterium auf das Segment ‚lmnopq‘ bezogen werden (= immutatio)39, nach lexikalischen und topographischen Faktoren hätte die Gruppe ‚jk‘ keine Entsprechung im anderen Satz (= detractio). Das Aufstellen einer Reglementierung, die die einheitliche Interpretation steuern sollte, schien schwer zu realisieren. Die Position des Wortes innerhalb eines Satzes in Kombination mit syntaktischer und semantischer Funktion als Faktoren zur Interpretation der Textgenese heranzuziehen, würde den Prozess so sehr verkomplizieren, dass ein schnelles und intuitives Kollationieren nicht mehr gewährleistet wäre. Zudem funktioniert dieses Konzept lediglich beim Vergleich zweier Fassungen einigermaßen gut, da sich mit jeder weiteren einzubeziehenden Fassung die skizzierten Probleme potenzieren, die mithilfe der vorgestellten Textgenetischen Ansicht II in Abb. 4 gut gelöst werden konnten.
Fazit Durch die Textgenetischen Ansichten I und II wird die gesamte Tragweite von Änderungen innerhalb eines Werkes erfahrbar. Selbst scheinbar kleine Änderungen, wie die beinahe kleistsche Auslassung aus dem eingangs behandelten Beispielsatz (also die Streichung des Wortes ‚nackt‘), können große Auswirkungen haben – nicht nur unmittelbar auf den betroffenen Satz, sondern auch auf die darauffolgenden. Die Verschleierung des Offensichtlichen in Dorsdays unmoralischem Angebot nötigt Else zu einer Interpretation des von Dorsday Gesagten. Anstatt sofort den Wunsch zu hegen, „Warum schlage ich ihm nicht ins Gesicht, dem Schuften?“ (vgl. Abb. 3, Spalte 4.1FT), stellt Schnitzler nun den Erkenntnisprozess Elses in einem Inneren Monolog dar. Um diese geringe Reduktion des Informationsgehalts zu kompensieren, folgt eine größere Extension „in der Gustl Technik.–“40 (vgl. Abb. 3, Spalte 4.2FT). Dadurch
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Projektintern wurde entschieden, dass bei einer Überschneidung der Operatoren transmutatio und immutatio der Ersetzung der Vorzug gegeben wird. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1920–1922. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach hrsg. von der Kommission für litera-
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Kathrin Nühlen / Jonas Wolf
werden nicht nur Dorsdays Angebot und sein Charakter schärfer umrissen, sondern auch die Möglichkeiten der Erzähltechnik an dieser Stelle vielfältiger gestaltet. Else wird nun der Raum zur Reflexion gegeben, wodurch der Leser einen tieferen Einblick in ihr Innenleben gewinnt. Um diese textgenetischen Entwicklungen darstellen zu können, bietet das digitale Medium eine Vielzahl an Möglichkeiten, die es – trotz der „Verknappung der öffentlichen Mittel [...] [, die] heute keinen Raum für Experimente im Variantenapparat“41 mehr zulassen, wie es Hans Zeller einst formulierte – zu entwickeln, zu erproben und womöglich zu verwerfen gilt. Das ‚Experimentieren‘ ist ein elementarer Bestandteil der digitalen Edition, da anders als im Buchmedium, das auf eine Jahrhunderte lange Tradition zurückgreift, die Möglichkeiten editorischer Darstellung weder ausgereift noch aufgrund der technologischen Entwicklungen deren Endpunkt abzusehen sind. Die Dynamik des digitalen Mediums muss sowohl auf Rezipienten- als auch auf Editorenseite genutzt werden und darf sich nicht auf bereits entwickelte Darstellungsmöglichkeiten der Buchedition beschränken, muss diese jedoch miteinbeziehen. Doch eine bloße Übertragung von Papier auf den Bildschirm hieße lediglich, (zumindest im Open-Source-Bereich) bereits Geleistetes einem größeren Publikum zugänglich zu machen, aber keinen wissenschaftlichen Mehrwert zu schaffen, da weder neue Informationen noch eine erleichterte Benutzbarkeit geboten würden. Textgenetische Prozesse dynamisch darzustellen, kann die Verwendung statischer (diakritischer) Zeichen auf ein Mindestmaß reduzieren und gleichzeitig die Nachvollziehbarkeit der textgenetischen Phänomene steigern. Nicht alles, was dargestellt werden kann, ist jedoch philologisch sinnvoll, und man läuft Gefahr, sich in den Möglichkeiten zu verlieren bzw. immer weitere interaktive Funktionen einzuplanen, weil es anscheinend keine Beschränkungen gibt. Allerdings kann das digitale Medium etwas leisten, was im Buch nur schwierig zu bewerkstelligen ist, nämlich ein Nebeneinander und eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Textansichten, die jeweils auf ein spezifisches Erkenntnisinteresse zugeschnitten sind. Der Nutzer hat in erweitertem Maße die Option, die Edition an sein genuines Erkenntnis- und Forschungsinteresse anzupassen und interaktiv zu gestalten. Vielleicht können aus dem Experimentieren mit den Darstellungsmöglichkeiten im digitalen Medium wiederum neue Erkenntnisse gewonnen werden, sei es durch neu entwickelte Werkzeuge oder auch durch andere Blickwinkel auf Texte und ihre Edition, die dem Benutzer einen komfortablen Zugang zu komplexen Sachverhalten eröffnen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Bestreben den Nutzern das Überschreiten der Hemmschwelle zur Benutzung einer historisch-kritischen Ausgabe erleichtert.
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rische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1993, S. 389 (Eintrag vom 14.12.1922). Zeller 1986 (Anm. 8), S. 69.
Ariane Martin / Uta Störl
Brieftextrevisionen in den Digital Humanities: Die OnlineVolltextdatenbank für Briefe von und an Frank Wedekind
Wir fragen nach Brieftextrevisionen in der Korrespondenz Frank Wedekinds, indem wir zunächst exemplarisch zwei Briefe des Autors vorstellen, die unterschiedliche Formen von Brieftextrevisionen bieten. Wir zeigen dann, wie sie in der Online-Volltextdatenbank der Briefe von und an Frank Wedekind nachvollziehbar gemacht werden. Eine Beta-Version der Datenbank zu Probezwecken ist im Internet freigeschaltet (erreichbar unter den Adressen http://briefedition.wedekind.h-da.de und www.briefedition-wedekind.ub.uni-mainz.de), die digitale Briefedition im Aufbau. Das erste Beispiel, ein Brief an Georg Brandes, betrifft ein zweifach handschriftlich überliefertes Korrespondenzstück, einen Briefentwurf und einen darauf gründenden abgeschickten Brief, die zusammen den Schreib- und Überarbeitungsprozess des Autors sichtbar dokumentieren. Das ist hier in Umschriften zu vergegenwärtigen:
Hochverehrter Meister! Vor drei Tagen bekam ich die {Ihre} kritische Abhandlung über meine Arbeiten zugeschickt, die Sie im Pester Lloid abdrucken ließen. Erlauben Sie mir, Ihnen die Mitteilung zu machen, daß ich trotz der kri/skep/tischen Haltung die Sie meinen Arbeiten gegenüber {in den Einleitenden Worten} einzunehmen scheinen {vorgeben} in einer/m/ ersten Besprechung {Aufsatz} höher noch niemals eingeschätzt wurde, als wie Sie mich beurtheilen. Wäre mir in Deutschland die öffentliche Meinung nur halb so günstig, wie Ihre Einschätzung {Beurtheilung}, dann hätte ich allerdings keinen Grund, mich selber zu vertheidigen. Solange aber die Aufführungen meiner ernstesten Arbeiten noch polizeilich verboten sind, kann | ich nicht eingestehen, daß ich mich durch eigene Rechtfertigung meiner Bestrebungen erniedrige. Ich bin auch ziemlich gewiß daß keine Deutsche Tageszeitung von Bedeutung, weder das Berliner Tageblatt noch die Frankfurter Zeitung, sich zum Abdruck Ihrer/s//r/ Abhandlu Auf Besprechung {Beurtheilung} bereit gefunden hätte.
Hochverehrter Meister! Vor drei Tagen bekam ich Ihre kritische Abhandlung über meine Arbeiten zugeschickt, die Sie im Pester Lloid abdrucken ließen. Erlauben Sie mir, Ihnen die Mittheilung zu machen, daß ich in einem ernsten Aufsatz höher noch niemals eingeschätzt wurde, als wie Sie mich beurtheilen. Wäre mir in Deutschland die öffentliche Meinung nur | halb so günstig wie Ihr Urtheil, dann hätte ich allerdings keinen Grund, mich zu vertheidigen. Solange aber die Aufführungen meiner ernstesten Arbeiten noch polizeilich verboten sind, kann ich nicht einzugestehen, daß ich mich durch eigene Verteidigung meiner Arbeiten erniedrige. Ich bin auch ziemlich gewiß, daß keine deutsche Tageszeitung von Bedeutung, weder das Berliner Tageblatt noch die Frankfurter Zeitung, sich zum Abdruck Ihrer Besprechung bereit gefunden hätte. | Ihre hohe Bewertung mußte mich um so mehr überraschen, da ich seit vier Jahren weiß, daß Ihnen gerade die auffallendste Seite meiner Produktion, die sexuelle Schamlosigkeit, durchaus unsympathisch ist. Vielleicht bin ich selber nur durch das
200 Die hohe Bewerthung, die s/S/ie meinen Arbeiten zu theil werden lassen, mußte mich um so mehr überraschen, da ich seit vier Jahren weiß, daß Ihnen der/ie/ ho auffallendste Seite meiner Produktion, die sexuelle Schamlosigkeit, daraus unsympathisch ist. Aber jeder Mensch hat wol irgend einen Stachel {etwas Absonderliches}, das ihn vorwärts treibt und {und wird dann eventuell durch das Verlangen, diese Absonderlichkeit zu begreifen vorwärts getrieben} i/I/ch gebe auch ohne weiteres zu, daß ich dieser einen Monomanie alles übrige | verdanke. Großen Dank schulde ich Ihnen für das unverkennbare Wohlwollen, das Sie aus kühlen Betrachtungen zu warmherzigen bedingungslosen Aussprüchen gelangen läßt auf die ich Zeit meines Lebens stolz sein werde. Manchmal stellen Sie eine Frage. Beim Lesen Ihrer Besprechungen hatte ich natürlich den Eindruck, als sei die Frage an mich gerichtet. So kam ich unwillkührlich dazu einige Notizen aufzuschreiben. Ich nehme mir die Freiheit, d/s/ie Ihnen beiliegend zuzusenden. Manchmal hatte ich das Bedürfnis mich zu rechtfertigen. Verdenken Sie es mir bitte nicht, daß ich das als Künstler nicht für unter meiner Würde hielt. | Darf ich Sie bitten, geehrter Herr Brandes, Ihrer verehrten Frau Gemahlin meiner lieben Frau und meine herzlichen Empfehlungen auszusprechen. Über unseren gemeinsamen Freund, dem ich die Ehre verdanke, {mit} Ihnen bekannt zu sein, sind seitdem die furchtbarsten Schicksalsschläge hereingebrochen. Bis jetzt weiß ich leider nicht mehr darüber als was in den Zeitungen stand. Ich danke Ihnen und bin in der Verehrung, die ich Ihnen schon als Schüler entgegenbrachte Ihr ergebener FrW.
Ariane Martin / Uta Störl
Verlangen, diese Absonderlichkeit zu begreifen vorwärts getrieben worden. Großen Dank schulde ich Ihnen für das unverkennbare Wohlwollen, das Sie aus kühlen Betrachtungen zu warmherzigen bedingungslosen Aussprüchen | gelangen läßt, auf die ich Zeit meines Lebens stolz sein werde. Manchmal stellen Sie eine Frage. Beim Lesen Ihrer Besprechung hatte ich natürlich den Eindruck, als sei die Frage an mich gerichtet. So kam ich unwillkührlich dazu einige Notizen aufzuschreiben. Ich nehme mir die Freiheit, sie Ihnen beiliegend zu senden. Manchmal hatte ich das | Bedürfnis mich zu rechtfertigen. Verdenken Sie es mir bitte nicht, daß ich das als Künstler nicht für unter meiner Würde hielt. Darf ich Sie bitten, geehrter Herr Brandes, Ihrer verehrten Frau Gemahlin meiner lieben Frau und meine herzlichen Empfehlungen auszusprechen. Über unseren gemeinsamen | Freund, dem ich die Ehre verdanke, mit Ihnen bekannt zu sein, sind seitdem die furchtbarsten Schicksalsschläge hereingebrochen. Bis jetzt weiß ich leider nicht mehr darüber als was in den Zeitungen stand. Ich danke Ihnen und bin in der Verehrung, die ich Ihnen schon als Schüler entgegenbrachte Ihr ergebener Frank Wedekind. München, Prinzregentenstraße 50 10.1.9.
Brieftextrevisionen in den Digital Humanities
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Der in Tinte auf das Papier gebrachte abgeschickte Brief,1 sechs Seiten auf drei Blättern, ist sauber geschrieben. Da ist nichts revidiert. Datiert hat Wedekind den in München verfassten Brief an den dänischen Literaturkritiker ganz am Schluss auf den 10. Januar 1909. Bevor dieser Brief im Jahr 1978 von Klaus Bohnen erstveröffentlicht wurde,2 war der Entwurf seit Jahrzehnten bekannt. Fritz Strich hatte ihn 1924 in seiner Ausgabe von Wedekinds Gesammelten Briefen publiziert und den Entwurf auf „Berlin, Ende 1908 oder Anfang 1909“3 datiert. Das war nicht schlecht geschätzt (der Ort freilich ein Irrtum). Die Angabe wurde von Manfred Hahn 1969 übernommen,4 ist inzwischen aber hinfällig. Strich hat außer der Datierung des von ihm zutreffend als „Entwurf“5 bezeichneten Textes kaum etwas zu seiner Vorlage angemerkt. Lediglich an einer Stelle druckte er in den Briefentwurfstext hinein in Klammern den Hinweis „unleserlich“,6 da er das Wort „Monomanie“ in der Handschrift nicht entziffern konnte. Strich hat die Streichungen und Einfügungen, die diese aufweist, nicht erwähnt, geschweige denn die Sofortkorrekturen einzelner Wörter. Alle diese Textrevisionen finden sich vor allem auf den ersten beiden von vier Seiten des Entwurfs, den Wedekind mit Bleistift in eines seiner Notizbücher geschrieben hat.7 Der Schreib- und Überarbeitungsprozess des Autors beim Abfassen des Entwurfs ist in der Briefdatenbank unmittelbar an der differenzierten Umschrift erläutert, Einfügungen und Tilgungen sind sichtbar und zugleich kommentiert. Nachvollziehbar sind aber auch die Differenzen zwischen Briefentwurf und abgeschicktem Brief. Sie sind als zwei Zeugnisse eines Korrespondenzstücks in diplomatischer Umschrift in der Briefdatenbank an Ort und Stelle ebenfalls präsent, zusätzlich illustriert durch Faksimiles der beiden Handschriften. Während bei Strich (und im Nachdruck bei Hahn) nur der Entwurf in einer bereinigten Fassung und bei Bohnen nur der abgeschickte Brief (unzureichend erläutert) zur Verfügung stand, bietet die Briefdatenbank beide Fassungen. Grundsätzlich ist so bereits jetzt der Vergleich von Briefentwurf und abgeschicktem Brief problemlos möglich, da die beiden Fassungen in der Datenbank zusammen eingeordnet zur Verfügung stehen. In Zukunft sollen beide Brieftextfassungen auf dem Bildschirm in der Umschrift auch parallel gelesen werden können. Ein Vergleich zeigt jedenfalls, dass die Textrevisionen keineswegs geringfügig sind. Sie finden sich in den ersten beiden Absätzen, der Rest des Brieftextes stimmt dann im Wortlaut überein. Die Eingriffe reichen von der Suche nach der passenden Formulierung für den Artikel von Brandes über Wedekind im Pester Lloyd vom –––––––— 1
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Das handschriftliche Original befindet sich im Georg Brandes-Archiv der Königlichen Bibliothek Kopenhagen. Die im Brief erwähnte Beilage steht hier nicht zur Debatte, ist in der Datenbank aber dokumentiert. Vgl. Klaus Bohnen: Frank Wedekind und Georg Brandes. In: Euphorion 72, 1978, S. 106–119, hier 112. Frank Wedekind: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Fritz Strich. Bd. 2. München 1924, S. 214. Vgl. Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Hahn. Bd. 3: Erzählungen, Aufsätze, Selbstzeugnisse, Briefe. Berlin und Weimar 1969, S. 592. Strich 1924 (Anm. 3), S. 214. In dem Satz: „Ich gebe auch ohne weiters zu, daß ich dieser einen – (unleserlich) alles übrige verdanke.“ Strich 1924 (Anm. 3), S. 215. Notizbuch 55. Nachlass Frank Wedekind, Monacensia (Stadtbibliothek München), L3501/55.
Ariane Martin / Uta Störl
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25. Dezember 1908,8 der den Anlass für die Abfassung des Briefes bot (erwogen hat Wedekind die Begriffe „Abhandlung“, „Einschätzung“, „Besprechung“, „Aufsatz“, „Beurteilung“), bis hin zu inhaltlich maßgeblichen Streichungen und Kürzungen, die zum Beispiel auch die Stelle mit der von Strich nicht entzifferten „Monomanie“ betreffen. So fehlt im zweiten Absatz des abgeschickten Briefes der im Entwurf befindliche Satz zum Sexualdiskurs, der an Wedekinds literarischer Produktion auffallend sei: „Ich gebe auch ohne weiteres zu, daß ich dieser einen Monomanie alles übrige verdanke.“ Die Brieftextrevisionen, vergleichend ablesbar an Briefentwurf und abgeschicktem Brief, sind im Fall des an den Literaturkritiker adressierten Korrespondenzstücks mit der Entwurfsfassung und ihrer revidierten Reinschrift eindeutig und sicher zu identifizieren. Das ist bei dem zweiten Beispiel anders. Es geht um ein Korrespondenzstück, das als offener Brief konzipiert war, eine Antwort auf eine Umfrage nach dem zukünftigen Intendanten des Münchner Schauspielhauses, die der Journalist Oskar Geller für die Zeitschrift Zeit im Bild veranstaltete. Seine Fragen lauteten: I. II. III.
Wen empfehlen Sie als Freiherr von Speidels Nachfolger? Welche Anforderungen nach künstlerischer Richtung stellen Sie an den neuen Intendanten? Würden Sie für München die Befolgung des Wiener Prinzips befolgen, wonach dem Intendanten nur die Pflicht der Repräsentation überlassen bleibt, während das Schauspiel und die Oper berufenen Fachmännern als verantwortlichen Direktoren unterstellt würde?9
Wedekind ist auf alle drei Fragen eingegangen. Seine Antworten sind in zwei unterschiedlichen Fassungen erhalten, eine dritte, entscheidende Fassung fehlt aber: Überliefert sind zwar ein handschriftlicher Briefentwurf und die davon abweichende Druckfassung, nicht jedoch die Fassung dazwischen, der abgeschickte Originalbrief. Beides, der Entwurf und die am 1. Oktober 1912 in Zeit im Bild publizierte Fassung, gilt es wiederum in Umschriften zu vergegenwärtigen:
Sehr geehrter Herr Geller! Erlauben Sie mir, zuerst die dritte letzte Ihrer drei Fragen in Betracht {Erwägung} zu ziehen. Ein Intendant mit zwei fachmännischen Direktoren unter sich scheint mir für Schauspiel und Oper {unter sich} scheint mir unter allen Umständen die be wünschenswerth schon aus dem einen Grunde da ein Mann
Sehr geehrter Herr Geller! Erlauben Sie mir, zuerst die letzte Ihrer drei Fragen in Erwägung zu ziehen. Ein Intendant mit zwei fachmännischen Direktoren unter sich, für Schauspiel und Oper, scheint mir unter allen Umständen wünschenswert, schon aus dem einen Grunde, da eine Autorität von detaillierter Fachkenntnis für den Intendantenposten ja doch nur äußerst schwer zu finden ist.
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Vgl. Georg Brandes: Frank Wedekind. In: Pester Lloyd (Budapest), Jg. 55, Nr. 308, 25. Dezember 1908, Morgenblatt, S. 65–68, Weihnachtsbeilage. Der kommende Mann. Eine Rundfrage von Oskar Geller. In: Zeit im Bild. Moderne illustrierte Wochenschrift (München, Berlin), Jg. 10, Nr. 41, 1. Oktober 1912, S. 1193–1196, hier 1193.
Brieftextrevisionen in den Digital Humanities
von wirklicher {reeller} Fachkenntnis ja doch nicht Intendant werden kann. Welcher Persönlichkeit der Intendantenposten zufällt scheint mir dabei von geringerer Bedeutung zu sein. Je weniger Rückgrad die Persönlichkeit besitzt um so länger wird sie sich im Amte halten. Je stärker ihr Rückgrad ist desto früher wird sie an einer GallensteinOperation sterben {zum Opfer fallen}. Ein beneidenswerter Posten ist es auf keinen Fall. Deshalb möchte ich auch niemanden als die für diese Stellung geeignetste Persönlichkeit namhaft machen. Was nun den Schauspieldirektor betrifft, so scheint mir nur einer {Mann} in Frage zu kommen dessen künstlerischen Stempel das Münchner Hofschauspiel tatsächlich und zu seinem größten inneren und äußeren und inneren Vorteil seit drei Jahren trägt. Der Mann ist ǀ Albert Steinrück. Der einzige Nachtheil den seine Ernennung zur Folge hätte wäre wohl der, daß {sich} Steinrück durch die Aufgaben des Direktors in seiner Thätigkeit als Schauspieler beschränkt fühlen könnte. Bei der bewundernswürdigen Arbeitskraft dieses Künstlers scheint mir aber diese {eine solche} Gefahr aber kaum in Betracht zu kommen. {Auf Ihre zweite Frage: Welche Ansprüche in künstlerischer Richtung stellen Sie an den neuen Intendanten? habe ich daher nur die Antwort: Ernennen Sie Albert Steinrück zum Schauspieldirektor!} Über die Wahl eines Operndirektors muß ich mich einer Äußerung enthalten, da mir auf diesem Gebiet jede Sachkenntnis fehlt. Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochschätzung Ihr ergebener FrW. P.S. In den Abdruck dieser Äußerung kann ich natürlich nur unter der Bedingung einwilligen daß er unverändert erfolgt
203 Was nun den Schauspieldirektor betrifft, so scheint mir nur ein Mann in Frage zu kommen, dessen künstlerischen Stempel das Münchener Hofschauspiel tatsächlich, und zwar zu seinem größten äußeren und inneren Nutzen, seit drei Jahren trägt. Der Mann ist Albert Steinrück. Der einzige Nachteil, den seine Ernennung zum Direktor zur Folge hätte, wäre wohl der, daß sich Steinrück durch die Aufgaben des Direktors in seiner Tätigkeit als Schauspieler beengt fühlen könnte. Bei der bewunderungswürdigen Arbeitskraft dieses Künstlers scheint mir eine solche Gefahr aber kaum in Betracht zu kommen. Auf Ihre zweite Frage: Welche Ansprüche in künstlerischer Richtung stellen Sie an den neuen Intendanten? habe ich nur die Antwort: Ernennen Sie Albert Steinrück zum Schauspieldirektor. Über die Wahl eines Operndirektors muß ich mich einer Äußerung enthalten, da mir auf diesem Gebiet jede Sachkenntnis fehlt. Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung Ihr ergebener Frank Wedekind.
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Ariane Martin / Uta Störl
Wedekind schlug in seinem offenen Brief, der im Rahmen der Umfrage in Zeit im Bild erschien,10 den Schauspieler Albert Steinrück vor, wie die Leser der Zeitschrift zur Kenntnis nehmen konnten. Bevor Wedekind den Namen Steinrücks nannte, thematisierte er im ersten Abschnitt die Schwierigkeiten, den Intendantenposten adäquat zu besetzen. Eine durch „Fachkenntnis“ ausgewiesene Person sei „nur äußerst schwer zu finden“. Vorschlag und Erörterung finden sich ebenfalls im Entwurf. Wirft man aber einen Blick auf diesen zweiseitigen Briefentwurf,11 auf den Wedekind mit Buntstift oben rechts auf der ersten Seite nachträglich den Vermerk „gedruckt“ notiert hat, dann stellt man fest, dass der erste Absatz offenbar revidiert worden ist (neben weiteren textinternen Überarbeitungen, darunter die auffällige nachträgliche Einfügung der Antwort auf die zweite Frage, die Wedekind mit Einweisungszeichen versehen als solche gekennzeichnet und zunächst mit entsprechender Kennzeichnung als eigenen Absatz vor die Grußformel gesetzt hat). Markant von der Druckfassung abweichender Wortlaut findet sich insbesondere im ersten Abschnitt. So meinte Wedekind im Entwurf, ein Mann von wirklicher Fachkenntnis könne „ja doch nicht Intendant werden“, und er fügte etwas sarkastisch anmutende Überlegungen zur Persönlichkeit des zukünftigen Intendanten an, die in der Druckfassung schlicht fehlen: Je weniger Rückgrat diese Persönlichkeit besitze, umso länger werde sie sich im Amt halten. Je stärker ihr Rückgrat sei, desto früher werde sie einer Gallensteinoperation zum Opfer fallen. Ein „beneidenswerter Posten“ sei das auf keinen Fall. Abgesehen davon, dass in der Datenbank Briefentwurf und offener Brief in der Druckfassung zum Vergleich zusammen eingeordnet zur Verfügung stehen werden und im Fall des Entwurfs Streichungen oder Einfügungen an Ort und Stelle kommentiert zur Kenntnis zu nehmen sind, bietet die Datenbank auch Sacherläuterungen, die inhaltlich relevant sind und im hier gewählten Beispiel die Textrevisionen inhaltlich verständlich machen. So ist an der Stelle, an der von „einer GallensteinOperation“ die Rede ist, an der ein Intendant „sterben“ (gestrichen) oder der er „zum Opfer fallen“ (eingefügt) könne, zu erläutern, dass Albert von Speidel, anfangs umstrittener Generalintendant des Münchner Hoftheaters, am 1. September 1912 an den Folgen einer Gallensteinoperation, der er sich am 20. August 1912 unterzog, im Alter von 54 Jahren verstorben ist. Wedekind hat also im Briefentwurf auf den verstorbenen Intendanten angespielt, eine Passage, die im Druck fehlt. Ob sie im verschollenen abgeschickten Brief stand oder nicht – das ist nicht zu klären, was auch für das aufschlussreiche Postskriptum im Entwurf gilt, das angesichts der Differenzen zwischen Entwurfs- und Druckfassung des Briefes einen gewissen Witz entfaltet. Wedekind schrieb: „In den Abdruck dieser Äußerung kann ich natürlich nur unter der Bedingung einwilligen daß er unverändert erfolgt“. Angenommen, diese dem Adressaten gestellte Bedingung stand auch in dem Brief, den Geller erhalten hat, dann könnte sie zwar so interpretiert werden, dass der verschol–––––––— 10 11
Vgl. Geller 1912 (Anm. 9), S. 1194. Das handschriftliche Original befindet sich ohne Signatur im Nachlass Frank Wedekind, Monacensia (Stadtbibliothek München).
Brieftextrevisionen in den Digital Humanities
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lene abgeschickte Brief wohl weitgehend dem Wortlaut der Druckfassung entsprochen hat, nachweisbar ist das aber nicht. Die digitale Edition der Korrespondenz Frank Wedekinds verzichtet auf Rekonstruktionen verschollener Dokumente. Sie informiert aber über alle Sachverhalte, die das überlieferte Material auszeichnet. Das betrifft auch die Inhalte und nicht zuletzt auch die Adressaten der Briefe Wedekinds. Die Datenbank informiert biografisch über die Korrespondenzpartner Wedekinds, in diesem Fall über den wenig bekannten Oskar Geller, der wie Wedekind in München lebte, ihn seit langen Jahren kannte, ihn mehrfach interviewte, fotografierte, über ihn schrieb und ihm annähernd freundschaftlich verbunden war. Sie informiert in diesem Fall aber auch darüber, dass Wedekind dem Intendanten Albert von Speidel am 20. September 1911 einen Besuch abgestattet hat, bei dem Zensurfragen zur Debatte standen, der Intendant aber indifferent darauf reagierte, was Wedekind ihn zitierend in einem offenen Brief in den Münchner Neuesten Nachrichten vom 24. September 1911 publik machte.12 Solche Informationen können als Grundlage weitergehender Interpretation genutzt werden, so auch in diesem Fall, in dem Brieftextrevisionen zwar zu konstatieren, aufgrund des verschollenen abgeschickten Briefes aber nicht in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenhang zu rekonstruieren sind. Es gilt zu zeigen, wie Brieftextrevisionen in der Online-Volltextdatenbank der Briefe von und an Frank Wedekind nachvollziehbar gemacht werden. Derzeit werden Unterstreichungen, doppelte Unterstreichungen, Streichungen, mehrfache Streichungen und Einfügungen für die Annotation von Brieftextrevisionen unterstützt. Bei Einfügungen kann die genaue Platzierung miterfasst werden, das heißt, es kann angegeben werden, ob die Einfügung über oder unterhalb der Zeile, auf der Zeile, am Kopf oder Fuß der Seite, am linken oder rechten Seitenrand, auf der Gegenseite oder Rückseite vorgenommen wurde. Die digitale Edition der Korrespondenz Frank Wedekinds ist vollständig webbasiert realisiert. Sowohl die Eingabe als auch die Präsentation und Recherche erfolgten in einem Internet-Browser. Entsprechend gilt das auch für die Erfassung und Darstellung der Brieftextrevisionen. Zunächst soll die Darstellung der Textrevisionen erläutert werden, um anschließend auf das Konzept ihrer Erfassung einzugehen. Soweit technisch möglich, wurde versucht, die Textrevisionen so intuitiv wie möglich zu visualisieren. Streichungen und Unterstreichungen können gut und direkt mit Web-Technologien visualisiert werden. Möglich ist dadurch ein wünschenswert anschaulicher Vergleich zwischen verschiedenen Briefentwürfen oder einem Briefentwurf und dem abgesandten Brief (so im Fall des Beispiels Wedekind an Georg Brandes) oder einem Briefentwurf und einer Druckfassung bei fehlendem abgeschickten Brief (so im Fall des Beispiels Wedekind an Oskar Geller13). Die folgende –––––––— 12 13
Vgl. Frank Wedekind: Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Elke Austermühl, Rolf Kieser und Hartmut Vinçon. Bd. 8. Darmstadt 2003, S. 621f. Dieses Beispiel ist noch nicht in der Beta-Version der Datenbank verfügbar.
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Ariane Martin / Uta Störl
Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus dem oben erläuterten Briefentwurf an Georg Brandes auf der linken und dem abgesandten Brief auf der rechten Seite:
Abb. 1: Gegenüberstellung von Briefentwurf (linke Seite) und abgesandtem Brief (rechte Seite) in der digitalen Edition
Einfügungen werden durch {} begrenzt. Wie bereits erläutert, wird die genaue Platzierung der Einfügung ebenfalls erfasst. Der Benutzer kann sich diese Informationen in Mouseover-Boxen anzeigen lassen. Dabei ist es auch möglich, mehrere Revisionen, welche den gleichen Textabschnitt betreffen, anzuzeigen. Nachstehende Abbildung verdeutlicht dies auf der linken Seite anhand einer Einfügung und Streichung des gleichen Wortes:
Abb. 2: Markierung von mehreren Revisionen (hier Einfügung und Streichung) des gleichen Wortes in der digitalen Edition. Rechts das Faksimile des Briefes zum Vergleich
Brieftextrevisionen in den Digital Humanities
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In dieser Abbildung ist darüber hinaus auf der rechten Seite zu sehen, dass das zugehörige Faksimile zum Vergleich ebenfalls dargestellt werden kann. Der grundsätzlich zweispaltige Aufbau der Präsentationsebene der Online-Volltextdatenbank der Briefe von und an Frank Wedekind unterstützt solche Vergleiche und damit die Analyse von Textrevisionen sehr gut. Basisinformationen über die Textgenese sind so auf einen Blick sichtbar. Ein weiterer Aspekt ist von besonderem Interesse: Um die langlebige elektronische Nutzbarkeit und Austauschbarkeit der digitalen Objekte zu sichern, wird auch in diesem Projekt der inzwischen etablierte XML-Standard TEI14 genutzt. Dementsprechend werden auch die Textrevisionen in TEI kodiert und können in der zweispaltigen Ansicht bei Bedarf ebenfalls angezeigt werden. Zur digitalen Erfassung der Briefe in TEI existiert inzwischen eine ganze Reihe von Tools oder Infrastrukturen. Allen diesen Werkzeugen ist allerdings gemeinsam, dass sie detaillierte Kenntnisse von TEI voraussetzen. Auch in Ansätzen, in denen der Nutzer oder die Nutzerin durch Reduktion auf in diesem Kontext valide TEIAuszeichnungen unterstützt wird – wie beispielsweise im angepassten oXygen XML-Editor, im Eclipse-basierten XML-Editor des TextGrid Laboratory oder dem webbasierten TEI-XML-Editor ANGLES (Maryland Institute for Technology in the Humanities) – ist immer eine Bearbeitung der Dokumente auf der Ebene der expliziten XML-Auszeichnung erforderlich. Dies erfordert spezielle Schulung und Einarbeitung der fachwissenschaftlichen Anwender oder Anwenderinnen und ist gerade für kleinere Arbeitsgruppen häufig nicht realisierbar. Hier besteht also ein klarer Bedarf für Ansätze mit einer besseren Usability. Im Rahmen des Projekts der digitalen Edition der Korrespondenz Frank Wedekinds wurde deshalb ein webbasierter WYSIWYG-Editor15 für TEI prototypisch entwickelt. Nach unserem Kenntnisstand ist ein vergleichbarer Editor derzeit nicht auf dem Markt verfügbar. Die nachstehende Abbildung vermittelt einen kleinen Eindruck zur Handhabung des webbasierten WYSIWYG-Editors für TEI. Textformatierungsangaben (kursiv, hochgestellt etc.) können ebenso wie Kommentierungen (Einzelstellenerläuterungen), Angaben zum Zustand des Dokuments (Wasserschaden etc.) und Auszeichnungen von Personen, Orten, Werktiteln etc. mit der Maus markiert und anschließend per Schaltfläche ausgewählt werden. Auf diese Weise werden auch die Textrevisionen (Unterstreichungen, doppelte Unterstreichungen, Streichungen, mehrfache Streichungen und Einfügungen) erfasst und annotiert:
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Vgl. TEI Consortium. Text Encoding Initiative: http://www.tei-c.org/Guidelines/P5/ (04.01.2017). WYSIWYG steht für What You See Is What You Get.
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Ariane Martin / Uta Störl
Abb. 3: Beispiele für Annotationen im WYSIWYG-Editor für TEI der digitalen Edition
Brieftextrevisionen sind so in der Online-Volltextdatenbank der Briefe von und an Frank Wedekind auch in der Eingabe komfortabel zu kennzeichnen, ein für Editionsprojekte in der Praxis ebenso maßgeblicher Gesichtspunkt wie der benutzerfreundliche Zugang zu den digital edierten Korrespondenzstücken auf Seiten der Rezeption.
Markus Ender
„In der Tat macht es ja genügt ja schon dieses ein Wort...“ Zum Umgang mit Textrevisionen in der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers
1. Vorbemerkung Ludwig von Ficker (1880–1967) war aufgrund seiner Profession als Publizist, Verleger, Juror, Künstler-Mäzen und Herausgeber der Innsbrucker Kunst- und Kulturzeitschrift Der Brenner ein ebenso umtriebiger wie produktiver Briefschreiber. Zwar lässt sich die Aussage Fickers, „es sollen an die dreißigtausend [Briefe] herum sein, die ich Idiot in meinem Leben geschrieben habe und die sich, ‚horribile dictu‘, erhalten haben“1, heute nicht mehr verifizieren; die etwas mehr als 17.000 in seinem Nachlass im Innsbrucker Brenner-Archiv sowie in diversen Archiven erhalten gebliebenen Korrespondenzstücke von und an den Brenner-Herausgeber stellen dennoch ein beeindruckend umfangreiches Konvolut und Zeugnis einer arbeitsintensiven Lebenstätigkeit dar. Im selben Maß wie durch Produktivität zeichnete sich Ficker beim Schreiben auch durch seine Gewissenhaftigkeit aus. Er achtete mit größter Sorgfalt darauf, dass in seinen Schriftstücken ausnahmslos jede Formulierung der von ihm anvisierten Wirkungsabsicht entsprach. Dem streng normativen Verständnis des Brenner-Herausgebers zufolge musste ein Brief ein geschlossenes Ganzes ergeben, dessen intendierte Wirkung genau kalkuliert war. Ficker versuchte, soweit es ihm möglich war, durch stringente Konzeption die Gefahr einer inhaltlichen Fehlinterpretation beim Briefempfänger zu minimieren. Ein solches Verhalten ließe sich schnell als Ausprägung einer übersteigerten Pedanterie interpretieren; im Grunde verfolgte Ficker mit der Herstellung von formaler wie auch inhaltlicher Kohärenz in seinen Briefen aber ein konkretes Ziel: Das Hauptgewicht seiner Tätigkeit als Kulturvermittler lag auf der brieflichen Kontaktnahme und -pflege, entsprechend wichtig waren ihm gefällig abgefasste Schriftstücke. Die Briefe Fickers spiegeln wider, dass er seine Schriftstücke als Visitenkarte und Ausdruck seiner Persönlichkeit verstanden wissen wollte. Was die formale und inhaltliche Harmonie der Korrespondenz allerdings nicht preisgibt, ist die Tatsache, dass der Reinschrift vieler Korrespondenzstücke eine Anzahl Notizen und Entwürfe vorausgegangen ist. Ficker hatte die Eigenart, bei seinen Briefen – ähnlich den Manuskripten – an praktisch jeder Formulierung mehrfach zu feilen und zum Teil ganze Passagen zu revidieren, neu zu verfassen, diese wiederum zu revidieren und so fort. –––––––— 1
Ludwig von Ficker an Johann Weisl, 02.12.1966. Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck (folgend mit BA abgekürzt), Kopiensammlung Korrespondenz Ludwig von Ficker.
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Markus Ender
Anhand der Notizen und Entwurfstufen lässt sich nachzeichnen, auf welche Weise Ficker seine Texte revidiert hat: Er verfasste in der Regel einen ersten handschriftlichen Entwurf, unterzog diesen einer Revision und ergänzte gestrichene Passagen mit einer neuen Formulierung, welche er in den Zeilenzwischenraum einfügte. Auf vielen Notizblättern ist zudem zu beobachten, dass die Interlinearkorrekturen nochmals berichtigt wurden. Im Regelfall bestand die Revision in einer inhaltlichen Anreicherung des ursprünglichen Textes mit Attributen bzw. präpositionalen Fügungen,2 sodass Ficker mit jedem Revisionsschritt komplexere Satzstrukturen erzeugte. Die korrigierte Form wurde in Reinschrift gebracht bzw. davon ein Typoskript samt Durchschlag angefertigt und, je nach Relevanz, die Ficker der Korrespondenz beimaß, ein weiteres Mal revidiert. Obwohl er selbst nie die Veröffentlichung seiner Briefe in Betracht gezogen hatte, sah sich Ficker ab den 1960er Jahren mit ebensolchen Bestrebungen konfrontiert, zunächst im Rahmen der im Kösel-Verlag besorgten Edition der Werke und Briefe des 1931 verstorbenen Philosophen Ferdinand Ebner.3 Am 24. März 1963 schrieb Ficker an den Herausgeber Franz Seyr: Mit Freude vernehme ich, daß auch die Edition des zweiten Bandes schon für den Herbst in Aussicht steht. Selbstverständlich können Sie, falls ein Briefband zustande kommt, Briefe von mir ganz nach Gutdünken verwenden. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob sie für mich mehr oder weniger blamabel sind. Wie ich Sie auch bitten möchte, was sich in Briefen anderer gegen mich und meine Unzulänglichkeiten gekehrt haben dürfte, ohne weiteres abzudrucken.4
So schonungslos, wie es Ficker verlangte, verfuhren die Herausgeber des Briefwechsels aber letztlich doch nicht. Eher war das Gegenteil der Fall: Fickers Briefe wurden mit großer Ehrfurcht behandelt und gleichsam als Kleinodien dieser Korrespondenz angesehen. Entsprechendes Augenmerk wurde auf die ‚korrekte‘ Edition dieser Briefe gelegt, was bedeutete, dass nur eine Auswahl von Texten in den Briefband aufgenommen wurde, die zudem zum Teil inhaltlich geglättet sowie formal normalisiert worden ist. Dieses Arbeitsprinzip wurde im Wesentlichen für die vierbändige Ausgabe von Fickers Briefen, die ab 1964 konzipiert wurde und von 1986 bis 1996 im Salzburger Otto Müller Verlag (Band 1) bzw. im Innsbrucker Haymon Verlag (Bände 2– 4) erschien,5 übernommen. Die von 2012–2015 und ab Juli 2016 im Rahmen zweier FWF-Forschungsprojekte6 im Entstehen begriffene kommentierte Online-Edition des –––––––— 2
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Vgl. Margit Riml: Parallelkonstruktionen als Mittel der Konstituierung von Langsätzen im Sprachstil Ludwig von Fickers. In: Untersuchungen zum „Brenner“. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Walter Methlagl, Eberhard Sauermann, Sigurd Paul Scheichl. Salzburg 1981, S. 130–146. Ferdinand Ebner: Schriften. 3 Bde. München 1963ff. Ludwig von Ficker an Franz Seyr, 24.05.1963. BA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 59/95-3. Ludwig von Ficker: Briefwechsel. 4 Bde. Hrsg. von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. Salzburg 1986/Innsbruck 1988ff. FWF-Forschungsprojekt „Ludwig von Ficker als Kulturvermittler“ (P24283-G23); Leitung: Ao. Univ. Prof. Mag. Dr. Eberhard Sauermann; FWF-Forschungsprojekt „Ludwig von Ficker: Kommentierte Online-Briefedition und Monografie“ (P29070); Leitung: Univ. Prof. Dr. Ulrike Tanzer.
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Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers soll nun eine Änderung in dieser Vorgehensweise bringen.
2. Briefedition und Textrevision Theoretische Überblicksdarstellungen zur Textsorte ‚Brief‘ scheinen eine klar definierte und nachvollziehbare Phänomenologie zu liefern, worin das Wesen der brieflichen Kommunikation besteht: Es handelt sich dabei um eine „Alternation räumlich und zeitlich getrennter, aber dennoch aufeinander bezogener Kommunikationsvorgänge“7 bzw. „um einen kommunikativen Vorgang, der zwischen konkreten historisch kenntlich gemachten Individuen – die Emittenten und/oder Rezipienten sind – realisiert wird.“8 Dass briefliche Kommunikation definitionsgemäß auf Realisation abzielt, impliziert zweierlei: Zum einen wird damit der Anspruch von Vollständigkeit und Abgeschlossenheit erhoben, zum anderen die Dialogizität und Reziprozität des kommunikativen Prozesses betont. Von einem solchen Idealfall ausgehend, sprechen durchaus Gründe dafür, dass Briefe und Gegenbriefe in jener Textgestalt ediert werden, in der sie von den jeweiligen Empfängern gesendet und empfangen worden sind. Briefkonventionen, die sich z. T. über Jahrhunderte herausgebildet hatten, führten dazu, dass Korrespondenzpartner bis weit ins 20. Jahrhundert wechselseitig davon ausgehen konnten, dass die formalen ebenso wie die inhaltlichen Dimensionen von Privat- wie Geschäftsbriefen als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit – und damit in weiterer Folge auch der (ökonomischen) Integrität – der Emittenten verstanden wurden. Das Bemühen der Briefschreiber lief mithin darauf hinaus, ihre Schriftstücke möglichst gefällig, d. h. ohne sichtbare Veränderungen wie Tilgungen, Überschreibungen, Ergänzungen am Blattrand oder Ähnliches gestaltet zu wissen. Immerhin musste stets damit gerechnet werden, dass private Briefe auch weitergesendet, verschenkt, öffentlich vorgelesen oder in diversen Medien publiziert wurden.9 Durch die Brille des Editors gesehen, erscheint es aber zu kurz gegriffen, lediglich auf die Realisation der Kommunikation zu achten. Immerhin beschreibt der briefliche Austausch einen Prozess, der nicht erst mit der Niederschrift des Brieftexts beginnt. Ein genauerer Blick auf einen umfangreichen Briefwechsel wie jenen Ludwig von Fickers illustriert, dass reziproke Kommunikation zwischen Sendern und Empfängern zwar den Idealfall darstellen mag, dieser aber aus der Perspektive des Editors im Grunde eine Verknappung bedeutet. Was die Definitionen zu wenig prägnant hervorheben, ist das Zusammenspiel zwischen den materiellen und immateriellen Faktoren der brieflichen Kommunikation: Die inhaltliche Information und der Brief in seiner –––––––— 7 8 9
Wolfgang O. Müller: Der Brief. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Hrsg. von Klaus Weissenberger. Tübingen 1985, S. 67–87, hier 72. Reinhard M. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 9. Die Praxis, Korrespondenzstücke an Dritte weiterzugeben und deren Inhalt zu veröffentlichen, ohne das Einverständnis der Emittenten abzuwarten, wurde auch von Ludwig von Ficker gepflegt; vgl. Walter Methlagl: Um den Briefwechsel Ludwig von Fickers. In: „Ich an Dich“. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hrsg. von Werner M. Bauer, Johannes John, Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 2001, S. 217–228, hier 217f.
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Medialität sollten für eine adäquate editorische Bearbeitung, einer Definition Niklas Luhmanns folgend, welcher „Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen“10 auffasst, als voneinander getrennte Ontologien betrachtet werden. Die digitale Edition der Briefe Ludwig von Fickers kann zwar nicht alle drei Faktoren gleichermaßen bedienen, da sie aufgrund ihrer spezifischen Heuristik stark auf die Reproduktion der textuellen Ebene der Briefe ausgerichtet ist, wodurch die Medialität in den Hintergrund rückt. Hinsichtlich der Verflechtung von Inhalt und Mitteilung wird aber in dem Bewusstsein gearbeitet, dass durch die Möglichkeit, über Textrevisionen die genetische Dimension der Briefe nachzuzeichnen, die ihnen zugrunde liegenden prozessoralen Faktoren der Kommunikation aufgeschlüsselt werden können. Die zentrale Vorgabe für die Arbeiten an der digitalen Edition bestand darin, dass zwar als Dateistandard XML bzw. TEI11 zur Anwendung kommt, sämtliche textphilologischen Schritte (Transkription, Annotation, Kommentar) aber von den Mitarbeitern durchgeführt werden können, ohne dass die Oberfläche von MS Word verlassen werden muss. Diese Prämissen führen zu einem spezifischen Workflow, bei dem die eigentliche Datenmodellierung im Hintergrund mittels einer auf Apache Camel basierenden Konvertierungsengine läuft. Unter Anwendung eines XSLT-Stylesheets12 werden von ihr die *.docx-Dateien in XML/TEI-Elemente umgewandelt, nachdem die Dateien in einem zentralen Repository abgespeichert worden sind.13 Dieses Arbeitsprinzip hat allerdings nachhaltige Auswirkungen auf die editorische Methodik. Im Fall der digitalen Briefedition wurde zugunsten der automatisierten XML/TEI-Codierung z. B. auf eine diplomatische Umschrift weitgehend verzichtet; eine solche wäre zwar grundsätzlich auch mit den zur Anwendung kommenden Instrumentarien technisch umsetzbar, sie hätte aber den Zeitgewinn und die Effizienz, die aus der programmgestützten Dateikonvertierung resultieren, größtenteils wieder relativiert bzw. nivelliert. Trotz eines neuen methodischen Ansatzes war die bisherige textkritische Arbeit an der digitalen Edition hauptsächlich aus ökonomischen, personalen und zeitlichen Gründen noch stark am Vorbild der gedruckten Edition ausgerichtet, die sich an den tatsächlich gelaufenen Briefdokumenten orientierte. Nur in jenen Fällen, in denen sich keine Korrespondenzstücke mehr ausmachen lassen konnten, diese aber für das grundlegende Verständnis des Briefwechsels von Bedeutung waren, wurde, sofern vorhanden, auf die jeweils letzten Entwürfe zurückgegriffen. Dabei wurde eine textkritisch normalisierte Fassung erstellt, die bei handschriftlichen Entwürfen den Versuch einer Annäherung an die letztgültige Textgestalt darstellt bzw. sich im Falle von –––––––— 10 11 12 13
Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main 1987, S. 203. TEI Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange; URL: http://www.tei-c.org/Guidelines/ P5/ (15.07.2016). URL: https://github.com/TEIC/Stylesheets (15.07.2016). Für eine detaillierte Beschreibung des Workflows vgl. Markus Ender: Zum Mehrwert der kommentierten Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers. In: Thomas Bein (Hrsg.): Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Berlin/Boston 2015 (Beihefte zu editio. 39), S. 35–46.
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überlieferten Typoskriptdurchschlägen als Rekonstruktion gestaltet, die mit den gelaufenen Briefen annähernd zur Deckung gebracht werden kann. Der Begriff Textrevision bezeichnet folglich all jene textuellen Phänomene, die auftraten, wenn seitens des Emittenten aufgrund kontrollierender Lektüreprozesse vor dem Versenden einzelne Wörter oder Passagen des Brieftextes in wesentlichem Maße, d. h. über rein grammatikalische Korrekturen hinaus, abgeändert wurden. Revisionsphänomene waren deshalb nur insoweit interessant, als sie in außergewöhnlicher Form festzustellen waren. Die Vorgabe bestand darin, dass eine Revision nur dann im edierten Text ausgewiesen werden sollte, wenn damit eine wesentliche Änderung in der Semantik der Aussage einherging. Eingriffe, die keine semantische Verschiebung zur Folge hatten, wie z. B. Korrekturen einzelner Buchstaben oder bedeutungsähnlicher Wörter, unterlagen hingegen einer stillschweigenden Emendation. In der relativen Unschärfe, aufgrund welcher Kriterien eine ‚wesentliche‘ von einer ‚unwesentlichen‘ Änderung unterschieden werden soll, findet sich schließlich auch der grundsätzliche Problembereich begründet: Die Entscheidung darüber, welcher Revisionsprozess im Text die Semantik der Aussage wie weit verändert hat, obliegt stets der subjektiven Einschätzung des Editors. Dieser greift damit dem Rezipienten voraus, indem er einen interpretatorischen Prozess vollzieht bzw. diesen durch sein Vorgehen unter Umständen in eine bestimmte Richtung lenkt. Um solche Unschärfen in Hinkunft vermeiden zu können, werden sämtliche greifbaren Notizen und Briefentwürfe in der im Entstehen begriffenen Online-Edition in Form von digitalen Bildern zur Veröffentlichung kommen. Die vollständige Integration von Dokumenten, die Textrevisionsphänomene ausweisen, bietet den Vorteil, dass inhaltliche Lücken im Briefwechsel geschlossen werden, denn so manches Detail, das zwar in einem Entwurf zu finden ist, in den folgenden Revisionen oder in der endgültigen Version jedoch gestrichen wurde, vermag komplexe Sachverhalte und Beziehungsgeflechte eher zu erklären, als es ohne diese Zusatzinformation der Fall wäre. Auf diese Weise wird es der (nicht nur philologischen) Forschung in Zukunft möglich sein, im Briefwechsel leichter jene kulturhistorischen und biografischen Kontexte zu erhellen, die bisher ohne die Kenntnis der Inhalte der relevanten Korrespondenzen zum Teil nur schwer bzw. überhaupt nicht nachzuvollziehen waren. Ein Überblick über den Briefwechsel zeigt, dass das Phänomen der Textrevision von Fickers Hand im Wesentlichen unter folgenden Bedingungen auftritt: a) Revisionsprozesse lassen sich in den Korrespondenzen Ludwig von Fickers bevorzugt in Briefvorstufen wie Notizen und Entwürfen beobachten. Revidierte Passagen in gelaufenen Briefen sind demgegenüber selten und betreffen vor allem letzte Korrekturen von fehlerhaft aus dem Entwurf bzw. den Entwürfen übertragenen Wörtern bzw. Satzteilen. b) Ficker revidierte seine Briefe zwar im Regelfall ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung seines Gegenübers; stand er aber in einer Nahebeziehung zu Korrespondenzpartnern, die, wie z. B. im Falle Martin Heideggers oder Theodor W. Adornos, breiten öffentlichen Bekanntheitsgrad erreicht hatten, geschah dies mit besonderem Aufwand.
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c) Revisionen finden sich auch gehäuft in jenen Briefen, in denen Ficker Wertungen zum Ausdruck bringen sollte. Er wurde ab den 1950er Jahren aufgrund seiner Expertise immer wieder von offizieller Seite gebeten, als Juror für diverse Literaturpreise tätig zu werden. Zu Stellungnahmen dieser Art finden sich Entwürfe im Nachlass, die mehrfache Überarbeitungen aufweisen. d) Ficker bezeichnete sich selbst als unpolitischen Menschen und vermied es stets, zu politischen Fragen öffentlich und explizit Stellung zu nehmen. In den seltenen Fällen, in denen ein Korrespondenzpartner versuchte, ihm diesbezüglich eine briefliche Aussage abzuringen, brauchte er in der Regel mehrere Anläufe, bis seine Absage in einer Art und Weise ausformuliert war, die ihm zusagte. Günther Anders musste beispielsweise im Jänner 1966 vergeblich auf eine positive Antwort auf seine Bitte warten, Fickers Namen für eine Petition gegen den Vietnamkrieg verwenden zu dürfen.14 Ficker änderte bei der Konzeption seine Meinung, sodass die Zusage des ersten Entwurfs letztlich zu einer Absage wurde.15 e) Schließlich können in den Briefen vor allem dann gehäuft Revisionsphänomene festgestellt werden, wenn es zu – wie auch immer gearteten – medialen Angriffen qua Brief oder durch die Presse kam, die Ficker bzw. jemand in seinem näheren Umfeld zu gewärtigen hatte. Daneben existieren einige Korrespondenzstücke im Nachlass, in denen sich Revisionen von fremder Hand feststellen lassen. Hierbei haben – zumeist in der Konsolidierungsphase der gedruckten vierbändigen Briefedition (1964–1988) – sowohl die Herausgeber der Briefausgabe als auch die Emittenten in die Texte eingegriffen.
3. Revisionen von eigener und fremder Hand Zwei Beispiele aus dem Briefwechsel Fickers geben einen repräsentativen Einblick in die Textrevisionen von Fickers bzw. fremder Hand; zudem lassen sich an ihnen die Schwierigkeiten adäquater editorischer Wiedergabe aufzeigen, vor allem wenn sie die materielle Dimension mancher Briefe im Gesamtbriefwechsel betrifft. Am 2. Juni 1926 übersandte Ludwig von Ficker ein Schreiben an Alfred Rosenberg, den Redakteur des Völkischen Beobachters. Das Original dieses Briefes ist leider verschollen, er ist aber in Form eines handschriftlichen Konzeptbogens (K) und zweier handschriftlich revidierter Typoskripte (E1, E2) erhalten geblieben.16 Der Schreibanlass kann die Motivation erklären, die hinter den mehrfachen Revisionen in den Entwurfstufen dieses Briefes gestanden haben muss. Im Frühjahr 1926 war Paula Schliers17 Erstlingsroman Petras Aufzeichnungen oder das Konzept einer –––––––— 14 15 16 17
Vgl. Günther Anders an Ludwig von Ficker, 01.02.1966. In: Ficker: Briefwechsel (Anm. 5), Bd. 4, S. 397ff. Vgl. ebd., S. 600ff. Ludwig von Ficker an Alfred Rosenberg, 02.06.1926. BA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 60/70. Die Ingolstädter Autorin Paula Schlier war im Frühjahr 1925 wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Weimarer Republik auf der Suche nach Beschäftigung nach Innsbruck gekommen und auch im Brenner-Verlag vorstellig geworden. Nach anfänglicher Ablehnung entschied sich Ficker schließlich dazu, Schlier zu beschäftigen und ihr im Brenner Raum für ihre literarische Produktion zu geben, weil er in ihr ein weibliches ingenium erkannt zu haben glaubte. Aus dem ökonomischen Verhältnis ent-
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Jugend nach dem Diktat der Zeit18 im Brenner-Verlag erschienen. Der Roman kam zu einiger Publikumswirksamkeit und wurde unter anderem auch vom Völkischen Beobachter mit einer Rezension bedacht, die allerdings nicht zur Zufriedenheit von Autorin und Verleger ausfiel, da das Buch in der mit „Aus der Froschperspektive. Auch eine Buchbesprechung“19 betitelten Besprechung massiv verrissen wurde. Der Grund für diese ablehnende Haltung lag auf der Hand: Schlier hatte im Herbst 1923 einige Monate in der Redaktion des Völkischen Beobachters als Stenotypistin gearbeitet und dabei nähere Einblicke in die „Redaktion der Patrioten“, so auch die Überschrift des siebten Kapitels des Buches, gewinnen können. Es wäre noch angegangen, dass Schlier in ihrem Roman nicht mit Kritik an den Vorgängen in der Redaktion sparte, doch die Münchener Post veröffentlichte das Romankapitel und löste ohne das Wissen Fickers bzw. Schliers die chiffrierten Namen auf. Als Reaktion konterten die solcherart Angegriffenen um Rosenberg mit einem Rezensionspamphlet, das auf bewusste Diskreditierung der Autorin abzielte. Sowohl die Ablehnung von Schlier als Autorin und Persönlichkeit als auch der provokante Ton der NS-Apologeten, durch den sich auch er als Verleger angesprochen fühlte, erzeugten bei Ficker offensichtlich derart starke Affektionen, dass er sich zur Abfassung vorliegender Reaktion berufen gesehen haben musste. Hinzu kam, dass er das Gebaren der Nationalsozialisten bereits in den 1920er Jahren strikt abgelehnt hatte (wiewohl er sich in den 1930er Jahren in gewisser Weise für die Ideen des österreichischen Ständestaats begeistern konnte). Welche Bedeutung Ficker diesem Schreiben beigemessen hatte, illustriert nicht nur der Umstand, dass von diesem Brief drei Entwurfstufen existieren; vielmehr sticht die Tatsache ins Auge, dass er seine gängige Praxis, Textrevisionen durch handschriftliche Streichungen und Ergänzungen einzelner Wörter bzw. ganzer Satzpassagen vorzunehmen, um eine zusätzliche Dimension erweitert hat. An diesem Dokument fällt auf, dass er nicht nur einen bereits in Reinschrift gebrachten Typoskriptdurchschlag (E1) einer nochmaligen Revision unterzog und einige Stellen radikal veränderte – diese Vorgehensweise wäre die gängige und öfter zu beobachtende gewesen –, sondern dass er zudem eine ganze Passage des Textes überklebte und neu beschrieb. Im Prinzip finden sich in diesem Dokument die meisten der zuvor genannten Bedingungen für die Textrevision vereint, nämlich auf inhaltlicher Seite die politische Dimension, der Angriff auf seine Person, die kritische Wertung (die freilich im negativen Sinne und weniger auf den literarischen Text als auf die Person Schliers abzielte) sowie die persönliche Nahebeziehung Fickers zu Schlier. Die Entwürfe weichen im Vergleich zum Teil erheblich voneinander ab – vielfach in der Semantik –––––––—
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wickelte sich relativ schnell ein amouröses – sehr zum Missfallen der meisten seiner Mitarbeiter, die sich daraufhin zu einem großen Teil von Ficker zu distanzieren begannen. Für die Textüberlieferung bedeutete diese Liaison einen Glücksfall, da Ficker Schlier zu einer Hauptmitarbeiterin des Brenner machte und der Briefwechsel zwischen Ficker und Schlier quantitativ mit Abstand der größte ist (ca. 880 Briefe von Ficker und ca. 340 Korrespondenzstücke von Schlier), der im Nachlass Fickers erhalten geblieben ist. Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen oder das Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Innsbruck 1926. In: Völkischer Beobachter, Jg. 39, Nr. 122; ein Abdruck der Rezension findet sich in: Ficker: Briefwechsel, Bd. 3 (Anm. 5), S. 357.
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einzelner Wörter, die von Ficker ausgetauscht wurden, manchmal kommt es aber auch zu einer Bedeutungsverschiebung ganzer Passagen, die er gestrichen und in veränderter Formulierung abgefasst hat. Neben den Revisionen von Fickers Hand finden sich im Briefwechsel Ficker–Schlier auch eindrückliche Beispiele dafür, wie Texteingriffe von fremder Hand, die z. T. auf Idiosynkrasien zurückzuführen sind, auf die textkritische Arbeit der digitalen Edition wirken bzw. diese wegen des destruktiven Einflusses auf die Originaldokumente unter Umständen sogar erheblich erschweren können. Wegen der Verehrung, die Schlier Ficker zeitlebens entgegenbrachte, wachte sie stets auch darüber, dass Fickers Bild in der Öffentlichkeit nicht getrübt wurde. Im Rahmen der ab 1964 laufenden Vorbereitungen für die gedruckte Briefausgabe begann Schlier deshalb, von eigener Hand Randanmerkungen in ‚ihre‘ Briefe Ludwig von Fickers einzutragen, sie zudem mit Kommentaren zu versehen und an Stellen, die sie als zu persönlich bzw. nicht für die Öffentlichkeit bestimmt interpretierte, Revisionen vorzunehmen, d. h. Wörter oder Textpassagen eigenmächtig zu streichen oder unkenntlich zu machen. Diese Vorgehensweise wirkte sich nur unwesentlich auf die gedruckte Briefausgabe aus, da aufgrund ihrer persönlichen Vorbehalte ohnehin nur ein sehr geringer Teil der Briefe (24 von Ficker an Schlier) publiziert wurde. Die digitale Edition, die diesen Beschränkungen nicht mehr unterworfen ist und in die sämtliche Korrespondenzstücke integriert werden, muss diesen nachträglichen Eingriffen in den Brieftext allerdings adäquat begegnen. Viele der Briefe weisen textrevisionistische Phänomene auf, deren Sichtung, Kennzeichnung, adäquate Übertragung in die digitale Edition sowie Kommentierung für die editorische Arbeit insbesondere deshalb ein Problem bedeuten, weil wir es mit Eingriffen (mindestens) beider Korrespondenzpartner zu tun haben. Erschwerend kommt hinzu, dass in manchen Fällen kaum nachvollziehbar ist, ob eine Revision von Fickers oder von fremder Hand durchgeführt wurde. Ein Ausschnitt aus dem Brief Fickers an Schlier vom 28. April 192720 illustriert diese Problematik. Die textkritische Herausforderung liegt bei dieser Passage vor allem im Umstand begründet, dass insgesamt drei Bearbeitungen erfolgt sind. In einem ersten Schritt hat Ficker eine Revision vorgenommen, indem er einen für ihn in der Re-Lektüre offenbar nicht mehr vertretbaren Satz mit blauem Farbstift durchgestrichen und am Rand eine Notiz platziert hat. Solche Stellen finden sich nicht nur im Schlier-Briefwechsel, sondern in einigen Dutzend Briefdokumenten, da Ficker bevorzugt für ihn relevante Briefpassagen in eigenen oder empfangenen Briefen mit rotem oder blauem Farbstift entweder getilgt oder emphasiert hat, vermutlich aus dem Grund, um sich schnell in einem Konvolut orientieren zu können. In der digitalen Edition ist ein solcher Eingriff in den Text mittels der Werkzeuge, die MS Word standardmäßig liefert, leicht zu kennzeichnen und kann zudem mit einem entsprechenden Kommentar versehen werden. Das eigentliche Problem offenbarte sich erst nach näherer Untersuchung, die zeigte, dass diese Tilgung mehrfach –––––––— 20
Ludwig von Ficker an Paula Schlier, 28.04.1927. BA, Nachlass Paula Schlier, Sign. 117-008-004-038.
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ausgeführt worden war. Der Satz samt Randbemerkung wurde zu einem späteren Zeitpunkt von fremder Hand erneut und ungewöhnlich intensiv mit Kugelschreiber überarbeitet, sodass die Notiz, die zuvor bereits zumindest teilweise verderbt gewesen sein musste, nun endgültig unkenntlich gemacht wurde. Ficker verwendete nur in den seltensten Fällen Kugelschreiber (der Ende der 1920er Jahre noch gar nicht erfunden war!), sodass der Verdacht kaum von der Hand zu weisen ist, dass es Paula Schlier selbst war, die ex post eingegriffen hat, um die Stelle (im Unterschied zu Fickers Markierung) nachhaltig unlesbar zu machen.21 Schlier vermerkte zudem, fast schon entschuldigend, mit rotem Kugelschreiber eigenhändig auf dem linken Blattrand: „von ihm selbst durchgestrichen“. Ein letztes Indiz liefert eine weitere, auf demselben Blatt verso von Ficker eigenhändig vorgenommene Streichung einer Briefpassage samt beigefügtem Kommentar, in welchem er expressis verbis darauf hinwies, die solcherart markierte Stelle möge im Zuge der Lektüre von Schlier tunlichst ignoriert werden. Er kommentierte mit den Worten: „Pfui! Sentimental! Wie gemein! Nicht beachten, Petra!“;22 im Vergleich zur Passage recto fehlt hier jedoch der viel nachdrücklichere Tilgungsversuch mittels Kugelschreiber. Schlier hat ihre Tilgung allerdings nur unzureichend ausgeführt, denn mit Hilfe moderner Bildbearbeitung lässt sich am digitalen Faksimile der Farbumfang so weit verändern, dass der Fickersche Passus im Originalwortlaut wieder erkennbar wird. Er lautet: „O Bitterkeit, daß mir verwehrt ist, Dich noch in meinem Arm zu wiegen!“ Die inhaltliche Intimität der Aussage, die Schlier auch nach Jahrzehnten noch die moralische Problematik ihrer Beziehung zum Ehemann und Familienvater Ludwig von Ficker vor Augen geführt haben muss, erhärtet den Verdacht, dass sie hier den Versuch einer Tilgung der Stelle unternommen hat.
4. Revisionen in der technischen Umsetzung Die Beispiele demonstrieren, dass es notwendig ist, auch Notizen und Entwürfe in der digitalen Edition zu berücksichtigen, da dadurch den Rezipienten im Gegensatz zur gedruckten vierbändigen Briefausgabe ein wesentlich breiteres Instrumentarium für die kulturwissenschaftliche Forschung in die Hand gegeben werden kann. Die Integration sämtlicher Entwurfstufen in die Edition wirkt sich dabei auf mehrere Funktionsbereiche aus: Die Entwürfe dienen in erster Linie gleichsam als Substitut zum nicht mehr greifbaren Brief, außerdem bieten sie in einer Synopse breitere Anhaltspunkte zur weiteren inhaltlichen Orientierung, insbesondere in jenen Fällen, in denen –––––––— 21
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Der Verdacht erhärtet sich unter anderem auch deshalb, weil sie diese Vorgehensweise an einem bestimmten Passus wiederholt hat, der sich in zwei anderen Briefen Fickers vom 17.08.1941 bzw. vom 31.08.1941 (BA, Nachlass Paula Schlier, Sign. 117-008-015-012 bzw. Sign. 117-008-015-014) findet; beide Male wurde im Nachhinein aus der Phrase „den ganzen Menschen, den man auf Erden ‚Paula Schlier‘ genannt hatte“ das Wort „ganzen“ von fremder – Schliers – Hand mit Kugelschreiber zu tilgen versucht. Ficker sprach Schlier in seinen Briefen stets mit „Petra“ an; zum einen ist dies auf den Titel ihres Erstlingsromans zurückzuführen (vgl. Anm. 18), zum anderen reflektiert der Name durch die Referenz auf Mt 16,18 („Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“) Fickers Vorstellung vom weiblichen Ingenium.
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kaum Korrespondenzstücke erhalten geblieben sind. Überdies werden dadurch Fragen der Textgenese erhellt, die bisher nur unzureichend beantwortet werden konnten, die für die Arbeitsweise Ludwig von Fickers aber durchaus konstitutiv sind. Wie bereits umrissen, gründet der technische Workflow der Arbeit an der digitalen Online-Edition des Gesamtbriefwechsels auf der im Vorgängerprojekt getroffenen Entscheidung, dass es einem kleinen wissenschaftlichen Projektteam inklusive studentischer und ehrenamtlicher Hilfskräfte möglich sein muss, auch große Datenmengen zu bearbeiten, ohne dabei aufwändige Programmierarbeiten erledigen zu müssen bzw. ohne überhaupt auf Programmierkenntnisse angewiesen zu sein. Dieses Arbeitsprinzip wird auch im laufenden Projekt beibehalten werden, da die programmgestützte Konvertierung mittels XSLT-Stylesheet für den größten Teil des Briefwechsels, also für jene Briefe, die ohne komplexe Textrevisionen wie z. B. mehrfache Ergänzungen oder Überschreibungen geblieben sind, weitgehend reibungslos funktioniert. Der größte Teil der Dokumente bleibt somit von der Problematik, auf welche Weise Revisionen in der digitalen Edition adäquat gekennzeichnet, annotiert und codiert werden sollen, unberührt. Dasselbe gilt für einfache Streichungen im Brieftext, diese können mittels des -Befehls ausgewiesen werden, allfällige Ergänzungen folgen im Fließtext unmittelbar auf die Streichung.23 In jenen Fällen, in denen sich die Überarbeitungsschritte in einzelnen Briefdokumenten an bestimmte Adressaten fast überbordend häufen,24 muss die automatisierte Konvertierung von Office Open XML-Dateien zu XML/TEI-Datensätzen mittels Codierungsengine schon allein aufgrund der ohne einigen Aufwand nicht zu bewerkstelligenden und damit faktisch für diese Zwecke unzureichenden Bearbeitungsmöglichkeiten von MS Word aber fast zwangsläufig an ihre Grenzen stoßen. Somit gilt auch für die digitale Edition der Briefe Ludwig von Fickers: Die dem Arbeitsprozess zugrunde liegende Software „beschränkt ganz offenbar den Horizont der Edition“25. Ab jenem Zeitpunkt, an dem der Brieftext von relativ simplen Revisionen abweicht – etwa durch mehrfache Änderungen bestimmter Wörter, Wortgruppen, ganzer Satzpassagen oder, wie am Entwurf (E2) des Briefes an den Völkischen Beobachter demonstriert, sogar durch das Ersetzen vollständiger Teile des Textkonzepts, z. B. durch Überkleben –, reichen die standardisierten Formatierungsoptionen, die Microsoft Word mitbringt und die bisher in der Edition zur Anwendung kamen, nicht mehr aus, um eine solche Textgrundlage automatisiert in eine korrekte XML-Codierung überführen zu können. Mehrfache sequenzielle Revisionen, wie sie Ficker in seinen Entwürfen einzubauen pflegte, gestalten sich auf der Basis des spezifischen Workflows, der der digitalen Edition der Briefe Ludwig von Fickers zugrunde liegt, insofern als Problem, als eine Textrevision in MS Word spätestens ab der zweiten Interlinearzeile –––––––— 23 24
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Eine solche Sequenzialität findet sich im Zitat des Aufsatztitels beispielhaft dargestellt. Die gezeigten Beispiele decken nur einen kleinen Teil des Spektrums ab; für einen Brief Ludwig von Fickers an den Innsbrucker Geologen Bruno Sander existieren beispielsweise mehr als 20 Vorstufen. Vgl. BA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 59/84–59/88. Peter Stadler: Die Grenzen meiner Textverarbeitung bedeuten die Grenzen meiner Edition. In: Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Anne Bohnenkamp. Berlin/Boston 2013 (Beihefte zu editio. 35), S. 31–40.
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mit den Standardformatierungen nicht mehr adäquat abgebildet werden kann. Die automatisierte Konvertierung wurde nach dem Prinzip konzipiert, dass aufgrund der großen Datenmenge so wenig Auszeichnungen wie möglich zur Anwendung kommen sollten (hierin liegt der Grund für den bereits angesprochenen Verzicht auf eine diplomatische Umschrift); interlineare Korrekturen wären somit nur über Umwege (z. B. in Tabellenform) zu realisieren. Wird eine solche Vorgehensweise gewählt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Text nicht korrekt codiert und somit fehlerhaft bzw. sogar sinnentstellend wiedergegeben wird. In solchen Fällen muss die Automatisierung aufgegeben – also gewissermaßen eine Revision des technischen Ablaufs vorgenommen – und auf eine händische Auszeichnung des Revisionsphänomens zurückgegriffen werden. Eine Möglichkeit, dies in der Praxis umzusetzen, besteht darin, dass die Codierung über die Definition angepasster Formatvorlagen direkt im Primärdokument in Microsoft Word ausgeführt wird. Hierfür müssten die TEI-Tags in MS Word geschrieben und anschließend an eine entsprechende Formatvorlage gekoppelt werden; ein solcher Block könnte dann mittels XSLT in ein TEI-Element transformiert werden. Eine andere Möglichkeit, dem Problem zu begegnen, ist die direkte Auszeichnung des XML/TEI-Dokuments mithilfe eines externen XML-Editors (wie z. B. Oxygen26), nachdem es bereits konvertiert worden ist. Hier ist von Vorteil, dass der Programmcode bzw. die Schematismen der einzelnen TEI-Elemente wesentlich übersichtlicher dargestellt und gestaltet werden können, als es die doch etwas holprige ‚Umgehungsstrategie‘ via TEI-Tagging in Microsoft Word erlaubt, und die Bearbeitung derselben somit, zumindest für den Fachmann, relativ effizient möglich ist. Abseits der arbeitsökonomischen Dimension spricht noch ein weiterer, hinsichtlich der editorischen Ablaufplanung aber wesentlicher Aspekt für eine Ex-post-Codierung der TEI-Datensätze mittels eines geeigneten Editors: Diese Variante ist schon im Sinne einer langfristig angedachten (Nach-)Bearbeitung und Archivierung der XML-Datensätze gegenüber der Lösung mit MS Word unbedingt vorzuziehen. Eine Auszeichnung mittels darauf ausgerichteter Texteditoren entledigt sich insbesondere jener Probleme, die die Arbeit mit proprietären Programmen wie Microsoft Word zwangsläufig mit sich bringt und die wir bereits durch verminderte Interoperabilität zwischen aktuellen und älteren Programmversionen sowie gehäuft auftretende Formatierungsfehler in Ansätzen zu spüren bekommen. Auf diese Weise lassen sich solche früher oder später auftretenden Inkompatibilitäten, z. B. durch unterschiedliche Dateiformate und -versionen, aber auch das Problem, dass auch (oder gerade!) proprietäre Programme nach einigen Jahren nicht mehr in der Lage sind, das eigene Dateiformat richtig wiederzugeben, relativ einfach umgehen. Schon diese knappe Gegenüberstellung beider Möglichkeiten, Textrevisionen auszuzeichnen, zeigt einen deutlichen Mehraufwand im Arbeitsablauf, wenn die bisher gepflegte Verarbeitungsoption mittels Microsoft Word beibehalten wird; angesichts stets beschränkter zeitlicher und personeller Ressourcen fällt die Entscheidung darüber, welcher Variante der Vorzug zu geben ist, nicht schwer. Als Fazit lässt sich –––––––— 26
URL: http://www.oxygenxml.com (15.07.2016).
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konstatieren: Die Integration von Entwürfen und Konzeptblättern in eine digitale Brief-Edition erscheint mittlerweile nicht mehr als Option, sondern als eine Selbstverständlichkeit bzw. sogar als Desiderat, zumal frühere Problembereiche der computergestützten Edition wie beschränkte rechnerische Kapazitäten oder mangelnder Speicher heute keine Relevanz mehr besitzen. Auf die manuelle Anpassung von TEIElementen, die für die korrekte Codierung von Textrevisionen ex post notwendig ist, wird die digitale Edition des Briefwechsels Ludwig von Fickers nicht verzichten können. Der dafür benötigte Aufwand bleibt bei ca. 500 Dokumenten (das entspricht ca. 3 Prozent aller zu bearbeitenden Korrespondenzstücke) aber in einem bewältigbaren Rahmen, schon allein deshalb, weil viele Entwurfstufen eine überschaubare Länge aufweisen. Die Mühe macht sich jedoch angesichts des zu erwartenden wissenschaftlichen Werts, den die Edition der Korrespondenz einer der zentralen Figuren der Kulturpolitik des frühen 20. Jahrhunderts generieren kann, in jedem Fall bezahlt.
Roland Reichen
Textstufen und ihre Auszeichnung in Jeremias Gotthelfs Schulmeister-Manuskript
Die Leiden und Freuden eines Schulmeisters, 1838 und 1839 in zwei Bänden erschienen, sind mit rund 850 Seiten das umfangreichste nachgelassene Romanmanuskript Jeremias Gotthelfs. Es weist unterschiedliche Formen von Textrevisionen auf, namentlich mehrere Textstufen. Im Rahmen eines Pilotprojekts innerhalb der ‚Forschungsstelle Jeremias Gotthelf‘ an der Universität Bern,1 an welchem der Verfasser dieses Beitrags mitwirkte, wurde ausgelotet, wie das Manuskript mit seiner Vielzahl an Textrevisionen am adäquatesten nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI P5)2 für eine digitale und zugleich eine gedruckte Edition erfasst werden kann.
Handschrifteneingriffe mit roter Tinte Abbildung 1 zu diesem Aufsatz zeigt Seite 18 des Manuskripts.3 Ist man mit Gotthelfs Handschrift leidlich vertraut und sieht diese Seite im Original, stellt man sogleich fest, dass das Manuskript mindestens einmal von fremder Hand revidiert wurde. An mehreren Stellen sind in dem mit schwarzer bis bräunlicher Tinte geschriebenen Text in Kurrentschrift nämlich Korrekturen mit roter Tinte angebracht, die nicht von Gotthelfs Hand stammen. Eine solche Korrektur betrifft das vierte Wort in der zweiten Zeile, „wen¯ ̄ “. Die Minuskel am Wortanfang wurde mit einer roten Majuskel überschrieben. Das erste Wort auf der vierten Zeile, „Wir“, belegt, dass sich Gotthelfs Schreibung des großen Kurrent-W deutlich von derjenigen in der zweiten Zeile unterscheidet: Gotthelf setzt für den Bogen in der Buchstabenmitte mit einem kleinen Bogen rechts am Abstrich an. Bei dem mit roter Tinte geschriebenen „W“ auf der zweiten Zeile wird der Abstrich hingegen in eine Schlinge nach links gezogen, die den Abstrich auf halber Höhe kreuzt. Gotthelfs „W“ endet zudem mit einem Bogen im Bereich der Oberlänge – dasjenige mit roter Tinte jedoch in einer Linie, die bis in den Bereich der Unterlänge führt (siehe Abb. 2).
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Projekt-Homepage: http://www.gotthelf.unibe.ch. http://www.tei-c.org/Guidelines/P5 (19.06.2016). Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 1a, S. 18. – Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Burgerbibliothek Bern.
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Abb. 1: Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 1a, S. 18
Roland Reichen
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Abb. 2: Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 1a, S. 18, Details der Zeilen 2‒4
In einem Brief an den Verleger Sauerländer schreibt Gotthelf im Januar 1838: „Eine Masse von Geschäften in den letzten und ersten Tagen des Jahres bewogen mich, das Manuskript einem Freund zur Durchsicht zu übergeben, daher die rote Tinte.“4 Der Forschung ist es in über hundert Jahren allerdings nicht gelungen, diesen Freund zu identifizieren. Ferdinand Vetter vermutete 1898, Gotthelfs Frau Henriette Bitzius habe die Eingriffe mit roter Tinte vorgenommen. In einer Fußnote muss er indes einräumen, dass Gotthelfs jüngere Tochter diese Vermutung bestreite und die rote Schrift im Manuskript „nicht zweifellos“ mit Handschriftenproben von Frau Bitzius übereinstimme. Vetter ist zudem die gänzliche Verschiedenheit der Schrift zu derjenigen von Gotthelfs Mentor Carl Bitzius aufgefallen.5 Aufgrund von Handschriftenvergleichen durch die ‚Forschungsstelle Jeremias Gotthelf‘ können auch die Gotthelf-Freunde und -Briefpartner Karl Rudolf Hagenbach und Johann Jakob Reithard als Bearbeiter ausgeschlossen werden. Gotthelfs erster Biograph Carl Manuel vermerkt, „[m]ehrere schweizerische Verlagsbuchhandlungen“, die er nicht namentlich nennt, hätten das Manuskript abgelehnt,6 bevor es 1838/1839 bei Wagner in Bern erschien. Die rote Schrift könnte daher auch aus dem Umfeld eines Verlags stammen, bei dem Gotthelf publizieren wollte, mit dem er sich dann aber doch – wie mit Sauerländer –7 nicht einigen konnte.
Zwei Textstufen von Gotthelfs Hand Im erwähnten Brief an Sauerländer merkt Gotthelf an, er selber habe die Korrekturen mit roter Tinte „noch bedeutend nachbessern“ müssen.8 Er hat am Manuskript also offenbar noch einen eigenhändigen Korrekturgang vorgenommen, nachdem er es von dem unbekannten „Freund“ zurückbekam. Dass im Manuskript insgesamt drei Text–––––––— 4
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Jeremias Gotthelf: Brief vom 21. 1. 1838 an Heinrich Remigius Sauerländer. In: Ders.: Sämtliche Werke in 24 Bänden. Hrsg. von Rudolf Hunziker, Hans Bloesch, Kurt Guggisberg und Werner Juker. Ergänzungsband 18: Nachträge. Register. Erlenbach-Zürich 1977, S. 72–74, hier 72. Ferd[inand] Vetter: Beiträge zur Erklärung und Geschichte der Werke Jeremias Gotthelfs. Ergänzungsband zur Volksausgabe von Jeremias Gotthelfs Werken im Urtext. Bern 1898, S. 130, Anm. 1. C[arl] Manuel: Albert Bitzius. In: Jeremias Gotthelfs (Albert Bitzius) gesammelte Schriften. Neue wohlfeile Ausgabe. Bd. 23. Berlin 1861, S. 1–307, hier 65. Vgl. Heinrich Remigius Sauerländer: Brief vom 3. 2. 1838 an Jeremias Gotthelf. In: Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke in 24 Bänden. Hrsg. von Rudolf Hunziker, Hans Bloesch, Kurt Guggisberg u. Werner Juker. Ergänzungs-Bd. 4: Briefe. Erster Teil. Erlenbach-Zürich 1948, S. 253–255, hier 255. Gotthelf 1977 (Anm. 4), S. 72.
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stufen9 aufeinander aufbauen, belegt der dritte Absatz auf Seite 18 des Manuskripts. Bei der ersten Niederschrift mit schwarzer bis bräunlicher Tinte schrieb Gotthelf hier in den ersten beiden Zeilen: Doch ich meinte nicht zu schlafen, meine meine Frau schnarchen zu hören und das Licht bren¯ ̄ en zu sehen,‹?› da offnete sich die Thüre und herein trat ein mir wohlbekan¯ ̄ ter10
Der unbekannte „Freund“ korrigierte sodann mit roter Tinte die Wortdoppelung „meine meine“ zu „sondern meine“. Vermutlich änderte er das Satzzeichen nach „sehen“ zu einem Punkt. Jedenfalls machte er aus dem nachfolgenden Kleinbuchstaben „d“ von „da“ einen Großbuchstaben und zeichnete außerdem Umlautzeichen über dem „o“ von „offnete“ ein: Doch ich meinte nicht zu schlafen, sondern meine Frau schnarchen zu hören und das Licht bren¯ ̄ en zu sehen.‹?› Da öffnete sich die Thüre und herein trat ein mir wohlbekan¯ ̄ ter
Bei seiner Durchsicht der roten Korrekturen, also auf der dritten Textstufe, arbeitete Gotthelf wiederum mit schwarzer bis bräunlicher Tinte. Er strich den ganzen ersten Satz und ersetzte ihn durch den vertikal am linken oberen Rand geschriebenen Einschub, auf den das Einfügungszeichen nach dem gestrichenen „sehen“ verweist. Das Satzzeichen am Ende des ersten Satzes machte er zu einem Doppelpunkt – obwohl auch die Ersetzung am linken oberen Rand mit einem Doppelpunkt endet. Das nachfolgende großgeschriebene „Da“ der unbekannten Hand strich er und ersetzte es über der Zeile durch „Es“. Die Textgenese der beiden Zeilen führt über die drei Textstufen hinweg zur Schlussfassung: Da trat folgendes Traumgesicht vor meine Seele:: Es öffnete sich die Thüre und herein trat ein mir wohlbekan¯ ̄ ter
Bis auf den überständigen Doppelpunkt und die Konsonantengemination in „wohlbekan¯ ̄ ter“ entspricht diese Fassung dem anonym erschienenen Erstdruck.11
Textrevisionen ohne klare Textstufenzuordnung An Stellen, an denen zwischen den beiden von Gotthelf stammenden Schreibschichten rote Korrekturen liegen, das hat das Beispiel gezeigt, ist es möglich, die Textgenese exakt zu rekonstruieren, die verschiedenen Textrevisionen zweifelsfrei in die dreistufige Genese einzuordnen. Fehlen Eingriffe mit roter Tinte, kann in manchen Fällen jedoch nicht entschieden werden, ob Gotthelf eine Revision bei der ersten Niederschrift oder erst bei der späteren Durchsicht vorgenommen hat. Denn in beiden Schreibschichten, die von Gotthelf stammen, sowohl auf der ersten wie auch auf der dritten Textstufe, kann tiefschwarze unmittelbar neben bräunlicher, sehr viel hellerer –––––––— 9 10 11
Die vereinzelten Bleistifteingriffe im Manuskript – z. B. Burgerbibliothek Bern (Anm. 3), S. 49, 8. Zeile von unten – bleiben hier unberücksichtigt. Das Fragezeichen in kursiven Winkelklammern kennzeichnet eine unsichere Lesart. Leiden und Freuden eines Schulmeisters. Erster Theil. Bern 1838, S. 18.
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Tinte stehen. Für die dritte Stufe kann man das auf Seite 18 des Manuskripts an den Tilgungsstrichen zu Beginn des dritten Absatzes erkennen. Die beiden vertikalen Striche links sind tiefschwarz. Der lange horizontale Strich, der nach drei Wörtern in der ersten Zeile des Absatzes beginnt, ist viel heller. Auch er muss aber zur dritten Bearbeitungsstufe gehören. Hätte ihn Gotthelf schon auf der ersten Textstufe gezogen, hätte es für die unbekannte Hand der zweiten Stufe keinen Anlass mehr gegeben, das erste „meine“ noch zu „sondern“ zu korrigieren. Unsicher ist die Textstufenzuordnung zum Beispiel für die Ergänzung „weißen“ oberhalb von „Hut“ in der dritten Zeile des dritten Absatzes auf Seite 18 des Manuskripts. Möglicherweise hat sie Gotthelf notiert, unmittelbar nachdem er „Hut“ geschrieben hat – womöglich aber auch erst bei der finalen Durchsicht. Vergleichbares gilt für die Tilgungen auf der fünftuntersten Zeile der Seite: Ob er „dagegen“ und „auftreten“ vor „rebelliren“ im Rahmen des ersten Entwurfs der Stelle gestrichen hat oder erst bei der Nachbearbeitung, lässt sich nicht bestimmen. Immerhin können Korrekturen im Zeilenfluss eindeutig der ersten Textstufe zugeordnet werden. Ein Beispiel findet sich auf Seite 18 ebenfalls in der dritten Zeile des dritten Absatzes: Eine Zeichenfolge aus fünf Buchstaben, die mit „anf“ beginnt und nach zwei nicht klar entzifferbaren Buchstaben abbricht, wurde gestrichen und unmittelbar dahinter durch „anfechtig“ ersetzt. Diese Ersetzung muss Gotthelf während der Niederschrift der allerersten Textfassung vorgenommen haben. Hätte er sie erst auf der dritten Textstufe durchgeführt, wäre nach den fünf Buchstaben kein Platz mehr in der Zeile gewesen – er hätte „anfechtig“ über der Zeile notieren müssen.
TEI-Codierung Anders als gedruckte Editionen stehen digitale nicht mehr unter dem medialen Zwang, variante Texte in der Darstellung einem Leittext unterzuordnen. Sie ermöglichen „parallele[] Textformen“ und die „Zusammenschau varianter Textfassungen“. Sie können die Textgenese auf einem Manuskript mit mehreren Bearbeitungsschichten Stufe für Stufe sichtbar machen, ohne eine dieser Stufen absolut in den Vordergrund zu rücken.12 Die digitale Repräsentation erhöht auch die Transparenz einer Edition: Durch die Beigabe von Faksimiles, wie sie für die Leiden und Freuden eines Schulmeisters geplant ist, kann die Leserschaft die Transkription und die verzeichneten Textrevisionen jederzeit nachprüfen.13 Der vorgängig skizzierte Befund zur Textgenese des Manuskripts kann also digital sehr genau wiedergegeben werden. Für die Auszeichnung von Textvarianz sieht die TEI zum einen das Element für „apparatus entry“ vor.14 Mit einem entsprechenden Attribut, zum Beispiel @type, kann festgelegt werden, dass es sich um –––––––— 12
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Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik. Norderstedt 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik. 8), S. 184–187. Vgl. ebd., S. 184f. http://www.tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/en/html/TC.html, Kap. 12.1.1 (19.06.2016).
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einen Apparateintrag handelt, der unterschiedliche Textstufen darbietet. Jede Manuskriptstelle, an der es zu mindestens einer Textrevision gekommen ist, wird mit dem Element codiert. Das untergeordnete Element , „reading“, wird genutzt, um innerhalb von die unterschiedlichen Textfassungen an der betreffenden Stelle zu erfassen.15 Insgesamt sind vier „readings“ vorgesehen: Ein erstes präsentiert den Text von Gotthelfs erstem Entwurf der Stelle, ein zweites die Fassung der unbekannten, mit roter Tinte schreibenden Hand, ein drittes den Wortlaut der von Gotthelf angefertigten Schlussfassung. Dem Code ist zu entnehmen, ob der Text revidiert wurde oder ob er auf der entsprechenden Stufe unbearbeitet blieb. Gab es eine Revision, ist deren Genese im Detail etwa als Korrektur im Zeilenfluss, Tilgung, Ergänzung oder Ersetzung beschrieben. Die Textvarianz wird einer von der TEI vorgegebenen Struktur gemäß16 grundsätzlich auf Wortebene erfasst, auch wenn sie nur einzelne Buchstaben betrifft. Bewusst wird darauf verzichtet, eine der drei Textstufen statt mit mit dem von der TEI vorgesehenen Element für „lemma“17 auszuzeichnen, um nicht eine Textfassung hierarchisch über die anderen zu stellen. Für die Ansicht einer einzelnen Textstufe mit einem klassischen Variantenapparat werden die Lemmata aus dem „reading“ der betreffenden Stufe gewonnen. Die dafür nötigen Satzanweisungen respektive Befehlsroutinen wurden geschrieben. Sie gehen in die Hunderte, weil ein „reading“ unveränderten Text, aber auch eine stattliche Zahl unterschiedlichster Korrekturcodes enthalten kann. In einem vierten „reading“ werden die Textrevisionen ohne klare Textstufenzuordnung codiert, die Korrekturen können also entweder zur ersten oder dritten Stufe gehören. Der Code für die erwähnte Ergänzung „weißen“ oberhalb von „Hut“ auf der Manuskriptseite 18 könnte etwa lauten:
weißen
Das Attribut @wit gibt jeweils die Textstufe an. Das Element kennzeichnet eine Ergänzung, das Attribut @next das Wort, vor dem die Ergänzung eingefügt wurde. Jene Korrektur von der Klein- zur Großschreibung bei „wen¯ ̄ “ wird voraussichtlich wie folgt codiert: –––––––— 15 16
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http://www.tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/en/html/TC.html, Kap. 12.1.2 (19.06.2016). Zur diesbezüglichen Kritik an der TEI vgl. Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 3: Textbegriff und Recodierung. Norderstedt 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik. 9), S. 356. http://www.tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/en/html/TC.html, Kap. 12.1.2 (19.06.2016).
Textstufen und ihre Auszeichnung in Jeremias Gotthelfs „Schulmeister“-Manuskript
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wen¯ ̄
wen¯ ̄ Wen¯ ̄
Wen¯ ̄
Das Element markiert eine Korrektur, die das Attribut @n genauer beschreibt. und innerhalb von vermerken – wie gesagt auf Wortebene –, was im Rahmen der Korrektur gestrichen und was hinzugefügt wurde. Der Attributwert "aut" im der dritten Textstufe bringt zum Ausdruck, dass Gotthelf die Korrektur von unbekannter Hand auf der zweiten Stufe autorisiert hat. In der digitalen Edition kann der Romantext auf allen drei Textstufen jeweils als integrale Fassung gelesen werden. Zusammengefügt wird der Text einer Stufe aus dem unkorrigierten Text und den „readings“ der betreffenden Stufe. Die Textelemente, die nicht eindeutig einer bestimmten Textschicht zuzuordnen sind, erscheinen farblich hervorgehoben in allen drei Fassungen. So lässt sich genau erkennen, welche Passagen sicher einer Stufe zuzurechnen sind und welche nicht.
Gedruckte Edition Nicht nur an der erwähnten Stelle zu Beginn des dritten Absatzes auf Seite 18 ist die Schlussfassung des Manuskripts fast deckungsgleich mit dem Erstdruck, der im Rahmen der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Jeremias Gotthelf (HKG) 2017 erscheint. Es ist deshalb, was die Buchausgabe der Schulmeister-Handschrift angeht, aufschlussreicher, statt der finalen Fassung den Text von Gotthelfs erstem Entwurf des Romans als edierten Text darzubieten – dies umso mehr, als der Ursprungstext gemäß der Forschung bei den beiden Überarbeitungen um etwa ein Siebentel gekürzt wurde.18 Wie in der digitalen Edition sind die Passagen mit unklarer Textstufenzuordnung im edierten Text der Buchausgabe farblich hervorgehoben. Die Überarbeitungen auf der zweiten und dritten Textstufe werden in einem Variantenapparat verzeichnet.
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Eduard Bähler: Textvergleichung. Vorbericht. In: Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke in 24 Bänden. Hrsg. von Rudolf Hunziker, Hans Bloesch, Kurt Guggisberg u. Werner Juker. Bd. 2: Leiden und Freuden eines Schulmeisters. Erster Teil. Erlenbach-Zürich 1921, S. 350–354, hier 350.
Martin Vejvar
Ödön von Horváths Quellenlagen Briefe, Dokumente, Akten
Als historisch-kritische Ausgabe wird die Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Ödön von Horváths1 naturgemäß auch einen vollständigen Abdruck aller überlieferten Briefe und Dokumente des Autors umfassen. Im Folgenden sollen einige spezifische Probleme der Quellenarbeit, die dieser Edition zugrunde liegt, zur Sprache kommen. Die Quellenlage zu Horváth ist äußerst komplex und zum Teil stark von der Tradierung und durch direkte Eingriffe von Freunden und Weggefährten beeinflusst. Bisherige Abdrucke von Briefen wie Dokumenten, allen voran in den von Traugott Krischke betreuten (Teil-)Editionen wie Materialienbänden, haben dem intrikaten Status dieses Korpus nur ungenügend Rechnung getragen. Ein vollständiger, einem stringenten Editionskonzept folgender Abdruck liegt bis heute nicht vor, weshalb die Wiener Ausgabe so ein großes Desiderat der Horváth-Philologie zu erfüllen trachtet. In einem weiter gedachten Sinne geht es schließlich auch hier um Revisionen, denn vieles an der bisherigen Beschäftigung mit Horváths Briefen und Dokumenten ist, zumindest im Lichte kritischer Edition, zu revidieren. Neben ihrer Relevanz für allgemeine quellenkundliche Fragen und deren editorische Lösung gibt die genaue Prüfung des Quellenstatus zu Horváths Leben letztlich auch die Mittel zu einer Neubewertung von ambivalenten Momenten seiner Biographie an die Hand. Zu Beginn möchte ich kurz auf den allgemeinen Status und den Forschungsstand des bekannten Brief- wie Dokumentenkorpus eingehen, das zu weiten Teilen durch die intensive Forschungsarbeit Traugott Krischkes erschlossen und gesichert werden konnte, aufgrund einer opportunistischen und wenig strukturierten Editionsweise aber nur schwer an die Öffentlichkeit gelangt ist. Daran anschließend möchte ich ein besonders revisionsbedürftiges Konvolut, den Briefwechsel Horváths mit Franz Theodor Csokor, im Lichte von bekannten wie neuen Funden behandeln. Abschließend möchte ich auf die Darstellung der Ödön von Horváth betreffenden Akten eingehen.
Briefe: Intrikate Quellenlagen, fragmentierte Editionen Die Quellenlage der Briefe und Dokumente Ödön von Horváths ist, vor allem im Vergleich zu anderen AutorInnen der Zeit, erstaunlich schlecht. Da am Beginn der strukturierten Erforschung von Horváths Leben und Werk in den 1960er-Jahren Originaldokumente rar, persönliche Bekannte und Weggefährten dafür reichlich vorhanden waren, etablierte sich rund um sein Leben eine Gloriole an Zeitzeugenberichten und –––––––— 1
Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. v. Klaus Kastberger. Berlin [u. a.]: Walter de Gruyter 2009ff.
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Anekdoten, die teilweise nur sehr schwer mit tatsächlich existierendem Material zu belegen waren.2 Mit dafür verantwortlich ist auch sein früher und tragisch-absurder Unfalltod durch einen herabstürzenden Ast am 1. Juni 1938 in Paris, der überdies perfekt zu Horváths allgemein bekannter Vorliebe für das Okkulte und Unheimliche zu passen schien.3 Als einer der ersten Verstorbenen aus dem Kreis der vor der NSDiktatur nach Paris geflohenen Emigranten wurde sein Tod darüber hinaus als Selbstvergewisserung der Hinterbliebenen memoriert. Exemplarisch kann hierfür der Nekrolog Klaus Manns stehen, der im Neuen Tage-Buch erschienen ist. Mit, wie sich zeigt, verengtem Blick auf den Roman Jugend ohne Gott schreibt Mann: Wäre er nicht im Grunde doch ein Moralist gewesen, er hätte sich ja sehr wohl mit NaziDeutschland abfinden können, wo man gegen den ungarischen „Arier“ wohl nicht viel einzuwenden gehabt hätte, und wo seine Vorliebe für das schaurig Groteske üppig auf ihre Kosten gekommen wäre. Indessen trennte er sich unbedingt vom Dritten Reich: zunächst wohl einfach aus Gründen des guten Geschmacks – um seiner Würde als Schriftsteller willen; dann aber auch aus einem Anstand, der mehr als nur Anständigkeit, nämlich Moral im ernstesten, tiefsten Sinn des Wortes war.4
Es ist eine bittere Ironie der Literaturgeschichte, dass gerade Horváth für die Beschwörung des moralischen Geistes des literarischen Exils gewählt wurde, da er dafür nur bedingt und eher als tragische Figur geeignet ist. Wie erst in den 1980er-Jahren in Erfahrung gebracht werden konnte, hatte sich Horváth nach einer ersten, halbherzigen Emigration im März 1933 im Laufe des ersten Halbjahres 1934 aus vor allem ökonomischen Gründen an den Literaturapparat des ‚Dritten Reichs‘ angebiedert. Horváth wandte sich schließlich doch desillusioniert vom Deutschen Reich ab und trat im Laufe des Jahres 1935 seine eigentliche Emigration, wiederum Richtung Österreich, an. Die entsprechenden Dokumente – ein Mitgliedsantrag beim Reichsverband Deutscher Schriftsteller sowie der dazugehörige Akt im Deutschen Bundesarchiv, ein vom gleichgeschalteten Neuen Bühnenverlag übermitteltes Bittschreiben Horváths an den ‚Reichsdramaturgen‘ Rainer Schlösser, verschiedene private Schreiben der Zeit – werden bis dato, auch aufgrund ihrer stark verstreuten Publikation und der entsprechend schlechten Zugänglichkeit der Quellen, nur selten rezipiert. Der aus diesen Briefen und Dokumenten hervortretende Opportunismus steht in scharfem Kontrast zum Bild Horváths als überzeugtem Antifaschisten, das nach seinem Tod von seinen Freunden und Weggefährten etabliert wurde.5 Die Versuche, sich mit dem NS–––––––— 2
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Vgl. exemplarisch die ‚Berichte‘-Sektionen in: Materialien zu Ödön von Horváth. Hrsg. v. Traugott Krischke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970. Die Bedeutung dieses Bandes für die Rezeption kann kaum überschätzt werden, war er doch auch als Begleitband zur im selben Jahr bei Suhrkamp erscheinenden Ausgabe der Gesammelten Werke gedacht. Im Nachwort zur Ausgabe Das Zeitalter der Fische (gemeinsamer Abdruck von Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit) von 1953 schreibt etwa Franz Werfel: „Alle Freunde Ödön von Horváths fühlten: Dieser Tod ist kein Zufall. Mancher sagte: Dieser Tod paßt zu ihm.“ Franz Werfel: Nachwort. In: Krischke 1970 (Anm. 2), S. 132–135, hier 133. Klaus Mann: Ödön von Horváth †. In: Das neue Tage-Buch. Paris, 6. Jg., 1938, H. 24. Hier zit. nach dem Abdruck in: Krischke 1970 (Anm. 2), S. 129–132, hier 131f. Dessen ungeachtet ist es gerade der moralische ‚Makel‘, den Horváth selbst später in seiner Anbiederung gesehen hat, der große Teile seines Spätwerkes, allen voran Figaro läßt sich scheiden und die bei-
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Regime zu einigen, wurden dabei konsequent unterdrückt, wofür beispielsweise Franz Theodor Csokor sogar bewusst Teile des Briefwechsels zwischen den beiden fingierte, worüber noch im Detail zu sprechen sein wird. Anekdoten und Legenden bilden somit die Hauptbestandteile einer fast mythischen Horváth-Biographie, die sich in der Zeit unmittelbar nach 1945 formierte und nicht zuletzt Horváths augenzwinkernder Selbstdefinition als eine „typisch altösterreichisch-ungarische Mischung“6 folgte. Hier ist vor allem die spezifisch „österreichische“ Rezeption des Autors nach dem Zweiten Weltkrieg zu nennen, die, wesentlich mitgetragen von Franz Theodor Csokor, versuchte, Horváth nicht als den scharfen Satiriker der Volksstücke, sondern eher als religiös verbrämten, christlichhumanistischen Schriftsteller zu reetablieren.7 Der verführerischen Kraft einiger dieser Legenden konnte sich schließlich auch die bis dato einzige Horváth-Biographie nicht entziehen, die aus der Feder Traugott Krischkes stammt.8 Wo ein Vergleich mit Originaldokumenten mittlerweile möglich ist, treten hier ebenfalls teils erstaunliche Fehleinschätzungen zu Tage. Deshalb ist eine erstmalig vollständige Edition der Briefe und Dokumente nicht nur eines der größten Desiderata der Horváth-Forschung – sie ist eine philologische Notwendigkeit. Insgesamt sind uns heute nur 187 Briefe9 von und an Ödön von Horváth bekannt, die darüber hinaus äußerst ungleich über Horváths Lebensspanne verteilt sind (vgl. die nachstehende Abbildung).
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den Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit, in ihrer Ausgestaltung wie Thematik geprägt hatte. Kurz vor seinem Tod plante Horváth, dieses Dilemma eines zwischen Konformität und Moral aufgeriebenen Schriftstellers sowie die Umstände von Emigration und Exil zum expliziten Thema seines dritten Romans unter dem Arbeitstitel Adieu, Europa! zu machen. Ödön von Horváth: Fiume, Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien, München. In: Ödön von Horváth: Kommentierte Werkausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Traugott Krischke. Bd. 11: Sportmärchen und andere Prosa. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 184. Vgl. hierzu exemplarisch die Wiedereinführung Horváths im Theaterbetrieb mit der österreichischen Erstaufführung von Der jüngste Tag bereits im Dezember 1945, die maßgeblich von Alfred Ibach betrieben wurde, der in den 1930ern Horváth für Don Juan kommt aus dem Krieg und Figaro läßt sich scheiden Vermittlungsarbeit leistete. Vgl. dazu Nicole Streitler: Vorwort, in: Ödön von Horváth: Figaro läßt sich scheiden. Hrsg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Andreas Ehrenreich und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011 (Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 8), S. 1–20, hier 2f. Für die von Csokor vorgenommene Gewichtung der Rezeption ist insbesondere sein 1951 erschienener HorváthEssay in der von der US-Militärregierung finanzierten Berliner Zeitschrift Der Monat relevant, vgl. Franz Theodor Csokor: Ödön von Horváth. In: Der Monat, 3. Jg., 1951, H. 33, S. 309–313. Vgl. dazu auch die Ausführungen zu seiner Briefausgabe Zeuge einer Zeit von 1964 im Folgenden. Traugott Krischke: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit. Berlin: Ullstein 1998 [zuerst 1980]. Der Begriff ‚Briefe‘ ist hier in einem allgemeinen Sinne zu verstehen. An postalischen Medien beinhalten Horváths Korrespondenzen so unterschiedliche Textträger wie Post- und Ansichtskarten, Telegramme und schließlich auch hand- und maschinenschriftliche Briefe im engeren Sinne.
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Abb.: Diagramm Briefe10
Mehr als die Hälfte aller erhaltenen Briefe (104 Stück) ist in den Jahren 1937/38 entstanden. Der größte Teil (42) davon entfällt auf den Briefwechsel Horváths mit Walter Landauer, Lektor und Ansprechpartner des Autors beim Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange, und beschäftigt sich mit dem Lektorat bzw. der Drucklegung der beiden Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit sowie geplanten weiteren Romanprojekten. Es handelt sich hierbei um den – gemessen an der Zahl der Einzelschreiben – umfangreichsten erhaltenen Briefwechsel Horváths überhaupt. Nimmt man die erhaltenen Briefwechsel mit seinen früheren Verlegern Ullstein (Berlin 1929–1933) und Georg Marton (Wien, 1933–1937) hinzu, zeigt sich der große Anteil an Verlagskorrespondenz, der 70 Schreiben umfasst. Von den übrigen 117 Schreiben an zumeist privater Korrespondenz ist der größte Teil von insgesamt 88 Stück nach 1933 entstanden. Der Kreis an Adressaten ist überschaubar, allen voran handelt es sich um Franz Theodor Csokor (36), die Budapester Mäzene Lajos und Jolán von Hatvany (13), den Schweizer Schriftsteller Cäsar von Arx (8) und den Berliner Theaterkritiker Julius Bab (7) sowie über die Jahre verstreute Briefe an die Eltern (8). Auffällig ist hier bereits, dass die umfänglichsten Privatkorrespondenzen Horváths (Csokor, Hatvany, Arx) allesamt nach 1933 entstanden sind. Schließlich liegen kleinere Korrespondenzenkonvolute mit Alma Mahler-Werfel, Herbert Ihering, Alice Zuckmayer sowie anderen Freunden und Bekannten Horváths vor, der Rest entfällt auf eine Schar an Einzeladressaten. Ist ein großer Anteil an Verlagskorrespondenz für einen Schriftsteller per se nichts Ungewöhnliches, weisen die Verhältnisse im diesem Falle aber auf einige generelle Unwägbarkeiten der Quellenlage zu Ödön von Horváth hin. Hierin lassen sich drei –––––––— 10
Die Daten des Diagramms aus Abb. 1 stammen aus meiner eigenen Erhebung im Zuge der Korpusbildung für den geplanten Band 18 (Briefe, Dokumente, Akten) der Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Ödön von Horváths. Briefentwürfe, wie sie Horváth fallweise in Notizbüchern bzw. selten auf Einzelblättern notiert hat, sind in dieser Zählung nicht berücksichtigt.
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voneinander abzugrenzende Ursachen ausmachen: 1) Horváths funktionales Verständnis der Gattung Brief, 2) die Umstände von Exil und Emigration und 3) die erst spät einsetzende systematische Erschließung. Ad 1) Horváth war kein passionierter Briefschreiber und scheint das persönliche oder telefonische Gespräch bevorzugt zu haben. Beispielhaft dafür kann ein Brief an den Literaturkritiker Herbert Ihering vom 11. Mai 1927 gelten, an den sich insgesamt drei Briefe erhalten haben. Horváth weist darin auf ein vorangegangenes Telefonat hin, das den wohl interessanteren Teil der Unterhaltung umfasst hat: Sehr verehrter Herr Ihering, verzeihen Sie mir, bitte, daß ich Ihnen mein Stück, über das Sie unlängst mit Ernst Weiß und mir telephoniert hatten, noch immer nicht zusenden kann. Ich laufe nun schon seit einer Woche hinter meinen zwei einzigen Manuscripten her, leider nur mit dem Erfolg, daß ich vertröstet wurde, Ende dieser Woche eines Wiederzusehen. Ich lasse es Ihnen dann sofort zukommen. Mit ergebensten Empfehlungen Ihr Ödön Horváth11
Eine ähnliche Situation liegt in einem Schreiben an Wilhelm Gronle, den Prokuristen des Ullstein-Verlages, vom 5. Jänner 1933 vor. Horváth urgiert darin, dem Münchener Journalisten Lukas Wilhelm Kristl, mit dem er für das Volksstück Glaube Liebe Hoffnung kooperiert hat, eine erhöhte Beteiligung von 45% (statt wie zuvor vereinbart 40%) an den Gewinnen aus den Berliner Aufführungen des Stückes einzuräumen. Im Gegenzug solle dieser sich aber auch entsprechend an den entstehenden Unkosten beteiligen. Horváth schreibt: „Diese Summe (seine 45%) beträgt bis heute RM 110.55, das sind fast nur Telefongespräche.“12 Das lässt rechnerisch auf eine Gesamtsumme von knapp 247 Reichsmark an Telefonkosten zwischen Horváth und Kristl schließen. Demgegenüber liegt uns heute nur ein einziges erhaltenes Schreiben von Kristl an Horváth vor. Anscheinend haben die beiden Ko-Autoren, so sie sich nicht in persona getroffen haben, ihre Arbeit fast ausschließlich telefonisch besprochen. Vor allem in den Jahren bis 1933 sind Horváths Briefe, für deren Form und Umfang das zitierte Schreiben an Ihering exemplarisch stehen kann, von vornehmlich funktionaler Natur und kein Mittel epistolographischer Selbstdarstellung oder gar literarischer Ambition. Horváth hat Briefe auch nicht aufgehoben: Von keinem seiner –––––––— 11
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Ödön von Horváth an Herbert Ihering, Berlin, 11. 5. 1927. Zitiert nach dem maschinenschriftlichen Original im Archiv der Akademie der Künste, Ihering-Archiv, Signatur M. 1593. Bei dem erwähnten Stück handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Revolte auf der Côte 3018, das Ende 1927 als erstes Stück Horváths an einer namhaften Bühne, in den Hamburger Kammerspielen, zur Aufführung gekommen ist. Ödön von Horváth an Wilhelm Gronle / Ullstein Verlag, Murnau, 5. 1. 1933. Zitiert nach dem maschinenschriftlichen Original im Ullstein Verlagsarchiv, ohne Signatur. Druck in: Gisela Günther: Die Rezeption des dramatischen Werkes von Ödön von Horváth von den Anfängen bis 1977. 2 Bde. Göttingen, Univ.-Diss. 1978, hier Bd. 2, S. 197.
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Schreiben hat er für sich selbst eine Abschrift gefertigt, geschweige denn die an ihn gerichteten Briefe aufbewahrt. Dieser Gleichmut steht in merklichem Kontrast zur Akribie, mit der Horváth seit Ende der 1920er-Jahre seine Werkmaterialien aufbewahrt hat. Daraus erklärt sich zuletzt auch der große Überhang der Briefwechsel mit seinen Verlegern: Diese legten sowohl die Briefe Horváths als auch Durchschläge der an ihn gerichteten Schreiben als geschäftsmäßige Korrespondenz in ihren jeweiligen Verlagsarchiven ab. Ad 2) In den Verlagskorpora zeigen sich wiederum merkliche qualitative Abweichungen: Während die Korrespondenz mit dem Ullstein-Verlag oder dem Wiener Theaterverleger Marton sehr geschäftsmäßig und anlassbezogen verläuft, ist der Briefwechsel mit Walter Landauer bei Allert de Lange weitaus ausführlicher. Das ist ein Effekt der veränderten kommunikativen Notwendigkeiten der Literatur in der Emigration, als deren Teil sich Horváth erst Mitte der 1930er-Jahre zu verstehen beginnt. Die zu überbrückenden räumlichen Distanzen des über Europa verstreuten literarischen Emigrantennetzwerks und auch Horváths vermehrte eigene Reisetätigkeit fordern von ihm, sich zunehmend auf das Medium Brief zu verlassen. Das hat gleichzeitig eine interessante Veränderung in Horváths Briefstil zur Folge: Anstelle einer funktional-nüchternen Kommunikation tritt Horváth mit Landauer in einen Dialog, bespricht mit ihm seine Werkvorhaben und füllt tatsächlich eine Rolle in einer Briefpartnerschaft aus – wenngleich diese zu guter Letzt auch wieder ein geschäftsmäßiges Verhältnis ist.13 Dementsprechend erklärt sich in der für Horváth in mehrerlei Hinsicht problematischen Zeit nach der Errichtung der Diktatur in Deutschland 1933 auch die größere Dichte an umfänglicheren Privatkorrespondenzen als Notwendigkeit einer schriftstellerischen Existenz in der Emigration. Vertreibung und Emigration haben aber nicht nur das Schreiben von Briefen befördert, sondern auch deren Verlust verschuldet. So ist z. B. der Nachlass des im zitierten Brief an Ihering erwähnten Ernst Weiß, eines engen Freundes Horváths, nach dessen Selbstmord in Paris 1940 verloren gegangen. In anderen Fällen kann man eher von Pech sprechen: Der Schauspielerin Lydia Busch etwa, die nachweislich mehrere Briefe Horváths besaß, wurden diese in den 1950er-Jahren zusammen mit ihrem Portemonnaie von einem Taschendieb in New York entwendet. Ad 3) Schließlich erschwert die verzögerte Rezeption die Quellenarbeit. Horváth war nach dem Krieg in einer weiteren literarischen Öffentlichkeit faktisch vergessen und vor allem im Andenken von Freunden präsent. Erst als er in den 1960er-Jahren im Zuge der sogenannten ‚Horváth-Renaissance‘ wieder allgemeiner bekannt wurde, begannen systematische Rechercheversuche. In der Zwischenzeit waren aber Briefe wie –––––––— 13
Zum Briefwechsel mit Landauer / Allert de Lange vgl. einerseits dessen erstmalige Edition durch Hansjürgen Schneider: Briefwechsel Ödön von Horváth – Verlag Allert de Lange. In: Zeitschrift für Germanistik 10, 1989, H. 2, S. 169–187, sowie andererseits Nicole Streitler-Kastberger: Vorwort. In: Ödön von Horváth: Ein Kind unserer Zeit. Hrsg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2014 (Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 16), S. 1–20, hier 1–9.
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im Falle Buschs abhandengekommen oder Briefpartner verstorben, ihre Bestände verloren oder unerkannt in Archiven verschwunden. Das schlug sich in der sehr mageren Ausbeute des entsprechenden vierten Bandes der 1970/71 erschienenen Gesammelten Werke nieder. Gerade 17 Briefe sind darin enthalten.14 Die Herausgeber, Traugott Krischke und Dieter Hildebrandt, weisen im Appendix explizit auf die schwierige Quellenlage hin: eine Ergänzung sei „zukünftigen Publikationen“15 vorbehalten. Obwohl sich Traugott Krischke in den darauffolgenden Jahren große Verdienste um das Auffinden neuer Briefe und Dokumente gemacht hat, ist es nie zu einem vollständigen Abdruck des bekannt gewordenen Briefbestandes gekommen. Stattdessen wurden die jeweils neu entdeckten Briefe opportunistisch in gerade verfügbare Publikationsprojekte integriert. Die Folge davon ist eine nur schwer zu überblickende Veröffentlichungsgeschichte. Nach den erwähnten 17 Schreiben in Band 4 der Gesammelten Werke erschienen weitere Schreiben sowie ein Gutteil der Lebensdokumente in Materialienbänden wie dem von Hans Prokop verantworteten Begleitband zur Wiener Ödön von Horváth-Ausstellung 197116, den von Krischke und Prokop erstellten Bänden zu Leben und Werk Horváths17 und in verschiedenen akademischen Arbeiten.18 Bereits 1970 veröffentlichte der ungarische Literaturwissenschaftler Dezsö Báder die Korrespondenz zwischen Horváth und den Hatvanys.19 Zu Beginn der 1980er-Jahre unternahm Traugott Krischke mit den leider nur sehr kurzlebigen ‚Horváth-Blättern‘ den Versuch, die bis dato bekannten Briefe in Tranchen zu edieren und zu kommentieren. Die ‚Horváth-Blätter‘ wurden während der Vorbereitungen zur dritten Ausgabe 1985 eingestellt, weshalb Krischke in seiner Edition der Briefe nur bis 1930 gekommen ist.20 1989 konnte Hansjörg Schneider das Konvolut des Briefwechsels Horváths mit dem Amsterdamer Exil-Verlag Allert de Lange und Walter Landauer ausfindig machen und edieren.21 Darüber hinaus liegen schließlich einige Abdrucke von Einzelfunden in Publikationen Krischkes und an anderen Orten vor. –––––––— 14
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Vgl. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Dieter Hildebrandt und Traugott Krischke. Bd. 4: Fragmente und Varianten, Exposés, Theoretisches, Briefe, Verse. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971, S. 672–683. Ebd. S. 45*. Hans F. Prokop: Ödön von Horváth. 1901–1938. Katalog der Ausstellung im Museum des 20. Jahrhunderts im Schweizergarten. Wien: Jahoda 1971. Ödön von Horváth: Leben und Werk in Dokumenten und Bildern. Hrsg. v. Traugott Krischke und Hans F. Prokop. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972; Ödön von Horváth: Leben und Werk in Daten und Bildern. Hrsg. v. Traugott Krischke und Hans F. Prokop. Frankfurt/Main: Insel 1977. Vgl. hier vor allem Günther 1978 (Anm. 12) und Wolfgang Lechner: Mechanismen der Literaturrezeption in Österreich am Beispiel Ödön von Horváth. Stuttgart: Heinz 1978. Vgl. Dezsö Báder: Einzelheiten aus der Literatur der Emigration. Briefwechsel Ödön von Horváths und Franz Theodor Csokors mit Lajos von Hatvany. In: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae, 12, 1970, S. 202–227. Vgl. [Traugott Krischke]: Ödön von Horváths Briefwechsel (Teil I: 1909–1929). In: Horváth-Blätter 1, 1983, S. 100–114 und [ders.]: Ödön von Horváths Briefwechsel (2. Teil: 1930). In: Horváth-Blätter 2, 1984, S. 115–126. Im Nachlass Traugott Krischkes am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (Signatur ÖLA 84) findet sich überdies eine fast druckfertige Korrekturfahne des nie erschienenen dritten Jahrganges der Horváth-Blätter. Die darin enthaltene dritte Tranche der Briefwechsel Horváths deckt den 1985 gegebenen Kenntnisstand der Briefe bis 1932 ab. Vgl. Schneider 1989 (Anm. 13).
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Überraschend spät, erst 1992, und auch nur in kleinerem Rahmen edierte Krischke eine der reichhaltigsten, aber zugleich problematischsten Quellen zu Horváth, die er selbst bereits wiederholt zur Datierung und Kommentierung herangezogen hatte, den Briefwechsel mit Franz Theodor Csokor.22
Fingierte Quellen: Franz Theodor Csokor Der Briefwechsel Ödön von Horváths mit Franz Theodor Csokor erschien zu einem Großteil bereits 1964 im Band Zeuge einer Zeit, in dem Csokor die Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, seine Flucht vor den Nationalsozialisten und schließlich seine Rückkehr nach Wien anhand ausgewählter Briefwechsel mit Zeitgenossen schildert.23 Neben Briefen an Lina Loos, Ferdinand Bruckner und andere finden sich darin auch mehrere Briefe aus seinem Briefwechsel mit Ödön von Horváth. Dieser setzt Anfang 1933 ein und ist, wie bereits angemerkt, die mit Abstand umfangreichste private Korrespondenz Horváths: Von den insgesamt 88 privaten Schreiben von und an Horváth ab 1933 entfallen 36 allein darauf. Ihre Qualität als Quelle ist sehr unterschiedlicher Natur, die Publikationsgeschichte vertrackt. Denn ein Großteil der Briefe von und an Horváth liegt uns nicht im Original, sondern in Abschriften vor. Csokor hatte, so seine freimütige Auskunft im Vorwort zu Zeuge einer Zeit, viele der von ihm empfangenen Briefe aus Vorsorge für die eventuell von Verfolgung bedrohten Korrespondenzpartner vernichtet und später teils „aus von Tagebuchnotizen gestützten Entwürfen“ rekonstruiert.24 Aufbewahrt hatte er, so Csokor weiter, nur diejenigen Briefe, deren Verfasser durch sicheres Exil in einem neutralen Land oder aufgrund ihres Ablebens nicht mehr verfolgt werden konnten, eigene Briefe „wurden von den Personen, an die sie sich gerichtet hatten, oder von ihren Erben beigestellt.“25 Bereits diese Vorbemerkung gemahnt zu philologischer Vorsicht. Die tatsächliche Quellenlage zeigt ein ernüchterndes Bild: Von den insgesamt 36 Briefen von und an Csokor liegen 12 originale Schreiben von Horváths Hand an Csokor vor, die sich in den Teilnachlässen Csokors in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek und der Wienbibliothek im Rathaus sowie einer Sammlung des Archivs der Akademie der Künste in Berlin erhalten haben. Weitere 24 Schreiben existieren allein in Form unterschiedlicher Abschriften, die Csokor angefertigt hat, nachdem die originalen Schreiben Horváths, so die in einer Fußnote versteckte Angabe, „durch Brand zugrunde“26 gegangen seien. Im Teilnachlass Csokor an der Wienbibliothek im Rathaus (Signatur ZPH 414/3) liegen mehrere –––––––— 22
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Traugott Krischke [Red.]: „Leben ohne Geländer“. Briefwechsel zwischen Franz Theodor Csokor und Ödön von Horváth aus den Jahren 1933–1938. Zusammengestellt und kommentiert von Traugott Krischke. In: Lebensbilder eines Humanisten. Ein Franz Theodor Csokor-Buch. Hrsg. v. Ulrich N. Schulenburg. Wien: Löcker/Sessler 1992, S. 139–172. Franz Theodor Csokor: Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933–1950. München/Wien: Langen Müller 1964. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 180.
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Typoskripte vor, bei denen es sich um Abschriften bzw. Rekonstruktionen handelt, die teilweise die unmittelbare Vorlage für die Kompilation von Zeuge einer Zeit bilden und entsprechende Korrekturen von Csokors Hand für die Druckgestaltung tragen. Einige Abschriften von nicht in Zeuge einer Zeit aufgenommenen Briefabschriften sind als Leihgabe Csokors an die Ungarische Akademie der Wissenschaften gelangt und wurden von dort aus für die schmale Briefedition der Gesammelten Werke erschlossen.27 Ausgerechnet jene 9 schließlich in Zeuge einer Zeit aufgenommenen Briefe bilden nun das mit Abstand problematischste Konvolut. Als eine der frühesten publizierten Quellen zu Horváths Leben überhaupt hatten sie gravierenden Einfluss auf dessen Rezeption. Sie sind zu nicht unerheblichen Teilen fingiert.28 Wie eine Gegenüberstellung aller Quellen zeigt, geht keines der in Zeuge einer Zeit enthaltenen Schreiben auf ein vorhandenes Original zurück, was allein angesichts der zitierten Angaben Csokors zu seiner Textgrundlage misstrauisch stimmt und schließlich angesichts der 12 im Original vorhandenen Schreiben an Csokor, die sich in den Teilnachlässen finden, vollends verwundert. Die Geschichtsklitterung, die Csokor in seinem Band vornimmt, lässt sich zunächst indirekt nachweisen: Zum einen verschleiert er bewusst die Tatsache, dass Horváth sich, nachdem er im Frühsommer 1933 nach Österreich geflüchtet war, vom Frühjahr 1934 bis Mitte 1935 wieder in Deutschland aufgehalten hat.29 Im Juli 1934 stellte Horváth nämlich einen Antrag auf Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller (RDS) und war dann als Drehbuchautor in Berlin tätig. Das steht völlig quer zur ebenfalls von Csokor kolportierten Fama, Horváth habe sich immer nur kurz, gewissermaßen zu Studienzwecken, in Deutschland aufgehalten.30 In Zeuge einer Zeit enthaltene Briefe aus jener Zeit adressiert Csokor konsequent an die Anschrift Dominikanerbastei 6 in Wien, wo Horváth aber nachweislich erst 1936 gelebt hat.31 Schließlich hat auch ein von Christian Schnitzler angestellter Vergleich der in Zeuge einer Zeit abgedruckten Briefe an Ferdinand Bruckner mit zufällig wieder aufgetauchten Originalschreiben bereits 1990 gezeigt, dass Csokor stark stilisierend eingegriffen hat und insbesondere Erwähnungen von bzw. Ausführungen über Horváth in diese Briefe montiert hat.32 Den dadurch im Raum stehenden Verdacht der Fingierung –––––––— 27 28 29
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Vgl. Hildebrandt/Krischke 1971 (Anm. 14). Eine exemplarische Analyse zeigt hierzu Klaus Kastberger: 200 Jahre Bosheit. Nestroy und Horváth – ein forcierter Vergleich. In: Nestroyana 26, 2006, H. 1/2, S. 62–76. Vgl. dazu Martin Vejvar: Vorwort (Hin und her). In: Ödön von Horváth: Eine Unbekannte aus der Seine / Hin und her. Hrsg. v. Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2012 (Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6), S. 169–189, hier 173f. Vgl. dazu bereits die Skepsis in der heute noch ausgezeichneten Horváth-Monographie von Dieter Hildebrandt: Ödön von Horváth mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 1975, S. 86. Vgl. Csokor 1964 (Anm. 23), S. 81f. Die Wohnsituation lässt sich eindeutig aus den Meldebestätigungen Horváths ersehen, die Krischke 1971 von der Bundespolizeidirektion Wien bezogen hat, vgl. Krischke/Prokop 1972 (Anm. 17), S. 136f. Vgl. Christian Schnitzler: Der politische Horváth. Untersuchungen zu Leben und Werk. Frankfurt/Main [u. a.]: Lang 1990.
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wiegelt Krischke in seiner Edition der Briefe mit direktem Bezug auf Schnitzlers Erkenntnisse angesichts der unbestreitbaren „Relevanz“ dieses Briefwechsels ab.33 Weder Schnitzler noch Krischke war jedoch das heute im Teilnachlass Franz Theodor Csokor (ZPH 414/3) der Wienbibliothek im Rathaus lagernde Konvolut bekannt. Die dort enthaltenen Rekonstruktionen Csokors beziehen sich, anders als die bisher aus der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest bekannten, unmittelbar auf die Drucklegung von Zeuge einer Zeit. Sie ermöglichen eine wesentlich profundere Einschätzung der von Csokor vorgenommenen Eingriffe. Insgesamt können in den hier erhaltenen Abschriften zwei Schreibmaschinen unterschieden werden. Die Abschriften aus der einen Schreibmaschine sind textidentische Abschriften der Briefe, die bereits aus Budapest bekannt sind. Die mit der anderen Schreibmaschine gefertigten Abschriften lassen sich wiederum weiter untergliedern: Es handelt sich dabei zum einen um ein Konvolut, das Csokor eindeutig zur Erarbeitung von Zeuge einer Zeit benutzt hat – erkennbar an einer hohen Paginierung der Blätter sowie an handschriftlichen Korrekturen zur Drucklegung. Neben tatsächlich abgedruckten Briefen umfasst dieses Konvolut auch einige Schreiben, deren Aufnahme in Zeuge einer Zeit Csokor zumindest überlegt hatte. Zum anderen liegen nunmehr auch Abschriften vor, die von einem im Original vorliegenden Schreiben Horváths angefertigt wurden.34 Zumindest diese sind in der Abschrift nicht verändert worden, waren aber auch nie für die Publikation vorgesehen. Besonders intensive Eingriffe Csokors lassen sich hingegen an den Abschriften der (nicht im Original überlieferten) Briefe vom 4. bzw. 7. Mai 1938 nachweisen: Hier liegt neben den separaten getreuen Abschriften der Briefe auch eine redigierte ‚Rekonstruktion‘ Csokors vor, in welcher er beide Schreiben in eines zusammenfasst und, datiert auf den 7. Mai, in Zeuge einer Zeit abdruckt. Damit nicht genug, setzt Csokor just bei diesem Brief die zuvor erwähnte Fußnote zum Verlust der Originalbriefe Horváths durch einen Brand. Bei dem vorliegenden Schreiben, so Csokor in derselben Fußnote, handle es sich um den „einzige[n] Brief Ödön von Horváths an Csokor aus der Exilzeit, der im Original erhalten blieb. […] Den obigen Brief hatte Csokor nach Horváths Tod am 1. Juni 1938 dessen Eltern zur Erinnerung an den Sohn übersandt.“35 Im Nachlass Ödön von Horváths, der vollständig aus den von der Familie aufbewahrten Beständen besteht, hat sich kein derartiges Schreiben erhalten. Dessen ungeachtet, weist allein die eigenartige Tatsache, dass sich Csokor in seinen Rekonstruktionsbemühungen nicht für einen der beiden zur Disposition stehenden Briefe entscheiden kann, auf die dubiose Authentizität hin, die die Fußnote heischt. Ein in der Druckfassung von Zeuge einer Zeit äußerst auffälliges Beispiel für die Literarisierung bzw. Stilisierung, die Csokor vorgenommen hat, ist der so bezeichnete letzte Brief an Ödön von Horváth, der im Band auf den 31. Mai 1938 datiert, symbolträchtig einen Tag vor Horváths Tod. Verdächtig erscheint schon die im Druck in einer Fußnote geäußerte Anmerkung, der Brief sei an den Verfasser zurückergangen, –––––––— 33 34 35
Krischke 1992 (Anm. 22), S. 140. Dies betrifft die Briefe vom 19. 10. 1936, 2. 2. 1937, 24. 11. 1937, 14. 12. 1937 und vom 28./29. 12. 1937. Csokor 1964 (Anm. 23), S. 180.
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da sich kein Original erhalten hat;36 vermutlich ist dieses ein Raub der Flammen geworden.37 Der Brief liegt uns aufgrund der neuen Funde im Nachlass Csokor aber nun in zwei alternativen Abschriften vor, in der für den Druck bearbeiteten Fassung und in einer separat entstandenen Abschrift, die nicht für die Drucklegung eingerichtet wurde.38 Im Kontrast der beiden Fassungen lassen sich einige Eingriffe Csokors nachvollziehen: In dem ausführlichen Schreiben in der Druckfassung39 drückt Csokor, der sich zu diesem Zeitpunkt im Exil bei Freunden nahe dem polnischen Katowice befindet, seine Freude über Horváths Ankunft in Paris aus und lobt überschwänglich den Roman Jugend ohne Gott. Neben den Landschaftsbeschreibungen anlässlich eines Ausflugs deutet Csokor eine geplante Emigration Horváths in die USA an und imaginiert die Gruppe der nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs geflüchteten Schriftsteller um Josef Roth, Carl Zuckmayer, Franz Werfel und andere als dessen neue „Angehörige[]“.40 Eine geplante Emigration Horváths in die USA lässt sich allerdings nicht verifizieren. Auch die Beschwörung einer österreichischen Exilgemeinschaft verweist in dieser Form eher auf die Nachkriegszeit. Wirklich atemberaubend ist aber die Conclusio der Landschaftsbeschreibung des Ausflugs: Csokor beschreibt detailliert die jüdischen Gemeinden und das jüdische Leben dieser Gegend und erwähnt schließlich fast nebenher: „wir verließen dieses galizische Jerusalem. ‚Oswiecim‘ heißt es auf polnisch, ‚Auschwitz‘ – deutsch.“41 Wenngleich Csokor sich verbrieftermaßen in dieser Gegend aufgehalten hat, ist die Form und Vorsehung dieses prophetischen Reiseberichts mit einiger Sicherheit ein Ergebnis nachträglicher Stilisierung und nicht dasjenige fortlaufender wie hellseherischer Epistolographie. Die zweite Abschrift des Briefs ist ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit nachträglich entstanden, allerdings früher als die abgedruckte. Sie weist einen etwas kürzeren Text mit einer geänderten Abfolge der Einzelereignisse auf. Überschrieben mit „Letzter Brief an Ödön von Horváth“42 datiert die Abschrift jedoch auf den 28. 5. 1938. Das ist zwar schon sehr nahe an Horváths Todestag, jedoch wohl noch nicht nahe genug. Die Entscheidung, den Brief umzudatieren, ist wohl erst unmittelbar vor dem Abdruck erfolgt, wie eine Sofortkorrektur mit der Schreibmaschine in der Druckvorlage zeigt – ein zunächst getipptes „28“ wird deutlich von „31“ überlagert.43 Mit der Prophetie von Csokors Auschwitz-Besuch korrespondiert schließlich ein kleiner Eingriff in eine ansonsten wortgleiche Passage: Ist in der auf den 28. Mai datierten Abschrift noch schlicht vom „Roman“ Jugend ohne Gott die Rede, apo-
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Vgl. ebd., S. 184. Vgl. Anm. 26. Vgl. Franz Theodor Csokor an Ödön von Horváth, 28. 5. bzw. 31. 5. 1938, Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 414/3. Vgl. Csokor 1964 (Anm. 23), S. 184–186. Ebd., S. 185. Ebd., S. 186. Franz Theodor Csokor an Ödön von Horváth, 28. 5. 1938, ZPH 414/3, Blatt 1. Franz Theodor Csokor an Ödön von Horváth, 31. 5. 1938, ZPH 414/3, Blatt 1.
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strophiert ihn die Druckfassung als „prophetischen Roman“.44 In diesem Schreiben findet, so hat es den Anschein, sehr viel nachträgliche Weissagung statt. Eingriffe, Stilisierungen, Literarisierungen und Klitterungen vor dem Hintergrund vorgegebener Authentizität durchziehen einen Großteil des nicht eindeutig an einem Original festzumachenden Briefwechsels Horváths mit Csokor, der im Verlauf der gesamten Horváth-Forschung für seine Aperçus und werkrelevanten Bemerkungen immer gerne zitiert worden ist.45 Obwohl sich ein nennenswerter Teil dieses Briefwechsels bei genauer Prüfung als definitiv unzuverlässige Quelle erweist, ist sein vollständiger Abdruck in der Wiener Ausgabe nicht zuletzt aufgrund der starken Wirkung dieser Briefe auf die Rezeption unverzichtbar. Eine deutliche Auszeichnung ihres quellenkundlichen Status (etwa durch eine kontrastierende Typographie im Lesetext), die genaue Angabe aller in den Abschriften gegebenen Varianten sowie die Gegenüberstellung mit den durch andere Dokumente belegten Fakten im Kommentar sind hierbei die probatesten editorischen Lösungen. Erst so kann es möglich werden, der Horváth-Philologie die Mittel zur Revision der Verstellungen wie Inszenierungen Csokors zur Hand zu geben und gegebenenfalls dem Briefwechsel zumindest einen Teil seiner Auskunftskraft zurückzugeben.
Zu den Akten Eines der für die Revision von Csokors Fiktionen maßgeblichen Dokumente, das selbst wiederum Anlass zu Revisionen an Horváths Biographie gegeben hat (und bei manchen heute noch gibt) soll am Schluss dieses Überblicks stehen. Damit soll zugleich die gesonderte Behandlung von Akten im Rahmen der Edition der Briefe und Dokumente Ödön von Horváths kurz erläutert werden. Der bereits angesprochene Eintritt Horváths in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller (RDS) 1934 ist durch einen Akt der Reichsschrifttumskammer belegt, der sich heute im Deutschen Bundesarchiv befindet (R9361-V/6585). Zuerst entdeckt wurde er von Jutta Wardetzky im Zuge ihrer Recherchen zur Theaterpolitik im faschistischen Deutschland, wo der Akt in den damals noch in Potsdam lagernden Beständen auftauchte.46 Darin enthalten ist der auf den 13. Juli 1934 datierte Antrag auf Aufnahme in die Fachschaft „Bühne“ sowie als „Gast“ in die Fachschaft „Film“. Vorausgegangen war dem Antrag ein peinlich berührendes Anbiederungsschreiben Horváths an den gleichgeschalteten Neuen Bühnenverlag, das dieser dem „Reichsdramaturgen“ Rainer Schlösser in Abschrift weiterleitete. In diesem Schriftstück will die „typisch altösterreichisch-ungarische Mischung“,47 als welche sich Ödön von Horváth selbst bezeichnet, klargestellt wissen, dass er sich auch gegen marxistische
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Csokor 1964 (Anm. 23), S. 184. Vgl. dazu im Detail Kastberger 2006 (Anm. 28). Vgl. Jutta Wardetzky: Theaterpolitik im faschistischen Deutschland. Berlin: Henschel 1983, S. 103f. Horváth 1988 (Anm. 6), S. 184.
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Anfeindung immer für Deutschland ausgesprochen hat und sich dem „mächtigen deutschen Kulturkreis“48 unterordnet. Außer dem Antrag selbst umfasst der Akt aber noch ganz andere Dokumente. Enthalten ist beispielsweise eine Korrespondenz zwischen der Gestapo und dem Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda von 1938, die die Eintragung von Jugend ohne Gott in die ‚Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums‘ betrifft. Außerdem liegen innerbehördliche Vermerke vor, die das Ausbleiben von Horváths Beitragszahlungen ab Mitte 1935 oder Horváths Adresswechsel festhalten. Die einzelnen Dokumente stammen damit von ganz unterschiedlichen Daten der Jahre 1934–1938. Die im Akt enthaltenen Durchschläge der Schreiben an Horváth den Briefen, die übrigen Unterlagen den Dokumenten zuzuordnen und alles jeweils chronologisch zu sortieren bzw. die Anmerkungen und Beilagen der Bearbeiter als autorfremdes Material überhaupt zu skartieren, hieße, den Akt aufzulösen. Ein Akt ist jedoch, so die Ansicht, die in der Wiener Ausgabe für editorische Zwecke fruchtbar gemacht werden soll, nicht einfach eine Sammlung von Dokumenten – er ist selber eines. Zu dem Zeitpunkt, da Dokumente in den Verbund des Akts aufgenommen werden, verlieren sie einen Teil ihrer Eigenständigkeit und geraten zusehends zu Aktenstücken, die ihrerseits wiederum neue, allein auf den Akt bezogene Schriften generieren (Aktendeckel, Vermerke etc.). Den Akt aufzulösen, hieße, einen ganz spezifischen, in diesem Fall behördlichen Sinnzusammenhang zu negieren und die hierin akkumulierten Schriftstücke um einen ihnen von der jeweiligen sammelnden Instanz zuerkannten respektive um ihren alleinigen Funktionszusammenhang zu bringen.49 Löste man ihn auf, ergäben sich außerdem sofort Fragen der Zuordnung im Bezugssystem einer historisch-kritischen Edition: In welche anderen Sachgruppen gehören die enthaltenen Dokumente? Wohin etwa mit der zweifellos wichtigen, für Bearbeiter gedachten Aufstellung behördeninterner Anmerkungen, die Details zu Horváths Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller sowie seine Adresswechsel belegen? Und wohin mit den Anmerkungen auf dem Aktendeckel? Der Akt bildet in einem ganz buchstäblichen Sinne eine Klammer um Dokumente und Sachverhalte und stellt diese in einem Netzwerk behördlicher Zusammenhänge und Arbeitsschritte dar, die über die Quellenlagen einer Autorenbiographie hinausgehen. Daran schließen sich Fragen nach der Archivierbarkeit und dem Archiv als spezifischem Raum nicht nur des Akts, sondern auch der literarischen Handschrift an, Fragen, die im editionswissenschaftlichen Diskurs immer noch selten thematisiert werden. Deshalb soll dieser Akt (neben anderen) im Rahmen der Wiener Ausgabe als Ganzes, in seinem spezifischen behördlichen Zusammenhang faksimiliert und kom–––––––— 48 49
Der Neue Bühnenverlag an Rainer Schlösser, Berlin, 26. 6. 1934, Deutsches Bundesarchiv, R55-20168, S. 195v. Auf die Notwendigkeit, amtliche Schriften anders als private Briefe zu behandeln, macht am Beispiel Goethes Irmtraud Schmid aufmerksam, vgl. z. B. Irmtraud Schmid: Anforderungen an die Kommentierung von Briefen und amtlichen Schriftstücken. In: „Ich an Dich“. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hrsg. v. Werner Bauer [u. a.]. Innsbruck: Institut für Deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik 2001, S. 35–45. Vgl. aus historiographischer Perspektive grundlegend Gerhard Schmid: Akten. In: Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Hrsg. v. Friedrich Beck und Eckhart Henning. 5. Aufl. Köln [u. a.]: Böhlau 2012, S. 89–124.
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mentiert werden. Akten liefern in dieser Form nicht nur die notwendigen literaturgeschichtlichen Daten und Fakten, sondern kommt auch einem bestehenden literaturwie kulturwissenschaftlichen Interesse an Fragen des Archivs und der Aktenkunde entgegen.50
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Vgl. exemplarisch aus medienkulturwissenschaftlicher Perspektive Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/Main: Fischer 2000.
Ramona Hocker / Rainer J. Schwob
Fux durchs Schlüsselloch Komposition und Revision in Messvertonungen
Für die Erforschung der Genese musikalischer Werke werden typischerweise Kompositionsskizzen, Fragmente, Überarbeitungen und Korrekturfahnen von Erstdrucken herangezogen; außerdem gewähren Textquellen wie Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen Rückschlüsse auf die Werkentstehung. Die Existenz und Überlieferung solcher Dokumente ist jedoch, musikgeschichtlich betrachtet, ein spätes Phänomen; sie stehen in den meisten Fällen erst ab Beginn des 19. Jahrhunderts zur Verfügung. Bis ca. zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte die Tätigkeit des Komponierens eine ausgeprägte handwerkliche Komponente: Komposition wurde als ein durch Regeln bestimmter, lehr- und lernbarer Prozess angesehen, nicht jedoch als geheimnisvoller, mühelos oder mühevoll vollzogener kreativer Akt eines Genies, das die Dokumentation seines Schaffensprozesses zulässt oder auch sorgfältig verbirgt. In diesem Verständnis ist ein Werk weniger ein Unikat als eine exemplarische Ausbildung der für die jeweilige Gattung geltenden Regeln und Normen; es zeigt zwar in der Anwendung der Regeln – zuweilen auch in ihrer legitimierten Überschreitung – individuelle Züge, entbehrt aber des dezidiert Subjektiven sowohl im Sinne einer Äußerung persönlicher Belange als auch in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem gegebenen Regelwerk. So betrachtet scheint der Entstehungsprozess einer Komposition nur wenig Aussagekraft zu besitzen und zudem mangels geeigneter Quellen nur ungenügend dokumentiert zu sein. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn die einschlägigen literatur- und musikwissenschaftlichen Methoden der critique génétique wie auch der Skizzenforschung vor allem durch die editorische Arbeit an Werken des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Somit werden sie Schaffensprozessen in früheren Epochen nur bedingt gerecht. Das relativ kleine Spektrum an textgenetischen Zeugen sowie die bei manchen Komponisten geringe Anzahl an überlieferten Autographen zwingt zu einer stärkeren Fokussierung auf den Mikrokosmos des Werktextes. Sichtbare Änderungen und Spuren des nicht mehr Gültigen fungieren dabei als Marken des dynamischen Schreibvorgangs. Der aus der Nähe von Graz – aus Hirtenfeld/St. Marein – stammende Johann Joseph Fux (um 1660–1741) war von 1715 bis zu seinem Tod als kaiserlicher Hofkapellmeister der ranghöchste Musiker im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Bis ins 20. Jahrhundert hielt sich ein reduziertes Bild von Fux als komponierendem Theoretiker, der vor allem als Verfasser des stark rezipierten Lehrwerks Gradus ad parnassum (Wien 1725) und einiger weniger geistlicher Kompositionen im historisierenden Stile antico bekannt war. Für seine Zeitgenossen hingegen war er ein produktiver Komponist, der mit über 600 erhaltenen Werken in allen führenden
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weltlichen wie geistlichen Gattungen seiner Zeit einen wichtigen Beitrag zur Repräsentationspolitik der Habsburger leistete. Von Fux sind keine eigentlichen avant-textes1 in Gestalt von Skizzen oder Vorarbeiten überliefert. Die wenigen erhaltenen Partiturautographen präsentieren von ihm offenbar als ‚endgültig‘ empfundene Werktexte und dienten der Wissenschaft als gleichsam abgeschlossene Editionsquellen. Dank der in ihnen enthaltenen Revisionen stellen sie jedoch zugleich textgenetische Zeugnisse dar. Kompositionsautographen versprechen Antworten auf die Frage, wie Fux komponierte. Allerdings lassen sich aus textgenetischen Befunden nur punktuelle, hypothetische Deutungen ableiten.2 Außerdem ist vor dem Hintergrund eines handwerklichen Kunstverständnisses das Verhältnis von allgemeinen Praktiken und Individuellem zu berücksichtigen: Welche Zusammenhänge bestehen zwischen kompositorischen und schriftlichen Routinen? Spiegeln sich – beispielsweise beim von Fux häufig vertonten Ordinariumstext – kompositorische Praktiken im Notat und existieren vergleichbare Routinen auch für den Schreibvorgang? Wenn wir ausgewählte kirchenmusikalische Werke von Fux anhand der Änderungen textgenetisch untersuchen, sind wir mit dem aus der Literaturwissenschaft bekannten Problem konfrontiert, dass das statische, sich im Räumlichen manifestierende Notat nicht alle Dimensionen des zeitlichen Schreibvorgangs – oder auch der klanglichen Realisierung – fassen kann: Zeitliches ist hier nur implizit enthalten und muss aus den räumlichen Spuren hypothetisch erschlossen werden. Deshalb beginnen wir unsere Darstellung an den Quellen mit materiellen Befunden sowie einer Klassifizierung der Revisionen und stellen im zweiten Schritt die Änderungen wieder in ihren Kontext, um mögliche Motivationen der Umarbeitungen zu rekonstruieren. Schließlich versuchen wir eine Annäherung an die Arbeitsprozesse selbst und fragen nach den Konsequenzen dieser Erkenntnisse für die Editionspraxis.
1. Quellen, Datenbasis und Typologie 1.1 Quellen Fux’ eigenhändige Hinterlassenschaften hatten für seine Umwelt keinen dokumentarischen oder ideellen Wert, was sich auch in der Quellenlage spiegelt: Trotz breiter Überlieferung von Abschriften sind nach derzeitigem Forschungsstand lediglich 14 –––––––— 1
2
Vgl. Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. Bern etc. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 4), S. 139f., und Michael Struck: Vom Einfall zum Werk – Produktionsprozesse, Notate, Werkgestalten. In: Brahms Handbuch. Hrsg. von Wolfgang Sandberger. Stuttgart, Weimar, Kassel 2009, S. 171–198. Vgl. Bernhard R. Appel: Textkategorien in kompositorischen Werkstätten. In: „Ei, dem alten Herrn zoll’ ich Achtung gern’“. Festschrift für Joachim Veit zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Kristina Richts und Peter Stadler. München 2016, S. 49–57, hier 57, und Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45–90.
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Musikautographen von Fux erhalten;3 offensichtlich waren für die Hofkapelle nur Aufführungsmaterialien von Interesse. Die autographen Kompositionspartituren gingen wahrscheinlich nach Kopie der Stimmen an Fux zurück und verschwanden mit seinem bisher nicht aufzufindenden Nachlass. Fast alle überlieferten Autographen enthalten kirchenmusikalische Werke, darunter sechs Messordinarien, die wiederum mit über 80 erhaltenen Vertonungen eine Hauptgattung in Fux’ Schaffen darstellen. Im Folgenden möchten wir die Autographen mit den deutlichsten Änderungsspuren näher untersuchen: die größer besetzten, undatierten Messen K 5, K 10 und K 34a sowie das a cappella-Completorium K 127 von 1717.
K5 K 10 K 34a K 47 K 127
K 34 K 54 K 142 K 187 K 221 K 289 E 37 E 113 + E 68
Für diesen Beitrag untersucht Missa brevis solennitatis (A-Wn Mus. Hs. 19193) Missa Corporis Christi (1713) (F-Pn Res. F. 1058, Ms. 1867, 80057) Missa Sti Joannis Nepomucensis (A-Wgm Musikautographe Johann Joseph Fux 2, I 12023) Missa C-Dur (A-Wn Mus. Hs. 16118), Stimmen, Teilautograph Completorium (1717) (A-Wn Mus. Hs. 16428) Für diesen Beitrag nicht näher untersucht, da weniger ergiebig Missa S. Joannis (a cappella) (F-Pn MS 1867) Libera (D-B Mus. Ms. Autogr. Fux, J. J. 1) Graduale (A-Wn Mus. Hs. 15825) Alma redemptoris (D-Dl Mus. 2130-E-1) Ave Regina (I-Baf MSG I-FUX-MUS.1) Fünf Mysteria (A-Wn Mus. Hs. 16756) Te Deum (H-Bn Ms. Mus. 2776) Missa SS mae Trinitatis und Sonata (A-Wm B XII 599), Reinschrift
Tabelle 1: Johann Joseph Fux, erhaltene Autographen; soweit nicht anders angegeben, Kompositionspartituren. Eine Liste an Digitalisaten bietet http://www.fux-online.at/.
1.2 Datenbasis Zwei Typen von Handschriften lassen sich unterscheiden: ‚Momentaufnahmen‘ liegen bei Stimmen, Partitur-Reinschriften, Partitur-Abschriften oder Partituren, die aus Stimmmaterial spartiert werden, vor; idealer-, aber nicht notwendigerweise entspricht dies einem Stand, an dem der Komponist das Werk als abgeschlossen ansieht. –––––––— 3
Vgl. Thomas Hochradner: Thematisches Verzeichnis der Werke von Johann Joseph Fux (? 1660–1741) (FuxWV). Völlig überarbeitete Neufassung des Verzeichnisses von Ludwig Ritter von Köchel (1872). Bd. I. Wien 2016. S. XXXI. Da der II. Band des Werkverzeichnisses mit den kirchenmusikalischen Vokalwerken noch nicht erschienen ist, verwenden wir die alte Werkzählung.
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Arbeitsprozesse sind an einzelnen derartigen Quellen nicht ersichtlich. Textgenetische Spuren können hingegen in Skizzen, sprachtextlichen Notizen und Arbeitspartituren enthalten sein. Letztere bilden die einzige Quelle zu Fux’ Arbeitsweise, über die zudem keine eigenen oder fremden Äußerungen vorliegen. Revisionen am kopierten Werk kommen bei Fux äußerst selten vor. Die Arbeit an einer Komposition beginnt mit Wahl und Einrichtung des Papiers, die von der benötigten Stimmenzahl abhängen. Zu diesem Zeitpunkt hat der Komponist bereits eine Vorstellung von der Satzdisposition und der Besetzung, die von Anlass, Festgrad und Aufführungsort zumindest mitbestimmt ist (z. B. Trompeten bei hohem Festgrad, a cappella in der Fastenzeit). In vielen liturgischen Gattungen, insbesondere im Ordinarium Missae, ist der Ablauf durch den kanonisierten Text und liturgische Konventionen vorgegeben. Schon deshalb finden sich in Fux’ Kirchenmusik kaum grundlegende Revisionen an Struktur oder Besetzung. Die durch den Generalbasssatz bestimmte Arbeitsweise eines Barockkomponisten erlaubte Entwurf und Ausarbeitung in der gleichen Partitur. Dieses Vorgehen ist nicht nur durch Sparsamkeit motiviert: Der Komponist kann ohnehin nicht alle gleichzeitig erklingenden Stimmen simultan zu Papier bringen, deshalb notiert er erst ein Außenstimmengerüst und ergänzt dann weitere Stimmen und Angaben.4 Das ‚Revidieren‘, im wörtlichen Sinne als prüfender Blick zurück, ist also integraler Bestandteil der rekursiven Arbeitsweise eines Komponisten – auch wenn die ersten ‚Revisionen‘ nicht notwendigerweise mit Änderungen des bereits Geschriebenen verbunden sind. In Fux’ Partituren gibt es sehr wenige verbale Anmerkungen. Andernorts notierte sprachtextliche Notizen und Konzepte zu den untersuchten Werken sind nicht erhalten, ebenso wenig musikalische Entwürfe größerer Passagen auf eigenen Blättern; solche Materialien wurden in dieser Zeit nicht aufbewahrt. Daher bleibt es Spekulation, ob Fux mit Skizzen gearbeitet hat. Für die Arbeitsweise von Fux und seinen Zeitgenossen sind sie meist nicht unbedingt erforderlich, manchmal aber anzunehmen: Der Doppelkanon im Sanctus der Missa Sancti Joannis K 34 beispielsweise weist im Partiturautograph trotz seines komplexen Satzes relativ wenige Änderungen auf, hier ist mit verloren gegangenen kontrapunktischen Vorstudien zu rechnen. Beschreibstoff ist bei Fux immer händisch rastriertes (d. h. mit Notenlinien versehenes) Papier von mittlerer bis hoher Qualität. Schreibstoff ist stets Tinte; ihr Farbton und ihre sich im Schreibvorgang ständig ändernde Pigmentdichte (auch durch Verdünnung mit Wasser) lassen mit größter Vorsicht Rückschlüsse auf Schreibchronologien zu. Fux verzichtete auf Markierungen mit Rötel und Skizzierungen mit Bleistift.
–––––––— 4
Diese Praxis wird auch in zeitgenössischen Kompositionslehren empfohlen, siehe Johann Gottfried Walther: Praecepta der Musicalischen Composition. Hrsg. von Peter Bernary. Leipzig 1955, S. 103f.
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1.3 Typologie der Änderungen5 Unter ‚Korrekturen‘ verstehen wir Änderungen am Text, die offenkundige Fehler richtigstellen; der zunächst niedergeschriebene Notentext begründet keine sinnvolle Textfassung. Häufig handelt es sich um ‚Sofortkorrekturen‘ im Zuge der Niederschrift, denen keine erneute Sichtung des bereits Geschriebenen vorangeht und die man daher nicht als ‚Revision‘ bezeichnen möchte. Besonders gut erkennbar ist dies, wenn Tinte ausgewischt wurde, bevor sie trocken war. Als ‚Revisionen‘ definieren wir Eingriffe in den bereits niedergeschriebenen Notentext, die ein gewisses Innehalten und Überdenken des Geschriebenen erfordern. In der Regel eröffnen Revisionen Textvarianten, die Fux offenbar für ‚besser‘ als das zuvor Notierte hält; in diesem Fall könnte man auch von einer ‚Verbesserung‘ sprechen.6 ‚Korrekturen‘ und ‚Revisionen‘ sind auf den ersten Blick ähnlich, sie erfordern Spekulationen über Motivationen und können auch nach näherer Betrachtung nicht immer sicher getrennt werden. Außerdem kann etwas, das wie eine Fehlerkorrektur aussieht, im ursprünglichen Kontext – als noch nicht alle Stimmen notiert waren – durchaus einen Sinn ergeben haben. Daher ist ein Oberbegriff wie ‚Änderung‘, der beide Arten von Eingriffen bezeichnet, sinnvoll. Im Folgenden geht es vor allem um räumlich begrenzte Sofortkorrekturen und Revisionen. Im gleichen Manuskript angebrachte Revisionen überdecken das, was ‚nicht mehr sein soll‘ – einen für Kopisten wie Aufführende und sogar für den Komponisten irrelevanten Zustand. Je nach Zeitpunkt im Kompositionsprozess und Umfang der Änderung verwendet Fux dafür verschiedene Verfahrensweisen:7
Auswischen bzw. Auslöschen: Sofortkorrektur, während die Tinte noch feucht ist; für eine Revision im Sinne von Sichtung des Geschriebenen ist hier kaum Zeit.8
–––––––— 5
6
7
8
Vgl. die Typologien bei Bernhard R. Appel: Über die allmähliche Verfertigung musikalischer Gedanken beim Schreiben. In: Die Musikforschung 56, H. 4 (Oktober–Dezember 2003), S. 347–365, hier 349, und Rüdiger Nutt-Kofoth: Variante, Lesart, Korrektur oder Änderung? Zum Problem der Synonyme in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Hrsg. von Gunter Martens. Berlin, Boston 2013 (Beihefte zu editio. 36), S. 113–124, und Andrea Hofmeister-Winter: Beredte Verbesserungen. Überlieferungsphilologische Betrachtungen zu Phänomenologie und Sinnproduktion von Textrevisionen in mittelalterlichen Handschriften, in: editio 30, 2016, S. 1–13. Die Vorstellung einer sukzessiven Optimierung ist für das 18. Jahrhundert durchaus zulässig, wie eine Aussage Goethes über Wieland zeigt: „stufenweise Correkturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers.“ Vgl. Nutt-Kofoth, ebd., S. 119. Die folgenden Beispiele wurden, wenn möglich, aus zwei online verfügbaren Autographen gewählt: der Messe K 5, Digitalisat: http://data.onb.ac.at/rec/AL00233194 (28.06.2016) und dem Completorium K 127, Digitalisat: http://data.onb.ac.at/rec/AL00233156 (28.06.2016). Vgl. zusätzlich die faksimilierte Seite aus K 34a in: Johann Joseph Fux: Missa Sancti Joannis Nepomucensis K 34a. Vorgelegt von Ramona Hocker und Rainer J. Schwob. Wien 2016 (Johann Joseph Fux – Werke. A/I/1), S. XLII. Bei Fux häufig. Vgl. K 5, fol. 4v, Vl. 1, 4. Takt, 1. und 2. Achtel: Achtelpause und Viertelnote ausgewischt.
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Überschreiben einzelner Symbole: Durch Überschreiben mit einem für sich bedeutungslosen Symbol (z. B. X, –) kann ein Notat für ungültig erklärt werden.9 Danebenschreiben (beziehungsweise darunter, darüber) – mit10 und ohne Ausstreichen11 des ursprünglichen Notats: Diese Vorgehensweise erfordert Platz im synoptischen Raster der Partitur, der in der Regel nicht vorhanden ist. Bedeutungskonstitutive Änderung der vorhandenen Graphie, z. B. Verkürzen oder Verlängern von Notenwerten.12 Rasur mit oder ohne spätere Überschreibung, also Tilgung oder Ersetzung: erlaubt im mehrstimmigen Satz Änderungen, ohne alle Stimmen neu zu schreiben; eine radikale Maßnahme, weil der frühere Zustand eliminiert wird und nicht mehr als Referenz dienen kann.13 Tektur (Überkleben): Diese Form der Tilgung wendet Fux an, wenn zu viel zu radieren wäre oder der Platz nicht ausreicht. Für die Überklebung verwendet er meist das gleiche rastrierte Papier wie für die restliche Niederschrift. Da er vermutlich zunächst die Überarbeitung schrieb und diese dann in die Partitur eingeklebt wurde, stand ihm – anders als bei einer Rasur – die ältere Textschicht beim Schreiben der Variante noch zur Verfügung.14 Beilegen einer alternativen Fassung mit oder ohne Hinweis im originalen Notentext: Im Gegensatz etwa zu J. S. Bach hatte Fux keine besondere Affinität zum Überarbeiten fertiger Werke. Jedoch war es üblich, von Ordinariumsvertonungen nur einzelne Sätze, teilweise auch mit Sätzen anderer Komponisten vermischt, aufzuführen. – Eine Ausnahme bildet die Messe K 47, die in Stimmenabschrift eines Kopisten erhalten ist: Für das „Crucifixus“ (Credo) liegen zwei in Stimmen notierte, einander recht ähnliche autographe Alternativ-Fassungen für kleinere Besetzungen bei. Das innerhalb der Credo-Stimme enthaltene „Crucifixus“ ist ein achtstimmiger Satz; vielleicht war diese ungewöhnliche Besetzung und Klangwirkung nicht in jedem Kontext angemessen oder personell leistbar. Der zunächst notierte Satz wird durch sie nicht ungültig: Weder ist er in den Credo-Stimmen gestrichen, noch gibt es dort Hinweise auf die Alternativen.
–––––––— 9 10 11 12
13
14
Bei Fux relativ selten und eher in der Textschicht. Vgl. K 127, fol. 15v, 11. Takt, Tenor: Text gestrichen und korrigiert. Bei Fux eher selten. Vgl. K 34a S. 74, B.c. (= Sanctus, T. 87): ganzer Takt mit „X“ gestrichen und darunter synoptisch neu notiert. Vgl. K 34a, S. 51, 1. Takt, unter B.c. (= Credo T. 110): Sinn unklar, keine Streichung oder sinnvoller Ersatz für B.c. oder eine andere Stimme. Vgl. Hocker / Schwob 2016 (Anm. 7), Faksimile S. XLII. Bei Fux häufig. Vgl. K 5, fol. 3r, Vl. 2, 3. Takt, 3. Viertel (Halbe zu Viertel); fol. 11r, SATB, 2. Takt, 3. Viertel (Viertel zu Halbe). Andere Änderungen (z. B. von Viertel zu Achtel oder von Ganze zu Halbe) sind nicht immer offensichtlich. Bei Fux sehr häufig. Vgl. K 5, fol. 8r, Pk., 1.–2. Takt: irrtümlich hier notierte Violinstimme radiert. K 127, fol. 8r, AT, 11.–13. Takt (Änderung der Stimmführung in den Mittelstimmen); ebd., fol. 6r, nach 11. Takt, SATB (drei Takte radiert und zusätzlich mit X gestrichen). Vgl. K 127, fol. 6v, 6.–12. Takt (ursprüngliches Notat ein Takt kürzer).
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‚Unsichtbare‘ Revision ohne Tilgung, nur anhand der Tintenfarbe oder gar nicht erkennbar: Viele nachträgliche Änderungen (wie Eintragungen an zunächst leer gebliebenen Stellen) hinterlassen keine Spuren, ihr graphisches Resultat könnte auch ohne Revision zustande gekommen sein. Gelegentlich lassen Farb- und Intensitätsunterschiede die Schreibchronologie erahnen.15 Im Kyrie I aus der Messe K 5 kann man anhand der Tintenfarbe ungewöhnlich deutlich zwei Schreibschichten unterscheiden.16 Die Grenzen zwischen eigentlichen Revisionen dieser Art und normaler rekursiver Arbeitsweise sind allerdings schwer zu ziehen.
Hinweise darauf, ob eine Revision im Zuge der ersten Niederschrift oder einer späteren Überarbeitung erfolgte, liefern die Übergänge zwischen dem ursprünglichen Notat in der früheren und der Revision in der späteren Schreibschicht, vor allem die Nahtstelle am Ende: Denn passt das ursprünglich Notierte – die Schicht unter der Änderung – nicht zur Nahtstelle, wurde der anschließende Notentext offenkundig erst im Zuge einer Korrektur oder Revision geschrieben. Die Partituren selbst sowie die expliziten Metatexte (Streichungen, Verweise) liefern nur sporadische Informationen zur Textgenese, die durch die sich in den impliziten Metatexten mitteilenden Befunde (z. B. Eigenarten der Schrift, synoptisches Schriftbild, Rhythmusänderungen, Einfügungen) ergänzt werden müssen.17 Deren unmittelbare Aussagekraft ist jedoch begrenzt und nur durch interpretative Deutungen zu erschließen. 1.4 Situationen von Änderungen Obwohl Änderungen im Prinzip überall vorgenommen werden können, ist zu untersuchen, ob sie in bestimmten (formalen oder kontextuellen) Situationen seltener oder häufiger auftreten:
An Anfängen sind größere Änderungen erstaunlich selten, was auf kompositorische Erfahrung, Konzeption im Kopf oder auch nicht erhaltene Skizzen hindeutet. Hingegen finden sich vor und in den Schlüssen relativ viele Änderungen – obwohl gerade die Kadenz eine stark formalisierte ‚Routine‘ darstellt. An der Form gibt es selten konzeptionelle Revisionen, sie kommen aber vor: Beispielsweise hat Fux in der Messe K 34a im Gloria ein Nachspiel (nach T. 79) zum „Domine Deus“ ergänzt, wie der radierte Doppelstrich sowie der verbal angezeigte Besetzungswechsel erkennen lassen.
–––––––— 15 16
17
Vgl. Messe K 34a, S. 22, 7. und 10. Takt (= Gloria, T. 55 und 58): „p.[iano]“ und „forte“ evtl. später ergänzt. Vgl. K 5, am deutlichsten auf fol. 2v: SATB wohl zuerst geschrieben, in dunkelbrauner, fast alles andere in schwarzer Tinte. Eine noch deutlichere, an der Tintenfarbe zu erkennende Unterscheidung zwischen vokaler und instrumentaler Schicht findet sich in Kyrie und Gloria der achtstimmigen D-Dur-Messe von Marc’ Antonio Ziani (A-Wn Mus. Hs. 15574). Zur Terminologie vgl. Appel 2016 (Anm. 2).
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Weit häufiger sind Änderungen einzelner musikalischer Parameter (z. B. der Tonhöhe oder der Tondauer), insbesondere im Zusammenhang mit Stimmführung (z. B. mehr Gegenbewegung)18 und Kontrapunkt (z. B. eine zusätzliche Imitation)19. Die meisten Änderungen treten im Zusammenhang mit der Unterlegung des Gesangstexts auf.
2. Kontexte und Motivationen für Revisionen Die durch Revidieren und Korrigieren verursachten ‚Narben‘ am Material stellen Brüche auch im Zeitlichen dar. Selbst wenn sich die Schreibchronologie nur selten und dann lediglich in Ansätzen nachvollziehen lässt, stellt sich die Frage, wann und warum der Schreibvorgang unterbrochen wurde. Die Gründe für Änderungen sind vielfältig: Doppelte Generalbass-Bezifferung (über und unter dem System) sowie verdeutlichende Tonbuchstaben können an zweideutigen Stellen für Klärung sorgen. Performativ bedingte Schreibfehler in der Musik (Noten, Schlüssel, falsches System etc.) oder im Text erfordern Korrekturen nicht sinnvoller Ergebnisse. Häufig wird ein Weiterarbeiten überhaupt erst durch zeitnah vorgenommene Sofortkorrekturen ermöglicht, beispielsweise bei einem Irrtum im System nach Blätterstellen. Vor allem an Seitenwechseln unterteilte Takte sind bisweilen zu kurz oder zu lang. Auch unabhängig von nachträglichen Rhythmusänderungen können sich durch Verzählen falsche Taktlängen ergeben: Im Credo der Messe K 5 notierte Fux auf fol. 16v am Taktende eine Achtelpause und eine auftaktige Achtel zu „et [mortuos]“. Erst nachdem er alle Stimmen und den Text niedergeschrieben hat, bemerkt er, dass der Takt fünf statt vier Viertel umfasst. Rasuren, Streichungen, der Tonbuchstabe g beim Alt sowie die nun nicht mehr synoptische Textunterlegung erlauben eine chronologische Unterscheidung der Schreibschichten. Fux verlegt das „et“ in den nächsten Takt, wobei er den auftaktigen Charakter durch die Übernahme der vorausgehenden Pause beibehält.
Notenbeispiele 1a und 1b: J. J. Fux, Missa brevis solennitatis K 5, Credo, T. 81–82 vor (a) und nach (b) der Revision.
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Vgl. K 34a, S. 47, 2.–5. Takt, Vla. (= Credo, „Descendit“, T. 66–70). Vgl. K 127, fol. 10r, 4.–5. Takt, B.
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Den dafür nötigen Raum am Taktbeginn gewinnt er durch rhythmische Verkürzung bei „mortuos“, das dadurch auf die zweite, leichte Zählzeit des -Taktes verschoben wird. Den Verlust an Gewichtung und die den Halbschluss vorbereitende retardierende Wirkung der vormals augmentierten Deklamation gleicht Fux durch die Punktierung aus. Gleichzeitig beginnt ein langer Anlauf zur nächsten, schweren Zählzeit, so dass sich – auch durch den beschleunigten harmonischen Rhythmus – die zentripetale Sogwirkung auf den Halbschluss verstärkt. Die drei auffälligen Überklebungen im Completorium K 127 lassen größere Änderungen vermuten, Durchleuchtung und Rekonstruktionsversuche ergeben jedoch nur punktuelle Unterschiede. Im Gegensatz zum musikalischen Fehler im Credo von K 5 liegen hier textliche Probleme vor, deren Behebung Modifikationen des korrekten musikalischen Satzes zeitigt. Fux überarbeitete die textlich defizitären Passagen auf einem separaten Blatt und nahm dabei wiederum kleinere Revisionen (Rhythmusänderungen, Rasuren) vor. Das vorhandene Notat stand ihm bis zur Überklebung uneingeschränkt als Vorlage zur Verfügung. Das auf fol. 6v vergessene Wort „frumenti“ war im syllabischen Satz nicht ohne weiteres unterzubringen, deshalb wurde der betreffende Abschnitt auf einem Einzelblatt neu konzipiert. Zum Ausgleich fügt Fux einen neuen Takt ein – allerdings erst drei Takte nach der Fehlerstelle: beide Fassungen unterscheiden sich hauptsächlich in der Text-Musik-Zuordnung. Auf fol. 14r war aufgrund der größeren Menge an fehlendem Text („meum Deus meus sperabo in eum“) eine größere Revision nötig. Die Kopistenhandschrift auf der Überklebung ist damit zu erklären, dass Fux die neue Fassung auf der Rückseite des für die Tektur auf fol. 27r verwendeten Blattes notierte. Der Schlussakkord sowie die Schlüssel, die auf der Rückseite der Klapptektur von fol. 27r noch sichtbar sind, belegen die Zusammengehörigkeit der Schnipsel. Auf dem separaten Blatt waren zunächst vier Zeilen für die Umarbeitung von fol. 6v vorgesehen, von denen Fux jedoch nur zwei verwendete. Er fuhr dann mit dem Ausschnitt von fol. 14r fort und notierte gegengleich auf dem unteren Teil der Rückseite die neue Fassung für fol. 27r, der noch die Schlüsselung und der in einer neuen Zeile notierte Schlussakkord von fol. 14r vorausgehen. Die Überklebungen auf fol. 14r und fol. 27r ersetzen, im Gegensatz zum in sich geschlossenen Zusammenhang auf fol. 6v, musikalisch nicht selbstständige Ausschnitte: Fux musste die Anschlussstellen an den jeweiligen Kontext anpassen. Auf fol. 27r war lediglich die vordere Anschlussstelle, an der das eigentliche Problem noch nicht akut ist, sicherzustellen, auf fol. 14r die hintere Nahtstelle. Hier entstand während der Bearbeitung eine Inkonsistenz: Fux wollte den Einsatz des nächsten Verses in den tieferen Stimmen wiederverwenden und musste ihn mit dem modifizierten Oberstimmensatz in Deckung bringen. Dabei geriet aus unklaren Gründen der letzte Takt in der Zeile zu kurz. Auch bei kleineren Eingriffen fällt auf, dass Fux auf ökonomische Art mit ‚minimalinvasiven‘ Methoden Regelkonformität erreicht bzw. Verbesserungen vornimmt. Getilgtes ist nicht prinzipiell unbrauchbar: Fux produziert funktionierende Konzepte,
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die der Schrift würdig sind und ein tragfähiges Gerüst für weitere Ausarbeitungen darstellen.20 Es ist bezeichnend, dass gerade die sichtbaren Brüche im Schreibvorgang der Herstellung und Intensivierung musikalischer Kohärenzen dienen. Bei den umfassenderen Revisionen bestehen ausgeprägte Bezüge zwischen den Schreibschichten, zwischen deren Vorher und Nachher. Insbesondere Rasuren und Überklebungen erinnern an Palimpseste und die Theorien zur Intertextualität zwischen ursprünglichem Geno- und späterem Phänotext.21 Nur liegen hier keine für sich bestehenden Einheiten, sondern vertikale oder horizontale Ausschnitte vor, die in den jeweiligen Kontext eingepasst werden müssen. Häufig werden nur einzelne Parameter wie beispielsweise Rhythmus oder Tonhöhe modifiziert. Dadurch positioniert und definiert sich das betreffende Element im Kontext neu. Resultat ist eine hybride Vermischung zwischen den Schichten und Fassungen, zwischen Konstanten und Varianzen. In diesem Spiel mit Identitäten und Veränderungen beginnt die Eindeutigkeit des Notats zu oszillieren.
3. Komponieren – Notieren, Textieren, Revidieren – Edieren 3.1 Textieren, Revidieren Da gerade umfangreichere Revisionen (wie die Überklebungen) bei Fux auffälligerweise durch Textfehler bedingt sind, soll anhand ausgewählter Beispiele gezeigt werden, wie der Text den Kompositionsprozess prägt und für Änderungen ausschlaggebend sein kann. Fux notierte die kanonischen Texte des Ordinariums und des Completoriums wahrscheinlich aus dem Gedächtnis. Obwohl er mehrere Completorien komponierte, scheinen ihm die Psalmtexte weniger geläufig gewesen zu sein; in keinem anderen seiner Autographe finden sich derart viele und umfangreiche Revisionen sowie Textfehler wie in K 127. Seine Arbeitsweise begünstigte solche Fehler: Das zunächst entworfene musikalische Gerüst ist zwar indirekt in Disposition und inventio vom Text beeinflusst, aber in der ersten Verschriftlichungsphase noch nicht textiert. Ein solches textloses Gerüst ist im Agnus der Messe K 10 erhalten: Hier hat Fux einen fünfeinhalbtaktigen Komplex gestrichen, in dem Teile der Singstimmen, instrumentale Begleitung und Basso continuo noch nicht ausgeführt waren.22 Der Grund für den Abbruch ist unklar und steht wohl nicht in direkter Verbindung mit der Textzuordnung, denn es mussten nur wenige zweisilbige Worte melismatisch unterlegt werden. Die endgültige Fassung –––––––— 20
21 22
Änderungen betreffen im 18. Jahrhundert auch im literarischen Schaffen meistens nicht die Substanz. Vgl. Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prologomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 7–51, hier 35. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993. Die Lücken in der Ausführung von Tenor und Bass zeigen, dass der Schreibvorgang nicht immer linear verlief; Fux konzipierte die Kadenz vom Schluss her. Vgl. die Übertragung in: Johann Joseph Fux, Missa Corporis Christi K 10. Hrsg. von Hellmut Federhofer. Graz 1959 (Johann Joseph Fux. Sämtliche Werke I/1), S. 113. Auch in K 127, fol. 6r kam Fux nicht über ein textloses, zum Teil lückenhaftes Gerüst hinaus, das er ausradierte und zudem durchstrich, bevor er auf der folgenden Seite fortfuhr.
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greift im Wesentlichen auf den Entwurf zurück; sie zeigt Abweichungen lediglich in der Fortführung des „pacem“-Kontrapunkts sowie im Rhythmus.23 Die faktische Verbindung von Text und Musik erfolgt im Kompositionsvorgang also relativ spät. Dieses Verfahren kann Detail-Revisionen zur Optimierung der Musik-Text-Koordination erforderlich machen, was sich in zahlreichen rhythmischen Änderungen, z. B. einer Unterteilung längerer Notenwerte zur syllabischen Textierung, niederschlagen kann. Die Modifikationen am Kyrie-Thema in der Messe K 34a haben eine verbesserte Deklamation zum Ziel. Wie das nicht synoptische Schriftbild zeigt, erhält das zweistimmige, für die Trompeten entworfene Themengerüst seinen Charakter erst in der Überarbeitung durch die Synkope und die daraus entstehenden Dissonanzen. Die Unterlegung mit „Kyrie eleison“ ist nicht friktionsfrei, da das mit . rhythmisierte „eleison“ fast skandierend wirkt und sich dem Vokalen entgegenstellt.
Notenbeispiel 2a und 2b: J. J. Fux, Missa Sti. Joannis Nepomucensis K 34a, Kyrie T. 5–7, Alt, ursprüngliche (a) und revidierte (b) Fassung.
Doch erst nach dem vierten Themeneinsatz entschloss sich Fux zu einer Anpassung sowohl der Musik als auch der Textunterlegung: Durch eine Unterteilung der vierten Zählzeit ( ) und die Neuverteilung der Silben entsteht eine flexiblere, den Betonungen besser entsprechende Rhythmik mit Längung und melodischer Hervorhebung der zweiten Silbe von „eleison“. Die Rasuren im nächsten Takt betreffen nur den Text, vermutlich war eine Wiederholung von „eleison“ geplant. Die drei folgenden Themeneinsätze zeigen an den gleichen Stellen Überarbeitungsspuren. Die Satzstruktur sowie die Änderungen lassen zudem vermuten, dass Fux in relativ kleinen Teilstücken (ca. 2–4 Takte) arbeitete. 3.2 Notieren, Revidieren Die schrittweise Ausarbeitung entspricht dem rhetorischen Prinzip von inventio, elaboratio und decorum, das in der Musik ebenfalls Anwendung findet: Fux’ Lehrschrift Gradus ad Parnassum hat nicht nur die stufenweise Heranführung des Schülers an die Musik und die Komposition zum Thema; die Beispiele lehren auch den sukzessiven Aufbau einer Komposition.24 Revisionen spielen dabei als didaktisches –––––––— 23
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Der ursprünglichen synkopischen Fassung | ließe sich ebenso „Dona nobis pacem“ unterlegen, allerdings widerspricht die Balkung zwischen 1. und 2. Ton dem Silbenwechsel, während für das potentielle „nobis“ konsequent Einzeltöne notiert sind. Ähnliche Prinzipien finden sich auf dem Gebiet der Rhetorik z. B. in Paul Alers Gradus ad Parnassum, Köln 1767. Siehe Marcel Lepper: Friedrich Hölderlin: Der Lorbeer (1788) – Streichungen im Marbacher Quartheft. In: Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produktiver Negativität. Hrsg. von Lucas Marco Gisi, Hubert Thüring und Irmgard M. Wirtz. Göttingen, Zürich 2011 (Beide Seiten. 2),
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Mittel eine wichtige Rolle: Anhand von punktuellen Fehlerkorrekturen und Verbesserungen lernt der Schüler die Feinheiten der Setzkunst.25 Wie an Fux’ eigenen Partituren offensichtlich wird, wurde auch in der Praxis professionellen Komponierens der mehrstimmige Satz Schritt für Schritt ergänzt, korrigiert und optimiert. Das Fehlen detaillierter Vorschriften zum Kompositionsprozess bedeutet nicht, dass diese zum Teil nur schwer zu verbalisierenden Vorgänge rein individuelle Praktiken darstellen. Es ist auffällig, dass standardisierte Elemente wie Kadenzen häufig Änderungsspuren aufweisen. Insbesondere beim stark konventionalisierten Messordinarium könnten sich Routinen beim Komponieren in Schreibroutinen niederschlagen. Diese spezifische Konstellation spiegelt sich im Fehlen substantieller Eingriffe; die Kompositionsautographen sind mit ihren nur punktuellen Änderungen auf den ersten Blick erstaunlich unspektakulär.26 Rückschlüsse auf Fux’ individuelle Art zu komponieren lassen sich also nur bedingt und tendenziell ziehen. Zudem verhindert die geringe Materialbasis umfassende Studien, da vor allem im Bereich freier Texte (Oper, Oratorium) keine Vergleichsquellen zur Verfügung stehen.27 Deshalb können die Ergebnisse nicht verlässlich dahingehend bewertet werden, in welchem Ausmaß sie Universelles bzw. Epochen- und Gattungsspezifisches oder individuelle Eigenarten von Fux zum Vorschein bringen. Ihre Aussagekraft ist auf die untersuchten Beispiele begrenzt. Als Hypothese könnte festgehalten werden, dass die allgemeingültigen Regeln des Generalbasssatzes und dessen Ausarbeitung im mehrstufigen Arbeitsprozess bei Fux eine ausgesprochen ökonomische Anwendung erfahren. Revisionsprozesse ermöglichen Einblicke in die Werkentstehung, doch sind der Methodik nicht nur bei Befund und Deutung der Einzelstellen, sondern auch prinzipiell Grenzen gesetzt. So plausibel manche Rekonstruktion klingen mag: voreilige Kurzschlüsse zwischen Schreib- und Kompositionsprozess sind zu vermeiden. Herstellungsverfahren und Produktionsprozess spiegeln sich nicht unmittelbar in Eigenschaften des Produkts. Der materiale Befund ermöglicht nur bedingte Rückschlüsse auf die mentalen Vorgänge des Komponierens sowie Ansätze zu einer punktuellen, relativen Schreibchronologie. An den Revisionen wird jedoch deutlich, dass bei Fux vieles erst im Schreiben konkrete Gestalt annahm. 3.3 Revision und Edition Der performative Schreibakt ist, bedingt durch die spezifische Notationsweise von Musik, ein diskontinuierlicher Prozess. In der Genese sind Komposition und Über–––––––— 25 26
27
S. 71–92, hier 88. Zur stufenweisen Fortschreitung als didaktisches Konzept vgl. auch Walther 1955 (Anm. 4) und das bei Nutt-Kofoth 2013 (Anm. 5) genannte Goethe-Zitat. Z. B. in den auf S. 66 und 68 vorgeschlagenen Verbesserungen. Vgl. Johann Joseph Fux: Gradus ad Parnassum. Deutsche Übersetzung von Lorenz Mizler. Leipzig 1742. Dazu trägt die inventio als „Auffinden des potentiell Richtigen“ bei, vgl. Oliver Wiener: Traditio und Exemplum in der Konzeption und den Rezeptionen der Gradus ad Parnassum. In: Fux-Forschung. Standpunkte und Perspektiven. Hrsg. von Thomas Hochradner und Susanne Janes. Tutzing 2008, S. 167‒192, hier 173. Anders gestaltet sich die Situation bei Bach; vgl. dazu Robert Lewis Marshall: The Compositional Process of J. S. Bach. A Study of the Autograph Scores of the Vocal Works. 2 Bde., Princeton 1972.
Fux durchs Schlüsselloch
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arbeitung, Niederschrift und Revision miteinander verbunden; erst das zu edierende Endprodukt verleitet zu einer Trennung zwischen den materiellen Arbeitsspuren und dem fertigen Werk, das nun auch eine immaterielle Dimension gewinnt und sich zumindest teilweise von seiner Aufzeichnungsweise löst. Editionen von Werken des 17. und 18. Jahrhunderts in älteren Gesamt- und Denkmälerausgaben enthalten in der Regel keine Hinweise auf Änderungen; ihre erklärten Ziele sind, „der Wissenschaft einen einwandfreien Text und der Musikpraxis möglichst brauchbares Aufführungsmaterial“28 zu liefern. Für einen solchen Notentext ist Verworfenes belanglos, aber mittlerweile werden auch textgenetische Befunde tabellarisch im Kritischen Bericht dokumentiert oder in einer digitalen Edition visuell veranschaulicht.29 Frühere Editoren konnten Änderungsspuren ignorieren, weil sich der eigentliche Notentext der Kritischen Ausgabe durch die Untersuchung verworfener Textvarianten höchstens in Einzelfällen ändert. Doch die aktuelle Musikwissenschaft interessiert sich nicht nur für das fertige ‚Werk‘, sondern auch dafür, wie es zustande gekommen ist. Komposition wird nicht mehr als ‚göttliches Diktat‘ verstanden, sondern als Vorgang, der kreative mit handwerklichen Komponenten vermischt und auf diese Weise die wissenschaftliche Erforschung herausfordert. Durch Untersuchungen des Schreibvorgangs (als Teil des Kompositionsvorgangs) ändert sich weniger das edierte ‚Werk‘ als das Verständnis dieses Werks; das Bewusstsein für Essentielles und Akzidentielles wird geschärft. Folglich entwickelt sich durch die Analyse von Textvarianten am stärksten der ‚Werkbegriff ‘ an sich: er wird ‚offener‘.30 Das Musikstück konkretisiert sich während der ersten Niederschrift allmählich, erreicht dann mit Abschluss der Komposition eine Art geschlossener Werkgestalt, um diese danach durch Aufführung und Rezeption teilweise wieder zu verlieren. Revision bedeutet für den Komponisten Innehalten und selbstreflexive Rückblicke auf das Bestehende. Auch wir als Wissenschaftler und Editoren blicken zurück und setzen uns – wenngleich in einer reproduzierenden und interpretierenden Weise – mit bereits Vorhandenem auseinander. In Partituren der hier gezeigten Art erlauben uns Änderungsspuren Einblicke in den Kompositionsprozess, die gerade in ihrer Konzentration und Detailliertheit zu einer Reflexion von Methodik, Ziel und Nutzen der Editionspraxis herausfordern. ‚Fux durchs Schlüsselloch‘ heißt, diese Ausschnitte genauer unter die Lupe zu nehmen, sich aber gleichzeitig der durch das Quellenmaterial gegebenen Grenzen bewusst zu sein: Unentwegt über die Schultern und in seine Gedanken schauen lässt sich Fux beim Arbeiten nicht. –––––––— 28 29 30
Vorwort. In: Johann Joseph Fux: Missa brevis solennitatis K 5. Vorgelegt von Josef-Horst Lederer. Kassel [etc.], Graz 1974 (Johann Joseph Fux: Sämtliche Werke. I/3), S. VI. In unserer Ausgabe von Fux’ Messe K 34a (Anm. 7) haben wir die tabellarische Form gewählt. Die ‚neue‘ Fux-Ausgabe arbeitet auch an einer digitalen Edition ausgewählter Werke. Vgl. aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Thomas Bein: Der „offene“ Text – Überlegungen zu Theorie und Praxis. In: Quelle – Text – Edition. Hrsg. von Anton Schwob und Erwin Streitfeld unter Mitarbeit von Karin Kranich-Hofbauer (Beihefte zu editio. 9), Tübingen 1997, S. 3–19.
Ramona Hocker / Rainer J. Schwob
256 Verwendete musikwissenschaftliche Abkürzungen: A B B.c. K Pk. S T T. Vl. Vla.
Alt Bass Basso continuo Ludwig Ritter von Köchel: Johann Josef Fux. Hofcompositor und Hofkapellmeister der Kaiser Leopold I., Josef I. und Karl VI. von 1698 bis 1740. Wien 1872 (Nachdruck Hildesheim, Zürich, New York 1988). Pauke Sopran Tenor Takt Violine Viola
Bibliothekssiglen werden nach RISM (Répertoire international des sources musicales) angegeben; vgl. http://www.rism.info/de/rism-bibliothekssigel.html (04.07.2016).
Ute Poetzsch
Korrektur und Revision bei Georg Philipp Telemann – eine Annäherung
Eine systematische Untersuchung der Arbeitsweise Telemanns, wie sie aus seinen Eigenschriften rekonstruiert werden könnte, steht noch aus. So ist es vorerst nur möglich, im folgenden Werkstattbericht Eindrücke zusammenzutragen, um Telemanns Arbeit am Notentext bzw. um das Verbessern und Ändern des niedergelegten Textes im Sinne einer Optimierung der betreffenden Komposition zu beschreiben. Telemann gehört nach heutiger Kenntnis zu den Komponisten, die keine Reinschriften angefertigt haben. Solche anzufertigen überließ er geübten Kopisten. Dies heißt aber nicht, dass er als Autor an seinen Eigenschriften nicht weitergearbeitet hätte; er hat in einmal aufgezeichneten Texten durchaus Änderungen vorgenommen. Telemanns Partituren waren die Vorlagen für Reinschriftpartituren, die wiederum als Vorlagen dienen konnten. Eine wichtige Funktion hatten sie als Vorlagen für die Herstellung von Stimmen. In beiden Fällen, beim Anfertigen einer Reinschrift sowie beim Erstellen eines Materials für Aufführungen, musste das vom Autor Gemeinte deutlich erkennbar sein. Korrekturen haben den gültigen Stand klar anzuzeigen. Die wenigen bekannten schriftlichen Vorstufen werden hier jedoch ausgeklammert.1 Ebenso nicht zum Thema gehören die in Eintragungen dokumentierten Durchsichten von Telemannpartituren durch andere Personen, z. B. von Telemanns Frankfurter Amtsnachfolger Johann Balthasar König, der manchmal Textunterlegungen ergänzt hat, weil Telemann bevorzugt mit Textmarken gearbeitet hat, oder Transpositionshinweise hinzufügte. Bearbeitende Eingriffe hat später Telemanns Enkel Georg Michael vorgenommen, der noch im 19. Jahrhundert in seiner Rigaer Praxis mit den Materialien seines Großvaters gearbeitet und viele Kompositionen aufgeführt hat.2 Georg Michael Telemann wies übrigens auf den Titelblättern der Stücke, mit denen er sich beschäftigt hatte, mit der Bemerkung „revidiert“ darauf hin, dass und bei welchen Teilen er eingegriffen hat. Im Folgenden geht es um Eigenschriften Telemanns und Beispiele für die Durchsicht fremdschriftlicher Materialien durch Telemann sowie Korrekturen in Drucken.
1. Korrekturen in Eigenschriften Möglicherweise ist zwischen Korrekturen, die während des Schreibens entstanden und nötig geworden sind, und nachträglichen Revisionen zu unterscheiden. Die in den –––––––— 1
2
Näheres hierzu siehe Ute Poetzsch: Das Erwecken von „allerhand Regungen“ in Telemanns Kirchenmusik und die Fuge. In: Musikalische Norm um 1700. Hrsg. von Rainer Bayreuther. Berlin/New York 2010, S. 167–181, bes. 175–180. Vgl. dazu: Georg Philipp Telemann: Musikalische Werke (TA), insbesondere die Bände 30–33.
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Ute Poetzsch
Partituren, die Kopisten und Helfern zur Weiterverarbeitung übergeben wurden, am häufigsten anzutreffenden Korrekturen sind solche, die offensichtlich während des Niederschreibens angebracht wurden, sei es im Zuge der Fixierung eines entweder bereits skizzierten oder anderswie vorgeformten Textes. Dies kann u. a. an einem Beispiel aus dem Jahr 1721 gezeigt werden. Es handelt sich um das Autograph der Kirchenmusik zum 1. Sonntag nach Epiphanias „Sage mir an, du, den meine Seele liebt“ (TVWV 1:1231), erhalten in der Stadt- und Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main (Signatur Ms. Ff. Mus. 1311).3 Hier gibt es einfache Korrekturen, die etwa die Vorzeichnung von Schlüsseln betreffen wie im Eingangsdictum (Bl. 1r), außerdem wurde die Vortragsbezeichnung von „Un poco presto“ in „Un poco allabreve“ geändert. In der ersten Akkolade hat Telemann dem Vokalsystem einen Bassschlüssel vorgezeichnet, dann in den Sopranschlüssel geändert (im Verlauf übernimmt dann der Tenor). Auf derselben Seite gibt es in der zweiten Violinstimme und der Grundbassstimme jeweils die Streichung eines Bogens und der dazugehörigen Noten. Im zweiten Takt der Viola-Stimme verdeutlicht eine Beischrift die Tonhöhe. In diesem ersten Satz gibt es weiterhin eine Textkorrektur (Bl. 2r, 2. Akkolade); Telemann verkürzt die Wortgruppe „Sage mir an“ zu „Sage an“, das schon dastehende „mir“ wurde durchgestrichen und „an“ darüber geschrieben, woran sich flüssig der Rest des Satzes anschließt. Dabei gibt es eine weitere Korrektur bei der Silbenverteilung, die letzte Silbe soll auf dem letzten Ton erklingen. Die anschließende Arie war zuerst anders instrumentiert – ohne das den Streicherklangteppich zusätzlich ergänzende Violoncello, das normalerweise den Grundbass verstärkt. Telemann hat es herausgelöst und die Akkoladen geändert (Bl. 3v): Das Generalbasssystem wurde zum Cello-System. Das System darunter, nun das Generalbasssystem, gehörte ursprünglich zur nächsten Akkolade, deren Schlüssel bereits eingetragen waren. Durch die Änderung der Klangkonzeption des A-Teils der Dacapo-Arie durch die Trennung des Cellos vom Generalbass war die bereits notierte Schlüsselung zu ändern. Der Violinschlüssel wurde mit dem Bassschlüssel überschrieben und die die Partien zusammenfassende Klammer verlängert. Die restlichen Schlüssel der zweiten Akkolade und die Klammer wurden mit einer Schlängellinie durchgestrichen. Daneben wurde dann die jetzt richtige Gestalt der Akkolade eingetragen. Die Vermutung, dass die Idee zur Trennung von Cello und Basslinie im Aufzeichnungsmodus geschehen ist, ergibt sich daraus, dass die zweite Akkolade ohne Leerzeile direkt anschließt; ohne das Violoncello-System hätte der Platz für eine dritte Akkolade gereicht, Telemann nutzt normalerweise sein Papier effektiv. Ein paar Takte weiter (Bl. 4r, 1. Akkolade, 3. Takt) ist in der Generalbassstimme eine Figur zu finden, die solistisch-figurativ aussieht und die an dieser Stelle wohl fehl am Platze war, so dass Telemann sie gleich wieder streicht und durch eine Viertelbewegung ersetzt. Doch damit nicht genug: Auch im B-Teil der Arie hat es Änderungen gegeben (Bl. 4v). Die ersten beiden Akkoladen waren ursprünglich eingerichtet auf jeweils ein System für die Violinen unisono (gestrichene Beischrift), Viola, –––––––— 3
Digitale Ressource: urn:nbn:de:hebis:30:2-242934 [08.02.2017]. Die Angaben für die Seiten- und Blattzählung folgen hier und bei weiteren Beispielen der aktuellen bibliothekarischen Zählung.
Korrektur und Revision bei Georg Philipp Telemann – eine Annäherung
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Violoncello, Vokalbass und Continuo. Das zweite System wurde umfunktioniert zum System für die zweite Violine, in der zweiten Akkolade ist der Altschlüssel mit dem Violinschlüssel überschrieben und das Violoncello gestrichen, das aber schon bis zum vierten Takt der zweiten Akkolade eingetragen war. Die Stimme bricht nun einfach ab. Die dritte Akkolade auf dieser Seite zeigt die Partitur nun so, wie sie nach den getätigten Korrekturen aussehen soll. In der zweiten Akkolade gibt es bei Notenkorrekturen wieder Beischriften. Notenkorrekturen können aber auch so aussehen wie im B-Teil der zweiten Arie der Kirchenmusik (Bl. 6v, 2. Akkolade, Violino I, letzter Takt), wo eine Sechzehntelgruppe einfach durchgestrichen und das Richtige gleich daneben hingeschrieben wird. Auf der letzten Seite (Bl. 8v) gibt es noch einmal kleinere Korrekturen, gestrichene Taktstriche und bei Akkoladenverkürzung (wie in der zweiten Akkolade) durch Einsparung des zweiten Systems für die nicht mehr beschäftigte Viola eine Änderung vom Alt- in den Tenorschlüssel. Der Vokalpart wird jetzt in das zweite System der Akkolade, wo bisher die Violastimme stand, eingetragen. Wie intensiv Telemann manchmal an Kompositionen gearbeitet hat, zeigt auch das Autograph der Vertonung des ersten Gesangs aus Klopstocks Messias „Sing, unsterbliche Seele, sing“ (TVWV 6:4) aus dem Jahr 1759.4 In diesem Stück ging es um die Umsetzung starker Verse in eine deklamatorisch-rhythmisierte Musik. Insofern waren das Metrum und die Taktvorzeichnung von besonderer Bedeutung. Telemann schrieb zuerst eine durchgestrichene „2“ vor, änderte dann in „2/4“, was ihm aber wohl verunklart erschien, weshalb er zusätzlich verbal die Information gibt, dass der Zwei-Viertel-Takt gilt.5 Dieser Hinweis war aber vor allem deshalb wichtig, weil wenigstens ein Taktstrich gestrichen wurde. Auch fehlte der sechste Takt der ersten Violine, der in ein freies System auf der Seite unten notiert wurde. Sind die auf dieser ersten Seite vorhandenen Korrekturen im Allgemeinen erkennbar und das Gemeinte oder Geltende auch editorisch umsetzbar, gibt es ausgerechnet durch eine Reihe von Überschreibungen an einer prominenten Stelle Unklarheiten: Gleich zum Einsatz der Vokalstimme ändert Telemann öfter und gibt keine Auflösung des Rätsels. Der Herausgeber hat sich dazu entschlossen, die beiden deutlich erkennbaren Zeichen Achtelpause und das Sechzehntel als letzte Korrekturfassung anzusehen; er ersetzte das Sechzehntel durch eine Achtel und hat das Ganze im Kritischen Bericht akribisch dokumentiert.6 Von Revisionsvorgängen zeugen auch Ergänzungen im Oratorium Der Tod Jesu (TVWV 5:6).7 Bei diesem Werk lag Telemann zur Vertonung ein korrumpierter Text vor, bei dem in einem Rezitativ (Nr. 4) die Zeile „Wer ist der langsam Sterbende?“ fehlte, in einem anderen (Nr. 7) die Verse „Und bückt sich, Petrus Hand sanft anzu–––––––— 4
5 6 7
Edition: Georg Philipp Telemann: Zwei Auszüge aus Klopstocks Messias. „Sing, unsterbliche Seele“ TVWV 6:4a. „Mirjams, und deine Wehmut, Debora“ TVWV 6:4b. Hrsg. von Ralph-Jürgen Reipsch. Kassel u. a. 2010 (TA, Bd. 41). Abb. ebd., S. XIV. Ebd., S. XXXIV. Edition: Georg Philipp Telemann: Der Tod Jesu. Oratorium nach Worten von Karl Wilhelm Ramler TWV 5:6. Betrachtung der neunten Stunde am Todestage Jesu. Oratorium nach Worten von Joachim Johann Daniel Zimmermann TWV 5:5. Hrsg. von Wolf Hobohm. Kassel u. a. 2006 (TA, Bd. 31).
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rühren: Auch du bist nicht mehr wach?“. Außerdem hat Telemann die instrumentale Einleitung später hinzugefügt. In der Betrachtung der neunten Stunde, dem Schwesterwerk zum Tod Jesu, das mit dem Oratorium zusammen erstaufgeführt wurde, hat Telemann vielleicht selbst, möglicherweise aber auch in Absprache mit dem Dichter, textliche Retuschen vorgenommen, wodurch auch die Noten anzupassen waren. Nachvollziehbar sind diese Sachverhalte durch die Textdrucke der Erstaufführung und durch Notenquellen, die beides repräsentieren – den ursprünglichen Text mit den Ergänzungen und Änderungen auf einem Extrablatt und Quellen, bei denen die Ergänzungen eingearbeitet sind.8 Das Autograph zum Tod Jesu ist verloren, aber zwei Handschriften scheinen eng daran orientiert zu sein, denn auch hier fehlen die später hinzugefügten Zeilen, deren Vertonung Telemann auf einem separaten Blatt notiert hat. In einer weiteren Partiturabschrift deutet ein Fehler darauf hin, dass die Vorlage wohl Telemanns Partitur war, in der auf die auf dem Zusatzblatt notierten und einzuarbeitenden Änderungen hingewiesen wurde. Der Kopist Georg Michael Telemann, der im Hause des Großvaters lernende und lebende Enkel, hat die Stelle übersehen, wo die Ergänzung einzufügen war, und noch den ersten Takt der älteren Fassung notiert, seinen Irrtum aber bemerkt und die ‚neue‘, also die korrigierte oder auch revidierte Fassung ausgeführt. Diese Partitur wurde dann von Telemann durchgesehen, er hat die Bezifferung eingetragen.9 In der Edition wurden in beiden Fällen die überarbeiteten Fassungen wiedergegeben und die Sachverhalte beschrieben. Auch in anderen Fällen hat Telemann Zusätze auf Extrablättern notiert, wie die hinzugefügten Choräle zum Weihnachtsstück Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem. Hier sind die Verweise auf die Beilagen in die Partitur eingetragen.10 Sind Korrekturen oder Einschübe nicht so umfangreich, etwa wenn ein Takt hinzuzufügen oder im Rezitativ eine vergessene Zeile nachträglich zu ergänzen war, wurden diese Korrekturen meistens auf derselben Seite und wenn möglich auch in derselben Zeile angebracht. In dem Kirchenstück von 1717 „Erhöre mich, wenn ich rufe“11 (TVWV 1:459; Autograph in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Signatur Telemann, G. P. 50)12 fehlt im Rezitativ „Ach, manches hab ich ja begehret“ (Bl. 4r, 4. Akkolade) ein Vers. Telemann hatte das Rezitativ zuerst als einfaches konzipiert, dann aber als Accompagnato ausgeführt, weshalb sich freie Systeme ergaben. Noten und Text des nachkomponierten Verses wurden über die Stelle, wohin sie gehören, geschrieben, worauf außerdem deutlich verwiesen wird. Es ist denkbar, dass die Korrektur nach Beendigung der Niederschrift des Satzes eingefügt wurde. Denn wie andere Handschriften zeigen, hat Telemann bei Rezitativen zuerst die Noten geschrieben und danach den –––––––— 8 9 10
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Ebd., S. XIII. Ebd., S. XIV, Abb. S. XXXVII. Edition: Georg Philipp Telemann: Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem. Geistliche Kantate nach Worten von Karl Wilhelm Ramler TWV 1:797 Hrsg. von Wolf Hobohm. Kassel u. a. 1997 (TA, Bd. 30), Abb. S. XVIII. Edition: Georg Philipp Telemann: Concerten-Jahrgang. Zwölf Kirchenmusiken von Rogate bis zum 6. Sonntag nach Trinitatis. Hrsg. von Maik Richter. Kassel u. a. 2015 (TA, Bd. 51), S. 3–24. Digitale Ressource: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001A3BC00000000 [08.02.2017].
Korrektur und Revision bei Georg Philipp Telemann – eine Annäherung
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Text eingetragen.13 Er könnte also bei der Unterlegung festgestellt haben, dass er eine Zeile vergessen oder übersehen hatte. Eine Art der Revision, die manchmal begegnet, ist die der Neukonzipierung einzelner Sätze. D. h., dass Telemann einen Satz geplant hat, aber nach ein paar Takten neu ansetzt. Ein prominentes Beispiel dafür gibt es im Concerto grosso, per il Sign.r Pisendel vom September 1719, dem Johann Georg Pisendel gewidmeten Concerto BDur für Violine, Streicher und Basso continuo (TWV 51:B1, Autograph in der Sächsischen Universitäts- und Landesbibliothek Dresden, Signatur Mus. 2392-O38)14. Hier hat Telemann die ersten vier Takte eines zweiten Satzes notiert, sich dann aber anders entschieden und vollkommen neu angesetzt. Auch hier sind, wie beim Beispiel der oben beschriebenen Kirchenmusik „Sage mir an“, zwei Akkoladen eingerichtet, wobei in der zweiten Akkolade die Taktvorzeichnung überschrieben wurde; die Tempobezeichnung wurde gestrichen und die gültige daneben geschrieben.15 Ein anderes Beispiel gibt es bei der zweiten Arie „Noch keinen hat Gott je verlassen“ des ebenfalls bereits erwähnten Kirchenstückes „Erhöre mich, wenn ich rufe“ (Bl. 3v, 2. Akkolade). Telemann hat begonnen, mit den Außenstimmen (Violino I und Bass) eine Arie im 12/8-Takt aufzuschreiben, brach aber schon im ersten Takt ab, strich die Noten durch, schrieb eine neue Metrumangabe, aber auch die wurde gestrichen. Es schließt sich nun direkt der erste Takt der Arie im 3/8-Metrum an, die ausgeführt wurde. Bei der zweiten Arie des Eisenacher Kirchenstücks „Wer sich rächet“ (TVWV 1:1600, (Autograph in der Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur Mus. Ms. autogr. Telemann, G. P. 106, S. 7f.)16 aus dem Jahr 1711 gab es fünf Anläufe, bis der Plan beim sechsten Mal zur Ausführung kam. Damit hat dieser Befund schon fast Skizzencharakter. Fest standen von Anfang an die Tonart (g-Moll, notiert e-Moll) und mit dem Metrum 12/8 auch der Bewegungsausdruck des Stücks sowie die Besetzung mit unisono geführten Violinen, Vokalbass und Basso continuo. Im vorhergehenden Rezitativ (S. 7) ist zu sehen, dass ein dann gestrichener Takt noch nicht textiert war. Außerdem gibt es die Korrektur einzelner Noten durch Verdickung der Notenköpfe mit Beischrift, gestrichene Bindebögen und einen durch Wischung korrigierten Takt, wobei die zuerst geschriebenen Noten teilweise noch erkennbar sind. Aus den genannten Beispielen lässt sich ableiten, dass Telemann während des Schreibvorgangs an den betreffenden Kompositionen weiter gearbeitet hat, die offensichtlich vorgeformt waren – sei es auf Papier, sei es im Kopf – und ihre Gestalt dann –––––––— 13
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Vgl. z. B. das Autograph der Oper Flavius Bertaridus; Edition: Georg Philipp Telemann: Flavius Bertaridus. König der Longobarden. Oper in drei Akten TVWV 21:27. Hrsg. von Brit Reipsch. Kassel u. a. 2005 (TA, Bd. 43), Abb., S. XXIX und XXX (hier auch Korrekturen). Digitale Ressource: http://digital.slub-dresden.de/id338753176 [08.02.2017]. Ausgabe: Konzert B-Dur für Violine und Streichorchester. Hrsg. von Wolf Hobohm. Leipzig 1964. Siehe dazu im Einzelnen: Wolfgang Hirschmann: Studien zum Konzertschaffen von Georg Philipp Telemann. Kassel 1986, S. 104f. Digitale Ressource: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000090C600000000 [08.02.2017].
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bei der endgültigen Niederschrift bekamen. In diesen Fällen revidierte er also weniger einen bereits niedergelegten Text als seine Konzeption.
2. Durchsichten von Fremdschriften 2.1 Partituren Bisher sind nur wenige Belege für Durchsichten Telemanns von Partiturabschriften ausgewertet. Namentlich geschah dies, wie erwähnt, beim Tod Jesu, wo Telemann die Bezifferung ergänzt hat. Ein anderes Beispiel findet sich in der Überlieferung des 71. Psalms.17 Auch hier ist wie beim Tod Jesu das Autograph verloren. Doch blieb eine Partitur des Psalms erhalten, die offensichtlich von einem noch ungeübten Schüler, vermutlich mit dem Autograph als Vorlage, geschrieben wurde. Auf fast jeder Seite gibt es Eintragungen Telemanns.18 Er hat – neben der Korrektur und der Berichtigung von Fehlern des vom Abschreiber vorgelegten Textes – „Überschreibungen, Streichungen und Ergänzungen“, vor allem auch bei der Bezifferung, vorgenommen.19 Bei seiner korrigierenden Durchsicht hat Telemann aber das Autograph oder eine von einem Kopisten angefertigte Archivpartitur nicht hinzugezogen. Daher ist nicht sicher feststellbar, ob manche der Eingriffe spontane Verbesserungen oder Ergebnis einer zielgerichteten Revision sind. Jedoch gibt es an einigen Stellen Indizien, dass Telemann im Zuge der Durchsicht tatsächlich auch revidiert hat. Dies bezieht sich auf eine Erweiterung des Chores „Et dominabitur“ um mehrere Takte, die Deklamation des den Abschnitt „Reges Tharsis“ beschließenden Wortes („adducent“) und die Überführung einer eigenen Stimmführung der Traversflöte in die Verdopplung von Alt und zweiter Violine. Weitere solcher Veränderungen der Stimmführung scheinen ebenfalls Ergebnis revidierender Eingriffe zu sein. Die im Zuge seiner Durchsicht der Schülerpartitur vorgenommenen Änderungen hat Telemann nicht in das Autograph übertragen, wie aus dem Vergleich mit Material eines weiteren Überlieferungsstrangs, der ebenfalls auf dem Autograph beruht, hervorgeht.20 2.2 Stimmen Es sei nur erwähnt, dass Telemann auch selbst Stimmen ausgeschrieben hat; in Frankfurt sind sogar vereinzelt vollständige Stimmensätze von seiner Hand erhalten. Ein Beispiel für eine eigenhändige Stimme Telemanns ist die Violone-Stimme zu einer Kirchenmusik zum 8. Sonntag nach Trinitatis „Sehet nun zu, wie ihr für–––––––— 17 18 19 20
Edition: Georg Philipp Telemann: 71. Psalm. Deus judicium tuum regi da. Grand Motet (Paris 1738) TVWV 7:7. Hrsg. von Wolfgang Hirschmann. Kassel u. a. 2007 (TA, Bd. 45). Vgl. ebd., S. XIV. Ebd. Vgl. ebd., S. XIX–XXII. Das aus dieser Konstellation resultierende editorische Problem wurde dahingehend gelöst, dass drei Versionen ediert wurden: Die mutmaßliche der Erstaufführung in Paris, die Version der frühen deutschen Überlieferung (denn zu der durchgesehenen Partitur gehören zwei Stimmensätze, die revidierte Abschrift hatte also praktische Relevanz) und eine deutsche Rezeptionsversion mit arrangierenden Eingriffen, die aber nicht auf Telemann zurückgehen.
Korrektur und Revision bei Georg Philipp Telemann – eine Annäherung
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sichtiglich wandelt“ (TVWV 1:1262, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Signatur Ms. Ff. Mus. 1325)21 aus dem Jahr 1717. An einer Stelle (Bl. 35v) gibt es im ersten System im vorletzten Takt eine verdeutlichende Beischrift, die sicherlich während des Schreibvorgangs hinzugefügt wurde. Anders sieht es in von Kopisten geschriebenen Materialien aus. Allerdings wurden in Frankfurter Stimmensätzen bis jetzt noch keine Spuren eigenhändiger Korrekturen Telemanns gefunden. Dies wird damit zusammenhängen, dass so gut wie alle Aufführungsmaterialien, zumindest diejenigen für die Kirchenmusiken, erst nach Telemanns Weggang geschrieben wurden oder aus einer anderen Rezeptionsregion stammen. Die bekannten Beispiele sind damit der Hamburger Praxis zuzuordnen. Zwei finden sich in Stimmensätzen eines Jahrgangs gottesdienstlicher Oratorien, die 1730/31 aufgeführt wurden. Geschrieben hat die Stimmen der namentlich noch nicht bekannte wichtigste Schreiber dieser Zeit um und nach 1730. Telemann hat die Stimmen durchgesehen und vor allem in den Vokalstimmen und hier im Besonderen in den Rezitativen korrigiert. Im ersten Rezitativ des Pharao aus dem Oratorium zum Johannistag „Gelobet sei der Herr“ (TVWV 1:602/1216, Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur Mus. Ms. 21733/12) war die Textunterlegung in zwei Takten fehlerhaft (Bl.13r). Im Rezitativ der Andacht aus dem Oratorium zum 25. Sonntag nach Trinitatis „Es wird ein Tag sein“ (TVWV 1:541, Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur Mus. Ms. 21742/455) desselben Jahrgangs fehlt ein Takt, den Telemann einfügte und am Fuß der Seite notierte (Bl. 6r). Durch die fehlenden Noten hatte es zu viel Silben gegeben, so dass der Schreiber den Text anpasste („wie wohl sind wir daran,| nun Licht und Glauben und unsre Sitten [nicht also verderbet sein]“), was Telemann rückgängig gemacht und den Text wieder vervollständigt hat. Es heißt nun wieder sinnvoll: „wie wohl sind wir daran, nun Licht und Glaube rein, und unsre Sitten (nicht also verderbet sein)“. Doch hat Telemann wohl erst nach der Textkorrektur gemerkt, dass es zu wenige Noten gab und diese daraufhin ergänzt. Auch wenn er seine – ebenfalls nicht richtige – Textunterlegung nicht mehr korrigiert hat, wird klar, was gilt, nämlich die Textmarke „und unsre“, die über den betreffenden Noten steht. In den Hornstimmen zum Satz „Die hamburgischen Glockenspiele“ der AlsterOuverture (TWV 55:F11, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Signatur Mus. 2392-N-32)22 hat der Schreiber möglicherweise die Noten der Schlusstakte, die Telemann nachgetragen hat, vergessen (Bll. 1v, 2r). Auch die Stimmen des Sängers und Hamburger Hauptkopisten Otto Ernst Gregorius Schieferlein hat Telemann durchgesehen. Im erhaltenen Rest der Orgelstimme zur Choralbearbeitung „Du, o schönes Weltgebäude“ (TVWV 1:394, Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur Mus. Ms. autogr. Telemann, G. P. 128)23 gibt es Ziffern, die vielleicht von Telemann stammen. Noch interessanter ist jedoch, dass er in diese Stimme eine bezifferte Bassstimme und –––––––— 21 22 23
Digitale Ressource: urn:nbn:de:hebis:30:2-243125 [08.02.2017]. Digitale Ressource: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/15390/1/0/ [08.02.2017]. Digitale Ressource: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000F5D400000000 [08.02.2017].
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zusätzlich noch einen Kantionalsatz für die beiden in der Komposition nicht berücksichtigten Strophen des Liedes eingetragen hat.24 Ein anderes Ergebnis einer Revision ist die Präzisierung einer Vortragsbezeichnung in einer von Schieferlein geschriebenen Violinstimme zu „Jesus, meine Zuversicht“ von einem hinzugesetzten „Geschwind, geschwind“ zu „Hurtig, hurtig“.25
3. Drucke Dass auch Drucke nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern die Druckplatten überprüft worden sind, zeigt sich sowohl an den erhaltenen Exemplaren der Essercizii musici26 als auch denen der gedruckten Sammlungen von Kammerkantaten. So wurden erkennbar etwa die Platten der Sechs Cantaten von 1731 einer Revision unterzogen.27 Die ersten Abzüge sind „sauber“, die Korrekturen sind fast gar nicht erkennbar. Bei späteren Abzügen traten dann die korrigierten Stellen wieder deutlicher hervor. Im vermutlich gleichen Korrekturgang wurde eine vergessene Silbe eingefügt.28 Es lässt sich feststellen, dass auch bei Telemann Korrekturen und Revisionen stattgefunden haben, die als Spuren von Arbeitsprozessen anzusehen sind. Dabei kann tendenziell zwischen Korrekturen an der Konzeption für einzelne Sätze eines Werkes und Korrekturen, die auf Stimmigkeit und Deutlichkeit des Niedergelegten gerichtet sind, unterschieden werden. In Durchsichten fremdschriftlichen Materials merzte Telemann vor allem Fehler aus, partiell kam es aber auch zu bearbeitenden Eingriffen. Hinzu kommen, nachweisbar insbesondere bei der späten geistlichen Konzertmusik, Vervollständigungen, etwa wenn dem Komponisten vorliegende Textfassungen Lücken hatten. Ebenso wurden Druckplatten vor der Erstellung der Auflagen durchgesehen.
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Vgl. Edition: Georg Philipp Telemann: Choralbearbeitungen. Hrsg. von Ute Poetzsch. Kassel u. a. 2013 (TA, Bd. 60), Abb., S. XXXVII. Ebd., Abb. S. XLVII. Edition: Georg Philipp Telemann: 12 Soli und 12 Triosonaten für verschiedene Instrumente. Hrsg. von Klaus Hofmann. Kassel u. a. 2009 (TA, Bd. 47). Edition: Georg Philipp Telemann: Kammerkantaten. Hrsg. von Steven Zohn. Kassel u. a. 2011 (TA, Bd. 44), S. 3–82. Abb. ebd., S. XXXVII. Der Herausgeber interpretiert den Vorgang jedoch umgekehrt.
Silja Reidemeister
„Analoge“ Edition mehrerer Entstehungsfassungen in der Musik – ein Vorschlag am Beispiel von Paul Juons Bläserquintett op. 841
Während sich in der germanistischen Editionsphilologie der Blick auf Schaffensprozesse und ihre Abbildung in Bucheditionen durchgesetzt haben, wird in der Musikwissenschaft von textgenetischen Editionen in Kodexform üblicherweise abgesehen. Als Gründe dafür werden oft Platzmangel, Unübersichtlichkeit und schlechte Benutzbarkeit angeführt und noch mehr als bei Sprachtexten wird es in der Musik als notwendig erachtet, dem Benutzerkreis einen gültigen Werktext für eine Aufführung bereitzustellen. Die Lösung dieser Probleme hat man im digitalen Medium gefunden, mit dessen Hilfe enorm viel Information einsehbar und nachvollziehbar gemacht werden kann. Als „Hybrid-Edition“, kombiniert mit dem gültigen Werktext in Buchform, können beide Interessen gesondert befriedigt werden, das Studium des Schaffensprozesses am Schreibtisch und die praktische Umsetzung am Notenpult. Allerdings kann die Werkentstehung aus einer digitalen Edition nicht so einfach klanglich erlebt werden – musikästhetische Aspekte der Genese sind dadurch möglicherweise schwer zugänglich. Deshalb soll hier eine experimentelle Editionsmethode vorgestellt werden, die die Genese eines Musikwerks nicht nur les-, sondern auch spielbar macht: eine in Buchform gehaltene, in diesem Sinne ‚analoge‘ genetische Edition. Diese Methode wurde am Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott in EsDur op. 84 des russisch-schweizerischen Komponisten Paul Juon (1872–1940) entwickelt, dessen Textträger verschiedene Entwicklungsstadien des Werks bezeugen. Das Konvolut FPJ 412 enthält eine stark überarbeitete Erstfassung (FPJ 41b), skizzenhafte Korrekturbögen (FPJ 41a), einen vierhändigen Klavierauszug (FPJ 41) und ein Exemplar des Drucks (FPJ 41c), wobei alle handschriftlichen Materialien von Juon selbst verfasst sind. Das vollständige Partiturautograph weist neben zahlreichen Sofortkorrekturen auch starke Überarbeitungsspuren aus späterer Zeit auf, was zu einer gewissen Unübersichtlichkeit führt. Thomas Badrutt hat es in seinem Juon-Werkkatalog wohl des–––––––— 1
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Dieser Beitrag geht zurück auf ein Seminar mit dem Titel „Vom Archiv ins Konzert“ an der Universität Bern, das im Herbstsemester 2014 unter der Leitung von Prof. Dr. Cristina Urchueguía und Prof. Manuel Bärtsch stattfand. Für die Teilnehmenden bestand die Aufgabe darin, das Material aus dem Nachlass des Komponisten Paul Juon zu sichten, zu ordnen und ausgewählte Werke editorisch für ein Konzert aufzuarbeiten. Da keine anderen Vorgaben wie beispielsweise Editionsrichtlinien oder Kostenrahmen zu berücksichtigen waren, versteht sich dieser Editionsvorschlag als freies Experiment. Die Ausrichtung auf die Konzertaufführung – möglicherweise ein Experimentkonzert, bei dem mehrere Fassungen eines Werkes vorgetragen werden – ist dabei ein zentraler Leitgedanke. Der Nachlass von Paul Juon wird in der Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne aufbewahrt.
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Silja Reidemeister
wegen als „schlecht“3 bezeichnet. Die Grundschicht ist mit schwarzer Tinte verfasst, die Korrekturen wurden ebenfalls mit schwarzer Tinte (meist Sofortkorrekturen), roter Tinte und Bleistift durchgeführt, also in verschiedenen Arbeitsgängen. Die Veränderungen durch Tilgung, Hinzufügung und Ersetzung sind gut nachvollziehbar, denn Tilgungen wurden oft durch Streichung, seltener durch Rasur vorgenommen, und Hinzufügungen sowie Ersetzungen sind vielerorts durch verbale Anweisungen oder Zahlen verdeutlicht. Die auffälligste Korrekturart ist die Ersetzung mehrtaktiger Passagen durch Revisionen auf separaten Blättern, die einander durch Zahlen eindeutig zugeordnet werden können. Die wenigen auffindbaren Tekturen scheinen von einer frühen Überarbeitungsschicht zu stammen, denn sie enthalten bisweilen wiederum Korrekturen in roter Farbe und Bleistift. Bezüglich der chronologischen Abfolge der verwendeten Schreibwerkzeuge konnte ermittelt werden, dass Überarbeitungen mit Rotstift in die zweite Fassung münden und Korrekturen mit Bleistift erst danach erfolgten, also erst zur Erstellung der Druckfassung. Die überlieferten Einzelstimmen – Klarinette, Horn und Fagott – entstammen der ersten Arbeitsphase am Quintett, denn sie entsprechen der in schwarz notierten Grundschicht im Partiturautograph. Die äußerst sorgfältige Niederschrift der Stimmen erfolgte durch Juon selbst. Korrekturen sind als Streichungen, Rasuren und Tekturen durchgeführt, Grund- und Korrekturschichten stehen in schwarzer Tinte. Eintragungen mit anderem Schreibwerkzeug (Blei- oder Farbstifte) stammen von anderen Händen und sind vermutlich auf die ausführenden Musiker zurückzuführen. Aus dieser Beobachtung lässt sich schließen, dass das Quintett in der Erstfassung musiziert wurde, was die nähere Betrachtung dieser Fassung rechtfertigt. 19 Passagen hat Juon in der Partitur gestrichen und die jeweiligen Neufassungen auf vier gesonderten Bögen niedergeschrieben. Grund- und Korrekturschichten sind wenig sorgfältig mit Bleistift verfasst, rote Tinte kennzeichnet die Anfänge und Enden der Revisionen und nummeriert sie entsprechend den gestrichenen Passagen in der Partitur. Es fehlen Notenschlüssel, Tonartenvorzeichnungen und zum größten Teil Artikulationszeichen, Legatobögen und Dynamikangaben. Korrekturen wurden entweder als Streichungen und Überschreibungen oder nach Ausradierung durchgeführt. Die Revisionen sind zwischen 2 und 40 Takte lang und ersetzen nicht zwingend gleich lange Ursprungsvarianten. Die Bearbeitung für Klavier zu vier Händen liegt ebenfalls autograph vor. Das Manuskript wirkt rasch zu Papier gebracht, denn es ist weitaus weniger sorgfältig verfasst als Partitur und Stimmen. Trotzdem weist es wenige Korrekturen auf, von denen die meisten lediglich die Stimmenverteilung betreffen. Es fällt auf, dass die auf den gesonderten Blättern notierten Revisionen eingearbeitet sind, während sich aber noch viele Passagen stark von der Druckfassung unterscheiden. Diese Unterschiede zu Erst- und Druckfassung und der Mangel an Korrekturen weisen darauf hin, dass es sich um eine Abschrift bzw. Bearbeitung einer zweiten Fassung handeln muss, die aber nicht in Partiturform überliefert ist. Der Umstand, dass ein Klavierauszug erstellt –––––––— 3
Thomas Badrutt: Paul Juon – Leben und Werk. Chur 1998, S. 97.
„Analoge“ Edition mehrerer Entstehungsfassungen in der Musik
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wurde, legt die Vermutung nahe, dass das Quintett auch in dieser zweiten Fassung musiziert wurde. Der Druck des Quintetts erschien 1930 beim Verlag Richard Birnbach in Berlin.4 In Juons Nachlass befindet sich davon ein vollständiges Exemplar bestehend aus kleinformatiger Partitur und den fünf Einzelstimmen. Der Druck unterscheidet sich musikalisch stark von der ersten und der zweiten Fassung. Der prominenteste Unterschied liegt im Hornsolo zu Beginn des ersten Satzes (T. 4–6 in der Druckfassung), doch zahlreiche weitere gravierende Unterschiede weisen darauf hin, dass die zweite Fassung nochmals eine Überarbeitung erfahren hat. Diese Quelle – vermutlich die Druckvorlage – ist aber in Juons Nachlass nicht vorhanden. Um die vorhandenen Quellen anschaulich zueinander in Beziehung zu setzen, sei hier ein Stemma vorgeschlagen. Vermutete Quellen, die sich nicht in Juons Nachlass befinden, stehen in runden Klammern. Partiturautograph: Erste Fassung (Reinschrift: Zweite Fassung) – Klavierauszug Revisionen (Druckvorlage) – Druckausgabe: Dritte Fassung
Da die musikalischen Unterschiede5 zwischen den Quellen zahlreich und zum Teil bedeutend sind, werden sie nicht lediglich als Varianten oder Lesarten angesehen. Vielmehr können aus dem vorhandenen Material drei unterschiedliche Entstehungsfassungen definiert werden: Die Erstfassung wird aufgrund der autographen Partitur rekonstruiert, wobei lediglich die Grundschicht – alle in schwarzer Tinte verfassten Elemente – berücksichtigt wird. Die mit den Revisionen zu ersetzenden Stellen sind in der autographen Partitur vermutlich mit demselben Schreibwerkzeug (gleiche rote Farbe und Strichqualität) gekennzeichnet worden wie zahlreiche vorgenommene Korrekturen. Diese ‚rote Schicht‘ ergibt die zweite Fassung. Die dritte Fassung entspricht der gedruckten Partitur. Üblicherweise würde man für die vorliegende Quellenlage die Druckfassung als Leitquelle für eine Neuedition wählen. Allerdings haben Analysen von gedruckten Juon-Werken aus seinem Nachlass ergeben, dass der Komponist selbst nach der Drucklegung noch Änderungen an seinen Werken vorgenommen hat, sodass nicht unbedingt davon ausgegangen werden muss, dass die Druckfassung dem fertigen, ‚richtigen‘ Werk entspricht. Außerdem gäbe es durchaus gute Gründe für die Wahl der ersten oder zweiten Fassung als Textgrundlage: Die erste Fassung ist das „Ergebnis einer intensiven Produktionsphase des Autors und markiert –––––––— 4 5
CD-Einspielungen erfolgten durch das Cosmoquintett (Musiques suisses, MGB 6152) und durch das Schweizer Bläserquintett (Discover, DICD 920 481). Die Korrekturarten sind vielfältig und reichen von rhythmischen Präzisierungen bzw. Vereinfachungen bis hin zu grundsätzlichen Veränderungen von musikalischen Ideen. Der Umstand, dass Revisionen bezüglich der Anzahl der Takte bisweilen stark von der Erstfassung abweichen, führt zu der Vermutung, dass der Komponist keiner im Voraus skizzierten rhythmischen oder harmonischen Grundstruktur gefolgt ist, sondern seine musikalischen Einfälle modular aneinandergereiht hat.
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Silja Reidemeister
das vorläufige Ende des Entstehungsprozesses“,6 und diese wie auch die zweite Fassung wurden musiziert (die erste mit fünf Bläsern, die zweite mit zwei Pianisten). Diese beiden Werkstadien stellten also jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt für den Komponisten ‚das Werk‘ dar, weshalb alle drei Fassungen hier als gleichberechtigt angesehen werden. Die Fülle an autographem und autorisiertem Material sowie die bedeutenden Unterschiede zwischen den Fassungen erlauben es, nach der Textgenese und der Schaffensweise des Autors zu fragen. In der germanistischen Editionsphilologie hat man zu diesem Zweck Methoden entwickelt, bei denen diakritische Zeichen und typographische Mittel verwendet werden.7 Diese Visualisierungsstrategien sind in musikalischen Ausgaben aber teilweise zur Verdeutlichung von Herausgeberentscheidungen reserviert und können nicht sinnvoll umfunktioniert werden. Eine andere Möglichkeit zur Vermittlung der Chronologie der Textentstehung zeigt sich aber für das hier vorgeschlagene Experiment im Einsatz von Farben.8 In Kombination mit einer synoptischen Darstellung der drei Fassungen untereinander können die Entwicklungsschritte rasch und einfach nachvollzogen werden. Dabei steht die erste Fassung zuoberst, die zweite in der Blattmitte und die Druckfassung zuunterst. Die Erstfassung erscheint in schwarzer Druckfarbe. Elemente in der zweiten Fassung, die sich gegenüber ihren Entsprechungen in der ersten unterscheiden, erscheinen in grün. In der dritten Fassung sind alle Elemente, die gegenüber der ersten Fassung gleichgeblieben sind, schwarz, jene der zweiten Fassung grün, und Neuerungen in der Druckfassung gegenüber beiden vorhergehenden Fassungen sind rot gefärbt. Diese Darstellungsform vermag es, den Entstehungsprozess von Juons Bläserquintett op. 84 auf eine intuitiv verständliche Art nachvollziehbar zu machen. Es ist keine komplizierte Aufschlüsselung eines Zeichensystems nötig, und mühsames Hinund Herblättern wird ebenfalls vermieden. Die drei Fassungen sind ab Blatt spielbar und stellenweise (klanglich) miteinander vergleichbar. Für Musiker, die nicht nur einen Weg vorgesetzt bekommen möchten, sondern sich für die Entstehung eines Werkes interessieren, könnte eine solche Edition einen hohen Wert besitzen. Außerdem wird eine akzeptable Grundlage für musikalische Analysen wie beispielsweise die Frage nach Juons Formverständnis geliefert.
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Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Stuttgart 1997, S. 78. Plachta bezieht sich in dieser Aussage zwar auf den Erstdruck, sie kann aber im Fall des Quintetts auch für die Erstfassung gelten, weil die Erstellung des Stimmenmaterials und das Musizieren dieser Fassung ein vorläufiges Ende des Schaffensprozesses darstellen. Prominente Vertreter dieser Editionstypen sind beispielsweise Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans Zeller. Bern 1958–1996, oder Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe). Hrsg. von Dietrich E. Sattler. Frankfurt am Main 1976–2008. Auch das Projekt „Beethovens Werkstatt – Genetische Textkritik und digitale Musikedition“ arbeitet mit dem Einsatz von Farben zur Verdeutlichung von Beethovens Schaffensprozess.
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Abb.: Paul Juon, Quintett op. 84, 3. Satz, T. 229ff. in der Druckfassung.
Allerdings stehen diesen Vorteilen einige Einwände gegenüber. So ist einerseits zu hinterfragen, inwiefern diese Methode auch auf andere Quellensituationen anwendbar ist – wenn beispielsweise Entstehungsstufen bzw. -fassungen nicht so klar voneinander abgrenzbar sind oder Werke für größere Besetzungen ediert werden sollen. Zum andern ist der Einsatz von Farben kritisch zu betrachten, da dadurch die Herausgeberentscheidungen nicht deutlich gekennzeichnet werden können – der ‚Schatten des Editors‘ wird nicht sichtbar. Es wäre zusätzlich ein umfangreicher Kritischer Bericht für alle drei Fassungen notwendig, bei dem wiederum der praktische Nutzen infrage gestellt werden könnte. Auch ist die inhärente Wertung, die vom Einsatz von Farben (oder auch nur Graustufen) ausgeht, problematisch. So kann also abschließend festgestellt werden, dass die hier vorgeschlagene Methode in editionstheoretischer Hinsicht einige Einschränkungen aufweist – in editionsund musikpraktischer Hinsicht birgt sie jedoch deutliche Vorteile.
Michael Matter
Revisionen in Anton Weberns Klavierstücken aus der Studienzeit
Revisionen sind ein unumgänglicher Aspekt bei der Edition von Anton Weberns Gesamtwerk. Nachdem die anfänglichen Publikationspläne der Universal Edition 1914 aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges hatten zurückgestellt werden müssen, kam Webern erst 1920 zu einem endgültigen Vertragsabschluss. Infolgedessen überarbeitete er nahezu alle seine bis dahin verfassten Werke, und zwar teils in erheblichem Ausmaß, so dass vielfach mehrere Fassungen vorliegen, die zugleich eine zwischenzeitlich veränderte kompositorische Technik und Ästhetik dokumentieren.1 Davon nicht betroffen sind freilich die Kompositionen aus der Studienzeit bei Arnold Schönberg. Die Anton Webern Gesamtausgabe hat sich zum Ziel gesetzt, das gesamte kompositorische Schaffen Weberns zu edieren, und beinhaltet daher nicht nur die von Webern zum Druck beförderten Werke mitsamt ihren unpublizierten Fassungen, sondern genauso Bearbeitungen, Fragmente, sämtliche Skizzen sowie eben auch alle Kompositionen, die mutmaßlich im privaten Unterricht bei Schönberg entstanden sind. Gerade in diesen letztgenannten Arbeiten findet sich eine spezifische Art von Revisionen, die durch die Gegebenheiten der Unterrichtssituation bedingt sind und auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Dass dabei die eine oder andere Frage offen bleibt, ist dem Umstand geschuldet, dass die entsprechende Edition noch im Entstehen begriffen ist. Eine erste philologische Schwierigkeit dieser Studienkompositionen liegt zunächst in der Frage ihrer Chronologie. Während Webern seine allerersten Kompositionsversuche – so zum Beispiel die zwei Stücke für Cello und Klavier M 1 und M 22 von 1899 – noch mit einem Datum versehen hat, ändert sich dies grundsätzlich mit dem Eintritt in den Unterricht bei Schönberg im Herbst 1904. Abgesehen von wenigen Ausnahmen (z. B. der Langsame Satz für Streichquartett M 78 von 1905) sind die in der Studienzeit entstandenen Kompositionen undatiert. Eine exakte Reihenfolge der Entstehung zu rekonstruieren ist folglich schwierig, zumal gerade in quellentechnischer Hinsicht keine eindeutigen Anhaltspunkte gegeben sind. Aufschlussreich kann zwar jeweils die spezifische Lagenordnung sein, also die Anordnung der Notenblätter und -bögen innerhalb einer Quelle doch darüber hinaus lassen sich nach bisherigem Erkenntnisstand weder aus den Firmenzeichen oder anderen Qualitäten –––––––— 1
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Vgl. hierzu Anne C. Shreffler, Felix Meyer: Rewriting history: Webern’s Revisions of his Early Works. In: Revista de Musicología XVI/6, 1993, S. 3754–3765, hier 3754ff., sowie Anne C. Shreffler, Felix Meyer: Webern’s Revisions: Some Analytical Implications. In: music analysis 12/3, 1993, S. 355–379, hier 355ff. Bei den M-Nummern handelt es sich um die vom Webern-Biographen Hans Moldenhauer eingeführte Werkzählung. Vgl. Hans und Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 639–666.
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des verwendeten Notenpapiers noch aus orthographischen Eigenheiten von Weberns Notenschrift konsequente Rückschlüsse für spezifische Zeitabschnitte ziehen.3 Wie problematisch außerdem der Versuch einer stilistischen Einordnung ist, um eine durchgehende Chronologie zu erstellen, soll das folgende Beispiel veranschaulichen. Schriftliche Hinweise über inhaltliche Aspekte oder konkrete Projekte im Unterricht bei Schönberg sind grundsätzlich sehr spärlich (wenn überhaupt vorhanden), weder in der überlieferten Korrespondenz noch in den Tagebüchern finden sich aufschlussreiche Stellen, die weiterführende Rückschlüsse erlauben würden. Doch während seiner Vortragsreihe Der Weg zur Komposition in zwölf Tönen von 1932 kommt Webern einmal rückblickend auf einen Sonatensatz zu sprechen, den er angeblich komponierte, nachdem Schönberg seinen Schülern im Sommer 1905 seine Kammersymphonie op. 9 gezeigt hatte. Aus der unmittelbaren Begeisterung heraus soll Webern einen Sonatensatz geschrieben haben, in dem er an die äußersten Grenzen der Tonalität gestoßen sei. Und ein anschließend verfasstes Variationsthema habe dann sogar vollständig einer tonalen Grundlage entbehrt, so dass am Ende selbst Schönberg und dessen Schwager Zemlinsky die schiere Ratlosigkeit hätten eingestehen müssen.4 Weberns Rückblick endet zwar an diesem Punkt, doch durch den mit ihm und Schönberg befreundeten Musikwissenschaftler Josef Polnauer ist auch die Fortsetzung überliefert. Weil selbst Webern seine kompositorische Vorgehensweise zu diesem Punkt nicht mehr restlos begründen konnte, forderte ihn Schönberg gemäß Polnauer dazu auf, dass er von nun an „ganz regelrecht schreibe“ – was Webern angeblich getan habe.5 Wie diesbezüglich Thomas Ahrend ausgeführt hat,6 ist es demnach sehr fraglich, ob während der vierjährigen Unterrichtszeit überhaupt eine kontinuierliche harmonische Entwicklung hin zur Atonalität stattgefunden hat, wie es beispielsweise der Biograph Hans Moldenhauer bei seiner detaillierten Chronologie vermutlich annahm. Sonst wäre Webern ja eigentlich schon 1905 gewissermaßen am Ziel gewesen. Außerdem muss aufgrund der vagen Schilderungen (die sich notabene auf ein fast zwanzig Jahre zurückliegendes Ereignis beziehen) offen bleiben, inwieweit Webern 1905 tatsächlich schon an die Grenzen der Tonalität stieß oder diese gar aufgab. Bisher ist nämlich nicht schlüssig geklärt, um welche Manuskripte es sich bei –––––––— 3
4 5 6
Vgl. zu den Firmenzeichen auch Gareth Cox: Anton Weberns Studienzeit. Seine Entwicklung im Lichte der Sätze und Fragmente für Klavier, Frankfurt am Main 1992, S. 124f. Simon Obert hat außerdem festgestellt, dass der Schreibduktus des C-Schlüssels in der Zeit um 1904/05 eine Umstellung erfährt. Dieser philologische Befund ist freilich zeitlich beschränkt und lässt sich nur auf Kompositionen anwenden, in denen ein C-Schlüssel vorkommt. Für eine Datierung der bei Schönberg entstandenen Klavierstücke ist er deshalb nicht fruchtbar zu machen. Vgl. Simon Obert: Weberns frühe Instrumentationen. In: Der junge Webern. Texte und Kontexte. Hrsg. von Thomas Ahrend, Matthias Schmidt. Wien 2015 (Webern Studien. 2b), S. 113–127, hier 124f. Vgl. Anton Webern: Der Weg zur Komposition in zwölf Tönen. In: Anton Webern. Wege zur Neuen Musik, Hrsg. von Willi Reich. Wien 1960, S. 45–61, hier 52. Josef Polnauer, Paralipomena zu Berg und Webern. In: Österreichische Musikzeitschrift 24, 1969, H. 5‒ 6, S. 292–296, hier 295. Vgl. Thomas Ahrend: Hausaufgabe und Werk. Zur Formkonzeption von Anton Weberns Langsamem Satz für Streichquartett. In: Der junge Webern. Texte und Kontexte. Hrsg. von Thomas Ahrend, Matthias Schmidt. Wien 2015 (Webern Studien. 2b), S. 71–89, hier 73ff.
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den zwei erwähnten Kompositionen handeln könnte.7 Jedenfalls ist die durch ein teleologisches Geschichtsbild begründete Annahme eines konsistenten Fortschritts problematisch, zumal Webern auch schon zu Beginn seiner Lehrzeit hinter gewisse stilistische Eigenheiten zurückfiel, die er sich zuvor angeeignet hatte, um bei Schönberg das kompositorisches Handwerk von Grund auf zu erlernen. Eine harmonische Analyse kann daher höchstens ein sekundäres Indiz zur Erstellung eines zeitlichen Rasters sein. Aufschlussreicher ist hingegen die Betrachtung der jeweiligen Form eines Übungsstückes. Gemäß den Grundlagen der musikalischen Komposition verfolgte Schönberg in seinem Unterricht einen systematischen methodischen Aufbau, bei dem zunächst die dreiteilige Form gefolgt von Menuett und Scherzo, dann die Variationsform und schließlich die Rondo- und Sonatenform auf dem Lehrplan standen. Wenngleich es zu berücksichtigen gilt, dass Rückschlüsse aufgrund der zeitlichen Distanz von über einem halben Jahrhundert zwischen Weberns Lernjahren und dem Publikationsjahr von Schönbergs Grundlagen der musikalischen Komposition (das englische Original Fundamentals of Musical Composition erschien 1967, die von Rudolf Kolisch besorgte deutsche Übersetzung folgte erst 1979) mit einer gewissen Vorsicht zu ziehen sind, lässt sich anhand des Kriteriums der Form doch zumindest eine grobe Reihenfolge der Studienkompositionen erstellen. Ulrich Krämer hat hinsichtlich Alban Berg überzeugend aufgezeigt, wie sich die bei ihm überlieferten Quellen mit Schönbergs didaktischem Plan in Übereinstimmung bringen lassen.8 Auch in Weberns Fall ist ein allmähliches Fortschreiten von anfänglichen Übungen, die nur wenige (acht bis sechzehn) Takte umfassen und gewissermaßen die Handhabung der Periodik schulen, über dreiteilige Formen hin zu umfangreicheren Arbeiten in Rondo- oder Sonatenform zu beobachten. Die unsichere Chronologie des vorhandenen Materials ist aus editorischer Sicht jedoch das vergleichsweise geringere Problem, immerhin lässt sich der Zeitraum für die in Frage kommenden Arbeiten auf die vier Jahre der Studienzeit eingrenzen, die im Herbst 1904 begann und im Sommer 1908 mit dem abschließenden Prüfungswerk, der Passacaglia op. 1, endete. Problematischer als die Datierung ist der eigentliche Status dieser Notentexte. Als unmittelbare Dokumente aus dem Unterricht sind sie zwar historisch ungemein aufschlussreich sowohl für die musikalische Entwicklung des jungen Webern als auch für die Geschichte des Komponierens und des Vermittelns von Komposition um 1900. Sie dokumentieren eine suchende Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen Aneignung und Individualismus.9 Doch aus philologischer Sicht erhalten sie einen prekären Status, weil sie Teil eines dynamischen Lernprozesses und damit auch ständigen Überarbeitungsprozesses sind, der – besonders in den Anfängen der Unterrichtszeit – –––––––— 7 8 9
Zwei bisherige Vorschläge betreffen das Streichquartett M 121 sowie das Klavierquintett M 118. Vgl. Cox 1992 (Anm. 3), S. 128 (Fußnote 23). Vgl. Ulrich Krämer: Alban Berg als Schüler Arnold Schönbergs. Quellenstudien und Analysen zum Frühwerk, Wien 1996 (Alban Berg Studien. 4), S. 173ff. und 193ff. Vgl. dazu weiterführend die verschiedenen Texte in: Der junge Webern. Texte und Kontexte. Hrsg. von Thomas Ahrend, Matthias Schmidt. Wien 2015 (Webern Studien Bd. 2b).
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nicht primär auf ein Endresultat im Sinne eines fertigen, in sich geschlossenen Werkes hinzielt, sondern eine jeweils spezifische Aufgabenstellung zu lösen versucht, teilweise auch in mehrfacher Ausführung. Etliche Übungen haben insofern ein offenes Ende, als dass sie beispielsweise auf der Dominante oder im Moment eines formalen Übergangs aufhören. Andere wiederum weisen zahlreiche Eintragungen und Überarbeitungen mit Bleistift auf oder wurden gar pauschal gestrichen (z. B. das Klavierstück M 34). Dementsprechend fehlerhaft respektive nachlässig ist stellenweise der Notentext, der eben nicht auf eine praktische Verwendung ausgerichtet ist: Vergessene (oder als selbstverständlich weggelassene) Akzidenzien, falsch notierte Oktaven (inkorrekte Anzahl Hilfslinien) oder rhythmische Unstimmigkeiten (fehlende oder überzählige Augmentationspunkte) kommen immer wieder vor. Eine Endredaktion ist bei diesen Übungen freilich nie erfolgt, so dass eine Edition oft gezwungenermaßen Eingriffe vornehmen muss, um einen verständlichen Text zu erhalten. Eine weitere philologische Schwierigkeit, die genauso mit der Unterrichtssituation zusammenhängt, liegt in der Bestimmung der Urheberschaft und Chronologie der vorhandenen Korrekturen und Eintragungen. Ob eine Korrektur oder Eintragung von der Hand des Lehrers Schönberg oder von der Hand des Schülers Webern stammt, ist nicht immer eindeutig zu eruieren, wenngleich die meisten davon tendenziell Webern zuzuschreiben sind.10 Außerdem können Textänderungen sowohl gleich vor Ort im verbalen Austausch erfolgt sein als auch erst zu Hause als Nachbearbeitung zum Unterricht. Überhaupt sagt die handschriftliche Urheberschaft nichts über die geistige aus: Ein Eintrag von der Hand Weberns muss nicht auf Eigeninitiative zurückzuführen sein, sondern kann auch bloß die konkrete Ausführung einer Anmerkung Schönbergs darstellen. Auch ob es sich schließlich bei diesen Überarbeitungen jeweils effektiv um Korrekturen im Sinne von Berichtigungen handelt oder um mögliche Alternativen, die vor dem Hintergrund des Unterrichts ausprobiert wurden, wäre zu fragen.11 Von dem Klavierstück M 45 beispielsweise existieren zwei beträchtlich voneinander abweichende Fassungen, wobei die zweite Fassung zwar das thematische Material der ersten aufgreift, aber formal umdisponiert und die Formteile in ihrer Länge ausbalanciert. Womöglich ging es hier darum, innerhalb eines bestimmten Formtyps den Blick für Proportionen zu schärfen, indem Schönberg seinen Schüler nach möglichen (besseren?) Alternativen suchen ließ. Handelt es sich also nun um zwei gleichwertige Varianten innerhalb einer spezifischen Aufgabenstellung oder ist mit der zweiten Fassung die vorangehende doch hinfällig geworden? Ab wann lässt sich im Kontext kompositorischer Ausbildung überhaupt von verschiedenen Fassung sprechen? Das spezifische Spannungsfeld zwischen Lehrer und Schüler hat hinsichtlich der erfolgten Textänderungen Konsequenzen für die Terminologie. Aber nicht nur die –––––––— 10
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Eindeutig ist die Autorschaft Schönbergs nur im Klavierquintett M 118, wo an zwei Stellen die Handschrift des Lehrers klar zu erkennen ist. Wie Cox indes zu der Feststellung gelangt, dies seien überhaupt die einzigen Anmerkungen Schönbergs, die sich in Weberns frühen Manuskripten finden würden, erschließt sich nicht. Vgl. Cox 1992 (Anm. 3), S. 51. Vgl. Ahrend 2015 (Anm. 6), S. 72.
Revisionen in Anton Weberns Klavierstücken aus der Studienzeit
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begriffliche Unterscheidung zwischen Korrektur und Alternative oder Variante, sondern auch die Frage nach der terminologischen Bezeichnung der Kompositionen an sich drängt sich auf. Missverständlich wäre wohl der Begriff Fragment, sofern er sich auf eine unfertige Notation bezieht, die im Hintergrund die Idee eines vollständig ausgearbeiteten Werks mitdenkt – in der Regel handelt es sich weder um unvollständige Überlieferungen noch um unvollendete Werke. Als Übung per se sind die Texte mehrheitlich in dem Sinne abgeschlossen, als dass sie entweder das angestrebte Lernziel erreicht haben oder aus einem bestimmten Grund abgebrochen wurden. Der Werkbegriff scheint in vielen Fällen ebenfalls problematisch, weil er eine Übungseinheit von sechzehn oder noch weniger Takten gewissermaßen überfordert. Auch das offene Experimentieren mit potenziellen Varianten läuft letztlich einem emphatischen Werkbegriff zuwider. Auf der Gegenseite wird es wiederum den späteren Studienkompositionen kaum gerecht, von einer Übung zu sprechen. Weberns letzte Arbeiten aus dem Unterricht tragen bereits Opusnummern und sind zur Veröffentlichung bestimmt. Der potenzielle Terminus Übung geht allmählich in jenen des Werkes über, die dynamische Schnittmenge der beiden Begriffe verlagert sich von einem Pol zum anderen. Gerade in der Fruchtbarmachung dieser Dialektik lag allerdings auch ein wesentlicher Grundsatz von Schönbergs Unterricht, so dass sich schon aufgrund der didaktischen Methode zwangsläufig terminologische Schwierigkeiten ergeben müssen.12 Selbst die hier im Titel vorgestellte Bezeichnung Klavierstück ist letztlich diskussionswürdig. Die meisten Kompositionen sind zwar im Klaviersatz notiert und mit ziemlicher Sicherheit auch am Klavier komponiert worden. Doch wie Reinhold Brinkmann hinsichtlich Schönbergs zu Recht festhielt, muss nicht jede im Klaviersatz notierte Komposition zwingend auch ein explizites Stück oder gar Werk für Klavier repräsentieren.13 Die umrissene Problematik soll anhand eines Beispiels, des Sonatenrondos M 114, näher veranschaulicht werden. Dieses Sonatenrondo, vermutlich im Jahr 1906 komponiert, ist von größerem Format und umfasst in der letzten greifbaren Version 158 Takte, hat also schon eine deutliche Tendenz zu einem elaborierten Werk. Die Textgenese ist relativ komplex, zumal die Formgenese unmittelbar involviert ist. Neben etlichen Bleistiftskizzen existieren insgesamt fünf Reinschriften in Tinte, von denen jedoch die meisten nur Ausschnitte des gesamten Satzes, insbesondere aus der Exposition respektive dem ersten Rondoteil, enthalten: Reinschrift 1: Reinschrift 2: Reinschrift 3: Reinschrift 4: Reinschrift 5:
Hauptsatz – Überleitung Überleitung – Seitensatz Überleitung – Seitensatz – Hauptsatz Beginn Coda Sonatenrondo (Sonatensatz)
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Vgl. ebd., S. 71f., wo analog die Begriffe „Hausaufgabe“ und „Werk“ verwendet werden.. Reinhold Brinkmann: Einleitung. In: Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Band 4: Werke für Klavier zu zwei Händen. Hrsg. von Reinhold Brinkmann. Mainz, Wien 1975, S. XI.
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Michael Matter
Die Reinschriften überschneiden sich inhaltlich, gerade für die erste Überleitung vom Hauptsatz in den „ersten Seitensatz“, wie ihn Webern in einer Skizze bezeichnet, bedurfte es offenbar vier Anläufe, bis eine für ihn (oder für Schönberg?) zufriedenstellende Lösung gefunden war. Überhaupt weisen alle Reinschriften über der ersten Arbeitsschicht eine zweite Schicht mit zahlreichen Korrekturen und Markierungen vor allem mit Bleistift, aber mitunter auch mit blauem oder braunem Buntstift auf (insofern bezieht sich die Bezeichnung Reinschrift hier auf die erste, säuberliche Niederschrift in Tinte). Zwischen den Reinschriften folgen immer wieder Bleistiftskizzen, teilweise auch zu anderen Kompositionen. Durch das Alternieren zwischen den beiden Schreibstoffen könnte der Eindruck entstehen, diese Vorgehensweise sei eine arbeitstechnische Maßnahme im Sinne eines wechselseitigen Stimulus gewesen – als ob Webern, sobald die Arbeit stockte, zur Tinte griff, um das bisher Erarbeitete gleichsam zu rekapitulieren und dadurch möglicherweise auch den Blick auf Problemstellen zu schärfen. Doch wie Anne Shreffler konstatiert hat, markiert bei Webern der Griff zur Tinte eigentlich immer ein Moment der Fertigstellung, ein Zeichen der Gültigkeit.14 Vor dem Hintergrund des Unterrichts ist es daher wahrscheinlicher, dass die in Tinte notierten Reinschriften zum jeweiligen Zeitpunkt ihrer Ausarbeitung als Vorlage für Schönberg dienten und die in ihnen dokumentierten Revisionen zugleich die Besprechungen aus dem Unterricht reflektieren (in diesem Kontext hatte natürlich auch die Tinte nur eine bedingte, vorübergehende Gültigkeit). Es ist dabei durchaus denkbar, dass die große Form nicht direkt als Ganzes, sondern etappenweise erarbeitet wurde, indem Schönberg von Webern zunächst verlangte, eine ausbaufähige, dreiteilige Form zu komponieren, die sich in diesem Fall aus der Zusammensetzung der Reinschriften 1–3 ergibt. Die ausgeführte A–B–A-Form fungierte anschließend als Ausgangspunkt für die größere Konzeption.15 Allerdings ist dann auch die fünfte Reinschrift nicht in einem Stück entstanden. Insofern ist die obige Nummerierung vereinfacht und erhebt auch keinen streng chronologischen Anspruch. Sowohl eine Streichung mit „vide“-Verweis im durchführenden Mittelteil als auch die den Beginn der Coda enthaltende vierte Reinschrift deuten darauf hin, dass Webern die scheinbar durchgehende Schlussversion in mehr als einem Arbeitsschritt komponiert und zwischendurch dem Lehrer zur kritischen Durchsicht vorgelegt hat. Der markanteste Eingriff ist jedoch ein auf einem separat eingelegten Blatt notierter Einschub, der einen ganzen Formteil einfügt: Der zuvor nur als Reminiszenz in der Coda vorkommende erste Teil des Seitensatzes wird nun in die Reprise integriert, wobei gleichzeitig mit einem weiteren „vide“-Verweis die dazugehörige Überleitung sowie der nachfolgende Hauptsatz gekürzt werden.
–––––––— 14
15
Vgl. Anne C. Shreffler: Traces Left Behind: Webern’s Musical Nachlass and Compositional Process. In: Settling New Scores. Music Manuscripts from the Paul Sacher Stiftung. Hrsg. von Felix Meyer. Mainz 1998, S. 103–106, hier 104. Zu einem ähnlichen Schluss kommt mit Blick auf den Langsamen Satz M 78 ebenfalls Thomas Ahrend 2015 (Anm. 6), S. 87ff. Vgl. hinsichtlich Alban Berg auch Krämer 1996 (Anm. 8), S. 173.
Revisionen in Anton Weberns Klavierstücken aus der Studienzeit
277
Abb. 1: Sonatenrondo M 114: Gestrichene Überleitung mit „vide“-Verweis, Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Anton Webern
Abb. 2: Sonatenrondo M 114: Beigelegtes Blatt mit eingefügtem Seitensatz, Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Anton Webern
Wahrscheinlich hat Webern in Zusammenhang mit diesem Einschub auch das vorhandene Titelblatt geändert, indem er den ursprünglich mit Tinte gesetzten Titel „Sonatensatz“ mit Bleistift durchgestrichen und durch „Rondo“ ersetzt hat. Dass dieses Titelblatt im Übrigen nach den ersten drei Reinschriften entstanden ist, bekräftigt wiederum die Hypothese, dass die große Form erst nach Erreichen des ersten Etappenziels anvisiert wurde.
Michael Matter
278
Abb. 3: Sonatenrondo M 114: Titelblatt, Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Anton Webern
Die nachträgliche Revision hat in diesem Fall also eine entscheidende Auswirkung auf die formale Anlage: Durch den eingeschobenen Seitensatz erhält sie nicht nur eine ausgewogenere Gesamtarchitektur, sondern ist auch deutlicher auf ein Rondo zugeschnitten (obwohl sie weiterhin als Sonatensatz lesbar ist):
Sonatenrondo
A
B
A’
C
A’’
Einschub B
A
Coda
Sonatensatz
HS
SS
HS’
Episode
HS’’
SS
HS
Coda
Durchführung (?)
Es ist einigermaßen erstaunlich, dass Webern nach dem ursprünglichen Entwurf einer dreiteiligen Form zuerst einen Sonatensatz für die Fortsetzung ins Auge fasste. Dadurch erhalten die Formteile gleich von Anfang an eine gewisse Ambivalenz: Gehört HS’ noch zur Exposition oder beginnt hier bereits die Durchführung? Dieselbe Frage stellt sich nach dem episodischen Zwischenteil, wo wieder das Hauptthema in der Grundtonart folgt, allerdings stark variiert und als Spannungsaufbau konzipiert, dabei auch Elemente aus dem Seitensatz aufgreifend – ist das der Beginn der Reprise oder noch Teil der Durchführung?16 Ohne den eingeschobenen Seitensatz würde gleich nochmals der Hauptsatz folgen. Diese funktionale Doppeldeutigkeit widerspiegelt sich in der Coda, die analog als variierte Ausprägung des Seitensatzes interpretiert werden kann. Durch die Einfügung des zusätzlichen Seitensatzes wird diese Ambivalenz aufgebrochen, die Zuordnung der Formteile funktioniert nun – innerhalb eines –––––––— 16
Zu der unterschiedlichen Auslegung des Repriseneintritts vgl. auch Cox 1992 (Anm. 3), S. 135–138, besonders Fußnote 23.
Revisionen in Anton Weberns Klavierstücken aus der Studienzeit
279
Sonatenrondos – viel klarer. Nicht zuletzt mag dabei auch eine Rolle gespielt haben, dass der episodenhafte Zwischenteil viel eher einem Trio als einer richtigen Durchführung entspricht, so wie auch die anfängliche A–B–A-Struktur eigentlich prädestinierter ist für ein Rondo. Um der Metamorphose dieses Klaviersatzes gerecht zu werden, sind aus editorischer Perspektive damit bis zu drei Textfassungen denkbar: ein Sonatenrondo, ein Sonatensatz sowie das dreiteilige Entwurfsstadium. Freilich liegt die Schwierigkeit darin, den mutmaßlichen Zustand der jeweiligen Stadien zur rekonstruieren. Eine Herausforderung ist in dieser Hinsicht besonders die Überlagerung verschiedener Schreibstoffe innerhalb der Reinschriften: Gibt es anfänglich gleichsam eine arbeitstechnische Hierarchie zwischen Bleistift und Tinte, so nivelliert sich diese zunehmend und es stellt sich jeweils die Frage, auf welche Fassung sich die erfolgten Eintragungen beziehen. Eine alles klärende Reinschrift wurde eben in keinem der drei Texte mit letzter Konsequenz verfolgt. Trotz aller Werkhaftigkeit scheint Webern das Sonatenrondo bis zum Schluss vor allem als Übungsplattform betrachtet zu haben. Eine konsequente Unterscheidung zwischen Bleistift und Tinte hinsichtlich Gültigkeit ist daher schwerlich zu vollziehen. Stellt man sich auf den Standpunkt, nur die Tintenschicht zu edieren, weil Korrekturen oder Varianten mit Bleistift nicht denselben Status beanspruchen können und mehrheitlich in der nachfolgenden Reinschrift übernommen werden, könnte diese Vorgehensweise in den ersten vier Reinschriften vielleicht handhabbar sein. Doch gerade die letzte Reinschrift, die als einzige einen Sonatensatz respektive ein Sonatenrondo von Anfang bis Ende darstellt, weist nicht nur sehr viele Eingriffe mit Bleistift auf, die sozusagen nicht mehr mit Tinte bestätigt wurden, sondern würde besonders in der Coda ohne Berücksichtigung dieser zusätzlichen Eintragungen in einigen Takten unklar bleiben oder gar Lücken aufweisen und wäre somit nicht mehr als vollständiger Text darstellbar. Eine weitere Konsequenz der inhaltlichen Überschneidungen der Reinschriften ist schließlich die, dass Webern feinere musikalische Ausarbeitungen wie etwa die Dynamik, Legatobögen oder Tempoangaben nicht mehr nachtrug. Eine Revision bedeutet diesbezüglich also nicht ausschließlich ‚Fortschritt‘, vom spielpraktischen Ausarbeitungszustand her fällt die letzte Exposition hinter jene der ersten beiden Reinschriften zurück. Umgekehrt sind in der fünften Reinschrift mancherorts dynamische Angaben und Legatobögen mit Bleistift ergänzt worden. Sollte vielleicht doch noch eine weitere Reinschrift folgen? Für eine Edition stellt sich die Frage, ob allenfalls die Dynamik und Phrasierung der frühen Reinschriften in die letzte übertragen werden. Welche Editionsform ist diesen Kompositionsübungen nun angemessen? Die Anton Webern Gesamtausgabe unterscheidet gerade mit Rücksicht auf diese spezifische Überlieferungssituation drei Editionstypen: Werkedition, Textedition und Quellenedition. Die Werkedition bietet einen vollständigen und eindeutigen Notentext und zielt auf musikalische Texte, die als Werke aufgeführt und rezipiert werden und deren Notentexte in der Regel bereits zu Lebzeiten im Druck erschienen sind (also insbesondere auf die von Webern mit den Opuszahlen 1–31 versehenen Kompositionen). Die
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Quellenedition andererseits dient primär der Dokumentation der Textgenese und bietet einen nahezu diplomatisch edierten Text. Erkennbare Korrekturschichten werden hier, soweit möglich, durch Kleinstichnotation unterschieden. Die Quellenedition eignet sich daher vornehmlich zur Darstellung von Skizzen, aber auch für Korrekturen oder kleinere Varianten innerhalb einer Quellenbeschreibung. Die Textedition schließlich bietet den Notentext einer bestimmten, möglicherweise auch unvollständigen Textfassung, ohne in jedem Fall den Grad der Vollständigkeit und Eindeutigkeit einer Werkedition erreichen zu müssen. Die editorischen Eingriffe sind in diesem Fall durch eckige Klammern (z. B. bei Akzidenzien, Augmentationspunkten usw.), Strichelung (z. B. bei Ligaturen) oder durch einen Asterisk gekennzeichnet. Die Textedition bietet sich somit vor allem für musikalische Texte an, die in einem Ausarbeitungszustand überliefert sind, der über eine bloße Skizzierung hinausgeht, die aber keinen eindeutigen Abschluss im Sinne eines aufzuführenden oder zu publizierenden Werkes erfahren haben. Diese drei Editionstypen der Anton Webern Gesamtausgabe erscheinen außerdem in einander ergänzenden Medien: in einem Modul Print und einem Modul Online, das auf dem Grundsatz des open access basieren wird. Einerseits wird es also gedruckte Bände geben, die neben den Werkeditionen ausgewählte Texteditionen und jeweils einen Teil des Kritischen Berichts (z. B. die Textkritischen Anmerkungen) beinhalten werden. In der Online-Edition andererseits sind die Einleitungen, ausgewählte Texteditionen, sämtliche edierten Skizzen und die vollständigen Kritischen Berichte zugänglich. Anhand des an der Uni Basel entwickelten Knora/SALSAH, einer digitalen Forschungsplattform zur Verlinkung und Annotierung von Materialien, bietet die Datenbank zudem die Möglichkeit, Versionen, Fassungen und Korrekturschichten nicht nur zu dokumentieren, sondern auch untereinander sowie mit historischen Fakten (Ereignissen, Personen, Korrespondenzen usw.) zu verknüpfen.
Abb. 4: Editionstypen und Module der Anton Webern Gesamtausgabe
Was das Format betrifft, werden grundsätzlich alle Studienkompositionen als Textedition erscheinen, auf diese Weise lässt sich ihr potenziell offener Status adäquat dokumentieren. Hinsichtlich der vier kürzeren Reinschriften von M 114 ließe sich jedoch fragen, ob nicht auch eine Quellenedition sinnvoll sein könnte. Würden diese nämlich jeweils als Quellenedition ediert, könnten sämtliche im Text vorgenommenen Korrekturen und damit auch die Verweiszeichen direkt im Notentext sichtbar gemacht und
Revisionen in Anton Weberns Klavierstücken aus der Studienzeit
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mit der entsprechenden Anschlussstelle verlinkt werden. Die Textedition dagegen würde ihren Status gleichsam aufwerten und den Reinschriftcharakter gegenüber den Skizzen hervorheben. Der beschriebenen Unterrichtssituation würden beide Editionstypen auf ihre Weise gerecht werden: im einen Fall als vorübergehende Stationen in einem dialektischen Entstehungsprozess oder im anderen Fall als zwischenzeitliche Etappen, die den methodischen Aufbau versinnbildlichen. Was das Verhältnis zwischen Print- und Online-Edition angeht, werden beim Sonatensatz M 114 voraussichtlich die beiden Fassungen Sonatensatz und Sonatenrondo sowie das Entwurfsstadium in gedruckter Form erscheinen, während die Reinschriften 1–4 als einzelne Texte ergänzend über die Online-Edition ediert würden – gerade auch, um den komplexen Entstehungskontext sichtbar zu machen. Durch die Verfügbarkeit aller Varianten und Versionen ließe sich dann ohne Dilemma auch die Frage der unterschiedlich vorhandenen Dynamik und Phrasierung lösen: Es werden in den betreffenden Reinschriften nur die jeweils tatsächlich vorhandenen Angaben übernommen, dank der Möglichkeit des Verlinkens können aber die Parallelstellen zum Vergleich herangezogen werden. Die kaum begrenzte Kapazität einer Online-Edition ermöglicht es, die vielen Korrekturen und Änderungen nicht bloß als Kommentar, sondern unmittelbar als Notentext sichtbar zu machen, um damit die Textgenese möglichst genau und anschaulich darstellen zu können. Demgegenüber besteht allerdings die Gefahr, dass Textzusammenhänge erstellt werden, die so gar nie intendiert waren oder existiert haben – eben weil in diesem dynamischen Lernprozess viele Überarbeitungen in ihrer Chronologie nicht eindeutig sind und sich Alternativen von Korrekturen nicht immer unterscheiden lassen. Es wird kaum jemals möglich sein, jede Arbeitsschicht als solche zu eruieren, geschweige denn zu dokumentieren. Auch das schier unbegrenzte Potenzial einer Online-Edition wird letztlich nicht verhindern, dass kritische Entscheidungen durch den Editor notwendig bleiben.
Andrea Malnati
Tebaldo e Isolina by Rossi and Morlacchi from Venice to Dresden: Author’s Variants in Tebaldo’s Gran Scena
Dresden, 11 March 1825: the director of the Königlich Sächsische Theater of Dresden, Francesco Morlacchi, wrote these words to his Venetian friend Francesco Peluti: intrapresi l’ardua fatica di dare il mio Tebaldo pel giorno cinque marzo [...]. Rifusi tutta la parte della donna, che è divenuta ora di grande effetto, accorciai il libro, levai tutto quello che era difettoso e sostituii poco ma buono, rividi tutto scrupolosamente, ed infine feci tutto nuovo, da dopo la Romanza sino alla fine, ed ora posso dire che questo spartito è reso, per quanto, si può (salvo la modestia) perfetto. Oh! se l’avessi dato così a Venezia!!! l’effetto sarebbe stato triplo. [...] Vorrei che fosse conosciuto questo spartito in Italia tale come ora io l’ho ridotto. Oh! se lo riproduceste ora a Venezia come ne sarei contento! ho conservato tutto quello che vi piaceva, ed ho levato, e ammigliorato il resto.1 [I undertook the arduous task of preparing my Tebaldo for the 5th of March. [...] I recast the entire role of the prima donna, that now has a great effect, I shortened the libretto, I took out all that was flawed and replaced it with a little but good material, I scrupulously revised everything, and lastly I composed it afresh from after the Romanza to the end, and can now say that this score has been made, as far as possible (modesty apart), perfect. Oh! If I had staged it thus in Venice!!! It would have made three times the effect. [...] I would like this score to be known in Italy exactly as I have now refashioned it. Oh! If you were to put on a new production in Venice, how happy I would be! I have left everything that you liked, and removed and improved the rest.]2
These words clearly express Morlacchi’s enthusiasm and satisfaction in revising the score of Tebaldo e Isolina, a work that had been first staged only three years earlier at the Teatro La Fenice in Venice and that, in spite of the success it met with among audiences and critics alike since its debut, had never completely satisfied its composer. During the following contribution3 I will attempt to investigate the reasons that led Morlacchi to revise this opera, highlighting the main features of this new version (perceived as definitive) with respect to the original project as conceived for the Venetian stage. Beginning with the structural differences between the two versions of the opera, my study will concentrate on the musical number that underwent the most –––––––— 1
2 3
Manuscript letter from Morlacchi to Francesco Peluti (Dresden, 11th March 1825) published in Pascale Michelangelo: Le lettere veneziane di Morlacchi. In: Francesco Morlacchi e la musica del suo tempo (1784‒1841). Edited by Brumana Biancamaria and Ciliberti Galliano. Olschki. Firenze 1986, pp. 131-162: 142‒143. Author’s translation. For a more complete analysis about Tebaldo e Isolina and its two versions see Malnati Andrea: La Gran Scena nell’opera italiana (1790‒1840). PhD diss. University of Pavia 2014, pp. 222-251; 601‒670.
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Andrea Malnati
significant modifications when passing from Italy to Germany, that is, Tebaldo’s Gran Scena. Conceived in Venice to highlight the sensational vocal and interpretative gifts of the role’s first interpreter, the castrato Giovanni Battista Velluti, this number created some perplexity among spectators and critics even at the première performance, similar impressions having been recorded by Velluti and Morlacchi themselves. Tebaldo e Isolina, a melodramma eroico in two acts to a libretto by Gaetano Rossi, was first staged at the Teatro La Fenice in Venice on 4th February 1822. The interpreters of all three leading roles were true celebrities: Gaetano Crivelli (primo tenore, Boemondo), Giovanni Battista Velluti (primo uomo, castrato, Tebaldo) and Francesca Festa Maffei (prima donna, soprano, Isolina).4 Morlacchi was engaged in composing this work from 15th November 1821 to 29th December of the same year, as indicated by the two dates annotated by the composer on the pages of the autograph score, now conserved at the Museo Internazionale e Biblioteca della Musica in Bologna.5 A rapid comparison between the autograph score—our foremost source of information on the Venetian version—and the libretto of the première shows that the opera is made up of an opening Sinfonia followed by fourteen musical numbers (seven for each of the two acts), separated by simple recitatives. The musical outline of the entire opera is summarised in the following list: Sinfonia ATTO PRIMO N. 1
Introduzione [Recitativo] dopo l’Introduzione
N. 2
Coro e Cavatina d’Isolina [Recitativo] dopo la Cavatina d’Isolina
N. 3
[Coro, Recitativo e] Cavatina Tebaldo [Recitativo] dopo la Cavatina di Tebaldo
N. 4
Recitativo e Terzettino
N. 5
Scena e Cavatina Boemondo [Recitativo] dopo la Cavatina di Boemondo
–––––––— 4 5
See p. 7 in the printed libretto of the première: TEBALDO | E | ISOLINA | MELO-DRAMMA | EROICO | VENEZIA | PER IL CASALI ED. E TIP. | M. DCCC. XXII. Morlacchi Francesco: Tebaldo e Isolina. Autograph score in 2 vol. I-Bc, UU. 16/1-2. Both dates are annotated in vol. 1, f. 19r and in vol. 2, f. 182r.
“Tebaldo e Isolina” by Rossi and Morlacchi from Venice to Dresden
N. 6
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Scena e Duetto tra Tebaldo e Boemondo [Recitativo dopo il Duetto tra Tebaldo e Boemondo]
N. 7
Scena e Finale Primo ATTO SECONDO
N. 8
Introduzione dell’Atto Secondo [Recitativo dopo l’Introduzione dell’Atto Secondo]
N. 9
Scena ed Aria d’Isolina [Recitativo dopo l’Aria Isolina]
N. 10
Scena, Coro ed Aria di Boemondo [Recitativo] dopo l’Aria Boemondo
N. 11
Scena e Duetto [Isolina-Tebaldo] [Recitativo dopo il Duetto]
N. 12
Aria di Clemenza
N. 13
[Gran Scena di Tebaldo] [Recitativo dopo la Gran Scena]
N. 14
[Recitativo], Duetto [Tebaldo-Boemondo] e Finale Secondo
N. 13, Gran Scena di Tebaldo, covers scenes 12‒14 of the second act. From a dramaturgical point of view, it is located at the apex of the catastrophe, just before the action’s happy denouement, which takes place in N. 14, Recitativo, Duetto TebaldoBoemondo e Finale Secondo. The feud between the rival families of Tebaldo and Isolina, a latter-day Romeo and Juliet, hinders the love between the two youths, who only at the end of the work will be able to fulfil their romantic dreams. The morphological articulation of N. 13, as conceived by Rossi and Morlacchi, corresponds to the most common form of the Gran Scena, which was the most complex morphological structure used for solo numbers in Italian opera at the time as can be seen in the outline proposed here:
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Andrea Malnati
Gran Scena
1. Cavatina
3. Aria/Rondò
1. 2. 3. 4.
0. Preparation
Primo tempo Cantabile Tempo di mezzo Stretta
2. Transition
the Gran Scena is articulated into four parts: a first preparatory section (in recitative style, often introduced by an extended instrumental prelude), followed by a singlesection cavatina in a slow tempo, a transition (that alternates recitatives with more extended choral parts) and by a multiple-section aria (often named rondò).6 The following outline provides details as to the formal articulation of N. 13, Gran Scena di Tebaldo: 0. Scena avanti la Romanza Tebaldo «Notte, tremenda, orribil notte!» Largo, 4/4, B flat major 1. Romanza «Caro suono lusinghier» Andantino amoroso, 2/4, F major 2. Scena «Ed io viver potrò!» [Coro] «Vittoria! Vittoria!» Allegro presto, 3/4, A major [Scena] «Ah! fermate ... Sigerto?» 3. Aria «Deh! S’arrenda il tuo bel core» Larghetto cantabile, 6/8, A major «Qual viltà! – Tu a piedi suoi! ...» Allegro, 4/4, C major «Non è vero che si mora» Andantino – Allegro furioso – Andantino – Più moto, 2/4, D major
–––––––— 6
For a more complete analysis about Gran Scena see Beghelli Marco: Che cos’è una Gran Scena? In: Belliniana et alia musicologica. Festschrift für Friedrich Lippmann zum 70. Geburtstag. Edited by Brandenburg Daniel and Lindner Thomas. Wien 2004 (Primo Ottocento. 3), pp. 1‒12.
“Tebaldo e Isolina” by Rossi and Morlacchi from Venice to Dresden
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Late at night, Tebaldo is roaming around Isolina’s castle (section 0) worried about the fate of his father Boemondo, defeated in battle, and resolved on ending his own days once he has rescued his father. A harp prelude coming from the castle guides his thoughts towards his beloved, which sparks off the romanza «Caro suono lusinghier» (section 1). When the sound of the harp ceases (section 2) Tebaldo shakes himself out of the ecstatic torpor into which he had sunk and hears the chorus of knights and soldiers led by Ermanno, Isolina’s father, who are singing the praises of victory. Tebaldo reveals himself to the knights and Ermanno recounts, over a long recitative, the horrible death of his own son Geroldo, not knowing that he was killed by no other than Tebaldo himself. Boemondo, who had remained in hiding until that moment, suddenly hurls himself at Ermanno and tries to kill him, but Tebaldo disarms Boemondo and thus saves the life of his beloved’s father. Everybody wants Boemondo to be put to death, but Tebaldo protects him, revealing for the first time his true identity: he is not the noble and faithful Sigerto, but Tebaldo, son of Boemondo. He furthermore reveals that he is responsible for Geroldo’s death and begs his enemies to atone for the crimes of his father, for whom he begs clemency. Against this backdrop of bewilderment, Tebaldo begins his tripartite aria «Deh! S’arrenda il tuo bel core» (section 3), at the end of which he leaves. The scene reaches its peak and its vicissitudes find a (predictable) happy ending during the final number of the opera. The first staging of Tebaldo e Isolina met with enormous success. The reviews published in Venetian periodicals both immediately following the debut and over the course of its repeat stagings praised the work overall and the romanza «Caro suono lusinghier» in particular, thanks among other things to the masterful interpretation it received from Velluti. The aria «Deh! S’arrenda il tuo bel core», however, was the object of some criticism, according to which its repetitions and lengthy passages prevented it from matching the high level of beauty and quality reached in the romanza. The anonymous reviewer of the «Gazzetta Privilegiata di Venezia»7 revealed that at the break of dawn of the day following the debut Velluti himself was at work attempting to revise and improve the aria. This news leak seems to be confirmed by the pages of the autograph score of the opera. It would indeed not be difficult to argue that someone intervened on the score at a later date with respect to its initial composition, with the precise intention of indicating a few cuts to be made on the text of the aria, by strongly marked vertical and diagonal lines covering the entire page, and cross references («vi-» «-de») traced in red chalk. More specifically, the following interventions were made:
a first cut, totalling 49 bars (vol. 2, from f. 148r to f. 152v), eliminates the entire Larghetto cantabile «Deh! S’arrenda il tuo bel core» and the first part of the following tempo di mezzo;
–––––––— 7
«La Gazzetta Privilegiata di Venezia», 5th February 1822, cited after Girardi Maria: Morlacchi e i suoi rapporti con Venezia. In: Brumana-Ciliberti 1986 (see fn. 1), pp. 107‒130: 124.
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Andrea Malnati
a second cut (vol. 2, from f. 155v to f. 156r) suppresses 12 bars in the first exposition of the cabaletta in the stretta; a third cut (vol. 2, from f. 156v to f. 156bisv) omits the 17 bars that set to music, in an Allegro furioso, the couplet «Del mio stato disperato | tutto or sento, oh Dio! l’orror»; a fourth cut (vol. 2, from f. 160r to f. 160v) omits from the second exposition of the cabaletta the same 12 bars that had been cut from the first exposition; a fifth cut (vol. 2, from f. 161v to f. 162r) omits 16 bars in the section of the codas.
It is not in the least simple to establish who was responsible for these signs and the cuts they indicate. Only in the case of the first of the cuts mentioned above (specifically, the indications «vi-» «-de») would seem to be written in the hand of Morlacchi (the ductus indeed seems to be identical to the one that annotated the verbal text found in the autograph score). Was it therefore Morlacchi who introduced all of these cuts? And what role might Velluti have had in this operation? It would not be out of place to imagine that both of them contributed to the revision. During the repeat performances, Tebaldo’s Gran Scena was almost certainly performed by Velluti in its new and abbreviated form, i. e. with the cuts described above. While it seems legitimate to hypothesise that these cuts were introduced during the period of the repeat performances in Venice, it is not certain that they were all implemented at the same moment. The five sections to be omitted could well be the fruit of a gradual process with which Velluti and Morlacchi put the finishing touches on their work during the performances at La Fenice. In this new abbreviated version, to which a manuscript copy of the score now conserved at the G. Greggiati Library in Ostiglia (MN)8 also bears witness, the layout of the Gran Scena is altered: the apex of the entire number is no longer the final aria «Deh! S’arrenda il tuo bel core» but the romanza «Caro suono lusinghier», that aroused such enthusiasm when heard for the very first time and that was soon to become one of the (if not ‚the‘) morceau favorite of Velluti. A three-year leap forward takes us to the evening of the 5th of March 1825, when the Königlich Sächsische Theater in Dresden inaugurated the first staging in Germany of Tebaldo e Isolina, as personally supervised by Morlacchi. The choice of re-staging in Dresden a work that had been previously composed in Italy is part of a custom strenuously defended by this composer, who was in the habit of proposing for the Saxon stage not only new works, but also revised versions of his Italian operas that had met with the greatest success. The literary and musical sources to this version of the opera are:
–––––––— 8
Morlacchi Francesco: Tebaldo e Isolina. Manuscript score in 2 vol. I-OS, Mss.Mus.B 92/1-2.
“Tebaldo e Isolina” by Rossi and Morlacchi from Venice to Dresden
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the bilingual (Italian and German) libretto printed for the occasion;9 a few pages of the autograph score of the opera conserved in Bologna,10 whose second volume contains, in addition to the musical text of the version staged in Venice, some newly composed parts (ff. 188r–204r); in other cases (ff. 139r– 145r) the musical text of the Dresden version appears to have been written over the Venetian text; these facts clearly show that Morlacchi worked directly on the autograph score while preparing the new Dresden variant; two complete manuscript copies: one, with autograph annotations, conserved at the Sächsische Landesbibliothek in Dresden;11 the other, with a bilingual Italian and German text, conserved at the Staatsbibliothek zu Berlin;12 a complete set of (vocal and instrumental) parts used for the 1825 Dresden staging, now conserved at the Sächsische Landesbibliothek in Dresden;13 the vocal score drafted by Heinrich Marschner (with a bilingual Italian and German text) published without a date (but surely after March 1825) by the Arnoldische Buch-, Kunst- und Musicalienhandlung.14
A collation of these sources allows us to reconstruct the musical outline of the new version: Sinfonia ATTO PRIMO N. 1
Introduzione [Recitativo] dopo l’Introduzione
N. 2
Coro e Cavatina d’Isolina [Recitativo] dopo la Cavatina d’Isolina
N. 3
[Coro, Recitativo e] Cavatina di Tebaldo [Recitativo] dopo la Cavatina di Tebaldo
N. 4
Recitativo e Terzettino
N. 5
Scena e Cavatina Boemondo [Recitativo] dopo la Cavatina di Boemondo
–––––––— 9
10 11 12 13 14
TEBALDO E ISOLINA. | Melodramma romantico, | in due Atti. | Da rappresentarsi | Nel Teatro Reale di Sassonia. | Dresda, 1825. Theobald und Isolina. | Romantisches Melodram | in zwei Aufzügen | für das Königl. Sächs. Theater. | Dresden, 1825. See fn. 5. Morlacchi Francesco: Tebaldo e Isolina. Manuscript score in 2 vol. D-Dl, Mus 4657-F-508. Morlacchi Francesco: Tebaldo e Isolina. Manuscript score in 2 vol. D-B, Mus.Ms.14782/1-2. Morlacchi Francesco: Tebaldo e Isolina. Manuscript parts. D-Dl, Mus 4657-F-508a. Morlacchi Francesco: Tebaldo e Isolina. Arnoldische Buch-Kunst-und-Musicalienhandlung. Dresden, Leipzig [post March 1825]. Facsimile edition: Garland. New York, London 1989 (Italian Opera 1810‒ 1840. 24).
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Andrea Malnati
N. 6
Scena e Duetto tra Tebaldo e Boemondo [Recitativo dopo il Duetto tra Tebaldo e Boemondo]
N. 7
Scena e Finale Primo ATTO SECONDO
N. 8
Scena ed Aria d’Isolina
N. 9
Scena, Coro ed Aria di Boemondo [Recitativo] dopo l’Aria di Boemondo
N. 10
Scena e Duetto [Isolina-Tebaldo]
N. 11
Scena, Romanza [di Tebaldo] e Coro
N. 12
Finale Secondo
As can be observed easily, the most significant changes with respect to the original Venice version are concentrated in the second act: here, two numbers (N. 8, Introduzione dell’Atto Secondo, and N. 12, Aria di Clemenza) have in fact been eliminated, while a third (N. 11, Scena, Romanza Tebaldo e Coro) differs highly compared to the equivalent passage of the Venetian text (that is, Tebaldo’s Gran Scena). N. 11—Scena, Romanza Tebaldo e Coro—presents this new structural articulation: 0. Scena «Notte, tremenda, orribil notte!» Andante, 4/4, C major 1. Romanza [di Tebaldo] «Caro suono lusinghier» Andantino amoroso, 2/4, F major 2. Coro «Vittoria! Vittoria!» Allegro con furia, 3/4, A major [Scena] «Ah! fermate ... Sigerto?» 3. [Quartetto con Coro] «Qual viltà! – Tu a piedi suoi!...» Allegro, 4/4, C major [Duettino] «Eri tu la mia speranza» Andantino amoroso, 4/4, F major
“Tebaldo e Isolina” by Rossi and Morlacchi from Venice to Dresden
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[Seguito] «Pera omai, pera l’indegno» Allegro con fuoco, 4/4, F major Preghiera «Ah padre amato» Andantino, 3/4, F sharp minor/A major [Seguito] «Cessino gli odi omai» Andantino mosso – Allegro, 4/4, B major
Sections 0, 1, and 2 appear at first glance to be identical to the corresponding parts of the Gran Scena as staged in Venice, but actually depart from them in several ways:
the orchestration is now more robust and variegated, with a more prominent use of the winds and, above all, the brass section; the instrumental prelude that opens the scene (section 0) has been newly composed and is entirely different from the one heard in Venice; Tebaldo’s vocal line is now enriched with many embellishments, as though Morlacchi had felt the need to guide the new interpreter, Federica Funck, in her choice of ornaments; the final part of the romanza differs from the Venetian version by way of an expansion in the section of the codas; the brief scene found in the Venetian version between the romanza and the chorus has been eliminated, as have been the five verses that conclude the scene after the Chorus.
From this point on, the two versions are entirely different. Instead of Tebaldo’s aria, that caused such discontent in Venice, Morlacchi composed an ample and articulated ensemble piece that, in the words of Philip Gossett, appears «quite unusual in its rapid shifts of tempo and free dramaturgical structure – in both of which German influence is unmistakeable».15 The beginning of this new section is in fact constructed like the outset of a central finale, followed by a brief duettino between Tebaldo and Isolina, in which the two lovers lament their unfortunate situation, and which newly presents the main melody of the preceding romanza. The furious rage of Isolina’s relatives does not however subside, when so begged by the two youths, until Isolina breaks out into a cry of pain and begins to sing a heartfelt prayer that finally succeeds in touching her father’s heart, now ready to forgive Boemondo and Tebaldo. This rapid denouement triggers off the following N. 12 Finale Secondo, that joyfully concludes the opera. In light of the above, it is clear that the passage from the early Venetian version to the following Dresden edition implied an abandonment of the structure of the Gran –––––––— 15
Gossett Philip: Introduction. In: Tebaldo e Isolina. A facsimile edition of the printed vocal score. Garland. New York, London 1989 (Italian Opera 1810‒1840. 24), pp. [V‒XIV: XI].
292
Andrea Malnati
Scena in favour of a broad and complex formal macrostructure, which was entirely new, unexpected but equally spectacular. This structural choice, furthermore, could only benefit the dramaturgical development that in the Dresden version takes on a linearity that was unseen in the former one, inasmuch as the resolution of the plot comes about here with the agnition of Tebaldo, which is the climax of the vicissitudes seen on stage. Despite the success gained in Dresden and Morlacchi’s great satisfaction this new version of the opera did not circulate virtually at all, with the exception of one repeat staging in Stuttgart in 1834.16 Eight years earlier, Morlacchi had personally gone to great lengths to send a copy of the score of his Tebaldo e Isolina to London, identical to the new edition prepared for Dresden, with an eye to the series of stagings programmed at the King’s Theatre in the Haymarket with Giovanni Battista Velluti in the role of Tebaldo.17 The project however foundered because, as reported by the periodical «The New Monthly Magazine and Literary Journal»: This improved score [...] was offered to the management here by the composer himself, even gratuitously, in case a remuneration were objected to; but one of the great vocalists is stated to have objected to its acceptance, for, if the old score were good enough for him, it surely must be good enough for every body else.18
That «great vocalist» must have been no other than Velluti, so highly admired and venerated by Morlacchi: the very same man, who could have consecrated his ‘new’ Tebaldo e Isolina was almost certainly more responsible than any other for having it boycotted.
–––––––— 16 17
18
See the printed libretto of this performance: Theobald und Isolina. | Romantische Oper in zwei Aufzügen. | Musik | von | Morlachi. [sic] | Stuttgart, | E. Eichele’s Musikalienhandlung. See the printed libretto of this performance: TEBALDO E ISOLINA, | MELO-DRAMMA EROICO. | In Two Acts. | THE MUSIC BY SIG. CAV. MORLACCHI. | AS REPRESENTED FOR THE FIRST TIME | AT THE KING’S THEATRE, | HAYMARKET, FEBRUARY 25, 1826. | THE TRANSLATION BY W. J. WALTER. | LONDON: | PRINTED BY S. AND R. BENTLEY, DORSET STREET | FOR JOHN EBERS, 27, OLD BOND STREET, | AND TO BE HAD AT THE KING’S THEATRE. | [PRICE 2s. 6d.] | 1826. «The New Monthly Magazine and Literary Journal», 18, 1826, p. 151.
Alice Tavilla
Typologies of Structural Variants and their Transmission in Giovanni Pacini’s Il Barone di Dolsheim
The history of the transmission of operatic texts in the first half of the 19th century is characterised by a series of changes introduced over time into the original texts:1 cases in which new numbers are introduced, or entire pieces—or sections thereof— are cut or substituted, are anything but uncommon. In the musicological literature, many significant contributions have dealt with the problem of operatic transmission: from modern critical editions, which always contain at least a brief excursus on the earliest repeat stagings of the operas in question, to John Rosselli’s pioneering studies dedicated to the production mechanisms that regulated theatrical life;2 from more recent works focused on the procedures underlying the practices of substitution and re-usage of opera numbers in different contexts, such as those by Roger Parker3 and Hilary Poriss,4 to articles dedicated to specific works5 or biographies of singers.6 All these types of contribution, while perfectly valid in themselves, in my opinion come up against a limit that must be put into focus: if in fact critical editions understandably give priority to the composer’s perspective, other studies show a tendency to confine the problem of transmission within the framework of a historical reconstruction of events and production mechanisms, giving textual criticism no more than a marginal role. My contribution—and my research as well—adopts an outlook that is contrary to the one that now seems to be predominant: without denying the convergences between the history of reception and production systems on the one hand, and textual criticism on the other, textual elements will be given priority here. My objective is to more fully understand the ways in which cuts, insertions and substitutions found in repeat stagings of a given opera are introduced, modifying its text and thus preparing its transmission. This type of study will necessarily have to identify the most adequate tools with which to interpret these modifications, which are to be considered to all –––––––— 1 2
3
4
5
6
The term ‚original‘ in this case indicates the text of the opera at its debut, i. e. as staged for the first time. Rosselli John: The Opera Industry in Italy from Cimarosa to Verdi. Cambridge University Press. Cambridge 1984; ID: Il sistema produttivo. In: Storia dell’opera italiana. Ed. Bianconi Lorenzo and Pestelli Giorgio, vol. IV, EDT. Torino 1987, pp. 77‒165; ID: Sull’ali dorate: il mondo musicale italiano dell’Ottocento. Il Mulino. Bologna 1992. Parker Roger: Remaking the Song. Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio. University of California Press. Berkeley 2006. Poriss Hilary: Changing the Score. Arias, Prima Donnas, and the Authority of the Performance. Oxford University Press. Oxford 2009. See, as one example among others, Beghelli Marco: Uno, nessuno, cento padri. In: Sigismondo. Ed. Marco Beghelli, Fondazione Rossini. Pesaro 2012 (I libretti di Rossini. 18), pp. XIII‒CXXIV. For this type of contribution, see the chapters Selecting a „Perfect“ Entrance. Carolina Ungher and Marino Faliero, and Maria Malibran, I Capuleti e i Montecchi, and a Tale of Suicide. In: Poriss 2009 (fn. 4), pp. 37‒65 and 100‒134.
294
Alice Tavilla
intents and purposes as structural variants: this is why it seems more appropriate to me to adopt a philological-structural perspective, given that structural analysis lends itself more profitably to a study aimed at decoding the appearance—and the possible stability over time—of textual variants that concern entire numbers, or considerable portions thereof. Structural philology is the branch of philology that studies a text’s mobility not as regards its individual readings, but […] as regards its structure, which may undergo variations—introduced by the author or during its transmission— as to the layout of its constitutive elements. [studia la mobilità del testo non a livello di lezioni, ma […] a livello di struttura, la quale può subire variazioni – d’autore o di tradizione – nella disposizione dei suoi elementi costitutivi].7
This discipline arose from studies on the history of textual transmission whose principal aim was to identify those changes, strictly speaking called structural variants, introduced over time, concerning the way in which the parts which make up a text are put into a certain order. This structural orientation of philology originated fairly recently, within the field of literary disciplines: it is in fact possible to assign it a conventional date of birth, which coincides with the paper by Gianfranco Contini entitled La critica testuale come studio di strutture, published in the Proceedings of the 2nd International Conference of the Società Italiana di Storia del Diritto in 1971.8 Contini’s proposals were later taken up and elaborated by Domenico De Robertis,9 who significantly adjusted the stance taken concerning structure, understood as the order given to the components of a text. In so doing, De Robertis saw the determining factor to be time, understood as the chronological transmission of the text and its evolution, whether this is due to an author’s consecutive interventions or to the presence of various historical conditions that lead to changes and adaptations. In the field of musicology, a theoretical and methodological systematisation that illustrates the application of the principles of structural philology to the new realm of enquiry is completely lacking. In lieu of such a contribution, however, a good deal of research does exist that often pre-dates literary studies and that—even though it has often been carried out with a low level of awareness and is thus inadequate from a terminological point of view—applies a philological-structural perspective, reaching highly interesting results with respect to many different types of musical trans–––––––— 7
8
9
Caraci Vela Maria: La filologia musicale. Istituzioni, storia, strumenti critici. 3 voll. LIM, Lucca 2005‒ 2013. I (2005), p. 68. Contini Gianfranco: La critica testuale come studio di strutture. In: La critica del testo. Proceedings of the international conference of the Società Italiana di Storia del Diritto. Olschki. Firenze 1971, pp. 11‒ 23. De Robertis Domenico: Problemi di filologia delle strutture. In: La critica del testo. Problemi di metodo ed esperienze di lavoro. Proceedings of the conference held in Lecce (22‒26 October 1984). Salerno Editrice. Roma 1985, pp. 383‒401.
Typologies of Structural Variants and their Transmission
295
mission.10 A structural discourse can indeed be well suited to any genre or form, and the reasons for which 19th century Italian opera lends itself particularly well to this kind of enquiry can easily be surmised: on the one hand it is constructed with numbers, in a succession of recitatives and closed pieces; on the other, the theatrical conventions of the time and the mechanisms that regulated the circulation of operas implied, with each repeat staging, a series of changes that are perfectly in line with the categories of structural variants. In order to illustrate the three typologies of structural variants that to me seem fundamental in a study of early-19th century Italian opera tradition, it will be useful to proceed with an analysis of an equal number of significant examples taken from the history of the transmission of the opera Il barone di Dolsheim, composed by Giovanni Pacini to a libretto by Felice Romani. This opera was first staged at the Teatro alla Scala in Milan in the autumn 1818 season, and was articulated into 15 musical numbers preceded by a Sinfonia and separated by recitatives, most of which are recitativi secchi. The outline you can see below is derived from a comparison between the libretto printed for the première and the autograph musical manuscript by Giovanni Pacini, and proposes the structure of the opera at the moment of its debut:11 [Sinfonia] ATTO PRIMO [N. 1]
[Introduzione] Brutta cosa, il mondo dice (Coro, Federico) [Recitativo] dopo l’Introduzione Oggi, miei bravi amici, ebbi l’avviso (Federico, Ufficiale)
[N. 2]
Terzetto Bella vita! ... Un militare! ... (Carlo, Teodoro, Brandt) [Recitativo dopo il Terzetto] Bravo il mio Brandt, bravo! Il pedagogo (Carlo, Teodoro, Brandt, Ufficiale)
[N. 3]
Scena Fortunata Glicera ... Alfin lo vide ... e Cavatina Amalia Cara adorata immagine (Amalia)
–––––––— 10
11
See, for example: Bisogni Fabio: Rilievi filologici sulle sonate della maturità di Franz Schubert (1817‒ 1828). In: Rivista italiana di musicologia, XI, 1976, n. 1, pp. 71‒105; Earp Lawrence: Machaut’s Role in the Production of Manuscripts of His Works. In: Journal of the American Musicological Society, XXXXII, 1989, n. 3, pp. 461‒503. For a complete description of the sources of Il barone di Dolsheim, see Tavilla Alice: Il barone di Dolsheim di Felice Romani e Giovanni Pacini. Fortuna e tradizione testuale (1818‒1840). Ph. D. diss., Università degli studi di Pavia 2013/2014, pp. 58‒109.
Alice Tavilla
296 [Recitativo dopo la Cavatina] Ah! Sì, di mille illusion gradite (Amalia) [N. 4]
Duetto La, la ra, la ra, la re (Amalia-Batilde) [Recitativo] dopo il Duetto Amalia Batilde Trista vita, o sorella (Amalia-Batilde-Governatore)
[N. 5]
Quintetto Ciel! Chi vedo! (Amalia-Batilde-Carlo-Governatore-Teodoro) [Recitativo] dopo il Quintetto Ah! Papà, non vi credo sì crudele (Amalia-Batilde-Governatore-Brandt)
[N. 6]
Coro Entrar si facciano (Coro) [Recitativo] dopo il Coro Anna Dolbourg, vedova ... Mendica ... (Federico-Brandt)
[N. 7]
Duetto Qual linguaggio? Qual baldanza? (Federico-Brandt) [Recitativo] dopo il Duetto di Federico e Brandt Quanto amore per Carlo! (Federico)
[N. 8]
Finale Non fiatate ... Tremo tutta (Amalia-Batilde-Carlo-Federico-Teodoro-Governatore-Brandt) ATTO SECONDO
[N. 9]
Introduzione – Coro Del novel Governatore (Coro) [Recitativo] dopo il Coro d’Introduzione Ecco il castello, ove le nostre belle (Batilde-Teodoro)
[N. 10]
Duetto Io mi accorgo che l’amore (Batilde-Teodoro)
Typologies of Structural Variants and their Transmission
297
[Recitativo dopo il Duetto] Ah! Ah! Che bella scena! (Teodoro-Brandt) [N. 11]
Sestetto Sconoscente! Allor ch’io stesso (Amalia-Batilde-Federico-Teodoro-Governatore-Brandt)
[N. 12]
[Scena] Tutte le vie son chiuse e [Aria di Carlo] Ovunque il passo io movo (Carlo) [Recitativo dopo l’Aria] Me lasso! Io spero in van: forse a quest’ora (Carlo-Teodoro-Brandt-Coro)
[N. 13]
Recitativo Arrestatevi: olà! Dove fuggite? e Terzetto Carlo, un bacio: io ti perdono (Carlo-Teodoro-Brandt) [Recitativo dopo il Terzetto] Presto, sollecitatevi (Amalia-Federico-Ufficiale)
[N. 14]
Recitativo Cielo! La morte! e Duetto In quel cor confido e spero (Amalia-Federico) [Recitativo] dopo il Duetto di Amalia e Federico Oh! Come spesse volte (Federico-Teodoro-Brandt)
[N. 15]
Marcia, Coro Sul fior degl’anni suoi che precede l’Aria di Amalia Ah! Per me l’avversa sorte e che termina in Finale (Amalia-Batilde-Carlo-Governatore-Coro)
As is clear in the reviews that appeared soon after the first performances, the opera met with remarkable success, soon to be confirmed by both the amount of repeat performances held during that same season,12 and the number of later stagings: according to the data that is currently available, the première was in fact followed by no less than 84 new stagings in Italy and abroad. Through a study of the librettos that have come down to us (a total of 29 librettos, distributed over the years in which Il barone di Dolsheim was staged, between 1819 and 1844), it is possible to retrace a general outline of the changes introduced over time into the opera’s original morphological layout.
–––––––— 12
The opera was performed 47 times.
Alice Tavilla
298 SIGLA13
CITY, THEATER, SEASON
CUTS
INTERPOLATION (I) AND SUBSTITUTION (S)
MUN1819
Monaco, Teatro reale presso la residenza, 1819
N. 4
- N. 4bis: Aria Governatore «Care figlie, oh qual piacer», (I); - N. 5bis: Aria Batilde «Ad amar fin dalle fasce», (I); - N. 13: Aria Brack «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
TS1820
Trieste, Teatro Nuovo, carnevale 1820
N. 4 N. 10
- N. 10bis: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (I).
NA1820
Napoli, Teatro del fondo, autunno 1820
N. 4 N. 9 N. 10
BAR1820
Barcelona, Teatro dell’Ecc.ma città, 1820
N. 10 N. 13
- N. 12: Aria Carlo «Qual dolore in quest’istante» (S); - N. 9bis: Aria Batilde «Nel giardino a passeggiare» (I).
FI1821
Firenze, Teatro Goldoni, primavera 1821
N. 4 N. 9 N. 10 N. 13
- N. 10bis: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (I).
VE1821
Verona, Teatro Morando, primavera 1821
N. 4 N. 10
- N. 10bis: Aria Teodoro «Vidi un giorno passeggiando», (I).
LON1822
London, King’s Theatre, Opera House, gennaio 1822
N. 10
- N. 8: tempo lento «Mi manca il fiato» (Tottola-Mayr, Elena, Finale II), (S); - N. 8: stretta «Come scende pel cielo fischiando», (S); - N. 12: Aria Carlo «Ciel che vedi un puro ardore» (S); - N. 13: «Ecco il mio Carlo! Al fine», (probably a re-elaborated version of the Terzetto GicondoMacrobio-Asdrubale in RomanelliRossini’s La pietra del paragone) (S); - N. 15: Quartetto «Cielo il mio labbro ispira», (Romani-Rossini, Bianca e Falliero), (S).
–––––––— 13
Henceforth, the sigla refers to the relative staging (City, Theater, Season), i.e. LI1822 = Livorno, Teatro degli Avvalorati, primavera 1822.
Typologies of Structural Variants and their Transmission
299
LI1822
Livorno, Teatro degli Avvalorati, primavera 1822
N. 4 N. 9 N. 10 N. 12
- N. 10bis: Aria Brandt «Era notte scura, scura» (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (I); - N. 13: Aria Carlo «All’armi mi chiama», (probably the alternative Argirio’s Aria in a re-elaborated version of Rossi-Rossini’s Tancredi), (S).
PI1822
Pisa, Teatro dei Nobili Sigg. Costanti di Pisa, primavera 1822
N. 4 N. 9 N. 10 N. 12
- N. 10bis: Aria Brandt «Era notte scura, scura» (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (I); - N. 13: Aria Carlo «All’armi mi chiama», (probably the alternative Argirio’s Aria in a re-elaborated version of Rossi-Rossini’s Tancredi), (S).
FI1822
Firenze, Teatro della Pergola, estate 1822
N. 4 N. 9 N. 10 N. 12
- N. 10bis: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (I); - N. 13: Aria Carlo «All’armi mi chiama», (probably the alternative Argirio’s Aria in a re-elaborated version of Rossi-Rossini’s Tancredi), (S); - N. 15: stretta «Tu che sei delle alme amanti» (S).
MI1822
Milano, Teatro Carcano, estate 1822
VA1822
Varese, Teatro Sociale, autunno 1822
N. 4 N. 6 N. 9 N. 10
MAD1822
Madrid, Teatro di corte [1822]
N. 10 N. 13
PC1823
Piacenza, Teatro Municipale, carnevale 1823
N. 4 N. 10
- N. 12: l’Aria Carlo «Sono in mar, non veggo sponde» (S); - N. 13: Aria di Brandt «Era notte scura, scura» (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
MO1824
Modena, Teatro Comunità, carnevale 1824
N. 4 N. 10 N. 15 (stretta)
- N. 3: Cavatina Amalia «Della rosa il bel vermiglio», (RomaniRossini, Bianca e Falliero), (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti,
N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», da La contessa di Fersen di Prunetti-Fioravanti (S). - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
Alice Tavilla
300
La contessa di Fersen), (S); - N. 15: tempo lento «Alma rea la più infelice», (Foppa-Rossini, Sigismondo), (S). FA1824
Faenza, Teatro Comunale, carnevale 1824
N. 4 N. 9 N. 10
- N. 1bis: Cavatina Carlo «Più non trova in tal momento» (I); - N. 3: Cavatina Amalia «Come sembravami», (Cavatina Teodora in the re-elaborated version of Rossi-Pacini’s La sposa fedele), (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
PDM1824
Palma de Mallorca, Teatro della M. N. y L., 1824
N. 12
- N. 10: Aria Batilde «Ah! Quel giorno ognor rammento», (RossiRossini, Semiramide), (S); - N. 13: Aria Carlo «Desio di gloria», (S).
CAD1824
Cadice, Teatro Principal, 1824
N. 10 N. 12
- N. 13: Aria di Carlo «A combatir salgamos», (spanish translation of «All’armi mi chiama», probably the alternative Argirio’s Aria in a re-elaborated version of RossiRossini’s Tancredi), (S).
BG1825
Bergamo, Teatro della Società, carnevale 1824-25
N. 4 N. 10
- N. 12: Aria Carlo «Smarrita quest’alma», (Diodati-Cimarosa, Penelope), (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
VI1825
Vicenza, Teatro Eretenio, carnevale 1824-25
N. 4 N. 9 N. 10
- N. 12: Aria Carlo «Se pietoso, ciel clemente», (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
LO1825
Lodi, Teatro della Regia città di Lodi, carnevale 1825
N. 4 N. 10
- N. 9bis: Aria Batilde «Lusinga amore, è vero», (I); - N. 12: Aria di Carlo «Nel pensare al mio periglio», (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
Typologies of Structural Variants and their Transmission
301
BAR1826
Barcelona, 1826
N. 13
- N. 10: Aria Batilde «Dove mai ne andò la calma?», (S); - N. 11bis: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (I).
PV1827
Pavia, Teatro dei Quattro Ill. Sig. Cavalieri Compadroni, carnevale 1827
N. 4 N. 6
- N. 10: Aria Teodoro «Amore dolcemente», (Foppa-Rossini, La scala di seta), (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S). - N. 15: tempo lento «Ciel pietoso, ciel clemente», (Aria Emma in the re-elaborated version of TottolaRossini’s Zelmira), (S); - N. 15: stretta «Ah s’è ver di quel ch’io sento», (Aria Emma in the re-elaborated version of TottolaRossini’s Zelmira), (S).
GE1827
Genova, Teatro di Corte, primavera 1827
N. 10 N. 12
- N. 12bis: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (I); - N. 13: Aria Carlo «Bel desio di gloria, oh! quanto», (S); - N. 15: stretta «Se provaste, s’io potessi», (S).
NO1829
Novara, Teatro di Novara, carnevale 1829
N. 4
- N. 10: Aria Batilde «Dagli affanni ogn’alma oppressa», (PrividaliNicolini, Annibale in Bitinia), (S); - N. 12: Aria Carlo «Nel primo fior degli anni», (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
VA1830
Varese, Teatro in Varese, autunno 1830
N. 4 N. 6 N. 10
- N. 9: Coro «Aspra del militar», (Pola-Mercadante, Caritea regina di Spagna), (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
CA1831
Cagliari, Teatro Civico, autunno 1831
N. 4 N. 6 N. 9
- N. 3: cantabile Cavatina Amalia «Chi nel petto tiene un’alma», (I); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S);
Alice Tavilla
302
- N. 15: tempo lento «Ciel pietoso, ciel clemente», (Aria Emma in the re-elaborated version of TottolaRossini’s Zelmira), (S); - N. 15: stretta «Ah s’è ver di quel ch’io sento», (Aria Emma in the re-elaborated version of TottolaRossini’s Zelmira), (S). MI1838
Milano, Teatro Re, Quaresima 1838
SS1838
Sassari, Teatro Civico, autunno 1838
N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S). N. 4 N. 6 N. 10
- N. 12: stretta «In me tutto avversa sorte», (S); - N. 13: Aria Brandt «Era notte scura, scura», (Prunetti-Fioravanti, La contessa di Fersen), (S).
This table is the result of a comparison between the libretto of the première and those that accompanied later stagings: the second column indicates the place and the season of the repeat staging, the third shows which numbers were cut, and the fourth indicates the numbers added or substituted along with their respective textual incipit and—to the degree in which it can be retraced—the origin of the newly inserted number. The main reason for which many of these changes were introduced with each new staging of the opera lies, as is well known, in the demands—and, at times, the whims—of the singers involved. One should note that, generally speaking, the composer—not being directly involved in repeat performances of his own operas— not only did not approve the modifications proposed, but was often not even informed of them; at any rate, in a considerable number of cases, the composer—whether present at rehearsals, or informed by third parties—accepted, or simply took no interest. Observing this data closely, we can draw some preliminary conclusions as to the history of Il barone di Dolsheim: we notice in fact that while a few numbers seem to virtually disappear from its transmission, most of the substitutions and additions were on the contrary introduced for a single staging, never to appear again. Among the variants, however, one is apparently persistent, but is actually only partially so, in that it appears in different points of the opera and therefore gives rise to ever different structures. It is therefore worthwhile to examine one case of each of these three typologies of structural variants—that I will respectively call ‚permanent‘, ‚ephemeral‘ and ‚intermittent‘—to gain a deeper understanding of how they are inserted into the text and, vice versa, how the latter undergoes modifications due to them. Let us begin by considering the case of N. 4, Duetto Amalia-Batilde «La, la ra, la ra, la re»: a comparative analysis of the twenty-nine librettos retrieved shows that this Duet appears in only nine of the opera’s repeat stagings: BAR1820, LON1822, MI1822,
Typologies of Structural Variants and their Transmission
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MAD1822, PDM1824, CAD1824, BAR1826, GE1827 and MI1838, and is absent in the remaining twenty. This simple statistical information provides us with an initial clue as to the notable degree of stability taken on by this variant itself over the course of the work’s transmission. We find further confirmation of the fact that the disappearance of the Duetto represents a persistent variant from the fact that the number in question is never substituted with another piece, but always simply cut. In other words, the elimination of N. 4, found in no less than twenty cases out of twenty-nine, gives way to the same structure in every occasion. Beginning with the original structure, that includes: N. 3 Scena e Cavatina Amalia Recitativo dopo la Cavatina N. 4 Duetto Amalia-Batilde Recitativo dopo il Duetto N. 5 Quintetto Cutting N. 4 produces a modification that always leads to the following articulation: N. 3 Scena e Cavatina Amalia Recitativo dopo la Cavatina N. 5 Quintetto Proceeding to examine the situation on a micro-textual level—concerning, that is, any possible changes made to the recitatives adjacent to this number, in order to accommodate the change—we note a considerable degree of stability in this sense as well: no less than fifteen of the twenty librettos that eliminate N. 4 turn in fact to exactly the same device in adapting the recitatives, which consists in eliminating the Recitativo dopo la Cavatina N. 3, at whose conclusion the recitative—that in the libretto of the first staging came after the Duetto N. 4—is immediately inserted: N. 3 Scena e Cavatina Amalia Recitativo dopo la Cavatina N. 5 Quintetto
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Recitativo dopo il Duetto
We can therefore define the variant produced by cutting N. 4 as permanent, given that it is found in twenty of the twenty-nine total librettos involved in the opera’s repeat stagings, always leading to the same macro-structure. The enduring character of this variant is confirmed, lastly, by a micro-structural analysis showing that in fifteen out of twenty librettos the recitatives that precede and follow this number are treated in the same way, thus arriving at an identical textual result. The opposite category consists in all of the ephemeral variants, that is, all those modifications whose sole characteristic is that they do not gain the least degree of stability during the work’s transmission. These changes remain tied to the context and circumstances of a single staging, do not tend to become a permanent feature of the text, and can only rarely be identified in more than one libretto or musical source. One significant example of this category of variants can be seen in the N. 15: an overall
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Alice Tavilla
glance suffices to grasp the intrinsic and complete mobility that distinguishes these variants: in the printed libretto for the 1822 London staging, the entire N. 15—with the exception of the chorus and the introductory scene—is replaced with the celebrated quartet from Rossini’s Bianca e Falliero, «Cielo il mio labbro ispira»; for the MO1824 stagings, instead, the cantabile of this number was substituted by an entire aria once again composed by Rossini, «Alma rea la più infelice», the aria of Sigismondo’s Gran Scena in the opera of the same name. This modification—that calls for a complete aria to be inserted, replacing the tempo lento of the Finale—also brought about a need for a new quantitative and dramatic balance, which was reached by eliminating Pacini’s final stretta, while the original tempo di mezzo was joined to Rossini’s aria, acting as a finaletto, including all the appropriate changes required to make it conclusive. In the PA1827 and CA1831 stagings, instead, both the cantabile and the stretta were substituted. The original Coro and Scena are followed by a new cantabile whose first stanza proposes once again Rossini, with «Ciel pietoso, ciel clemente», the slow section of Emma’s aria in the modified Viennese staging of Zelmira. This is followed by a second stanza that presents once again the first stanza of the cantabile in the N. 15 of Pacini’s Barone di Dolsheim. Given that, unfortunately, no musical source of this new cantabile has come down to us, we have no way of knowing how this was actually done, musically speaking. The new cantabile is followed by the original tempo di mezzo, while the stretta is instead replaced once again by the last section of Emma’s aria from Zelmira, «Ah, s’è ver di quel ch’io sento». Lastly, for the FI1822 and GE1827 stagings only the stretta was substituted, in the first case with «Tu che sei delle alme amanti» and in the second with «Se provaste, s’io potessi», both of whose origins are unknown. That the second finale underwent so many variants is not so surprising, if one considers that it must have created perplexities and second thoughts even in Pacini himself. In the composer’s autograph manuscript we find, in fact, a further variant concerning the stretta, the only autograph variant that can be identified along the transmission of the opera in question: the text of the stretta is different from the one found in all of the remaining musical sources of Il Barone di Dolsheim, and cannot be retraced in any of the librettos available. A close study of all the relevant sources suggests that Pacini composed a second version of the opera’s finale, which was inserted in the autograph manuscript only at a later date, substituting the previous version, which—as is demonstrated by its presence in all of the other manuscript copies—corresponds to the one that actually circulated. As I mentioned earlier, the history of the transmission of Il Barone di Dolsheim also presents a particular type of variant that I have defined ‚intermittent‘, indicating a textual level that lies in between a persistent and an ephemeral variant. This variant consists in the insertion of the aria «Era notte scura scura» composed by Valentino Fioravanti to a text by Michelangelo Prunetti for the opera La contessa di Fersen, staged in Rome at the Teatro Valle in 1817. In this new context, that is within Il Barone di Dolsheim, this aria is always given to the character Brandt, but—even while appearing in virtually all of the new stagings of Il Barone di Dolsheim—is found, from one staging to the next, at different places in the opera, and is inserted in
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a different way at almost every occurrence. The aria was written by Fioravanti for Luigi Zamboni, who first interpreted the role of Capitano Battaglia. It was no other than Zamboni who turned this aria into one of his own ‚aria di baule‘, introducing it himself for the first time in Il Barone di Dolsheim in the MUN1819 staging. From that moment on, Fioravanti’s number became an integral part of Pacini’s opera: it is in fact found in no less than twenty-one of the twenty-nine existent librettos. In six cases14 «Era notte scura scura» is introduced as an added number, while in the remaining fifteen15 it substitutes the Terzetto N. 13. One must also consider that the insertions or substitutions in discussion are not always introduced by way of the same procedures: the new piece is in fact inserted by manipulating the previous scene in a variety of ways. The upshot of this is that two different structures do not appear—one in which the aria is added, and one in which it is substituted—but as many different structures as are the actual ways in which the aria itself is inserted. A look through the librettos shows in fact that the insertion of «Era notte scura scura» as an addition produces four different structural variants: in the TS1820, FI1821, LI1822, PI1822 stagings, the aria is inserted within the Recitativo dopo il Duetto N. 10, in the BAR1826 staging it is found between the Sestetto N. 11 and Carlo’s Scena e Aria N. 12, in GE1827 between Carlo’s Aria N. 12—which substitutes the Terzetto N. 13— and the Recitativo dopo il Terzetto. The cases in which the variant appears as a substitution appear to be even more complex. Even though Fioravanti’s aria always substitutes the Terzetto N. 13, we can identify three subsets, on the basis of the way in which the scene that precedes the aria is treated: the MI1822, VA1822, PC1823, VI1825, PA1827, NO1829, CA1831 and MI1838 librettos all follow the model first proposed in Munich by Luigi Zamboni in 1819, in which the recitative consists in a reelaboration—necessary in terms of dramaturgical coherence—of Prunetti’s scene for Fioravanti. To be more precise, a first portion of newly composed text is followed by a passage that is literally taken up from the libretto of La Contessa di Fersen; the third section re-elaborates Prunetti’s text, which is, lastly, literally proposed in the fourth and final section of recitative. The librettos for the BG1824–25 and SS1838 stagings are also comparable to the model used in Munich: in these cases the text of the scene proposed in Munich is considerably reduced, but its structure is not altered. In Varese in 1830, instead, an early ‚variant of the variant‘ was proposed, from which a micro-structural variant originated that diverged from the one seen in Munich: here, the recitative is made up of the Recitativo dopo l’Aria di Carlo, N. 12, followed by two verses of new recitative. A third section consists in the reappearance of the recitative previously heard in Munich, somewhat re-elaborated. The second ‚variant of the variant‘ instead concerns the librettos for the stagings in FA1824–25, MO1824 and LO1824–25: in the earliest of the three cases, the piece that was originally the Recitativo dopo l’Aria di Carlo N. 12 was integrally maintained, –––––––— 14 15
TS1820, FI1821, LI1822, PI1822, BAR1826, GE1827. MON1819, MI1822, VA1822, PC1823, FA1824, MO1824, BG1825, VI1825, LO1825, PV1827, NO1829, VA1830, CA1831, MI1838 e SS1838.
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followed by a section of new recitative. In the other two cases the text of the new recitative differs from the one heard in Faenza, but given that the structure remains identical, we can affirm that these three stagings adopt the same structural variant. The overall framework of the transmission of this aria is further complicated by a study of the respective musical manuscripts: the latter inform us of the fact that the aria was inserted into another opera by Pacini, Adelaide e Comingio, which was first staged in Milano at the Teatro Re in 1817. A comparative study of the musical manuscripts of «Era notte scura scura» in Il Barone di Dolsheim and in Adelaide e Comingio highlights once again that—even though the number takes on substantially similar musical features in each occasion—its insertion in one opera or the other gives way to textual structures that are slightly different each time and that derive from the diverse ways in which the recitative that precedes the aria is treated. This fact bears witness yet again to the intrinsic instability of a variant that—while being present across the entire history of the transmission of Il Barone di Dolsheim—can only be described as intermittent.
Anja Morgenstern
„ein zusammengeknetetes Volumen von Abschriften, Citationen und Plagiaten“ Die Online-Edition der Biographie W. A. Mozart’s (Leipzig 1828/29) von Georg Nikolaus Nissen
In den 1820er Jahren entstand in Salzburg die erste große Mozart-Biographie.1 In ihr wurde erstmals die reichhaltige Korrespondenz der Mozart-Familie ausgewertet und in Teilen publiziert. Ihr Autor – das suggeriert zumindest der Titel – war kein Geringerer als der zweite Ehemann der Witwe Wolfgang Amadé Mozarts: Georg Nikolaus Nissen (1761–1826), ein dänischer Diplomat, seit 1793 in Wien tätig, wo er 1797 Constanze Mozart (1762–1842) kennenlernte. Er selbst bezeichnete sich zwar als „nicht musicalisch“2, doch seine Neigung zur Musik und seine Verehrung Mozarts waren wohl auch durch die Nähe zu dessen Witwe gewachsen. Historiographisches Interesse hatte er bereits durch seine Mitarbeit an der Biographie des Altertumsforschers Georg Zoëga (1755–1809), eines Verwandten von ihm, gezeigt, die 1819 durch den Gießener Geschichtsprofessor Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868) herausgegeben wurde. Das Ehepaar Nissen kam nach einem zehnjährigen Aufenthalt in Kopenhagen und einer sich anschließenden mehrjährigen Reise durch Europa im August 1824 nach Salzburg. Der Besuch galt der noch lebenden Schwester Mozarts, Maria Anna von Berchtold zu Sonnenburg (1751–1829). Sie schenkte ihnen die rund 400 Briefe umfassende, sorgsam gehütete Familienkorrespondenz. Diese Schenkung gab, wie Nissen später bekannte, den Anstoß zu dem Großprojekt einer Mozart-Biographie3, an der er eineinhalb Jahre arbeitete. Schon bei der Arbeit an Zoëgas Biographie hatte –––––––— 1
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Biographie W. A. Mozart’s. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Fac-simile. Von Georg Nikolaus von Nissen, Königl. Dänischem wirklichen Etatsrath und Ritter vom Dannebrog-Orden etc. etc. Nach dessen Tode herausgegeben von Constanze, Wittwe von Nissen, früher Wittwe Mozart. Mit einem Vorworte vom Dr. Feuerstein in Pirna, Leipzig, 1828. Gedruckt und in Commission bey Breitkopf und Härtel. – II. Teil: Anhang zu Wolfgang Amadeus Mozart’s Biographie [...], Leipzig, 1828. Gedruckt bey Breitkopf und Härtel. (Im Folgenden zitiert als Nissen bzw. Nissen Anhang). Eine ausführliche Studie zur Entstehung der Biographie bietet Anja Morgenstern: Neues zur Entstehungsgeschichte und Autorschaft der Biographie W. A. Mozart’s von Georg Nikolaus Nissen (1828/29). In: Mozart-Jahrbuch 2012, S. 21– 146. Constanze Mozart an Johann Anton André, 4. Oktober 1800. In: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, gesammelt (und erläutert) von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Kassel u. a.: Bärenreiter 1963 (im Folgenden zitiert als BD), Bd. 4, S. 375, Nr. 1314; und Brief vom 14. März 1801. BD 1333, Bd. 4, S. 401. Beide Briefe sind von Georg Nikolaus Nissen im Namen von Constanze Mozart geschrieben. Constanze und Georg Nikolaus Nissen an Benedikt Schack, 16. Februar 1826. BD 1407 (Anm. 2), Bd. 4, S. 477. Der gesamte Brief ist von der Hand Nissens geschrieben.
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Anja Morgenstern
Nissen geäußert, dass Briefe die Basis einer Biographie bilden. Seine Arbeit bestand in einer ersten Phase im Durcharbeiten und Exzerpieren der Briefe sowie weiterer Original-Dokumente aus dem Besitz der Schwägerin. In einer zweiten Phase beschäftigte ihn das Sammeln und Abschreiben aller seit Mozarts Tod erschienenen publizistischen Beiträge, angefangen vom ersten Nekrolog über die frühen eigenständigen Biographien bis hin zu aktuellen Zeitungs- und Lexikonartikeln, die direkt oder indirekt mit Mozart in Beziehung stehen. Einen Freund ließ er im September 1825 wissen, er sammle alle und jede Nachrichten vom Detail seines [Mozarts] Lebens und daher auch Auszüge aus den vielen Büchern und Aufsäzen, die über ihn erschienen sind, sowie aus denen, worin nur im Vorübergehen von ihm gehandelt wird, namentlich musikalischen Werken und Zeitschriften, alter Zeitungen.4
In einem seiner Arbeitsbücher führte Nissen ein Literaturverzeichnis, das fast alle Quellen enthält, die er ausgewertet und – mit Einschränkungen – in der Biographie benutzt hat. Darunter finden sich alle frühen deutschen Mozart-Biographien, aber auch italienische und französische biographische Abhandlungen, Biographien anderer Musiker wie Joseph Haydn, Gioachino Rossini oder Luigi Cherubini, die führenden Musikzeitschriften der Zeit wie die seit 1798 von Breitkopf & Härtel herausgegebene Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung (1798–1848), die Wiener Allgemeine musikalische Zeitung (1817–1824), die Berliner allgemeine musikalische Zeitung (1824–1830), die Cäcilia (Mainz 1824–1848), aber auch Modezeitschriften wie das Journal des Luxus und der Moden (Weimar 1786–1827), Lexika wie Ludwig Gerbers Historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler (2 Bde., Leipzig 1790–1792) und Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler (4 Bde., Leipzig 1812– 1814), Felix Joseph Lipowskys Bairisches Musikerlexikon (München 1811), allgemeine Enzyklopädien, Musikgeschichtsbücher von Thomas Busby und Charles Burney und vieles andere. Im Anhang der Biographie wurde dieses Verzeichnis nahezu wörtlich und mit der von Nissen angegebenen Nummernabfolge abgedruckt.5 Es enthält 50 nummerierte und weitere 31 nichtnummerierte Titel sowie die Notiz zu „einer Menge kleiner Aufsätze über Mozart und dessen Werke in sehr vielen periodischen Blättern“. Nissen korrespondierte mit zahlreichen Musiker-Persönlichkeiten, einige von ihnen selbst Musikschriftsteller, die ihm bei der Materialbeschaffung behilflich sein sollten: Abbé Maximilian Stadler6 und Franz Sales Kandler7 in Wien, mit dem Verleger Johann Anton André in Offenbach, mit dem Musikschriftsteller Pietro Lichtenthal in Mailand oder Friedrich Dionys Weber, Direktor des Musik-Konservatoriums in Prag. –––––––— 4 5 6
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Georg Nikolaus Nissen an Albert Stadler, 28. September 1825. BD 1400 (Anm. 2), Bd. 4, S. 466. Nissen Anhang, 1828 (Anm. 1), S. 212–217. Abbé Maximilian Stadler (1748–1833) hatte um 1799/1800 in Wien gemeinsam mit Nissen im Auftrag der Witwe Constanze Mozart die Sichtung und Ordnung des musikalischen Nachlasses von Wolfgang Amadé Mozart vorgenommen. Franz Sales Kandler (1792–1831) war Verfasser einer Biographie von Johann Adolph Hasse (Venedig 1820).
Die Online-Edition der Biographie W. A. Mozart’s (Leipzig 1828/29) von Georg Nikolaus Nissen
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Da Salzburg nicht die optimalen Bedingungen für seine Literatur-Recherchen bot, reiste Nissen im Oktober 1825 nach Landshut, wo sich seit 1800 die Bibliothek der bayerischen Landesuniversität befand. In seinen Aufzeichnungen formulierte Nissen: „Man mögte eine sozusagen Biblioteca mozartiana, Mozartische Litteratur, sammeln kennen, d. h., worin über ihn ex professo oder auch nur gelegentlich, im Vorbeigehen, die Rede ist.“8 Dieser Gedanke spiegelt sich schließlich auch im Titel der Biographie wieder: Biographie W. A. Mozart’s. Nach Originalbriefen, Sammlungen alles über ihn Geschriebenen, mit vielen neuen Beylagen, Steindrücken, Musikblättern und einem Fac-simile.9 Nissen starb über seiner Arbeit im März 1826, zur Ausarbeitung eines druckfähigen Manuskriptes ist er nicht mehr gekommen, hinterließ aber eine Fülle an Arbeitsmaterial, das zu großen Teilen in der Stiftung Mozarteum Salzburg aufbewahrt wird. Lange blieb unklar, wer die Biographie in welchem Umfang schließlich fertigstellte, so dass sie – entgegen der Angabe auf dem Titelblatt – postum Anfang 1829 im Druck erscheinen konnte. Während ein Teil der Arbeitsmaterialien Nissens, die sogenannten Nissen Kollektaneen, seit langem bekannt waren, kamen zwei bis dahin unbeachtet gebliebene Arbeitsbücher Nissens10 sowie das komplette Druckmanuskript des Hauptbandes11 erst 2008 zum Vorschein. Sie halfen nicht nur, die zentrale Frage, in welchem Stadium Nissen seine Arbeit hinterlassen hat, zu beantworten, sondern auch seine Arbeitsmethode nachzuvollziehen. Seinem Buch legte Nissen die beiden ersten Mozart-Biographien zugrunde: den Separatdruck des Nekrologs von Friedrich Schlichtegroll von 1794 und die zweite Ausgabe der Lebensbeschreibung des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart von Franz Xaver Niemetschek (1808). Beide Biographien basieren auf authentischem Material, das einerseits die Schwester Mozarts und andererseits die Witwe Constanze Mozart geliefert hatten. Beide Texte bilden das inhaltliche Grundgerüst, in das Nissen die originalen Briefe und Dokumente sowie zahlreiche Passagen über Mozart aus der Sekundärliteratur integrierte. Nach Nissens Tod erstellte der Salzburger Chorregent und Freund der Nissens, Anton Jähndl (1783–1861), der von Beginn an in die Arbeiten an der Biographie involviert war, das Druckmanuskript. Er ging dabei in zwei Schritten vor: Aus dem heterogenen Material, das Nissen hinterlassen hatte, stellte er zunächst ein Zwischenmanuskript her, indem er die teilweise schwer lesbaren Notizen Nissens abschrieb. Auch die Briefauszüge Nissens schrieb Jähndl noch einmal separat ab. Anschließend stellte er ein Gesamtmanuskript als Vorlage für den Druck her. Jähndl benötigte für diese Arbeit ebenfalls rund eineinhalb Jahre. Danach beauftragte Constanze Nissen im –––––––— 8 9 10
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Georg Nikolaus Nissen: Notizen zur Biographie. Stiftung Mozarteum Salzburg, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), Signatur: DocNC 26, S. 13. Nissen, 1828 (Anm. 1), Titel. Friedrich Schlichtegroll: Mozarts Leben, Graz 1794, mit Ergänzungen von Georg Nikolaus Nissen. Stiftung Mozarteum Salzburg, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), Signatur: DocND 2; und Lebensbeschreibung des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart, aus Originalquellen, von Franz Xav. Němetschek, [...]. Zweyte vermehrte Auflage, Prag 1808, mit Ergänzungen von Georg Nikolaus Nissen, Stiftung Mozarteum Salzburg, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), Signatur: DocND 3. Anton Jähndl (Hauptschreiber): Georg Nikolaus Nissen. Biographie W. A. Mozartʼs, Druckmanuskript, 1828, 4 Teile. Stiftung Mozarteum Salzburg, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), Signatur: DocNB 1 bis 4.
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Anja Morgenstern
Frühjahr 1828 den Arzt und Musikliebhaber Johann Heinrich Feuerstein (1797–1850) in Pirna mit der Endredaktion. Von beiden Bearbeitern wurden sprachliche Korrekturen, aber auch inhaltliche Änderungen oder Ergänzungen vorgenommen. Diese erschließen sich entweder durch Textvergleiche oder visuell, etwa aufgrund deutlich unterscheidbarer Handschriften oder durch die Verwendung eines roten Crayon durch Jähndl für Hinweise auf Beilagen. So ist Jähndl für Einfügungen von Auszügen aus nach 1826 erschienenen Zeitungen und Büchern verantwortlich. Auch formulierte er die Überleitungen zwischen den nach den Reisen gegliederten Kapiteln selbst. Feuerstein, der Arzt war, fügte seinerseits beispielsweise eigene Gedanken zur Todesursache Mozarts ein. Feuerstein nahm viele sprachliche Korrekturen vor und veranlasste beim Verlag die Übersetzungen der fremdsprachlichen Dokumente. In großen Teilen des Druckmanuskripts sind zudem Spuren des Leipziger Verlags Breitkopf & Härtel sichtbar. Es wurden bei den Original-Briefen die Datierungen standardisiert, die darin zeitüblichen Endungsschleifen und Bruchzahlen aufgelöst, die Orthographie (vor allem im Hinblick auf Groß- und Kleinschreibung) vereinheitlicht und alle Personalpronomen einheitlich mit Majuskeln wiedergegeben. Ohne Kennzeichnung wurden zudem die bei Leopold Mozart meist fehlenden Personalpronomen ergänzt. Angesichts des Zustandes des Manuskripts, wohl aber auch aufgrund des Inhaltes hatte der Verlag im Vorfeld Zweifel an der Qualität der Biographie geäußert und bestand darauf, nicht als Herausgeber, sondern nur als Drucker auf dem Titel zu erscheinen: wir fürchten, diese Biographie werde bei ihrem Erscheinen im Publikum kein besonderes Glück machen, u. mancher Subscribent vielleicht bei näherer Ansicht seinen Entschluß bereuen. Darum wünschen wir auch, diesenhalb in keine unangenehmen Collisionen verwickelt zu werden, u. können daher auf beiden Titeln auch nur das Impressum: Leipzig, gedruckt bei Breitkopf u. Härtel setzen lassen.12
Während Leser wie Johann Wolfgang von Goethe oder Felix Mendelssohn Bartholdy die vielen in der Biographie enthaltenen originalen Briefe Mozarts schätzten, erschienen in verschiedenen Musik- und Literaturzeitungen sehr kritische Rezensionen. Besonders detailliert fällt die Besprechung durch Ignaz Franz von Mosel (1772–1844) im 49. Band der Jahrbücher der Literatur vom Jahr 1830 aus. Mosel schließt aus dem langen Subskribentenverzeichnis, dass die Erwartungen in die Biographie sehr groß gewesen sein müssen, da dem Verfasser „allein zugängliche Quellen an der Hand waren“13 und diesem zudem die Witwe Mozarts zur Seite gestanden hatte. Somit hätten die Leser Grund gehabt, „etwas ganz Neues, noch nie Gelesenes, in jeder Hinsicht Vorzügliches zu erwarten!“14 Mosel nimmt dann aber seine negative Gesamteinschätzung vorweg und konstatiert, „auf eine so betrübende Weise getäuscht worden“15 zu sein. Mosel, selbst als Musikschriftsteller tätig, waren die vielen Auszüge aus der –––––––— 12 13 14 15
Breitkopf & Härtel an Johann Heinrich Feuerstein, 1. Oktober 1828. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (D-LEsta), Signatur: Verlag Breitkopf & Härtel, Leipzig, Nr. 117, S. 436f. Unterstreichung original. Ignaz Franz von Mosel: Mozart’s Biographie. In: Jahrbücher der Literatur, 49. Band. Wien, Januar– März 1830, S. 161–211, hier 163. Ebd. Ebd.
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Sekundärliteratur aufgefallen. Er nennt die wichtigsten Autoren, die von Nissen zitiert wurden, bemerkt aber auch, dass jener viele dieser Autoren oft stillschweigend benutzte, „und diese Plagiate machen den größten Theil des Buches, oder eigentlich – die Briefe abgerechnet – das Buch selbst aus“.16 Zusammenfassend charakterisiert er es als ein „ohne Zartgefühl, ohne Wahl und ohne Ordnung zusammengeknetetes Volumen von Abschriften, Citationen und Plagiaten“. Angesichts dessen wäre es – so Mosel – sinnvoller gewesen, ein „reines Quellenwerk“ zu drucken, das „alles über ihn [Mozart] Geschriebene, Wahres und Unwahres, Gutes und Schlechtes, Verständiges und Albernes“ enthalte.17 In der Regel fehlen exakte oder sogar jegliche Nachweise über die jeweiligen Autoren und Quellen der interpolierten Passagen, von Halbsätzen bis zu mehrseitigen Passagen, die oft nahtlos ineinander übergehen. Gelegentlich verweisen allgemeine Hinweise wie „die Allg. musik. Zeitung schreibt“ oder „Gerber sagt“ auf die benutzte Quelle. Dies macht das heutige Zitieren von Textpassagen aus der Nissen-Biographie höchst problematisch. Es kann nur mit Nachdruck unterstrichen werden, worauf Dieter Demuth bereits 1997 hinwies, nämlich dass alle Mozart-Biographien der 1820er- und 30er Jahre „getreue Plagiate der frühen Mozart-Biographik“ – also von Schlichtegroll und Niemetschek – sind. „Dies trifft,“ – so Demuth – „sieht man einmal von der erstmaligen Veröffentlichung der Mozart-Briefe ab, auch auf wesentliche Teile der Mozart-Biographie Nissens zu“.18 Die in der Biographie wiedergegebenen ästhetischen Urteile können somit auch nicht mehr als Aussagen von Nissen gewertet werden. Die Arbeitsmethode Nissens erweist sich auch in einer anderen Hinsicht als höchst problematisch: Aufgrund der Kompilation stehen einander positive und negative Urteile, klassizistische und romantische ästhetische Gedanken und somit – unkommentiert – oft gegensätzliche, meist aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen gegenüber. Kritisch mit der Nissen-Biographie haben sich 1842 Aleksandr Ulybyšev19 und 1856 Otto Jahn20 auseinandergesetzt. Beide fühlten sich durch deren Mängel zu ihren grundlegenden Mozart-Biographien veranlasst. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen die negativen Beurteilungen der Nissen-Biographie immer mehr ab, bis diese schließlich von der Mozart-Forschung mit dem Erscheinen des Bandes der Mozart-Dokumente 196121 im Rahmen der Neuen Mozart-Ausgabe in den Rang einer Primärquelle erhoben wurde, indem Dokumente daraus ohne kritische Bewertung abgedruckt wurden. Eine zusätzliche Aufmerksamkeit zog die Biographie durch den Umstand auf sich, dass der Autor mit der Witwe Mozarts verheiratet gewesen war. Man ging deshalb davon aus, dass Nissen eng mit ihr zusammengearbeitet und somit –––––––— 16 17 18 19 20 21
Ebd., S. 164. Ebd., S. 165. Dieter Demuth: Das idealistische Mozart-Bild 1785–1860. Tübingen 1997 (Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft. 17), S. 83, Anm. 2. Aleksandr D. Ulybyšev: Nouvelle biographie de Mozart, suivie d’un aperçu sur l’histoire générale de la musique et de l’analyse des principales oeuvres de Mozart. 3 Bde. Moskau 1842–1843. Otto Jahn: W. A. Mozart. 4 Bde. Leipzig 1856–1859. Otto Erich Deutsch: Mozart. Die Dokumente seines Lebens. Kassel 1961 (Neue Mozart-Ausgabe X/34).
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Anja Morgenstern
zahlreiche Informationen aus erster Hand erhalten habe. Diese Meinung äußerte auch Rudolph Angermüller in der Einleitung zu der von ihm 2010 neu edierten MozartBiographie von Nissen: „Die Hauptinformationen erhielt er von seiner Frau“22 – eine These, die sich nach eingehender Textanalyse nicht aufrechterhalten lässt.23 Nissen hat selbstständig und unabhängig von seiner Frau gearbeitet; nur weniges, meist Unbedeutendes, lässt sich direkt auf sie zurückführen. Aber auch der inhaltliche Eigenanteil von Nissen hat sich als äußerst gering herausgestellt. Die Neuedition von Angermüller bietet zwar Einzelstellenkommentare, verzichtet aber auf eine Identifizierung und Kommentierung der von Nissen benutzten Sekundärquellen, wie sie Dieter Demuth bereits 1997 gefordert hatte: „Es wäre die Aufgabe einer gesonderten philologischen Studie, einmal den Nachweis zu erbringen, auf welche Autoren die biographischen und ästhetischen Aussagen allein der Nissen-Biographie zurückzuführen sind.“24 Diesem Desiderat der Mozart-Forschung widmet sich nun die Online-Edition der Nissen-Biographie, die an der Stiftung Mozarteum Salzburg im Rahmen der Digitalen Mozart-Edition erstellt wird. Ziel ist es, alle Quellenschichten des Buches offenzulegen, zwischen Primär- und Sekundärquellen zu unterscheiden, etwaige mündliche Mitteilungen von noch lebenden Familienmitgliedern und schließlich den Eigenanteil Nissens am Text deutlich zu machen. Somit werden auch jene Textteile bestimmt, die erst nach Nissens Tod im März 1826 durch die späteren Bearbeiter Anton Jähndl, Johann Heinrich Feuerstein und gegebenenfalls durch den Verlag entstanden sind. Jede ermittelte Sekundärquelle einer bestimmten Textstelle wird bibliografisch exakt nachgewiesen, ihr Herkunftszusammenhang sowie etwaige Revisionsschritte – Änderungen wie Auslassungen, Umformulierungen, Hinzufügungen – kommentiert. Für eine derartige Edition bieten sich die Möglichkeiten einer digitalen Arbeits- und Präsentationsumgebung in idealer Weise an. Die jeweilige Textstelle wird mittels Mouseover grafisch hervorgehoben, zudem wird ein Kurzkommentar in Form der bibliografischen Angabe eingeblendet, die direkt mit einem Digitalisat der ermittelten Quelle verlinkt wird. Dafür können in großem Umfang die Bestände der Digitalen Bibliothek der Bayerischen Staatsbibliothek München und des digitalen Zeitschriftenportals ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek genutzt werden. Die Verlinkung erlaubt einerseits den unmittelbaren Vergleich des gedruckten BiographieTextes mit dem originalen Text der benutzten Sekundärquelle und andererseits die Einbindung der Textstelle in ihren Herkunftszusammenhang. Dies ist besonders relevant, wenn nur kurze Passagen oder sogar nur einzelne Sätze aus ihrem Zusammenhang, etwa einem mehrseitigen Artikel, der unter Umständen nicht Mozart oder dessen Musik, sondern ein anderes Thema zum Gegenstand hat, gerissen wurden. Ausführlichere Kommentare, die optional aufgerufen werden können, werden dann den Sachverhalt behandeln. –––––––— 22 23 24
Georg Nikolaus Nissen: Biographie W. A. Mozarts, hrsg. von Rudolph Angermüller. Hildesheim, Zürich, New York 2010, S. 2. Morgenstern 2012 (Anm. 1), Abschnitt 9: Zur Autorschaft der Biographie, S. 103–109. Demuth 1997 (Anm. 18), S. 83, Anm. 2.
Die Online-Edition der Biographie W. A. Mozart’s (Leipzig 1828/29) von Georg Nikolaus Nissen
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Bei den Originaldokumenten, insbesondere den Briefen, wird auf die im Rahmen der Digitalen Mozart-Edition publizierten Dokumente verlinkt.25 Dabei wird zudem auf die in einer projektinternen Datenbank dokumentierten Metadaten zurückgegriffen. Gleiches gilt für die Indizierung von Personen, Orten und Werken, auch hier bilden projektinterne Datenbanken die Basis. Für Verweise der Werke Mozarts kann zusätzlich die NMA Online genutzt werden.26 Um die Daten langfristig auch mit anderen Plattformen vernetzen zu können, werden zusätzlich zu den vorhandenen Metadaten Normdaten wie die GND erfasst. Primärquellen werden ebenfalls mit einem Kommentar (zum Umfang des zitierten Textes, Texteingriffen, sichtbaren Benutzungsspuren von Nissen u. ä.) versehen. Wenn sich Abschriften in den Arbeitsmaterialien von Nissen als heute einzig erhaltene Quelle erweisen, da beispielsweise die originale Briefvorlage verschollen ist, werden diese in die Online-Edition einbezogen. Der Fokus der Online-Edition der umfangreichen Mozart-Biographie von Nissen liegt auf der Analyse und der digitalen Aufbereitung sowie Kommentierung der enthaltenen Primär- und Sekundärquellen sowie der originär entstandenen Textpassagen. Die Auszeichnung des Textes erfolgt im TEI-P5-Format, das auf XML basiert. In einem ersten Schritt wird der Text mittels -Elementen nach den drei Quellensorten fragmentiert. Jeder dieser Textabschnitte ist mit einem -Element verknüpft, das zwei Analyse-Attribute (@ana und @source) enthält. Das @anaAttribut verweist auf den Verantwortlichen der entsprechenden Stelle (z. B. ). Die Werte, die das @ana-Attribut enthalten kann, sind in einer Interpretation Group () festgelegt. Das @source-Attribut verweist auf die ermittelten Primär- bzw. Sekundärquellen, die in entsprechenden Bibliographie-Listen () abgelegt werden. Enthält das -Element kein @source-Attribut, handelt es sich um einen originär entstandenen Text. Diese Codierung erlaubt Rechercheoptionen hinsichtlich der verschiedenen Quellensorten und der für eine bestimmte Textstelle in der Biographie verantwortlichen Urheber. Die Biographie W. A. Mozart’s von Georg Nikolaus Nissen, die Anfang 1829 postum erschien, besteht, abgesehen von der hier erstmalig abgedruckten Korrespondenz der Mozart-Familie, in großen Teilen aus Kompilation. Das Hauptaugenmerk der neuen Online-Edition liegt daher auf der Analyse und Präsentation der darin benutzten Quellen. Die verschiedenen Revisionen des Manuskriptes, die aus der postumen Drucklegung durch mehrere Bearbeiter resultieren, werden auf der Makroebene, also der Ebene der Textbausteine, im Detail nachgewiesen und dargestellt. Die überaus zahlreichen Revisionen auf der Mikro- bzw. der Wortebene können aufgrund des umfangreichen Textes mit rund 1000 Druckseiten in der Codierung nicht berücksichtigt werden. In einem allgemeinen Einführungstext werden die Herausgeber diesen Punkt ausführlich diskutieren und auf die wichtigsten Änderungen wie Standardisierungen durch den Verlag hinweisen. –––––––— 25 26
http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/doclist.php [08.02.2017]. http://dme.mozarteum.at/DME/nma/start.php [08.02.2017].
Margret Jestremski
Richard Wagners Textrevisionen als kunstpolitisches Kalkül
Am 22. Juli 1880 notiert Richard Wagners Frau Cosima in ihr Tagebuch: „Am Nachmittag nach der Siesta korrigiert er das Manuskript, er ändere aber im Stil so gut wie nichts: ‚Ich bin kein Schriftsteller.‘“1 Der Eintrag ist auffallend unscharf. Welche Art von Korrekturen Wagner vornimmt – ob es sich etwa um bloße Fehlerverbesserungen handelt oder ob „korrigiert“ auch eine inhaltliche Überarbeitung (etwa Konkretisierung, z. B. von Personenangaben oder Ereignissen, Richtigstellung von Erinnerungsirrtümern oder möglicherweise auch ‚Beschönigungen‘) einschließt, bleibt unklar. Explizit genannt wird der Verzicht auf jede Art von stilistischer Korrektur, und die Begründung dafür erscheint auf den ersten Blick rätselhaft. Denn wenn ein Autor, der mehr als 5.000 Druckseiten – darunter eben nicht etwa nur Aufsätze zu musikalischen bzw. kulturpolitischen Fragen, sondern durchaus auch fiktionale Texte, kunsttheoretische Abhandlungen, Gedichte und nicht zuletzt die Libretti zu seinen Opern – veröffentlicht hat, gegen Ende seines Lebens äußert, er sei kein Schriftsteller, mutet das sonderbar an. Sollte man diese Selbsteinschätzung hinterfragen – wie so viele der biographischen Darstellungen Wagners? Oder liefert diese lakonische Notiz vielleicht den Schlüssel für die Beurteilung seines schriftstellerischen Œuvres? Ähnliche Äußerungen Wagners finden sich bereits in früheren Tagebucheintragungen Cosimas: eine erste im Herbst 1869, als er gerade auf der Suche nach einem Verleger für die Herausgabe seiner Gesammelten Schriften und Dichtungen war. Nachdem sein Schwager, der Buchhändler Eduard Avenarius, ihm geraten hatte, sie auf eigene Kosten zu veranstalten, meint R., es sei ganz gut, daß ihm Schwierigkeiten gemacht würden, denn er wisse immer noch nicht, unter welcher Form er diese Herausgabe bewerkstelligen solle, was er dabei weglassen sollte, und ob alles nur als Supplement zu der Biographie zu machen wäre, denn Schriftsteller im eigentlichen Sinne des Wortes sei er nie gewesen.2
Und am 24. Mai 1871, fünf Monate vor Erscheinen des ersten Bandes dieser – trotz aller Hindernisse schließlich zustande gekommenen – Ausgabe, notierte Cosima: „R. ordnet seine Schriften, die er chronologisch herausgeben will, da er nicht als Dichter oder Schriftsteller will erfaßt werden.“3 Chronologische Anordnung und dichterischer Anspruch scheinen sich aus Wagners Sicht also gegenseitig auszuschließen – vielleicht verständlich vor dem Hintergrund
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Cosima Wagner: Die Tagebücher. Ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 4 Bde., München/Zürich 21982, Bd. 3, S. 575f.; im Folgenden: CWT2. ‒ Bezieht sich offenbar auf Wagners Arbeit an seiner Autobiographie. CWT2 (Anm. 1), Bd. 1, S. 162, Eintrag vom 24. Oktober 1869. CWT2 (Anm. 1), Bd. 1, S. 391.
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von systematisch nach Gattungen geordneten Gesamtausgaben wie insbesondere Goethes Ausgabe letzter Hand. Näheren Aufschluss gibt (über die knappe TagebuchÄußerung hinaus) Wagner selbst im Vorwort zu seiner Schriften-Ausgabe und in den Einleitungen zu den einzelnen Bänden sowie durch seine Tätigkeit als Herausgeber.4 Erst nach mehreren Anläufen hatte sich Wagner hier für das Prinzip einer autorzentrierten chronologischen Anordnung5 entschieden, bei der das schriftstellerische Werk nicht mehr nur Supplement zu seiner umfangreichen autobiographischen Schrift Mein Leben sein sollte.6 Der Komponist Wagner begriff neben seinen Opern und Musikdramen als dem eigentlichen Hauptschaffen auch seine großen Zürcher Kunstschriften als ‚Werk‘.7 Wagners Erarbeitung der Gesammelten Schriften und Dichtungen lässt sich bis ins Detail verfolgen. Material dazu bieten die überlieferten Quellen zu seinem schriftstellerischen Werk in Fülle, denn Wagner war ein akribischer Archivar der Textzeugen auch seiner schriftstellerischen Produktion. So ist ein großer Teil der Schriften in mehreren genetischen Stufen erhalten. Dies ermöglicht einen aufschlussreichen Einblick in den Entstehungs-, aber auch in den Überarbeitungsprozess, dem der Autor die Texte mit Blick auf ihre Veröffentlichung unterwarf. In allen Etappen dieser Prozesse sind Textrevisionen ein zentrales Phänomen – einerseits für Wagner als Autor, andererseits insbesondere für ihn als Herausgeber. Im Rahmen des neuen, an der Universität Würzburg angesiedelten Editionsvorhabens Richard Wagner Schriften (RWS). Historisch-kritische Gesamtausgabe erfolgt erstmals die textkritische Erschließung dieses gesamten Werkstattmaterials.8 In den folgenden Ausführungen soll es speziell um Wagners Textrevisionen in den bereits erwähnten, zwischen 1871 und 1873 veröffentlichten Gesammelten Schriften und Dichtungen (im Folgenden kurz GSD) gehen. Die Doppelfunktion als Autor und Herausgeber bedingt zwangsläufig zwei Ebenen von Revisionen: einerseits solche zu Aufbau und Konzept, zur Gesamt-‚Komposition‘ dieser Werkschau, andererseits sprachlich-semantische Kleinarbeit, bis hin zu Fehlerkorrekturen in den Texten selbst. Dass sich beide Ebenen mitunter vermischen, ist selbstverständlich. An drei Beispielen soll nun das Zusammenwirken von Konzeption und Revision bei Wagner beleuchtet werden.
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Vgl. dazu u. a. Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Leipzig 1871, Bd. 1, S. IVf.; im Folgenden: GSD. Peter-Henning Haischer: Wielands Gesamtausgabe von 1794 und ihre historisch-kritischen Erben. In: editio 20, 2006, S. 24–37 (hier S. 27). Zu den verschiedenen Plänen und Konzepten siehe auch Christa Jost und Peter Jost: „… der in seiner Kunst das Leben suchte“. Richard Wagner als Herausgeber seiner „Gesammelten Schriften und Dichtungen“. In: editio 20, 2006, S. 97–117. Laut einer Eintragung in Cosimas Tagebüchern hat Wagner diese noch in späten Jahren als „seine eigentlichen Werke“ bezeichnet (CWT2 (Anm. 1), Bd. 3, S. 154, Eintrag vom 4. August 1878). Über 90 Prozent davon – basierend auf Wagners Nachlass – werden im Nationalarchiv der RichardWagner-Stiftung Bayreuth verwahrt. Dem Direktor Herrn Dr. Sven Friedrich und der Bibliothekarin Frau Kristina Unger sei für die zuvorkommende Bereitstellung des Materials herzlich gedankt. – Das Projekt ist eingebunden in das Förderprogramm der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, in Trägerschaft der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz.
Richard Wagners Textrevisionen als kunstpolitisches Kalkül
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Beispiel 1: Ein deutscher Musiker in Paris. Novellen und Aufsätze (1840 und 1841) Bereits 1844, während der Zeit als Hofkapellmeister in Dresden, plante Wagner, seine in den Jahren 1840–1841 in Paris entstandenen und mehrheitlich nur auf französisch gedruckten Texte gesammelt herauszugeben.9 Einzelne Überschriften in den französischen Erstveröffentlichungen sowie inhaltliche Bezüge deuten darauf hin, dass er eine Verbindung dieser – in einer Zeitspanne von knapp eineinhalb Jahren in der Revue et Gazette musicale de Paris – in loser Folge veröffentlichten Musikernovellen und Aufsätze von Anfang an intendiert hatte.10 Einen Leitgedanken benennt der Autor selbst, dass nämlich „alle diese verschiedenen Artikel sogar einen gewissen Einigungspunkt haben, von welchem sie ausgehen, – sie passiren nämlich meist alle als aus dem in Paris geführten Tagebuche eines dort verhungerten deutschen Musikers“.11 Von Paris aus hatte Wagner seinerzeit lediglich eine Neuveröffentlichung in deutscher Sprache von zweien dieser Texte realisieren können: Eine Pilgerfahrt zu Beethoven und Das Ende zu Paris erschienen im Juli und August 1841 unter dem gemeinsamen Titel Zwei Epochen aus dem Leben eines deutschen Musikers in der Dresdner Abend-Zeitung.12 In Vorbereitung der GSD kam Wagner auch auf die Idee zur Wiederveröffentlichung von Texten aus seiner Pariser Zeit zurück – wenn auch nicht immer aus primär konzeptionellen Erwägungen heraus.13 Um die nunmehr sieben für GSD ausgewählten, ehemals eigenständigen Texte als größere Einheit zu fassen, bedurfte es einerseits einer textübergreifenden, formalen Revision. Wagner stellte dazu dreien von ihnen jeweils eine kurze Einleitung von ein bis zwei Sätzen voran.14 Gelegentlich waren derlei Ergänzungen rein äußerlich motiviert; so in einem Fall auch bei den Pariser Novellen: Die Schlussbemerkung zur Aufsatzgruppe schrieb
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Brief an Karl Gaillard vom 2. Oktober 1844 (Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Bd. 2, hrsg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 21980, Nr. 144, S. 399 [im Folgenden: SBr]). Am Ende von Un musicien étranger à Paris findet sich auch innerhalb des Textes ein entsprechender Hinweis: „Je publierai dans les prochains numéros de cette gazette, sous le titre de Caprices esthétiques d’un musicien, les différentes parties du journal du défunt“ (Revue et gazette musicale de Paris 8, 1841, Nr. 12 vom 11. Febr., S. 94). Publizistisch umgesetzt wurde jedoch nur ein erster Teil: Caprices esthétiques. Extraits du journal d’un musicien défunt. Le Musicien et la Publicité (ebd., Nr. 26, 1. April, S. 203–204). Im Manuskript (Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth [im Folgenden: Bayreuth NA], B II b 10, 12v), das als Vorlage für die Übersetzung diente und kurze Zeit später von Wagner für die Überarbeitung zur Drucklegung der deutschen Fassung weiterverwendet wurde, strich er diese Passage über die beabsichtigte Fortsetzung. SBr, Bd. 2 (wie Anm. 9). Im selben Brief nennt Wagner als weiteren übergeordneten Aspekt, er habe in ihnen seine „ganze, in jene Zeit fallende, künstlerische Konfirmirung ausgesprochen“. Abend-Zeitung (Dresden und Leipzig), Juli/August 1841. Vgl. Brief an Ernst Wilhelm Fritzsch vom 19. Juni 1871 (SBr, Bd. 23, hrsg. von Andreas Mielke, Wiesbaden 2015, Nr. 122, S. 125): „Für die genügende Stärke des zweiten Bandes habe ich keine Sorge; nur fürchte ich für den ersten zu wenig Manuscript gegeben zu haben: ich kann dafür aber noch welches schaffen (nämlich durch Zurückübersetzung guter Aufsätze von mir aus der Pariser ‚Gazette musicale‘, wegen welcher ich mich daher an Sie gewendet habe.)“ Ähnliche Nahtstellen-Revisionen, die vorhandene Texte zu einem neuen zusammenfügen, finden sich auch andernorts in GSD.
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Wagner nämlich auf Wunsch des Verlags E. W. Fritzsch lediglich zu dem Zweck, die leere linke Seite vor Beginn des nächsten Textes zu füllen.15 An den Korrekturen innerhalb der Texte selbst lassen sich wiederum verschiedene Absichten des Autors und (in Personalunion) Herausgebers ablesen. Betrachtet werden sollen hierfür punktuell die Revisionen an den Zwei Epochen und am Aufsatz Über deutsches Musikwesen. Wagner ließ in Vorbereitung auf die Veröffentlichung von GSD Abschriften anfertigen, die als Druckvorlagen dienen sollten; darin trug er minimale Korrekturen ein, darunter mehrere sprachliche Verbesserungen.16 In diese Rubrik der minimalen Revision, hier verbunden mit einer Aktualisierung, ist auch die folgende Stelle einzuordnen. In dem Aufsatz Über deutsches Musikwesen sieht sich Wagner zur Überarbeitung der folgenden Textpassage über Carl Maria von Weber genötigt: Hier, wo Weber den Streit großer, gewaltiger Leidenschaften auf einem größeren Terrain zeichnen wollte, verließ ihn seine Kraft; schüchtern und kleinmüthig ordnete er sich seiner zu großen Aufgabe unter, suchte durch kleinliche Ausmalung einzelner Charakterzüge zu ersetzen, was nur mit großen, kräftigen Strichen im Ganzen gezeichnet werden konnte; somit verlor er seine Unbefangenheit und ward unklar
An dieser Stelle distanziert sich außerdem der Herausgeber Wagner („D. H.“) vom Autor Wagner („unser Freund“) durch eine für die Neuausgabe ergänzte Fußnote: 17
Wagner lässt hier – wie an anderen Stellen innerhalb der Schriften – seine längst gewandelte Einschätzung Webers einfließen.
Beispiel 2: Neues Novellenbuch. Von W. H. Riehl Am 19. November 1867 erschien in der Süddeutschen Presse (ohne Autorangabe) Wagners kurz zuvor eigens für das Blatt verfasste Rezension zum Neuen Novellenbuch des Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl. Während der Herausgabe seiner Gesammelten Schriften und Dichtungen nahm Wagner sich diese Besprechung aus einem ganz aktuellen Anlass noch einmal vor. Er hatte erfahren, dass Riehl in einem im Oktober 1871 in Mannheim gehaltenen Vortrag gegen neuere musikalische Strömungen polemisiert hatte, und fühlte sich davon offenkundig provoziert. Er verfasste daraufhin für den Wiederabdruck der Rezension
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Vgl. Jost/Jost (wie Anm. 6), S. 115ff. So wird im Text Über deutsches Musikwesen beispielsweise „Basis“ durch „Grundlage“ ersetzt und „von einem besonderen Sängerchore gesungen“ wird zu „von einem besonderen Sängerchore ausgeführt“. Abschrift mit autographen Korrekturen (Bayreuth, RWG Hs 205 BF). – Für den Druck in GSD (Anm. 4) „unser Freund“ geändert zu „mein Freund“.
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von 1867 in GSD einen ca. zweiseitigen Nachtrag als ‚Denkzettel‘ für Riehl18, in dem er die von Riehl vorgetragenen Thesen im Allgemeinen kritisiert, aber auch direkt auf eine Stelle aus seinem Vortrag Bezug nimmt.19 (Nicht nur auf Grund des Inhalts, sondern bereits durch eine graphische Abhebung ist der hinzugefügte Text in GSD für den Leser zweifelsfrei als spätere Zutat zu erkennen.) Wagners zunehmend ablehnende Haltung gegenüber Riehl, die sich übrigens auch in mehreren Tagebucheintragungen seiner Frau Cosima findet, schlägt sich jedoch auch in der Revision des ursprünglichen Rezensionstextes nieder: Alle auch nur annähernd positiven Attribute in den Passagen des Textes, die konkret auf die Beurteilung Riehls und seiner dichterischen Qualitäten bezogen sind, werden getilgt oder zumindest relativiert (siehe Textbeispiel), während der allgemein gehaltene erste Teil der Rezension unangetastet bleibt. Fassungsvergleich Erstdruck (gestrichene Stellen) vs. überarbeitete Fassung (): Der rühmlich bekannte Verfasser des voranstehenden „Neuen Novellenbuchs“, Herr W . H . R i e h l , darf den schönen Anspruch erheben, über das Thema, welchem wir soeben unsere Aufmerksamkeit widmeten, als Autorität vernommen zu werden. […] Unwiderstehlich einnehmend wird Herr R. jedoch stets wirken, und den Leser mit der so einzigen Freude der Bereicherung durch ganz neue, im wirklichen Leben ganz unbeachtet gebliebene, durch den eigenthümlichen Zauber der höchsten Wahrhaftigkeit künstlerisch lebendig geschaffene Bilder erfüllen, wenn er seine volle Gestaltungskraft so bestimmt und rückhaltslos ausschließlich der Darstellung des von ihm innig Erschauten zuwendet, wie er dies in der höchst originellen Novelle „d i e H o c h s c h u l e d e r D e m u t h “ that. Ein schöner, vielsagender Titel, und ein reizendes Gedicht! – Wer würde ein solches jetzt wohl Herrn R. nachzubilden vermögen? Ihm selbst wird es oft und stets wieder gelingen, wenn der so wahrhaft deutsch begabte Dichter den Titel dieser unserer Lieblingsnovelle, welcher nach unserer Empfindung bereits als Motto dem ganzen freundlichen Buche vorgedruckt sein dürfte, häufig und gern sich zurückruft. In der Edition von RWS wird die Fassungs- und Überlieferungssituation wie folgt umgesetzt. Die Erstdruckfassung der Rezension wird im Textteil ediert, sämtliche Revisionen einschließlich aller Varianten hingegen im textkritischen Apparat dargestellt.
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Gemäß Wagners Wunsch sollte ihm dieser Denkzettel „noch vor Erscheinen des 8ten Bandes angeheftet“ werden (Brief vom 12. März 1872 an den Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch; SBr, Bd. 24, hrsg. v. Martin Dürrer, Wiesbaden 2015, Nr. 91, S. 106), und zwar durch Vorabdruck in einer der nächsten Nummern des Musikalischen Wochenblattes (22. März), dessen Herausgeber Fritzsch ebenfalls war. Siehe SBr, Bd. 24 (Anm. 18), Nr. 91 K/5–7.
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Die Textrevisionen des Autors Wagner am Riehl-Text zogen eine Revision durch den Herausgeber Wagner nach sich.20 Denn unmittelbar nach Veröffentlichung des ‚Denkzettels‘ im Musikalischen Wochenblatt nahm er eine Änderung in der Gesamtanlage des achten Bandes der GSD vor. Zu den „Censuren“ – wie er diese Gruppe von Texten nun nannte – verfasste er einen „Vorbericht“, der sich im Grunde wie eine Art nachgereichtes Vorwort zu diesem Band liest.21 Darin rechtfertigt er seinen Auftritt in der „Arena der Zeitungspresse“ durch Aufnahme der „Artikel von unerfreulich polemischer Natur“ folgendermaßen: In der That gerieth auch der Verfasser bei der Anordnung gerade dieses Bandes durch das Gewahrwerden des hier bezeichneten jähen Absprunges in eine kummervolle Verlegenheit: als solcher hätte ich den ersten Aufsätzen gern nur Gleichartiges hinzugefügt, und dieses hätte den durch das einleitende Huldigungsgedicht erweckten Hoffnungen günstig entsprechen müssen. Wäre ich ein Buchschreiber, würde ich gewiß auch so verfahren sein; doch habe ich mit dieser Sammlung etwas Ernsteres vor, als Bücher zu schreiben: mich verlangt es, meinen Freunden Rechenschaft von mir zu geben, damit sie über manches an mir schwer Verständliche sich aufzuklären vermögen.22
Beispiel 3: Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen Wagner verfasste den Text im Frühjahr 1848 aus Unzufriedenheit mit den Verhältnissen am Dresdner Hoftheater, wo er seit fünf Jahren als königlicher Kapellmeister gewirkt hatte. Der Entwurf war als Eingabe an das Sächsische Ministerium des Innern gerichtet – also nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Mit derselben Stoßrichtung hatte Wagner zwei Jahre zuvor schon eine Eingabe (unter der Überschrift Die königliche Kapelle betreffend) eingereicht. Sie war abgelehnt worden. Den Kernbestand dieser früheren Eingabe arbeitete er in die neue mit ein,23 jedoch ohne wörtliche Übernahmen. Beide Eingaben stehen am Beginn einer Reihe von Reformvorschlägen zu organisatorischen Fragen des Musik- und Theaterbetriebs, die Wagner während seines gesamten Künstlerdaseins beschäftigten. Für den Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters sind mehrere Überarbeitungsstationen und entsprechende -spuren nachvollziehbar – bis hin zur Aufnahme in die Gesammelten Schriften und Dichtungen. Bereits eineinhalb Jahre nach seiner Flucht aus Dresden knüpfte Wagner 1850 vom Schweizer Exil aus an seine Reformideen an, mitten zwischen der Arbeit an zwei seiner Zürcher Kunstschriften: Das Kunstwerk der Zukunft und Oper und
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Über einige ist man durch die Korrespondenz Wagners mit seinem Verleger informiert (siehe Christa Jost und Peter Jost: Richard Wagner und sein Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch, Tutzing 1997). Der Band wird durch ein biographisch-programmatisches, an König Ludwig II. von Bayern adressiertes Gedicht eröffnet. Zitiert nach GSD (Anm. 4), Bd. 8, S. 253. Der Text erschien übrigens (wie die Riehl-Rezension) vorab im Musikalischen Wochenblatt (19. April 1872). Damit dürfte die erste Eingabe sowohl als schriftstellerisches Produkt als auch als Reformpapier ad acta gelegt gewesen sein.
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Drama. Nun wollte er mit seinen Vorschlägen an die Öffentlichkeit gehen. Theodor Uhlig, ein Freund aus Dresdner Tagen, sollte die Veröffentlichung organisieren, Wagner selbst schrieb dazu ein Vorwort in Form eines offenen Briefes unter dem Titel An einen Freund in der Heimat.24 Doch inmitten der Vorbereitungen zog Wagner seinen Plan zurück; am 9. Oktober 185025 schrieb er an Uhlig: „Halte mit den versuchen der Herausgabe meiner reformschrift ein! d. h. soviel als: ich habe mich bestimmt, die schrift auf sich beruhen und nicht öffentlich erscheinen zu lassen“. Grund für seinen Rückzug sei einerseits das sehr persönlich gehaltene Vorwort, andererseits konstatiert er: „Die schrift hat doch am ende kein weiteres interesse! wer sich in Dresden dafür interessirt, dem kannst Du das manuscript mittheilen.“ Wenige Jahre später, als Wagner sich zum ersten Mal mit dem Gedanken an eine Herausgabe seiner Schriften trug, beabsichtigte er dann doch eine zumindest teilweise Veröffentlichung der „Fragmente aus dem Theater-Reform-Entwurf f. d. Kngreich Sachsen“, wie es in einem Notizbuch von ca. 1855/56 heißt.26 (Auf Betreiben Uhligs waren zuvor bereits Auszüge aus dem Entwurf in der Neuen Zeitschrift für Musik erschienen.) Während der Vorbereitung des zweiten Bandes von GSD entschied Wagner dann aber, die in erster Linie zeit- und ortsgebundene Petition aus dem 1848er Revolutionsjahr schließlich nicht nur fragmentarisch, sondern als Ganzes aufzunehmen.27 Wie sehen in diesem Fall die Textrevisionen aus? Als Grundlage dafür stand dem Herausgeber Wagner seine – mehrfach und zu verschiedenen Zeiten korrigierte – Erstschrift von 1848 sowie eine offenbar darauf basierende Abschrift zur Verfügung;28 beide tragen Spuren von Detailkorrekturen, die hier nicht näher betrachtet werden sollen.29 Ich fasse vielmehr die wesentlichen Revisionen zusammen: 1. Es gibt (wie bei den Pariser Novellen) Ergänzungen, die als ‚Lötstelle‘ und zur Erläuterung des inzwischen historischen Gegenstandes dienen: In diesem Fall ist es (wie im obigen Beispiel) ein neues Vorwort. Dieses wird zu einer Art Rückschau auf vergangene Zeiten und liefert eine kurze autobiographische Zusammenfassung des
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SBr, Bd. 3, hrsg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1975, Nr. 107, Nr. 111. SBr, Bd. 3 (Anm. 24), Nr. 117 (S. 443). Vgl. Jost/Jost (wie Anm. 20), S. 16. Cosima Wagner hielt dazu in ihrem Tagebuch fest (CWT2 (Anm. 1), Bd. 1, S. 395f.): „Nachmittags liest mir R. seine Arbeit über die Reform des Dresdner Theaters; wobei mich namentlich der heiße Wunsch, das Gegebene zu veredeln, bevor er an Umsturz dachte, rührt. Ich rede R. sehr zu, diese Arbeit mit in die Gesammelten Werke aufzunehmen.“ Noch im Inhaltsverzeichnis des vom Verlag kurz vor Erscheinen der Ausgabe veröffentlichten Werbeprospekts heißt es: „Aus einem Entwurf zu[r] Reorganisation des Dresdener Hoftheaters“. Erstschrift (H): Bayreuth, RWG Hs 94 I 32; Abschrift (K2): Bayreuth, RWG Hs 205 O. – Auf die 1848 unmittelbar nach der Entstehung des Textes angefertigte Abschrift (K1; Stadtarchiv Dresden, 17.5-Hist. Dresd.92e), die als Annotationsexemplar vor Einreichung der Petition an das Ministerium diente, hatte Wagner keinen Zugriff mehr. H enthält Korrekturen im Zuge der Niederschrift des Textes, die in die Dresdner Abschrift (K1) eingeflossen sind; ferner Korrekturen zeitlich nach K1 liegend (lt. Schriftbefund spätestens aus der Zeit der frühen Veröffentlichungsabsicht), in K2 eingegangen. Während der Drucklegung von GSD (Anm. 4) hat Wagner beide Manuskripte (H, K2) parallel durchgearbeitet (Minimalkorrekturen, Streichungen mehrerer Passagen, Absatzgliederung). – Eine detaillierte Darstellung der Textgenese, Quellensituation und der Fassungen wird derzeit im Rahmen des Editionsprojekts RWS erarbeitet.
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damaligen Geschehens. Wieder nennt Wagner seine Beweggründe zur Aufnahme in das Korpus der Gesammelten Schriften und Dichtungen. Er beginnt mit einer Art Entschuldigungsfloskel: Die Mittheilung der vorliegenden, ziemlich umfangreichen Arbeit dürfte manchen meiner Leser belästigen, denn, will er mir überall hin folgen, so hat er dießmal mit mir sich auf ein ziemlich trockenes Feld zu verlieren, auf welchem es bis zur Berechnung in Zahlen kommt. Vielleicht rührt es ihn aber, mich selbst zu der Nöthigung, auf solchem Gebiete mir ein Heil für meine Kunst aufzusuchen, gedrängt zu sehen, und scheuet nicht die Mühe anzuerkennen, welche ich mir vor Zeiten bereits gab, um dieser Kunst einen würdigen Boden im Staate selbst zu verschaffen. Gewiß dürfte vor Allem Viele es angehen, einige Kenntniß von der Veranlassung zu dieser Arbeit und namentlich von dem Schicksale derselben zu gewinnen.30
Und am Ende resümiert er: Daß ich für meine Ideen mir nun gründlicher zu helfen suchte, [...] wird dem Leser des dritten Bandes dieser Sammlung nicht entgehen; durch eine lange Reihe von Jahren hindurch wird er mich aber in der steten Wiederaufnahme dieses einen Kulturgedankens, dem Theater eine wahre Würde zu geben, begriffen sehen, und vielleicht in Verwunderung über die Ausdauer gerathen, mit welcher ich für diesen Gedanken stets den zufällig nur nahe gelegten Umständen mich durch praktische Vorschläge anzupassen suchte.31
2. Wagner nimmt durch graphische Differenzierung eine hierarchische Gliederung vor: Die inhaltlich tragenden Teile, die die reformerischen Grundgedanken transportieren, werden in normaler Schriftgröße, die von ihm im Vorwort benannten „trockenen Berechnungen“ sowie Durchführungsbestimmungen lokaler Prägung – das ist der weitaus größere Teil – hingegen kleiner gesetzt.32 Entsprechende Korrekturanweisungen finden sich in der Druckvorlage. Hier wird eine wohlkalkulierte Revisionsstrategie für GSD deutlich. Wagner verknüpft dabei auf sinnfällige Weise Werk und Biographie. Dafür verweist er zum einen auf seine anderen praktisch angelegten Reformschriften (z. B. für das Wiener Theater oder die Gründung einer Musikschule in München in den 1860er Jahren),33 zum anderen auf Band 3 von GSD mit den vier großen Zürcher (Kunst-)Schriften: Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft, Oper und Drama, Eine Mittheilung an meine Freunde, die den eigentlichen Wendepunkt in seinem Künstlerleben markieren – zeitlich zwischen den frühen Opern (bis zum Lohengrin) und der Arbeit am Ring des Nibelungen. Reformtexte ziehen sich stets als roter Faden seines kunstpolitischen Wirkens durch die gesammelten Schriften. Unsere Edition wird nicht Wagners retrospektive Darstellung seines schriftstellerischen Lebenswerkes reproduzieren, sondern jede Schrift im Kontext ihrer – in der Regel stark anlassbedingten – Entstehung und ihrer Rezeption erfassen. Beim
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GSD (Anm. 4), Bd. 2, S. 309. Ebd., S. 311. Diesbezügliche Anweisungen gab Wagner bereits für den 1850 beabsichtigten Druck (Brief an Theodor Uhlig vom 20. September 1850; SBr, Bd. 3 (Anm. 24), Nr. 111; Eintragungen finden sich auch im Autograph). Dieser Faden ließe sich bis zum achten Band weiterverfolgen.
Richard Wagners Textrevisionen als kunstpolitisches Kalkül
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Dresdner Entwurf hat man es mit einer singulären Veröffentlichungssituation zu tun: einerseits mit einem im Jahr 1851 ohne Wagners Zutun, aber durchaus mit seiner Billigung34 veröffentlichten Auszug, andererseits mit dem zwanzig Jahre später von ihm selbst veranstalteten vollständigen Abdruck in den GSD. Diese besondere Fassungsproblematik verlangt eine spezielle Darstellungsform. Mit Blick auf Wagners Revisionsstrategie und deren Ergebnis erschiene es müßig, darüber zu spekulieren, wie die Ausgabe der Gesammelten Schriften und Dichtungen unter rein ‚schriftstellerischen‘ Kriterien hätte aussehen müssen.
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Siehe Brief an Theodor Uhlig von Anfang Februar 1851 (SBr, Bd. 3 (Anm. 24), Nr. 135).
Harald Berger
Text- und andere werkbezogene Revisionen:
Fallbeispiele aus der spätmittelalterlichen Philosophie Als Erforscher und Herausgeber lateinischer Texte der mittelalterlichen Philosophie ist man natürlich mit den üblichen Phänomenen von Textrevisionen in der handschriftlichen Überlieferung vertraut, als da sind Korrekturen zwischen den Zeilen und an den Rändern, Nachträge am Ende und dergleichen mehr. Meistens wissen wir aber nicht, von wem diese Revisionen herrühren, in der Regel stammen sie vom Schreiber, von einem Korrektor oder auch von einem Leser und Benutzer der Handschrift. Eher selten sind die Fälle, wo wir begründet vermuten können oder gar wissen, dass Textrevisionen bzw. Korrekturen oder/und Ergänzungen vom Verfasser selbst stammen. Um nur ein besonders berühmtes Beispiel zu nennen: Der Sentenzenkommentar des Johannes Duns Scotus OFM, gestorben 1308 in Köln, ist in mindestens drei Fassungen überliefert, nämlich in einem Oxforder Vorlesungsmanuskript, in einer überarbeiteten Fassung davon und in Mitschriften der Pariser Vorlesung. Von der letzteren gibt bzw. gab es die sogenannte Reportatio examinata, eine vom Verfasser selbst geprüfte und korrigierte Mitschrift, wie das Explicit des Cod. 1453 der ÖNB Wien belegt, wo es auf Bl. 125va heißt „Explicit Reportatio super primum Sententiarum sub magistro Ioanne Scoto et examinata cum eodem venerando doctore“.1 Die Scotus-Überlieferung ist aber eine eigene Wissenschaft, die hier nicht mein Thema ist. Ich möchte hier vielmehr aus meinen eigenen Editionserfahrungen berichten, die ich im Zuge größerer Arbeiten über Albert von Sachsen2 und Heinrich Totting von Oyta3 gesammelt habe. Albert wirkte als Artist an den Universitäten Paris und Wien4 –––––––— 1
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Siehe dazu kritisch Klaus Rodler: Die Prologe der Reportata Parisiensia des Johannes Duns Scotus. Untersuchungen zur Textüberlieferung und kritische Edition. Innsbruck 2005 (Mediaevalia Oenipontana. 2), bes. S. 52*‒63* u. 114*‒126*, zum Wiener Explicit S. 118*‒121*. Der Wiener Codex 1453 stammt aus dem Besitz des Wiener Theologen Andreas de Weitra (gest. vor dem 1. Sept. 1461), siehe Mitteleuropäische Schulen, Bd. 5. Wien 2012 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen zum Schrift- und Buchwesen des Mittelalters. Reihe I, 14), Textband, S. 264f. Albert von Sachsen: Logik. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Harald Berger. Hamburg 2010 (Philosophische Bibliothek. 611), mit weiterer Literatur auf S. CIX‒CXIV. Siehe auch die Albert-Bibliographie unter meiner Homepage: . Heinrich Totting von Oyta: Schriften zur Ars vetus. Hrsg. von Harald Berger. München 2015 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe ungedruckter Texte aus der mittelalterlichen Geisteswelt. 27), mit weiterer Literatur auf S. 28‒31. Siehe dazu zuletzt Harald Berger: Neues Licht auf die Wiener Zeit Alberts von Sachsen (1363/64‒ 1366). Eine kleine Gabe zum 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien 2015. In: Codices Manuscripti & Impressi 103/104, 2016, S. 1‒12.
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und starb 1390 als Bischof von Halberstadt, Heinrich wirkte als Artist und Theologe in Prag, Erfurt, Paris und Wien, wo er 1397 verstarb. Ich erlaube mir die Freiheit, zur Klassifikation meines Materials eine eigene Terminologie zu verwenden, ohne damit weitergehende Ansprüche zu verbinden.5 Als grundlegende Klassifikationen schlage ich vor, vom Verfasser intendierte und nichtintendierte Revisionen zu unterscheiden sowie in der Überlieferung effektuierte und nicht-effektuierte, nämlich jeweils im Sinne jener Verfasser-Intention, was vier mögliche Kombinationen ergibt, von denen zwei besonders interessant sind, nämlich (1) intendierte und nicht-effektuierte sowie (2) nicht-intendierte und effektuierte Textrevisionen. Dies möchte ich an einigen Beispielen illustrieren und erläutern: Die berühmte Logik des Albert von Sachsen, ein Handbuch in sechs Traktaten von etwa 500 modernen Druckseiten, ist in fast 40 Handschriften überliefert und wurde 1522 in Venedig auch gedruckt.6 Unter den nicht wenigen Eigentümlichkeiten der Überlieferung findet sich die folgende: In Traktat IV, Kapitel 14, geht es um gemischte Syllogismen, was uns hier nicht weiter zu interessieren braucht, und wie üblich führt Albert eine Liste von Regeln an, in diesem Fall sind es zehn, und schließt das Kapitel mit einem ebenfalls üblichen „Sic ergo dictum sit de syllogismis mixtis“ usw. Danach folgt aber ein Nachtrag zur sechsten von diesen zehn Regeln, der mit der Bemerkung endet, dass diese Partie bei der sechsten Regel ausgelassen worden war und auf diese bezogen werden möge. Dieser Textbefund ist handschriftlich gut abgesichert, obwohl nicht wenige Textzeugen jenen Nachtrag zur sechsten Regel nicht aufweisen. Die einleuchtendste Erklärung dieses Falles ist meines Erachtens, dass dem Verfasser Albert jener Zusatz erst nachträglich einfiel oder aus Lektüre oder aus mündlichen Erörterungen bekannt wurde, dass er entsprechende Randnotizen in seinem Exemplar anbrachte, was aber nur in einen Teil der weiteren Überlieferung einging, und auch das nur unvollkommen: Denn offensichtlich muss der Verfasser beabsichtigt haben, dass der Nachtrag vom Ende des Kapitels ans Ende der sechsten Regel gesetzt wird, da ja dies der passende Ort dafür ist. Offenbar sind hier ursprüngliche Marginalien schon sehr früh in den Haupttext kopiert und dann immer weiter so abgeschrieben worden. – Das wäre also ein Beispiel für eine intendierte, aber nicht effektuierte Textrevision, nämlich eine vom Verfasser nachträglich vorgesehene, aber nicht in seinem Sinne ausgeführte Textergänzung. Der moderne Herausgeber darf hier natürlich nicht so drastisch eingreifen, dass er das deplatzierte Textstück an die richtige Stelle setzt, sondern muss sich mit der Dokumentation des überlieferten Textbestandes bescheiden und entsprechende Informationen in der Einleitung oder/und in den Apparaten und Anmerkungen bereitstellen. Dass über den editorischen Umgang mit solchen Revisionen bzw. Nachträgen keine Einigkeit besteht, zeigt übrigens auch ein bekannter Fall aus der klassischen Philosophie der Neuzeit, nämlich David Humes Frühwerk A Treatise of Human –––––––— 5 6
Bezüglich der einschlägigen Terminologie und ihrer Probleme sei auf die Tagungsvorträge von Rüdiger Nutt-Kofoth und Andrea Hofmeister-Winter verwiesen, die in editio 30, 2016, erschienen sind. Vgl. zu meiner Ausgabe die Anm. 2.
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Nature, welches anonym in drei Bänden in London 1739 (Bd. I‒II) und 1740 (Bd. III) erschien. Nachdem sich Humes Hoffnung auf eine baldige Neuauflage zerschlagen hatte, entschloss er sich, dem dritten Band von 1740 ganz am Schluss (S. 283‒310) einen Appendix betreffend den ersten Band bzw. das erste Buch beizugeben, inc. „There is nothing I wou’d more willingly lay hold of“, expl. „that exceed all human capacity“. Dieser Appendix ist hauptsächlich eine kritische Wiederaufnahme der Reflexionen über die Probleme des Glaubens (im epistemologischen Sinne, engl. belief) und der Identität der Person bzw. des Selbst in Book I. Dazwischen finden sich Stücke folgender Art: „To be inserted in Book I. page 85. line 22. after these words (fainter and more obscure.) beginning a new paragraph.“ (insgesamt sechs an der Zahl) und „A note to Book I. page 100. line 35. after these words (immediate impression.)“ (insgesamt drei an der Zahl) nebst zwei Druckfehlerberichtigungen. – Unter anderem dieser Appendix hat es übrigens den berühmten Ökonomen John Maynard Keynes (1883‒1946) und Piero Sraffa (1898‒1983) ermöglicht, den von ihnen wiederentdeckten anonymen Abstract des Treatise, London 1740, als von Hume selbst stammend nachzuweisen.7 Die gängigen (englischen und deutschen) Ausgaben gehen nun auf verschiedene Weise mit diesem Appendix um: Green & Grose bringen ihn am Ende von Book I und haben die Ergänzungen und Anmerkungen in den Haupttext eingefügt.8 Selby-Bigge bzw. Nidditch bringen ihn, wie im Erstdruck, ganz am Ende nach Book III und verweisen im Haupttext von Book I auf die relevanten Stellen darin, ohne diese aber dort einzufügen; diese Ausgabe hält sich also (mit Ausnahme jener zwei Druckfehlerberichtigungen, die im Haupttext berücksichtigt sind) an die Erstausgabe von 1739/40.9 Die jüngste Ausgabe von Norton & Norton hat den Appendix in Form der beiden kleinen Essays nach Book III und damit am Ende des ganzen Werks, die übrigen Abschnitte in den Haupttext von Book I integriert, wobei diese Partien durch hochgestelltes „App“ am Anfang und am Ende gekennzeichnet sind, und den ganzen Appendix in seiner ursprünglichen Gestalt im MaterialienBand 2 noch einmal abgedruckt.10 Die deutsche Standardübersetzung von Theodor –––––––— 7
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An Abstract of A Treatise of Human Nature, 1740. A Pamphlet hitherto unknown by David Hume. Reprinted with an Introduction by J. M. Keynes and P. Sraffa. Cambridge 1938, Nachdruck Bristol 1990. Vgl. auch David Hume: Abriß eines neuen Buches, betitelt: Ein Traktat über die menschliche Natur, etc. Brief eines Edelmannes an seinen Freund in Edinburgh. Übersetzt und mit einer Einleitung hrsg. von Jens Kulenkampff. Hamburg 1980 (Philosophische Bibliothek. 320). Zu Appendix und Abstract siehe z. B. auch Udo Thiel: The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume. Oxford 2011, S. 398‒403. David Hume: The Philosophical Works. Hrsg. von Thomas Hill Green und Thomas Hodge Grose, Bd. 1. 2. Aufl. London 1886, Nachdruck Aalen 1964, S. 555‒560. David Hume: A Treatise of Human Nature. Hrsg. von L. A. Selby-Bigge. Second edition by P. H. Nidditch. Oxford 1978, S. 623‒639. Vgl. auch Nidditchs „Preface to the Second Edition“, S. iiif. David Hume: A Treatise of Human Nature. A Critical Edition. Hrsg. von David Fate Norton und Mary J. Norton, 2 Bde. 2. Aufl., Oxford 2011 (The Clarendon Edition of the Works of David Hume. 1‒2). Siehe Bd. 1, S. 396‒401. Vgl. Bd. 2, S. 674‒684 (ursprünglicher Text des Appendix) sowie S. 673 (Reproduktion des Titelblatts von Vol. III, London 1740, worauf u. a. steht: „With an Appendix. Wherein some Passages of the foregoing Volumes are illustrated and explain’d“) u. 959‒961 (Editors’ Annotations). Vgl. schließlich auch Bd. 2, S. 471‒476.
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Lipps (1851‒1914)11 bietet den Anhang am Ende von Buch I mit den vom Übersetzer stammenden Zwischenüberschriften „Über den Glauben“ und „Zum Begriff der Identität der Persönlichkeit“ und hat die Zusätze bzw. Anmerkungen dem Haupttext von Buch I einverleibt.12 Die Neuausgabe dieser Übersetzung hingegen hat den Anhang ohne die Zwischenüberschriften von Lipps am Ende von Buch III und die Zusätze bzw. Anmerkungen ebenfalls dem Haupttext von Buch I eingefügt.13 Wäre jene von Hume erhoffte Neuausgabe zustande gekommen, würde es diesen Appendix gar nicht geben, vielmehr eben zwei zu Lebzeiten des Verfassers erschienene Auflagen mit zum Teil erheblichen Textänderungen in Book I. Später hat Hume dann ja die einzelnen Bücher des Treatise in Form von Essays völlig neu bearbeitet und sich vom Frühwerk auch distanziert.14 Nach diesem Exkurs in die Neuzeit wieder zurück ins 14. Jahrhundert und zu Albert: Der andere Fall, nicht-intendierte, aber effektuierte Textrevisionen, ist mir am auffälligsten begegnet in einem an sich sehr guten Textzeugen der Logica Alberti, nämlich Codex HB X 3 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart.15 Dort hat nämlich der Schreiber offenkundig Randnoten seiner Vorlage in den Haupttext kopiert, besonders auffällig in Traktat III, Kap. 7, Bl. 21ra, wo es um eine bestimmte Art von Sätzen geht. In diesem Zusammenhang bringt Albert sechs distinctiones vor, in denen er unter anderem die Begriffe absoluter vs. konnotativer Terminus und homogenes vs. heterogenes Ding benutzt. Hier hatte sich in der Vorlage der Stuttgarter Kopie offenbar jemand Worterklärungen zu diesen Fachtermini an den Rand geschrieben, die der Stuttgarter Schreiber in den Haupttext aufgenommen hat. Diese Notae stammen jedenfalls sicher nicht vom Verfasser und gehören also nicht zum Text, wie ein Vergleich mit der sonstigen Überlieferung zeigt. – Dies kann so weit gehen, dass ganze kleinere Traktate in eine Abschrift hineinkopiert werden, wie z. B. im Codex Amplonianus Quarto 242 mit der Logica Alberti,16 wo ein werkfremder –––––––— 11
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David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Deutsch mit Anmerkungen und Register von Theodor Lipps. Hamburg u. Leipzig 1895, 2. Aufl. 1904 (Buch I), u. 1906 (Buch II u. III), nach der Ausgabe von Green & Grose, London 1878. Seit 1973 in der Philosophischen Bibliothek, Bd. 283, des Felix Meiner Verlags, Hamburg, mit einer Einführung von Reinhard Brandt bis zur Neuausgabe 2013 immer wieder nachgedruckt. Ebd., Erstes Buch, S. 353‒364. Vgl. auch Brandts Bemerkungen zur Übersetzung von Lipps auf S. LXIIIf. David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, Teilband 1: Buch I, Teilband II: Buch II u. III. Auf der Grundlage der Übersetzung von Theodor Lipps neu hrsg. von Horst D. Brandt. Mit einer Einführung von Reinhard Brandt. Hamburg 2013 (Philosophische Bibliothek. 646a u. 646b), hier Teilband 2, S. 711‒720. Neubearbeitung von Book I: Philosophical Essays concerning Human Understanding. London 1748 u. ö., seit der Aufl. von 1758 und bis heute bekannt unter dem Titel An Enquiry concerning Human Understanding. – Neubearbeitung von Book II: Of the Passions. In: Four Dissertations. London 1757. – Neubearbeitung von Book III: An Enquiry concerning the Principles of Morals. London 1751. Zu dieser Handschrift siehe Maria Sophia Buhl: Die Handschriften der ehemaligen Hofbibliothek Stuttgart, Bd. 4, Tl. 1. Wiesbaden 1972, S. 62f. Herrad Spilling: Datierte Handschriften in Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Tl. 1. Stuttgart 1991, S. 55f. u. Abb. 26. Albert von Sachsen 2010 (Anm. 2), S. LXXIII, Nr. 29; S. XCIIf.; S. XCVII. Zu dieser Handschrift siehe Wilhelm Schum: Beschreibendes Verzeichniss der Amplonianischen Handschriften-Sammlung zu Erfurt. Berlin 1887, S. 497f. Albert von Sachsen 2010 (Anm. 2), S. LXXI, Nr. 07; S. LXXXVII‒LXXXIX; S. XCVI. Harald Berger: Bibliotheca Amploniana Erfordensis. Zu
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kleiner Traktat über Suppositionen gemäß Ockham und ein werkfremder kleiner Text über Sophismen mitten in Traktat II bzw. III von Alberts Werk stehen.17 – Wenn es in solchen Fällen nur einen Textzeugen gäbe, könnten solche Teile natürlich leicht als werkfremd unerkannt bleiben, sofern es keine anderen Auffälligkeiten wie Stilbrüche und dergleichen gibt: Die gerade genannten Beispiele aus den Handschriften Stuttgart und Erfurt zum Beispiel hätten auch ohne Vergleichsmöglichkeiten dem aufmerksamen und mit Albert vertrauten Leser als vermutlich oder gar wahrscheinlich unecht auffallen können. Unter die vom Autor nicht intendierten, aber effektuierten Textrevisionen fallen auch alle sonstigen eigenmächtigen Eingriffe von Schreibern, Herausgebern und Druckern. Diese können gewiss auch sinnvoll und hilfreich sein, aber sie sind eben nicht autorisiert und deshalb vom modernen Herausgeber selbstverständlich entsprechend zu behandeln. Oft genug sind derlei Eingriffe aber auch Verschlimmbesserungen, wie jeder weiß, der sich mit diesen Dingen beschäftigt. Aus der Überlieferung der Logica Alberti ist mir besonders der Schreiber der vorhin schon genannten Erfurter Handschrift positiv aufgefallen, der sichtlich bemüht war, defekte Stellen seiner Vorlage auch ohne weitere Vergleichsmöglichkeiten zu retten.18 Zu nennen ist hier besonders auch der Herausgeber des Frühdrucks von 152219, der Augustinereremit Pietro Aurelio Sanudo (gest. 1553), ein bedeutender Gelehrter seiner Zeit, der ebenfalls versucht hat, rettend einzugreifen, wo ihn die verfügbaren Handschriften im Stich ließen.20 Außerdem hat er seinen Druck an den Rändern mit vielen Verweisen versehen, die auch die auf Albert folgende Fachliteratur berücksichtigen, was schon einer modernen Annotierung nahe kommt. Auch eigenmächtige Kürzungen durch den Schreiber z. B. fallen unter diese Kategorie: Hier möchte ich ein interessantes Beispiel anführen, das die Ausführungen von Jürgen Wolf in seinem Grazer Vortrag „Das fürsorgliche Skriptorium“ vom 18. –––––––— 17 18 19
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einigen Verfassern, Schriften, Schreibern und Vorbesitzern von und in amplonianischen Handschriften. In: Jahrbuch für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte 11, 2015, S. 311‒333, hier S. 318. Beide Texte sind ediert als Anhang ebd., S. 327‒332 u. 332f. Vgl. z. B. Albert von Sachsen 2010 (Anm. 2), S. LXXXIII‒LXXXV. Titelblatt: Logica Albertucij. Perutilis Logica Excellentissimi Sacrae theologiae professoris magistri Alberti de Saxonia ordinis Eremitarum Divi Augustini: Per reverendum sacrae paginae doctorem magistrum Petrum Aurelium Sanutum Venetum eiusdem ordinis professum: quam diligentissime castigata: nuperrimeque impressa. Am Schluss: … impressa Venetijs aere ac sollertia Heredum Domini Octaviani Scoti Civis Modoetiensis: et sociorum Anno a Christi ortu. M. D. XXII. Die. XII. mensis Augusti. 52 Bll. in Fol. Vgl. Index Aureliensis, Prima Pars, Tomus I. Aureliae Aquensis 1965, S. 276, Nr. 102.687. Nachdruck Hildesheim u. New York 1974. – Albert war übrigens weder Professor der Theologie noch Augustinereremit, „Albertutius“ wurde er gerne genannt zur Unterscheidung von Albertus Magnus. Ein besonders bezeichnender Fall ist eine z. T. inkonsistent überlieferte Partie in Tr. II, cap. 4, Bl. 11va‒ b, die Sanudo durch Tilgung zweier wichtiger Wörter (nämlich „vel copulato“ im Ausdruck „per propositionem de disiuncto vel copulato extremo“) und Hinzufügung von „secundum quosdam“ zu retten versuchte. Am Rande führt er Petrus Mantuanus (Ende 14. Jahrhundert, nach Albert schreibend) als Vertreter der von Albert dort kritisierten Theorie an. Vgl. den kritisch edierten Text in Albert von Sachsen 2010 (Anm. 2), S. 262/263‒268/269. Zum Problem siehe Harald Berger: «Sortes differt ab omni homine». A Tension in Albert of Saxony’s Concept of Merely Confused Supposition. In: Formal Approaches and Natural Language in Medieval Logic. Hrsg. von Laurent Cesalli, Frédéric Goubier, Alain de Libera. Barcelona u. Roma 2016 (Textes et Études du Moyen Âge. 82), S. 283–302.
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Dezember 2015 ergänzt:21 Kürzungen können nämlich auch aus purer Not erfolgen, zum Beispiel wenn der vorgegebene Rahmen nicht ausreicht. Das zeigt sich sehr schön im Ms 1367 der UB Leipzig, das die Quaestiones circa Logicam (Bl. 1va‒16ra) und die Logica Alberts (Bl. 16rb‒56va) enthält.22 Die Abschrift der Quaestiones ist im Kolophon auf Bl. 16ra auf 1379 datiert23, auf der allerletzten Spalte des genannten Codex, Bl. 56vb, findet sich ein Titelverzeichnis dazu, wiederum die Datierung 1379 und jetzt auch die Lokalisierung Prag, Dominikanerkloster bei der Kirche des hl. Klemens24. Der Raum dazwischen, Bl. 16rb‒56va, war offenbar von vornherein für die Logica vorgesehen, deren Abschrift laut Kolophon 1381 in Halberstadt fertiggestellt wurde.25 An dieser Abschrift fällt auf, dass sie auf den letzten Blättern drastische Kürzungen aufweist, und zwar eben ganz offenbar deshalb, weil der Schreiber merkte, dass der verbleibende Raum bei weitem nicht ausreichen wird.26 Ich komme zu den verbleibenden beiden Fällen: Auch intendierte und effektuierte Textrevisionen lassen sich in der Überlieferung der Logica Alberti nachweisen, insbesondere, wenn man eine der drei Pariser Handschriften mit der übrigen Überlieferung vergleicht: Die Nr. 14715 aus dem Lateinischen Handschriftenbestand der Französischen Nationalbibliothek27 gehört wohl zu den allerältesten Textzeugen und ist unter anderem durch besondere Knappheit gekennzeichnet. Sofern dies nicht ausschließlich auf den Schreiber zurückgeht, wofür es keine Anzeichen gibt, heißt das, dass Albert den ursprünglichen Text nachträglich mit weiteren Beispielen und Ähnlichem versehen hat; besonders ins Auge fallen in dieser Hinsicht die Schlüsse der Kapitel I.14, III.10 und VI.3, wo aus ursprünglich je einem Beispiel schließlich je zwei oder drei wurden.28 Das sind also Ergänzungen bzw. Erweiterungen, die der Autor selbst später –––––––— 21
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Der Untertitel des Vortrags, den Jürgen Wolf auf Einladung des Fachbereichs der Germanistischen Mediävistik hielt, lautete: „Grot angest geit mek an. / ek vorchte, dat manich man / dit buk wille meren / und beginne recht verkeren. (Eike von Repgow um 1225 im ›Sachsenspiegel‹).“ Vgl. dazu die gedruckte Fassung: Jürgen Wolf: Das „fürsorgliche“ Skriptorium. Überlegungen zur literarhistorischen Relevanz von Produktionsbedingungen. In: Das Mittelalter 7, 2002, H. 2, S. 92‒109. Zu dieser Handschrift siehe Albert von Sachsen 2010 (Anm. 2), S. LXXI, Nr. 11; S. LXXXIXf.; S. XCVI. Leipzig, UB, Ms 1367, Bl. 16ra: Expliciunt quaestiones loycae magistri Alberti de Ricmestorp Scriptae per manus fratris Iohannis de Gronowe ordinis praedicatorum finitae sub anno domini 1379o sequenti die beati Alexij confessoris. Ebd., Bl. 56vb: Federproben, dann steht „Anno domini 1379o vere sic erat“, dann folgt ein Titelverzeichnis der 25 Quästionen von Bl. 1va‒16ra, am Schluss davon steht „Scriptum Pragae apud sanctum Clementem“. Ebd., Bl. 56va: Explicit loyca magistri Alberti de Ricmerstor
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hinzugefügt hat. Dass es der Autor war, nimmt man eben an, wenn die Überlieferung überwiegend übereinstimmt, aber Gewissheit kann man hier kaum je erreichen. Was aber sollen nicht-intendierte und nicht-effektuierte Textrevisionen sein?! Nun, das sind einfach vom Verfasser übersehene und stehengebliebene Textfehler, deren Korrektur sprachlich oder sachlich aber angezeigt gewesen wäre. In der Logica sind es unter anderem besonders zwei Stellen in I.2 und V.4, die den Verdacht erwecken, von vornherein fehlerhaft gewesen zu sein.29 Da aber immerhin die Möglichkeit besteht, dass dies auf eine schon sehr früh verderbte Überlieferung und nicht auf den Verfasser zurückgeht, führe ich für diesen vierten Fall einen Fund meines Kollegen Mischa von Perger, der an einer kritischen Edition der Sophismata Alberts arbeitet, an: Bei Behandlung der ausnehmenden Ausdrücke (dictiones exceptivae), wie „praeter = außer“, führt Albert eine Regel ein und erläutert sie mit dem Beispiel „Jeder Mensch außer Sokrates läuft, also läuft jedes Lebewesen außer Sokrates“ (Omnis homo praeter Sortem currit, ergo omne animal praeter Sortem currit) – das ist nun aber leider ein glattes Non-Sequitur, und auch die allgemeine Regel ist schlicht falsch. In einer Vatikanischen Handschrift hat ein aufmerksam mitdenkender Leser dementsprechend folgende lapidare Notiz an den Rand gesetzt: „Male dixit magister, quia non valet, ut in exemplo suo patet“.30 Albert hat sich rege an der Selbstverwaltung der Universität Paris beteiligt (Prokurator, Rektor, Rezeptor usw.), war offenbar ein beliebter Lehrer und Betreuer von Studienabschlüssen (es sind 74 Graduierungen von 51 Studenten unter ihm belegt) und hat in relativ kurzer Zeit (1351‒1362) etliche Werke verfasst, so dass derlei, wohl aus Hast entstandene, Fehler durchaus verständlich sind. Sehr interessante Fälle von Textrevisionen sind auch solche, die nicht innerhalb ein und desselben Werks vorgenommen werden, sondern in bzw. zwischen verschiedenen Werken. Weniger wohl in der Dichtung, aber auf jeden Fall in wissenschaftlicher Literatur, wie zum Beispiel in der philosophischen, ist es durchaus üblich, in einem Werk B eine Partie aus einem Werk A zu verwenden, wenn es sich um das gleiche Thema handelt. Insbesondere dann, wenn die Werke A und B vom selben Verfasser stammen, aber auch dann, wenn sie verschiedene Autoren haben. Der Begriff des Plagiats wäre den mittelalterlichen Autoren ja fremd gewesen, es gibt Beispiele zuhauf, wo auch hochberühmte Gelehrte ganze Partien aus fremden Werken in ihr eigenes kopieren. Nicht Originalität und Eigentum waren damals die vorrangigen Kriterien, sondern Bewährtheit, Klarheit und dergleichen. Um nur zwei Beispiele aus dem von mir gewählten zeitlichen und sachlichen Rahmen anzuführen: Die Pariser Kommentare zu den Meteorologica des Aristoteles von Nikolaus Oresme, Albert von Sachsen und Themo Judäus sind so eng verwandt, dass die jeweiligen Abhängigkeiten –––––––— 29 30
Vgl. dazu ebd., S. LXXXIII‒LXXXV. Hs. Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ross. 658, Bl. 122ra. Ich danke Mischa von Perger für den Hinweis und für eine Datei mit den Transkriptionen der gesamten Überlieferung dieser Partie der Sophismata Alberti. Vgl. auch Albertus de Saxonia: Sophismata. Hildesheim u. New York 1975 (Nachdruck des Frühdrucks Paris 1502), Bl. g8rb, Regel 9 im einleitenden Traktat über ausnehmende Ausdrücke (Bl. g7rb‒g8va) vor Sophisma 60 des II. Teils.
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nach wie vor nicht endgültig geklärt sind.31 Und der Physik-Kommentar Alberts ist zum Teil (namentlich in Buch VII und VIII) stark abhängig von dem des Johannes Buridan (bzw. von einer der früheren von mindestens vier Redaktionen des Kommentars von Buridan).32 Ein besonders ergiebiger Untersuchungsgegenstand in dieser Hinsicht sind die Logica und die Sophismata Alberts von Sachsen, seine beiden Hauptwerke zur Logik, zwischen denen es naturgemäß etliche thematische Überschneidungen gibt. Solche Dinge können günstigenfalls auch zur Erkenntnis der relativen Chronologie beitragen. Ein ganz erstaunlicher Fall dieser Art ist ein spezieller Begriff der Suppositionstheorie in den beiden Werken Alberts: Um nicht auf die logischen Einzelheiten eingehen zu müssen, sagen wir einfach, dass jener Begriff mit „P“ oder mit „entweder P oder Q“ definiert werden kann. Nun ist es so, dass Albert in der Logik jenen Begriff mit „P“ definiert und die alternative Definition mit „entweder P oder Q“ ausführlich kritisiert und zurückweist, in den Sophismata aber genau umgekehrt vorgeht! Wenn diese Werke anonym überliefert wären, würde man selbstverständlich zwei verschiedene Verfasser annehmen. An der Verfasserschaft Alberts besteht jedoch in beiden Fällen nicht der geringste Zweifel. Also folgt, dass der identische Autor seine Meinung in diesem Punkt gründlich geändert hat und was in der Logik als überflüssig gilt, in den Sophismata als notwendig erachtet wird – eine inhaltlich dramatische ‚intertextuelle‘ Textrevision also, aber leider verliert Albert nicht ein einziges Wort über die Motive und Hintergründe dieser Entwicklung seines Denkens. Hier kann man nur Mutmaßungen mittels Kontextualisierung anstellen. Übrigens hat diese Textrevision und die sie bedingende Meinungsänderung Alberts zu einer teilweise kontaminierten Überlieferung der Logik geführt.33 Weitere Ergebnisse sind hier von der kritischen Edition der Sophismata zu erwarten.34 Ein ähnlicher Fall ist mir auch bei Heinrich Totting untergekommen: Heinrich hat seine Aristoteles-Kommentierung an der Artistenfakultät der Universität Prag und an –––––––— 31
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Vgl. Jürgen Sarnowsky: Die aristotelisch-scholastische Theorie der Bewegung. Studien zum Kommentar Alberts von Sachsen zur Physik des Aristoteles. Münster 1989 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. N. F. 32), S. 41f., und zuletzt Lucian Petrescu: The Threefold Object of the Scientific Knowledge. Pseudo-Scotus and the Literature on the Meteorologica in Fourteenth-Century Paris. In: Franciscan Studies 72, 2014, S. 465‒502. Vgl. Bernd Michael: Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters. Dissertation, Freie Universität Berlin 1985, Teil 2, S. 594‒609, bes. S. 603. Sarnowsky 1989 (Anm. 31), S. 49‒51, 57‒60, 381‒404 u. ö. J. M. M. H. Thijssen: The Buridan School Reassessed. John Buridan and Albert of Saxony. In: Vivarium 42, 2004, S. 18‒42. Ders.: The Debate over the Nature of Motion: John Buridan, Nicole Oresme and Albert of Saxony. In: Evidence and Interpretation in Studies on Early Science and Medicine. Essays in Honor of John E. Murdoch. Hrsg. von Edith Dudley Sylla, William R. Newman. Leiden u. Boston 2009, S. 186‒ 210. John Buridan: Quaestiones super octo libros Physicorum Aristotelis (secundum ultimam lecturam), Libri I‒II. Edited by Michiel Streijger, Paul J. J. M. Bakker. Introduction by Johannes M. M. H. Thijssen. A Guide to the Text by Edith D. Sylla. Leiden u. Boston 2015 (History of Science and Medicine Library. 50. Medieval and Early Modern Science. 25), S. XIII‒CLXXV passim. Siehe dazu Berger 2016 (Anm. 20). Inzwischen ist es ziemlich sicher, dass die Sophismata-Auffassung die jüngere ist und Albert demnach die Logica-Auffassung aufgegeben hat (siehe die folgende Anm.). Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Wien, Projekte P24892 und P28553, geleitet von Harald Berger, bearbeitet von Mischa von Perger. Schon die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass Albert in den Sophismata Partien aus der Logica übernimmt und fallweise auch überarbeitet.
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den Schulen der Stadt Erfurt in drei Teilen durchgeführt, wie der wertvolle Kolophon einer Leipziger Handschrift festhält, nämlich zunächst Translationes, dann Quaestiones und schließlich Expositiones.35 „Translatio“ heißt hier nicht „Übersetzung“, sondern „Auslegung“, und zwar im Sinne einer ersten, knappen Kommentierung der Vorlage als Grundlage für die Quästionen als freie Problemerörterungen; erst die Exposition stellt dann die eigentliche, gründliche Textauslegung der Vorlage dar. Diese drei Kommentar- und Lehrveranstaltungsformen werden naturgemäß auch in einem engen zeitlichen Zusammenhang gestanden sein. Umso überraschender ist es, dass auch Totting in thematisch verwandten Partien der Translatio und der Quaestiones zu den Kategorien des Aristoteles in einem Fall einander widersprechende Positionen vertritt: Wieder kann ich hier nicht auf die philosophischen Details eingehen, was auch gar nicht nötig ist, ich stelle nur fest, dass Totting in der Translatio meint, dass nur die Ordnung abstrakter Termini aus der Kategorie der Relation eine echte Kategorie bildet, die Ordnung der entsprechenden konkreten Termini hingegen nicht, während er in quaestio 19 zu den Kategorien ausführt, dass beide Ordnungen Kategorien bilden, die zwar numerisch verschieden sind, aber gemäß der Einheit der Bedeutung nur als eine zählen, so dass die ‚heilige‘ Zehnzahl der Aristotelischen Kategorien aufrecht bleibt.36 Da wir wiederum nur auf Mutmaßungen angewiesen sind, wollen wir also annehmen, dass ein begabter Student aus der ersten Reihe den Meister zu dieser kurzfristigen Revision veranlasst hat … Diese Werke Tottings sind aber bei weitem nicht so gut überliefert wie die von Albert, nämlich nur in je zwei Handschriften, während die Logica Alberti (wie schon gesagt) in fast 40 und die Sophismata Alberti in fast 30 Handschriften überliefert sind sowie in einem bzw. in fünf Frühdrucken von 1489 bis 1522. Nun zum zweiten Teil meiner Ausführungen, der nicht mit Revisionen der eigentlichen Werktexte zu tun hat, sondern mit Revisionen der Werkpläne. Dieses Phänomen ist ja auch aus der Dichtung bekannt, um nur ein Beispiel, aber ein sehr berühmtes und eindrucksvolles zu nennen: Gemäß dem General Prologue zu den Canterbury Tales hätte das Werk 120 Geschichten umfassen müssen, das Werk, das wir kennen und schätzen, umfasst aber nur ein Fünftel davon – offenbar war der Werkplan schlicht und einfach zu groß angelegt.37 In der Philosophie ist ein ähnlicher Fall bekannt in Meister Eckharts Opus tripartitum, das ebenfalls einen Prologus
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Vgl. Heinrich Totting von Oyta 2015 (Anm. 3), S. 10 u. 72. Ebd., S. 52 u. 173‒177. Siehe dazu auch Harald Berger: Henry Totting of Oyta on Relations. Erscheint in: Medieval Theories of Relations. Proceedings of the XXth European Symposium of Medieval Logic and Semantics, University of Cambridge, 12‒16 June 2014. Hrsg. von John Marenbon, Tony Street, Riccardo Strobino. Vgl. z. B. das Nachwort von Detlef Droese zu seiner Übersetzung in Geoffrey Chaucer: CanterburyErzählungen. Zürich 1971 (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), S. 521‒550, hier S. 541. Für Weiteres, wie auch Ausgaben und Fachliteratur, verweise ich hier nur auf: The Cambridge Companion to Chaucer, 2. Aufl. Hrsg. von Piero Boitani, Jill Mann. Cambridge 2003. The Oxford Companion to Chaucer. Hrsg. von Douglas Gray. Oxford 2003.
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generalis hat, in dem ein gigantischer Werkplan entwickelt wird, von dem aber wohl nur ein Bruchteil verwirklicht wurde.38 Zurück zu den von mir ausgewählten Philosophen: Die reiche Überlieferung der Logica Alberti zerfällt zunächst einmal in zwei große Handschriftenfamilien, nämlich in solche mit dem Teiltraktat über die Aristotelische Topik bzw. De locis dialecticis und in solche ohne diesen; dementsprechend habe ich in meiner Ausgabe die Bezeichnungen „Familia Cum“ vs. „Familia Sine“ eingeführt. Bei der Familia Cum kann man wiederum zwei Untergruppen unterscheiden, nämlich solche Handschriften, die jenen Teiltraktat ganz am Ende, nämlich als dritten Teil des sechsten Traktats, haben, und solche Handschriften, die jenen Teiltraktat als dritten Teil in den vierten Traktat über die Folgerungen integriert haben. Es ist naheliegend, diese Handschriftenfamilien mit drei Fassungen des Werks in Verbindung zu bringen, wonach die erste Fassung noch gar keinen Topik-Teil enthielt, die zweite Fassung diesen am Ende anfügte und erst die dritte Fassung den Topik-Teil an den sachlich angestammten Platz setzte, nämlich ans Ende des vierten Traktats über die Folgerungen. So weit, so gut. Nun ist es aber so, dass das Incipit der Logik Alberts deren Einteilung in sechs Traktate angibt, nämlich „Intentionis praesentis est primo tractare de terminis“ usw. bis eben „sexto de insolubilibus et obligationibus“. Jedoch haben auch Handschriften der Familia Sine unter „quarto“ auch die dialektischen Folgerungen, also die Topik, angeführt,39 was überraschend, wenn nicht verwirrend ist und nach einer Erklärung verlangt: Diese kann wohl nur so lauten, dass schon der ursprüngliche Werkplan den Topik-Traktat am angemessenen Ort vorgesehen hatte, dies aber aus kontingenten Gründen zunächst so nicht ausgeführt werden konnte, dann später der Teiltraktat als Nachtrag angefügt wurde und erst in einem dritten und abschließenden Schritt die organische Integration vorgenommen wurde. Vielleicht ist es aber auch besser, hier nur von zwei Fassungen und einer Zwischenstufe zu sprechen, da ja kein vernünftiger Grund ersichtlich ist, warum der Teiltraktat über die Topik, sobald er einmal abgefasst war, nicht gleich an der richtigen Stelle hätte eingefügt werden sollen. Es liegt hier wohl wieder ein Fall von intendierter, aber nicht effektuierter Revision vor, nämlich dass der Nachtrag als Nachtrag weitertradiert und nicht organisch in das Textkorpus integriert wurde, wie es Alberts Absicht gewesen sein muss. Allerdings sind die Spuren dieser Zwischenstufe in der breiten Überlieferung ohnehin nur sehr gering, ich kenne eigentlich nur einen direkten Textzeugen, nämlich eine der drei Vatikanischen Handschriften (Chigi E. VI. 191), und einen indirekten Textzeugen, nämlich eine eigentümliche Prager Logik, die auf zwei Codices der Bibliothek des Metropolitankapitels (jetzt im Archiv der Prager –––––––— 38
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Vgl. z. B. Niklaus Largier in Meister Eckhart: Werke II. Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek des Mittelalters. 21), S. 821f. u. S. 822, Kommentar zu 462,6. Siehe z. B. auch Kurt Flasch: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. München 2010, 6. Kap., S. 98‒112. Ich kenne inzwischen acht Handschriften der Familia Sine, von denen drei im Incipit haben „4o de consequentiis tam formalibus quam materialibus, ut puta de conversionibus et aequipollentiis et de syllogismis et de consequentiis dyalecticis“ (Nr. 7, 9, und 23 des Verzeichnisses in Albert von Sachsen 2010 [Anm. 2], S. LXX‒LXXIX), die übrigen fünf haben nur das unbestimmte „4o de proprietatibus propositionum, sicud de conversionibus et huiusmodi“ (Nr. 18, 21, 24, 26, 27). Vgl. auch ebd., S. LXXIX u. S. 2.
Text- und andere werkbezogene Revisionen: Fallbeispiele aus der spätmittelalterlichen Philosophie
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Burg) verstreut ist,40 eindeutig von Alberts Logik abhängt und das sechste und letzte Buch so beginnen lässt: „Liber sextus et ultimus, qui continet tres tractatus. Primus erit de insolubilibus, secundus de obligationibus, tertius de locis dyalecticis” (üblich in der Überlieferung der Logica Alberti ist der sechste Traktat mit den zwei Teilen Insolubilia und Obligationes). Das halte ich für ein sehr starkes Indiz für die Existenz einer solchen Zwischenstufe zwischen erster und zweiter Fassung der Logik Alberts. Übrigens sind auch im Incipit dieser eigentümlichen Prager Logik die dialektischen Folgerungen unter „quarto“ und nicht etwa unter „sexto“ angeführt, also entgegen dem tasächlichen Aufbau des Werks, was ein weiterer, indirekter Beleg dafür ist, dass der ursprüngliche Werkplan der Logica Alberti zunächst nicht ausgeführt wurde bzw. werden konnte. Dass Werkpläne revidiert wurden, lässt sich auch sehr schön an Selbstverweisen ablesen, die ins Leere gehen. Um nur zwei Beispiele aus Albert und Heinrich zu nennen: Albert verweist in seiner Logica öfters auf Quaestiones, nämlich seine Quaestiones circa Logicam („Logicam“ ist hier Eigenname bzw. Titel, es sind Quästionen Alberts zu seiner eigenen Logik). Einer dieser Verweise findet sich in I.12 und lautet: „Utrum autem iste terminus ‚ens‘ sit terminus aequivocus vel non, videbitur alibi in quaestionibus“.41 Nun gibt es von diesem Werk immerhin vier vollständige Handschriften mit allen 25 Quästionen und fünf unvollständige, Michael J. Fitzgerald (1946‒2016) hat das Werk auch ediert42, aber eine solche Quästion findet sich darin nicht, nicht einmal eine beiläufige Erörterung des Problems; auch in keinem anderen bekannten Werk Alberts gibt es eine Quästion dieses Titels.43 Also kann man nur schließen, dass jene Quästion ursprünglich für die Quaestiones circa Logicam vorgesehen war, aber aus unbekannten Gründen dann nicht ausgeführt wurde. Was sehr schade ist, da die Problemstellung philosophisch höchst interessant scheint. Zum zweiten Beispiel aus Heinrich: Da in den Translationes keine eingehendere Erörterung möglich ist, verweist Heinrich für weiterführende und vertiefende Einzelheiten oft auf die Quästionen, so auch im Falle der Kommentierung der Aristotelischen Kategorien auf Quästionen zu den sog. Postpraedicamenta, d. h. auf Kap. 10‒15, wo Aristoteles nach den eigentlichen Kategorien noch Begriffe wie –––––––— 40
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Vgl. Harald Berger: Erträge einer Bibliotheksreise nach Prag. In: Codices Manuscripti & Impressi 89/90, 2013, S. 13‒23, hier S. 13f., Nr. 1 (von Cod. M. 33), u. S. 17f., Nr. 15‒16 u. 20 (von Cod. O. 55). Im Druck ist leider Nr. 15 von Cod. O. 55 entfallen, es wäre also zu ergänzen: „(15.) 51r‒56r: . Inc.: Circa obligationes notandum, quod obligatio est oratio composita ex signis obligationis et obligato. Expl.: Et illa fuit disiunctiva deposita, quae secundum quartam regulam non est admittenda.“ Die richtige Reihenfolge der erhaltenen Stücke dieser ‚verstreuten‘ Logik ist M. 33, Nr. 1, und O. 55, Nr. 20, 15, 16. Albert von Sachsen 2010 (Anm. 2), S. 90, Z. 16‒18. Albert of Saxony’s Twenty-Five Disputed Questions on Logic. A Critical Edition of His Quaestiones circa Logicam by Michael J. Fitzgerald. Leiden, Boston, Köln 2002 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters. 79). Vgl. auch die englische Übersetzung: Albert of Saxony: Quaestiones circa Logicam (Twenty-Five Disputed Questions on Logic). Introduction, Translation, and Notes by Michael J. Fitzgerald. Paris, Leuven, Walpole, MA, 2010 (Dallas Medieval Texts and Translations. 9). Eine beiläufige Stelle findet sich in den Quästionen zur Ars vetus: Angel Muñoz García: Alberti de Saxonia Quaestiones in Artem Veterem. Edición Crítica. Maracaibo 1988, S. 322, § 391: „dico, quod hoc nomen ‚ens‘ non est univocum ad omnia sua inferiora“.
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Harald Berger
Entgegengesetztes, Früher usw. behandelt.44 Beide erhaltenen Textzeugen der Quaestiones Praedicamentorum Heinrichs, die am Schluss durchaus intakt wirken45, enden aber mit zwei Quästionen zur Kategorie der Qualität, Kap. 8 der Vorlage – von Quästionen zu den Postpraedicamenta gibt es aber keine Spur! Wiederum muss man also annehmen, dass der ursprüngliche Werkplan aus unbekannten Gründen revidiert bzw. nicht vollständig ausgeführt wurde.
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Siehe Heinrich Totting von Oyta 2015 (Anm. 3), S. 57, Z. 324, 327, 334f.; S. 59, Z. 372, 390. Vgl. ebd., S. 17f. Vgl. ebd., S. 188.
Niklas Hebing
Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels ÄsthetikVorlesungen Ein Forschungsbericht zwischen Werkstattreferat und Editionstheorie
Im November 2015 erschien der erste von insgesamt vier Bänden der Vorlesungen über die Philosophie der Kunst im Rahmen der historisch-kritischen Gesamtausgabe G. W. F. Hegels.1 Damit ist der erste Teil einer großangelegten editorischen Neubearbeitung vorgelegt worden. Bevor ich zur Darstellung, Problematisierung und Diskussion einzelner Spezifika dieser Edition aus der Perspektive des Oberthemas ‚Textrevisionen‘ komme, möchte ich kurz einige Angaben zur institutionellen wie organisatorischen Verortung vorausschicken: Als Bestandteil der Gesamtausgabe wird auch die Ästhetik-Edition am Hegel-Archiv erarbeitet, das 1958 von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste gegründet worden ist und von ihr seit 1968 als selbstständiges Forschungsinstitut an der RuhrUniversität Bochum finanziert wird.2 Alle Bände dieser Ausgabe erscheinen im Felix Meiner Verlag in Hamburg. Seit 1998 werden Archiv und Ausgabe von Prof. Dr. Walter Jaeschke geleitet. Mit der Edition der Ästhetik-Vorlesungen war ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter von 2013 bis 2016 betraut. Im Jahre 2014 wurde am Hegel-Archiv die erste Abteilung der neuen historischkritischen Ausgabe abgeschlossen.3 Diese enthält alle Schriften und Entwürfe aus Hegels Hand. Parallel zu ihrer Erarbeitung wurde mit den Bänden der zweiten Abteilung begonnen. Sie beinhaltet die Dokumente zu Hegels umfangreicher Vorlesungstätigkeit als Professor an der Königlichen Universität in Berlin. Diese Vorlesungen sind nicht etwa zusätzlich zu einem gedruckten Hauptwerk Hegels gehalten worden, quasi als ihr Anhang; sie sind nicht einmal ein „gleichberechtigtes, sondern vielmehr das dominierende Element der ‚Werkform‘ der hegelschen Philosophie“, –––––––— 1
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Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 28,1: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst I. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823. Hrsg. von Niklas Hebing. Hamburg 2015. – Diesen im Weiteren häufig zitierten Band belege ich mit der Sigle ‚Hegel: GW 28,1‘, gefolgt von der Seitenzahl. Vgl. hierzu auch Friedhelm Nicolin/Otto Pöggeler (Hrsg.): Gedenkschrift für Johannes Hoffmeister. Hamburg 1956; Otto Pöggeler: Zwischen Philosophie und Philologie. Das Hegel-Archiv der RuhrUniversität Bochum. In: Jahrbuch der Ruhr-Universität Bochum 1970, S. 137‒160; Walter Jaeschke/Christoph J. Bauer: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Editionsprojekt der „Gesammelten Werke“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62, 2014, H. 1, S. 41‒63; Niklas Hebing/Walter Jaeschke: Zur Hegel-Edition. http://www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/hegeledition_de/about.html. Eingestellt am 09.03.2016; Bertram Müller: Der ganze Hegel in 50 Bänden. In: Rheinische Post Wissen: Auf den Spuren der Menschheit. NRW-Akademie der Wissenschaften und der Künste (ohne Jahr), S. 12‒13. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 2: Frühe Schriften II. Bearbeitet von Friedhelm Nicolin, Ingo Rill und Peter Kriegel. Hrsg. von Walter Jaeschke. Hamburg 2014.
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Niklas Hebing
und zwar diejenige „Form, in der er seine Philosophie ausgearbeitet hat“ und die das eigentliche „Medium“ dieses Denkens bildet – so auch im Falle der Ästhetik.4 Sie ist Teil eines philosophischen Systems, das überhaupt erst aus der akademischen bzw. gymnasialen Lehrtätigkeit Hegels erwachsen ist, denn er war etwa dreißig Jahre lang als Professor für Philosophie tätig.5 Sein eigenes philosophisches System arbeitet er also für den Vorlesungssaal aus und nicht in Form eines im Druck zu publizierenden Textes; er gibt diesem System und seinen Bestimmungen dadurch ganz beabsichtigt einen ‚Sitz im Leben‘: nicht hermetisch abgeschlossen vorgetragen vor einem kleinen Kreis von geladenen Gästen, wie dies etwa sein früherer Freund Schelling zeitweise getan hat, sondern adressiert an die Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund einer Priorität des gesprochenen Wortes vor dem geschriebenen ist es auch zu verstehen, dass Hegel zu Lebzeiten keine ausgearbeitete Philosophie der Kunst veröffentlicht hat, sondern diese ausschließlich im Vorlesungssaal mitteilt.6 Hier entsteht allerdings sogleich ein Problem, das aber nur vordergründig ein solches ist: Eine Vorlesungsedition unterscheidet sich dadurch von der Edition anderer Textsorten, dass sie „mit einer Dualität der Überlieferung konfrontiert ist“, d. h. neben die eher als sekundär zu bezeichnenden schriftlichen Aufzeichnungen des Vortragenden tritt das als dominant einzustufende gesprochene Wort, denn nur dieses ist „überlieferungsgeschichtlich und wirkungsgeschichtlich unmittelbar relevant geworden“7. Hegels Ästhetik-Vorlesungen sind zwar ‚Manuskriptvorlesungen‘ – gehalten auf der Grundlage von schriftlich fixierten, eher knappen Notizen und Exzerpten –, doch dieser Entwurf des verhältnismäßig spontan entwickelten Vortrags ist heute nicht mehr überliefert, da er zusammen mit einem Großteil des Nachlasses von Hegels Erben vernichtet oder an die Hegel-Schüler verteilt wurde, die nach ihrer undurchsichtigen Editionsarbeit Mitte des 19. Jahrhunderts einen großen Teil entsorgt haben. Gemäß diesen beiden Punkten – der Dominanz des Gesprochenen und der Abwesenheit der schriftlichen Fixierung durch den Autor – kommt den sonst für –––––––— 4
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Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart/Weimar 2003, S. 319f.; Walter Jaeschke: Vorwort. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 23,1: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik I. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1801/02, 1817, 1823, 1824, 1825 und 1826. Hrsg. von Annette Sell. Hamburg 2013, S. V; Jaeschke/Bauer 2014 (Anm. 2), S. 47f. Vgl. Walter Jaeschke: Das Geschriebene und das Gesprochene. Wilhelm und Karl Hegel über den Begriff der Philosophie der Weltgeschichte. In: Hegel-Studien 44, 2009, S. 13. Hegel veröffentlicht zwar erstmals 1817 seine Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse als Darstellung seines gesamten Systems, die 1827 eine zweite und 1830 eine dritte, jeweils stark überarbeitete Neuauflage erhält. Doch diese Darstellung in Paragraphen vermag die Leserin und den Leser nicht zu befriedigen. Kurz und komprimiert enthält sie hochkomplexe und erläuterungsbedürftige Bestimmungen. Die Vorlesungen sind von Hegel so konzipiert, dass sie diese Erläuterungen nachreichen, und nicht nur das: Erst die Vorlesungen geben den Paragraphen Lebendigkeit, Anschaulichkeit, sie verbinden sie mit den Ergebnissen der empirischen Forschung der damaligen Zeit, was Hegel ein wichtiges Anliegen ist, und exemplifizieren bzw. bewähren die abstrakten Ausführungen der Encyklopädie im Falle der Ästhetik an konkreten Gattungen, Epochenfragen, Stilformen und Einzelwerken der allgemeinen Kunstgeschichte. Vgl. zum Folgenden Niklas Hebing: Hegels Ästhetik historisch-kritisch. Eine neue Quelle eröffnet neue Perspektiven. In: Hegel-Studien 49, 2015, S. 123ff. Vgl. Walter Jaeschke: Manuskript und Nachschrift. Überlegungen zu ihrer Edition an Hand von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen. In: Martin Stern (Hrsg.): Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 1), S. 82.
Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels Ästhetik-Vorlesungen
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andere Textsorten als ‚sekundäre Überlieferung‘ zu bewertenden Aufzeichnungen fremder Hand in diesem Fall der Status ‚primärer Dokumente‘ zu. Hegels Vorlesungen sind glücklicherweise vor allem durch Studenten-Nachschriften dokumentiert, deren Zahl recht groß und deren Überlieferungswert ‒ weil überwiegend sorgfältig und gewissenhaft verfasst ‒ ausgesprochen hoch ist, so hoch, dass sie mit gutem Gewissen als verlässliche Dokumente des gesprochenen Wortes Hegels in der zweiten Abteilung der Gesamtausgabe ediert werden können. – Im ersten Teilband meiner Edition habe ich die Nachschriften zu den beiden ersten Ästhetik-Kollegien im Wintersemester 1820/21 sowie im Sommersemester 1823 veröffentlicht. In der Editionsgeschichte der Ästhetik Hegels ist damit eine wichtige neue Etappe begonnen worden. Zuvor hat es lediglich eine editionsphilologisch höchst problematische Kompilation unterschiedlichster Texte zu Hegels Ästhetik bzw. nicht historisch-kritisch vorgelegte, teilweise recht fehlerhafte und nach fragwürdigen Prinzipien erstellte Voreditionen gegeben.8 Im Folgenden werde ich das zweite Kolleg aus diesem Band ‒ dasjenige aus dem Sommersemester 1823 ‒ herausgreifen, um an ihm spezifische Problematiken der Textrevision sowie darauf aufbauende und weitergehende Überlegungen zu entwickeln. Sozusagen synchron hoffe ich dabei einen vertieften Einblick in Gestalt, Bedeutung und Erfordernis einer neuen Edition von Hegels Philosophie der Kunst geben zu können.
1. Urbild und Abbild – „Das Wesen muss erscheinen“9 Bei der Textsorte ‚Vorlesungsnachschrift‘ stellt das Phänomen ‚Revision‘ ganz eigene Schwierigkeiten dar; insbesondere wenn diese Nachschriften die einzigen überlieferten Textzeugen sind. Wer sich in ein Verhältnis zu ihnen setzt, muss sich vor Augen führen, es nicht mit vom Urheber autorisierten Texten zu tun zu haben, sondern mit Aufzeichnungen anderer. Besonders wertvoll sind innerhalb dieser sekundären Überlieferungsform Mitschriften, die während des Vortrags entstanden sind und das mündliche Wort direkt verschriftlichen, die also nicht nachträglich ins Reine geschrieben, womöglich geglättet und dabei kontaminiert wurden. Doch gerade bei diesen Mitschriften ist es fraglich, welche Dignität ihre Revisionen besitzen. Stellen sie Sofortkorrekturen aus dem Vorlesungssaal dar oder sind sie nachträglich zu Hause am Schreibtisch entstanden? Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass diese Frage nicht immer zu beantworten ist, und eindeutig schon einmal gar nicht. Auch provoziert sie sogleich eine andere Frage: Muss nicht jede Edition Reduktion sein, d. h. viele Merkmale der Textzeugen notwendig ignorieren, z. B. eine unregelmäßige Schrift, Partien mit abweichender Buchstabengröße oder zur Unleserlichkeit ver–––––––— 8 9
Vgl. Hebing 2015 (Anm. 6), passim. Vgl. zu dieser sowohl kunstphilosophischen als auch wesenslogischen Bestimmung Hegels die Einleitung in die Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 220, sowie das Kapitel Der Schein in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816). Hrsg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke. Hamburg 1981, S. 246ff.
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Niklas Hebing
schmolzene Buchstabenreihen, genauso wie Streichungen, Einfügungen und Erledigungsvermerke? Wenn sie aber notwendig Reduktion sein muss, welche Merkmale lohnen sich demgegenüber, integriert zu werden? Müssen Revisionen in Nachschriften fremder Hand, die etwas sekundär dokumentieren, für das zugrundeliegende Primäre überhaupt relevant sein? Zu demonstrieren, dass es sich lohnt, ihre Verzeichnung zu edieren wie zu rezipieren, ist ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung. – Für den Fortgang meiner Ausführungen werde ich mich dabei auf die für das Kolleg 1823 zentrale Quelle fokussieren: Die Mitschrift Heinrich Gustav Hothos, die als unter Zeitdruck erfolgte Notierung des Vortrags eine nicht unbeträchtliche Menge an Überarbeitungen aufweist; von kleinen Tilgungen und Überschreibungen bis hin zu großräumigen Ergänzungen. Hier kann entdeckt werden, dass das Wissen um die Entstehungsgeschichte winziger Textbereiche aufschlussreich sein kann: für die Einschätzung der Verlässlichkeit einzelner Textschichten, mitunter aber auch für semantische Schichten, die sich zwischen der Revision und dem revidierten Text andeuten. Es ist offensichtlich, dass das Manuskript Hotho nicht allein aus dem Mitschrifttext besteht, sondern zu einem späteren Zeitpunkt mindestens zweimal revidiert worden ist.10 Zum einen hat Hotho umfangreiche Marginalien eingefügt, die sauberer geschrieben sind und zumeist den nebenstehenden Textabschnitt inhaltlich zusammenfassen, also höchstwahrscheinlich nicht aus dem Vorlesungssaal stammen. Zum anderen könnten zeitgleich mit dieser Arbeit an den Randnotizen weitere Revisionen entstanden sein. Zumindest weisen manche von ihnen einen vom Mitschrifttext abweichenden Schreibduktus und eine leicht abweichende Tintenfarbe auf ‒ Merkmale, die wiederum mit den Marginalien übereinstimmen. Sämtliche Überarbeitungen, ganz gleich welcher Entstehungsstufe, haben aber nicht nur unbemerkte Flüchtigkeitsfehler der Mitschrift stilistisch verbessert, sondern zum Teil auch stärkere inhaltliche Eingriffe vorgenommen. Wären sie zeitlich nach der Vortragsfixierung entstanden, ließen sie den Mitschrifttext somit von Hegels authentischem Vortrag abrücken. Für den Textkritischen Apparat müsste für jeden Einzelfall eindeutig zu klären sein, ob es sich dabei um eine Sofortkorrektur im Vorlesungssaal oder um eine nachträgliche Revision handelt, um Rückschlüsse auf ihre Authentizität ziehen zu können. Doch Hotho hat seinen Editoren leider nicht das Geschenk diesbezüglicher Eindeutigkeit gemacht. Überwiegend ist nicht entscheidbar, um welche Revision aus welcher Arbeitsphase es sich handelt. ‒ Hierzu möchte ich eine Reihe unterschiedlicher Beispiele geben. Gleich auf der ersten Seite des Manuskripts notiert Hotho zu Hegels Vortrag: „Habe also die Kunst auch mit andern Wirkungsweisen Mittel“11 – hier bemerkt Hotho offenbar, dass der Satz nicht sinnvoll zu Ende geführt werden kann, streicht das Wort „Mittel“ durch und führt den Satz fort mit: „Zwecke gemein, so sei doch ihr Mittel der Schein, diesen Zwecken unangemeßen“12. Dieser Fall liegt offen zu Tage – die erste Schreibung „Mittel“ ist inhaltlich unstimmig. Die Streichung sowie die Ergänzung „Zwecke“ sind von derselben Tinte und demselben Schreibduktus wie der –––––––— 10 11 12
Vgl. Hebing 2015 (Anm. 6), S. 144ff. Hotho: Ms. S. 1. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 219. Ebd.
Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels Ästhetik-Vorlesungen
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Rest des Satzes. Die Korrektur wird auf Linie und nicht wie in vielen anderen Fällen über der Zeile vorgenommen. Es handelt sich also höchstwahrscheinlich um einen unmittelbar korrigierten Schreibfehler der Mitschrift. Im Textkritischen Apparat habe ich diese Änderung notiert als „Zwecke] davor gestr.: Mittel“13. Schwieriger wird es bei Streichungen mit Ersetzung über der Zeile. Zur Naturschönheit des vegetabilischen Organismus hält Hotho fest: Die Regelmäßigkeit der Pflanzenform „ist nicht mehr so streng wie im Mineralreich, aber es ist die Regelmässigkeit noch ein Ueberwiegendes, der Zweig ist geradlinigt, die Ringe sind Kreis förmig“14. Zu irgendeinem, nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt muss Hotho entschieden haben, dass der Satz in dieser Fassung nicht bleiben soll. Er streicht das Wort „Zweig“ durch und ersetzt es über der Zeile durch „Stamm“. Nun bleibt es allerdings fraglich, was das authentische Hegelwort ist: Sei der Zweig oder der Stamm der Pflanze geradlinig? Um Aufschluss über solche Stellen zu erhalten, bedarf es eines weiteren Textzeugen des Vortrags Hegels – hierzu ein kurzer Exkurs: Im Falle der Hotho-Mitschrift ist die Hegel-Edition in der glücklichen Lage, eine zweite Quelle zum selben Vortrag zu besitzen. Hotho war selbstverständlich nicht der einzige, der im Sommersemester 1823 im Vorlesungssaal saß und Hegel über Philosophie der Kunst vortragen hörte. Außer seinen Aufzeichnungen ist von allen Studentenheften noch die Nachschrift eines gewissen Carl Kromayr überliefert, die etwa 70 % des Vortrags Hegels dokumentiert und nach dem Teil über die romantische Kunstform abbricht, also Hegels System der einzelnen Künste von Architektur bis Literatur nicht mehr enthält. Trotz fehlenden Schlusses ist das Kromayr-Manuskript ein wertvoller Textzeuge und wird ebenfalls in der Ausgabe ediert.15 Sie ist zwar keine Mit-, sondern eine nachträgliche Reinschrift von Vortragsnotizen, doch verglichen mit Hothos Mitschrift zeigt sich: Sie hält sich eng an Hegels Wort. Wie für alle Bände der zweiten Abteilung der Akademieausgabe Hegels gelten auch für den Band 28,1 die Prinzipien historisch-kritischer Texterstellung und Kollation der Quellen.16 Dazu gehört auch die Integration aller Textzeugen in diese Ausgabe. Hier ist allerdings eine wichtige Einschränkung zu machen: Wegen der Vielzahl überlieferter Nachschriften zu ein und derselben Vorlesung Hegels sowie daraus resultierender Redundanzen – beispielsweise sind zum Ästhetik-Kolleg des Sommersemesters 1826 sechs Parallelnachschriften überliefert – muss das für eine historischkritische Ausgabe bindende Prinzip der vollständigen Wiedergabe der überlieferten Textzeugen für die Vorlesungsedition neu definiert werden. Nicht nur dass die Leserin und der Leser sich durch gegebenenfalls sechs Nachschriften zu einer Vorlesung mit überwiegend demselben Inhalt in denselben Formulierungen arbeiten müsste; nicht nur dass sie oder er in einem zeitaufwendigen und anspruchsvollen Verfahren die Abweichungen zwischen diesen Übereinstimmungen ermitteln müsste; die „ver–––––––— 13 14 15 16
Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 219. Hotho: Ms. S. 58. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 273f. Vgl. zur Nachschrift Carl Kromayr Hebing 2015 (Anm. 6), passim. Vgl. zum Folgenden Jaeschke 2013 (Anm. 4), S. Vff. Vgl. auch Walter Jaeschke: Probleme der Edition der Nachschriften von Hegels Vorlesungen. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5/3, 1980, S. 52f.
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Niklas Hebing
meintliche Objektivität eines solchen Totalabdrucks liefe Gefahr, zuvörderst die Individualität der Nachschreiber zu dokumentieren“17. Lediglich die im Modus der Quellenkritik ermittelte verlässlichste, präziseste und vollständigste Nachschrift eines Kollegs wird als Leittext gedruckt. Für das Kolleg 1823 ist dies Hothos Mitschrift. Aus Kromayrs Reinschrift werden ‒ wie in allen anderen Bänden der zweiten Abteilung ‒ Varianten in einem eigenen Apparat beigegeben. Dieser hält die wesentlichen Abweichungen vom Leittext bzw. über ihn hinausreichende Ergänzungen fest. Das, worauf sich keine Notiz bezieht, bleibt als Übereinstimmung bzw. Überschuss Hothos übrig. Weil das kunstphilosophische Vorlesungsmanuskript aus Hegels Hand verschollen ist und die mit ihm verbundene Möglichkeit der Rekonstruktion ausscheidet, ist dieses Verfahren das einzig legitime. Das Prinzip der Rekonstruierbarkeit des Originals durch den Textkritischen Apparat muss in dieser Vorlesungsedition somit ersetzt werden durch das „Prinzip der Rekonstruierbarkeit des Leittextes und des Nachweises alles aus den Kontrolltexten aufgenommenen Materials“18 mittels des Variantenapparats als des vom Textkritischen Apparat gesonderten Kontrollapparats. Diese Abweichung der generellen Editionsprinzipien der zweiten Abteilung der Akademieausgabe von denjenigen der ersten – denn diese kennt keinen Varianten- als Kontrollapparat und besitzt einen Textkritischen Apparat, dem eine abweichende Funktion zukommt – offenbart die Notwendigkeit, in einer auf die eigenen Voraussetzungen reflektierenden wissenschaftlichen Edition, den edierten Text und seine kritischen Instrumente von der Beschaffenheit der Textzeugen abhängig zu machen. Über diesen generellen editionstheoretischen Aspekt der Herausgabe von Vorlesungsnachschriften hinaus gibt die Nachschrift Kromayr Aufschluss über die Dignität einzelner Stellen und ganzer Textschichten im Manuskript Hotho. Daher geht sie ebenfalls in den Textkritischen Apparat ein; und so komme ich nach diesem Exkurs wieder zurück zu meiner Beispielstelle. – Wirft man nämlich einen Blick auf die analoge Stelle in der Nachschrift Kromayr, klärt sich die Frage, ob Hegel vom „Stamm“ oder vom „Zweig“ gesprochen hat. Der Vergleich fällt zugunsten der ersten Option aus. Mit Hilfe dieser Synopse erscheint es also plausibler, dass Hegel tatsächlich vom „Stamm“ gesprochen hat. So wird im Textkritischen Apparat Folgendes notiert: „Stamm über gestr. Zweig; Kr: Stamm“19. – Doch damit nicht genug – Kromayrs Aufzeichnungen klären zudem darüber auf, dass der notierte „Zweig“ nicht bloß ein Versehen Hothos war, sondern durchaus Inhalt von Hegels Vortrag. Kromayr fährt nämlich ‒ wie zu sehen ist ‒ fort: „Der Stamm z. B. ist das Geradelinige, die Zweige machen Winkel“20. Als Ergänzungen der Notizen Hothos kann man dies im Variantenapparat nachlesen. So lässt sich mit einiger Sicherheit schlussfolgern, dass Hotho in der Eile des Notierens beide Bestimmungen aus Hegels Vortrag ineinandergeschoben und die entstandene inhaltliche Unstimmigkeit korrigiert hat. –––––––— 17 18 19 20
Jaeschke 1980 (Anm. 16), S. 52f. Ebd., S. 55. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 274. Kromayr: Ms. S. 91f. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 274.
Textrevisionen in den Nachschriften zu Hegels Ästhetik-Vorlesungen
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Es wäre attraktiv, weil bequem, hieraus ein Gesetz ableiten zu können: Immer die letzte Textstufe Hothos inklusive aller Korrekturen steht in Übereinstimmung mit der Parallelstelle bei Kromayr. Doch weit gefehlt, zur Ableitung dieses Gesetzes berechtigt zu sein. Lediglich auf etwa die Hälfte der Fälle trifft es zu. An einer Stelle notiert Hotho beispielsweise, es sei die außenweltliche, endliche Mannigfaltigkeit, „welche der innern Idee, dem Gedanken gegenübersteht, und den Verdruß des Gedankens gegen sich selbst erweckt.“21 Hotho streicht irgendwann „sich selbst“ durch und schreibt über der Zeile „seine Realität“. Verglichen mit Kromayr scheint aber die ursprüngliche Formulierung authentisch zu sein, denn dort ist ebenfalls vom „Verdruß [...] des Gedankens gegen sich selbst“22 die Rede. Es kann somit festgehalten werden, dass sich nicht verallgemeinern lässt, alle Streichungen mit Ersetzung über der Zeile seien nachträglich vorgenommen worden und kontaminierten auf diese Weise den Text der Mitschrift; ebenso wenig umgekehrt, dass alle Streichungen und nachfolgenden Ersetzungen auf derselben Zeile ausschließlich dem authentischen Wort entsprechen. Denn diese Fälle stimmen nur zu etwa 65 % mit der Nachschrift Kromayr überein. Auch hierzu sei ein Beispiel gegeben: Hotho notiert Hegels Theorie der antiken Satire und schreibt, den abstrakten politischen Verhältnissen der römischen Kaiserzeit „stellen sich die Erinnerungen eines vergangenen Weltzustands entgegen“, streicht das letzte Wort durch und fährt fort mit „zur Seite“23. Diese Änderung macht einen nicht unerheblichen inhaltlichen Unterschied. Bei Kromayr findet sich aber, die Erinnerung an vergangene Zeiten stelle sich den gegenwärtigen Zuständen „gegenüber“24. Dieser Zusammenhang findet sich wiederum in der Edition im Textkritischen Apparat bzw. Variantenapparat erfasst.25 Bisher konnte also mit gutem Recht angenommen werden, wenn es sich um überlagernde Notierungen Hothos handelt, die ursprüngliche Mitschrift und eine spätere Revision derselben, dann ist vermutlich diejenige authentisch, die mit der Parallelstelle bei Kromayr übereinstimmt. Doch die Dinge verhalten sich nicht immer so eindeutig wie in den bisherigen Fällen. An einer weiteren Stelle, wo Hegel die griechischen Götter behandelt, schreibt Hotho, „daß Prometheus die künstlerische“, streicht das letzte Wort durch und fährt fort mit „Götter bestohlen habe um das Feuer“26. Bei Kromayr liest man aber, dass Prometheus die „künstlerische Weisheit gestohlen habe mit Hülfe des himmlischen Feuers“27. Beide Versionen machen Sinn und lassen sich textgenetisch rechtfertigen, drücken aber inhaltlich etwas ganz und gar Verschiedenes aus. Die Hintergründe bleiben vage Annahme: Hegel könnte komplexere Ausführungen gemacht haben als die von Hotho und Kromayr notierten Sätze für sich. Ausführungen, die beide Aspekte ineins enthielten, also sowohl die um das –––––––— 21 22 23 24 25 26 27
Hotho: Ms. S. 161f. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 400. Kromayr: Ms. S. 389f. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 400. Hotho: Ms. S. 165. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 404. Kromayr: Ms. S. 400. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 404. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 404. Hotho: Ms. S. 152. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 387. Kromayr: Ms. S. 357. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 387.
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Feuer bestohlenen Götter als auch den Aspekt der Weitergabe künstlerischer Weisheit. Jeder hätte nur einen Teil notiert ‒ authentisch wäre ihre Summe. Ein anderer Fall aus demselben thematischen Kreis kann die aufgerissene Problematik noch unterstreichen und fortsetzen. Hotho hört Hegel und schreibt: Die neuen Götter hätten Prometheus und seinen Bruder beauftragt, „das neue Menschengeschlecht mit den verschiedenen Vermögen zu versehen“28. Zu irgendeinem Zeitpunkt – vielleicht noch während des Vortrags ‒ streicht er das Wort „Menschen“ durch und ersetzt das kleine „g“ von „geschlecht“ durch ein großes. Kromayr hält demgegenüber allerdings „sterbliches Geschlecht“29 fest. Im Textkritischen Apparat wird daher festgehalten: „Geschlecht] (1) Menschengeschlecht (2) (Menschen gestr.) (G aus g)eschlecht; Kr: siehe Variante“30. Somit haben wir drei Versionen, angesichts derer unklar ist, wovon Hegel gesprochen hat – vermutlich nicht allein vom „Geschlecht“, sondern enger eingegrenzt. Ob es tatsächlich um den Menschen ging, bleibt aber offen; und diese Thematisierung des Menschen als Menschen wäre für eine Debatte über anthropologische Bestimmungen in der Ästhetik Hegels von Interesse. Die kleine Revision ist also von großer Tragweite. Die Beispiele, die angeführt wurden, um einen Eindruck von einzelfallspezifischen Problemen zu geben, die aus den Textrevisionen in Vorlesungsnachschriften entstehen, könnten um zahlreiche weitere ergänzt werden. Gleichwohl stecken sie die systematische Problematik in ihrer ganzen Breite ab. Wegen dieser Einzelfallspezifik und weil zudem viele Stellen textgenetisch uneindeutig sind, wird, wie in der gesamten zweiten Abteilung der Hegel-Akademieausgabe, der letzte Stand des Textes wiedergegeben. Alle semantisch relevanten Überarbeitungen Hothos werden jedoch im Textkritischen Apparat angegeben, und zudem – dort, wo es möglich ist – mit Verweis auf Kromayr. Denn Textrevisionen werden in Fällen, wie demjenigen des Ästhetik-Kollegs von 1823, wo sie textkritisch die Möglichkeit bereitstellen, den authentischen Vortrag annäherungsweise zu rekonstruieren, abgebildet. Dieses Prinzip führt zu einer für die Leserin und den Leser durchsichtigeren und präziseren Edition, als durch eine allgemeine Angabe im Editorischen Bericht. In der alten Edition der Hotho-Nachschrift hingegen meinte man, eine ursprüngliche authentische Entstehungsstufe ermitteln zu können.31 Ihre Formel lautet: Manuskripttext minus alle Revisionen. Es wurde allerdings übersehen, dass bei ihrer editorischen Ausführung letztlich ein fingierter, d. h. keine einheitliche Entstehungsstufe abbildender Text entstanden ist, der obendrein so unvollständig und fehlerhaft ist, dass von Herausgeberhand vielerorts wiederum korrigierend eingegriffen werden musste. Dadurch ist man das Problem nicht losgeworden, sondern hat sich neue –––––––— 28 29 30 31
Hotho: Ms. S. 154. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 389f. Kromayr: Ms. S. 362. Vgl. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 389. Hegel: GW 28,1 (Anm. 1), S. 389. Gemeint ist: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 2: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert. Hamburg 1998. Vgl. zur Editionsgeschichte und zu den Editionsprinzipien dieser Ausgabe die Einleitung und den Editorischen Bericht. Vgl. zu den Problemen dieser Ausgabe sowie zu den folgenden Ausführungen Hebing 2015 (Anm. 6), S. 144ff.
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Probleme geschaffen. – Demgegenüber gibt erst die Parallelnachschrift Kromayr an einigen Stellen ein Instrument an die Hand, mit dem die Authentizität der Revisionen überprüft werden kann. Die alte Edition der Hotho-Nachschrift kannte dieses noch nicht bzw. wollte es nicht ernst nehmen.32 Auch wenn dieses Instrument nicht immer präzise Daten ermittelt, lässt sich mit ihm annäherungsweise das Urbild – Hegels Vortrag – hinter beiden Abbildern, d. h. Hothos und Kromayrs Nachschriften, rekonstruieren. Damit ziehe ich einen Strich unter diesen Problemkomplex und komme im Folgenden zu zwei weiteren, eng miteinander verbundenen Aspekten der Textrevision, wie sie in besonderer Weise in der Edition von Hegels Ästhetik-Vorlesungen aufscheinen.
2. Glättung und Verdeckung – Zum Umgang mit Hegels Werkausgabe Die Problematik von Überarbeitung und Korrektur spitzt sich im Falle von Hothos eigener Editorentätigkeit zu. Derselbe Hotho, der Hegels Vorlesung von 1823 mitgeschrieben hat, ist derjenige von Hegels Schülern, der sogenannte Vorlesungen über die Ästhetik im Rahmen der ersten Werkausgabe Hegels einige Jahre nach dessen Tod herausgegeben hatte.33 Diese Edition hat über fast zwei Jahrhunderte hinweg die Wirkung alternativlos beherrscht; obwohl sie fraglos eine „durchaus dubiose Quelle“34 ist. Zwar hat Hotho eine gründliche und gewissenhafte Arbeit geleistet, die im Selbstanspruch fraglos im Dienste der Verbreitung und Wirkmächtigkeit der Ästhetik Hegels stand. Man darf nicht vergessen: Das Ziel der ersten Hegel-Editoren war es, der Philosophie des Lehrers den Charakter eines geschlossenen Systems zu verleihen, damit er nach seinem Tod nicht in der Bedeutungslosigkeit versinke.35 Weil seine Spätphilosophie ein System in Vorlesungen war und nur wenige Schriften von Hegel selber veröffentlicht wurden, sollte ihm mit der Werkausgabe zur Durchsetzung gegenüber anderen Philosophien und den stärker werdenden empirischen Wissenschaften verholfen werden. Doch dabei wurden Spannungen und Brüche seines Werkes geglättet und seine Entwicklungsgeschichte gänzlich verschwiegen. –––––––— 32
33 34 35
Die Herausgeberin der alten Edition der Hotho-Nachschrift vertritt die These, Hothos Aufzeichnungen seien die „einzige Quelle“ der Überlieferung des Ästhetik-Kollegs Hegels im Sommer 1823. Demgegenüber ordnet sie Kromayrs Manuskript den „sekundären Quellen“ und „Kuriosa“ zu, denn es sei „weniger nah an der hegelschen Vorlesung“ als andere Quellen. Schließlich unterstellt sie ihm, er habe sich aus mehreren „Unterlagen“ seine „eigene ‚Hegelsche‘ Ästhetik zusammengestellt“. Man habe es lediglich mit einer „Bearbeitung“ zu tun, „die die Vorlesungen von 1823 und 1826 zusammenschmilzt“. Insofern besitze diese Nachschrift keinerlei Überlieferungswert für die Vorlesungen von 1823. Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Ästhetik oder Philosophie der Kunst. Die Nachschriften und Zeugnisse zu Hegels Berliner Vorlesungen. In: Hegel-Studien 26, 1991, S. 95, 102; Gethmann-Siefert 1998 (Anm. 31), S. LXVIII, LXXVI, LXXXI, 318. – Vgl. zu den Argumenten für meine eigene Auffassung über Kromayrs Notizen, dass sie nämlich ganz im Gegenteil ein überaus wichtiges Dokument für die Auseinandersetzung mit Hegels Ästhetik-Vortrag von 1823 darstellen: Hebing 2015 (Anm. 6), S. 126ff. Gemeint ist die sogenannte Freundesvereinsausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Hrsg. von einem Verein von Freunden des Verewigten. Berlin 1832–45. Jaeschke 2003 (Anm. 4), S. 419. Vgl. Jaeschke/Bauer 2014 (Anm. 2), S. 42f.; Hebing/Jaeschke 2016 (Anm. 2).
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Heute ist der Grundanspruch von Hothos Ästhetik-Edition philologisch höchst problematisch. Er sammelte Studenten-Nachschriften aus allen vier Kollegien, in denen Hegel über diesen Teil seines Systems gelesen hatte. Redaktionell überarbeitete er die einzelnen Manuskripte bis hin zur Umformulierung. Er vermischte diese Textsorte zudem mit einer ganz anderen: den Vorlesungsmanuskripten aus Hegels eigener Hand, Texte, die ihm in den frühen 30er Jahren des 19. Jahrhunderts noch zur Verfügung standen. Man kann mit gutem Recht vermuten, dass er zusätzlich Elemente aus Buchexzerpten Hegels sowie nicht unmittelbar für die Ästhetik-Vorlesungen angelegte Aufzeichnungen hat einfließen lassen. Schließlich amalgamierte er sämtliche Quellen zum einheitlichen Text. Im Vorwort gibt er ehrlich Auskunft über seine Vorgehensweise und schreibt: „es handelte sich nicht etwa darum, ein von Hegel selber ausgearbeitetes Manuscript, oder irgend ein als treu beglaubigtes nachgeschriebenes Heft mit einigen Styl-Veränderungen abdrucken zu lassen, sondern die verschiedenartigsten oft widerstrebenden Materialien zu einem wo möglich abgerundeten Ganzen mit größter Vorsicht und Scheu der Nachbesserung zu verschmelzen“36. Er wies dabei allerdings weder seine Revisionen kritisch noch die Textgenese historisch aus. Nirgendwo lässt sich identifizieren, welcher Nachschrift welchen Kollegs er welches Element entnommen hat. Auch gibt kein Apparat Gelegenheit zur Identifikation, ob es sich um Hegel-Manuskript oder Studentennachschrift, also Aufgezeichnetes oder verschriftlichtes Gesprochenes handelt. Diese gut gemeinte, aber fragwürdige Kompilation ist immer wieder neu aufgelegt worden; bis heute druckt der SuhrkampVerlag sie ohne irgendwelche Apparate oder Erläuterungen nach, sogar in einer überarbeiteten Fassung, die gegenüber derjenigen von 1835 erhebliche Verwitterung aufweist, vor allem etliche Korruptelen im Zuge der Modernisierung von Orthographie und Interpunktion. Wird die historisch-kritische Edition der kunstphilosophischen Vorlesungen Hegels einmal abgeschlossen sein, wird auch ersichtlich werden, wie Hotho gearbeitet hat; und zwar durch eine Neuausgabe der alten Hotho-Edition aufbauend auf den Nachschriften, wie sie in den Bänden eins bis drei der historisch-kritischen Edition vorgelegt wurden. Diese Edition Hothos wird dann mit einem sehr umfangreichen quellenkritischen Belegstellenapparat ausgestattet nachweisen können, welche Textbausteine aus welcher Nachschrift welchen Kollegs stammen. Eine solche editorische Arbeit ist jüngst für Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Natur vorgelegt worden; diese wird der quellenkritischen Ästhetik-Neuedition zum Vorbild dienen.37 In dieser Weise wird offengelegt, welche Revisionen der Editor Hotho vorgenommen hat sowie auf welche der Entstehungsstufen er sich in seiner Ausgabe bezieht. Dieses Projekt hat nicht den Zweck, Hothos Text durch penible Kritik aus der HegelForschung zu verbannen – im Gegenteil. Durch die kritische Bearbeitung seiner –––––––— 36
37
Heinrich Gustav Hotho: Vorrede zur ersten Auflage. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Zehnter Band. Erste Abtheilung: Vorlesungen über die Aesthetik. Erster Theil. Hrsg. von Heinrich Gustav Hotho. 2. Aufl. Berlin 1842, S. IX. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 24,3: Vorlesungen über die Philosophie der Natur III. Sekundäre Überlieferung. Hrsg. von Niklas Hebing. Hamburg 2016.
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Ausgabe soll sie weiterhin zu gebrauchen sein. Weil sie ein – wie soeben dargestellt – editorischer Problemfall ist, mag diese Auffassung vielleicht verwundern, doch sie lässt sich mindestens durch zwei Argumente rechtfertigen: Da Hothos Edition verborgen zwischen den Elementen der Studentennachschriften zum einen noch Auszüge aus Hegels Vorlesungsmanuskripten enthält, kommt auch die Textkritik des 21. Jahrhunderts nicht umhin, ihr weiterhin einen „erhebliche[n] Quellenwert“38 zuzusprechen. Versatzstücke dieser Manuskripte Hegels, die einen Mehrwert gegenüber allen Nachschriften besessen haben müssen, weil sie Hotho sonst nicht berücksichtigt hätte, lassen sich dann durch ein Reduktionsverfahren ermitteln: Nachdem annähernd alle Elemente aus den in den drei Textbänden veröffentlichten Nachschriften innerhalb der Ausgabe Hothos identifiziert worden sind, dürften einzelne Abschnitte übrigbleiben, die nicht nachzuweisen sind. Bei ihnen könnte es sich dann um Versatzstücke aus den Manuskripten Hegels handeln.39 Sie dürfen nicht mit einem sogenannten ‚Original‘ der Vorlesungen verwechselt werden, weil sie lediglich schriftliche Vorarbeiten zum mündlichen Text mit dominantem Wert sind und zudem ganz fragmentarisch. Die Frage nach Original und Kopie ist hier also nicht zu stellen, irgendetwas Ursprüngliches nicht mehr rekonstruierbar. Gleichwohl werden auf diese Weise erstmals die aufschlussreichen Manuskriptbausteine von den Nachschriftenpassagen abgehoben und wird Hothos Text insgesamt in Entstehungsstufen differenziert. Zum anderen – und das ist das zweite Argument, warum Hothos Ausgabe auch nach Abschluss der Neuedition nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden sollte – hat diese Ausgabe die Forschung bisher in hohem Maße beeinflusst. Philosophen wie etwa Adorno, Bloch, Lukács oder auch Heidegger oder Literaturwissenschaftler wie Peter Szondi und Hans Robert Jauß haben nicht die Nachschriften Ascheberg, Kromayr oder Griesheim gelesen, sondern Hothos Edition. Ich vertrete die Auffassung, ihre individuelle Hegel-Auseinandersetzung mit allen produktiven Umdeutungen, Missverständnissen und Kritikpunkten nicht verstehen zu können, wenn man sie bloß auf der Grundlage der einzelnen Nachschriften analysieren und diskutieren würde. In der Editionswissenschaft ist es eine alte Debatte, ob eine kritische Ausgabe in ihrem Anspruch so weit gehen sollte, auch Rezeptionseffekte abzubilden. Dass es in diesem Fall geboten ist, sollte deutlich geworden sein – dennoch wird das Projekt, Hothos Edition quellenkritisch neu zu edieren, außerhalb der Akademieausgabe angesiedelt werden; sie wird also nicht in die Bandreihe gleichwertig neben den drei Textbänden und dem Band mit Editorischem Bericht und Anmerkungen eingegliedert werden. Die zukünftige Forschung zu Hegels Ästhetik wird somit auf zwei editorischen Säulen aufbauen müssen: Die verlässlicheren Studentennachschriften in den drei Textbänden der historisch-kritischen Neuedition sowie die an sich problematische, bald aber textkritisch aufgeschlüsselte Hotho-Edition. Beide Projekte der Neuedition setzen sich damit in ein Verhältnis zur Editionsgeschichte und klären Hothos Projekt –––––––— 38 39
Jaeschke 1980 (Anm. 16), S. 59. Dazu, dass sich dieses Reduktionsverfahren aber einer mindestens doppelten Schwierigkeit ausgesetzt sehen wird, vgl. Jaeschke 1980 (Anm. 16), S. 60f.
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über sich auf, anstatt es – und mit ihm die lange Wirkungsgeschichte – einfach zu übergehen. Hieraus ergibt sich bereits der letzte Aspekt.
3. Von der mikroskopischen Text- zur makroskospischen Vortragsrevision Mit der Neuedition der Ästhetik-Ausgabe Hothos wird nicht nur offengelegt werden, welche Revisionen der Editor, sondern auch welche Revisionen der Autor Hegel vorgenommen hat. Dies ist keine Besonderheit der Edition von Hegels Ästhetik, auch nicht der zweiten Abteilung der Hegel-Akademieausgabe insgesamt, sondern überhaupt jeder historisch-kritischen Edition; nämlich auf der Präsentation eines authentischen Textes in originaler historischer Gestalt aufbauend dessen werkgeschichtliche Entwicklung durch Rekonstruktion der Entstehungsstufen offenzulegen. In den drei Textbänden der neuen Edition – wenn sie einmal vollständig publiziert worden sind – finden die Leserin und der Leser die vier Vorlesungen über die Philosophie der Kunst chronologisch nach Kollegien sortiert vor, d. h. jedes Kolleg wird für sich zu betrachten sein, und zwar wie es durch mehrere Nachschriften überliefert ist: in Leittext sowie Parallelnachschriften im Variantenapparat. Erst dadurch wird sich zeigen, dass Hegel seine späte, ausgearbeitete Berliner Ästhetik, die allein durch Vorlesungen vorgelegt wurde, immer wieder aufs Neue revidiert hat. Damit verdeutlicht sich eine quasi unter der Schicht der Entstehung der einzelnen Nachschriften liegende Genese des Vortrags in vier verschiedenen Fassungen. Das zeigt sich erst beim Vergleich der Leittexte und ihrer Apparate untereinander. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und letztlich unzureichender Mittel einer analogen Edition verzichtet die Ausgabe auf eine monolithische Zusammenschau aller Kollegien. Stattdessen stellt sie diese als abgeschlossene Einzeltexte in chronologischer Abfolge nebeneinander. Das soll den Rezipientinnen und Rezipienten als Grundlage eigener entwicklungsgeschichtlicher Forschungen dienen. Die Edition aller Kollegien im textgenetischen Bezugsrahmen könnte nur von einer digitalen Ausgabe geleistet werden.
4. Zusammenfassende Bemerkungen Ziel meines Forschungsberichts war es, fokussiert durch das Oberthema ‚Textrevisionen‘ einen möglichst umfassenden Einblick in die Edition von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst zu geben. Dabei habe ich die Revision auf drei Ebenen abgehandelt: 1. 2. 3.
mikroskopisch innerhalb der Mitschrift Hothos (Teil 1), makroskopisch hinsichtlich der vier Vorlesungskollegien Hegels untereinander (Teil 3) und textkritisch, wie sich eine neue Edition ins Verhältnis zu den Revisionen der alten Editionen setzen kann (Teil 2).
Dieser Begriff von Revision besitzt eine große Extension, und bekanntermaßen schrumpft proportional zur Erweiterung der Extension seine Intention. Doch ich bin
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der Überzeugung, dass sich der Aspekt ‚Textrevision‘ fabelhaft zur Darstellungsperspektive eignet, um Quellenlage, Manuskriptbeschaffenheit und damit verbundene editorische Herausforderungen der Ästhetik-Vorlesungen Hegels benennen zu können. Umgekehrt eignet sich die editorische Neubearbeitung dieser Vorlesungen hervorragend als exemplarischer Gegenstand, um den Aspekt ‚Revision‘ bezogen auf den texttypologischen Sonderfall ‚Vorlesungsnachschrift‘ editionswissenschaftlich zu diskutieren.
Register (zusammengestellt von Astrid Böhm)
Personenregister Achmatowa, Anna 162 Adelung, Johann Christoph 63, 68f., 71 Adorno, Theodor W. 171, 213, 347 Albert von Sachsen 325f., 332, 335f. Alers, Paul 253 Allert de Lange (Verleger) 232, 234f. Anders, Günther (Briefpartner L. v. Fickers) 214 André, Johann Anton 308 Andreas de Weitra 325 Andreas Kurzmann 22 Appet, Jakob 3f. Aristoteles 331–333, 335 Arx, Cäsar von (Schriftsteller und Briefpartner Ö. v. Horváths) 232 Avenarius, Eduard (Buchhändler und Schwager R. Wagners) 315 Bab, Julius (Theaterkritiker und Briefpartner Ö. v. Horváths) 232 Bachmann, Ingeborg 155f., 161–168 Baumann, Hans 162 Benjamin, Walter 171 Berchtold zu Sonnenburg, Maria Anna von 307–309 Bernhard, Thomas 155 Beyer, Marcel 135–138, 140–147 Biller, Maxim 171 Bitzius, Carl (Mentor J. Gotthelfs) 223 Bitzius, Henriette (Ehefrau J. Gotthelfs) 223
Bloch, Ernst 347 Bodmer, Johann Jacob 61 Boehlich, Walter (Verlagslektor Suhrkamp) 163 Boie, Heinrich Christian 88f. Brandes, Georg 199–201, 205f. Brasch, Thomas 155–161, 168 Brecht, Bertolt 85 Bruckner, Ferdinand 236f. Büchner, Georg 159 Buridan, Johannes 335 Busch, Lydia (Schauspielerin) 234f. Celan, Paul 162 Cherubini, Luigi 308 Chodowiecki, Daniel Nikolaus (Kupferstecher/Illustrator) 174f. Cohn-Bendit, Daniel 171f. Cramer, Gabriel (Verleger Voltaires) 173 Csokor, Franz Theodor 229, 231f., 236–240 Dauthendey, Max 139 Diebolt von Hanowe 62 Döblin, Alfred 142 Dos Passos, John 142 Dürrenmatt, Friedrich 85f. Eberhard, Johann August (Rezensent von J. G. Hamann) 74 Ebner, Ferdinand (Philosoph) 210 Meister Eckhart 333 Engelhardt, Christian Moritz (Schreiber der Handschrift Berlin, Staatsbibl., mgq 921/1) 63
352 Ernst, Max 142 Feuerstein, Johann Heinrich 310, 312 Ficker, Ludwig von 209–218, 220 Fioravanti, Valentino 304 Freidank 1, 3f., 12, 16 Frisch, Max 161 Fritzsch, Ernst Wilhelm (Verleger) 318 Fulbert (Kanoniker 11.–12. Jh.) 80 Fux, Johann Joseph 243–256 Gaillard, Karl 317 Geller, Oskar (Journalist) 202, 204f. Goethe, Johann Wolfgang von 85– 87, 89, 92, 172, 175–181, 241, 247, 310, 316 Gotthelf, Jeremias 221–227 Gottsched, Johann Christoph 63, 68f., 71 Gronle, Wilhelm (Prokurist UllsteinVerlag) 233 Gründgens, Gustaf (Schauspieler/ Intendant) 170–172 Haderlap, Maja (Dramaturgin) 128, 132f. Hagen, Friedrich Heinrich von der 63–71 Hagenbach, Karl Rudolf (Briefpartner J. Gotthelfs) 223 Hamann, Johann Georg 73–84 Handke, Peter 143, 155f. Hatvany, Jolán von (Mäzen und Briefpartner Horváths) 232, 235 Hatvany, Lajos von (Mäzen und Briefpartner Horváths) 232, 235 Haydn, Joseph 308 Heckenast, Gustav (Verleger) 96, 99, 102 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 337–349 Heidegger, Martin 213, 347
Personenregister
Heinrich Totting von Oyta 325f., 328–335 Héloise (Ehefrau von Peter Abaelard) 80 Herder, Johann Gottfried 73, 177– 179 Herrand von Wildon 22f. Himburg, Christian Friedrich (Verleger/Drucker) 173–177, 181 Höllerer, Walter (Hrsg. Transit) 161 Holtzmann, Adolf (Schreiber der Handschrift Tübingen, Universitätsbibl., Md 1064) 63–65, 67 Horaz 83 Horkheimer, Max 171 Horváth, Ödön von 107f., 110–117, 119–122, 229–241 Hotho, Heinrich Gustav 340–348 Humes, David 336f. Ihering, Herbert (Briefpartner Ö. v. Horváths) 232f. Jacobi, Friedrich Heinrich 73–76, 82f. Jähndl, Anton 309f., 312 Jahn, Otto 311 Jauß, Hans Robert 347 Johannes Duns Scotus OFM 325 Johnson, Uwe 164 Jundt, Johann Jacob (Schreiber der Handschrift Berlin, Staatsbibl., mgq 768/mgq 781/1) 63–68 Juon, Paul 265–269 Kandler, Franz Sales 308 Kasper von der Roen 62, 68 Kling, Thomas 135–140, 142f., 145f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 259 Kofler, Werner 125f., 128–133 Konrad von Megenberg 22f. Konrad von Würzburg 33–40, 42, 45f. Kromayr, Carl 341–345, 347
Personenregister
Krünitz, Johann Georg 174 Kuh, Anton 149–154 Landauer, Walter (Lektor und Briefpartner Ö. v. Horváths) 232, 234f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 83 Lenz, Jakob Michael Reinhold 89 Lessing, Gotthold Ephraim 182 Lichtenthal, Pietro 308 Loos, Lina (Schauspielerin und Briefpartnerin Ö. v. Horváths) 236 Lukács, Georg 347 Lust, Ulli (Illustratorin) 136 Maffei, Francesca Festa (Sängerin) 284 Mahler-Werfel, Alma (Briefpartnerin Ö. v. Horváths) 232 Malcolmi, Amalie (Schauspielerin) 87 Mann, Klaus 169, 230 Mann, Thomas 144 Manuel, Carl (Biograph J. Gotthelfs) 223 Marton, Georg (Verleger) 232f. Matthias Flacius Illyricus 79 Mendelssohn, Moses 83 Mendelssohn Bartholdy, Felix 310 Mone, Franz Joseph 65, 67 Moritz, Karl Philipp 182 Morlacchi, Francesco 283–285, 288f., 291f. Mosel, Ignaz Franz von 310f. Mozart, Constanze 307–309, 311f. Mozart, Leopold 310 Mozart, Wolfgang Amadeus 307– 313 Nicolai, Friedrich (Hrsg. der Berliner Rezensionszeitschrift Allgemeine deutsche Bibliothek) 73 Niemetschek, Franz Xaver 309, 311 Nikolaus Oresme 331
353 Nissen, Georg Nikolaus 307–309, 311–313 Oberlin, Jeremias Jacob 66f. Opitz, Christian Wilhelm (Leipziger Theatermanager) 86 Pacini, Giovanni 293, 300, 304–306 Pauli, Joachim (Verleger) 174 Peluti, Francesco (Briefpartner F. Morlacchis) 283 Peter Abaelard (Philosoph 11.– 12. Jh.) 80 Peymann, Claus (Theaterregisseur/ Intendant) 87 Piper, Klaus (Verleger) 162 Pollak, Frieda (Sekretärin A. Schnitzlers) 187 Polnauer, Josef (Musikwissenschaftler, befreundet mit A. Webern) 272 Prunetti, Michelangelo 304 Prüss, Johann (Erstdruck Straßburger Heldenbuch, 1497) 65 Regenbogen 47–49, 53, 56f., 59 Reithard, Johann Jakob (Briefpartner J. Gotthelfs) 223 Riehl, Wilhelm Heinrich (Journalist/ Kulturhistoriker) 318–320 Romani, Felice 295 Rosenberg, Alfred (Redakteur des Völkischen Beobachters) 214f. Rossi, Gaetano 283–285, 298 Rossini, Gioachino 304, 308 Roth, Franz 63, 65 Roth, Josef 239 Rudolf von Stadeck 22 Sander, Bruno (Geologe und Briefpartner L. v. Fickers) 218 Sanudo, Pietro Aurelio 329 Sauerländer, Remigius (Verleger) 223 Scheffner, Johann Georg 73
354 Schieferlein, Otto Ernst Gregorius (Sänger und Kopist G. Ph. Telemanns) 263f. Schiller, Friedrich 85–87 Schlichtegroll, Friedrich 309, 311 Schlier, Paula 214–217 Schlösser, Rainer (Reichsdramaturg) 230, 240 Schmidt, Carl (Schreiber der Handschrift Heidelberg, Universitätsbibl., Hs. 43) 63 Schnitzler, Arthur 185–193, 197 Schönberg, Arnold 271–276 Schondoch 3, 7, 12, 16 Schröder, Friedrich Ludwig (Theaterprinzipal) 91f. Schwickert, Engelhard Benjamin (Verleger/Drucker) 174 Seyr, Franz (Hrsg. der Werke und Briefe von Ferdinand Ebner) 210 Spangenberg, Berthold (Verleger) 171 Speidel, Albert von (Generalintendant des Münchner Hoftheaters) 204f. Sprickmann, Anton Matthias 85, 87– 93 Stadler, Maximilian (Abbé) 308 Steinrück, Albert (Schauspieler) 204 Stephanie, Gottlieb d. J. (Dramendichter/Zensor) 88f., 92 Stifter, Adalbert 95–105 Storm, Theodor 98 Suhrkamp, Peter (Verleger) 161 Szondi, Peter 347 Telemann, Georg Michael (Kopist und Enkel G. Ph. Telemanns) 260 Telemann, Georg Philipp 257–264
Personenregister
Thalbach, Katharina (Regisseurin und Partnerin T. Braschs) 157 Themo Judäus 335 Thüring von Ringoltingen 34 Tieck, Ludwig 63, 71 Traßler, Johann Georg (Verleger/Drucker) 174 Uhlig, Theodor (Musiker und Freund R. Wagners) 321–323 Ulybyšev, Aleksandr 311 Ullstein (Verleger) 232–234 Unseld, Siegfried (Verlagsmitarbeiter Suhrkamp) 155–168 Velluti, Giovanni Battista (Sänger) 284, 287f., 292 Voltaire 173 Wagner, Cosima (Ehefrau R. Wagners) 315f., 319, 321 Wagner, Richard 315–323 Walser, Martin 163–166 Walther, Johann Gottfried 246, 254 Weber, Carl Maria von 318 Weber, Friedrich Dionys 308 Webern, Anton 271–281 Wedekind, Frank 87, 199–205, 207f. Weiß, Ernst (Briefpartner Ö. v. Horváths) 232 Weiss, Rainer (Verlagsmitarbeiter Suhrkamp) 158–161 Werfel, Franz 239 Wieland, Christoph Martin 176f., 179, 247, 316 Wincklär, Heinrich (Schreiber der Handschrift Berlin, Staatsbibl., mgf 1064) 34 Zuckmayer, Alice (Briefpartnerin Ö. v. Horváths) 232 Zuckmayer, Carl 239
Werkregister A Treatise of Human Nature ‹David Hume› 326 An Abstract of A Treatise of Human Nature ‹David Hume› 327f. Adelaide e Comingio ‹Giovanni Pacini› 306 Admonter Bartholomäus 23 Alexius F (Verslegende) 3, 6–9 Alphabet Oberlippe ‹Marcel Beyer› 142 Am Schreibtisch ‹Werner Kofler› 125, 128f. Anton Reiser ‹Karl Philipp Moritz› 182 Berlin Alexanderplatz ‹Alfred Döblin› 142 Betrachtung der neunten Stunde ‹Georg Philipp Telemann› 260 Bianca a Falliero ‹Gioachino Rossini› 304 Bilder, Beschreibung, Irrtum ‹Werner Kofler› 128f. Biographie W. A. Mozart’s ‹Georg Nikolaus Nissen› 307–313 Bläserquintett op. 84 ‹Paul Juon› 265–267, 269 Börne, der Zeitgenosse ‹Anton Kuh› 153 Bunte Steine ‹Adalbert Stifter› 96 Canterbury Tales 333 Catalogus testium veritatis qui ante nostram aetatem reclamant Papae ‹Matthias Flacius Illyricus› 79 Concerto grosso, per il Sign.r Pisendel ‹Georg Philipp Telemann› 260 Dantons Tod ‹Georg Büchner› 159 Das Ende zu Paris ‹Richard Wagner› 317f.
Das Kunstwerk der Zukunft ‹Richard Wagner› 320, 322 Das Rheinland stirbt zuletzt ‹Marcel Beyer› 140 De arte poetica ‹Horaz› 83 De locis dialecticis 334 Der Bussard 2–4, 6, 14 Der ewige Spießer ‹Ödön von Horváth› 110 Der Hofmeister ‹Jakob Michael Reinhold Lenz› 89 Der Jasager ‹Bertolt Brecht› 85 Der junge Medardus ‹Arthur Schnitzler› 185 Der jüngste Tag ‹Ödön von Horváth› 231 Der Künstler und die Öffentlichkeit / Caprices esthétiques. Extraits du journal d’un musicien défunt. Le Musicien et la Publicité ‹Richard Wagner› 317 Der Messias ‹Friedrich Gottlieb Klopstock› 259 Der Messias (TVWV 6:4) ‹Georg Philipp Telemann› 259 Der Nachsommer ‹Adalbert Stifter› 95f., 99f., 103–105 Der Neinsager ‹Bertolt Brecht› 85 Der Ring des Nibelungen ‹Richard Wagner› 322 Der Schmuck ‹A. M. Sprickmann› 85, 87–93 Der Schüler zu Paris A 1–4, 6, 11f., 16 Der Tod Jesu (TVWV 5:6) ‹Georg Philipp Telemann› 259f., 262 Deutsche Sphaera ‹Konrad von Megenberg› 22f. Dichtung und Wahrheit ‹Johann Wolfgang von Goethe› 176
356 Die hamburgischen Glockenspiele (TWV 55:F11) ‹Georg Philipp Telemann› 263 Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem (TWV 1:797) ‹Georg Philipp Telemann› 260 Die Jungfrau von Orleans ‹Friedrich Schiller› 85–87, 90 Die Katze ‹Herrand von Wildon› 22 Die Königin von Frankreich ‹Schondoch› 3, 7, 12, 16 Die Kunst und die Revolution ‹Richard Wagner› 322 Die Mädchenhändler ‹Ödön von Horváth› 107f. Die Mappe meines Urgroßvaters ‹Adalbert Stifter› 100 Die Nachtigall A 1, 3f., 11 Die Schönheit aus der Schellingstrasse ‹Ödön von Horváth› 107f., 110f. Die Schönheit von Fulda ‹Ödön von Horváth› 107 Don Juan kommt aus dem Krieg ‹Ödön von Horváth› 231 Du, o schönes Weltgebäude (TVWV 1:394) ‹Georg Philipp Telemann› 263 Eckenlied (Dietrichepik) 63f., 68 Ein deutscher Musiker in Paris. Novellen und Aufsätze 1840 und 1841 ‹Richard Wagner› 317 Ein Fräulein wird verkauft ‹Ödön von Horváth› 107 Ein Kind unserer Zeit ‹Ödön von Horváth› 231f. Eine Mittheilung an meine Freunde ‹Richard Wagner› 322 Eine Pilgerfahrt zu Beethoven ‹Richard Wagner› 317 Elisabeth, die Schönheit von Thüringen ‹Ödön von Horváth› 107
Werkregister
Emilia Galotti ‹Gotthold Ephraim Lessing› 182 Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse ‹Georg Wilhelm Friedrich Hegel› 338 Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen ‹Richard Wagner› 320f., 323 Erhöre mich, wenn ich rufe (TVWV 1:459) ‹Georg Philipp Telemann› 260 Erwin und Elmire ‹Johann Wolfgang von Goethe› 89 Esra ‹Maxim Biller› 171 Essercizii musici ‹Georg Philipp Telemann› 264 Figaro läßt sich scheiden ‹Ödön von Horváth› 230f. Flavius Bertaridus, König der Longobarden (TWV 21:27) ‹Georg Philipp Telemann› 261 Fliegender Brief ‹Johann Georg Hamann› 73–79, 81, 84 Flucht in die Finsternis ‹Arthur Schnitzler› 185, 193 Flughunde ‹Marcel Beyer› 136 Fräulein Else ‹Arthur Schnitzler› 187, 190, 196 Galilei ‹Bertolt Brecht› 85 Gekreuzte Regenbogen ‹Anna Achmatowa› 162 Gelobet sei der Herr (TVWV 1:602/12169) ‹Georg Philipp Telemann› 263 Gesammelte Schriften und Dichtungen ‹Richard Wagner› 316, 318, 320, 322f. Geschichten aus dem Wiener Wald ‹Ödön von Horváth› 107–111, 113, 119 Gier ‹Ingeborg Bachmann› 163
Werkregister
Glaube Liebe Hoffnung ‹Ödön von Horváth› 108, 233 Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten ‹Johann Georg Hamann› 73–75, 79f. Götz von Berlichingen ‹Johann Wolfgang von Goethe› 175f. Gradus ad parnassum ‹Johann Joseph Fux› 243, 253 Gradus ad parnassum ‹Paul Alers› 253 Graphit ‹Marcel Beyer› 136f., 140, 142 Grundlagen der musikalischen Komposition/Fundamentals of Musical Composition ‹Arnold Schönberg› 273 Herzog Ernst 63, 68f. Il Barone di Dolsheim ‹Giovanni Pacini› 293, 295, 297, 302, 304– 306 Jesus, meine Zuversicht (TWV 1:984) ‹Georg Philipp Telemann› 263 Jugend ohne Gott ‹Ödön von Horváth› 230–232, 239, 241 Jüngeres Hildebrandslied (Dietrichepik) 63, 68 Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 ‹Arnold Schönberg› 272 Kasimir und Karoline ‹Ödön von Horváth› 108 Klavierquintett (M 118) ‹Anton Webern› 273f. Klavierstück (M 34) ‹Anton Webern› 274 Klavierstück (M 45) ‹Anton Webern› 273 La contessa di Fersen ‹Valentino Fioravanti und Michelangelo Prunetti› 304f. La femme 100 têtes ‹Max Ernst› 142
357 Langsamer Satz für Streichquartett (M 78), 1905 ‹Anton Webern› 271, 276 Laurin (Dietrichepik) 61, 63, 65f., 68, 71 Lebensbeschreibung des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart ‹Franz Xaver Niemetschek› 309 Leiden und Freuden eines Schulmeisters ‹Jeremias Gotthelf› 221, 225, 227 Lenz ‹Georg Büchner› 159 Leonce und Lena ‹Georg Büchner› 159 Liebelei ‹Arthur Schnitzler› 185 Liebeswerbung 1, 3f., 12 Logic ‹Albert von Sachsen› 326, 328–335 Lohengrin ‹Richard Wagner› 322 Mädchenhandel. Eine internationale Gefahr (Film) 108 Mädchenmörder Brunke ‹Thomas Brasch› 156–161 Malina ‹Ingeborg Bachmann› 163– 168 Manhattan Mundraum ‹Thomas Kling› 136f., 139f., 144f. Manhattan Transfer ‹John Dos Passos› 142 Meerwunder 63, 68 Mein Leben ‹Richard Wagner› 316 Melusine ‹Thüring von Ringoltingen› 34 Mephisto ‹Klaus Mann› 169 Meteorologica ‹Aristoteles› 335 Morgenstunden ‹Moses Mendelssohn› 83 morsch ‹Thomas Kling› 139 Museumsalmanach für das Jahr 1770 173
358 Neues Novellenbuch ‹Wilhelm Heinrich Riehl› 318 Oekonomische Encyklopädie ‹Johann Georg Krünitz› 173 Oper und Drama ‹Richard Wagner› 320–322 Opus tripartitum ‹Meister Eckhart› 333 Ortnit (Dietrichepik) 63, 65–68, 71 Partonopier und Meliur ‹Konrad von Würzburg› 33f., 38–42, 44–46 Passacaglia op. 1 ‹Anton Webern› 273 Petras Aufzeichnungen oder das Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit ‹Paula Schlier› 214f. Pfaffe Amis ‹Der Stricker› 63, 66 Physiognomik ‹Anton Kuh› 153f. Praecepta der Musicalischen Composition ‹Johann Gottfried Walther› 246 Quaestiones circa Logicam ‹Albert von Sachsen› 330, 335 Quaestiones Praedicamentorum ‹Heinrich Totting von Oyta› 336 Questions sur l’Encyclopédie ‹Voltaire› 173 Regb/4/500 ‹Regenbogen› 53f., 56, 59 Regb/4/548 ‹Regenbogen› 48f., 57, 59 Revolte auf der Côte 3018 ‹Ödön von Horváth› 233 Ritter unter dem Zuber ‹Jakob Appet› 3f., 13 Rosengarten (Dietrichepik) 61, 63, 68, 71 Rund um den Kongreß ‹Ödön von Horváth› 107
Werkregister
Sage mir an, du, den meine Seele liebt (TVWV 1:1231) ‹Georg Philipp Telemann› 258 Salman und Morolf 65 Salomon und Markolf (Spruchgedicht) 65 Sechs Cantaten nach verschiedenen Dichtungen ‹Georg Philipp Telemann› 264 Sechsunddreißig Stunden ‹Ödön von Horváth› 113 Seckauer Margaretenlegende 19, 25–29, 32 Seckauer Monatsregeln 22f. Sehet nun zu, wie ihr fürsichtiglich wandelt (TVWV 1:1262) ‹Georg Philipp Telemann› 263 Sigenot (Dietrichepik) 61, 63f., 66, 68, 71 Simultan ‹Ingeborg Bachmann› 163 Sokratische Denkwürdigkeiten ‹Johann Georg Hamann› 74f. Soliloquium Mariae cum Jesu ‹Andreas Kurzmann› 22 Sonatenrondos (M 114) ‹Anton Webern› 275, 277f., 280f. Sophismata et Insolubilia et Obligationes ‹Albert von Sachsen› 330–333 Spiel im Morgengrauen ‹Arthur Schnitzler› 185 Sprachspeicher ‹Thomas Kling› 136 Streichquartett (M 121) ‹Anton Webern› 273 Tanzcafé Treblinka ‹Werner Kofler› 125–134 Tebaldo e Isolina ‹Francesco Morlacchi, Libretto: Gaetano Rossi› 283f., 287f., 292 Todesarten ‹Ingeborg Bachmann› 162f. Topik ‹Aristoteles› 334
Werkregister
Transit (Lyrikanthologie, Suhrkamp 1956) 161 Traumnovelle ‹Arthur Schnitzler› 185 Trojanerkrieg ‹Konrad von Würzburg› 34f. Über deutsches Musikwesen ‹Richard Wagner› 318 Violinkonzert B-Dur (TWV 51:B1) ‹Georg Philipp Telemann› 261 Virginal (Dietrichepik) 61–63, 65, 68–72 Von eime trunken buoben (= Des Buben Paternoster) 3f. Von Kongress zu Kongress ‹Ödön von Horváth› 108 Vorauer Novelle 22 Vorlesungen über die Philosophie der Kunst ‹Georg Wilhelm Friedrich Hegel› 337, 348
359 Vorlesungen über die Philosophie der Natur ‹Georg Wilhelm Friedrich Hegel› 346 Wer sich rächet (TVWV 1:1600) ‹Georg Philipp Telemann› 261 Werther ‹Johann Wolfgang von Goethe› 173, 176–182 Witiko ‹Adalbert Stifter› 96 Wolfdietrich (Dietrichepik) 63, 66, 68, 71 Wunderer (Dietrichepik) 63, 68 XX ‹Marcel Beyer› 138 Zelmira ‹Gioachino Rossini› 304 Zeuge einer Zeit ‹Franz Theodor Csokor› 231, 236f. Zwei Epochen aus dem Leben eines deutschen Musikers ‹Richard Wagner› 318 Zwei Stücke für Cello und Klavier (M 1 + M 2), 1899 ‹Anton Webern› 271
Quellenregister ‚Abgelegte Blätter‘ zum Nachsommer ‹Adalbert Stifter› 95f., 100, 103 ‚Anmerkungen‘ zum Nachsommer ‹Adalbert Stifter› 95f., 99, 102– 105 Allgemeine deutsche Bibliothek (Rezensionszeitschrift) 74, 80 Basel, Universitätsbibl., Cod. O IV 28 (b) 53, 55 Bayreuth, Nationalarchiv und Forschungsstätte der RichardWagner-Stiftung Bayreuth, BIIb10 315 Berlin, Bundesarchiv, R9361-V-6585 240 Berlin, Staatsbibl., mgf 1064 34–41 Berlin, Staatsbibl., mgf 845/3 63 Berlin, Staatsbibl., mgq 766, mgq 767 63, 68 Berlin, Staatsbibl., mgq 768, mgq 781/1 63, 65f. Berlin, Staatsbibl., mgq 921/1 63 Berlin, Staatsbibl., mgq 1, mgq 2 63 Berlin, Staatsbibl., Mus. Ms. 21733/12 263 Berlin, Staatsbibl., Mus. Ms. Autogr. Telemann G. P. 106 261 Berlin, Staatsbibl., Mus. Ms. Autogr. Telemann, G. P. 128 163 Berlin, Staatsbibl., Mus. Ms. 14782/12 289 Berlin, Staatsbibl., Nachl. Tieck 7 Mp 10/Nachl. Tieck 13. Fasz. 10 63, 71 Berliner Börsen-Courier 52 (1920), Nr. 147 151 Bern, Burgerbibliothek, N Jeremias Gotthelf 1a 221–223, 227
Bologna, Museo Internazionale e Biblioteca della Musica, I-Bc, UU. 16/1-2 284 Bremen, Staats- und Universitätsbibl., msb 0042-02 1–17 Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Hs. Ross. 658 331, 334 Das neue Tagebuch, Paris, 6 (1938), H. 24 230 Der Brenner (Kunst- und Kulturzeitschrift) 209, 214f. Der Morgen. Wiener Montagblatt 9 (1918), Nr. 16, 17 151 Der Morgen. Wiener Montagblatt 10 (1919), Nr. 39, 40 149 Der Schmuck [Bühnenmanuskripte: Hamburg] (S) 88, 90–92 Der Schmuck [Bühnenmanuskripte: Wien] (W1+W2) 88, 90f. Der Schmuck [Erstdruck: Wien 1779] (D1) 87f., 90–92 Der Schmuck [Münster 1780] (D2) 87f., 91 Die neue Weltbühne 32 (1936), Nr. 10 152 Die Stunde 2 (1924), Nr. 317 152 Dresden, SLUB, Mscr. M 201 61– 65, 68, 70, 72 Dresden, SLUB, Mscr. M 202 63, 68 Dresden, SLUB, Mus. 2392-N-32 263 Dresden, SLUB, Mus. 2392-O-38 261 Dresden, SLUB, Mus. 4657-F-508 + Mus. 4657-F-508a 289 Erfurt, Universitätsbibl., Cod. Ampl. 4° 242 328f.
Quellenregister
Forschungsinstitut Brenner-Archiv d. Univ. Innsbruck, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 60/70. [Ludwig von Ficker an Alfred Rosenberg, 02.06.1926. Konzeptbogen (K), Typoskripte (E1, E2)] 214f., 218 Forschungsinstitut Brenner-Archiv d. Univ. Innsbruck, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 59/84–59/88. [Ludwig von Ficker an Bruno Sander] 218 Forschungsinstitut Brenner-Archiv d. Univ. Innsbruck, Nachlass Paula Schlier, Sign. 117-008-004-038. [Ludwig von Ficker an Paula Schlier, 28.04.1927] 216 Forschungsinstitut Brenner-Archiv d. Univ. Innsbruck, Nachlass Paula Schlier, Sign. 117-008-015-012 [Ludwig von Ficker an Paula Schlier, 17.08.1941] 217 Forschungsinstitut Brenner-Archiv d. Univ. Innsbruck, Nachlass Paula Schlier, Sign. 117-008-015-014 [Ludwig von Ficker an Paula Schlier, 31.08.1941] 217 Frankfurt am Main, Universitätsbibl. Johann Christian Senckenberg, Ms. Ff. Mus. 1311 258 Frankfurt am Main, Universitätsbibl. Johann Christian Senckenberg, Ms. Ff. Mus. 1325 263 Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand ‹Johann Wolfgang von Goethe› 316 Graz, Universitätsbibl., Ms. 1609 23 Graz, Universitätsbibl., Ms. 781 19, 24f., 28, 30 Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 324 70 Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 680 (p) 48–52, 55 Heidelberg, Universitätsbibl., Hs. 43 63
361 Horváth, Ödön von: ‚Konzeptionen‘ und ‚Vorarbeiten‘ K1 107–113, 115 K2 107, 110f., 113, K3 107, 110–113, 115–117 K4 107, 109–118 K5 107, 109–111, 116, 118 VA1 + VA2 107 J. J. Fux – Alma redemptoris (D-Dl Mus. 2130-E-1) (K 187) 245 J. J. Fux – Ave Regina (I-Baf MSG IFUX-MUS. 1) (K 221) 245 J. J. Fux – Completorium (1717) (AWn Mus. Hs. 16428) (K 127) 245, 247f., 250–252 J. J. Fux – Fünf Mysteria (A-Wn Mus. Hs. 16756) (K 289) 245 J. J. Fux – Graduale (A-Wn Mus. Hs. 15825) (K 142) 245 J. J. Fux – Libera (D-B Mus. Ms. Autogr. Fux, J. J. 1) (K 54) 245 J. J. Fux – Missa brevis solennitatis (A-Wn Mus. Hs. 19193) (K 5) 245, 247–251, 255 J. J. Fux – Missa C-Dur (A-Wn Mus. Hs. 16118), Stimmen, Teilautograph (K 47) 245, 248 J. J. Fux – Missa corporis Christi (1713) (F-Pn Res. F. 1058, Ms. 1867, 80057) (K 10) 245 J. J. Fux – Missa Joannis Nepomucensis (A-Wgm Musikautographe Johann Joseph Fux 2, I 12023) (K 34a) 245, 247–250, 253, 255 J. J. Fux – Missa S. Joannis (a cappella) (F-Pn MS 1867) (K 34) 245f. J. J. Fux – Missa S. Trinitatis und Sonata (A-Wm B XII 599), Reinschrift (E 113+E 68) 245 J. J. Fux – Te Deum (H-Bn Ms. Mus. 2776) (E 37) 245
362 Lausanne, Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne, Nachlass Paul Juon, FPJ 41a-c 265 Leipzig, Sächsisches Staatsarchiv (DLEsta),Verlag Breitkopf & Härtel, Leipzig Nr. 117 310 Leipzig, Universitätsbibl., Ms 1367 330 Logica Alberti [Frühdruck von Pietro Aurelio Sanudo 1522] 329 Moskau, Russisches Archiv der alten Akten, Fonds 181, Nr. 1354, Opis’ 15 6f., 9 Moskau, Russisches Archiv der alten Akten, Fonds 181, Nr. 1405, Opis’ 16 14f. München, Staatsbibl., Cgm 351 53, 55 München, Staatsbibl., Cgm 4997 48– 56, 59f. Münchener Post 215 Neues Wiener Journal 35 (1927), Nr. 12.000 152 Ostiglia, G. Greggiati Library, Mss. Mus. B 92/1-2 288 Paris, Bibliothèque nationale de France, Fonds lat. 14715 330 Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. 386 (Partonopeu P) 38 Prag, Archiv der Prager Burg [früher Bibl. des Metropolitankapitels], Prager Logik des Albert von Sachsen 334f. Prager Tagblatt 42 (1917), Nr. 156 + 159 151 Prager Tagblatt 46 (1921), Nr. 266 + 267 151 Prager Tagblatt 56 (1931), Nr. 193 152
Quellenregister
Robert Musil-Institut/Kärntner Literaturarchiv, Bestand Haderlap II [= Kofler (II)] – 1, Sign. 53; Bestand Haderlap II [= Kofler (II)] – 2, Sign. 53; Bestand Kofler 125/W 24–27, 125/Bestandserweiterung 128 Weitere Stücke aus diesem Bestand: P 43 132, P 51 132f., P 53 133, T 28 128–130, T 45 130–132 Salzburg, Stiftung Mozarteum, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), DocNB 1–4 309 Salzburg, Stiftung Mozarteum, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), DocNC 26 309 Salzburg, Stiftung Mozarteum, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), DocND 2 309 Salzburg, Stiftung Mozarteum, Bibliotheca Mozartiana (A-Sm), DocND 3 309 Straßburg, Seminarbibl., Heldenbuch (ohne Sign.) [verbrannt] 61–68, 72 Straßburg, Stadtbibl., Cod. B 81 [verbrannt] 62 Straßburger Heldenbuch [Erstdruck: Straßburg 1497, Johann Prüss] 62, 65 Stuttgart, Württembergische Landesbibl., Cod. HB X 3 328f. Tübingen, Universitätsbibl., Md 1064 63 Völkischer Beobachter 214f., 218 Wien, ÖNB, Cod. 1453 325 Wien, ÖNB, Cod. 15478 70 Wien, Wienbibl. im Rathaus, Sign. ZPH 414/3 Teilnachlass Csokor 236, 238 Zürich, Zentralbibl., Ms. C 184, Nr. XXVI 34–40 Zürich, Zentralbibl., Ms. C 184, Nr. XXVII 34–40