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German Pages 475 [476] Year 2002
B E I H E F T E
ZU
editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER
B a n d 18
Edition und Übersetzung Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, 8. bis 11. März 2000
Herausgegeben von Bodo Plachta und Winfried Woesler
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Edition und Übersetzung : zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers / hrsg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler. - Tübingen : Niemeyer, 2002 (Beihefte zu Editio ; Bd. 18) ISBN 3-484-29518-X
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorwort
1
Grundsatzfragen Horst Turk Edition und Übersetzung. In kulturenvergleichender und kontaktgeschichtlicher Sicht
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Jean-Pierre Lefebvre Ist (überhaupt) eine französische Celan-Ausgabe möglich?
21
Winfried Woesler Zur wissenschaftlichen Edition von Übersetzungen
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Der Autor als Übersetzer Herma Kliege-Biller „und ez in tiusch getihte bringe von latine": der Silvester Konrads von Würzburg und seine Vorlage in den Actus Silvestri. Möglichkeiten und Grenzen der Rekonstruktion
45
Monika Unzeitig tihten - diuten - tiutschen. Autor und Translator. Textinterne Aussagen zu Autorschaft und Translation in der mittelhochdeutschen Epik
55
Ferdinand van Ingen Edition und Übersetzung. Eine Problemskizze anhand der deutschen Barockliteratur
71
Hartmut Lau fhütte Sollen historische Übersetzungen ediert werden - und wenn ja: wie?
81
Günter Arnold „Und dennoch verschmäht mich das Rußische Mädchen" zur Edition von Herders Übersetzungen altnordischer Lieder
93
Edith Zehm „das Werk zu übersetzen und immer mit seinem Texte zu controvertieren": Goethes Übersetzungs- und Kommentierungstechnik im kritischen Dialog mit Diderots Essais sur la Peinture
105
VI
Inhalt
Annette Seil Perspektiven der Übersetzung in Hegels Gesammelten Werken
119
Annemarie Kets-Vree Übersetzung, Varianten und Poetologie. Niederländische Byron-Übersetzungen im 19. Jahrhundert
133
Andreas Thomasberger Vielfarbige Aneignung Hofmannsthals lyrische Übersetzungen aus dem Englischen
141
Stephan Kammer „sorgsam übersetzt"? Robert Walser als „Verdeutscher von Verlaine"
149
Dirk Van Hülle Die Schaffenskraft des Übersetzens: transtextuelle Operationen in Thomas Manns Doktor Faustus
165
Rolf Bücher Übersetzung und Nachdichtung in textgenetischer Darstellung?
177
Sigurd Paul Scheichl Übersetzungen als Fingerübungen Und wie man sie edieren sollte. Am Beispiel norbert c. kasers
195
Der übersetzte Autor Rijcklof Hofman Interventions from Vernacular Manuscripts in De Ornatu Spiritualis Desponsationis, Geert Grote's Latin Translation of Jan van Ruusbroec's Die Geestelike Brulocht
209
Martin J. Schubert Grundlagen zur Edition der „anonymen deutschen Versübersetzung" des Speculum humanae salvationis
219
Sandra Krump „mera ossa et cadavera". Zu Edition und Übersetzung einiger Dramen und Periochen des Passauer Jesuitenkollegs
235
Marcel De Smedt Die große Brücke. Aus der Entstehungsgeschichte eines Romans des flämischen Autors Stijn Streuvels (1871-1969)
243
Inhalt
VII
Der Editor als Übersetzer Joachim R. Söder „Painfully awkward"? Die Übersetzungen Piatons ins mittelalterliche Latein
255
Marijke Gumbert-Hepp Die Übersetzung ist ebenso notwendig wie die Edition. Zur Chronik des Willelmus Procurator
263
Bernd Schneider Der Editor als Übersetzer. Probleme bei der Übersetzung der Brantschen Fabel-Additiones von 1501
269
Cristina Urchueguía Note, Buchstabe, Zahl. Notationen und Edition in der Musik der Renaissance am Beispiel von Gonçalo de Vaenas Arte nouamente inuentada
277
Uwe Wolf Edition Alter Musik - von der Notwendigkeit und der Crux der Übersetzung
295
Hellmut Thomke Übersetzen oder erläutern? Zur Edition alemannischer und niederdeutscher Literatur des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit
309
Luigi Reitani Übersetzung als Edition. Hölderlins Lyrik in einer neuen italienischen Ausgabe: Probleme und Perspektiven
317
Kristina Hasenpflug „Denn es giebt doch nur Eine Poesie...". Tiecks Minnelieder - ein romantisches Literaturprogramm
323
Marita Mathijsen Doppelter Verlust. Die erste Übersetzung von Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen in den Niederlanden
341
Übersetzung als kultureller Transfer A.M.I. van Oppenraay Die neunzehn Tierbücher von Aristoteles. Eine Edition der arabisch-lateinischen Übersetzung von Michael Scotus
353
W. Günther Rohr Wiedergabe von Zahlen nach französischen Vorlagen. Das Beispiel der niederrheinischen Version von Mandevilles .Reisen'
359
VIII
Inhalt
Johann Anselm Steiger Die Meditationes Sacrae (1606/07) des lutherischen Theologen Johann Gerhard im Lichte des philologischen und hermeneutischen Phänomens von .Übersetzung'
367
Christiane Caemmerer Sylvie und Dulcimunda. Deutsche Schäferspiele der Frühen Neuzeit im Spiegel des interkulturellen Texttransfers. Probleme der Edition und Kommentierung
377
Andreas Brandtner, Wolfgang Neuber Gelehrte Aneignung als editorische Problemstellung. Die Übersetzung deutscher Reiseberichte ins Lateinische am Beispiel von Hans Stadens Warhaftiger Historia
389
Oliver Wiener Übersetzung musiktheoretischer Traktate als Phänomen des Kulturtransfers im 18. Jahrhundert. Problemstellungen der rezeptionsorientierten Edition am Beispiel der Gradus ad Parnassum von Johann Joseph Fux
405
Helga Lühning Wenn Maria Stuart in die Oper geht. Von Schillers Drama zum Libretto fur Donizetti
419
Gert Vonhoff Wie ediert man Übersetzungen als ästhetische Objekte? Grundsätze, entwickelt an Beispielen aus Freiligraths Übersetzungen
435
Michael Struck Werk-Übersetzung als Werk-Alternative? Johannes Brahms' Klavierbearbeitungen eigener Werke
447
Anschriften
465
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt Referate, die während der achten internationalen und interdisziplinären Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zum Thema Edition und Übersetzung. Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers gehalten worden sind. Diese Tagung fand vom 8.-11. März 1999 als Klausurtagung im Ludwig-Windthorst-Haus in Lingen-Holthausen statt. An ihr nahmen Vertreter aus der Germanistik, Niederlandistik, Romanistik, Altphilologie, Philosophie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte teil. Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich insbesondere Einzelfällen oder spezifischen Problemaufrissen; diejenigen Referate, in denen das Tagungsthema aus grundsätzlicherer Perspektive reflektiert worden ist, wurden in den Jahrgängen 14 (2000) und 15 (2001) des Jahrbuchs editio veröffentlicht. Während die Erörterung der kulturhistorischen Bedeutung und der kulturvermittelnden Funktion von Übersetzungen inzwischen fester Bestandteil des literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses ist, wurde erstmals auf einer Editorentagung dem Problem der editorischen Behandlung von Übersetzungen systematisch nachgegangen. Viele Autoren haben selbst übersetzt und/oder waren an der Übersetzung beteiligt. Dabei zeigte sich immer wieder die Notwendigkeit, eine auch für die editorische Arbeit sinnvolle Abgrenzung von Übersetzungen und freieren Übertragungen zu finden, um auf diese Weise den Grad der eigenständigen Leistung des jeweiligen Autors präsizer bestimmen zu können. Aus einer solchen Abgrenzung hätte sich dann die Rubrizierung einer Übersetzung/Übertragung als eigenständiges Werk oder nur als Bearbeitung in einer Edition zu ergeben. Das Bemühen um eine definitorische Differenzierung zieht sich daher als roter Faden durch viele Beiträge dieses Bandes, wobei immer wieder auch zu beobachten ist, daß das Phänomen der Übertragung bzw. Übersetzung etwa für Texte des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit anders zu bewerten ist als für neuere Texte und damit auch andere editorische Verfahren erforderlich macht. In zahlreichen Beiträgen wird daher anschaulich demonstriert, wie wichtig es ist, die Vorlagen und die Unterstützung für Übersetzungen zu ermitteln, nicht nur um die Übersetzungsleistung angemessen beurteilen, sondern beispielsweise auch um Emendationen begründen oder um Fragen der Echtheit und Authentizität beantworten zu können. Die Dokumentation von Vorlagen für Übersetzungen/Übertragungen nimmt daher einen breiten Raum in der Diskussion zahlreicher Beiträge ein, wobei zu beobachten ist, daß durchweg pragmatische Lösungen favorisiert werden, die vom bibliographischen Nachweis bis zur kompletten Wiedergabe des Vorlagentextes reichen.
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Vorwort
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Diskussion des Für und Wider zweisprachiger Editionen, insbesondere im intralingualen Bereich. Zweisprachige Editionen sind heutzutage unumgänglich, wenn man auf eine Rezeption wichtiger Texte etwa des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit nicht verzichten will. Aber auch bei der Edition von Texten zwei- oder mehrsprachiger Autoren der neueren Literatur- oder Kulturgeschichte kann auf parallele Übersetzungen nicht mehr verzichtet werden. Der Editor als Übersetzer oder als Berater von Übersetzern erlangt damit eine immer größer werdende Bedeutung. Die erfolgreiche Durchführung der Tagung wurde ermöglicht durch die großzügige finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, des Präsidenten der Universität Osnabrück und des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück. Für diese Unterstützung danken wir ebenso wie für die gastfreundliche Aufnahme im Ludwig-Windthorst-Haus, die die Grundlage für konzentrierte Diskussionen und Debatten schuf. Besonders Günter Oberthür ist dafür zu danken, dieser Tagung im Ludwig-Windthorst-Haus einen angenehmen Rahmen gegeben zu haben. Redaktion und Layout dieses Bandes lagen in den Händen von Sascha Nawrocki (Editionswissenschaftliche Forschungsstelle der Universität Osnabrück), für dessen sorgfältige und umsichtige Arbeit wir uns ausdrücklich bedanken. Amsterdam/Osnabrück, im September 2001
Bodo Plachta, Winfried Woesler
Grundsatzfragen
Horst Turk
Edition und Übersetzung In kulturenvergleichender und kontaktgeschichtlicher Sicht
Wenn man das Tagungsprogramm liest, fällt auf, daß die Interkulturalität von Edition und Übersetzung im Titel unbestimmt und weit, in der Durchführung vergleichsweise bestimmt und eng aufgefaßt wird. Zwar spielen die vier Dimensionen: der Autor als Übersetzer, der übersetzte Autor, der Editor als Übersetzer und die Übersetzung als kultureller Transfer eine Rolle, kommen Probleme der kulturellen Markierung ebenso wie der Intertextualität, der intermedialen Übersetzung sowie der Wechselabhängigkeit von Edition, Übersetzung und Interpretation anhand eines reichhaltigen Materials von Fallanalysen breit gefächert in den Blick; das Feld, in dem sich das abspielt, bleibt jedoch binneneuropäisch umgrenzt, die Perspektive ist eher kulturhistorisch als kulturenvergleichend ausgerichtet, und so ergibt sich, daß ein Sektor des Kulturtransfers eher ausgeblendet scheint, den ich unter dem Stichwort des kulturellen Textes und des Textes der Tradition kontaktgeschichtlich mit einem Schlaglicht auf die Editionsund Translationsphilologie zur Sprache bringen möchte. Ich bediene mich dabei einer Terminologie, die zunächst von Jurij Lotman im Rahmen der Kultursemiotik eingeführt wurde, dann in der Gedächtnisforschung und der Übersetzungsforschung Aufnahme fand und die vor allem in dieser Version eine brauchbare Alternative zu den „Kultur als Text"-Hypothesen hermeneutischer Observanz von Paul Ricoeur bis Clifford Geertz darstellt. Ich werde in einem ersten Teil einige theoretische Vorüberlegungen zum kulturellen Text und Text der Tradition im Blick auf editions- und translationsphilologische Implikationen anstellen, in einem zweiten Teil auf einige Fallbeispiele der fremdkulturellen Repräsentation eingehen, um dann in einem dritten Teil einige Schlußfolgerungen für die Editionspraxis zu ziehen.
I Es ist üblich, die Editionskultur als einen entscheidenden Faktor der Textpflege1 im Rahmen der Traditionsbildung2 neben der Kritik, der Charakteristik, der Interpretation und der Geschichte anzusehen, weniger üblich, alle diese Verrichtungen in ihrem Effekt für die Traditionsbildung zu betrachten. Wie arbiträr sind die Traditionen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Verfahren der Überlieferung richtet: Techniken, Auswahlen und Zuständigkeiten gleichermaßen eingeschlossen? Die Frage spitzt Jan und Aleida Assmann: Kanon und Zensur. In: Dies. (Hrsg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987, S. 7-27, hier S. 12f. J. und A. Assmann 1987, vgl. Anm. 1, S. 8.
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Horst Turk
sich zu, wenn man den Schnitt nicht nur zwischen oralen und Schriftkulturen macht, sondern auch zwischen der Fundierung auf Kanonisierungsprozessen und der Fundierung auf Medienereignissen,3 wenn man so will: einer „zweiten Oralität".4 Betrachtet man die Phase zwischen den beiden Oralitäten genauer, dann drängt sich als dritter Schnitt innerhalb der Schriftkulturen die Erfindung des Buchdrucks und des „Lumpenpapiers"5 auf: Zeitgleich mit einer massiven Erweiterung des Wahrnehmungsraumes als Voraussetzung der heutzutage diskutierten Globalisierung entstanden in unterschiedlicher Durchlässigkeit für einander die sogenannten Nationalliteraturen sowie in deren Gefolge die Nationalphilologien, zu deren Obliegenheit seit dem 19. Jahrhundert neben der Literaturgeschichte und der Interpretation insbesondere auch die Herstellung einer gesicherten Textbasis in Form der wissenschaftlichen Edition gehörte. Dabei waren dann nicht nur philologische, sondern auch politische Interessen im Spiel - kosmopolitisch, europäisch oder national ausgerichtet. Legt man die Bedingung moderner säkularer kultureller „Felder"6 zugrunde, dann befremdet dies auch keineswegs; denn einerseits begünstigten der Buchmarkt und das staatliche Mäzenat die Autonomisierung der Wissenschaft wie der Literatur, andererseits fielen diese dank ihrer Professionalisierung und Autonomisierung politisch ins Gewicht.7 Man kann den Faktor der schulischen und universitären Ausbildung nicht hoch genug einschätzen.8 Auf der Basis der Umgangssprachen9 entstanden säkulare Lesekulturen mit vergleichsweise hohem Aufkommen an Überlieferungs-, Einbettungs- und Verstehensleistungen, was dazu führte, daß insbesondere auch literarische Texte in den Rang kultureller Texte aufrücken konnten:10 ein Vorgang, der von der neueren Nationalismusforschung als „lexikographische" oder auch „philologische Revolution"11 in Rechnung gestellt wird und der zugleich verlangt, den Begriff des kulturellen Textes nicht zu weit und nicht zu eng zu fassen. Kulturelle Texte mochten in ritualisierten Gesellschaften auf das Auswendiglernen statt auf das „Lesen" festgelegt sein. Sie büßten
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Andreas Poltermann (Hrsg.): Literaturkanon - Medienereignis - Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin 1995 (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 10). Walter Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987. Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 7. Hrsg. von Hans Dietrich Innscher. Frankfurt/Main 1991, S. 527. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers, von Bemd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main 1999, S. 214-218. Zu Frankreich vgl. Hartmut Stenzel: Die französische „Klassik". Literarische Modernisierung und absolutistischer Staat. Darmstadt 1995. Vgl. Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Übers, von Meino BUning. Hamburg 1995, S. 56f.: zur überragenden Bedeutung des „Erziehungsmonopols", sowie Max Weber: Wahlrecht und Demokratie in Deutschland. In: Ders.: Gesammelte Politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1958, 3. Aufl. 1971, S. 245-291, hier S. 282: zum „Coleurmenschen" speziell als deutsche Form". Vgl. Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780. Übers, von Udo Rennert. München 1990, S. 70f. u.ö.; Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Übers, von Benedikt Burkhard und Christoph Münz. Frankfurt/Main 1996, S. 83f. Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Poltermann 1995, vgl. Anm. 3, S. 232-244. Anderson 1996, vgl. Anm. 9, S. 76, 82.
Edition und Übersetzung
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ihre normierende und formierende Funktion12 nicht ein, sondern weiteten sie aus, wenn sie nationalisiert und zum Gegenstand der Lektüre wurden. Versetzt mit Differenzierungsleistungen auf der Seite des Produzenten und Verstehensleistungen auf der Seite der Rezipienten, dienten sie der Übermittlung und „Reproduktion"13 eines „normativen und formativen kulturellen Programms".14 Und dies galt auch dann, wenn ihre Hauptaufgabe wie bei Jean Paul15 darin gesehen wurde, das Erziehungsmonopol des Staates einzuschränken oder ironisch auszubalancieren.16 Die faktische Durchsetzung des „Prinzips der Publizität"17 hatte allerdings auch zur Folge, daß direkte und indirekte Selektionsleistungen zu erbringen waren, die keineswegs nur den engeren Kreis der nationalen Kanonbildung betrafen.18 Welche Rolle spielten dabei Edition und Übersetzung? Man braucht nur einen Blick auf die zentralen Debatten des 18. und 19. Jahrhunderts zu werfen, um zu sehen, daß sich die Ausgestaltung der Philologien im Spannungsfeld dreier Interessenausrichtungen vollzog: national, kontinental und global, jeweils mit einem Hauptakzent auf der Überlieferungssicherung. So kam es nicht nur im Zuge der „Querelle des anciens et des modernes" - zu einer Integration und Ausgrenzung „ausländischer Klassiken"19 mit beträchtlichen Editions- und Übersetzungsproblemen im Gefolge, sondern auch - in Auswirkung der nordischen Kehre - zur Entdeckung und Etablierung neuer Klassiken auf der Basis editorischer und translatorischer Vorleistungen. Dies war der Ort der Lachmann/von der Hagen-Debatte anläßlich der von der Hagen'schen Übersetzung des Nibelungenlieds.20 Der Konflikt zwischen „kritischer Behandlung" und „poetischer Bearbeitung"21 bzw. historisierendem und normierendem Umgang mit der Tradition22 unter den Bedingungen eines „freien Verhältnisses"23 kam aber auch bei der Integration ausländischer Klassiken, insbesondere der gemeineuropäischen, zum Ausbruch. Schleiermachers Piatonübersetzung
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Jan Assmann: Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Poltermann 1995, vgl. Anm. 3, S. 270-292. Bourdieu 1999, vgl. Anm. 6, S. 458. Jan Assmann: Kulturelle und literarische Texte. In: Ancient Egyptian Literature. History and Forms. Hrsg. von Antonio Loprieno. Leiden, New York, Köln 1996 (Bd. 10: Probleme der Ägyptologie. Hrsg. von Wolfgang Schenkel und Donald B. Redford), S. 59-82, hier S. 68f. Roberto Simanowski: System und Witz - Jean Pauls Kosmopolitismus als Effekt des sprachphilosophischen Zweifels. In: Horst Turk, Brigitte Schultze, Roberto Simanowski (Hrsg.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus. Göttingen 1998, S. 170-192; Jean Paul: Levana oder Erziehlehre. In: Ders.: Werke. Bd. 5. Hrsg. von Norbert Miller. München 1963, S. 515-874. Jean Paul, Werke, vgl. Anm. 15, Bd. 5, S. 549-551. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe. 1. Abt., Bd. VIII. Berlin, Leipzig 1923 (Nachdruck 1969), S. 382. Herder, Werke, vgl. Anm. 5. Wolfgang Ranke: Integration und Ausgrenzung. Ausländische Klassiker in deutschen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts. In: Poltermann 1995, vgl. Anm. 3, S. 92-118. Andreas Poltermann: „Grundstoff einer neuen Poesie." Das Nibelungenlied als kultureller Text und als kanonische literarische Übersetzung. Friedrich Heinrich von der Hagens Übersetzung aus dem Jahre 1807. In: Poltermann 1995, vgl. Anm. 3, S. 245-269. Poltermann 1995, vgl. Anm. 20, S. 251. Poltermann 1995, vgl. Anm. 20, S. 265; Erhebung in den Status eines kulturellen Textes. Poltermann 1995, vgl. Anm. 20, S. 252; gemeint ist die Bedingung einer überhaupt erst herzustellenden „gesicherten" Überlieferung.
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Horst Turk
wäre hier zu nennen, einschließlich der vielzitierten Vorbemerkungen zum Konzept der verfremdenden Übersetzung mit ihrer Frontstellung gegen die einbürgernden Beiles Infidèles und dem Widerhalt an den Prinzipien einer „allgemeinen Hermeneutik" als „Kunst" des individuierenden „Verstehens".24 Nochmals pointierter stellte sich der Konflikt um 1800 mit Bezug auf die Orientalen „Wurzeln" der abendländischen Kultur dar, insbesondere im Rückgang auf das Sanskrit. Mit einem Vorspiel bei Hölderlin, vor allem in seinen Sophokles-Übersetzungen, und einem Nachspiel bei Nietzsche, in Form einer systematischen Auswertung der Befunde, kam es bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Wilhelm von Humboldt und Goethe teils zu einer Angleichung an das griechische Altertum, teils zu dessen massiver Infragestellung, teils zu dem Versuch einer imaginären Versöhnung in der individuierenden poetischen Wiederhervorbringung.25 Signifikant ist dabei, daß die ersten Übersetzungen nach dem Vorbild im Englischen über die zweite Hand des Latein getätigt wurden,26 wie überhaupt der Informationsfluß von England nach Deutschland und dann erst zurück zu den sanskritischen Quellen führte, letzteres mit der charakteristischen Differenz eines kulturellen Imperialismus27 im Gegensatz zum politischen und ökonomischen zur Geltung gebracht. Goethes West-östlicher Diwan war eine poetisch bearbeitete Übersetzung aus zweiter Hand. Das Programm war insgesamt allerdings viel breiter angelegt, was sogleich deutlich wird, wenn man auf Herders Übersetzungen in der Volksliedersammlung von 1778/79 oder auch im Briefivechsel über Ossian zurückgeht.28 Zugleich zeigt sich, daß die Entwicklung insgesamt, trotz vieler Übereinstimmungspunkte gerade mit Herder, eine andere Stoßrichtung hatte als das literarisch orientierte Globalisierungsszenario heute, innerhalb dessen Ereignisse wie die skizzierten reaktualisiert werden. Um dies zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, auf einen anderen, mehr technischen Argumentationsstrang überzugehen. Wie gelangte man zu den Überlieferungsobjekten, und nach welchen Vorgaben - interpretativen und instrumentellen - wurde ihre Überlieferung organisiert? Der erste hier einschlägige Punkt ist zweifellos die historisch-philologische Herangehensweise mit ihrer Fixierung auf Originalität und Authentizität.29 So hatte Herder keineswegs ein nur museales oder antiquarisches InteresFriedrich D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank. 4. Aufl. Frankfurt/Main 1990, S. 75. Zum editorischen Punkt vgl. August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philosophischen Wissenschaften. Hauptteil 1: Formale Theorie der philologischen Wissenschaft. Repr. Nachdruck der Ausgabe von Rudolf Klussmann, Leipzig 1886. Hrsg. von Ernst Bratuscheck. Darmstadt 1966. Andreas Poltermann: Den Orient übersetzen. Europäisches Zivilisationsmodell und die Aneignung orientalischer Weisheit. Zur Debatte zwischen den Gebrüdern Schlegel, Humboldt und Goethe. In: Horst Turk, Anil Bhatti (Hrsg.): Kulturelle Identität. Deutsch-indische Kulturkontakte in Literatur, Religion und Politik. Berlin 1997 (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 15), S. 67-103, hier S. 91. Poltermann 1997, vgl. Anm. 25, S. 93. Anil Bhatti: Zum Verhältnis von Sprache, Übersetzung und Kolonialismus am Beispiel Indiens. In: Turk, Bhatti 1997, vgl. Anm. 25, S. 3-19, hier S. 3ff. Andreas Poltermann: Antikolonialer Universalismus. Johann Gottfried Herders Übersetzung und Sammlung fremder Volkslieder. In: Doris Bachmann-Medick (Hrsg.): Ubersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin 1997 (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 12), S. 217-259, hier S. 244ff. Andreas Poltermann: Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Brigitte Schultze (Hrsg.): Die literarische Übersetzung. Fallstudi-
Edition und Übersetzung
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se an den Volksliedern des eigenen Volkes und fremder Völker, sondern sie dienten ihm als schlagender Beweis für den Primat des Ausdruckscharakters der Sprache. Sie gestatteten, die Völker „von innen", in der Selbst- und Eigensicht vor aller epischen und dramatischen Distanzierung, zu erfassen. Sie gestatteten, diese Ressourcen auch unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Zivilisation wieder sprudeln zu lassen. Schließlich ließen sich die näheren Ausgestaltungen in den anderen Grundformen der Poesie - Epik und Dramatik als pragmatischen Gattungen - nachvollziehen und zugleich in ihrer anfänglichen Universalität vor der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung begreifen, womit ein politisches und kulturgeschichtliches Operationsfeld in Sichtweite gerückt war. Der Beitrag der Philologie als Textwissenschaft konnte editorisch, historiographisch, translatorisch und interpretativ - in der Aufbereitung und Nutzbarmachung dieses Feldes für die Gesellschafts-, Staats- und Menschheitsgeschichte liegen. Es war dies ein Ansatz, der sich bis hin zur ritualistischen Kehre in Nietzsches Geburt der Tragödie fruchtbar machen ließ und der noch heute in der exzessiven Verwendung der Textmetapher seinen Widerhall findet.30 Die eigentliche Kehre - literarisch und ethnologisch - wurde jedoch erst durch die Auflösung des Textes, in seiner buchstäblichen wie in seiner metaphorischen Bedeutung, vollzogen.31 Hier zeigt sich nun ein komplettes Aufgehen der Vermittlung durch Texte in der „rituellen Kohärenz",32 allerdings mit dem Unterschied, daß diese Kohärenz auf der Bühne des individuierten Verstehens spielt und deshalb auch ebenso gut gegen die Gewalt der Verständnisse im Verstehen33 wie gegen die Gewalt des Verstehens in den Verständnissen34 ins Feld geführt werden kann. Für die Edition, mehr noch als für die Übersetzung, bedeutet dies eine radikale Infragestellung der Ausgangsbedingungen, gewissermaßen des editorischen und translatorischen Kontrakts.35 Auf diesen Punkt möchte ich im Folgenden anhand einiger Beispiele näher eingehen.
en zu ihrer Kulturgeschichte. Berlin 1987 (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 1), S. 14-52, hier S. 14ff. Paul Ricoeur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen. In: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Hrsg. von Hans-Georg Gadamer und Gottfried Böhm. Frankfurt/Main 1978, S. 83117; Clifford Geertz: .Deep Play': Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übers, von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt/Main 1983, S. 202-288, hier S. 253ff. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; Homi Κ. Bhabha: The Location of Culture. London, New York 1994 (dt.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 1997). Jan Assmann 1995, vgl. Anm. 12, S. 275. Bhabha 1994, vgl. Anm. 31. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Aus dem Französischen von Wilfried Böhringer. Frankfurt/Main 1985, S. 155: „Paradox des todbringenden Verstehens". Jacques Derrida: Des Tours de Babel. Übers, von Joseph Graham. In: Joseph F. Graham (Hrsg.): Difference in Translation. Ithaca/Coraell 1985, S. 165-207, hier S. 185 und 191.
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Horst Turk
Π Blickt man auf die grandiosen Leistungen der Editionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts - etwa das Corpus Inscriptionum Graecarum36 seit 1815 - , dann besticht und befremdet der Aufwand, der mit der historisch-philologischen Sicherung der Überlieferungslage getrieben wurde. Das Unternehmen war, wie so vieles um 1800, im Zeichen des Neuhumanismus und des Historismus begonnen worden37 und wuchs sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einer imperialen Größenordnung aus.38 Vor allem stellt sich angesichts der modernen Datenverarbeitungstechniken aber auch das Problem der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit der bewährten Editionspraktiken. Zwar sind die Allianzen von Wissen und Macht, Erinnerung und Macht, Text und Erinnerung39 nicht umstandslos gleichzusetzen; deutlich ist jedoch, daß mit der Akkumulation historischen Wissens und philologischer Repertoires auf der CD-Romoder Internet-Basis neue Maßstäbe der individuellen Disponibilität, der kulturellen Teilhabe und der globalen Herrschaft gesetzt wurden, die über die „Erkenntnis des Erkannten" in seiner historisch-philologisch kontrollierten Bedeutung hinauszielen.40 Ich beziehe mich im Folgenden zunächst auf den Paradigmenwechsel in der Edition, wie er insbesondere von David C. Greetham in The Margins of the Text von 1997 und Theories of the Text von 1999 eingeläutet wurde.41 Als was war dieser Paradigmenwechsel zu nehmen, vor allem: welche Folgerungen ließen sich aus ihm ziehen? Insbesondere in der angloamerikanischen Debattenszene zahlte sich aus, daß seit Walter Wilson Greg nicht von einem engen Begriff der Edition im Verhältnis zur Handschrift, sondern von einem weiten Begriff des „publishing" im Verhältnis zur „bibliography" als Text- und Buchwissenschaft ausgegangen wurde, erstere stets in der Bedeutung des „textual and editorial research", letztere nicht primär nach Nationen oder Ländern (Geschichte des Buchs in England, Deutschland etc.)42 historisch, sondern systemisch angelegt. Die vielberufene „Lachmannsche Methode"43 der historisch-genetischen Annäherung an den Text basierte auf den „Überlieferungsträgern", unter denen mit Hilfe der kritischen Rekonstruktion eine „Leithandschrift"44 für die
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Karl Reinhardt: Die klassische Philologie und das Klassische (1942). In: Heinz Otto Burger (Hrsg.): Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen. Darmstadt 1972 (Wege der Forschung. Bd. 210), S. 66-97, hier S. 70 und 76f. Reinhardt 1942, vgl. Anm. 36, S. 70 und 76f. Reinhardt 1942, vgl. Anm. 36, S. 70 und 76f. Assmann 1992, vgl. Anm. 31, S. 71. Boeckh 1966, vgl. Anm. 24, S. 74f. David C. Greetham: The Margins of the Text. Ann Arbor 1997; Ders.: Theories of the Text. Oxford 1999. Doch vgl. David C. Greetham (Hrsg.): Scholarly Editing. A Guide to Research. New York 1995. Karl Lachmann: Der Nibelungen Lied, hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Breslau 1816. Der Edel Stein von Bonerius, hrsg. von George Friedrich Becke. Berlin 1816. In: Ders.: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie. Hrsg. von Karl Muellenhoff. Berlin 1876, S. 81-113, hier S. 82. So nach Roland Reuß: Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Einleitung, hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main 1995, S. 9-24, hier: „Rettung des Überlieferten" (S. 16), einschließlich der „Möglichkeit [...], daß umgekehrt das Gegebene von sich aus alle fixierten Maßstäbe und Begriffe in Frage stellt" (S. 18). Und dies gerade auch im Blick auf die Streichungen: „Zu einem definitiven Text der Handschrift (im konventionellen Sinne)
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kommentierte Edition ausgewählt wurde. Die angloamerikanische Methode des „idealen Texts" basierte auf „substantive readings" unabhängig von einem „copytext",45 mit Hilfe derer in der Form eines „Mischtexts" die „endgültige Intention" des Autors erfaßt wurde.46 Beide Mal war es das erklärte Ziel, durch die definitive Edition eine autorisierte Lektüre sicherzustellen. Wurden die „margins of the text" nicht teils willkürlich geschärft, teils überhaupt erst durch die Edition gezogen? Greetham wandte sich in The Margins of the Text gegen die editionstheoretische, editionspraktische und editionstechnische Marginalisierung zeitgenössischer texttheoretischer Diskurse, die keinen Eingang in die Edition fanden. Interessenwahrnehmungen, wie sie etwa von der „anthropology, ethnography, political science, sociology, or history"47 angemahnt wurden, waren nach der „construction of the traditional scholarly edition"48 ausgeschlossen. Als Kehrseite dessen war zu verzeichnen, daß sich die Edition selbst marginalisierte.49 Dem entgegen zu wirken war die Ambition des Paradigmenwechsels, der unter der Devise des „Out of the Text and into the Margins"50 angestrebt wurde. Vor einer genaueren Befassung mit diesem Ansatz wäre zu klären, ob Greetham nicht doch, wie auch immer verändert, auf der Basis der Philologie operiert. Der Titel seines eigenen Beitrags zu dem erwähnten Band: The Resistance to Philology51 war doppelsinnig. Er parodierte Paul de Mans The Resistance to Theorie, indem Greetham - denselben Gegner: die Textimmanenz52 im Auge - de Mans „Return to Philology" sowohl teilt wie auch nicht teilt. Er teilt sie nicht, insofern er „de Man's conflation of theory and philology" als eine „prehermeneutic" und „precritic"53 konzipierte Verbindung bestreitet. Sie falle „into the trap of circumscribing philology" und führe nicht aus der „marginalised condition of textual study" heraus. Anders wäre es, wenn man mit Jonathan Culler auf eine „anti-foundational philology"54 zurückgreifen und basiert „on the domaine of thoughts"55 noch über Culler hinaus nach dem Vorbild der elektronischen Textverarbeitung und -bearbeitung den positivistischen Anspruch auf „definitive print editions" grundsätzlich preisgeben würde.56 Die Edition wäre nicht „prehermeneutic" und „out of the critical process",57 sondern im Sinn der Clif-
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gelangt die FKA, will sie wiedergeben, was überliefert ist, nicht." (S. 19 gegen das „Phantasma eines makellosen Leittextes" mit „Apparateband [...]"). Walter W. Greg: The Rationale of Copy-Text. In: Studies in Bibliography 3, 1950/51, S. 19-36. Anne Bohnenkamp: Textkritik und Textedition. In: Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, S. 179-203, hier S. 187ff. Greetham 1999, vgl. Anm. 41, S. 423. David C. Greetham: Introduction: Out of the Text and into the Margins. In: Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 1-5, hier S. 1. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 1. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 1. David C. Greetham: The Resistance to Philology. In: Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 9-24. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 9. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 10 u.ö. Jonathan Culler: Anti-Foundational Philology. In: Comparative Literature Studies, 27,1 1990, S. 4 9 52. Culler 1990, vgl. Anm. 54, S. 50. Greetham: The Resistance to Philology. In: Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 9-24, hier S. 10. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 10.
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ford Geertz'schen „local knowledge"58 als .„barbed wire' between the author and reader"59 an die jeweilige lokale hermeneutische und kritische Herausgeberentscheidung gebunden.60 Unter der Bedingung, daß der Anschein endgültiger philologischer Fundierung vermieden würde, teilt Greetham de Mans „Return to Philology". So etwa in der Fortschreibung des Grundsatzes, daß „historical facts and philological facts" „the preparatory condition for understanding" seien.61 Greetham operierte mithin auf der Basis der Philologie, jedoch in der Weise, daß er sie für erweiterte Aufgabenstellungen öffnete. Die Edition blieb nicht, was sie war. Ausgehend vom philological turn der „writing culture'-Debatte war ein Paradigmenwechsel zwischen den Wissenschaften festzustellen, der einen Paradigmenwechsel in der Bezugswissenschaft nach sich zog: „[...] according to Geertz, Clifford, and other major culture critics, the disciplinary position of culture criticism (in its various manifestations as anthropology, ethnography, political science, sociology, or history) has shifted from science to literature, just as Rorty claims that philosophy has been subsumed by literature."62 Wenn sich die Konfiguration von der „physical manipulation" zur „cultural performance"63 verschob und die „cultural performance" philologisch angegangen wurde, dann mußten sich die Philologien entsprechend paradigmatisieren. Sie mußten durch lokale, temporäre und vor allem multiple Editionen die Basis für „multiple readings" sowie für den „cultural criticism" bereitstellen,64 etwa im Sinn einer „unprecedented condition of off-centeredness"65 oder der „poetics of displacement".66 Ging man mit Geertz, Rorty (und Hayden White)67 von einem Literarischwerden der Philosophie, Ethnologie, Politologie und Historiographie aus, dann fiel der Philologie die doppelte Aufgabe zu, Paradigmen für die Bezugswissenschaften mit Hilfe der Editionen bereitzustellen und als Paradigma für die Bezugswissenschaften zu fungieren. Die Philologie sollte darauf reagieren, indem sie ihre Basis entsprechend modifizierte. Die Edition, die bislang nur das Vorfeld der exegetischen, historischen, theoretischen und kritischen Arbeit darstellte, ließ sich im Rahmen des angloamerikanischen „publishing"-Konzepts zu einem tragfähigen Paradigma ausbauen. Thema der Editionswissenschaft als Text- und Buchwissenschaft wurde alles: von der Abfassung des Textes über die „textual identity" bis zum Erscheinen auf dem Buch- und Lektüremarkt, von der Selbstedition über die kooperative Edition bis zur Edition durch andere, dies wiederum real, fiktional oder fiktiv, mit Interessenwahrnehmungen auf 58
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Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 15, mit Bezug auf Clifford Geertz: Local Knowledge: Further Essays in Interpretive Anthropology. New York 1983. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 11, mit Bezug auf Edmund Wilson: The Fruits of the MLA. New York Preview of Books 1968. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 15. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 15 (Paul de Man, The Resistance to Theory, Minneapolis 1986). Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 423. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 424, mit Bezug auf Clifford Geertz: Blurred Genres: The Refiguration of Social Thought. In: Geertz 1983, vgl. Anm. 58, S. 19-35, hier S. 22f. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 22f. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 425, mit Bezug auf James Clifford: The Predicament of Culture: Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art. Cambridge 1988, S. 5. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 425,427 (Clifford 1988, vgl. Anm. 65, S. 10). Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Übers, von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann. Stuttgart 1986.
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der Achse der Synchronie oder der Diachronie, felderöffhend, felderweiternd oder feldvertiefend, in der Einstellung der Dissidenz, der Konfidenz oder der Integration. In mehreren Punkten, wie z.B. der Übersetztheit und Übersetzung von Kulturen, der Selbstedition im Verhältnis zur Edition durch andere und zur kooperativen Edition, der Hybridisierung durch die Rückwendung auf differente Herkiinfte, ist die Analogbildung zum „cultural criticism" der neueren wie der älteren Literatur kaum zu übersehen. Ich komme damit zu meinen Beispielen. Nehmen wir z.B. die Reivindicación del Conde don Julián68 von Juan Goytisolo. Das Werk wurde 1970 im Exil in Mexiko veröffentlicht, war in Spanien bis 1975 „liber non gratus", erschien 1976 in deutscher Übersetzung von Joachim A. Frank, mit einem Nachwort von Carlos Fuentes bei Suhrkamp. Der Text erhielt 1986 eine unveränderte Neuauflage als Taschenbuch, war jedoch auf Spanisch bereits 1985 in der Reihe Letras Hispánicas der Edición Cátedra in Madrid mit einem ausführlichen Kommentar herausgekommen, den man auf Deutsch bis heute vermißt. Oder, um ein anderes, sicher weniger bekanntes Beispiel zu nennen: Baiute. Autobiographie eines Unberiihrbaren69 von Daya Pawar. 1978 erst auf Marathi, dann auf Hindi bei Granthalo in Bombay erschienen, kam der Text 1988 in deutscher Übersetzung von V. S. Apte und Norbert Nicolaus bei Yvonne Landeck heraus. Er umfaßte das übliche Glossar, Pawars Nachwort zur zweiten Auflage und war mit einem überaus knappen Vorwort der Übersetzer versehen. Man könnte, um das Spektrum auszuziehen, ferner auf Tuhami. Portrait of a Maroccan von Vincent Crapanzano zurückgreifen, auf Englisch von der University of Chicago Press, Chicago und London, 1980 gebunden, 1985 als Paperback herausgebracht, 1983 in der Übersetzung von Susanne und Ulrich Enderwitz auf Deutsch (Tuhami. Portrait eines Marokkaners70) bei Klett-Cotta erschienen. Schließlich sollte, 1992 bei Kiepenheuer und Witsch auf Deutsch, 1993 bei Varlikk in türkischer Übersetzung von Ayça Sabuncuglu (Hayat bir kervansaray) erschienen, der Roman Das Leben ist eine Karawanserei. Hat zwei Türen. Aus der einen kam ich rein. Aus der anderen ging ich raus von Emine Sevgi Özdamar71 in einer teils chronologischen, teils problemorientierten Zusammenstellung nicht fehlen. Baiute und die Karawanserei stehen für den Sektor fiktionaler Autobiographien; an sie schließt sich Tuhami als ethnographische,Life-Story" an. Die Reivindicación kann als eine imaginäre historische Evokation und Revokation der castizo gelten. Nach editorischen Problemfeldern sortiert - immer unter dem Aspekt der Übersetzung und Edition für ein deutsches Lesepublikum als Basis der „local knowledge" und nach Maßgabe der „local knowledge" - stehen die Reivindicación und Baiute für die Übersetzung ohne Kommentar. Tuhami und die Karawanserei werfen ebenfalls Probleme der Kommentierung auf: Tuhami nach den Vorgaben der „writing culture", die Karawanserei unter dem Aspekt Multikulturalität und der Minderheitenliteratur. Legt man Juan Goytisolo: Reivindicación del Conde don Julián. Madrid 1985. Daya Pawar: Baiute. Autobiographie eines Unberilhrbaren. Übers, von V.S. Apte und Norbert Nicolaus. Frankfurt/Main 1988. Vincent Crapanzano: Tuhami. Portrait eines Marokkaners. Übers, von Susanne und Ulrich Enderwitz. Stuttgart 1983. Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei. Hat zwei Türen. Aus der einen kam ich rein. Aus der anderen ging ich raus. Köln 1992.
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die Kriterien der Dissidenz, Konfidenz und Integration zugrunde, dann war bei Goytisolo die Dissidenz mitzuedieren, bei Pawar die Integration in eine andere Kultur und Gesellschaft, bei Özdamar die Konfidenz zu einer anderen Kultur und Gesellschaft. Bei Tuhami war die Marginalità der Literatur selbst mitzuedieren. Ich konzentriere mich zunächst auf die Fragen der Kommentierung unter den Bedingungen des „displacement". Hier zielte die angloamerikanische Debatte auf eine dekonstruktivistische supplementäre Edition alternativ zur genetischen Edition ab.72 Damit der Text „carries toward the other and refers to itself, it divides even in its reference."73 Die Ratio eines solchen Vorgehens war nicht ohne eine gewisse (romantische) Zweischneidigkeit. 1.) Das Verfahren erübrigt sich, wenn der Text selbst, wie im Fall der Reivindicación, schon diese Leistung erbringt; in diesem Fall würde sich eine komplementäre Kommentierung empfehlen, die aber eine Stabilisierung des Textes zur Folge hätte. Damit z.B. der Leser die sprachgeschichtliche Herleitung des spanischen ,,01é" aus dem arabischen „Wa-l-ah" erkennen und die Sprengkraft der Rückübersetzung eines kulturellen Schlüsselworts in einen kulturellen Schlüsselbegriff realisieren kann, muß ihm die Hypothese des arabischen Ursprungs - wie in der spanischen, kommentierten Ausgabe von 198574 - mitgeteilt werden. Man könnte einwenden, daß der Text damit entgegen seiner dekonstruktiven Tendenz in seiner dekonstruktiven Tendenz kanonisiert, nämlich: in den Rang eines Schlüsseltextes der Dekonstruktion erhoben würde. Dies wäre aber angesichts der Anlage des Textes: seiner provozierenden historisch-philologischen Anspielungen, ohnehin nicht zu vermeiden. Es wurde durch die kommentierte Edición Cátedra-Ausgabe lediglich besiegelt. 2.) Auf einem anderen Blatt stand die Frage des Übersetzungskommentars. Hier bestimmen nach wie vor die Positionsnahmen für eine alterisierende oder eine alienisierende Übersetzung das Feld. Es wäre, je nach der Entscheidung des Übersetzers und Editors, eine alterisierende oder alienisierende supplementäre Kommentierung anzuraten. Es ist nicht dasselbe, einen Text oder die Übersetzung eines Textes in der Edition als Prozeß oder als Werk auszuweisen. Bei der Edition der Übersetzung eines Textes sind primär Fragen der Interlingualität, Intertextualität, Interkulturalität, Intersozialität und Interhistorizität einschlägig. Bei der Edition des Textes können Fragen dieser Art - wie im Fall der Reivindicación - einschlägig sein, sie müssen aber nicht einschlägig sein, sondern können hinter Fragen der biographischen, literarischen, kulturellen und historischen Kontextualisierung zurückstehen. Umgekehrt entfallen die letzteren nicht im Fall der Übersetzung, sondern verdoppeln sich eher, indem genau genommen neben dem Autor auch der Übersetzer zu berücksichtigen ist; sie machen aber nicht den Kernbezirk des Übersetzungsannotats aus. Wollte man auch hier die Richtung der Dekonstruktion einschlagen, dann böte sich in wachsenden Alienisierungsgraden der Schritt weg von der „einbürgernden" über die „verfremdende" zur „ausbürgernden" Übersetzung an, jeweils mit komplementärer, gegenläufiger Annotation. 3.) Wiederum anders war die Frage der dekonstruktivistischen Edition im Fall integraler Texte, insbesondere kanonisierter integraler Texte, anzugehen. Hier könnte
Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 326ff. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 332. Juan Goytisolo: Reivindicación del Conde don Julián. Madrid 1985, S. 266.
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die dekonstruktive Edition in der Tat das angemessene Verfahren und der angemessene Ort sein, um die Dynamik des Textes, die in der Handschrift,75 den „Materialien"76 und dem „Schreibstrom"77 liegt, wiederherzustellen. Es genügt, an dieser Stelle auf die Kritische Kafka-Ausgabe, die Brandenburger Kleist-Ausgabe und die Historischkritische Kafka-Ausgabe hinzuweisen.78 Allerdings stellt sich hier die Frage, ob die Auflösung des Text-Konzepts in Annäherung an die autographische Individualität nicht zu einem Leistungsschwund führt, der von anderer Seite - etwa: dem Leser als unprofessionellem Autor, Editor, Kritiker79 - lediglich ausgeglichen wird. Was besagte etwa die Äußerung Kafkas, daß er „nichts anderes" sei „als Litteratur und nichts anderes sein" könne und wolle?80 Es ist nachgerade üblich geworden, von einer literarischen „Selbstverständigung", „Selbstbeschreibung" oder „Selbstreflexion" der Gesellschaften in ihren jeweiligen eigensprachigen Textkorpora zu sprechen, zusammengezogen unter der Vorstellung der „textual identity".81 Wollte man an der besagten Vorstellung auch unter den Bedingungen der Multikulturalität, Hybridität und Globalität festhalten, dann kämen auf die Übersetzung und die Edition neue Aufgaben zu, die in gewisser Weise parallel, in gewisser Weise quer zur Dekonstruktion ständen. Nach europäischem Vorbild war die literarische Identitätsbildung ein entscheidender Faktor im Prozeß der kollektiven Identitätsbildung, spielte insbesondere die fiktive, fiktionale und reale Autobiographie für die Verankerung kollektiver Identitäten in der persönlichen Existenz eine maßgebliche Rolle. Übernahm man dieses Vorbild für die minoritären und marginalisierten Bestände einer Gesellschaft, dann ergaben sich Probleme nicht nur in der Ausweitung, sondern auch in der Sicht des Modells. Man konnte z.B. nicht mehr problemlos von der Autorisation fiktiver Biographen, ihrer formalen und materialen Repertoires ausgehen, sondern mußte sich - nicht nur temporär - auf eine fiktional oder real durchgeführte Polyphonie einlassen. Das Projekt berührte sich dann mit der mehr oder minder offenkundig werdenden Hybridität offizieller Kulturen, und es umfaßte nicht nur gleichsprachige materiale und formale Komponenten, sondern auch verschiedensprachige, darunter auch solche von beträchtlicher grammatischer, imaginativer und kultureller Abständigkeit. Um Tuhami, Baiute oder auch die Karawanserei im deutschen Literaturfeld zu edieren - etwa im Rahmen einer Serie „Klassiker der ,Selberlebensbeschreibungen'": ethnographisch, literarisch, kulturell - müßte ein Verfahren der ° 76
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Vgl. Reuß 1995, vgl. Anm. 44. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 1970, S. 31f. Gerhard Neumann: Schrift oder Druck, Erwägungen zur Edition von Kafkas „Landarzt"-Band. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 1982, Sonderheft, S. 115-139, hier S. 115 u.ö. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Berliner [später: Brandenburger] Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main 1988ff.; Ranz Kafka: Schriften Tagebücher Briefe. Hrsg. von Jürgen Bom, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley, Jost Schillemeit. Frankfurt/Main 1982ff.; Franz Kafka: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main 1995ff. Vgl. Philipp Löser: Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur. Göttingen 1999. Franz Kafka: Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/Main 1990, S. 579. Greetham 1997, vgl. Anm. 41, S. 429.
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Kommentierung entwickelt werden, bei dem nicht mehr die Entstehung resp. die Wirkung, sondern die Paradigmatik den Hauptaspekt abgäbe. Der Text könnte „into the margin" nach Greethams Vorschlag für die „local knowledge" aufbereitet werden. So hat Crapanzano selbst die Verflechtung von kooperativ erstellter Selbsterzählung und ethnographischem Kommentar für die Veröffentlichung des Nichtöffentlichen, die Literarisierung des Nichtliterarischen oder die von den Vorstellungen, der Welt und den Dingen noch nicht losgerissene Identität gewählt. Mit am interessantesten - neben den redigierten Selbsterzählungen - war das Ergebnis der soziologischen Recherchen über das Funktionenspektrum der okkult ausgegrenzten Ich-Konstitution; alles - die Okkupation durch die „Dämonin"82 ebenso wie die Wiedergabe der Funktionen in der Frauenszene - allerdings auf Englisch, weitgehend unter Aussparung der Übersetzungsprobleme und - soweit ich sehe - ohne Paradigmenkonkurrenz im angloamerikanischen oder deutschen Lektürefeld. Mit Baiute, d.h. dem Lohn, den die „Maharen", des Distrikts Maharastra für ihren Dienst erhielten, kam ein Text auf den deutschen Buchmarkt, der sich hingegen in mehreren Hinsichten mit der Entstehung europäischer Intellektuellenszenarien in Beziehung setzen ließ. Daya Pawar, eigentlich Dagadu Pawar (zusammengezogen: „Stein des Erbarmens"), wählte die Form der fiktionalen Autobiographie, allerdings in der Weise, daß ein „Ich" - Daya Pawar, der Autor - mit seinem „Er" - seiner Figur, Dagadu Pawar - konfrontiert wurde,83 das heißt aber in befremdlicher Verkehrung des autobiographischen Pakts sich selbst oder seinem Selbst begegnet, wodurch nicht nur der pejorativen Einschätzung des „self-praise" und der Fehlleitung durch die „authority of your word"84 literarisch, sondern auch der Eingeschlossenheit in der Ausgeschlossenheit moralisch, sozial und religiös Rechnung getragen wurde.85 Andere Vorkommnisse, wie die Handhabung von ,janiv" („bewußtseinsmäßig") und „sanwedanshil" („empfindlich"), „sahânûbhûti" („Mitgefühl") und „daya" („Erbarmen"),86 durch „Exo-Ausbildung"87 im Rahmen der „Reservations" initiiert, führten dazu, daß der Text bei der deutschen Übersetzung in das europäisch-deutsche Szenarium um 1800 transponiert wurde. Der Text gewann und verlor durch diese Transformation. Er verlor an Befremdlichkeit durch seinen Akt der „Einbürgerung". Und er gewann an Bedeutsamkeit durch die Differenzen zur Übertragung. Vor allem hatte sich der Bedingungsrahmen der Veröffentlichung des Unveröffentlichbaren durch die Übersetzung verschoben. Die Eingeschlossenheit in der Ausgeschlossenheit wurde durch eine Hybridisierung zweiten Grades durchbrochen. Tatsächlich avancierte Daya Pawar durch seine Adaptation eines ungewohnten Paradigmas - der Autobiographie -
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Crapanzano 1983, vgl. Anm. 70, S. 22, 35 u.ö. Pawar 1988, vgl. Anm. 69, S. 9-14. Mahatma K. Gandhi: An Autobiography or The Story of my Experiments with Truth. Transi, from the original in Gujarati by Mahadev Desai. Ahmedabad 1956 (First Edition 1927), S. Xf. Pawar 1988, vgl. Anm. 69, S. 186. Horst Turk: Baiute. Intellektuellenszenarien im kontrastiven Vergleich. In: Turk, Bhatti 1997, vgl. Anm. 25, S. 158-190, hier S. 171. Gelber 1995, vgl. Anm. 8, insbesondere S. 52.
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zum literarischen Repräsentanten der Dalit-Bewegung,88 die sich universell für das Recht der Unterdrückten einsetzte. Die Edition hätte den genannten Umständen durch eine verfremdende (kontrastierende) Übersetzung mit einbürgerndem (identifizierendem) Kommentar oder durch eine einbürgernde (identifizierende) Übersetzung mit verfremdendem (kontrastierendem) Kommentar Rechnung tragen können. Solange wie die Gattungsvariante im Feld der fiktionalen Autobiographie und die Sozialisationsvariante im Feld der Emanzipation nicht „familiär" mit dem lokalen Wissen war, hätte sich eine solche Vorgehensweise empfohlen. Erforderlich war eine komparative Lektüre in Kenntnis differenter Paradigmen - literarischer, religiöser und sozialer - , vom Schluß des Romans her gesehen aus hinduistischer Positionierung: buddhistischer, christlicher und muslimischer Observanz, wenn der Text seine Funktion eines Einblicks in die Entstehungsbedingungen des indischen intellektuellen Feldes unter europäisch-deutschen Feldbedingungen sowie eines Einblicks in die abweichenden europäisch-deutschen Entstehungsbedingungen unter fiktiven indischen Feldbedingungen wahrnehmen sollte. Der Intention nach setzte der Text auf die Integration: nicht in direkter Konfrontation mit dem brahmanisch dominierten Szenarium, sondern indirekt über die feldüberschreitende literarische Integration. Mein drittes Beispiel aus dieser Gruppe, Özdamars Karawanserei, warf für die Veröffentlichung vergleichbare Probleme wie Pawars Baiute, aber auch wie Goytisolos Reivindicación, auf. Der Hauptunterschied bestand jedoch darin, daß es sich um einen Fall der eigenkulturellen europäisch-deutschen Minderheitenliteratur handelte, und zwar nicht in der Absicht auf Integration, auch nicht im Zeichen der Dissidenz geschrieben, sondern in der Absicht auf Reintegration aus der Distanz, unter den Prämissen der Dissidenz. Der Roman wurde im deutschen literarischen Feld durchweg als eine gewollte oder ungewollte Bestätigung des „Orientalismus" - etwa in Anklang an Tausendundeine Nacht - wahrgenommen. Intendiert konnte die Bedienung dieses Klischees durchaus gewesen sein, zumal das Klischee als formale Kontrastfolie sowohl den Einblick in die Modernisierung der Türkei flankierte wie auch als Entreebillet für den Auftritt in der europäisch-deutschen Leseszene fungierte. Vor allem hing aber die Tendenz zum Phantasievollen und Poetischen mit dem Interesse an einer konfidentiellen Nutzung der Distanz zur Bewahrung und Erfindung einer minoritären Identität zusammen - wenn man so will: mit einer türkischen „Renaissance" nach erfolgter Akkulturation. Eben dies machte die Lektüre des Textes so unerhört spannend und schwierig; in der Schwierigkeit vergleichbar mit der Reivindicación. Goytisolo ging es um die Preisgabe resp. den Verrat des bestgehüteten Geheimnisses der europäisch-spanischen Sprache, Literatur und Kultur, die Preisgabe resp. den Verrat ihrer arabischen Wurzeln und darin an der römisch-katholischen, europäischspanischen, kastilischen Identität. Der Verrat in dem zuletzt angedeuteten Sinn wurde als Wiederholung der Tat des berüchtigten Don Julián inszeniert, der 711 die Araber ins Land holte, eingebettet in eine Klimax von Verraten als bewußt ergriffenes und begriffenes Prinzip der Modernisierung wie der Geschichte, um „sich zu befreien von
Eberhard Berg, Martin Fuchs (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/Main 1993.
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dem, was uns identifiziert, uns definiert".89 Özdamar vollzog umgekehrt eine Kultur-, Literatur- und „Sprachimmigration",90 nicht ohne diese Tendenz durch einen Rückgang auf das Koranarabisch (Mutterzunge) mit einer erhöhten Schubkraft zu versehen, durch die die moderne Türkei zugleich mit in Frage gestellt wurde, nicht anders als durch die „Sprüche und Weisheiten" der Großmutter:91 „es war einmal - es war keinmal".92 Das Problem der Übersetzung und der Übersetztheit stellte sich bei beiden Texten doppelt und in beiden Fällen nicht ohne Brisanz. So war die Übersetztheit bedeutender Bestände des Spanischen - nicht nur lingual, sondern auch mental, habitual und emotional - aus dem Arabischen ein Sakrileg an der nationalen wie an der europäischen, christlich-abendländischen Identität, war die Übersetztheit des Deutschen aus dem Türkischen - wiederum nicht nur lingual, sondern auch mental, habitual und emotional - ein faszinierender Einbruch in die literarische Selbstpräsentation. Was die Übersetzung ins Arabische bzw. ins Türkische anlangt, so wurde Goytisolos Roman zwar in die wichtigsten europäischen Sprachen, jedoch nicht ins Arabische übersetzt. Die Karawanserei wurde 1993 ins Türkische übersetzt. Eine nicht unwichtige Rolle dürfte dabei die Dissidenz in dem einen sowie die Konfidenz in dem anderen Fall gespielt haben. Wollte man die Reivindicación und die Karawanserei förmlich und sei es auch nur stellvertretend für die Dissidenz, die Migrations- und Minderheitsliteratur in den deutschen Textkanon aufnehmen, dann lägen die Hauptaufgaben des editorischen und übersetzungswissenschaftlichen Kommentars wie bei Baiute und wie bei Tuhami im Bereich der komparativen generischen, nicht der historischen genetischen Annotierung.
m Es empfiehlt sich, von hier aus noch einmal den Blick auf die klassischen Aufgaben der Edition und deren Wahrnehmung im innerkulturellen wie im interkulturellen Feld zu richten. Das Aufgabenfeld der komparativen generischen Edition ist nicht völlig neu, wurde aber in der Vergangenheit durchgängig durch die historisch-genetische Sichtweise und Aufgabenstellung überdeckt. Daß dabei die Geschichte einsinnig nach Art der Modernisierungs-, Zivilisierungs- und Kolonisierungsgeschichte ohne „acting out" oder „negotiation" der Antagonismen wahrgenommen wurde, lag in der Natur eines eher imperialen, zumindest hegemonialen Zugriffs. Auf diese Weise wurden Texte wie die Upanishaden oder die Bagavadgitha erstmals übersetzt sowie editorisch dem Wortlaut, dem Sinn, dem Kontext und der Überlieferung nach gesichert. Auf
Horst Turk: Übersetzung ohne Kommentar. Kulturelle SchlUsselbegriffe und kontroverser Kulturbegriff am Beispiel von Goytisolos Reivindicación del Conde don Julián. In: Fred Lönker (Hrsg.): Die literarische Übersetzung als Medium der Fremderfahrung. Berlin 1992 (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 6), S. 3-40. Walter Hinck: Großmutter und die Bagdadbahn. Das deutschsprachige Romandebüt einer türkischen Autorin [Rez.]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.1992. Joachim Sartorius: Mit Bismillahirahmanirrahim in seine zitternden Arme. Emine Sevgi Özdamars Romanerstling „Das Leben ist eine Karawanserei" [Rez.]. In: TAZ, 1.10.1992, S. 15. Özdamar 1992, vgl. Anm. 71, S. 99.
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diese Weise wurden auch moderne Texte übersetzt und ediert - ins Deutsche und aus dem Deutschen. Wenn man mit Greetham und der angloamerikanischen Debatte davon ausginge, daß kanonische und moderne Texte in der Edition die „condition of offcenteredness" für den „literary tribalism", die „interestedness between text and criticism", überhaupt den „cultural criticism" bereitstellen müsse, dann müßte das Verhältnis von „agencies", „practices" und „symbolic identifications" 93 auf der Ebene der „symbolic identifications" selbst ausgebracht werden: virtuell, fiktional und real, je nachdem, welches Konzept der „poetics of displacement" 94 im Text zugrunde gelegt wurde, mit dem Akzent auf den Diskursreferenzen, auf dem „emplotment" oder „enactment". 95 Das Kapitel in den Theories of the Text handelt über Gesellschaft und Kultur im Text („Society and Culture in the Text"), nicht über Gesellschaft und Kultur als Text. In welcher editorischen Gestalt Texte den „new place [...] of non-coherent, non-universalist, non-national canons" im Sinn des „cultural criticism" 96 bilden, die Ressourcen des Feldes nutzen und die Interessenwahrnehmung begünstigen könnten, wird jedoch nicht konkret ausgeführt. Griffe man die Anregung auf, dann ließe sich an eine „generische Edition" zu Vergleichszwecken anstelle der „genetischen Edition" zu Autorisierungszwecken denken. Die „generische Edition" müßte die „genetische" nicht verdrängen, sondern diese bliebe in Kraft, wie - neben der Leserschaft - die Autorschaft 97 in Kraft bleibt. Das Register der philologischen Verstehens- und Überzeugungsgrundlagen würde lediglich um einen temporär vernachlässigten Sektor erweitert und operativ um die erforderlichen Vorleistungen ergänzt. Wie könnte eine solche „generische Edition" konkret aussehen? Sie wäre grundsätzlich räumlich, nicht zeitlich anzulegen, würde nach dem Modell des „mapping" im Feld der „local knowledge" verfahren und hätte den Zweck, die „interrogative agency" durch kontrastive Gegenüberstellungen anzuregen. Sie würde dem „displacement" trans-, inter- und innerkultureller Elemente durch die Berücksichtigung mehrerer, in der Regel differenter Referenzrahmen, gestaffelt nach Lektüreverfahren, Feldern der Emotionen-, Verhaltens-, Vorstellungs- und Handlungsgestaltung, entgegenkommen. Dem Mäandern des edierten Textes durch die Schichten des Felds und zwischen den Feldern wäre synoptisch Rechnung zu tragen. Die Edition würde sich dabei der Technik der „windows" in der digitalen Aufbereitung bzw. der Marginalglossen in der print-Version bedienen! Im Vordergrund stünden nicht Wort- und Sacherläuterungen, sondern Wort- und Sachverortungen, wobei die Objektivität entlang den Gegebenheiten des Feldes systematisierend unter Einschluß der Feldgeschichte, nicht historisierend entlang der Feldgeschichte unter Einschluß der Systematik zu gewährleisten wäre. Stemmatologisch wären folgende Relationen zu verwenden und zu unterscheiden: 1) , 2) , 3) Nach der Sehnsucht ich mich sehne tut [darüber:] den/dem/dann ¿¿¿ ¿¿¿ Sieh' mal an ich mach miau ähnlich wie einst Paul Verlaine.
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Mikrogramm-Blatt 488/1; BG 2, 478. Zur Nennung Verlaines in diesem Bleistifttext vgl. unten S. 159. Paul Verlaine: Gedichte. Fêtes galantes, La Bonne Chanson, Romances sans paroles. Französisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Wilhelm Richard Berger. Stuttgart 1988, S. 94ff. - Vgl. den Kommentar in BG 2, 563: „Der Form nach ist Walsers Gedicht Verlaines berühmtem ,D pleure dans mon cœur/comme il pleut sur la ville' nachempfunden, dessen Stimmung es auch ironisch zitiert."
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O du mehr als schon genug Übertragenes Gewähne ¿>Einst vor Jahren zwanzig Jahren frug ich auch sehr nach Paul Verlaine. Stimmungsvoll ist zweifellos was ich dehne da und dehne in der punkto Neuigkeit war groß unser Papa Paul Verlaine. Gebet eine Zwiebel mir, daß die Träne mir auch träne, ¿>die einst unserm Paul Verlaine
rinnelte auf diodcm Papier km rinnelt' auf das Schreibpapier.10
Soweit für's erste. Vorerst ausgespart bleiben soll der Schluß - genauer: die Enden dieses Texts; um mit Walser zu sprechen: „Hievon nachher mehr."11 Zunächst aber möchte ich Ihnen den ersten Gesichtspunkt erläutern, unter dem ich Walsers Gedicht als Verlaine-Übertragung und als eine Lektüre der deutschsprachigen Verlaine-Rezeption zu rekonstruieren versuche. Dabei will ich den Weg von Walsers Text zu einer partiellen Lektüre von Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers12 einschlagen. Denn Walsers Übersetzung stellt eine Frage zur Diskussion, die Benjamins Aufsatz auffällig an den Rand drängt - dies, obwohl sie in aller Dringlichkeit doch eigentlich am Ursprung jeder Reflexion über das Übersetzen zu stehen hätte: was ist der Text einer Übersetzung? Das eigentümliche Zwiegespräch, das Walsers und Verlaines Zeilen miteinander zu führen beginnen, läßt sich leicht noch polyphoner gestalten. Gleichsam um meine Frage nach dem Text einer Übersetzung in ihrer Dringlichkeit noch zu verschärfen, will ich Ihnen drei augenscheinlich .seriösere' Übertragungen von Verlaines Gedicht nicht vorenthalten. Zunächst die Stefan Georges, 1905 im ersten Teil der Übertragungen zeitgenössischer Dichter erschienen: Es tränet in mein herz Wie es tropft auf die häuser · Was für ein sehnender schmerz Dringt mir ins herz!
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Folgende diakritischen Zeichen wurden in der Darstellung verwendet: Kursiv: unsichere Entzifferungen; >: Überschreibung; ¿: Unentziffertes; Umstellung. Zitate im Text ohne weiteren Nachweis beziehen sich auf dieses Gedichtmanuskript. BG 3, 11. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers [1923]. In: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Bd. IV. 1. Frankfurt/Main 1972, S. 9-21.
Robert Waiserais „Verdeutscher von Verlaine"
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Ein sanftes geräusch ist der regen Auf dem boden auf dem dach. Für ein herz das die leiden bewegen O wie singt der regen! Es regnet ohne grund Im herzen das sich verzehret. Was? kein verrat ward ihm kund? Die trauer ist ohne grund. Das sind die ärgsten peinen: Nicht zu wissen warum.. Liebe keine - hass keinen Mein herz hat solche peinen.13 Ein Jahr später erscheint im Insel-Verlag ein Band ausgewählter Gedichte Verlaines in der, so das Impressum, ,,einzig[en] vom französischen Verleger autorisiert[en] Übertragung" von Graf Wolf von Kalckreuth. Es weint mein armes Herz, Wie auf die Stadt es regnet, Ach, welch ein banger Schmerz Durchdringt und quält mein Herz? Wie rauscht so sanft der Regen Auf Strasse und auf Dach. Mein mtides Herz zu hegen O, wie singt der Regen! Es weint ohn' allen Grund In meinem blut'gen Herzen. Ward durch Verrat es wund? Mein Leid ist ohne Grund. Das ist das schwerste Leiden, zu wissen nicht warum. Da Hass und Lieb' mich meiden Mein Herz muss so viel leiden.14 Und schließlich die Übersetzung von Stefan Zweig in der von ihm herausgegebenen zweibändigen Verlaine-Werkausgabe, erschienen 1922 ebenfalls im Insel-Verlag, nun unter dem Titel:
Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 2. München, Dusseldorf 1958, S. 41 Of. Paul Verlaine: Ausgewählte Gedichte. Übertragen von Graf Wolf von Kalckreuth. Leipzig 1906, S. 59.
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Regenlied Wie nun des Regens Gerinn rauschend die Stadt umsingt, fühl ich ein Trauern, das in meine schauernde Seele dringt. Regen, o Regengesang, dächer- und bodenwärts, was bist du für lieber Gesang für ein einsames Herz! Dein Klingen und Klagen, es klopft mir auch im Herzen, das heiß sich in Tränen zertropft und doch seine Trauer nicht weiß. Wer, o wer sagt mir das, warum sich mein Herz so betrübt, daß es stumm, ohne Liebe und Haß, einem grundlosen Grame sich gibt?15 Die Übersetzer-Elite der Jahrhundertwende hat sich also an diesem Text versucht mit höchst unterschiedlichen Resultaten, wie die Konfrontation der drei Übertragungen zeigt. Also tatsächlich ein„mehr als schon genug / übertragenes Gewähne"? Man wird mir nicht ohne weiteres zugestehen, daß es sich bei Walsers Übertragung um eine seriöse Auseinandersetzung mit Verlaines Gedicht, ja gar um eine Übersetzung im gebräuchlichen Sinn des Wortes handelt. Als Parodie wird man möglicherweise diesen Text gelten lassen, ihm gar eine derb-komische Travestie des künstlerisch raffinierten und zugleich betont einfachen Tons16 der dritten Romance sans paroles unterstellen. Wider alle Evidenz aber möchte ich daran festhalten, daß die erste Zeile von Walsers Gedicht - „Hier wird sorgsam übersetzt" - in der Arbeit des Textes durchaus ihre Berechtigung findet. Daß hier eine parodistische, genauer .witzige' Art der Übertragung vorliegt, sei eingestanden - wenn Sie mir gestatten
Paul Verlaines gesammelte Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Stefan Zweig. Leipzig 1922. Bd. 1: Gesammelte Gedichte. Eine Auswahl der besten Übertragungen, S. 93. Eine Verbindung, die bereits die zeitgenössische Rezeption irritiert hat, so den ersten größeren Aufsatz Uber Verlaines Poesie: ,,[C]omme ce poète n'exprime ses idées et ses impressions que pour lui, par une vocabulaire et une musique à lui, - sans doute, quand ces idées et ces impressions sont compliquées et troubles pour lui-même, elles nous deviennent, à nous, incompréhensibles; mais quand, par bonheur, elles sont simples et unies, il nous ravit par une grâce naturelle à laquelle nous ne sommes plus guère habitués, et la poésie de ce prétendu .déliquescent' ressemble alors beaucoup à la poésie populaire" (Jules Lemaitre: M. Paul Verlaine et les poètes .symbolistes' et .décadents' [1888]. In: Verlaine. Mémoire de la critique. Hrsg. von Olivier Bivort. Paris 1997, S. 127-155, Zit. 155. Vgl. dazu die linguistische Analyse der Musikalität von Verlaines Romances sans paroles in der dem Verfahren nach an Saussures Anagramm-Studien erinnernden Untersuchung von Michel Malherbe: L'euphonie des Romances sans paroles de Paul Verlaine. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 13f.; 102109).
Robert Walser als „ Verdeutscher von Verlaine "
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wollen, .witzig' hier im Sinn des von Freud beschriebenen „Verschiebungswitzes" zu gebrauchen. Diesen zeichnet bekanntlich im Gegensatz zur bloßen Doppelsinnigkeit ein Gedankensprung aus, ein Übersetzen von einem Gedanken zum anderen, dessen witzige Wirkung durch Reduktion auf einen von ihnen - wie Freud sagt - nicht „vernichtet" werden kann.17 Walsers Gedicht - um den modischen Terminus mangels eines treffenderen zu gebrauchen - ,dekonstruiert' das, was man gemeinhin die Arbeit oder, nach Benjamin, die Aufgabe des Übersetzers nennt.18 Ohne hier ausführlicher auf die Abgriinde dieses letzteren, so komplexen wie schönen Textes eingehen zu können, sollen im folgenden drei Punkte hervorgehoben werden, an denen sich eine solche Auseinandersetzung - oder eben ,Dekonstruktion' - feststellen ließe.19 Das Wesentliche an der Übersetzung ist, so Benjamin, „nicht Mitteilung, nicht Aussage" und damit also keine Vermittlung eines ihr zugrunde liegenden Originals: „diejenige Übersetzung, welche vermitteln will" könnte „nichts vermitteln", und auch das nur ungenau, „als die Mitteilung - also Unwesentliches."20 Genau gegen diese Gesetzmäßigkeit, die vor „schlechten Übersetzungen" bewahren soll, verstoßen die ersten Zeilen von Walsers Gedicht. Was in ihnen versucht wird, ist tatsächlich lediglich eine Vermittlung des ,narrativen' Inhalts des Gedichts: der Regen auf den Dächern der Stadt sowie die Übertragung dieser Regenstimmung aufs Herz des lyrischen Ich. Was aber Walsers Übersetzung von einer bloß „schlechten Übersetzung" unterscheidet, ist der in diesen Verstoß eingeschriebene Grad der Selbstbezüglichkeit. Durch sie schiebt sich vor diese ungenaue Mitteilung des Unwesentlichen eine weitere Ebene der Mitteilung, welche die Differenz zwischen .Original' und .Übersetzung' unmittelbar sichtbar macht: „Hier wird sorgsam übersetzt / das Gedicht von Paul Verlaine, / wo der Regen hat genetzt / jene Dächer an der Seine."
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Vgl. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland hrsg. von Anna Freud. Bd. 6. London 1940, S. 48-58, Zitat S. 49. Zu einer - von ihm als unvollkommen gerügten und ziemlich ironisch abgehandelten - Tradition .parodis tischen' Übersetzens vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans. In: Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 1.7. Weimar 1888, S. 236f. Goethe definiert sie als „Epoche [...], wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich im reinsten Wortverstand die parodistische nennen. Meistenteils sind es geistreiche Menschen, die sich zu einem solchen Geschäft berufen fühlen." - Ulf Bleckmann nennt Walsers Text eine „respektlose Meta-Übertragung" ( ein Meinungslabyrinth, in welchem alle, alle herumirren...". Intertextualität und Metasprache als Robert Walsers Beitrag zur Moderne. Frankfurt/Main u.a. 1994, S. 202). Vgl. zu Benjamins Aufsatz die Beiträge von Jacques Derrida, Carol Jacobs und Paul de Man im Band: Übersetzung und Dekonstruktion. Hrsg. von Alfred Hirsch. Frankfurt/Main 1997, S. 119-228; ebenso die beeindruckenden Überlegungen von Ulrike Dünkelsbühler zum Verfahren des von ihr so genannten „Translantig", eines ,,schräge[n] Übersetzen [s]", was „mehr und etwas anderes heißen [möchte] als ein Übersetzen, das nicht ganz adäquat ist", nämlich den Versuch benennt, „gegenüber dem Gesetz Verantwortung zu übernehmen [...], indem es nicht die Verpflichtung verweigert, sondern den Versuch, dem Gesetz zu gehorchen." (Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida. München 1991, S. 65-89; Zitat S. 65; 67) - Diese Auseinandersetzung ist natürlich in erster Linie (m)eine eigene „traduction errante" (ebd., S. 60), wenn auch, rein theoretisch, Walser Benjamins 1923 in einer Auflage von nur 500 Exemplaren erschienene BaudelaireÜbersetzungen gekannt haben könnte. Benjamin 1923, vgl. Anm. 12, S. 9.
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Ein zweiter Bezugspunkt ergibt sich aus der Historisierung des Textes, welche für Benjamin die unabdingbare Grundlage jedes Übersetzungsvorgangs bildet: Übersetzungen, die mehr als Vermittlungen sind, entstehen, wenn im Fortleben ein Werk das Zeitalter seines Ruhmes erreicht hat. Sie dienen daher nicht sowohl diesem, wie schlechte Übersetzer es für ihre Arbeit zu beanspruchen pflegen, als daß sie ihm ihr Dasein verdanken. In ihnen erreicht das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung.21 Von dieser Geschichtlichkeit des Übersetzungsvorgangs legt Walsers Gedicht auf mehreren Ebenen Zeugnis ab. Zunächst wird die betonte zeitliche und räumliche Aktualität des Übersetzungsvorgangs - , flier wird sorgsam übersetzt" - konfrontiert mit der Vorzeitigkeit des lyrischen Augenblicks im übersetzten Text - „wo der Regen hat genetzt" (Hervorhebungen SK). Diese Präsentierung des Übersetzungsvorgangs, die am Schluß des Textes wieder aufgenommen werden wird, kontrastiert zudem mit der Zuschreibung, daß das übertragene Gedicht das „Zeitalter seines Ruhms" - möglicherweise gerade durch das ,Zuviel' an Übersetzung - bereits Uberschritten hat: „einst vor zwanzig Jahren frug / ich auch sehr nach Paul Verlaine." Damit scheint Walsers Übersetzung auszusprechen, was Paul de Mans Benjamin-Lektüre zufolge die Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit des Texts im Verhältnis zu seiner Übersetzung bestimmt: „Die Übersetzung gehört nicht zum Leben des Originals, das Original ist bereits tot, sondern die Übersetzung gehört zum Fortleben des Originals, setzt also den Tod des Originals voraus und bekräftigt ihn."22 Die .zwanzig Jahre', die Walser ins Feld führt, entsprechen übrigens ziemlich präzise dem seit den ersten deutschen Übersetzungen vergangenen Zeitraum - eine breitere Rezeption Verlaines in Deutschland setzt also ungefähr gleichzeitig und teilweise am selben Ort23 ein wie Walsers Laufbahn als Schriftsteller. 1900 erscheint ein schmaler Gedichtband in der Übersetzung von Otto Hauser (die erste selbständige Veröffentlichung Verlaines in deutscher Sprache); 1904 die kleine Biographie von Stefan Zweig (die erste deutschsprachige Monographie über Verlaine). 24 Durch die dem Text Walsers eingeschriebene, sich vom Übertragenen historisch und kritisch distanzierende Übersetzer-Stimme wird damit deutlich gemacht, daß - äquivalent zu Benjamins Überlegungen - die Übersetzung keinen Dienst am übersetzten Text darstellt, sondern daß sie sich ihm als „Schreibanläßlichkeit" 25 verdankt. Es gibt indes noch einen dritten Bezugspunkt, von dem aus sich Benjamins Aufsatz mit Walser Gedicht lesen ließe: Übersetzung läßt sich nicht übersetzen. 26 Diese Aussage Benjamins - einer der Lieblingssätze etwa von de Mans Benjamin-Lektüre -
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Benjamin 1923, vgl. Anm. 12, S. 11. Paul de Man: Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers". In: Übersetzung und Dekonstruktion, vgl. Anm. 19, S. 182-228, hier S. 198. In den Heften der Insel wird Walser wohl zum ersten Mal Texten von Verlaine begegnet sein. Paul Verlaine: Gedichte. Übersetzt von Otto Hauser. Berlin 1900; Stefan Zweig, Paul Verlaine. Berlin, Leipzig 1904 (Die Dichtung. XXX). SW 18, 76. Vgl. Benjamin 1923, vgl. Anm. 12, S. 14f.
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scheint Walsers Gedicht auf zwei Ebenen zu reflektieren. Erstens läßt seine „respektlose Meta-Übertragung"27 von der ersten Zeile an aufscheinen, daß sie sich nicht nur über einen ihr zugrundeliegenden Text äußert, sondern über das Übersetzen überhaupt. Schon die Bezeichnung .übersetzen' beginnt sich bei genauerer Betrachtung zu spalten und fängt an, semantische Wucherungen zu erzeugen. Dem Wort .übersetzen' ist nämlich zunächst einmal nicht anzusehen, ob hier etwas „aus einer spräche in die andere"28 oder etwa jemand über einen Fluß transportiert werden soll. Daß in unserem Zusammenhang und im Zusammenhang mit Texten überhaupt die übertragene Bedeutung des Xjbersetzens die naheliegende, wenn nicht gar die schlechthin unmetaphorische gewordene ist, braucht nicht bezweifelt zu werden.29 Im Gegenteil lenkt das den Blick auf einen Transformationsvorgang, der gerade dann bedeutsam wird, wenn wir es - wie im vorliegenden Fall - mit einem Text zu tun haben, dem man den Charakter einer Übersetzung nicht ohne weiteres zugestehen wird. Die .eigentlich' wörtliche Bedeutung des £/¿>ersetzens wird zu einem metaphorischen Subtext, der auf den traditionsreichen Topos der Schiffahrt als Bild dichterischer Produktion ebenso verweist wie auf den Kulturtransfer, den Überheizen allemal bedeutet. Die Metrik der ersten Zeile „Hier wird sorgsam übersétzt" hält die Spannung der beiden Bedeutungsebenen des Wortes über die Schrift hinaus fest, indem sie eine Betonung sowohl der ersten wie der letzten Silbe erfordert. Dieser Reflexionsgehalt der ersten vier Zeilen hat Ulf Bleckmann bewogen, von einer offenkundigen Paradoxie zu sprechen, die Walsers Gedicht benennt: Schon die erste Strophe mündet in das Paradoxon einer ihrer selbst bewußten Übersetzung: eine Übersetzung, die ihren Übersetzungscharakter offen vorführt, kann keine Übersetzung mehr sein. Die Übersetzung versucht mit dem Originaltext so weit wie möglich deckungsgleich zu sein, darf also nicht expressis verbis auf diesen Originaltext referieren, wie Walsers vorgebliche Übertragung es ja tut, indem sie mit den Substituentia ,das Gedicht' und jene Dächer' die als bekannt vorausgesetzte Verlaine-Vorlage und deren Inhalt nennt.30 Doch Walser nimmt zweitens seine Aufgabe als .Übersetzer' so sorgsam in Angriff, daß es beim Blättern in Verlaines Gedichtbänden beinahe scheint, „das Gedicht" sei hier im emphatisch Heidegger'sehen Sinn als jenes eine und einzige Gedicht gemeint, 1
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Bleckmann 1994, vgl. Anm. 18, S. 202. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm [Leipzig 1854-1971]. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe. München 1984. Bd. 23, Sp. 549. Doch ist das kein Grund, diese .Aufpfropfung' zu vergessen: .„Übersetzung* übersetzt [...] nur eine von vier uneigentlichen Bedeutungen von .translatio' als ,die Übertragung = Übersetzung aus einer Sprache in die andere (als Handlung)', verhält sich mit dieser metonymischen Privilegierung eines Teils des Bedeutungskomplexes also metaphorisch zum Ubersetzten Wort: Die Übersetzung entscheidet in diesem Fall das Verhältnis von eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung des zu Ubersetzenden Wortes und metaphorisiert [...] es auf diese Weise, p[f]ropft ihm ein Meta-Verhältnis auf zwischen der privilegierten uneigentlichen und dem Verhältnis von eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung, indem es das zu Ubersetzende Wort seiner Polysemie beschneidet. Doch diese Beschneidung erweist sich möglicherweise als fruchtbar: Der P[fjropfreisling treibt seltsame BiUten." (Maitin Stingelin: Freud zur See. Anmerkungen zu den Fährnissen des Übersetzungskomplexes. In: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 27/28, August 1988, S. 140-153, Zitat S. 140f.). Bleckmann 1994, vgl. Anm. 18, S. 202f.
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aus dem ,,[j]eder große Dichter" nur dichte.31 Denn allenthalben tauchen plötzlich Verlaine'sche Vers-Bruchstücke auf in diesen wenigen Zeilen: So charakterisiert das „Gedicht [...],/ wo der Regen hat genetzt / jene Dächer an der Seine" nicht nur den übertragenen Text, sondern spielt ebenfalls auf die Zeilen aus dem Gedicht mit der Anfangswörtern „Der Schenken Lärm..." („Le bruit des cabarets...") an: „die Dächer naß, Asphalt und glitschig Pflaster / und Gossen, die der Regen schwellen ließ" („Toits qui dégouttent, murs suintants, pavé qui glisse, / Bitume défoncé, ruisseaux comblant l'égout");32 das „grau in grau", bei Walser Paris zugeschrieben, zitiert den Beginn der in der Übertragung mit „Der Bannkreis" betitelten siebten Ariette oubliée: „O grau war mir zumute, grau, / um eine Frau, um eine Frau" („O triste, triste était mon âme / À cause, à cause d'une femme");33 die schöne figura etymologica „nach der Sehnsucht ich mich sehne" scheint sich auf die lediglich in der deutschen Übersetzung mit Sehnsucht betitelte fünfzehnte „Bonne chanson" zu beziehen;34 das „miau", das es Walser offenbar derart angetan hat, daß es im Zusammenhang mit Verlaine gleich mehrmals erwähnt wird,35 schallt uns aus einem Sonett entgegen, das er bestimmt nicht ohne Vergnügen zur Kenntnis genommen haben wird: Weib und Katze
Femme et chatte
Sie spielte mit dem Kätzchen, und es war hübsch zu schaun, wie's Händchen und das Tätzchen tanzten im Abendgraun.
Elle jouait avec sa chatte, Et c'était merveille de voir La main blanche et la blanche patte S'ébattre dans l'ombre du soir.
Im schwarzen Handschuhnetzchen versteckte - o der Schlau'n! die Nägelchen das Schätzchen, die messerscharfen Klau'n.
Elle cachait - la scélérate! Sous ses mitaines de fíl noir Ses meurtriers ongles d'agate, Coupants et clairs comme un rasoir.
Auch's andre Kätzchen machte sich zuckersüß, und sachte zog es die Krallen ein...
L'autre aussi faisait la sucrée Et rentrait sa griffe acérée, Mais le diable n'y perdait rien.
Im Boudoir der Frauen, Bei Lachen und Miauen, blitzt vierfach Phosphorschein.
Et dans le boudoir où, sonore, Tintait son rire aérien, Brillaient quatre points de phosphore.3'
Martin Heidegger: Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakts Gedicht. In: Unterwegs zur Sprache. Gesamtausgabe. 1. Abt.: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Bd. 12. Frankfurt/Main 1985, S. 33. Verlaine 1922, vgl. Anm. 15, Bd. 1, S. 85; Paul Verlaine: Œuvres poétiques complètes. Texte établi et annoté par Y.-G. Le Dantec. Édition révisée, complétée et présentée par Jacques Borei. Paris 1962, S. 152. Verlaine 1922, vgl. Anm. 15, Bd. 1, S. 96; Verlaine 1962, vgl. Anm. 32, S. 195. Verlaine 1922, vgl. Anm. 15, Bd. 1, S. 82; Verlaine 1962, vgl. Anm. 32, S. 151f. „In seinem genialen Lyrikerzimmer / sitzt oder liegt und dichtet noch immer / Paul Verlaine mit der Fratze / der asiatischen Katze, / macht nach wie vor miau" (Gedicht auf Paul Verlaine, SW 13, 181). Verlaine 1922, vgl. Anm. 15, Bd. 1, S. 24; Verlaine 1962, vgl. Anm. 32, S. 74f.
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Und schließlich zitiert Walser gerade da, wo sein Text sich am ironischsten über seine „Schreibanläßlichkeit" äußert, beinahe am genausten. Das wird zusätzlich durch den Wechsel des Reimschemas markiert - welches im übrigen sich um den Prätext nicht schert: „Gebet eine Zwiebel mir, / daß die Träne mir auch träne, / die einst unsrem Paul Verlaine / rinnelt' auf das Schreibpapier" - so Walser, was bei Verlaine unter dem selbstbezüglich-poetologischen Titel „Art poétique"/,.Dichtkunst", jenem „Stützpunkt aller Formeln [...], die den Versequilibristen Dogmen wurden",37 folgendermaßen lautet: „Und sei dein Vers, wie durch die Saaten/ im Morgentau der Frühlingswind / mit zärtlichem Geriesel rinnt... / der Rest gehört den Literaten!" („Que ton vers soit la bonne aventure / Éparse au vent crispé du matin / Qui va fleurant la menthe et le thym... / Et tout le reste est littérature.").38 Wie Sie gehört haben werden, ist es nicht Bequemlichkeit meinerseits, daß ich Ihnen hier in erster Linie die deutschen Übertragungen dieser Gedichte vorgetragen habe. Denn Walsers Übersetzung montiert Elemente aus der deutschen VerlaineRezeption, die sich so zu einem großen Teil im Original nicht finden; er übersetzt unmöglich - Übersetzung, suspendiert so aber auch die Fixierung, ja Blockierung, welche Übersetzung dem Original antut. „Übersetzung verpflanzt" - so Benjamin „das Original in einen wenigstens insofern - ironisch - endgültigeren Sprachbereich, als es aus diesem durch keinerlei Übertragung mehr zu versetzen ist, sondern in ihn nur immer von neuem und an anderen Teilen erhoben zu werden vermag."39 Damit aber stellt Walser die Tätigkeit des Übersetzens genau in jenen Zusammenhang, von dem seine furiose Zurückweisung der Zumutung Fankhausers ausgegangen war: in die Gesetzmäßigkeiten eines Text-Transfers, mit dem über Verbreitung und Anerkennung eines Schriftstellers in kulturellen Kontexten entschieden wird. Der Übersetzer verschafft sich seine Legitimation durch die Geste des Übersetzens und im Namen des Übersetzten - im Fall Verlaines wird dieser Aspekt noch verstärkt durch die Herausgeberpraxis Stefan Zweigs, der den Anspruch einer .Anthologie der besten Übertragungen" explizit erhebt. Walsers Übersetzung steht so einerseits im Zentrum seiner Poetologie der .Eigentümlichkeit', welche sich durch eine andauernde Reflexion über die Beeinflussung des eigenen Schreibens durch .Fremdtexte' und durch kulturelle Erwartungsmuster darüber, wie .Literatur' auszusehen habe, auszeichnet. „Gewisse Leute sind hingegangen und haben gesagt, ich sei kein richtiger Paul Verlaine, als ob ich je irgendwann versprochen hätte, mich zu einem Verlaine .auszubilden'", 40 so das eingangs bereits zitierte Mikrogramm 138/1 in diesem konkreten Zusammenhang. Gegen solche Zumutungen schreibt Walser in der Berner Zeit mit aller Kraft an, und eine weitere, im Herbst 1925 entstandene Erwähnung Verlaines ist vor diesem Hintergrund nicht uninteressant. Im Rahmen einer Polemik gegen „eine Sorte sehr gebildeter Menschen, die ihre Umwelt total verachten", und einen auf konventionalisierten ästhetischen Normen beruhenden , Geistesaristokratismus ' heißt es da:
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Zweig 1904, vgl. Anm. 24, S. 72. Verlaine 1922, vgl. Anm. 15, Bd. 1, S. 173; Verlaine 1962, vgl. Anm. 32, S. 327. Benjamin 1923, vgl. Anm. 12, S. 15. BG 2, 475f.
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Eines möchte ich wissen, wofür sie [die „geistigen Aristokraten", SK] sich verantwortlich fUhlen, aber sie meinen wahrscheinlich, es genüge vollkommen, in ihren Jugendtagen Gedichte von Verlaine geschlürft, genossen, gelesen und nach ihrem ganzen Umfang hin verstanden zu haben. Da sitzen sie dann, trinken den Kaffee aus sehr hübschem, möglichst auf altertümliche Art bemaltem Geschirr und schlendern dann an den Schreibtisch, woran sie einen Essay schreiben, z.B. eine Vorrede, so eine Einführung in die Geheimnisse eines berühmten Autors, der längst tot ist und deshalb tausendmal viel besser dichtete als alle Heutigen zusammen.41 Walsers lyrische Produktion, die um 1924/25 nach - einmal mehr - zwanzig Jahren wieder einsetzt, hat mit der einfachen Raffinesse seiner um die Jahrhundertwende geschriebenen Gedichte nur noch wenig zu tun - was Fankhauser, der damals wohl nur diese frühen und Verlaine stellenweise gewiß eher wahlverwandten Gedichte gekannt hat, natürlich nicht wissen konnte. Walsers ironische und über ein Jahr anhaltende Distanzierung von Verlaine, könnte man vielleicht behaupten, ist auch eine Selbstdistanzierung.42 Was andererseits den Einfluß von .Fremdtexten' betrifft, entwickelt Walser zur selben Zeit höchst raffinierte Inszenierungsmodi eines konstitutiv intertextuellen Schreibens, das sich allerdings um die Eigenrechte der umgeschriebenen Texte, seien es eigene oder fremde, ebenso wenig schert, wie es um den Anspruch bekümmert ist, ihnen gegenüber eine Art poetischer Gerechtigkeit walten zu lassen. Die besondere Schreibszene Walsers bietet - im wörtlichen Sinne - den Raum für eine hochgradig vernetzte Textproduktion, bei der manchmal, zur Verzweiflung des Interpreten, geradezu alles mit allem zusammenzuhängen scheint. Das gilt auch für das Text-Ensemble des Mikrogramm-Blatts 484. Ich möchte darauf zur Illustration jener Probleme zumindest kurz noch verweisen, die sich aus diesen spezifischen Eigenheiten von Walsers Schreiben für den Bibliothekstraum, aber wohl Editorenalptraum einer wenn möglich historisch-kritischen Ausgabe hoffentlich irgendeinmal ergeben werden. Auf dem 215 χ 130 mm großen Blatt, einem Blatt ungefähr vom Format A 5 also, befinden sich nicht weniger als 14 verschiedene Text-Blöcke - ein Prosastück und 13 Gedichte43 - , zwischen denen vielfältige Interdependenzen bestehen, auf die ich hier nicht in der gebotenen Ausführlichkeit eingehen kann. Zwei kleine Belege aus dem Notationszusammenhang des Blattes sollen hier aber nicht fehlen, da sie mir erlauben, die soeben formulierte These zur poetologischen Funktion von Walsers Verlaine-Übertragung zu unterstreichen. In einigen der Gedichte dieses Mikrogramm-B lattes finden sich nämlich genau die Reflexionen um Eigenständigkeit und Bevormundung, welche Walsers Verlaine-Bezüge der Berner
BG 1, 226f. Einen Überblick zu Walsers Lyrik gibt Werner Morlang: Gelegenheits- oder Verlegenheitslyrik? Anmerkungen zu den späten Gedichten Robert Walsers. In: Robert Walser. Hrsg. von Klaus-Michael Hinz und Thomas Horst. Frankfurt/Main 1991, S. 115-133. Die tabellarische Übersicht (BG 2, 626f.) verzeichnet insgesamt 13 Einzeltexte, im Textteil wird dagegen zutreffend das Gedicht Was war es fiir ein herrliches Antlitz mit der Lokalisierung 484/XIV angeführt (BG 2, 363). Außerdem weist das Mikrogramm-Blatt am unteren Blattrand in der vierten Spalte drei (Gedicht-?)Zeilen auf, die ich bisher den übrigen Texturen nicht zuordnen konnte.
Robert Walser als „Verdeutscher von Verlaine"
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Zeit mittragen, in gewissermaßen referenzlos poetischer Form. So etwa in den folgenden Gedichtzeilen: Ein jeder meint, man schätze ihn, ach, wie sie alle eitel sind und eifrig in sich selbst verliebt, sie glauben all', man suche sie, fänd' ohne ihren Fingerzeig den Weg nicht, ohne ihre Gnad' keinen Gewinn. Nein, liebe Leut', euch hab' ich nie gesucht und auch noch heute fällt mir dies nicht ein. [...] Habt ihr denn auch schon je einmal euch Müh' gegeben, zu erspäh'n, wie man sich aufzuführen hat, um liebenswert zu sein? Euch nenn' ich Pack!44 Noch deutlicher wird die Thematik der Bevormundung in dem im Schreibzusammenhang auf die zitierten Zeilen folgenden und im Schreibraum des Blatts unmittelbar rechts neben den letzten Zeilen der Verlaine-Übertragung beginnenden Gedicht, das den Bezug zu gesellschaftlichen Erwartungshaltungen explizit, aber in aller Ambivalenz formuliert: Die, die mich unteij ochen woll'n merk's ihnen ja so deutlich an, möchten ja weiter nichts, als mich zum Gegenstand des Schätzelens, Verwöhnens machen, ich soll dumm, lieb, traulich und womöglich stets unmäßig witzig, amüsant, galant, gefällig sein. O, wie sie nach dem bißchen Lustigkeit, nach jener Kinderauffassung, der rötlichen und bläulichen, sich sehnen, die mein Eigentum und mit der ich mich verziert, aus/gey stattet und geknechtigt weiß. Wie alle mich umgarnen und umhegen wollen, s'ist ein Graus. Kaum tret' ich achtlos aus dem Haus, so geht das Tanzen an, flieh' ich, so lachen sie mich Knaben aus. Dann wieder schelten sie mich acht-,
BG 2, 357 (Mikrogramm-Blatt 484/IX).
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Stephan Kammer respekt-, lieb- und auch rücksichtslos, interesselos, was sind sie doch so nie und nimmer satt, ich könnte stillesteh'n und hundert Stunden lang zufrieden sein mit mir und mit der Welt, ihnen aber ist das der Inbegriff der Blödigkeit. [...] In höh'rem Sinn erzogen woll'n sie von demjenigen sein, den zu erzieh'n sie Miene machen. Mir wird nur befehlen, wer's versteht, und wer versteht das heute noch? 45
Eine Edition, die vielleicht eines Tages nicht nur mit dem Anspruch an Textgenauigkeit, sondern auch mit dem der Materialgerechtigkeit auftreten wird, käme - von dem schlicht buchsprengenden Potential dieser Manuskripte einmal ganz abgesehen 46 deshalb nicht umhin, die strukturelle Kon- und Prätextualität dieses Schreibens im weitest möglichen Sinn darzustellen - eine buchstäblich unabschließbare Arbeit, wenn man allein schon bedenkt, daß auf den 526 Mikrogramm-Blättern nur die allerwenigsten Textblöcke auch nur annähernd so deutlich durchscheinen lassen, worauf sie sich beziehen. 47 Walsers Verlaine-Übertragung problematisiert die Frage danach, was denn der Text einer Übersetzung sei - sein könnte, sein sollte. Gleichzeitig - und damit will ich kurz noch den zweiten kritischen Punkt dieses Gedichts ansprechen - fragt sie nach dem Autor einer Übersetzung: In wessen Namen wird übersetzt?48 Dazu zunächst der Schluß, genauer die Schlüsse von Walsers Gedicht(entwurf), die ich Ihnen bisher vorenthalten habe: ¿>Gottsei dank hat [darüber:] gibt Robert Walz ge auch-, [darunter:] nun ^endlich einmal ¿>eine Uebersetzung grob mit Schmalz
BG 2, 357f. (Mikrogramm-Blatt 484/X). Dieses wird auf eindringlichste Weise anschaulich in Bernhard Echtes Transkription des „ Tagebuch "-Fragments·. Robert Walser: „Tagebuch"-Fragment. Faksimile und Transkription des „Mikrogramm"-Entwurfs. Mit französischer Übersetzung. Transkription und Edition: Bernhard Echte. Hrsg. von der Carl Seelig-Stiftung Zürich 1996 Von den Problemen, die sich aus Walsers Eigenart ergeben, sich schreibend nicht nur durch den Kanon der .hohen' Literatur, sondern ebenso durch Massen an heute kaum mehr eruierbaren „Bahnhofhallenbüchlein" (SW 20, 314) und „Dreißigcentimesbändchen" (SW 8, 64) zu arbeiten, sei hier ganz zu schweigen. Zu Walsers Intertextualität vgl. Robert Walser und die moderne Poetik. Hrsg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt/Main 1999; zur Problematik der .Trivialliteratur'-Bezüge Andrea Hübner: Ei', welcher Unsinn liegt im Sinn. Robert Walsers Umgang mit Märchen und Trivialliteratur. Tübingen 1995. Daß die Reflexion auf die Funktion .Autorschaft' konstitutiv ist für Walsers Schreibpraxis, habe ich an einem anderen Beispiel ausfuhrlicher zu beschreiben versucht; vgl. Stephan Kammer: (Ab-) Schreiben. Zur Genese von .Autorschaft' in Robert Walsers „Mondscheingeschichte". In: Text. Kritische Beiträge 5, 1999, S. 83-103.
Robert Walser als „ Verdeutscher von Verlaine "
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vom bewährten Paul Verlaine. Richtig scheint daß Robert Walz Freut uns, daß der Robert Walz>s Höchste Zeit ttt
LLi Iii Iii
ein
Höchste Zeit ist's wie ich meine daß endlich d¿¿ >nun endlich Robert Wals sich uns vorstellt auch mal vorstellt, als V>ein Verdeutscher von Verlaine. So hören die Übersetzungsspuren auf dem Mikrogramm-Blatt 484 auf. Auf der Suche nach einem Schluß akzentuiert der Text in bewährt ironischem Gestus ein weiteres Mal die historische Distanz zwischen dem aktuellen Schreibvorgang und der Übersetzung. Er betont außerdem erneut die reflektierte Haltung gegenüber der eigenen Tätigkeit und der des Übersetzens überhaupt: Die „Uebersetzung grob mit Schmalz" entpuppt sich nicht nur als die kulinarisch gröbere Gegenstrategie zur Feinschmeckerei der von Zweig zusammengestellten „besten Übertragungen". Sie bezieht diesen Anspruch und die damit verbundene Aufwertung des Übersetzers höchst subtil in den Text zurück. Denn Zweigs Anthologie zeichnet sich durch eine Besonderheit aus, die den Übersetzer paratextuell dem Status eines Autors annähert: In ihr findet sich am Schluß des ersten Bandes nicht nur ein Register der übersetzten Gedichte, sondern auch eines der Übersetzer, unter deren Namen nun die einzelnen von ihnen übertragenen Gedichte erscheinen. Die Praxis dieser Auswahl konstituiert damit eine Form von doppelter Autorschaft, die man vor dem Hintergrund von Benjamins Überlegungen als Vermessenheit zu bezeichnen hätte: In der gelungenen Übersetzung offenbart sich gerade nicht das Ingenium des Übersetzers, sondern die „Verwandtschaft der Sprachen."49 Walser setzt dieser Verdoppelung dagegen eine - man könnte sagen: Fraktalisierung des Autors entgegen: Weder .Walser' noch .Verlaine' bleiben in den Textverstrickungen von Walsers Schreiben unangetastet. Während .Walser' in diesem Vorgang seine Endsilbe opfert - und damit graphisch auf das in seiner Poetologie gerade in der Konstellation mit der Ich-Instanz von Texten hochsignifikante Personalpronomen „er" verzichtet50 - , muß sich .Verlaine' in der .Verdeutschung' phonetisch dem Reimzwang von „eine" resp. „meine" beugen - ein Reimzwang, der im übrigen erst durch den Vorgang der Übersetzung und im Verlauf des Texts akut wird: Im Französischen entfällt, wie das Reimpaar „peine - haine" in Verlaines Gedicht beweist, dieser Akt phonetischer Gewaltsamkeit ebenso wie zu Beginn von Walsers Gedicht im Reimpaar „Verlaine - Seine". In Walsers Übertragung schreibt sich so, immer deutlicher vernehmbar werdend, die im Wortsinn buchstäbliche Ent-Fremdung des ihr zugrunde liegenden (Autor-)Namens in den Vorgang des Übersetzens ein. So konzentriert und reduziert der Text in seinem letzten Wort, beim letzten Auftauchen des insistierend wiederkehrenen ,Autor'namens, das gesamte Dilemma des Überset-
49 50
Benjamin 1923, vgl. Anm. 12, S. 12. Vgl. dazu vor allem den „Räuber"-Roman, BG 3, 11-150.
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Stephan Kammer
zens auf (s)einen selbstbezüglichen Kern: Er übersetzt nicht nur Übersetzung, sondern auch den Namen, das - neben ersterer - Unübersetzbare schlechthin.51 Damit wird jener in jeder Übersetzung latente Konflikt zwischen Aneignung und Individualität virulent, der sich gemeinhin hinter der Idee der Vermittlung von Texten verbirgt. Unter der witzigen Oberfläche von Walsers Verlaine-Übertragung eröffnen sich damit, wie ich Ihnen gezeigt zu haben hoffe, einige Abgründe. Übersetzung, so lautet die Mitteilung von Walsers Gedicht letztlich, ist Gewalt, da sie die Eigentümlichkeit von Texten und die Eigenständigkeit von Autorschaft bricht, doppelt bricht und diese ihre Gewalttätigkeit verschleiert (Benjamins Essay, könnte man dementsprechend vielleicht behaupten, versucht diese Gewaltsamkeit zu transzendieren52). Übersetzung versteckt die Zwiesprache von Texten hinter ihrer Einsprachigkeit; sie eignet sich einen Text an, indem sie vorgibt, ihn zu wiederholen, und ohne den Vorgang dieser Aneignung sichtbar werden zu lassen; sie will im Namen eines Autors sprechen, dessen Sprache sie nicht spricht und täuscht so über ihr eigenes autoritäres Sprechen hinweg. Wenigstens den Schleier dieser Gewalttätigkeit - denke ich - sollte ihre Darstellung und Lektüre zu lüften suchen.
„Der Eigenname hat [...] in der Übersetzung eine eigentümliche Bestimmung, da er als Eigenname nicht Ubersetzt und in seinem Erscheinen als Eigenname bewahrt wird. Als solcher ist ein Eigenname stets unübersetzbar; er verbleibt als das, was man nicht Ubersetzen kann", so Jacques Derrida (Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege. In: Übersetzung und Dekonstruktion, vgl. Anm. 19, S. 119-165, hier S. 126), der damit den Bogen zurückschlägt von Benjamins Aufgabe des Übersetzers zu dessen Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen ([1916] in: Gesammelte Schriften, vgl. Anm. 12, Bd. Π.1, S. 140-157). Zu denken wäre hier nicht nur an den berühmten Schluß des Essays: ,,[I]n irgendeinem Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber die heilige, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung" (Benjamin 1923, vgl. Anm. 12, S. 21), sondern vor allem auch an folgende Allegorie des Übersetzungsvorgangs: „Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen" (ebd., S. 18).
Dirk Van Huile
Die Schaffenskraft des Übersetzens: transtextuelle Operationen in Thomas Manns Doktor Faustus
Mehrere Jahrzehnte bevor Thomas Mann seinen Roman Doktor Faustus (1947) schrieb, war er sehr beschäftigt mit der ,.Krise, in der sich der Roman als Form heute für unser aller Gefühl befindet" (GW XI 97).1 Diese Romankrise war ein aktuelles Thema in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und charakterisierte Michel Raimond zufolge die literarische Atmosphäre nach dem Höhepunkt des Naturalismus. Eines der Symptome dieser Krise war der „roman du roman", der Roman, in dem der Schreibakt selbst zum Thema wird.2 Thomas Mann thematisierte die Entstehung des Doktor Faustus nicht nur im gleichnamigen „Roman eines Romans" (1949), sondern auch im Roman selbst. Gunilla Bergsten hat darauf hingewiesen, daß vor allem die letzte Komposition des Protagonisten Adrian Leverkühn (das Oratorium, JDr. Fausti Weheklag") „dem Wesen nach und in der allgemeinen Stimmung ein Abbild des Romans darstellt".3 Durch diesen selbstreflexiven Charakter wird die Entstehung ein wesentlicher Bestandteil des Romans, und demzufolge geht in diesem Fall die Untersuchung der Manuskripte über die traditionellen Aufgaben der Textkritik hinaus. Seit einigen Jahrzehnten werden Textkritik und Editionswissenschaft gekennzeichnet von „an increasingly theoretical self-consciousness".4 Dieses Merkmal, das Cohen „a crucial impasse" und sogar „a paradigm shift"5 nennt, weist eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Selbstreflexivität auf, die die Romankrise charakterisierte. Ein Schlüsselbegriff beider Krisen ist die Spannung zwischen Vollendetem und
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Die Texte Thomas Manns werden zitiert nach den Gesammelten Werken in dreizehn Bänden, Frankfurt/Main 1990, im Folgenden abgekürzt als GW. „C'est bien un trait essentiel de la crise du roman que les romanciers s'intéressent aux problèmes de leur art, et prennent le goût d'en débattre dans les romans qu'ils écrivent [...] C'est l'originalité du XX° siècle que le roman du romancier tend à devenir un roman du roman" (Michel Raimond: Proust romancier. Paris 1984, S. 243f.). Gunilla Bergsten: Thomas Manns .Doktor Faustus': Untersuchungen zu den Quellen und zur Struktur des Romans. Tübingen 1974, S. 231. Philip Cohen (Hrsg.): Devils and Angels: Textual Editing and Literary Theory. Charlottesville 1991, S. XIV. „[A] paradigm shift in textual scholarship has been under way for some time now. Indeed, many recent editorial proposals and discussions share a restriction or rejection of authorial intention as a means of discriminating among authorial versions and a skepticism about the validity of creating an eclectic best text that never existed historically" (Philip Cohen: Textual Instability, Literary Studies, and Recent Developments in Textual Scholarship. In: Texts and Textuality: Textual Instability, Theory, and Interpretation. Hrsg. von Philip Cohen. New York, London 1997, S. Xinf.). David C. Greetham spricht sogar von mehreren „paradigm shifts" (David Greetham: Theories of the Text. Oxford 1999, S. 367).
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Dirk Van Huile
Unvollendetem. Ob ein literarischer Text ein Fertigprodukt ist oder vielmehr ein Produktionsprozeß, ist ein Paradoxon, das sich am deutlichsten in Romanen mit enzyklopädischem Umfang zeigt. In Werken wie Doktor Faustus wird der Wunsch, .Alles' in einen Text zu fassen, unvermeidlich mit der Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens konfrontiert. Obwohl Thomas Mann einen gewissen ,.Drang nach Vollkommenheit" nicht verneinte, gab er ebenfalls zu, daß er zum Beispiel die Novelle Der Tod in Venedig nur als „einen Punkt relativer und bedingter Vollendung" betrachtete, eine nie perfekte, nur vorübergehend erstarrte Form, die jederzeit wieder neu zu gestalten war: „das fest Gewordene, ganz schon Form Gewordene wieder aufzulockern, seine Produktivität in Fluß zu halten, neue Gehalte einströmen zu lassen, die geistigen Grundlagen seines Lebens zu verbreitern und weiter und höher zu bauen."6 In Über mich selbst erinnert sich Thomas Mann, daß er anfangs davon überzeugt war, seine Gattung sei die Kurzgeschichte, entsprechend dem Vorbild von Maupaussant, Tschechow und Turgenjew. Nachdem er Renée Mauperin der Brüder Goncourt gelesen hatte, begann er die Buddenbrooks zu schreiben: „Geplant war ein Roman von zweihundert bis zweihundertfünfzig Seiten [...]. Aber dann erwies sich, daß das Buch seinen eigenen Willen hatte."7 1.
Die selbstgenerierende Wirkung des Schreibaktes
Derselbe „produktive Selbstbetrug"8 oder die Unterschätzung des Projektumfangs trifft auch für die Entstehung des Zauberbergs zu. Dieser Roman wurde ursprünglich, auch dem Umfang nach, als „humoristisches Gegenstück zum Tod in Venedig" konzipiert. Und auch die Pläne für diese Novelle änderten sich während des Schreibprozesses: „Ursprünglich hatte ich ganz etwas anderes machen wollen. Ich war von dem Wunsche ausgegangen, Goethe's Spätliebe zu Ulrike von Levetzow zum Gegenstand meiner Erzählung zu machen".9 Der Grund, weshalb Gustav von Aschenbach die Züge Gustav Mahlers erhielt, hängt zu einem großen Teil mit der Kontingenz der Umstände, insbesondere mit der Nachricht über den Tod dieses Komponisten, zusammen. Derartige Zufälligkeiten konnten zu beträchtlichen Abschweifungen führen, die ein wichtiges Merkmal der Werke Thomas Manns sind.10 Diese Schreibmethode dürfte als eine Art écriture à processus betrachtet werden. In den Eléments de critique génétique unterscheidet Almuth Grésillon zwischen écriture à processus (kennzeichnend z.B. für die Schreibmethode Marcel Prousts) und écriture à programme,11 für die Thomas Manns Scheibmethode als Beispiel genannt wird. Diese Unterscheidung dürfte sich als zu streng erweisen, da mehrere Aspekte der Mannschen Scheibweise (wie z.B. seine
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Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. Frankfurt/Main 1994, S. 74. Mann, Über mich selbst, vgl. Anm. 6, S. 60. Mann, Über mich selbst, vgl. Anm. 6, S. 78. Mann, Über mich selbst, vgl. Anm. 6, S. 71. Vgl. W.V. Blomster: „the excursus per se is an important element in many of Thomas Mann's writings" (W.V. Blomster: Textual Variations in Doktor Faustus. In: The Germanic Review 39, 1964, S. 188).
11
Almuth Grésillon: Eléments de critique génétique: Lire les manuscrits modernes. Paris 1994, S. 103.
Die Schaffenskraft des Übersetzens
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Aufgeschlossenheit der Kontingenz gegenüber) suggerieren, daß seine écriture zum Teil ebenfalls à processus war. Eine besonders anschauliche Abschweifung in Doktor Faustus ist die Beschreibung eines der Orchesterwerke Leverkiihns. Der Komponist greift nicht nur die „Kaisersascherne Kirchturmskosmologie" (GW VI 364), sondern auch Zeitbloms anthropozentrischen Humanismus an, indem er zwei Geschichten (über die Meerestiefe und über das Weltall) für die Komposition Die Wunder des Alls zusammenfügt. Der Titel, der sowohl Adrian Leverkühns wie Thomas Manns kosmische Ambitionen widerspiegelt, wurde inspiriert von einem Artikel aus der Prager Presse, „Die Wunder der Meerestiefe", den Thomas Mann mit dem Zeitungsartikel „We live inside a globe, too" von Robert D. Potter kombinierte. Beide Dokumente werden im Zürcher Thomas-Mann-Archiv aufbewahrt (Mat. 6/108-109). Die Textstelle in Doktor Faustus, wo diese Information inkorporiert wurde, kann als Metadiskussion der Mannschen Schreibpraxis interpretiert werden. Auf verschleierte Weise hat Mann einen Quellenverweis im Text versteckt: „denn die Wunder der Meerestiefe, die Tollheiten des Lebens dort unten, wohin kein Sonnenstrahl dringt, waren das erste, wovon Adrian mir erzählte [...]. Selbstverständlich hatte er von diesen Dingen nur gelesen-, hatte sich Bücher darüber verschafft und seine Phantasie damit gespeist" (GW VI 354; Hervorhebung hinzugefügt). Im zweiten Artikel, mit dem Mann „seine Phantasie [...] gespeist" hatte, sind mehrere Stellen unterstrichen, die mit den Zahlen und Tatsachen in Leverkühns (von Zeitblom aufgezeichneter) Beschreibung des Universum übereinstimmen, wie z.B.: „Our sun, only one of millions of stars in the galaxy, was located about 30.000 light-years off the center" (von T. Mann unterstrichen). Der entsprechende Passus in Doktor Faustus ist ein schönes Beispiel kreativen Übersetzens: ,„Die Sonne', die so wenig den bestimmten Artikel verdiente [...], sei vom Mittelpunkt des galaktischen Innenplanes ebenso weit entfernt, wie dieser dick sei, nämlich 30 000 Lichtjahre" (GW VI 360). Zeitblom behauptet, er habe dank seines Weltwissens eine Ahnung, was mit einem Lichtjahr gemeint sei; Thomas Mann erhielt diese Information aus Potters Artikel: ,A light-year is the distance light would travel in a year at its fantastic speed of 186.000 mile a second. If you have a pencil and enough paper you can figure out that a light-year is nearly equivalent to 6 trillion miles." Thomas Mann nahm in der Tat einen Bleistift und machte vier Berechnungen am unteren Seitenrand, nicht aber um zu tun, was Potter vorschlug, auch nicht um die Meilen in Kilometer umzurechnen. Die erste Zahl, 765, entspricht den „765 Metern unter der Meeresoberfläche" aus dem anderen Artikel, „Die Wunder der Meerestiefe", der wie folgt anfangt: „Die amerikanischen Forscher Dr. William Beebe und Otis Barton stellten in ihrer kugelförmigen ,Bathysphere', 8 Seemeilen östlich von St. Georg, einen neuen Tiefenrekord auf. Sie erreichten eine Tiefe von 765 Metern unter der Meeresoberfläche" (Mat. 6/108; von T. Mann unterstrichen). Thomas Mann war ein Meister in der ,cut & paste'-Technik; Textmaterial aus den verschiedenartigsten Quellen wurde ohne sichtbaren Unterschied zum eigenen Text problemlos einverleibt: ,.Historisch gegeben und bekannt wie es ist, klebe ich es auf und lasse die Ränder sich verwischen" (Dichter über ihre Dichtungen, S. 61). So dehnte sich das Werk immer weiter aus. Diese „unbedenkliche Bereitschaft zur An-
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Dirk Van Huile
eignung dessen, was [...] zur .Sache' gehört" (GW XI 174) findet ein Gegenstück in der „Sorge um das Auseinanderlaufen des Buches" (GW XI 192), so daß der Text „die sehr feste, zusammengehaltene Komposition" wurde, „die er ist" (GW XI 192). In diesen Bemerkungen zeigt sich eine fortwährende Spannung zwischen der Konstruktion und dem Bewußtsein, daß sie nicht mehr als eine Konstruktion ist: „Ich fühlte wohl, daß mein Buch selbst das werde sein müssen, wovon es handelte, nämlich konstruktive Musik" (GW XI 187). So präsentierte sich das thematisierte Problem der kulturellen „Gesamtkrise" zugleich als eine Lösung. Wie ein Baron von Münchhausen suchte Thomas Mann einen Ausweg aus der Krise des Romans mittels eines Romans der Krise, der von einem extremen Textbewußtsein zeugt: Er lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers nicht nur auf dasjenige, was der Text zu entschleiern scheint, sondern vor allem auf die Tatsache, daß der Eindruck dieser Entschleierung der Effekt einer textuellen Verschleierung ist. Das Weben des Textes war deshalb nicht weniger wichtig als der Text selber. Die Metapher des Webens kehrt immer wieder zurück. Doktor Faustus ist, ähnlich wie Der Zauberberg, ein „Themengewebe" (GW XI 611), das seinen Ursprung am Anfang des 20. Jahrhunderts fand: ,3erührung mit der Tonio Kröger-Zeit, den Münchener Tagen, den nie verwirklichten Romanplänen ,Die Geliebten' und ,Maja"' (GW XI 21). Das „Maja"-Projekt, für das Thomas Mann die Beschreibungen der literarischen Salons (Salon Rodde, Salon Schlaginhaufen und des Kridwiss-Kreises) vorbereitete, wird am Anfang des zweiten Kapitels der Novelle Der Tod in Venedig erwähnt als eines der Werke Gustav Aschenbachs, ,,de[s] geduldige[n] Künstler[s], der in langem Fleiß den figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich, ,Maja' mit Namen, wob" (GW VIII 450). Thomas Manns „Maja"-Idee war ein Resultat seiner Schopenhauerlektüre, die aber von seiner Nietzschelektüre gefärbt war, wie Mann selber in seinem Schopenhaueressay gesteht (GW IX 561). Während Schopenhauer der Meinung war, daß nur die Musik imstande war, die Illusion der Erscheinungswelt zu entschleiern, betonte der ,Zauberer' gerade die verschleiernden Qualitäten der Kunst, vor allem die Möglichkeit, innerhalb der Illusion der Erscheinungswelt eine eigene Illusion zu kreieren. Thomas Mann paraphrasiert die Schopenhauersche Interpretation des alten indischen Begriffs des Schleiers der Maja wie folgt: „die große Täuschung der Ungleichheit und Ungerechtigkeit der Lose, der Charaktere, Situationen und Schicksale beruht auf dem principium individuationis. Verschiedenheit und Ungerechtigkeit sind nur Zubehör der Vielheit in Zeit und Raum, die aber ist bloße Erscheinung, die Vorstellung, die wir als Individuen vermöge der Einrichtungen unseres Intellekts von einer Welt haben, die in wahrer Wirklichkeit die Objektität des einen und alleinigen Willens zum Leben ist" (GW IX 550f.). Der Zitatcharakter dieser Paraphrase ist bemerkenswert.12 Werner Frizen hat 12
Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Stuttgart 1987, Bd. I, S. 495-497: „die Person ist bloße Erscheinung, und ihre Verschiedenheit von anderen Individuen [...] beruht auf der Form der Erscheinung, dem principio individuationis" - „Freilich aber stellt sich der Erkenntnis [...] die Welt nicht so dar, wie sie dem Forscher zuletzt sich enthüllt, als die Objektität des einen und alleinigen Willens zum Leben, der er selbst ist; sondern den Blick des rohen Individuums trübt, wie die Inder sagen, der Schleier der Maja: ihm zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung in Zeit und Raum" (Hervorhebung hinzugefugt).
Die Schaffenskraft des Übersetzens
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darauf hingewiesen, daß Thomas Mann in diesem Essay schon seine sogenannte .Montage-Technik" auf das Werk Schopenhauers angewandt hat.13 Inwiefern die Idee für diese Technik, umgekehrt, auch von der Schopenhauerschen Philosophie inspiriert worden sein dürfte, wird in der folgenden Untersuchung des Übergangs vom avanttexte zum Text des Doktor Faustus überprüft. 2.
Die Spannung zwischen Text und avant-texte
Die als „Montage-Technik" umschriebene Absorption von extratextuellem Material war mehr als bloß eine Technik. In der Entstehung des Doktor Faustus behauptet Thomas Mann: „Diese mich selbst fortwährend befremdende, ja bedenklich anmutende Montage-Technik gehört geradezu zur Konzeption, zur ,Idee' des Buches" (GW XI 165). Gerade wegen des textkritischen Bewußtseins Thomas Manns erhebt sich aber die Frage, um welches „Buch" es sich hier handelt. Nach dem Erscheinen der Erstausgabe beim Bermann-Fischer Verlag in Stockholm (am 17. Oktober 1947) veröffentlichte die Wiener Filiale dieses Verlags 1948 eine zweite Ausgabe. Der Text dieser Ausgabe ist beträchtlich kürzer, da Thomas Mann zusammen mit seiner Tochter Erika 26 Stellen gestrichen hat.14 Eine dieser getilgten Stellen ist der Anfang des XII. Kapitels in der Erstausgabe. Lieselotte Voss hat entdeckt, daß die Quelle ein Artikel Uber die Stadt Halle in der Encyclopaedia Britannica ist.15 In seinem im Zürcher Thomas-Mann-Archiv aufbewahrten Notizenkonvolut („Notizen zum Dr. Faustus", S. 46v) übersetzte Thomas Mann die relevanten Stellen, wie z.B. „in 981 Otto II. gave it (Halle) a charter as a town". Thomas Mann hat sich anscheinend verlesen, denn in seinen deutschen Notizen bekam Halle keine Verfassungsurkunde („charter"), sondern den „Charakter" einer Stadt, und so stand es auch in der Erstausgabe des Doktor Faustus (S. 146). Leider läßt sich keine Rückübersetzung dieses „Charakters" in der englischen Fassung finden, da der Passus ausgelassen wurde, und Helen Lowe-Porter ihn folglich auch nicht übersetzen konnte. Eine andere Stelle, die wohl in der zweiten Ausgabe beibehalten wurde, ist die Bescheibung der Stadt Leipzig (GW VI 189). Sie geht auf einen Artikel in der Encyclopaedia Britannica zurück, aus dem Thomas Mann mit türkisfarbener Tinte in seinem Notizenkonvolut (S. 153) mehrere Stellen exzerpiert und zugleich übersetzt hat. Aus diesen Exzerpten ergibt sich, daß Thomas Mann während des Übersetzens wahrscheinlich kein Wörterbuch zur Verfügung hatte. Einer trockenen Aufzählung von Tatsachen und Zahlen (wie die Bevölkerung, die „in 1933 amounted to 712,475") folgt eine Beschreibung der Altstadt: „The old town has narrow streets and numerous houses of the 16th and 17th centuries, with high-pitched roofs. Upon the market squa13
14
Werner Frizen: Zaubertrank der Metaphysik: Quellenkritische Überlegungen im Umkreis der Schopenhauer-Rezeption Thomas Manns. Frankfurt/Main 1980, bes. S. 16-37. Vgl. Hans Bürgin: Das Werk Thomas Manns. Frankfurt/Main 1959, S. 41; siehe ebenfalls W.V. Blomster 1964, vgl. Anm. 10, S. 183; James F. White: Some Abridged Passages in Doktor Faustus. In: Modem Language Notes 66,1951, S. 375-378. Lieselotte Voss: Die Entstehung von Thomas Manns Roman ,Doktor Faustus' dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten. Tübingen 1975, S. 64.
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re the four main business streets converge, and its north side is occupied by the old Rathaus, a Gothic edifice built in 1536. Behind the market square and the main street lies a labyrinth of narrow streets interconnected by covered courtyards and alleys, with extensive warehouses and cellars." In seiner Übersetzung ließ Thomas Mann die Wörter, für die er kein Äquivalent fand, einfach unübersetzt: „Die alte Stadt hat enge Strassen u. zahlreiche Häuser aus dem 16. u. 17. Jahrhundert mit highpitched Dächern" (Notizenkonvolut, S. 153). Dasselbe gilt für die Begriffe „courtyards" und „warehouses". Nachher hat er in schwarzblauer Tinte zwischen den Zeilen eine Übersetzung („Höfe" bzw. „Warenlager, Speicher") hinzugefügt. In der Übersetzung von Helen Lowe-Porter lautet die Beschreibung: „Great shoving and shouldering in the narrow streets behind the Market, very old, with steep gabled roofs; connected by a criss-crosse labyrinth of covered courts and passages, and adjoining warehouses and cellars." 16 Der Entstehung (GW XI 281) zufolge war Thomas Mann gegenüber seiner englischen Übersetzerin immer sehr rücksichtsvoll. Obwohl er ihre Arbeit erheblich hätte erleichtern können, indem er ihr die Originaltexte seiner Quellen gegeben hätte, kam für ihn diese Möglichkeit selbstverständlich nicht in Frage, denn der Akt des Übersetzens war ein wesentlicher Bestandteil der Verschleierungsstrategie. Die Rückübersetzung ins Englische war der letzte Schliff der Montage-Technik und zugleich der beste Beweis, daß sich die Ränder verwischt hatten. Ein anderes Beispiel der oft durch Zufall und Übersetzung gelenkten Textentwicklung ist die Abschweifung über Johann Conrad Beissel. Über diese Figur las Thomas Mann im Juni oder Juli 1943 (GW XI 170) einen Artikel von Hans Theodore David, den er sorgfältig in seinen Materialmappen (TMA Mat. 6/7) aufbewahrt hat.17 Dieser Artikel gehört zu den Texten, die Thomas Mann während der Vorbereitungsund Anfangsphase der Entstehung des Doktor Faustus las, und die auf diese anscheinend zufällige Weise den Schreibprozeß beeinflußt haben. 18 Er entschloß sich, den Text in Kapitel VIII zu verwenden, kurz nachdem er ihn „mit dem Bleistift" gelesen hatte. Eine der unterstrichenen Stellen in diesem Artikel lautet: Beissel's rhythm was more interesting than his melody and harmony. His naive rationalization did not venture to deal with this part of theory. He followed closely the rhythm of the words, giving longer notes to the accented syllables, shorter ones to the unaccented, but he did not establish an unchanged relation between long and short notes, and thus kept a great flexibility of meter.19 16
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Thomas Mann: Doctor Faustus: The Life of the German Composer Adrian Leverkiihn as Told By a Friend. Transi. H. T. Lowe-Porter. New York 1948, S. 141; vgl. GW VI 189. Hans Theodore David: Hymns and Music of the Pennsylvania Seventh-day Baptists. In: AmericanGerman Review, June 1943. Über diesen im Zürcher Archiv aufbewahrten Artikel (Mat. 6/7) schreibt Thomas Mann in der Entstehung: „Gleichzeitig stieß ich in irgendeiner Zeitschrift auf merkwürdige Mitteilungen Uber geistliche Musik bei den Pennsylvania Seventh-Day Baptists, das heißt auf die wunderliche Figur jenes Johann Conrad Beißel, die ich sogleich in die Vorträge aufzunehmen beschloß" (GW XI170). Vgl. Bergsten 1974, vgl. Anm. 3, S. 123; Theodor Karst: Johann Conrad Beissel in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus". In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 12, 1968, S. 567: „Es gehört zum Erstaunlichen am Doktor Faustus, daß der Autor auch dem ihm zufällig in die Hände fallenden Stoff eine genau bestimmte Funktionsaufgabe zuweisen konnte." David 1943, vgl. Anm. 17, S. 5; Mat. 6/7; von Thomas Mann unterstrichen.
Die Schaffenskraft des Übersetzens
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Ein anderer Text, in dem Thomas Mann einer Beschreibung dieser musikalischen Praxis begegnete, ist das sechste Kapitel („Atonality") in Ernst Kreneks Music Here and Now. „History teaches us that for long eras music was organized along the lines of linguistic prose, so there can hardly be any fundamental objection to the adoption of the same principle by new music." 20 Thomas Mann hat sich anscheinend für diese historische Tatsache interessiert; sie wird sowohl im avant-texte als auch in den publizierten Fassungen, mehrmals beschrieben, z.B. in Bezug auf Leverkühns Kantate .Apocalipsis cum figuris": So kannte die alte Tonkunst den Rhythmus nicht, wie die Musik ihn später verstand. Der Gesang war nach den Gesetzen der Sprache metrisiert, er verlief nicht in taktmäßig und periodisch gegliedertem Zeitmaß, sondern gehorchte eher dem Geiste freier Rezitation. (GW VI 499) In einer Typoskriptfassung dieser Beschreibung fügt Zeitblom hinzu: „Großer Gott, warum fällt der Mann, warum fällt Beissel mir ein?" 21 Von diesem Einfall gibt es in den Notizen einen materiellen Nachweis, der die Analogie zwischen den Schreibmethoden Zeitbloms und Manns illustriert. Die Notiz, auf der das obige Zitat basiert, hat Thomas Mann in blauschwarzer Tinte geschrieben; später hat er den eingeklammerten Namen „(Beissel)" in türkisfarbener Tinte hinzugefügt: 22 Musik des 1. christlichen Jahrtausends: [...] einstimmig. Nicht weil man das Harmonisieren nicht verstand, sondern diese Einstimmigkeit bedarf weder der Harmonisierung noch ist sie ihrer fähig. Verläuft auch nicht im taktmäßig u. periodisch gegliederten Rhythmus, sondern hat eher etwas frei Rezitierendes Λ(Beissel)Λ Als Text die Psalmen, Hymnen. (Notizenkonvolut, S. 120) Diese multifunktionelle Notiz wurde nicht nur für , Apocalypsis cum figuris" (GW VI 499) verwendet. Sie taucht auch schon früher auf, in der Einführung zur Kretzschmarschen Auseinandersetzung über Beissel, über „Einstimmigkeit" und über die Tatsache, daß „in jener Frühzeit der musikalische Vortrag sich eines taktmäßig und periodisch gegliederten Rhythmus so gut wie gänzlich entschlagen [hat]" (Doktor Faustus, Erstausgabe S. 103). Obwohl dieser Passus später gestrichen wurde, zeigt er, wie ein Einfall wie „(Beissel)" denselben Thema- und Variationeneffekt verursachen konnte wie die Variationen in „Dr. Fausti Weheklag," umschrieben als „konzentrische Kreise, die sich vermöge eines ins Wasser geworfenen Steines, einer um den anderen, ins Weite bilden" (GW VI 645). Dasselbe gilt auf einer Mikroebene. Neben der großen Anzahl von Erörterungen über Beissels Musik, die - wie Gunilla Bergsten demonstriert hat - fast wortgetreue Übersetzungen des Artikels „Hymns and Music of the Pennsylvania Seventh-day Baptists" sind, zeigen andere Stellen, daß der Übersetzungsakt auch textgenerierend wirkte und auf diese Weise eine vergleichbare 20
21 22
Ernst Krenek: Music Here and Now. Übers. Β. Res. New York 1939, S. 150; von Thomas Mann unterstrichen. Ts. 706-8, transkribiert in Mann, Tagebücher 46/48, S. 868. Erst auf Seite 137 ν schrieb Thomas Mann die ersten Notizen in türkisfarbener Tinte.
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Ausdehnung wie die konzentrische Kreise in „Dr. Fausti Weheklag" erwirkte. So wird Beissel zum „Haupt einer Gemeinde [...] der er um so bedingungsloser gebot, als er seines Wissens Führerschaft niemals angestrebt hatte, sondern wider Wunsch und Absicht dazu berufen worden war" (GW VI 89). Davids konzise Umschreibung („uncompromising leadership") hatte sich in der Mannschen Variation so sehr ausgedehnt, daß Helen Lowe-Porter ihr in der englischen Fassung einen separaten Satz widmete: „He commanded them the more absolutely in that, so far as he knew, he had never sought the leadership, but was rather called to it against his intention and desire" (Doctor Faustas, S. 64). 3.
Kreative Übersetzung als Schaffenskraft
James Joyce verglich die Weltgeschichte mit dem Kinderspiel ,Stille Post', bei dem sich ein Satz umgestaltet, indem er von verschiedenen Sprechern ins Ohr geflüstert wird. 23 Dieses Bild eignet sich besonders gut für die historische Übertragung der mittelalterlichen Definition von Gott als „sphaera intelligibilis cuius centrum ubique, circumferentia nusquam". Die lange Tradition dieser Definition - so heißt es im Typoskript des XIV. Abschnitts - „reichte zurück von Pascal zu Rabelais, bei dem Adrian sie gelesen hatte, ferner über Bonaventura, Meister Eckhart und den Roman der Rose zurück bis Alain de Lille, [...]. Sie kam aber wohl schon von Hermes Trismegistos, auf den Rabelais sich berief, oder von Empedokles, und ich konnte bestätigen, wofür ich ein oder das andere Beispiel aus Parmenides, Plato und Aristoteles wußte, daß für die Alten das Wort ,sphärisch' immer das Hilfsmittel gewesen sei, um die vollkommene In-sich-Geschlossenheit und absolute Einheit des Göttlichen zu kennzeichnen." 24 Daß dieser Passus auf einen englischen Artikel von William Nitze zurückgeht, hat E. Bond Johnson ohne Heranziehung des im Thomas-Mann-Archivs aufbewahrten Notizenkonvoluts entdeckt. 25 Eine entstehungsgeschichtliche Untersuchung dieser Notizen hilft bei der Beantwortung der Frage, warum Thomas Mann diesen Artikel verwendet hat. Die Art und Weise wie Mann die aufeinanderfolgenden Variationen dieser Definition notiert hat, suggeriert nämlich ein mehr als ausschließlich theologisches Interesse. Einerseits mag die theologische Thematik als inhaltlicher Impuls dieser Aufzeichnungen gelten, andererseits wird die Form der Übertragung in Manns Notizen selbst thematisch; sie paßt genau zur vielschichtigen „Zeitentiefe", die er in Doktor Faustus erzielte. Wie konzentrische Kreise folgen im Notizenkonvolut (S. 43) die Definitionen von .Alain de Lille zur ,Rose' (Roman de la Rose), / Meister Eckhart, Bonaventura, Vincent, Gerson, Marguerite, / Rabelais, Pascal" aufeinander. Thomas Mann fügte seine eigene Fassung hinzu, indem er auf kreative Weise nebst Teile des englischen Artikels 23 24
25
Sylvia Beach: Shakespeare and Company. Lincoln 1956, S. 185. Typescript 243, zitiert nach E. Bond Johnson: An Unpublished Letter of Thomas Mann Concerning a Nonsource for Doctor Faustus. In: Protest - Form - Tradition: Essays on German Exile Literature. Hrsg. von Joseph P. Strelka, Robert F. Bell, and Eugene Dobson. Alabama 1979, S. 15-34. William Nitze: Pascal and the Medieval Definition of God. In: Modem Language Notes 57, 1942, S. 552-558. Vgl. Die Entstehung (GW XI161).
Die Schaffenskraft des Übersetzens
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auch die lateinische Definition übersetzte, die „Definition Gottes als eines Kreises [...], dessen Centrum Uberall, und dessen Peripherie nirgends sei".26 Als Äquivalent für „sphaera" wählte Thomas Mann nicht „Sphäre", sondern (wahrscheinlich wegen der teuflischen Konnotation) das Wort„Kreis", so daß die Definition Gottes schon ihr diabolisches Gegenteil enthält. Die Wiederholung dieses Wortes in der darauffolgenden Erörterung fällt auf: Noch beim Mittagessen und bei der Pfeife nachher sprachen wir Uber den allgegenwärtigen Mittelpunkt, den nirgends gelegenen, nirgends erreichbaren ÄVeisumfang, der gleichwohl vorhanden, weil überall gleich unerreichbar, als Unendlichkeit kreisförmig war; von dem Geheimnis des Kreises überhaupt, in welchem das Göttliche und das Widergöttliche versucherisch ineinanderliefen, da ja der Kreis immer auch als Beschwörungs- und Zauberraum gegolten hatte - und so fort. (Ts. 243; Hervorhebung hinzugefügt) An der Textoberfläche von Doktor Faustus ist von der Definition Gottes genauso wenig übriggeblieben wie in der Entstehung des Doktor Faustus von Manns Geständnis, daß das Gleichnis der konzentrischen Kreise von Adorno stammt. Dieser metaphorisch ins Wasser geworfene Stein war, wie die aus dem Typoskript der Entstehung ausgeschiedenen Passagen zeigen,27 nur eine der zahllosen Anregungen, die Adorno unterbreitete. Einige der ersten Beiträge Adornos waren seine Suggestionen in bezug auf Kretzschmars Vorträge. Am 27. September 1943 hielt Thomas Mann das VIII. Kapitel für fertig genug, um es dem Philosophen-Komponisten vorzulesen. Adorno machte einige Bemerkungen, worauf Mann einige Seiten über das Klavier hinzufügte, die er (nach dem Tagebuch) am 4. Oktober, als er zum Abendessen bei Adorno eingeladen war, vorlas. Nach Manns Bericht über diesen Abend teilte der Gastgeber darauf „einiges aus seinen Studien und Aphorismen über Beethoven mit" und spielte „die Sonate opus 111 vollständig und auf höchst instruktive Art" (GW XI 175). Dieses Privatkonzert führte schon am nächsten Tag zu „einer eingreifenden Um- und Ausarbeitung des Sonatenvortrags". Thomas Mann erwähnt aber nicht, daß die Schreibarbeit nur langsam voranging und daß er noch mehr „musikalische] Détails" brauchte.28 Am 5. Oktober schrieb er Adorno deshalb einen Brief, der besonders wichtig ist, weil Mann hier zum ersten Mal seine Montagepläne explizit bekanntmacht: „Ich scheue in diesem Fall vor keiner Montage zurück, habe das übrigens nie getan. Was in mein Buch gehört, muß hinein und wird von ihm auch resorbiert werden."29 Dieser wichtigen Aussage folgt noch eine Bitte: „Ich wollte Sie noch bitten, mir in ganz einfachen Noten das Arietta-Thema des Variationssatzes aufzuschreiben und mir den Ton anzugeben, der bei den letzten Wiederholungen so eigentümlich tröstlich vermenschlichend hinzukommt." Am nächsten Tag schon30 erhielt Mann die
26 27 28 29
30
Zitiert nach Johnson 1979, vgl. Anm. 24, S. 33. Tagebücher 1946-48, S. 948-953. Tagebücher 1940-43, S. 634. Thomas Mann: Dichter Uber ihre Dichtungen. Bd. 14,3. Hrsg. von Hans Wysling und Marianne Fischer. Passau 1981, S. 15. Tagebücher 1940-43, S. 635.
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Dirk Van Huile
von Adorno geschickten Noten des Arietta-Themas, die im Thomas-Mann-Archiv aufbewahrt werden (Mat. 6/8). Die Anmerkungen Adornos illustrieren, wie das Flüsterspiel nicht nur auf die Geschichte im Allgemeinen, sondern auch auf die Textgeschichte zutrifft. In der ausgearbeiteten Fassung der ersten Vorlesung im VIII. Kapitel führt Wendell Kretzschmar den musikalischen Neologismus „Fugengewicht" ein: „der Schein - der Kunst wird abgeworfen - zuletzt - wirft immer die Kunst - den Schein der Kunst ab. Dim-dada! Bitte zu hören, wie hier - die Melodie vom Fugengewicht - der Akkorde überwogen wird!" (GW VI 75) Eine Untersuchung der Manuskripte hat aber erwiesen, daß Thomas Mann sich bei der Verarbeitung der Bemerkungen Adornos einfach verlesen hat. Die ursprüngliche Notiz lautet: „Hier wird die Melodie gleichsam vom Eigengewicht der Akkorde überwogen."31 Mit Hilfe der von Adorno zugeschickten Noten konnte Mann die Beschreibung des Arietta-Themas ausarbeiten: „mit diesem d-g-g geht eine leichte Veränderung vor, es erfährt eine kleine melodische Erweiterung. Nach einem anlautenden c nimmt es vor dem d ein cis auf, so daß es nun nicht mehr ,Him-melsblau', oder ,Wie-sengrund\ sondern , 0 - du Himmelsblau', ,Grü-ner Wiesengrund', ,Leb' - mir ewig wohl' skandiert" (GW VI 76). Wie Thomas Mann in der Entstehung erklärt, inkorporierte er den Namen Wiesengrund (den Adorno gegen den Namen seiner Mutter tauschte als er nach Amerika auswanderte) „als versteckte Dankbarkeitsdemonstration" (GW XI 176). Die Entstehung hat aber nicht umsonst ein Motto aus Goethes Dichtung und Wahrheit, und obwohl der Text des Doktor Faustus weniger explizit ist als derjenige der Entstehung, enthüllt er manchmal mehr als der ,Roman eines Romans', z.B. den Grund, weshalb Thomas Mann die drei Noten (d-g-g) des Arietta-Themas mit den Satzteilen des Namens Wiesengrund verband: „Was sich mit dieser sanften Aussage [...] nun in der Folge rhythmisch-harmonisch-kontrapunktisch begibt, [...] das mag man wohl weitläufig, wohl wundersam, fremd und exzessiv großartig nennen, ohne es doch damit namhaft zu machen, weil es recht eigentlich namenlos ist" (GW VI 75). Mit anderen Worten, Thomas Mann benutzte das Wort,Wiesengrund', um zu zeigen, wie nicht nur der Name, sondern alle Ideen Adornos durch die Variationen der Montagetechnik schließlich unkenntlich und anonym wurden. Bei diesem Prozeß spielt die Übersetzung, und an erster Stelle die fast gleichzeitig mit dem Originaltext verfertigte englische Übersetzung, eine wichtige Rolle. Thomas Mann hat es der Übersetzerin Helen Lowe-Porter überlassen, den von ihm beschriebenen Effekt der Anonymisierung zu vollziehen, denn er wußte selbstverständlich, daß ,Wiesengrund' in der Übersetzung verschwinden würde.32 Mit Hilfe der Übersetzung hat Thomas Mann auf die Naht der Montage hingewiesen und sie zugleich wieder verschleiert nach dem principium individuationis und dem „Romanteppich"-Prinzip des „Maja"-Projekts. Statt die Ideen Schopenhauers explizit
32
Vgl. Faksimile im von Hans Wißkirchen und Thomas Sprecher herausgegebenen Katalog der Ausstellung „und was werden die Deutschen sagen??" Thomas Manns Roman „Doktor Faustus". Lübeck 1997, S. 127. Doctor Faustus (Ubers. Helen Lowe-Porter), S. 55: „it puts a C sharp before the D, so that it no longer scans ,heav-en's blue,' ,mead-owland,' but ,0-thou heaven's blue', ,Green-est meadowland,' [...]."
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zu machen, hat er sie auf ingeniöse Weise angewandt. Seiner Ansicht nach war die nahtlose Integrierung extratextueller Quellen kein Plagiat, sondern eine unlöslich mit dem Inhalt des Romans verbundene Form der Intertextualität avant la lettre. Was er zu entschleiern beabsichtigte, war der Verschleierungsmechanismus jedes Textes, der immer eine Form der Transtextualität impliziert. 33 Übersetzung war nur eine der Methoden, nach der Thomas Mann den von ihm verwendeten Quellentexten einen Mehrwert gab. Aus dieser Perspektive ist jede Variation auf einem ausgeliehenen Thema direkt proportional zur Ausarbeitung des Beethovenschen Arietta-Themas: „dieses hinzukommende cis ist die rührendste, tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt" (GW VI 76).
33
In Palimpsestes unterscheidet Gérard Genette fünf verschiedene Formen der „Transtextualität" oder der Art und Weise, wie ein Text mit anderen Texten verbunden ist: Inter-, Para-, Meta-, Hyper- und Architextualität. (Gérard Genette: Palimpsestes: La littérature au second degré. Paris 1982).
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Übersetzung und Nachdichtung in textgenetischer Darstellung?
Die Edition von Übersetzungen - hier ist von poetischen die Rede - hätte zunächst dem Rechnung zu tragen, was man die Bezüglichkeit solcher Texte nennen könnte. Während der Autor eines originalen Textes, vereinfacht gesagt, diesen frei seinen Darstellungsabsichten nach gestaltet, bleibt der Übersetzer mehr oder weniger streng gebunden an die Sprachgestalt des Originalwerks. Aber hier ist vorab zu bedenken, daß die Übertragung eines Textes auf verschiedenen Stufen verlaufen kann: als wortwörtliche oder als freie Übersetzung, als Interlinear- oder Marginalversion in engstem Bezug zum Original, oder als Nachdichtung etwa. Die zu edierenden Materialien eines Übersetzungswerks können durchaus beiden Bereichen angehören. Die Frage ist, wie derartige Zeugen, zu denen von Fall zu Fall Wortlisten, Wörterbuchexzerpte, prosodische oder grammatikalische Notate hinzukämen, gemeinsam mit Übersetzungsentwürfen im eigentlichen Sinn synoptisch oder jeweils separat zu edieren wären. Solche Darstellungsfragen, die auf Eigenarten der Übersetzung wie des Übersetzens Rücksicht zu nehmen hätten, werden hier nicht erörtert. Vielmehr ist in Frage gestellt, wieweit ein Übersetzungsmanuskript, bei aller unerläßlichen Bindung an das ihm zu Grunde liegende Original, seinerseits auch als Fixierung wiederum eines eigenständigen Textes angesehen werden könnte. Ob, und in welcher Weise, und in welchem Ausmaß, es auch als Repräsentant einer eigenen Textgenese zu verstehen sei. Editorisch gefragt: ob und wie Grundsätze einer textgenetischen Edition auch für die Darstellung von Übersetzungen in Betracht kommen könnten. Ich demonstriere diesen Zusammenhang an zwei Handschriften zu Celans Übertragung von Shakespeare-Sonetten. Zum Problem selbst zunächst einige knappe Vorbemerkungen. Der Schweizer Lyriker und Übersetzer Franz Wurm hat einmal gesprächsweise auf meine Frage, wann denn eigentlich ein Gedicht gut übersetzt sei, geantwortet: wenn die Übersetzung ein gutes Gedicht geworden ist. Für den seiner Sprachen ohnehin kundigen Dichter mag die Sache am Ende so einfach erscheinen. Für einen Literaturwissenschaftler, am Anfang, ist sie es sicherlich nicht - sehen wir davon ab, daß uns weder gesagt ist, was ein Gedicht, noch: was eine Übersetzung sei. Auch hätten wir zurückzutragen, wann denn nun ein Gedicht ein gutes Gedicht sei - falls wir darauf bestehen wollten, daß Fragen der literarischen Wertung auch literaturwissenschaftlich zu behandeln wären - , und nicht bloß durchzuspielen im literarischen Quartett.
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Andererseits: wenn die übersetzenden Dichter, zumindest sie (gemeint sind hier im belletristischen Bereich Autoren, die Werke anderer Autoren von Sprache zu Sprache zu bringen bemüht sind), schon vor dem Spiel einem festen Regelwerk sich ein- für allemal verpflichten würden: so gäbe es womöglich, neben der Konstitution der Spielregeln selbst, poetische Übersetzungen kaum - und wenn: diese wohl nur als Auftragsarbeiten, im Zusammenhang eines hier der Hilfe besonders bedürftigen weiträumigen Literatur-, also Kulturbetriebs. Was aber bliebe dann noch dem Dichter zu tun, stellt sich die Frage. Hätte er sich handwerklich vorgegebenen Regeln zu beugen - etwa der Forderung nach möglichst enger Entsprechung im Bedeutungszusammenhang sprachlicher Bezüge? Oder hätte er vielmehr das in der .anderen' Sprachform Vorgegebene frei seinen .eigenen' Ausdrucksabsichten anzugleichen? In beiden Richtungen deutet sich das grundsätzliche Dilemma dieses Geschäfts an, das allem Anschein nach stets zwischen diametral gesetzten Polen verlaufen muß (oder verstanden wird?) - die sich überdies im hier nur anzudeutenden polaren Verhältnis zwischen .Autor' und .Übersetzer', ,Originalwerk' und .Übersetzung', ,Autorsprache' und .Übersetzersprache' vervielfältigen - und Schritt um Schritt aufzulösen scheinen: als wäre ein Übersetzer nicht auch Autor, eine Übersetzung nicht auch ein Originaltext, eine Übersetzersprache nicht stets zugleich auch die Sprache von Autoren. Celan hat, bei allem unterschwellig bisweilen vielleicht spürbaren Stolz über den an ihn ergangenen Übersetzungsauftrag des Norddeutschen Rundfunks, Ernst Schnabels, im Zusammenhang der Arbeit an Shakespeare's Sonetten auch angemerkt: der Weg zur Hölle sei mit Sonetten gepflastert - und: niemals ein eigenes Sonett werde er schreiben. (Den Shakespeare- wie den Celan-Kenner wundert beides nicht.) Das zeigt zunächst nichts anderes als die Tragweite seiner Auseinandersetzung mit dieser Form - gewiß über die professionelle Tätigkeit als Sprach- (und Literatur-!) Lehrer hinausgehend. Und doch wohl auch hinausgehend über ein handwerkliches Engagement als professioneller Übersetzer. Wieweit rein handwerkliche Schwierigkeiten bei der Übertragung der fremden Gedichtform in diesem Zusammenhang mit angedeutet wären, läßt sich von hier aus nicht sagen. Wir sollten den persönlichen Äußerungen des Autor-Übersetzers in diesem Punkt vielleicht keine allzu große Bedeutung beimessen. Vielleicht sagen die Übersetzungsmanuskripte selbst mehr aus, als der Übersetzer von seiner Tätigkeit preisgeben wollte. Wir sollten dann aber auch den Handschriften selbst, soweit sie derartige Einblicke überhaupt gestatten, zu entnehmen suchen, wie ein Prozeß sprachlicher Umsetzung und Aneignung im Kontext dieser Gedichte sich darstellt. Mir scheint, von hier aus erst lasse sich sachgerecht auch nach dem schließlichen Gelingen eines Übersetzungsvorganges fragen. Bedenklich scheint mir indes, nach dem Gesagten, jede voreilige Bereitschaft von Seiten des Betrachters, stilistisch vom Ausgangstext .abweichende' Einzelzüge der Übersetzung im Sinn dichterisch .freier' Anverwandlung schon als Kriterium der Übersetzung selbst zu akzeptieren - oder nicht.
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Vorab zu klären wäre im gegenwärtigen Zusammenhang die Frage, wo und auch wie der Übersetzer dichtete, und wo der Dichter übersetzte. Mag sein, daß dies zu der Feststellung fuhren könnte, die Übersetzung eines Gedichts sei gut, wenn sie ein gutes Gedicht sei... Aber sicher ist das nicht. Allerdings schiene es hier wenig hilfreich, die Frage, was eine gute Übersetzung sei, auf die Frage zurückzuführen: was ist ein gutes Gedicht? Franz Wurms Definition deutet auf eine notwendige, nicht auf eine hinreichende Bestimmung des Gegenstandes. Auch scheint die Frage nach der Übersetzung und dem Übersetzen nicht dadurch schon präzisiert, daß man vorschnell von ihr ausschlösse, was als .Nachdichtung' ohne weiteres in einen freieren Bezug zum Ausgangstext zu stehen kommen dürfte. Daß Gedichte nur nachdichtend zu übersetzen sind, scheint selbstverständlich. Details dieses komplexen Vorgangs finden sich, von Fall zu Fall deutlich, im Manuskript gespiegelt. Wie sie editorisch zu behandeln sind, ist eine Frage, die nur gemäß der Eigenart des Übersetzungsvorgangs, wie des Übersetzungsmanuskripts selbst, zu beantworten ist. Wenden wir uns demnach den konkreten Fällen zu: Celans Übersetzungsentwürfen zu den Shakespeare-Sonetten 57 und 107. Mit der Frage nach signifikanten Besonderheiten der hier zu beobachtenden Textentwicklung stellt sich zugleich die in diesem Zusammenhang zentrale Frage nach ihrer adäquaten editorischen Darstellung. Mir scheint im ersten Beispiel (Sonett 57\ DLA D 90.1.339 recto/verso; vgl. Abb. 1) bemerkenswert, wie der Übersetzer zunächst nicht einzelne Zeilen, nicht Einzelstellen oder einzelne Wörter und Wendungen, sondern nacheinander ganze Zeilengruppen seiner Vorlage in Angriff nimmt. Offenbar diese hat er als Texteinheiten im Blick - nicht zuerst einzelne Worte, Reime, metrische Details oder ähnliches. Solche Fragen mögen zuvor abgeklärt worden sein, ohne daß sich dies schriftlich niedergeschlagen hätte. Auch müssen wir bedenken, daß andere Übersetzungen durchaus als Vorbilder, wie auch immer vom Übersetzer selbst bewertet, ihm vor Augen standen. Celan hat namentlich benannt die Übertragungen von Regis und George, selbstverständlich - nach einer zweisprachigen Regis-Ausgabe hat er anscheinend auf weite Strecken übersetzt; vorgelegen hat ihm ferner die Übersetzung von Therese Robinson. So konnte von Anfang an das Gedicht in umfangreicheren Texteinheiten Gegenstand seiner Übersetzungsarbeit sein - nicht zuerst die Problematik der Entsprechung einzelner Wörter. Diese tritt offenbar später erst in den Blick. Zu beachten wäre etwa auf der rectoSeite der gleichen Handschrift unten die Variation - Herrscher - Fürst - Herr und Fürst fur „sovereign" (Sonett 57, Zeile 6). Früher hatte Celan dies - darf man sagen: einigermaßen unverfroren? - mit „Herrin" übersetzt.
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Auf der verso-Seite des gleichen Manuskripts (vgl. Abb. 4), am Schluß des ersten Terzetts an der Stelle „a sad slave", verdichtet sich offenbar die Konzentration auf die einzelne Wendung: -
ein Trauernder ein traurger Sklave ein Trauerknecht ein trister Knecht ein traurger Knecht
werden nacheinander erwogen und verworfen. Die endgültige Version lautet schließlich, in diesem Manuskript freilich noch nicht hergestellt: „dein trauriger, dein Knecht". Offenbar soll durch die reduplizierende Parallelführung „dein ... dein" das einigermaßen künstliche Apostroph „traurger" abgefangen werden: es gehe ihm, hat der Übersetzer gelegentlich angemerkt, bei seiner Arbeit um eine „heutige", zeitgemäße Diktion. Einzelzüge des Schriftduktus selbst scheinen mir an dieser Stelle bemerkenswerter: was immer die spatiöse Absetzung der variierenden Zeile „Nie kommt mich an ein eifersüchtig-fragend Denken" von der ursprünglichen Version für den Vorgang des Übersetzens bedeuten mag, etwa für die vorgängige Absicht, Raum für weitere Variationsmöglichkeiten zu gewinnen? - ich denke, auch an solchen Stellen sollte die Apparatdarstellung Variantenpositionen explizieren. Wir kommen auf die Frage später zurück. Der hier nur grob zu skizzierende Befund: daß der Übersetzer, zumindest nach Ausweis der vorliegenden Manuskripte, von Anfang an größere Texteinheiten, nicht Einzelstellen und deren Probleme, im Auge habe - bestätigt sich am Entwurf zu Sonett 107 (DLA D 90.1.350 recto/verso; vgl. Abb. 2). Hier wird sozusagen in direktem Zugriff auf den Text gleich in die Maschine übersetzt und die Übertragung dann sogleich variiert oder korrigiert. Leerstellen im Typoskript sehen Raum für später nachzutragende Verse vor. Auch hier ist zu beobachten, wie der Vorgang des Übersetzens im Fortgang der Arbeit am Text nicht etwa sukzessiv flüssiger sich gestaltet, sondern im Gegenteil ins Stocken gerät. Nicht nur die späteren handschriftlichen Überarbeitungen, sondern Einzelzüge des Typoskripts selbst deuten darauf hin. So ist auf der verso-Seite des Blattes zu bemerken, wie einzelne Kommata mit doppeltem Leerschritt, offenbar nach zögernder Überlegung erst, getippt sind - das wäre für Celans Gedicht-Typoskripte eher untypisch. Gewiß handelt es sich hier um Minimalbefunde, deren Deutung zunächst im Bereich der Spekulation angesiedelt zu sein scheint. Immerhin darf angemerkt werden, daß wir kürzlich erst, nur auf Grund derartiger Befunde wohlgemerkt, eine Handschrift Celans, die zunächst für einen eigenen Gedichtentwurf gehalten wurde, als Übersetzungsentwurf (aus dem Russischen) identifizieren konnten.
Übersetzung und Nachdichtung in textgenetischer
Darstellung?
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Erste Apparatentwürfe (nach den Grundsätzen der Bonner Celan-Ausgabe) zu den soeben gezeigten Handschriften sollen hier kurz vorgestellt werden. Sie versuchen, dem angedeuteten doppelten Aspekt dieser Manuskripte - dem Bezug einerseits auf das Shakespearesche Original und der den Handschriften selbst immanenten Textentwicklung, möglichst gerecht zu werden (zu Sonett 10 und zu Sonett 57, Abb. 4 und 5). Die Zeugen sind zeilenweise integral wiedergegeben. Als Ordnungsbezug dient der Zeilenstand des Grundtextes, der in den Apparat eingeblendet ist. Ein doppelter Zeilenzähler stellt einerseits den Bezug zum Ausgangstext her, und repräsentiert andererseits den Zustand des Übersetzungsentwurfs Zeile für Zeile. Versgruppen, wie sie der Übersetzer im Zuge seiner Arbeit ins Auge gefaßt hat, sind durch Großbuchstaben im Zeilenzähler kenntlich gemacht. In den fortlaufenden Apparat einbezogen sind kurze kommentierende Anmerkungen, die den Fortgang der Übersetzungsarbeit selbst betreffen, wie er an Hand der Manuskripte sich dem Herausgeber darstellt. Handschriftenfaksimiles, wenn diese Bemerkung noch erwartet wird, könnten derartige Befunde vielleicht anschaulicher machen. Weitläufigere Bemerkungen zum Entwurfsvorgang würden an den Schluß der Textdarstellung zu stehen kommen. Bleibt zu fragen, welches Maß an deskriptiver Genauigkeit der Textdarstellung hier im einzelnen zu Grunde zu legen wäre. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist die leidige Frage nicht allgemein zu erörtern, ob z.B. Variantenpositionen in die Apparatdarstellung aufgenommen werden sollten, oder nicht. Es genügt an dieser Stelle vorab zu behaupten, daß diese Grundsatzfrage sich hier ebenso stellt, wie in anderen Darstellungszusammenhängen auch - und: daß es sich hier um eine methodische Vorentscheidung handelt, die wohlbegründet, aber nicht zwingend im Gegenstand selbst angelegt ist. Der Anspruch des Herausgebers an eine ihm erwünschte, und erreichbar scheinende, Genauigkeit der Darstellung würde auch hier die Apparatkonstitution bestimmen. So mag sich die Vermutung bekräftigen, daß es hinsichtlich mnertextueller Zusammenhänge einen Unterschied zwischen Gedicht- und Übersetzungsentwürfen nicht gibt. Die spezifische Eigenart der hier vorzustellenden Textentwicklungen wie ihres Darstellungsmodus sollten damit ausreichend umschrieben sein. Wenn es eines Nachweises bedürfte, wie Textgenese derart im Zusammenspiel strenger Wortkonsequenz und freier Sprachvariation sich darstellt, sei das folgende Beispiel aus dem Nachlaß zu Celans Gedicht Ruh aus in deinen Wunden, dem vorletzten des Bandes Atemwende, hier abschließend präsentiert (vgl. Abb. 3; BCA Bd. 7,2, S. 249): Ob der Gedichtentwurf variiert: - Das hat sich den Salzstrauch erschwiegen erflogen ertaucht oder ob ein Übersetzungsentwurf Celans lautet:
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der Mond, der sterbliche, ließ sich nicht ganz verschatten verschattete, er blinkt entschattet, sieh, er blinkt der Vorgang bleibt in poetisch-textgenetischer Hinsicht sich gleich. Ihn mag der Herausgeber, nach Maßgabe seiner an seinem Gegenstand vorab entschiedenen allgemeinen Darstellungsgrundsätze, denn auch editorisch gleich behandeln. Damit, so scheint mir, dürfte das Fragezeichen, wie es an den Anfang dieser Ausführungen zu setzen war, als getilgt gelten. Von technischen Details abgesehen, stehen wir - zumindest im Hinblick auf die vorgetragenen Beispiele - vor den altbekannten Problemen textgentischer Edition.
Übersetzung und Nachdichtung in textgenetischer Darstellung?
,·χ
f~b tritt 6 C6(ii)
And the sad augurs mock their own presage; entfinstert, α [straft er die Auguren Lügen] Λα vor να die [Z->]Augurenworte [l-»]Lügen Σ
7
Incertainties now crown themselves assur'd. Z.7fehlt;Lücke Ts; Korrekturfolge und Korreklurzusommenhong Z.C 5/6 unsicher;
8 C7(i2)
And peace proclaims olives of endless age. urKl mitde[s-»]r[P^*(o-»]ötfrucht, zeitlos, kommt der Frieden Σ ZC7(12) Korrekturfolge unsicher;
D5(i)
der Mond , der sterbliche, α [ließ sich nicht ganz verschatten,] Σ λο verschattete [, ->] er blinkt [. -»] Hu
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oft entschattet [--»] sieh, er blinkt! Ζ D5(J) Komma nach Mond Spalium Ts! D6(2)
Augurenwort, dir war Augurenspott beschieden
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Das Schwankende α [v|a—»Jorhin] ? Gekrönt [,] Σ und unbedingt. Η"
D8(4)
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[o-»)öl[f-+]zweig kommt der [alterslosef Frieden.
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II. 9 D9(5)
Now with the drops of this most balmy time Von Balsam, meine Liebe , [η —>}bist du ganz umtaut
D9(6)
Umbalsamt, meine Liebe, bist du, [bist umtaut,]2 zeitumtaut Η"
Í
rf-' uR
]
bist umtaut von α [junger] Zeit Aa frischer ZS> 9(6) Komma nach Liebe Spatium Ts; umtaut mit Bleistift unterstrichen;
10 D 10(7)
My love looks fresh, and Death to me subscribes, bist frisch und ungeknickt - kein Tod, dich fortzuschwemmen.
/1 D 11(8)
Since, spite of him, I'll live in this poor rime, α [Fort]' leb [ich]', ihm zum Trotz, im Reim, den ich gebaut,
H " /va Ich «=>e« 12 D 12(9)
While he insults o'er dull and speechless tribes: derweil er dumpfen grollt und sprachelosen Stämmen.
II 13 E 13(10) 14
And thou in this shalt find thy monument, Und du - in diesem hier soll dein Gedenkmai stehen, When tyrants' crests and tombs of brass are spent.
E 14(11)
wenn Erzgruft schwindet Σ
F 13(12)
Und du - in diesem hier α
Hu
(sei aufbewahrt]'fc dein B[u->]ild,
G\a~
steht [fort und fort]*
dAc da e
[dauertsfort]' , dein Bild
ve steht es noch H" F 14(13) η"
/]u's mir aufgetragen
λ3 die Stunden lang, die Tage?
Λα will Aa Und Dienste? Keinerlei II C5(14)
Die a [Stunde], endlos, wag ich nicht zu b Λα Fristen
C6 (15)
Λ/>
wenn ich, mein a
[Herrscher], b
schelten [schmähen]
[der Uhr folg mit] c [der Augen Blicken]
/¡Λα [Fürst] >d Herr und Fürst λ/> verfolg 7
ac der Zeiger Kreisen
Nor think the bitterness of absent sour
C7(l6)
[Nicht kann] Abwesenheit α [mir] b
bitter gelten
λο [als] να mir Λαί>- sie kann mir nimmer 8
When you have bid your servant once adieu;
C8(l7)
wenn du das Abschiedswort α [sprichst] b vor der Reise Σ να gesprochen 9
D9(l)
(α) //
Nor dare I question with my jealous thought α [Auch kommt mir nie ein eifersüchtig Denken] oR Nie kommt mich an ein eifersüchtig-fragend Denken
10 Dio(2)
Where you may be, or your affairs suppose, nach deinen a
Aufenthalten und Geschäften
(b)
ΛΟ- fernen 11 DU (3)
But like a sad slave, stay and think of nought, α [An sie] b m [An sie nun -»] [Und -] ri> ~ an
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Abb. 3: Vaena Arte, die Buchstaben des Notationssystems. Dies sind die Buchstaben, die auf die Tasten gehören, so wie sie auf der abgebildeten Orgel erscheinen. Man kann sie von hier ausschneiden und auf die Tasten kleben, und zwar so, daß sie die Finger nicht berühren.17
c Une oouamente Cimentada Abb. 4: Vaena Arte, Tastatur, Ausschnitt aus dem Titelblatt. Diese Art der Bezeichnung, die uns an didaktische Verfahren wie „Malen nach Zahlen" erinnert, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Hier wird faktisch umgesetzt, was in verschiedenen Traktaten als Darstellungsmethode für die Skala des Tasteninstruments herangezogen wird. So bei Martin Agricola 1512 oder beim oben genannten Bermudo 1555:
16
17
Vgl. Anm. 14: „Seran pintadas o sobrepuestas en cada vna de las teclas de monacordio las letras que a delante están." Vaena 1540, vgl. Anm. 3, ungezähltes Blatt vor fol. 9r: „Estas son las letras que han de ser puestas en las teclas assi como enei organo pintado parece. Pueden las cortar daqui y apegarlas encima de las teclas: de modo que los dedos no las toquen."
Cristina Urchueguía
284
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Abb. 5a: Martin Agricola: Musica Instrumentalis deudsch. Wittenberg: Georg Rhaw 1532, fol. D2v.
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Gelehrte Aneignung als editorische Problemstellung
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Gelehrte Aneignung als editorische Problemstellung
403
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Helga Lilhning
|j Elisabeth unterschreibt das Urteil. |j Sie gibt es Davison. |
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Zimmer der Königin
V,10 Leicester allein
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V,15 dies. + Budeigh, dann Kent
V,14 dies. + Davison
1 V,12 Elisabeth, ein Page V,13 Elisabeth, Shrewsbury
Elisabeth erwartet unruhig eine Nachñcht. | \ Sie läßt Shrewsbury und Davison rufen. | Shrewsbury empfiehlt die erneute Prüfung der Beschuldigungen, die Elisabeth zusagt. Davison soll mit dem Leben büßen, daß er das Urteil an Burleigh weitergegeben hat. Burleigh bñngt die Nachñcht von der Hinñchtung; Elisabeth verbannt ihn. Shrewsbury bittet um Entlassung. Leicester „ist zu Schiff nach Frankreich."
00
Maria bittet, daß Melvil und die Amme sie zur Hinrichtung begleiten. Abschied von Leicester, der diesen vernichtet. Leicester ist verzweifelt und oñentierungslos. Er hört die Geräusche der Hinñchtung und beschreibt sie.
1
Π,9 dies. + Cecil
+
Burleigh fragt sie nach letzten Wünschen.
11.6 Freunde Mañas 11.7 dies. + Anna
i
V,8 dies. + Leicester, Burleigh, Paulet V,9 dies. + Kennedy, Frauen, Sheñff, gewaffnete Männer
I
Talbot entpuppt sich als Pñester. (Duett:) Das Gewissen quält Maña wegen der Ermordung ihres Gatten. (All0:) Den Anschlag auf Elisabeth, fur den sie verurteilt wurde, hat sie nicht begangen. (Cabaletta:) Sie schwört, keine andere Schuld auf sich geladen zu haben, und erhält Absolution.
(siehe 11,10)
Monolog Cecil überbnngt das Todesurteil.
Preghiera
Scena
Nr.9 Seena ultima Inno della morte
Leicester ist verzweifelt. Maria nimmt Abschied von ihm und von den Freunden.
Maria verzeiht Elisabeth und erfleht des Himmels Segen für England; Klagen der Freunde.
Der Chor beklagt die bevorstehende Hinrichtung. Maña naht. Freunde klagen; Maria tröstet sie. Anna soll ihr die Augen verbinden Die Tür öffnet sich; Cecil tñtt heraus; Soldaten u.a.
Saal neben den Gemachem. Im Hintergrund eine große geechloesene Tür. Es ist Nacht.
Nr.8 Seena e Duetto
Gemächer der Maria Stuart in Schloß Fotheringhay
| |
1 υ
Maria, weiß gekleidet, nimmt rührenden Abschied von ihren Getreuen. Melvil entpuppt sich als Priester. Er nimmt ihr die 11,5 Maña, Talbot Beichte ab und erteilt ihr Absolution.
Die Amme schildert Melvil Marias Reaktion auf die Ankündigung des Todes. Margarete beschuldigt ihren Mann, falsches Zeugnis gegen Maria gegeben zu haben. Vorbereitung von Marias Auftritt Margarete beschreibt das Blutgerüst.
V. Akt: Zimmer im Schloß zu Fotheringhay (wie im I. Akt)
IIV,10 Elisabeth allein IIV, 11 Elisabeth, Davison IIV,12 Davison, Burleigh
Wenn Maria Stuart in die Oper geht 433
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Gert Vonhoff
Wie ediert man Übersetzungen als ästhetische Objekte? Grundsätze, entwickelt an Beispielen aus Freiligraths Übersetzungen
Als man sich vor vier Jahren in Graz darüber verständigte, wie Editoren mit Quellen umgehen sollten, war eines der Ergebnisse, daß die Quellen nur in seltenen Fällen als Bestandteil der Ausgabe mitzuedieren seien.1 Bei der Edition von Übersetzungen scheint mir die genau gegenteilige Entscheidung richtiger zu sein. Nicht auf das neu entstandene Werk ist hier das Augenmerk zu richten, sondern auf zwei Texte, auf die Übersetzung und auf deren fremdsprachliche Vorlage. Beide Texte sind auf das Engste miteinander verbunden, die Ausgabe hat die Aufgabe, diese Beziehung Zeile für Zeile, Vers für Vers sichtbar zu machen und in ihren beiderseitigen, sich überblendenden Bedeutungshorizonten zu erläutern. Denn nach dem strukturalen/funktionsgeschichtlichen Ansatz Jan Mukarovskys gilt: das ästhetische Objekt ist die Abfolge und damit das Gesamt der kollektiven Funktionszuschreibungen, die eine Kulturgemeinschaft einem materialen Artefakt gegenüber einnimmt;2 das materiale Artefakt ist bei Übersetzungen dann aber ein zweifaches, das ästhetische Objekt darum ein komplexeres als bei originären literarischen Werken. Oder anders gesagt: bei der Edition von Übersetzungen hat es der Herausgeber mit einer doppelten hermeneutischen Herausforderung zu tun. Für die Textkonstitution ergibt sich aus diesen Überlegungen, daß die wissenschaftliche Ausgabe in der Regel einen Paralleldruck von fremdsprachlicher Vorlage und Übersetzung zu veranstalten hat. Das macht schon allein deshalb Sinn, weil der Autor der Übersetzung seinem Werk in der Regel nicht die heute leicht verfügbaren Ausgaben zugrundelegte, sondern die historisch greifbaren, zuweilen auch sehr spezifische. Illustrieren läßt sich das an Freiligraths Übersetzungen von Gedichten Walt Whitmans. 1868 in der Wochenausgabe der Augsburger Allgemeinen Zeitung und dann 1870 in seinen Gesammelten Dichtungen veröffentlichte Freiligrath seine Übersetzung von zehn Gedichten jenes Autors, den er selbst in einem vorangestellten Essay
2
Siehe dazu Quelle - Text - Edition. Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996. Hrsg. von Anton Schwöb und Erwin Streitfeld unter der Mitarbeit von Karin Kranich-Hofbauer. Tübingen 1997, bes. S. 15-18. Jan Mukarovsky: Der Begriff des Ganzen in der Kunsttheorie. In: Jan Mukarovsky: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. Aus dem Tschechischen übersetzt von Herbert Grönebaum und Gisela Riff. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1977, S. 28f. - Siehe dazu auch meine theoretische Positionsbestimmung einer funktionsgeschichtlichen Editionstheorie in: Kontextualisierung als Notwendigkeit. Die Edition .ästhetischer Objekte' am Beispiel der Lyrik von Jacob Michael Reinhold Lenz. In: Produktion und Kontext. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition im Constantijn Huygens Instituut, Den Haag, 4. bis 7. März 1998. Hrsg. von H.T.M. van Vliet. Tübingen 1999, S. 145-154.
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Gert Vonhoff
dem deutschen Publikum als unerhörte, ganz neuartige Poesie bekannt machte.3 Neun der zehn Texte erschienen zuerst in der 1865 von Whitman in Amerika publizierten Sammlung Drum-Taps* das zehnte Gedicht folgte 1866 in Whitmans Sequel to DrumTaps.5 In beiden Sammlungen gestaltete Whitman die Erfahrungen des Civil War auf eine literarisch innovative Art. Wer nun zu den Erstdrucken oder aber zu einer der modernen kritischen WhitmanAusgaben6 greift, wird die Reihenfolge der Freiligrathschen Übersetzungen und, je nach Ausgabe,7 auch seine Zuordnung der Gedichte in die Gruppe der Drum-Taps als Freiligraths Sinnsteuerung ansehen. Die Edition der Übersetzungen indes muß diesem Fehler vorbeugen, indem sie auf die Texte der Ausgabe zurückgreift, die Freiligrath benutzte. Dies aber war die 1868 von William Michael Rossetti, einem Bruder von Dante Gabriel Rossetti, in London veranstaltete, heute nur schwer zu beschaffende Anthologie Poems by Walt WhitmanDiese Ausgabe enthält nicht nur alle Texte, die Freiligrath je von Whitman übertragen hat - dazu gehören auch die Anfänge zweier nur handschriftlich überlieferter Übersetzungen -, 9 sondern eben auch, bis auf eine Ausnahme, die Reihenfolge der Gedichte, wie sie Freiligrath präsentiert. Die Ausnahme ist das Gedicht Old Ireland, das wie die beiden Gedichte, zu denen handschriftliche Fragmente Freiligraths erhalten sind, in Rossettis Anthologie der Gedichtgruppe
Wochenausgabe der Augsburger Allgemeinen Zeitung, 2. Jg., Nr. 17 vom 24. April 1868, S. 257-259; Nr. 24 vom 12. Juni 1868, S. 369-371; Nr. 25 vom 19. Juni 1868, S. 385f. - Ferdinand Freiligrath's gesammelte Dichtungen. Stuttgart 1870, Bd. 4, S. 75-89. Hier und im Fortlaufenden zitiert nach: Ferdinand Freiligrath's gesammelte Dichtungen. Sterotyp-Ausgabe. Zweiter Abdruck. Stuttgart 1871, Bd. 4, S. 75-89. - So heißt es in Freiligraths begleitendem Essay über Walt Whitman: „Seine Bewunderer sagen: der erste, der einzige Dichter, welchen Amerika bisher hervorgebracht. Der einzige specifisch amerikanische Dichter. Kein Wandler in den ausgetretenen Spuren der europäischen Muse, nein, frisch von der Prairie und den Ansiedlungen, frisch von der Küste und den großen Flüssen, frisch aus dem Menschengewühl der Häfen und der Städte, frisch von den Schlachtfeldern des Südens, den Erdgeruch des Bodens, der ihn gezeugt, in Haar und Bart und Kleidern" (S. 86). Walt Whitman's Drum-Taps. New York 1865. Walt Whitman: In clouds descending, in midnight sleep. In: Sequel to Drum-Taps. (Since the Preceding Came from the Press.) When Lilacs Last in the Door-yard Bloom'd and Other Pieces. Washington 1865-66, S. 20. Walt Whitman: Leaves of Grass. Comprehensive Reader's Edition. Hrsg. von Harold W. Blodgett and Sculley Bradley. New York 1965; Walt Whitman: Leaves of Grass. A Textual Variorum of the Printed Poems, Bd. 2: Poems. 1860-1867. Hrsg. von Sculley Bradley, Harold W. Blodgett, Arthur Golden, William White. New York 1980. So folgt die Comprehensive Reader's Edition der 9. Ausgabe der Leaves of Grass, der sogenannten .Deathbed-Edition' von 1891-92. Die Gedichte Bathed in war's perfume (The Flag), In clouds descending, in midnight sleep (Old War-Dreams), Over the Carnage und Old Ireland zählen hier nicht zu der Gruppe der Drum-Taps. Poems by Walt Whitman. Selected and Edited by William Michael Rossetti. London: John Camden Hotten, 1868. Mir bisher nur zugänglich in einem späteren, vermutlich seitenidentischen Druck der Library der University of Sheffield: Poems by Walt Whitman. Selected and Edited by William Michael Rossetti. Fine-Paper Edition with a Portrait. London: Chatto & Windus, 1910. Für die Daten des Erstdrucks siehe Otto Springer: Walt Whitman und Ferdinand Freiligrath. In: The American-German Review, Philadelphia 11,1944/45, Nr. 2, S. 22-26, 38, hier S. 22. Es handelt sich um zwei Übersetzungsfragmente von Whitmans längeren Gedichten Song of the Broad Axe und Starting from Paumanok (2 Bl. GSA Weimar, Signatur GSA 17/11,10,3; fur eine vorläufige Edition siehe Walter Grünzweig: Walt Whitmann. Die deutschsprachige Rezeption als interkulturelles Phänomen. München 1991, S. 249).
Wie ediert man Übersetzungen als ästhetische Objekte?
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Chants Democratic zugeordnet ist; Freiligrath stellt Alt Irland nun aber an das Ende seiner Auswahl aus den Drum-Taps. Die Frage der Reihenfolge ist dabei durchaus mehr als ein belangloses Detail, ordnete doch bereits Rossettis Anthologie in der Weise, daß die zunehmende Desillusionierung über den amerikanischen Bürgerkrieg zur Aussage wird, die oberhalb der einzelnen Gedichte die Struktur der Sammlung bestimmt: Rossetti beginnt mit den sogenannten .mobilization poems', mit denen Whitman den Kriegsausbruch als Chance des kleinen Mannes feiert, aktiv fur die Verwirklichung seiner Freiheit und Gleichheit in einer wirklichen Demokratie einzutreten;10 es folgen Gedichte, aus denen wegen Whitmans realer Kriegserfahrung, seinen authentischen Erfahrungen in den Lazaretten, ein ernüchternder, desillusionierter Ton spricht;11 das Ende markieren dann die von der Forschung so benannten ,poems of demobilization', die, weil Whitman das Leiden des Krieges nur festgehalten, nicht aber in seinen Ursachen durchschaut hat, wieder der illusionären Schau verfallen.12 Mit seiner Auswahl aus der von Rossetti besorgten Anthologie zeigt Freiligrath sein Gespür für genau diesen Spannungsbogen, den er mit seiner Übersetzung des Gedichtes Old Ireland geradezu an sein Ende bringt, besingt dieses Gedicht doch wieder den Mythos Amerika, kennt es nur die religiöse Verbrämung der sozialen Frage, gespiegelt am Hunger und an der Armut der Iren. Bleibt abschließend zu bemerken, daß Whitman selbst die Reihenfolge seiner Gedichte erst für seine 1881er Ausgabe der Leaves of Grass umstellte, dann erst jene Struktur sichtbar werden ließ, die Rossettis und Freiligraths so unterschiedliche Auswahl schon sehr viel früher geprägt hatte. Wenn man die Auswahl und die Übersetzung von Gedichten Whitmans, der seine einzelnen Gedichte immer wieder auch im Wortlaut geändert hat, verstehen will, bedarf man, wie das erläuterte Beispiel zeigt, des Paralleldrucks von originalsprachlicher Vorlage und Übersetzung als wissenschaftlicher Fundierung. In allen weniger schwierig gelagerten Fällen bietet der Paralleldruck den Benutzern der Ausgabe einfach die übersichtlichste und einfachste Möglichkeit des Vergleichs. Die ganz unterschiedlichen Arten der Übersetzungen müssen in den wissenschaftlichen Ausgaben dokumentiert und zugleich erfahrbar werden. Whitmans Gedicht 186113 etwa wird von Freiligrath mehr oder weniger Wort für Wort übersetzt. Die der Prosa nahen ,longlines', das Originäre von Whitmans Lyrik, lassen Freiligrath so verfahren. Im Essay, der die Übersetzungen begleitete, rühmte Freiligrath gerade dies an Whitmans Gedichten: „Sind das Verse? Die Zeilen sind wie Verse abgesetzt, allerdings, aber Verse sind es nicht. Kein Metrum, kein Reim, keine Strophen. Rhythmische Prosa, Streckverse. Auf den ersten Anblick rauh, ungefüg, formlos; aber dennoch, für ein feineres Ohr, des Wohllauts nicht ermangelnd."14 Noch das Zeilenende schließt, wo immer möglich, mit demselben Wort wie in der Vorlage. 10
In Freiligraths Übersetzungen zählen die Gedichte 1861, Die Erhebung, Bivouac am Berge und Die Flagge zu dieser Untergruppe (Freiligrath 1871, vgl. Anm. 3, S. 75f., 76-79, 79, 79f.). ' Siehe Freiligraths Übersetzungen Die Verwundeten, Eine Lagerschau, Ein Grab und Kriegsträume (Freiligrath 1871, vgl. Anm. 3, S. 80f., 82, 83, 83f.). 12 Siehe Freiligraths Übersetzung Über das Blutbad (Freiligrath 1871, vgl. Anm. 3, S. 84f.). 13 Freiligrath 1871, vgl. Anm. 3, S. 75f. Siehe Anhang 1. 14 Freiligrath 1871, vgl. Anm. 3, S. 87. 1
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Gert Vonhoff
Um so auffalliger ist dann, daß Freiligraths Übersetzung zwei Verse mehr aufweist als die Vorlage in der Ausgabe von Rossetti: die .longlines' 4 und 5 von Whitmans Gedicht werden von Freiligrath jeweils in zwei kürzeren Versen wiedergegeben, das Muster dafür konnte Freiligrath im Eingangsvers finden. Um eine fehlerhafte Stelle im Druck, der einen emendierenden Eingriff nötig machte, handelt es sich darum hier wohl kaum. Im Paralleldruck von Ausgangstext und Übersetzung kann die Ausgabe diese Auffälligkeit dokumentieren und so die Möglichkeit der Interpretation eröffnen. Longfellows Gedicht The Skeleton in Armor15 markiert das andere Extrem von Übersetzungen. Es ist eine viel freiere Übersetzung, die ihr Hauptaugenmerk an der Strophenform und dem altertümlichen Sprachduktus des Ausgangstextes ausrichtet. Beides ist hier wichtig, weil das Gedicht neben The Song of Hiawatha - Longfellows Versuch, der nicht schriftgebundenen Kultur der Indianer Nordamerikas ein Epos zuzueignen, ebenfalls von Freiligrath übersetzt16 - ein weiterer Versuch ist, das vermeintlich geschichtslose Amerika mit nationalen Mythen zu versorgen. Besungen wird hier die Identität der amerikanischen Nation als einer Nation von Freien und Gleichen, wobei dies bereits als Anspruch der frühesten (wikingischen) Siedler ausgestellt wird. Die Strophenform stellt eine Mischung aus ,ballad-stanza'/Volksliedstrophe und originären Momenten dar; Longfellows Rezeption der europäischen, vor allem der deutschen Romantik ist dabei deutlich zu spüren. Die Beispiele zeigen, warum eine Beschreibung des Verhältnisses von Ausgangsund Zieltext, wie sie der Herausgeber im Kommentarteil geben kann, nicht ausreicht, stellt sie doch immer eine Zusammenfassung und Verallgemeinerung dar, ist selbst das Ergebnis einer Interpretation des Befundes. In Fragen des Textverstehens möchte der (wissenschaftliche) Leser so viel wie möglich authentische Erfahrungen machen, um eigene ästhetische Urteile fällen zu können. So wie wir es inzwischen als selbstverständlich ansehen, daß die kritische Ausgabe alle Varianten und Fassungen eines Werks enthalten sollte, so sollte sie bei Übersetzungen auch alle Texte umfassen, und das heißt, eben nicht nur die Übersetzung samt deren Varianten und gegebenenfalls Fassungsabdruck, sondern auch deren Vorlage oder, wo für verschiedene Fassungen die Vorlage gewechselt hat, alle verwendeten Vorlagen (wie die Varianten dann im Apparat). Dabei gilt fur das Verhältnis von Text und Varianten des Zieltextes, was auch für die Edition originärer Werke gilt, als Richtschnur etwa das Prinzip, den Schnittpunkt von Produktion und Rezeption im Textteil der Ausgabe zu dokumentieren (Prinzip Bucherstdruck). 17 Ergänzt wird die so für den Textteil ausgewählte Fassung durch deren fremdsprachliche Vorlage. Alles andere enthält der Apparatteil der Ausgabe. Und dabei sollte im Zeitalter digitaler Editionen berücksichtigt werden, daß
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Ferdinand Freiligrath: Englische Gedichte aus neuerer Zeit. Nach Felicia Hemans, L.E. Landon, Robert Southey, Alfred Tennyson, Henry W. Longfellow und Anderen. Stuttgart und Tübingen 1846, S. 401-409. Siehe Anhang 2. Henry Wadsworth Longfellow: Der Sang von Hiawatha. Übersetzt von Ferdinand Freiligrath. Stuttgart und Ausburg 1857. Abgedruckt in: Freiligraths Werke in sechs Teilen. Hrsg. mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Julius Schwering. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1909], 5. T., S. 413— 564. Siehe dazu Herbert Kraft: Editionsphilologie. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Auflage mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt/Main 2001, S. 35.
Wie ediert man Übersetzungen als ästhetische Objekte?
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aufgrund der andersartigen Kodierung und Materialerfassung die Entscheidung für eine bestimmte Fassung im Textteil fur den Benutzer revidierbar geworden ist. Die Daten werden ja digital in der Regel so ausgezeichnet und abgelegt, daß der Benutzer sich vom Programm auch jede andere Fassung als Textteil generieren lassen kann. Die Vorentscheidung des Herausgebers ist hier nurmehr die wissenschaftlich begründete Richtschnur, nicht länger mehr die einzig mögliche spätere Rezeptionsform. In Zukunft wird der alte Streit, welche Fassimg denn nun im Textteil präsentiert werde, also entschärft sein. Es ist nun vielmehr entgegengesetzt zu argumentieren: Im Falle der Fassungwahl eine Vorentscheidung zu treffen, sichert die Kommunikabilität des wissenschaftlichen Diskurses, der bei der Fülle isolierter Daten Gefahr läuft, fragmentarisiert zu werden und sich damit selbst weiter zu marginalisieren, weil keiner mehr weiß, worauf sich der andere denn eigentlich bezieht. Im Fall von Freiligraths Übersetzungen Whitmanscher Gedichte ließ sich die Frage nach der fremdsprachlichen Vorlage ja aufgrund der Dokumentenlage eindeutig klären,18 mit den schon beschriebenen Konsequenzen für das Verständnis von Freiligraths eigenen Eingriffen. Was aber tun, wenn Briefstellen, Leihquittungen, Aufstellungen der in der Bibliothek des Autors vorhandenen Bücher oder andere Dokumente die verwendete fremdsprachliche Vorlage nicht erkennen lassen? Weil für die Edition von Übersetzungen der Schnittpunkt von Rezeption und Produktion im kulturellen Raum der Zielsprache zu lokalisieren ist, muß auch die Vorlagenwahl beim Fehlen autorspezifischer Daten sich am Rezeptionsverhalten des zielsprachlichen Kontextes orientieren: es sind also originalsprachliche Drucke zu verwenden, die in der Zielsprache zum Zeitpunkt des Erscheinens der Übersetzung verbreitet waren. Das aber werden in der Regel nicht die Erstdrucke sein, sondern Auswahl- und Gesamtausgaben, vielleicht gar speziell für die fremdsprachlichen Leser hergestellte Werkauswahlen. Und auch hier deutet sich wiederum an, warum ein Paralleldruck von Vorlage und Übersetzung in vielen Fällen besonderen Sinn macht, denn wer wird schon leichten Zugang zu diesen sehr spezifischen zeitgenössischen Ausgaben haben. Wie nun sind die Übersetzungen in eine Gesamtausgabe einzuordnen? Sie in gesonderten Bänden zu versammeln, wie dies die bestehenden Ausgaben der Werke Freiligraths machen, bedeutet gerade auf einen wesentlichen Aspekt der Darstellung zu verzichten. Denn auf diese Weise wird es sehr schwierig, den Einfluß der Übersetzungstätigkeit eines Autors auf seine sonstigen Werke kenntlich zu machen. Für die Beurteilung von Freiligraths Spätwerk etwa wäre es wünschenswert, die Rückwirkung der Whitman-Übersetzungen auf Gedichte wie Hurra, Germania/" oder andere Gedichte zu dokumentieren, die auf den Krieg von 1870/71 Bezug nehmen. Eine an der Chronologie des Gesamtwerks orientierte Gliederung der Ausgabe kann hier etwa den Einfluß Whitmans auf Freiligraths Versanfänge, auf die Reihungen und den Gestus seiner nach 1870 entstandenen Gedichte zeigen, aber im Vergleich im selben Moment bewußt halten, wie Freiligrath an den traditionellen Strophenformen, am Endreim und 18
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Freiligraths begleitender Essay erwähnt Rossettis Auswahl gleich zweimal (siehe Freiligrath 1871, vgl. Anm. 3, S. 86, 89). Freiligrath [1909], vgl. Anm. 16, 3. T., S. 47-49. Siehe dort auch die Gedichte So wird es geschehn! (S. 49f.) und Ein Reiterstückchen für die dritte Armee (S. 55).
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Metrum, auch am Kriegspathos und Chauvinismus der zeitgenössischen deutschen Lyrik festhält. In der Summe entstand hier nichts, was an die übersetzten Texte heranreichte. Gerade darum aber geben die Übersetzungen den Maßstab für Freiligraths Spätwerk vor, um so mehr als die Klage um Verwundete und Tote und andere durchaus nachdenkliche Töne in Gedichten wie Die Trompete von Gravelotte20 sich durchaus von den Übersetzungen der Whitmanschen Drum-Taps herschreiben. Dies zu erkennen hilft das befremdlich Vermischte dieser Freiligrathschen Gedichte präziser beschreiben zu können. Wo immer eine Edition solches durch die Präsentation der Texte erreichen kann, entlastet sie nicht nur ihre kommentierenden Teile, sondern fördert sie auch die Urteilsfähigkeit der Lesenden. Besondere Bedingungen gelten bei Übersetzungen auch für den Kommentar, denn die Erläuterungen müssen den Text und seine Vorlage erklären, dabei die Unterschiede von zwei kultur- und literaturgeschichtlichen Kontexten berücksichtigen. Für den ausgangssprachlichen Text ist außerdem die sonstige Rezeption in der Zielsprache zu berücksichtigen. Das alles kann einen Kommentar schnell überfrachten, er wird dann überlang und unlesbar. Wo die Ausgabe möglichst viel durch das Zurverfügungstellen der Texte dokumentiert, kann der Apparat von umfangreichen Zitaten und beschreibenden Vergleichen entlastet werden. Der dokumentierende Charakter des Textteils erlaubt es zudem, daß der Apparatteil der Ausgabe darstellender, also summarischer verfährt. Denkbar sind hier Darstellungsweisen in Form von Globalkommentaren, wie sie als Zwischenglied zwischen Interpretation und Einzelstellenerläuterung etwa in den Ausgaben der Bibliothek Deutscher Klassiker erprobt worden sind. Einzelstellenerläuterungen sollte es darüber hinaus nur für die Übersetzungen geben. Unverzichtbar erscheinende spezifische Erläuterungen zu Details des ausgangssprachlichen Textes können dabei in den zuzuordnenden Einzelstellenerläuterungen des zielsprachlichen Textes erfaßt werden; sie erläutern dann ja in der Regel bemerkenswerte Übernahmen aus dem anderen Kulturraum oder Unterschiede der jeweiligen Text-Kontext-Relationen beider Texte. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, was ein derartiger Werkkommentar an Bezügen darstellen müßte und was dies zum Verständnis der Übersetzung beiträgt, möchte ich kurz auf Freiligraths Übersetzung von Longfellows Gedicht The Warning eingehen. „Aus einer Reihe von Gedichten gegen die Sklaverei", so lautet die Anmerkung, die Freiligrath seiner Übersetzung beifügt; verwiesen ist damit auf Longfellows Sammlung Poems on Slavery, die er unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Europa noch ganz unter dem Einfluß des Kapitels Slavery aus Charles Dickens American Notes21 veröffentlicht hatte.22 Der harsche Realismus eines Dickens hatte bei Longfellow der ,genteel tradition' der neuenglischen .fireside poets' Platz gemacht; Freiligrath seinerseits verstärkt nun noch einmal diese Tendenz zur Poetisierung,
20
21 22
Freiligrath [1909], vgl. Anm. 16, 3. T., S. 52f. Siehe dort auch die Gedichte An Wolfgang im Felde (S. 50-52) und Freiwillige vor (S. 53f.). The Works of Charles Dickens. American Notes. Pictures from Italy. London 1907, S. 267-285. Poems on Slavery. In: Poetical Works of Henry Wadsworth Longfellow. In Six Volumes. New York 1966, Bd. 1, 87-97. Auf die Lage der Sklaven gehen die Gedichte The Slave in the Dismal Swamp (S. 91f.) und The Witnesses (S. 93-96) konkreter ein.
Wie ediert man Übersetzungen als ästhetische Objekte?
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indem er aus der Gruppe der acht Gedichte von Longfellow genau das ins Deutsche überträgt, welches das soziale Problem am abstraktesten darstellt. Der biblische Vergleich mit der Geschichte von Simson dient weniger dazu, die soziale Lage der Sklaven zu veranschaulichen, mündet statt dessen in die Warnung an die Sklavenhalter, die liberalen Grundlagen des Gemeinwesens nicht zu gefährden. Freiligraths Übersetzung schwächt hier am Gedichtende nun aber die .poetic diction', die diese Stelle in Longfellows Gedicht besonders kennzeichnet, gerade ab. Die Übersetzung ins Deutsche hebt - ganz im Stil der Vormärz-Lyrik - den nationalen, den politischen Aspekt stärker hervor.23 Zum Schluß, die Übersetzungen, die im Laufe der Zeit zu den Gedichten Walt Whitmans entstanden sind, lassen es interessant erscheinen, diese einmal selbst in einer Ausgabe zu versammeln und auf diese Weise die Geschichte ihrer Übersetzung zu dokumentieren. Eine solche Edition von Übersetzungen würde zu einer Reise durch die Zeit, mit einer deutlich wirkungsgeschichtlichen Komponente. Doch wäre das ein eigenes Thema für einen anderen Beitrag.
23
Longfellows Gedicht The Warning endet: „There is a poor, blind Samson in this land, / Shorn of his strength and bound in bonds of steel. / Who may, in some grim revel, raise his hand, / And shake the pillars of this Commonweal, / Till the vast Temple of our liberties / A shapeless mass of wreck and rubbish lies." (Longfellow 1966, vgl. Anm. 22, S. 96f.) - Freiligraths 1846 zuerst veröffentlichte Übersetzung der entsprechenden Verse lautet: „Ein blinder Simson auch in diesem Land, / Machtlos, geschoren, geht in Kett' und Strick. / O, hütet euch - daß nicht auch seine Hand / Umreißt die Säulen dieser Republik, / Bis unsrer Freiheit Tempel, hehr gefügt, / Ein Trümmerlabyrinth formlos am Boden liegt!" (Warnung, in: Freiligrath 1846, vgl. Anm. 15, S. 414f., V. 13-18.)
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Gert Vonhoff
Anhang The Skeleton in Armor.
Das Skelet in der Rüstung.*
"SPEAK! speak! thou fearful guest! Who, with thy hollow breast Still in rude armor drest, Comest to daunt me! Wrapt not in Eastern balms, But with thy fleshless palms Stretched, as if asking alms, Why dost thou haunt me?"
„Rede, du finstrer Gast! Unter des Panzers Last, Ganz noch gewappnet fast, Seh' ich dich bangend! Ledig der Grabeszier, Fleischlose Hände mir Streckst du entgegen, schier Gaben verlangend!"
Then, from those cavernous eyes Pale flashes seemed to rise, As when the Northern skies Gleam in December; And, like the water's flow Under December's snow, Came a dull voice of woe From the heart's chamber.
Da, durch Visir und Schien', Flammt' es wie Blitzessprühn Oder wie Nordlichtglühn Nachts auf den Klippen; Und, wie die wüste See Unter Decemberschnee, Dröhnt' es mit dumpfem Weh Her durch die Rippen:
[...]
[...]
"She was a Prince's child, I but a Viking wild, And though she blushed and smiled, I was discarded! Should not the dove so white Follow the sea-mew's flight, Why did they leave that night Her nest unguarded?
„Sie war ein Sproß vom Thron, Ich nur ein Wikingssohn, Und, ob sie flehte schon, „Nein!" sprach der Ritter. Doch folgt der Taube Flug Oft auch der Möve Zug Warum verschloß man klug Nachts nicht ihr Gitter?
[...]
[...]
"Three weeks we westward bore, And when the storm was o'er, Cloud-like we saw the shore Stretching to leeward; There for my lady's bower Built I the lofty tower, Which, to this very hour, Stands looking seaward.
„Westlich dann fuhren wir, Fuhren drei Wochen schier, Bis wir das Ufer hier Winken sahn leewärts; Drauf meiner jungen Braut Hab' ich den Thurm gebaut, Der noch zur Stunde schaut Trotziglich seewärts.
[...]
[···]
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Wie ediert man Übersetzungen als ästhetische Objekte?
"Thus, seamed with many scars, Bursting these prison bars, Up to its native stars My soul ascended! There from the flowing bowl Deep drinks the warrior's soul, Skoal! to the Northland! skoal!" Thus the tale ended.
„Also, in trotz'ger Kraft, Narbenvoll, unerschlafft, Sprengt' ich der Kerkerhaft Hemmende Wände! Flog zu der Steme Port, Voll kreist die Schale dort; Skàl** dir, mein heim'scher Nord!" - Das war das Ende.
* Ein alter Thurm zu Newport auf RhodeIsland, dessen Erbauung von dänischen und deutschen Forschem (Rath und Schmeller. Vergi. Beilage zur Allgem. Zeitung vom 28. Juni 1843) den Skandinaviern des zwölften Jahrhunderts zugeschrieben wird, und ein vor wenigen Jahren in seiner Nähe, in der Stadt Fall-River, ausgegrabenes Skelet in vollständiger Rüstung gaben den Stoff zu diesem Gedichte. F. ** Skandinavischer Trinkspruch.
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Gert Vonhoff
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Wie ediert man Übersetzungen als ästhetische Objekte?
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Michael Struck
Werk-Übersetzung als Werk-Alternative? Johannes Brahms' Klavierbearbeitungen eigener Werke
Wenn es bei einer Tagung über Edition und Übersetzung um den Komponisten Johannes Brahms geht, wäre zu erwarten, daß von seinen Vokalwerken und der Übersetzung ihrer deutschen Originaltexte ins Englische oder Französische die Rede ist. Denn im Laufe von Brahms' Vokalschaffen wurde in zunehmendem Maße nur noch eine kleine, manchmal allein auf den Komponisten und seinen Freundeskreis hin berechnete Auflage mit deutschem Text angefertigt, ehe die erste eigentliche Massenauflage sogleich zweisprachig mit deutschem und englischem Text erschien. Der Verleger bezog also die Perspektive des „interkulturellen Texttransfers" von vornherein in seine verlegerische Planung und Berechnung ein.1 Diese Beobachtung erklärt freilich, warum Brahms ' Vokalmusik n i c h t im Zentrum der folgenden Überlegungen steht: Dem Komponisten Brahms lag nicht viel an Übersetzungen von ihm vertonter Texte. Zwar hinderte er seine Verleger nicht, diese anfertigen zu lassen, und hatte natürlich nichts dagegen einzuwenden, daß sich durch mehrsprachige Textwiedergabe der Absatz seiner Musik im Ausland vergrößerte. Doch all das fiel für ihn ausschließlich in den verlegerischen Verantwortungsbereich.2 Dagegen soll im vorliegenden Tagungsbeitrag ein Forschungsgebiet angesprochen werden, das Probleme der Übersetzung auf musikspezifische Weise betrifft. Es geht um Werke, die Brahms auch in anderer Klanggestalt publizierte, das heißt in ein verändertes Klangmedium transferierte. Wie die Übersicht (S. 462f.) zeigt, droht dieses Untersuchungsfeld allerdings auszuufern, da unterschiedlichste Fälle zu berücksichtigen wären- angefangen von den frühen Frauenchören, die Brahms später für ge-
Siehe Margit L. McCorkle: Johannes Brahms. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. München 1984, passim. So schrieb Brahms 1882 seinem Hauptverleger Fritz Simrock: ,Ach, und wenn Sie sie [die Lieder] hier erst ohne den Ballast englischen Textes herausgäben! Aber das geht wohl nicht?" (Johannes Brahms: Briefe an P. J. Simrock und Fritz Simrock. Hrsg. von Max Kalbeck. Bd. 2. Berlin 1917 [Brahms-Briefwechsel. Bd. X], S. 203: Brief vom 11. April 1882 an Fritz Simrock). Nur vereinzelt werden im gedruckten Briefwechsel des Komponisten Übersetzungsfragen erörtert (siehe etwa Johannes Brahms: Briefe an P. J. Simrock und Fritz Simrock. Hrsg. von Max Kalbeck. Bd. 1. Berlin 1917 [Brahms-Briefwechsel. Bd. IX], S. 128: Brief an Fritz Simrock vom 22. September 1872 zum Triumphlied op. SS; Johannes Brahms: Briefe an Fritz Simrock. Hrsg. von Max Kalbeck. Bd. 3. Berlin 1919 [Brahms-Briefwechsel. Bd. XI], S. 194f.: Brief an Fritz Simrock vom 30. Juli 1888). Teilweise verwies Brahms ausdrücklich darauf, daß er sich in Übersetzungsfragen sprachlich nicht kompetent ftlhle. Die neue Johannes Brahms Gesamtausgabe zieht daraus die Konsequenz, daß sie fremdsprachige Auflagen und Ausgaben zwar erfaßt und auswertet, die Vokalmusik jedoch nur mit deutschem Text wiedergibt. Stärkere editorische Beachtung verdienen die in höhere oder tiefere Tonarten transponierten Ausgaben der Lieder, da Brahms die Tonartenauswahl mitentschied und aus klanglichen Gründen mitunter Details der Klavierbegleitung änderte.
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mischten Chor umschrieb und erst dann publizierte, bis hin zu Instrumentalwerken, die er in gleichberechtigten Alternativfassungen veröffentlichte: Letzteres betrifft beispielsweise die Haydn-Variationen, die parallel für zwei Klaviere und für Orchester komponiert, öffentlich gespielt und mit gespaltener Werkzählung als Opus 56a für die Orchester- und 56b für die Klavierversion publiziert wurden.3 Ähnliches gilt für das Klavierquintett op. 34, das auch als Sonate fiir zwei Klaviere op. 34,bis an die Öffentlichkeit kam.4 Weniger gravierende Varianten finden wir in den Kammermusikwerken mit Bläsern, wenn etwa im Horntrio op. 40 das Horn durch Cello oder Bratsche ersetzt werden kann. Andere Beispiele sind das Klarinettenquintett op. 115 mit zusätzlicher, gleichsam solistischer Bratsche statt Klarinette und die Klarinettensonaten op. 120, in denen ebenfalls die Bratsche an die Stelle der Klarinette tritt.3 Im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen soll indes ein Bereich stehen, den der Komponist Brahms besonders reichhaltig (und finanziell entsprechend gewinnträchtig) mit musikalischen „Übersetzungs"-Beiträgen bedacht hat: die Klavierübertragungen eigener Werke. Zu unterscheiden sind dabei - in Anlehnung an die terminologische Systematisierung in Margit McCorkles bedeutendem Brahms- Werkverzeichnis -6 zwei Hauptspielarten: Klavierauszüge und Klavierarrangements. Von „Klavierauszügen" wird gesprochen, wenn in Solokonzerten oder Werken für Gesang und Orchester nur der Orchesterpart aufs Klavier übertragen - das heißt: in einen möglichst praktikablen, von einem Spieler auf dem Klavier darstellbaren Klaviersatz überführt - wird, während die Solo- und Chorpartien unverändert bleiben. Bei „Klavierarrangements" übertrug der Arrangeur dagegen das g e s a m t e instrumentale oder vokalsymphonische Gefüge einer Komposition auf ein oder zwei Klaviere; dies betraf Brahms' Sym-
Dem entsprach, daß er seinem Verleger einerseits mitteilte, es seien „eigentlich Variationen für Orchester", andererseits betonte, die „Lesart für 2 Klaviere" sei nicht nur ein .Arrangement", also keine Bearbeitung für den primär häuslichen Gebrauch (siehe Brahins-Briefwechsel. Bd. IX, S. 147). Vgl. im vorliegenden Beitrag S. 453. Nachdem Brahms das Werk erst als Streichquintett komponiert hatte, das nach Meinung von Freunden klanglich unausgereift war, wurde es bis zum März 1864 zu einer Sonate fiir zwei Klaviere umgearbeitet, die er im April in Wien uraufiührte. Nicht zuletzt aufgrund weiterer Einwände der Freunde arbeitete Brahms diese Fassung bis zum Herbst 1864 zum Klavierquintett um, ohne die Sonate aufzugeben. Wurde das Klavierquintett op. 34 bereits zur Jahreswende 1865/66 publiziert, so erfolgte die Veröffentlichung der Sonate op. 34,bis erst sechs Jahre später zur Jahreswende 1871/72. Siehe dazu Johannes Brahms: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie II. Bd. 4: Klavierquintett f-Moll opus 34. Hrsg. von Carmen Debryn und Michael Struck. München 1999, vor allem S. XI-XVI. Beim Erstdruck der genannten Werke existierten die Variantfassungen nicht in Gestalt einer Partitur, sondern wurden allein von den zusätzlichen Einzelstimmen für die Altemativinstrumente repräsentiert. Dies führt fiir die neue Brahms Gesamtausgabe zu gewissen Darstellungsproblemen. Sofern die alternativen Partien aus Gründen des Tonumfanges oder der Spielart Notenvarianten enthalten, die in der neuen Gesamtausgabe dokumentiert werden müssen, sollen die abweichenden Lesarten in Gestalt von Ossia-Versionen über oder unter den als Haupttext wiedergegebenen Bläserpartien abgedruckt werden. Einen Extremfall bilden in dieser Beziehung die Violinfassungen der beiden Klarinettensonaten op. 120·. Vor allem das der Violine fehlende tiefe Klarinettenregister nötigte Brahms wiederholt zu Änderungen der Melodiestimme, die ihrerseits Änderungen der Klavierpartie nach sich zogen. So plante Brahms hier von vornherein eine separate Ausgabe fiir Violine und Pianoforte mit neu gestochener Klavierpartitur (siehe McCorkle 1984, vgl. Anm. 1, S. 477-483). Zu Brahms' Zeit wurde terminologisch nicht eindeutig zwischen beiden Arten von Klavierbearbeitungen unterschieden (siehe Übersicht auf S. 462f.).
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phonien, Serenaden und Ouvertüren, die Kammermusik, gelegentlich auch vokalsymphonische Werke7 sowie das 1. Klavierkonzert. Daß es sich bei Klavierauszügen und Klavierarrangements um musikspezifische „Übersetzungen" handelte, ist kaum zu bestreiten: Der Arrangeur mußte das abgeschlossene, in einer klar definierten Originalfassung existierende Kunstwerk in ein anderes Medium überführen, das die klangliche Außengestalt veränderte und spielwie satztechnisch zum Teil eigenen Gesetzen folgte. Einerseits stehen Originalgestalt und Übersetzung im Bereich der Musik dennoch viel näher beieinander als bei sprachlich-literarischen Übersetzungen. Denn grundlegende strukturelle Parameter bleiben unverändert- vor allem das fürs musikalische Satzgefüge konstitutive Verhältnis von Melodie- und Baßstimmen-Führung in der Entfaltung der motivischthematischen Prozesse, die harmonische Entwicklung sowie im Normalfall auch der Taktumfang.8 Die Reihenfolge der einzelnen Strukturelemente, die Entfaltung des musikalischen Kunstwerkes in der Zeit ist also kaum tangiert, während die sprachliche Übersetzung von Literatur oder auch Gebrauchstexten ja möglicherweise erhebliche Umstellungen einzelner Satzeinheiten und gravierende lautliche Umfärbungen mit sich bringt. Andererseits erfordert und ermöglicht das Darstellungsmedium des vierhändigen Satzes fur ein oder zwei Klaviere mit seinen spezifischen klanglichen, spieltechnischen und artikulatorischen Vorgaben ganz eigenständige Übersetzungsleistungen, wie noch zu zeigen sein wird.9 Brahms selbst beschränkte sich innerhalb der Klavierbearbeitungs-Genres auf einzelne Bearbeitungs-Typen:10 Für seine Solokonzerte und die vokalsymphonischen Kompositionen fertigte er Klavierauszüge an und war außerdem an vierhändigen Klavierarrangements seiner Orchesterwerke, der Kammermusik fur reine Streicherbesetzungen- also der Streichquartette, -quintette und -sextette - sowie der ersten zwei Klavierquartette interessiert; hinzu kamen vierhändige Bearbeitungen der 3. und 4. Symphonie für zwei Spieler an z w e i Klavieren. Arrangements für zwei oder acht Hände sowie die vierhändigen Einrichtungen seiner Klaviertrios und Duosonaten überließ er dagegen fremden Bearbeitern." Während Klavierauszüge von Konzerten, Oratorien oder Opern bis heute zum Einstudieren der betreffenden Werke, zum Spiel bei Wettbewerben oder internen Hochschul-Konzerten benutzt werden, gerieten reine Klavierarrangements von Orchester-
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Vierhändige Fassungen für ein Klavier: Arrangements des Deutschen Requiems op. 45 sowie des Triumphliedes op. 55. Zu den Ausnahmen (2. Streichsextett G-Dur op. 36,2. Satz; 2. Streichquintett op. Ill, 1. und 4. Satz) siehe S. 461. Gegenüber der Originalfassung ergibt sich beim Klavierauszug, in dem nur Teilschichten des kompositorischen Gesamtsatzes geändert werden, eine neue Relation zwischen veränderten und unveränderten Anteilen, während bei reinen Klavierarrangements das Verhältnis von Klangqualitäten, Klangmasse und imaginiertem Raum neu zu definieren ist. Seine Klavierbearbeitungen fremder Werke bleiben in diesem Zusammenhang ausgeklammert. Siehe dazu McCorkle 1984, vgl. Anm. 1, S. 62Iff. Daneben gab es weitere gängige Bearbeitungs-Besetzungen wie die Erweiterung der vierhändigen Klavierfassungen durch separat käufliche Violin- und Cello-Partien (zu entsprechenden Bearbeitungen der Streichsextette op. 18 und 36, der Streichquartette op. 51 und 67 sowie der Klavierquartette op. 25, 26 und 60 siehe McCorkle 1984, vgl. Anm. 1, S. 65, 83, 87,133,212, 258, 288).
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und Kammermusik im 20. Jahrhundert weithin außer Gebrauch und fanden im Falle von Brahms' Musik erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts neue Beachtung. Um so höher war die Bedeutung der Arrangements im ausgehenden 18. und vor allem im ganzen 19. Jahrhundert: Vor dem Zeitalter von Rundfunk und Schallplatte garantierte das vielseitige Klavier, daß anspruchsvolle Schöpfungen der Kunstmusik für Kenner und Liebhaber jederzeit und allerorten akustisch verfugbar waren. Der ErsatzKlangkörper Klavier schuf Ersatz-Situationen, die sich in der Regel auch an ErsatzOrten ereigneten, nämlich im privaten Wohn- oder Musikzimmer statt im öffentlichen Konzertsaal oder halböffentlichen Salon. Daß zu einer Zeit, in der die Publikation von Kunstmusik zur Massenproduktion gesteigert wurde, die Bearbeitungen fur ein Klavier zu vier Händen beim Musikalien-Ausstoß der Verlage und bei der Nachfrage der Verbraucher dominierten, hatte zwei Gründe: Erstens orientierten sie sich an der Ausstattung des musikalischen Durchschnittshaushaltes mit e i n e m Klavier oder Flügel. Zweitens ließen sich vielschichtige musikalische Kunstwerke besser auf vier statt nur auf zwei Hände verteilen. So sind Klavierbearbeitungen, wie George S. Bozarth schrieb, mit gestochenen oder fotografischen Reproduktionen von Werken der bildenden Kunst zu vergleichen, die man sich in die gute Stube hängen oder in Bildbänden zu Gemüte führen konnte.12 Setzt die heutige Reproduktion von Kunstmusik durch Medien wie CD, Rundfunk oder Internet-Zugang lediglich die passive Hör- und Genußhaltung voraus, so forderte das Ersatz-Medium Klavier für die klingende Vergegenwärtigung der Bearbeitungen nicht nur das finanzielle Engagement (durch den Kauf der Noten), sondern auch die aktive Teilnahme der Hörinteressenten am Reproduktionsakt - das heißt: das eigene Klavierspiel. Nicht aufs reine Zuhören hin waren Arrangements berechnet, sondern aufs spielende Hören bzw. hörende Spiel. Die Frage, ob oder inwieweit diese Werk-Übersetzungen als Werk - A l t e r n a t i v e n zu betrachten seien, soll im folgenden diskutiert werden, weil sich in den letzten Jahren im Bereich der Medien wie auch in der Wissenschaft Ansätze zu einem Begriffs- und Bewertungswandel abzeichneten. Die Gründe dafür scheinen teils ökonomischer Art zu sein, teils aus dem Wiederentdeckungs-Enthusiasmus von Künstlern und Wissenschaftlern zu resultieren. So präsentierten gleich mehrere Plattenfirmen Brahms' vierhändiges Klavierarrangement des Deutschen Requiems op. 45, in dem die Orchester- und Gesangspartien in einem t e x t l o s e n vierhändigen Klaviersatz zusammengefaßt sind,13 stolz als „Londoner Fassung" des berühmten Werkes: 14 Was war der Beweggrund? In der Brahms-Literatur findet sich der Hinweis, daß diese vierhändige Klavierbearbeitung bei der ersten privaten Wiedergabe des Deutschen Requiems in England verwendet wurde, wobei allerdings zusätzlich Gesangssolisten 12
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George S. Bozarth in collaboration with Wiltrud Martin: The Brahms-Keller Correspondence. Lincoln, London 1996, S. XXXf. Lediglich zur Orientierung der Spieler, nicht etwa zum Singen wurden die vertonten Textzeilen in den Druckausgaben dieser rein instrumentalen Arrangements bei ihrem jeweils ersten motivischen Auftreten einmal im Kleindruck zu den Noten gesetzt. Einspielungen: Chorus Musicus Köln und diverse Solisten, Ltg.: Christoph Spering (Opus 111. OPS 30-140, 1996); Oberstufenchor und Kammerchor Marienstatt, Ltg.: Norbert Buhrmann (Cantabile Musikproduktion Mülheim-Kärlich 2003. Live-Mitschnitt 1994).
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und Chor mitwirkten.15 Daß die Vokalpartien somit einerseits im vierhändigen Klaviersatz, andererseits - wie bei einem Klavierauszug - auch noch explizit erklangen, lag zweifellos nicht in der Intention des Komponisten und Arrangeurs Brahms, sondern war eine Art Not- oder Sicherheitsbehelf: Die rein vierhändige Fassung war von Brahms spieltechnisch erheblich leichter konzipiert worden als die Transformation des Orchesterparts für Klavier zu zwei Händen, die der Klavierauszug bereitstellte. Da bei der Londoner Privataufführung zwei Klavierspieler zur Verfügung standen, lag die Wahl nahe. Die Apostrophierung als „Londoner Fassung" ist daher strenggenommen ein ,JFassungs"-Schwindel, der Kenner fassungslos macht.16 Doch auch in der Wissenschaft gab es in jüngster Zeit Wandlungen. Die 1926/27 also gerade beim Aufkommen von Schallplatte und Rundfunk - publizierte 26bändige alte Brahms-Gesamtausgabe17 hatte Klavierauszüge und Arrangements ganz ausgespart, während die Neue Ausgabe sämtlicher Werke sie ausdrücklich einbeziehen will. Nach einer ersten Wiederbeachtungs-Phase der Klavierbearbeitungen, die seit 1975 in einigen Dissertationen und Magisterarbeiten ihren Niederschlag fand,18 ging Gernot Gruber 1997 beim Gmundener Brahms-Kongreß einen entscheidenden Schritt weiter (und kam dabei zu einem ähnlichen Ergebnis wie die erwähnten CD-Firmen): Er verglich Partiturfassung und Klavierübertragung von Brahms ' 2. Streichquintett GDur op. 111 und plädierte angesichts der pianistisch eigenständigen und attraktiven, im Kopfsatz um einen Takt kürzeren Klavierübertragung dafür, man solle nicht von Original und Klavierbearbeitung, sondern von zwei gleichberechtigten WerkFassungen" in Quintett- und Klavierbesetzung sprechen.19 Auch Christian Martin Schmidt, der in seiner Brahms-Monographie von 1994 das Genre der Klavierbearbeitung noch generell als „Klavierreduktion" zum Zweck der Verbreitung größer besetzter Werke bezeichnet hatte,20 tendiert inzwischen dazu, zumindest bei besonders
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Florence May: Johannes Brahms. 2. Aufl. Leipzig 1925, Teil 2, S. 100. Andererseits wurde eine CD-Einspielung von Brahms' vierhändigem Klavierarrangement der 2. Symphonie D-Dur op. 73 vor einigen Jahren als „zweite", „kurz nach der Vollendung der Partitur" komponierte Fassung beschrieben und nach ihrem angeblichen Entstehungsort Lichtenthai bei Baden-Baden als „Lichtenthaler Fassung" bezeichnet. Siehe Johannes Brahms: Symphonie D-Dur op. 73 für Klavier zu vier Händen (Lichtenthaler Fassung). Karl-Heinz und Michael Schlüter (Aulos PRE 66018 AUL). Auch diese Bezeichnung klang werbewirksam, war aber gleich doppelt falsch: Zum einen Schloß Brahms zwar die Orchesterpartitur in Lichtenthai ab, fertigte die Klavierbearbeitung aber erst in Wien an. Zum anderen war dies eine der typischen vierhändigen Gebrauchsbearbeitungen für das häusliche Musizieren. Immerhin verwendete Brahms bei dieser und den beiden folgenden Symphonien die verhältnismäßig früh erstellten Klavierbearbeitungen dazu, um seinen Wiener Freunden vor der Uraufführung der orchestralen Hauptgestalt einen ersten (behelfsmäßigen) Eindruck der Werke zu verschaffen. Johannes Brahms: Sämtliche Werke. Ausgabe der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Hrsg. von Eusebius Mandyczewski und Hans Gài. Bd. 1-26. Leipzig [1926-1927], Reprint Wiesbaden [1965]. Siehe vor allem Robert Komaiko: The Four-Hand Piano Arrangements of Brahms and their Role in the Nineteenth Century. 2 Bde. Ph. D. Northwestern University, Evanston (Illinois) 1975. Typoskript. Valerie Woodring Goertzen: The Piano Transcriptions of Johannes Brahms. Ph. D. University of Illinois at Urbana-Champaign 1987. Typoskript. - Martin Feil: Die eigenhändigen Klavierbearbeitungen der Streichquartette von Johannes Brahms. Magisterarbeit Universität Hamburg 1997. Typoskript. Gemot Gruber: Brahms' Opus 111: Vergleich der Fassungen für Streichquintett und für Klavier. In: Internationaler Brahms-Kongreß Gmunden 1997. Bericht. Hrsg. von Ingrid Fuchs. Tutzing (Druck in Vorbereitung). Christian Martin Schmidt: Reclams Musikführer Johannes Brahms. Stuttgart 1994, S. 180-190.
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individuellen Klavierübertragungen von „ganz eigenständigen Werken" zu sprechen etwa im Fall der beiden Brahmsschen Streichsextette.2I Zu konstatieren ist also eine Polarisierung zwischen jahrzehntelanger Mißachtung der Klavierübertragungen und einem neuen, historisch und ästhetisch teilweise problematischen Bewertungs-Enthusiasmus. Dieser Polarität möchte ich aus der Sicht der Neuen Ausgabe sämtlicher Werke ein differenzierendes Einschätzungsraster im Hinblick auf Gestaltung und Funktion der Brahmsschen Klavierübertragungen entgegenzustellen versuchen. Dies geschieht in Form von sechs Einschätzungsperspektiven, die thesenartig formuliert und mehr oder weniger eingehend kommentiert werden. 1. Klavierauszüge und Klavierarrangements müssen im 18. und 19. Jahrhundert stets in Abhängigkeit von ihrer Funktion im zunehmend bürgerlichen Musikleben gesehen werden. Ihr Aufkommen im 18. Jahrhundert korrespondierte mit dem Fortfall der Generalbaß-Komposition; 22 die Blütezeit der Klavierarrangements lag im 19. Jahrhundert, in dem die logische und chronologische Relation zwischen Veröffentlichung der Originalkomposition und Veröffentlichung der Klavierbearbeitung nahezu standardisiert war. 2. Klavierbearbeitungen waren in aller Regel nicht für öffentliche Darbietungen bestimmt und wurden üblicherweise für solche auch nicht herangezogen. Sie dienten einerseits zur direkten oder potentiellen Vorbereitung von Aufführungen. Andererseits stellten sie ein S u r r o g a t der jeweiligen Originalfassung dar, das sich zur vorbereitenden oder erinnernden Vergegenwärtigung eines Kunstwerkes im privaten Rahmen realisieren ließ, wenn die von der Hauptfassung geforderte Auffiihrungskonstellation - das heißt das originale Ensemble und ein adäquater Aufführungsort - nicht verfügbar war.23 Die Realisierung einer Klavierbearbeitung war üblicherweise, wie schon erwähnt, als Ersatz-Situation definiert. Gelegentliche Abweichungen sind als Ausnahmen er-
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siehe vor allem Schmidts Summary im Informationsheft zum Seminar „Doppeleditionen von eigenständigen Fassungen unterschiedlicher Besetzung" im Rahmen des Editorenseminars II: Edition und musikalische Praxis (Berlin, 8.-11. Juni 2000). Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (veranstaltet zusammen mit der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung), S. [5], Seminar Nr. 6: „Die neuere und nähere Beschäftigung mit den Klavierfassungen, die früher immer nur als .Klavierauszüge' galten, hat ergeben, daß es sich häufig genug um in jeder Hinsicht eigenständige und dem Instrument vollkommen angepaßte Versionen, also um wirkliche Klavierkompositionen, handelt." Riemann Musik Lexikon. Sachteil. Hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht. 12. Aufl. Mainz 1967, S. 465(f.). Bezeichnend ist die Argumentation von Brahms' Hauptverleger Fritz Simrock im Hinblick auf das vierhändige Klavierarrangement der 2. Symphonie D-Dur op. 73: „Ich halte es nicht für unvorteilhaft, den vierhändigen Auszug immerhin vorher [vor der Publikation der Partitur im Druck] auszugeben man hat doch wenigstens eine Vorstellung von den thematischen Kostbarkeiten und genießt dann in Generalproben der Aufführungen weit behaglicher und mit mehr Ruhe. Denn das Vorrecht, die Partitur zu sehen, haben doch nur sehr wenige[,] und wenn sie's hätten, könnten sie's nicht benutzen. Mir war es außerordentlich erleichternd, den vierhändigen Auszug vorher gesehen zu haben, so konnte ich meine Freude an vielem schon voraus haben." (Johannes Brahms und Fritz Simrock. Weg einer Freundschaft. Briefe des Verlegers an den Komponisten. Hrsg. von Kurt Stephenson. Hamburg 1961, S. 129: Brief vom 14. Januar 1878 an Brahms [vom Hrsg. fälschlich datiert auf „14. Oktober 1878"]).
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kennbar: Wenn die Münchner Erstaufführung von Brahms' Doppelkonzert op. 102 ein Jahrzehnt nach der Uraufführung nicht mit Orchester, sondern im Klavierauszug innerhalb eines öffentlichen Kammermusik-Konzertes erfolgte, dann war dies primär ein Symptom fur die provinzielle Brahms-Rezeption der bayerischen Metropole, nicht aber ein Indiz für die ästhetische Gleichberechtigung dieser Fassung.24 3. Die S u r r o g a t - Funktion der Klavierbearbeitungen ist bei Brahms relativ eindeutig von A l t e r n a t i v fassungen zu unterscheiden, die gattungsästhetisch gleichberechtigt waren und - bei genauer Beobachtung - auch äußerlich von den Klavierauszügen und -arrangements unterschieden werden können. Denn sofern der Komponist Brahms Klavierfassungen für ästhetisch gleichrangig hielt und damit auch ihre öffentliche Aufführung einkalkulierte, signalisierte er dies durch alternative Werktitel bzw. Werkzählungen oder durch eigene Aufführungsaktivitäten: Dies betrifft die Sonate fiir zwei Klaviere op. 34,bis als Alternativgestalt zum Klavierquintett op. 3425 ebenso wie die mit der Opuszahl 56b versehene zweiklavierige Version der Haydn-Variationen. In gewisser Weise gilt dies auch für den zu Lebzeiten des Komponisten zwar nicht publizierten, doch von ihm wie auch von Clara Schumann öffentlich aufgeführten Variationssatz aus dem 1. Streichsextett in Brahms ' zweihändiger Klavierfassung (Thema mit Variationen).26 Sind die Klavierauszüge und -arrangements grundsätzlich als abgeleitet, als f u n k t i o n a l im Hinblick auf die jeweilige Hauptfassung zu bewerten, so liegt mit den Alternativfassungen eine eindeutig bestimmbare autarke „Werk"- und somit WertKategorie vor. 4. Trotz dieser historisch und ästhetisch gebotenen hierarchischen Differenzierung verdient das Vorgehen des Komponisten und Pianisten Brahms als Arrangeur zweifellos eine intensive Würdigung und berechtigt zu erheblichem WiederentdeckungsEnthusiasmus. Waren die Übertragungen von Symphonien, Ouvertüren, Streichsextetten oder Klavierquartetten aufs Medium Klavier in der Hierarchie der Werkgestalten auch untergeordnet, so investierte Brahms doch eine Menge pianistischer Phantasie und Kreativität in seine Klavierbearbeitungen, wobei er den Gesichtspunkt der Praktikabilität für versierte Liebhaber im Auge behielt.27
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Vgl. auch McCorkle 1984, vgl. Anm. 1, S. 412-415. Sie erhielt die differenzierende Opuszahl 34,bis und wird im Erstdruck gegenüber dem Quintett fiir Pianoforte, zwei Violinen, Viola und Violoncell op. 34 auf dem Titelblatt zunächst ebenfalls individuell als Sonate für zwei Pianoforte Op. 34,bis bezeichnet. Der Kopftitel enthält den zusätzlichen Hinweis: Nach dem Quintett, Op. 34. Siehe Johannes Brahms: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Klavierquintett f-Moll opus 34, vgl. Anm. 4, S. 79f. und 83. Zum letztgenannten Werk siehe McCorkle 1984, vgl. Anm. 1, S. 63; Berthold Litzmann: Clara Schumann. Ein Künstlerleben. Bd. 3. Leipzig 1920, S. 624. Vgl. Michael Struck: Dialog über die Variation - präzisiert. Joseph Joachims Variationen über ein irisches Elfenlied und Johannes Brahms' Variationenpaar op. 21 im Licht der gemeinsamen gattungstheoretischen Diskussion. In: Musikkulturgeschichte. Festschrift für Constantin Floros zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter Petersen. Wiesbaden 1990, S. 105-154, hier S. 151, Anm. 166. Das unterscheidet Brahms' Klavierübertragungen eigener Werke beispielsweise von Franz Liszts hochvirtuosen Übertragungen von Beethovens Symphonien für Klavier zu zwei Händen.
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Symptomatisch für Brahms' Ansatz sind seine brieflichen Bemerkungen gegenüber dem Lektor des Simrock-Verlages, Robert Keller, der 1884 ein sehr gewissenhaftes, doch in Brahms' Augen zu pedantisches Arrangement der 3. Symphonie F-Dur op. 90 für Klavier zu vier Händen angefertigt hatte. Brahms, der diese Bearbeitung ,nach seinem Geschmack' umarbeiten wollte, ohne Keller zu kränken, schrieb, er habe so seine „besondern Ansichten vom Arrangiren". Er verspreche, daß das Arrangement nach der Überarbeitung „leichter, spielbarer" werde, sich also besser verkaufe. Den Kernsatz seiner Ausführungen bildet die Aussage: „Ich gehe eben dreister, frecher mit meinem Stück um, als Sie oder ein Andrer kann."28 In genauester Kenntnis seiner eigenen kompositorischen Intentionen stand es dem Arrangeur Brahms zu, sein Werk weniger wortgetreu als sinngemäß in die Sprache des Klaviers zu übersetzen. Diese Freiheit entfaltete sich allerdings innerhalb des funktionalen Wirkungsraumes solcher Klavierübertragungen, weitete deren Grenzen, ohne sie in Frage zu stellen oder zu sprengen. Die wissenschaftlichen Untersuchungen Robert Komaikos, Valerie Woodring Goertzens und Martin Feils haben im Detail dargelegt, wie Brahms beim Arrangieren satztechnisch verfuhr. 29 So können sich die vorliegenden Überlegungen auf drei exemplarische Phänomene beschränken: a. Das erste Beispiel geht von einem teilweise hypothetischen Experiment mit dem Beginn des Finalsatzes aus Brahms' 2. Streichquartett a-Molí op. 51 Nr. 2 aus: Die originale Streichquartett-Fassung (Beispiel Ia) wird mit dem Stimmengeflecht der Quartettpartitur und ihren originalen Tonhöhen zunächst gleichsam „wörtlich" in einen vierhändigen Klaviersatz überführt - also etwa so, wie der penible Robert Keller es damals getan haben könnte (Beispiel lb). Brahms' eigene Klavierübertragung des Satzbeginns (Beispiel Ic), die wenige Monate nach der Originalfassung im Druck erschien,30 läßt demgegenüber erkennen, daß der Arrangeur Brahms wußte, was er dem Klavier und seinen Spielern schuldig war. Er wollte den vital-energischen Streichquartett-Klang einfangen- also die engagierte, ausdrucksstarke Ausführung des vorgeschriebenen Forte, die im Spiel mitschwingenden leeren Saiten, die extremen oder voluminösen Register der vier Streichinstrumente. Er scheute sich nicht, Melodiestimme und Baßlinie durch Oktaven zu verdoppeln, verlagerte die Struktur und die Positionen der Begleitakkorde und vertraute sie lediglich einem Spieler an (was das Zusammenspiel erleichterte). So wandelte Brahms den Quartettklang in einen nicht weniger robusten und vitalen, aber durchaus noch streichquartetthaft disziplinierten Klavierklang um. Diese „sinngemäße" Version ist im höheren Sinne authentischer als die „wörtliche" Übertragung. 31
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Bozarth 1996, vgl. Anm. 12, S. 75f.: Brahms' Brief an Keller vom 8. Oktober 1884. Vgl. Anm. 18. Siehe McCorkle 1984, vgl. Anm. 1, S. 209 und 211. Das Veröffentlichungsdatum des vierhändigen Klavierarrangements zum Streichquartett α-Moll op. 51 Nr. 2 ist nicht eindeutig zu klären (vermutlich Frühjahr 1874). Ebenso modifizierte der Arrangeur Brahms Begleitfigurationen der Streicher klaviergemäß oder verwandelte die realen Motiv-Imitationen des Quartett-Gefüges in raffinierte, pianistisch besser darstellbare Scheinimitationen (siehe Feil 1997, vgl. Anm. 18, S. 56-63, hier vor allem S. 61 ff.).
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fr r i Y T l f f r | f f î f f r | f f î L u l ' I Î J j j i
Beispiel Ia: Johannes Brahms: Streichquartett Nr. 2 α-Moll op. 51 Nr. 2, 4. Satz (Finale. Allegro non assai), Takte 1-13, Partitur.
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Beispiel Ib: Johannes Brahms: Streichquartett Nr. 2 α-Moll op. 51 Nr. 2, 4. Satz (Finale. Allegro non assai), Takte 1-13; hypothetisches .wörtliches' Arrangement fiir Klavier zu vier Hän-
Beispiel Ic: Johannes Brahms: Streichquartett Nr. 2 α-Moll op. 51 Nr. 2, 4. Satz {Finale. Allegro non assai), Takte 1-13; Brahms' Arrangement fur Klavier zu vier Händen.
Werk-Übersetzung als Werk-Alternative?
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b. Einen anderen erhellenden Fall liefert Brahms' 3. Symphonie F-Dur op. 90 bei einem Vergleich der orchestralen Hauptfassung und des vierhändigen Arrangements für zwei Klaviere: Die Durchführung des 1. Satzes enthält zwei Taktgruppen, 32 in denen die akkordisch-melodische Begleitschicht im Orchestersatz jeweils auf die vollen Viertelschläge fällt, im Klavierarrangement dagegen in Gestalt nachschlagender Achtelnoten erscheint (das Beispielpaar Ila/b zeigt die erste Taktgruppe, T. 8182). Die beschriebene Divergenz war auch dem Verlagslektor Robert Keller beim Vergleich von Partitur, Klavierarrangement und Orchesterstimmen aufgefallen. Seinen Fragezettel mit entsprechenden Notenbeispielen beantwortete Brahms durch BlaustiftNotizen mit dem Bescheid, die Orchesterfassung sei „richtig" - und die Klavierbearbeitung „auch richtig!"33 Hinter Brahms' musikalischer Übersetzungs-Freiheit steckt zweierlei: Zunächst zeigt sich, daß er das Raster der Achtelbewegung in den beiden Klangmedien jeweils möglichst .körperlich' übertragen wollte: im Orchestersatz durch die unterschiedlichen Klangschichten hoher und tiefer Streicher samt Fagottstimmen, im eher uniformen Klavierklang durch die Differenzierung zwischen Viertel-Impuls und nachschlagender Achtel. Ein Blick in die autographe Orchesterpartitur34 der 3. Symphonie gibt allerdings noch weitere, ebensosehr überraschende wie klärende Aufschlüsse: Diverse Korrekturen an beiden Problemstellen zeigen, daß Brahms hier jeweils zweimal den Versuch unternahm, auch im Orchestersatz die betreffende Streicherbegleitung nachschlagen zu lassen, diese Version jedoch beide Male zur Druckfassung änderte (Beispiel Ile zeigt die Korrekturen für die Takte 81-82). 35 Das Klavierarrangement transportiert also die ursprüngliche rhythmisch-klangliche Intention weiter, die Klavierspielern wenig Mühe bereitet, im Orchestergefüge aber vermutlich an der spielpraktisch-klanglichen Realität gescheitert war. So enthüllt das Klavierarrangement etwas vom ursprünglichen Potential der kompositorischen Vorstellungen, die Brahms bei der Umsetzung in dezidierte Spielanweisungen für das Orchester modifizieren mußte. Gleichwohl wird das Klavierarrangement dadurch nicht automatisch in den Rang einer originären, gleichberechtigten Fassung erhoben. Obgleich es eigene Akzente setzt, bleibt es im Hinblick auf die Orchestergestalt funktional.
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Takte 81-82 und 87-89. Bozarth 1996, vgl. Anm. 12, S. 66(f). [Faksimile:] Johannes Brahms: Opus 24, Opus 23, Opus 18, Opus 90. The Robert Owen Lehman Foundation. New York City 1967, S. 74f. In der ursprünglichen Niederschrift notierte Brahms mit Tinte die nachschlagenden Achtelnoten mit vorgesetzten Achtelpausen, nahm dann mit Bleistift (siehe McCorkle 1984, vgl. Anm. 1, S. 372) die Änderung durch Pausenkorrekturen vor, strich die gesamte Niederschrift, notierte die Partien in freien Notensystemen mit Tinte nochmals in der nachschlagenden Version und korrigierte diese wiederum mit Stift.
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Michael
Struck
Beispiel IIa: Johannes Brahms: Symphonie Nr. 3 F-Dur op. 90, 1. Satz (Allegro con brio), Takte 81-82, Partitur.
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Beispiel IIb: Johannes Brahms: Symphonie Nr. 3 F-Dur op. 90, 1. Satz {Allegro con Takte 81-82; Brahms' Arrangement für zwei Klaviere zu vier Händen.
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brio),
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Michael Struck
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