Quelle - Text - Edition: Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28.2.-3.3.1996 [Reprint 2011 ed.] 9783110954159, 9783484295094

This volume presents the findings of a conference of German studies experts on scholarly editing in Graz (Austria) cente

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German Pages 394 [396] Year 1997

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Der Autor und seine Quellen aus der Sicht des neugermanistischen Editors
MITTELALTER
Der ‘offene’ Text – Überlegungen zu Theorie und Praxi
Das St. Pauler Evangelienreimwerk. Authentizität der Evangelien und Auflösung der Form
Original- und Kopialüberlieferung von deutschen Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts am Beispiel der Balduineen
Quelle und Macht. Bewußte Quellenberufungen als Mittel rechtlicher Sicherung beim Brixner Dommesner Veit Feichter (Mitte 16. Jh.)
König Othe von Thessalien. Zum Verhältnis zwischen antiken Texten und deren Bearbeitung in Georg Hagers Meisterliedern
Zur DTM-Edition einer Prosaversion des Guoten Gêrhart von Rudolf von Ems
Die Standardisierung eines mittelalterlichen Textes durch den Verleger Bruder Philipps Marienleben in der Ausgabe Diebold Laubers (Hagenau, 15. Jahrhundert)
Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe. Ihre Quellen und deren editorische Darstellung am Beispiel der Vita Ludowici in der Übersetzung des Friedrich Köditz von Salfeld
Urkundliche Quellen und städtische Chronistik. Entstehung und Wirkung von Gottfried Hagens. Reimchronik der Stadt Köln (1270/71)
FRÜHE NEUZEIT
Die exemplarische Kommentierung rhetorischer, poetischer und sprachästhetischer Textproduktionsmuster in Editionen frühneuzeitlicher Texte
Hypotextdokumentation. Zu Edition und Kommentierung des Florian von der Fleschen (1625)
Original und Übersetzung vs. Quelle und Text. Zur Bedeutung der Quellen bei der Edition von Schäferspielen des 17. Jahrhunderts am Beispiel von Jan Harmens Kruls Cloris en Philida und Hermann-Heinrich Schers Daphnis und Chrysilla
Das Verhältnis von Quelle und Text in der Legenda Maior (Vita Catherinae Senensis) des Raimund von Capua
18. JAHRHUNDERT
Zeitgenössische Alpen- und Italienbeschreibungen in Goethes Reise-Tagebuch 1786. Probleme ihrer Berücksichtigung für die Textkonstitution und Kommentierung innerhalb einer neuen historisch-kritischen Ausgabe der Tagebücher Goethes
Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein. Tagebuch, Briefe, Reisebeschreibung
Integration als Funktion. Aspekte editionsphilologischer Arbeit mit Quellen und anderen Vorlagen dargestellt an Schillers Semele
19. JAHRHUNDERT
Gedichte Clemens Brentanos an Luise Hensel. Ein lyrischer Dialog
Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen und ihren Quellen
Das Feuilleton als Verbrecher! Georg Weerths Roman Leben und Thaten des berühmten Ritters. Schnapphahnski zwischen Quellendokumentation und Quelleninterpretation
Historische und literarische Quellen von Heines Tragödie Almansor. Zu ihrer Darstellung in einer historisch-kritischen Edition (HSA)
19./20. JAHRHUNDERT
Edition und Funktion von Trakls Quellen. Über die Dunkelheit der Gedichte Helian und Kaspar Hauser Lied
Quellen von Satiren. Am Beispiel von Karl Kraus
Zur Edition der von Johannes Schlaf und Arno Holz gemeinsam verfaßten Werke und ihrer Vorlagen
Edition als Grundlage intertextueller Aufmerksamkeit. Beispiele aus der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe
Probleme der Quellendokumentation bei Frank Wedekinds Bismarck
Von den Dichtern. Quellenforschung versus Intertextualitätskonzepte, dargestellt anhand eines Kapitels aus Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra
20. JAHRHUNDERT
Eine Quelle zu der Erzählung Gier und ihre Dokumentation in der kritischen Edition von Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt
Am Anfang steht die Lektüre. Intertextualität als Kommentierungsproblem. Das Beispiel Hans Henny Jahnn
Schichtungen und Schaltungen. Zu Nachlaß-Projekten des Robert Musil Instituts der Universität Klagenfurt
Das Genre bestimmt die Quelle. Anmerkungen zum Einfluß der Publikation und Rezeption auf die Entstehung und Quellenlage von Erich Maria Remarques. Im Westen nichts Neues 1928/29
Personen- und Werkregister
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
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Quelle - Text - Edition: Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28.2.-3.3.1996 [Reprint 2011 ed.]
 9783110954159, 9783484295094

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B E I H E F T E

Z U

editio Herausgegeben von WINFRIED WOESLER Band 9

Quelle - Text - Edition Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996 Herausgegeben von Anton Schwob und Erwin Streitfeld unter der Mitarbeit von Karin Kranich-Hofbauer

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Editio / Beihefte] Beihefte zu Editio. - Tübingen : Niemeyer Früher Schriftenreihe Reihe Beiheft zu: Editio Bd. 9. Quelle - Text - Edition. - 1997 Quelle - Text - Edition : Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996 / hrsg. von Anton Schwob und Erwin Streitfeld unter der Mitarb. von Karin Kranich-Hofbauer. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Beihefte zu Editio ; Bd. 9) ISBN 3-484-29509-0

ISSN 0939-5946

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

l

Winfried Woesler Der Autor und seine Quellen aus der Sicht des neugermanistischen Editors

3

MITTELALTER Thomas Bein Der Offene' Text - Überlegungen zu Theorie und Praxi

21

Johannes Fournier Das St. Pauler Evangelienreimwerk Authentizität der Evangelien und Auflösung der Form

37

Kurt Gärtner Original- und Kopialüberlieferung von deutschen Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts am Beispiel der Balduineen

51

Andrea Hofmeister Quelle und Macht Bewußte Quellenberufungen als Mittel rechtlicher Sicherung beim Brixner Dommesner Veit Feichter (Mitte 16. Jh.)

63

Michael Kern König Othe von Thessalien Zum Verhältnis zwischen antiken Texten und deren Bearbeitung in Georg Hagers Meisterliedern

73

Franzjosef Pensel Zur DTM-Edition einer Prosaversion des Quoten Gerhart von Rudolf von Ems

85

Andrea Rapp Die Standardisierung eines mittelalterlichen Textes durch den Verleger Bruder Philipps Marienleben in der Ausgabe Diebold Laubers (Hagenau, 15. Jahrhundert)

97

VI

Sylvia Weigelt Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe Ihre Quellen und deren editorische Darstellung am Beispiel der Vita Ludowici in der Übersetzung des Friedrich Köditz von Salfeld Desiree Welter Urkundliche Quellen und städtische Chronistik Entstehung und Wirkung von Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln (1270/71)

109

123

FRÜHE NEUZEIT Ralf Georg Bogner Die exemplarische Kommentierung rhetorischer, poetischer und sprachästhetischer Textproduktionsmuster in Editionen rrühneuzeitlicher Texte

133

Andreas Brandtner Hypotextdokumentation Zu Edition und Kommentierung des Florian von der Fleschen (1625)

141

Christiane Caemmerer Original und Übersetzung vs. Quelle und Text Zur Bedeutung der Quellen bei der Edition von Schäferspielen des 17. Jahrhunderts am Beispiel von Jan Harmens Kruls Chris en Philida und Hermann-Heinrich Sehers Daphnis und Chrysilla

149

Jörg Jungmayr Das Verhältnis von Quelle und Text in der Legenda Maior (Vita Catherinae Senensis) des Raimund von Capua

169

18. J A H R H U N D E R T Wolf gang Albrecht Zeitgenössische Alpen- und Italienbeschreibungen in Goethes Reise-Tagebuch 1786 Probleme ihrer Berücksichtigung für die Textkonstitution und Kommentierung innerhalb einer neuen historisch-kritischen Ausgabe der Tagebücher Goethes

179

Brigitte Leuschner Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein Tagebuch, Briefe, Reisebeschreibung

187

Gert Vonhoff Integration als Funktion Aspekte editionsphilologischer Arbeit mit Quellen und anderen Vorlagen dargestellt an Schillers Semele

195

VII

19.

JAHRHUNDERT

Kristina Hasenpflug Gedichte Clemens Brentanos an Luise Hensel Ein lyrischer Dialog

203

Jürgen Hein Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen und ihren Quellen

223

Bodo Plachta Das Feuilleton als Verbrecher! Georg Weerths Roman Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski zwischen Quellendokumentation und Quelleninterpretation ... 235

Elke Richter Historische und literarische Quellen von Heines Tragödie Almansor Zu ihrer Darstellung in einer historisch-kritischen Edition (HSA)

243

l 9./20. J A H R H U N D E R T Eberhard Sauermann Edition und Funktion von Trakls Quellen Über die Dunkelheit der Gedichte Helian und Kaspar Hauser Lied

255

Sigurd Paul Scheichl Quellen von Satiren Am Beispiel von Karl Kraus

277

Jens Stuben Zur Edition der von Johannes Schlaf und Arno Holz gemeinsam verfaßten Werke und ihrer Vorlagen

291

Andreas Thomasberger Edition als Grundlage intertextueller Aufmerksamkeit Beispiele aus der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe

301

Elinor Waldmann Probleme der Quellendokumentation bei Frank Wedekinds Bismarck

307

Claus Zittel Von den Dichtern Quellenforschung versus Intertextualitätskonzepte, dargestellt anhand eines Kapitels aus Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra

315

20. JAHRHUNDERT Monika Albrecht Eine Quelle zu der Erzählung Gier und ihre Dokumentation in der kritischen Edition von Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt

333

VIII

Jan Bürger Am Anfang steht die Lektüre Intertextualität als Kommentierungsproblem Das Beispiel Hans Henny Jahnn

341

Arno Rußegger Schichtungen und Schaltungen Zu Nachlaß-Projekten des Robert Musil Instituts der Universität Klagenfurt ... 351 Thomas F. Schneider Das Genre bestimmt die Quelle Anmerkungen zum Einfluß der Publikation und Rezeption auf die Entstehung und Quellenlage von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues 1928/29

361

Personen- und Werkregister

369

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

385

Vorwort der Herausgeber

Wohl jedem Editor stellt sich das Problem, daß Werke von Vorlagen, Quellen und literarischen Traditionen abhängen. In den jeweiligen Editionen werden diese Fragen zumeist in den Abschnitten 'Entstehung' und 'Kommentar' behandelt. Eine breite wissenschaftliche Diskussion darüber hat es aber noch nicht gegeben; vielmehr wurden bisher für einzelne Projekte immer wieder nur individuelle Lösungen erarbeitet. Um sich mit der Abhängigkeit literarischer wie nichtliterarischer Texte von Ereignissen bzw. Berichten über diese Ereignisse und/oder von anderen (literarischen) Texten, d. h. mit deren Intertextualität, mit der Art der Benutzung einer Quelle durch den Autor, ferner mit der Quellenwertigkeit autoreigener Texte sowie mit den sich daraus ergebenden Aufgaben und Problemen für den Editor zu befassen, kam die „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" im Frühjahr 1996 in Graz an der KarlFranzens-Universität zu einer Fachtagung mit dem Thema „Quelle - Text - Edition" zusammen. Ziel der Tagung waren nicht Vereinheitlichungen, sondern eine ausführliche Diskussion des - durchaus nicht immer kongruent aufgefaßten - Quellenbegriffs und vor allem die intensive Auseinandersetzung mit zahlreichen Einzelbeispielen sollten zur Entwicklung wissenschaftlicher Standards beitragen. Der Tradition der „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" folgend, wurden auch diesmal die mehr theoretisch ausgerichteten Referate in editio (Bände 10 und 11) veröffentlicht, während der vorliegende 9. Band der Beihefte zu editio die autor- und problembezogenen Beiträge zusammenführt. Winfried Woeslers Aufsatz über den Autor und seine Quellen thematisiert die zentralen Fragen der Tagung und auch deren Ergebnisse; er führt pointiert in diesen Band ein. Ansonsten erschien uns die (literatur)historische Chronologie als probates Mittel, Ordnung in die Beitragsvielfalt zu bringen. Die Beiträge sind in sechs Blöcken vom MITTELALTER bis zum 20. JAHRHUNDERT - angeordnet; dabei wurden - wie in den Sektionen der Grazer Tagung - die Epochengrenzen eher großzügig gehandhabt. Innerhalb der einzelnen Abschnitte gilt die alphabetische Abfolge der Autorennamen als wertneutrales Ordnungsprinzip.

Forwort

Ohne vielfältige organisatorische Hilfe und ohne finanzielle Zuschüsse durch die öffentliche Hand ist die Durchführung von Tagungen, und erst recht die Drucklegung eines Tagungsbandes, auch für noch so ambitionierte Wissenschaftler unmöglich. Uns wurde entsprechende Unterstützung zuteil: Zu danken haben wir deshalb der Karl-Franzens-Universität Graz und dem dortigen Institut für Germanistik, den kooperationsbereiten Beiträgerinnen und Beiträgern sowie dem Niemeyer-Verlag, der sich mit bewährter Sorgfalt des Bandes angenommen hat. Unser Dank gilt weiters (dem Beiträger) Herrn Michael Kern, der sachkundig und mit viel Engagement auch die computertechnischen Basisarbeiten geleistet und das Layout der druckfertigen Aufsicht gestaltet und umgesetzt hat. Für die finanzielle Förderung danken wir dem Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr, dem Amt der Steiermärkischen Landesregierung sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Anton Schwob, Erwin Streitfeld, Karin Kranich-Hofbauer

Graz, im März 1997

Winfried Woesler

Der Autor und seine Quellen aus der Sicht des neugermanistischen Editors

Allen historisch-kritischen Ausgaben stellt sich das Problem der Abhängigkeit der Werke von Vorlagen, Quellen, literarischen Traditionen etc.; innerhalb der Einzelbände einer Ausgabe werden diese Fragen in den Abschnitten 'Entstehung' und 'Kommentar' behandelt. Im folgenden soll das Problemfeld 'Quelle - Text - Edition' vornehmlich aus neugermanistischer Sicht generell betrachtet werden, und zwar unter dem Aspekt jk der Aufgaben des Editors. Die seit einigen Jahren geführte Diskussion um den Diskurs, an dem alle literarischen Texte teilnehmen, hat auch die Aufmerksamkeit der Editoren für entsprechende Fragen geschärft. Jeder literarische Text ist nicht nur seinem Autor zu verdanken, sondern in vielerlei Hinsicht abhängig: Die Einflüsse, die einen Autor angeregt und bei der Abfassung eines Werkes jeweils bestimmt haben, dürften so zahlreich sein, daß sie wohl nur selten noch einigermaßen vollständig ermittelt werden können; kein Autor kann ohne andere Texte seinen Text verfassen. Wie die Autoren mit dieser Tatsache umgegangen sind, ob sie sie betont oder eher verdeckt haben, ist von der Individualität des Autors ebenso abhängig wie von der Epoche, in der er geschrieben hat. Die Nachahmung älterer Texte wurde ungefähr bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Europa anders gewertet als später, weil seit damals die Originalität als Kriterium der literarischen Beurteilung zunehmend einen höheren Stellenwert erhielt. Die im 19. Jahrhundert zeitweilig verbreitete Abqualifizierung der Aeneis des Vergil z. B. als Imitation der homerischen Epen, und zwar der Odyssee in Buch I bis VI und der Ilias in Buch VII bis XII, ging am Selbstverständnis des Autors und dem Empfinden seiner römischen Zeitgenossen vorbei. Oder: In der chinesischen Literatur war es bis Anfang dieses Jahrhunderts üblich, daß sich ein Autor gerade darauf berief, daß das, was er bringe, schon längst irgendwo stehe, gleichgültig, ob dies nun zutraf oder nicht. Ein weiteres Beispiel: Spätantike oder mittelalterliche Verfasser, Bearbeiter bzw. Abschreiber von Heiligenlegenden versuchten gerade durch die Angleichung der Heiligen an die Jesusgestalt, z. B. im Hinblick auf die gewirkten Wunder, einer Vorstellung nahezuDie neugermanistischen Referate, die auf der von Anton Schwob und Erwin Streitfeld geleiteten österreichisch-deutschen Fachtagung 'Quelle - Text - Edition' der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz (28.2.-3.3.1996) gehalten wurden, sind im Hinblick auf die hier angestellten Überlegungen ausgewertet worden.

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Winfried Woesler

kommen, die sich später in der Frömmigkeitsgeschichte als Ideal der 'imitatio Christi' konkretisierte. Selbstverständlich läßt sich die Reihe solcher ins Auge fallenden Beispiele bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzen, wo schließlich die Frage nach dem Diebstahl geistigen Eigentums oder gar des Plagiats dem veränderten Bewußtsein der Menschen der Gegenwart entspringt. Erinnert sei nur an Robert Neumanns Parodie von Bertolt Brecht mit dem Motto: „Ich gestehe, daß ich in Dingen des geistigen Eigentums - ". In der jüngsten Geschichte der Kunst, der Postmoderne, deutet sich wieder ein Wandel an: Bei Kunstwerken, die nach dem Prinzip der Montage gearbeitet sind, ist der Begriff des Plagiats obsolet geworden. So reizvoll solche Fragestellungen auch sind, im vorliegenden Beitrag soll der Aspekt der Edition bestimmend sein. Zunächst werden die Bezeichnungen 'Quelle', 'Vorlage' usw. erörtert und abgegrenzt, dann wird anhand zahlreicher Beispiele das Problemfeld abgesteckt und systematisiert. Schließlich soll über editionspraktische Fragen gehandelt werden.

I. Bezeichnungen 1.'Quelle' Angesichts der hier notwendigen Klärung des Begriffs 'Quelle' in der Editions- bzw. Literaturwissenschaft ist zunächst eine Abgrenzung gegenüber dem Gebrauch des Wortes durch die Historiker, der auch in die Allgemeinsprache Eingang gefunden hat, notwendig. Sie bezeichnen als 'Quellen' Dokumente oder andere Zeugnisse für ein zurückliegendes Ereignis oder einen Gesellschaftszustand, für Personen, Einrichtungen, Bauwerke etc. in der Vergangenheit. Oft sind diese 'Quellen' original, d. h. zeitgenössisch, sie können aber auch, wenn die ursprünglichen Quellen nicht mehr zugänglich sind, von diesen, z. B. durch Kopien oder spätere Schriftstücke, abgeleitet sein. Verschiedene Quellen belegen z. B. die Stellung des Königs bei den germanischen Stämmen, den Verlauf eines Kreuzzuges, das Leben Grimmeishausens oder die Anfange des Nationalsozialismus. Historische Quellen belegen nicht nur für die Wissenschaft heute Bedeutungsvolles, sondern sie werden seit eh und je auch zur Klärung von aktuellen Zweifelsfragen, besonders juristischer Art herangezogen. Mit Quellen können Ansprüche belegt oder zurückgewiesen werden, eben darum werden ja Urkunden aufgesetzt. Vornehmste Aufgabe der Historiker ist das Aufspüren und kritische Auswerten von ursprünglichen beziehungsweise abgeleiteten Quellen. Geschichtliche Quellen sind zumeist schriftliche Zeugnisse. Mit Hilfe ihrer Prüfung kann unter Umständen geklärt werden, ob etwas existierte beziehungsweise stattgefunden hat oder nicht: Gab es die hl. Caecilia? Schlug Luther seine Thesen an die Kirchentüre von Wittenberg? Da der Gebrauch des Wortes 'Quelle' bei den Historikern in der Regel Texten gilt, ist auch eine Berührung mit dem philologischen Quellenbegriff gegeben. Welche Quellen gibt es z. B., die für die Existenz eines frühen Evangeliums, des Ur-Matthäus, sprechen? Aus arabischen Quellen läßt sich z. B. auf heute verlorene Handschriften des

Der Autor und seine Quellen

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Aristoteles schließen. Gang und gäbe ist der historische Quellenbegriff bei der Darstellung der Entstehungsgeschichte eines literarischen Werkes durch den Editor; hier müssen die entsprechenden Zeugnisse, also 'Quellen', angeführt und kritisch ausgewertet werden. Von diesem historischen Quellenbegriff soll trotz seiner Anwendbarkeit auf literarische Texte im folgenden weitgehend abgesehen werden. Diese 'Quellen' weisen gewissermaßen zurück auf einen historischen Ursprung oder eine historische Tatsache; im folgenden sollen aber als 'Quellen' Texte verstanden werden, die unabhängig von ihrem Entstehungszusamnienhang noch einmal in der Zukunft bedeutsam wurden, weil sie Vorlagen für neue Texte bildeten beziehungsweise Einfluß auf neue Texte hatten. Es geht um die vielfachen, am Anfang der Arbeit außerhalb des Autors gelegenen Ursprünge seines Werkes, lange vor dem Zeitpunkt seiner Publikation. 2. 'Einflüsse', 'Reminiszenzen', 'Anspielungen' etc. Die Termini, die verwendet werden, um solche Ursprünge literarischer Texte zu bezeichnen, seien im folgenden erörtert. Dabei wird eine Abgrenzung der Bezeichnungen 'Einfluß', 'Reminiszenz', 'Anspielung' etc. von der der 'Quelle' vorgenommen. Im weitesten Sinne gibt es 'Einflüsse' auf den Verfasser eines Werkes. Sondern wir einmal diejenigen allgemeiner Art ab, die unter Umständen schwer zu fassen sind, solche biographisch-psychischer Art, wie Stimmungen, solche allgemein gesellschaftlicher Art, wie die Berufstätigkeit, oder solche, die in der Mentalität einer geschichtlichen Epoche begründet sind. 'Einfluß' auf Dichtungen wird besonders ausgeübt von der literarhistorischen Epoche, in der sie entstehen, unverkennbar etwa in der Zeit der Romantik. Meist werden wichtige Übereinstimmungen mit zeitgenössischen Werken Zeugnisse dieses Einflusses sein, die selbstverständlich von Abweichungen begleitet sein müssen. Dort, wo eine Epoche nicht mehr einheitlich geprägt ist, üben zeitgenössische literarische Strömungen einen vergleichbaren Einfluß aus. Auch unabhängig davon erfolgt oft der Einfluß eines einzelnen Autors und seines Werkes auf einen anderen. Neben den zeitgenössischen literarischen Einflüssen gibt es die zunächst mehr überzeitlichen der poetischen Norm, insbesondere der Gattungstradition, die natürlich auch innerhalb einer literarischen Epoche oder Richtung ihre spezifische Ausprägung erfahrt. Themen, Stoffe und Motive der Quellen literarischer Werke werden den aktuellen oder der jüngeren Vergangenheit angehörenden 'Textproduktionsmustern' unterworfen. Schillers bürgerliches Trauerspiel Kabale und Liebe ist ohne Lessings Emilia Galotti nicht denkbar. Sowohl die Aufbruchsstimmung des Sturm und Drang als auch die Gattungstradition der Tragödie, in der historischen Ausprägung des bürgerlichen Trauerspiels, haben, wesentlich von Emilia Galotti ausgehend, auf Schiller Einfluß ausgeübt. Trotzdem soll Lessings Stück nicht als 'Quelle' für Schillers Stück bezeichnet werden, sondern Lessings Stück erwies sich für eine gewisse Zeit und insbesondere Schiller als 'Textproduktionsmuster'. In solchen Fällen sollte der Editor einen Hinweis geben, eine vergleichende Analyse allerdings gehört nicht in eine Edition. 'Einflüsse', die hier ebenfalls nicht als 'Quellen' bezeichnet werden, gehen auch von autobiographischen Erinnerungen aus. Mit Recht wird z. B. auf die große Wirkung

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Winfried Woesler

hingewiesen, welche die Erinnerung der Autoren an ihre Kindheit und Jugend für ihr Werk, z. B. die Erinnerung an Lubowitz für Eichendorffs Lyrik, hatte. Während ihres Lebens kommen auf die Autoren die unterschiedlichsten Anregungen und Anlässe zu, einen Text zu verfassen. Das gilt u. a. für Gelegenheitsgedichte, literarische Ausschreibungen oder Anfragen der Herausgeber von Publikationsorganen. Anregungen können aus der Biographie, der Umwelt, den Zeitereignissen, aber auch der Zeitungslektüre, der Begegnung mit Kunstwerken, dem Besuch von Veranstaltungen und Vorträgen usw. entstammen. Allenfalls einige dieser Anregungen, z. B. durch Lektüre oder Vorträge, sollten als 'Quellen' bezeichnet werden. Auch sollte man bei kleineren Vernetzungen eines Textes noch nicht von 'Quellen' reden, z. B. bei einer bewußten oder unbewußten 'Reminiszenz'; ebensowenig bei der Übernahme von Redewendungen, Sprichwörtern und geflügelten Worten oder der Verwendung von literarischen Versatzstücken. Ähnlich zu entscheiden ist die Frage, wie in diesem Zusammenhang 'Anspielungen' und 'Zitate' einzuschätzen seien: Sind sie offen, kann der Leser auf ein anderes Werk verwiesen werden, aber eine einzelne Anspielung oder ein im Gedächtnis des Autors haftengebliebenes Zitat bedeuten noch keinen Hinweis auf eine 'Quelle'. Bei mehreren 'Anspielungen' auf dasselbe Werk wird man die Möglichkeit, daß dieses eine 'Quelle' bildet, in Betracht ziehen. Die Abgrenzung im einzelnen bleibt schwer. Beispielsweise wird man bei der Bezeichnung eines unglücklichen Liebespaares in einem literarischen Text als „Romeo und Julia" noch nicht Shakespeares oder Kellers Werk als 'Quelle' bezeichnen, wenn keine weiteren Übereinstimmungen hinzukommen. Es gibt nämlich Themen und Erzählstränge, die so verbreitet sind, daß die Bezeichnung 'Quelle' fehl am Platze wäre; z. B. die Erzählung von einem Mann, der beauftragt ist, seine eigene Missetat zu untersuchen: Man wird weder Sophokles' Ödipus noch Kleists Zerbrochenen Krug als 'Quellen' von Dürrenmatts Der Verdacht bezeichnen. Eine 'Quelle' wäre ein solches Werk nur, wenn darüber hinaus deutliche Bezüge festzustellen wären. Drei wichtige Kriterien des editorischen Quellenbegriffs seien hier zusammenfassend genannt: Einmal ist die Quelle fast immer sprachlich gebunden, d. h. sie ist ein Text, der einen jüngeren beeinflußt, vielleicht sogar ermöglicht hat; zum anderen darf der Bezug zwischen den beiden Texten weder nur punktuell (s. o.) noch weitgehend textidentisch sein. Grenzt man den Begriff 'Quelle' im Hinblick auf die teilweise Identität zweier Texte größeren Umfangs ab, so bietet sich an, den älteren 'Vorlage' zu nennen. Eine 'Vorlage' kann man übersetzen, zusammenfassen, paraphrasieren, exzerpieren, zitieren. Bei der 'Quelle' eines literarischen Werkes ist dagegen - und das wäre das dritte Kriterium - immer die Frage von großem Interesse, wie weit der Autor ihr gefolgt ist oder nicht: Wo von 'Quelle' gesprochen wird, ist die Eigenständigkeit des neuen Textes mitgedacht. Unter 'Quelle' im literatur- beziehungsweise editionswissenschaftlichen Sinn soll im folgenden ein Text verstanden werden, der für das Zustandekommen eines neuen, aber nicht teilidentischen Textes wichtig war und zu dem der neue Text mehr als einen punktuellen Bezug hat. Gegenüber dieser 'Quelle' oder den aus ihr übernommenen Elementen zeigt der Autor in seinem neuen Text einen eigenen Gestaltungswillen.

Der A utor und seine Quellen

7

Der Benutzer einer historisch-kritischen Ausgabe darf den Nachweis, in Ausnahmefallen vielleicht sogar den Abdruck der Quelle erwarten. Die angestellten Überlegungen zeigen aber auch, daß bei der Entscheidung, was als 'Quelle' eines Werkes bezeichnet werden kann, der Literaturwissenschaftler beziehungsweise Editor einen Ermessensspielraum hat. Nach gründlicher Lektüre des Werkes und der als Quellen in Frage kommenden Texte sollte der Editor dem Benutzer seine Einschätzung mitteilen. Kein Definitionskriterium ist die Schriftlichkeit einer Quelle. Der Dichter, der die Odyssee komponierte, konnte auf eine große mündliche Erzähltradition - Heimkehrergeschichten, Seefahrererzählungen und den Trojastoff- zurückgreifen. Die Romantiker haben das Liedgut wie auch die Märchen des Volkes gesammelt und verändert. Heute werden Autoren auch nicht mehr nur durch Printmedien angeregt. Akustisch verbreitete Texte können sehr wohl einem Autor als Quelle dienen. Man denke etwa an den Entstehungsanlaß vieler Gedichte Erich Frieds. (Abzugrenzen ist der Begriff 'Quelle' auch von dem Sonderfall der Zusammenarbeit. Aus dem Gespräch zweier Autoren kann der Entwurf des einen hervorgehen, den er dem anderen später zur Ausarbeitung überläßt. Oder: Hat ein Autor den Text eines anderen gelesen und ihm Korrekturvorschläge gemacht und ist es dann schließlich zu einer Neufassung durch einen der beiden Autoren gekommen, bleibt zu entscheiden, ob der ursprüngliche Text als 'Quelle' zu bezeichnen ist oder ob nicht besser von einem aus gemeinsamer Arbeit hervorgegangenen zweiten Text zu sprechen wäre.) 3. Textsorten literarischer Quellen Im Prinzip kann jede Textsorte zur Quelle eines literarischen Textes werden. Aber es lassen sich einige Haupttextsorten ausmachen. Dies hängt natürlich auch von der Art des Werkes ab, das der Autor plant. Es gibt Quellen, die den Autor überhaupt erst motivierten, den Stoff, ein Ereignis etc. literarisch zu gestalten, z. B. Zeitungsartikel. Andere Quellen werden vom Autor zur zusätzlichen Sachinformation während der Arbeit herangezogen. Ein Autor, der eine Biographie verfassen will beziehungsweise ein Werk, das biographische Elemente enthalten soll, wird sich Einsicht in autobiographische Dokumente der betreffenden Person wie Briefe, Tagebücher, aber auch weitere Lebenszeugnisse, z. B. zur Berufstätigkeit, verschaffen. Bei der Literarisierung historischer Stoffe kann der Autor unmittelbar an die Quellen gehen, z. B. Protokollaussagen in Prozessen, Akten, Äußerungen von Kontaktpersonen einbeziehen, er kann sich aber auch - vielleicht zusätzlich - auf bereits vorliegende journalistische oder geschichtswissenschaftliche Darstellungen stützen. Im 20. Jahrhundert ist zunehmend damit zu rechnen, daß Anregungen aus Rundfunk- und Fernsehberichten sowie Spielfilmen von den Autoren verwertet werden. Den wohl wichtigsten Anteil an Quellen literarischer Werke aber bildet nach wie vor die Literatur selbst.

Winfried Woesler

II. Quellenabhängigkeit literarischer Texte Die Abhängigkeiten eines Werkes von einer Quelle sind unterschiedlicher Art und können sowohl vom Autor als auch vom Editor unter verschiedenen Aspekten gesehen werden. 1. Die Abhängigkeit eines literarischen Textes von Berichten über Ereignisse Abgesehen vom seltenen Fall, daß der Autor Augenzeuge wichtiger Ereignisse war, ist er von Berichten abhängig. Diese können mündlich oder schriftlich sein, sie sind freilich nur mehr oder minder zuverlässig. In der Regel holen die Autoren sich auch Informationen aus verschiedenen solcher berichtenden Quellen, wobei sie sicher selten im wissenschaftlichen Sinne Quellenkritik betreiben. 2. Die Abhängigkeit eines literarischen Textes von Handbüchern, Sachbüchern, Spezialliteratur im weitesten Sinne, Reiseschilderungen, Kunstführern Will ein Autor einen Text in einer bestimmten historischen Epoche, in einem fremden Land oder gar Kulturkreis ansiedeln, wird er häufig gedruckte Hilfsmittel benutzen. Dasselbe gilt für den Fall, daß er Figuren seiner Dichtung in einem ihm fremden Milieu, auch speziellen beruflichen Umfeld ansiedeln will. Allerdings sollte man Hilfsmittel, die dabei nur ganz punktuell herangezogen wurden, noch nicht als Quellen bezeichnen. 3. Die Abhängigkeit eines literarischen Textes von anderen literarischen Texten, d. h. seine literarische Intertextualität Diese Abhängigkeit kann in vielerlei Hinsicht bestehen: einmal in stofflicher und motivlicher und zum ändern in poetischer Hinsicht. Wobei Letzteres sich insbesondere auf Gattungstraditionen, aber auch allgemein auf die Konzeption und die Form beziehen kann. Zu unterscheiden ist die Weiterentwicklung eines Themas in der gleichen literarischen Gattung von dessen Transformation in eine andere. 4. Abhängigkeit von fremdsprachigen Texten Heute betrachtet man einen fremdsprachigen Text, der übersetzt wurde, nicht als Quelle der Übersetzung, sondern als deren Vorlage. Dies ist nicht immer so gewesen. Die Transponierung eines literarischen Werkes aus einer Sprachgemeinschaft in die andere, aus einem kulturellen Umfeld in ein anderes, bedeutete häufig Adaptation und nicht 'Übersetzung' im heutigen Sinne.

Der Autor und seine Quellen

9

5. Die Abhängigkeit des Werkes eines Autors von dessen eigenen Texten Während die Einflüsse aus der Biographie des Autors auf sein Werk hier nicht als Quellen betrachtet werden (s. o.), gilt das sehr wohl für eigene literarische und nichtliterarische Texte: Quellenauszüge, Briefe des Autors und an den Autor, Tagebücher, Motivsammlungen, literarische Behandlungen des gleichen Themas, Fragmente; es gibt auch umfassende Selbstzitate. Ein Teil dieser autoreigenen 'Quellen' können schon im Hinblick auf ein Werk verfaßt sein, z. B. Briefe, die später die Grundlage für einen Reisebericht abgeben. In Kafkas Tagebüchern finden sich z. B. Stellen, an denen der Bericht bereits ins Fiktionale übergeht.

III. Einstellung des Autors zur Quelle Die Kriterien, nach denen bestimmte Texte als Quellen für einen anderen Text einzuschätzen sind, sollte der Literaturwissenschaftler zwar unabhängig vom Autor anwenden, trotzdem bleibt dessen eigene Einstellung zu seiner Quelle, soweit sie sich ermitteln läßt, aufschlußreich und für die Bewertung mitentscheidend. Die Bedeutung der einen oder mehrerer Quellen für einen Autor kann sich während des Entstehungsprozesses seines Werkes wandeln. Möglich ist ebenso, daß der Autor den einmal gefundenen Stoff zunehmend freier behandelte, wie, daß der Autor während der dichterischen Arbeit nach weiteren Quellen, das können etwa einschlägige historische oder literarische Werke sein, suchte oder auf sie stieß und dann nachträglich seine ursprüngliche Konzeption weiterentwickelte, um z. B. die historische Wahrheit und die dichterische Aussage immer besser in Einklang zu bringen. Dann stellt sich z. B. auch die Frage: Betrachtete ein Autor sein Werk schließlich mehr als literarische Bearbeitung der Quelle oder als fiktionalen Text, der der Quelle nicht mehr verpflichtet ist? Innerhalb des Verhältnisses 'Autor - Quelle - Werk' spielt auch der Blick auf das Publikum eine Rolle. Es gibt das Extrem, daß ein Autor alles tut, dem Leser seine Quellen zu verdecken, damit seine dichterische Originalität in größerem Glänze erscheint. Heine wurde z. B. in seinem Atta Troll von Lieferungen angeregt, die später (1841/1842) unter dem Titel Scenes de la vie privee et politique des animaitx erschienen. Nicht nur die dort enthaltene Einzelgeschichte L Ours von L. Baude, die von einem philosophierenden Bären in den Pyrenäen handelt, sondern auch zahlreiche Karikaturen, die sogenannten Homme-bete-Gestalten des Karikaturisten Grandville, die das Gesamtwerk zieren, gaben Heine wichtige Anregungen, dürfen als Quelle bezeichnet werden. Auffällig ist aber, daß Heine weder das Sammelwerk noch L. Baude noch Grandville irgendwo in seinen Briefen oder Werken erwähnt. Vielleicht ist dies - wenn auch in einer weniger extremen Form - bei Autoren sogar die Regel. Der Autor möchte nicht, daß man ihm in die Werkstatt schaut und dem Leser klar wird, welche Quellen und Ideen er verarbeitete. Der Editor, der solche Quellen offenlegt, tut damit also oft etwas, was dem Autor mißfallen hätte.

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Winfried Woesler

Dessen Grundeinstellung kann aber auch eine konträre sein, daß er nämlich einen bereits in einem oder mehreren Texten gestalteten Stoff nicht nur im Sinne einer Quelle ausbeutet, sondern daß ihm diese Quelle beziehungsweise Quellen Anlaß zu einer bewußt neuen Behandlung und Auseinandersetzung werden. Der Autor Giraudoux z. B. setzt geradezu voraus, daß der Zuschauer seines Amphitryon 38 weiß, daß es viele nach eigener Angabe 37 - Bearbeitungen vor ihm gegeben hat. Giraudoux baut darauf, daß der Zuschauer - sagen wir - zumindest eine der früheren Bearbeitungen kennt und nunmehr den Esprit der Neubearbeitung goutiert. Auch ein Dichter der klassischen chinesischen Lyrik, in der es eine festgelegte Anzahl von Melodien gab, in der die Gedichte einer bestimmten Stimmung vorgetragen wurden, konnte, wenn er ein neues entsprechendes Gedicht schuf, damit rechnen, daß die Hörer beziehungsweise Leser die vorangegangenen Gedichte dieser Art kannten und so das neue Gedicht einzuschätzen wußten. Ein Autor kann sich ja auch im westlichen Kulturkreis meist eines größeren Publikumsinteresses sicher sein, wenn er an etwas Bekanntes anknüpft und zugleich etwas Neues in Aussicht stellt. Als Lessing z. B. die Frage bewegte, ob man die Mythen der antiken Tragödie zu Inhalten moderner bürgerlicher Trauerspiele umgestalten könne, unternahm er mit Miss Sara Sampson selbst einen solchen Versuch der Adaptation der senecanischen Medea und wies auch die Zuschauer ausdrücklich darauf hin, indem er Marwood von der Bühne her sprechen läßt: „Sieh in mir eine neue Medea!" (MSS II, 7). Dichter des 19. und 20. Jahrhunderts haben ebenfalls gem Darstellungen des griechischen Mythos oder auch der Bibel in die Gegenwart transponiert; erwähnt sei Oscar Wildes Salome. Bis in die Gegenwart knüpfen Autoren an alte Stoffe, z. B. Märchen, an, um Fragen der Gegenwart zu erörtern und künstlerisch gestaltet zu vermitteln, wobei sich die Einstellung eines Autors zu seiner Quelle keineswegs nur auf ein Weiterdichten, eine Neugestaltung oder Aktualisierung beschränkt. Eine Quelle kann den Autor auch zum Widerspruch anregen. Ihn reizt ein vorliegender Text so, daß er sich mit seinem neuen Text gegen ihn wendet. Die bekanntesten literarischen Formen sind die Parodie, die Kontrafaktur und im Extremfall der satirische Gegenentwurf; so ist z. B. Nestroys Travestie von Hebbels Judith zu werten. Solche Beispiele zeigen, daß ein Editor, der um die Quellenabhängigkeit eines Werkes weiß, auch das Verhältnis des Autors zu dieser Quelle reflektieren sollte. Es ist hier nur das Ziel, dieses Verhältnis unter literarischem Aspekt, soweit es für die Edition relevant ist, zu betrachten. Zweifellos gibt es daneben andere für die Entstehung wichtige Aspekte, und all diese lassen sich im konkreten Fall nicht ohne weiteres voneinander trennen. Denn außer ästhetischen Überlegungen können z. B. Interessen eines Auftraggebers den Autor bewegen, Quellen auszuwählen und in einem bestimmten Sinne zu interpretieren. Auch das primär nichtliterarische Anliegen des Autors unterscheidet sich stets - mehr oder minder - vom Anliegen des Verfassers der Quelle: Mochte z. B. eine Quelle als Text wesentlich unter moralischem Aspekt verfaßt sein, kann der Autor, der die Quelle benutzte, davon abweichend etwa ein aktuelles politisches Anliegen in den Mittelpunkt seines Textes stellen.

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IV. Wissenschaftliche Quellensuche Für den Literaturwissenschaftler ergeben sich angesichts der Quellenabhängigkeit literarischer Werke eine Reihe von Fragestellungen, die dem Editor bewußt sein sollten, und Aufgaben, deren Lösung dieser vorbereiten muß, die aber von ihm vollständig kaum erwartet werden darf. Die wichtigste Aufgabe ist die Feststellung der Quellen, d. h. deren genaue Ermittlung, dazu kommen vielleicht auch der Nachweis des Ausmaßes ihrer Benutzung respektive die Beschreibung der hier bestehenden Unsicherheit. 1. Verifizierung einer Quellenangabe Relativ einfach ist diese Aufgabe, wenn ein Autor angibt, welche Quellen er benutzt hat, und wenn diese Angabe zutrifft und auch genau ist: Sie erweist sich aber meist als komplizierter, als es zunächst scheint, denn nicht immer gelingt die bibliographische Verifizierung einer solchen Angabe. Quellenhinweise des Autors finden sich besonders in Exzerpten und den Arbeitsmanuskripten. Die Schwierigkeit beginnt in der Praxis schon damit, daß auf eine Quelle oft nur hingewiesen wird, ohne daß sie genau benannt wird. Dies brauchte der Autor auch nicht zu tun, da ihm selbst völlig klar war, was z. B. mit einem Verweis „H. p. 217" gemeint war. Bei solch einer, für den späteren Leser unter Umständen ungenügenden Quellenangabe helfen manchmal nur geduldige Recherche und umfassende Lektüre. Erheblich leichter zu verifizieren sind natürlich Quellenhinweise im Werk selbst oder in Briefen, weil sie von vornherein für andere bestimmt sind. Bereits erwähnt wurde, daß ein Autor bewußt die Benutzung einer Quelle, der er wichtige Anregungen verdankt, verschweigt. Umgekehrt kommt es vor, daß er die Benutzung einer - nicht vorhandenen beziehungsweise nicht benutzten - Quelle suggeriert, um z. B. dadurch die Glaubwürdigkeit seiner 'Geschichte' zu erhöhen. Nicht nur Studenten geben im Literaturverzeichnis Forschungsliteratur an, die sie nicht gelesen haben. Gerade bei Märchen ist es stereotyp, daß der Autor, der sie veröffentlicht, darauf hinweist, eine alte Frau - oft eine Amme -, die dann häufig noch lokalisiert wird, habe sie ihm erzählt. Oder es wird auf irgendwelche Papiere hingewiesen, die durch Zufall in die Hände des Autors gelangt seien. Eine Angabe, z. B. „Aus dem Provencalischen", muß nicht in jedem Fall zutreffen. Sicherheitshalber sollte der Editor nicht nur einem textinternen Quellenhinweis nachgehen, sondern auch textextern fragen, wann und wo der Autor diese Quelle benutzt haben kann; so kann auch noch über die bibliographische Verifizierung hinaus der Glücksfall eintreten, daß ein vom Autor benutztes Exemplar ausfindig gemacht wird. Doch werden leider die meisten Quellen, die der Editor ermittelt, vom Autor nicht direkt benannt. 2. Suche nach unbekannten Quellen In der Regel muß der Editor Quellen mühsam aufspüren, und wenn er sie gefunden hat, kann es ihm bei ungedruckten Quellen noch im Ausnahmefall - davon darf aber im

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folgenden abgesehen werden - passieren, daß sie ihm, etwa aus juristischen Gründen, verschlossen bleiben. Quellensuche kann spannend sein. Dabei dürfte es dem Autor, wie schon oben angedeutet, nicht immer recht sein, daß der Philologe ihm auf die Spur kommt, wenn sich z. B. eines seiner besten Gedichte als die gelungene Variation einer trivialen Vorlage erweist. Die Arbeitsmanuskripte eines Autors lassen oft benutzte Quellen, auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt werden, noch leichter erkennen als der fertige Text. So kann, wenn der endgültige Text die Benutzung einer Quelle durch den Autor nahelegt, dies unter Umständen mit Hilfe der Arbeitsmanuskripte geklärt werden. Grundsätzlich muß für eine Edition die Bibliothek des Autors ausgewertet werden; da diese jedoch meist nicht mehr vorhanden ist, sollte wenigstens aus Briefen, Tagebüchern etc. eine Lektüreliste angelegt werden, die dann gezielt zu befragen ist. Von manchen Autoren gibt es Versteigerungslisten ihrer Bibliotheken. Bei Hegel z. B. hat man im Nachhinein seine Bibliothek wieder rekonstruiert und als Hilfsmittel der editorischen Arbeit aufgestellt. Bei der Droste erwies es sich als nützlich, dort, wo eine Lektüre als Quelle vermutet wurde, jeweils in den Katalogen der für sie seinerzeit erreichbaren Bibliotheken zu suchen, wie der Theissingschen Leihbibliothek in Münster, der Corveyschen Bibliothek, derjenigen Laßbergs in Eppishausen und Meersburg oder der Wessenbergischen Bibliothek in Konstanz. Neben der gezielten Suche nach einer Quelle in den in Frage kommenden Bibliotheken beziehungsweise deren Katalogen ist meist eine breiter angelegte notwendig. Bei Heine z. B. war die Ermittlung der Ausleihen aus der Göttinger und Bonner Bibliothek ergiebig. Sie erlaubte nicht nur einen Überblick über die während der Entstehungszeit eines Werkes vom Autor ausgeliehenen Bücher, sondern unter diesen erwiesen sich dann einzelne als wichtige Quellen. Liegt die Vermutung nahe, daß eine - noch nicht erkannte - Quelle für die Abfassung eines Textes von Bedeutung war, so kann unter Umständen auch die Suche in den vom Autor zur betreffenden Zeit regelmäßig gelesenen Journalen, Almanachen etc. weiterhelfen. Auf diese Weise konnte schon die Herkunft mancher Gedanken und Einfalle eines Autors nachgewiesen werden. Eine Zeitungsnotiz z. B. über ein Amnestieangebot Friedrichs II. für Fahnenflüchtige regte wie auf Grund von Indizien kürzlich von Ottilie Domack festgestellt wurde - Möser an, in einer seiner Patriotischen Phantasien eine juristische Gegenposition zu vertreten, ohne daß dieser Bezug in seinem Text auch nur angedeutet würde. Für das 19. und 20. Jahrhundert muß der Editor aber davon ausgehen, daß er einen wesentlichen Teil der benutzten Quellen, insbesondere wenn sie nicht der 'hohen' Literatur zuzurechnen sind und daher bibliographisch nicht oder nur unzureichend erfaßt sind, nicht mehr ermitteln wird. 3. Erkenntnis indirekter Quellen Der indirekte Einfluß von Quellen ist äußerst vielfältig. Ein Autor, der z. B. ein Ereignis aus der römischen Geschichte dramatisieren will, kann sich unmittelbar auf Livius beziehen und ihn auch als Quelle angeben. Trotzdem ist es möglich, daß ihm Livius' ab

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urbe condita zwar aus der Schullektüre noch flüchtig bekannt ist, daß er aber aus dem gegebenen Anlaß sein Gedächtnis noch einmal aus einem Buch zur römischen Geschichte, das sich natürlich auch auf Livius stützt, auffrischt. Oder: Selbst wenn eine größere Passage in einem literarischen Text zweifellos von einem anderen literarischen Text abhängt, kann es trotzdem sein, daß der ältere literarische Text insgesamt nicht die Quelle ist, sondern daß der Autor einen Auszug oder eine Zusammenfassung an anderer Stelle, z. B. in einem Almanach, benutzte. Es kommt keineswegs selten vor, daß der Autor einen Text ausschlachtet, der sich auf eine ältere Quelle stützt, die nicht angegeben wird, so daß der Autor sich über die ursprüngliche Quelle selbst nicht im Klaren ist. Zeitungen und Wochenblätter hatten z. B. häufig Motti, die auch in einem lockeren Zusammenhang untereinander stehen konnten, z. B. ein und demselben Werk Ariosts entnommen waren. Denkbar ist, daß ein Autor diese Motti las und irgendwie in den Text, an dem er gerade schrieb, einfließen ließ; so könnte sich ein Editor täuschen lassen und meinen, der Autor habe hier als Quelle jenes Werk Ariosts benutzt. Die Auswertung von Anthologien, Florilegien und Sentenzensammlungen durch den Autor wird insgesamt von Kommentaren der Editionen viel zu wenig in Betracht gezogen. Grimmelshausen schildert in Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status, wie der hl. Felix seinen Verfolgern dadurch entkam, daß er in eine Höhle flüchtete und eine Spinne dann vor den Eingang ihr Netz wob, so daß die Verfolger getäuscht wurden und die Höhle nicht mehr untersuchten. Es mag völlig richtig sein, daß Grimmelshausen diese Episode aus einer Legende, die ihm als Vorlage diente, übernahm. Er dürfte aber wahrscheinlich auch die entsprechende Episode aus dem Alten Testament (l Kon 24) gekannt haben, nach der David auf die gleiche Weise vor seinen Verfolgern gerettet wurde. Mag dieser konkrete Fall auch eindeutig zu entscheiden sein, wichtiger ist, daß es Fälle gibt, in denen nicht klar ist, ob der ursprüngliche Text oder ein auf diesem aufbauender vom Autor benutzt wurde. Denkbar ist schließlich, daß der Autor sich sowohl auf den späteren wie auch auf den ursprünglichen Text stützte und beide Fassungen in seinen eigenen Text eingingen. 4. Eine bzw. mehrere Quellen Wenn viele Autoren nicht nur eine, sondern mehrere Quellen bei der Vorbereitung und Ausführung ihres Werkes benutzen, bedeutet das prinzipiell für den Editor noch keine zusätzliche Schwierigkeit. Diese entsteht aber, wenn zum Hauptstoff oder einem der Nebenaspekte eines Themas mehrere Quellen benutzt wurden und sich die Einwirkungen der verschiedenen Quellen, sei es im Ganzen oder im Detail, mischen. Besonders wenn literarische Werke stark geschichtsbezogen sind, z. B. eine Reimchronik, kann das Aufspüren des Quellenmaterials und die Entwirrung der Herkunft einzelner Ansätze oft nicht zum Abschluß kommen. Ist die Hauptquelle eines Textes gefunden, muß der Editor fragen, ob es nicht daneben bisher vielleicht noch nicht ermittelte Quellen gibt. Ein Autor kann z. B. eine fiktionale Erzählung als Quelle wählen, diese dann aber geographisch in einer anderen Gegend ansiedeln und, um das Lokalkolorit zu treffen, zusätzlich eine dichterische Beschreibung dieser Gegend heranziehen. Kompliziert wird

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die Sachlage dadurch, daß dies auch stets indirekte Quellen sein können. Zweifellos liegt z. B. Heines in den Pyrenäen spielendem Versepos Atta Troll u. a. Gellerts sentimentale Tanzbärfabel zugrunde. Doch ist die dramatisch-realistische Ausprägung bei Heine nicht nur durch Gellerts Text veranlaßt, sondern ist noch mehr eine Kontrafaktur der stark politisierten Fassung der Tanzbärfabel durch Dorat beziehungsweise Pfeffel. Oder: Viele Motive in Lessings Emilia Galotti finden sich nicht bei Livius, aber in den Lessing vorausgehenden Dramatisierungen des Stoffes durch Montiano, Campistron, Crisp und Patzke. Der bloße Abdruck der Liviusstelle als 'Quelle', ohne weitere Hinweise, liefe auf eine Irreführung des Lesers hinaus. Dazu drei Beispiele: 1. Schon vor Lessing hat Patzke in seiner F/>gw/a-Tragödie einen wichtigen Schritt in Richtung der Entpolitisierung des antiken Stoffes und der Konzentration im Sinne des bürgerlichen Trauerspiels getan. 2. Die Kirche, in die Emilia geht, wird bei Lessing zu einem Ort der Handlung, aber bereits Campistron hatte in seiner Fassung des Stoffes kurz vor der geplanten Hochzeit eine Szene im Tempel stattfinden lassen. Bei Livius weist nichts auf einen solchen Ort hin. 3. Die wichtigste weibliche Figur, die sich neben der Titelheldin in Lessings Stück findet, ist die Rivalin, die es bei Livius nicht gibt. Vor Lessing hatte Crisp als Rivalin die Figur der eifersüchtigen Marcia geformt. Würde nur die Liviusstelle als Quelle im Kommentar einer Lessing-Ausgabe genannt, käme ein wichtiger Teil der Geschichte der Dramatisierung dieses Stoffes dem Benutzer nicht ins Gesichtsfeld. Für die Interpretation kann es schon wichtig sein zu wissen, ob die Abweichung eines Autors von seiner Hauptquelle auf diesen selbst zurückgeht oder der Berücksichtigung weiterer Quellen zu verdanken ist. Generalisierungen sind bei der Beantwortung der Frage, inwieweit Abweichungen von der Hauptquelle durch Nebenquellen beeinflußt sind, angesichts der Tatsache, daß Texte in sehr unterschiedlicher Weise intertextuell organisiert sind, nur eingeschränkt möglich. 5. Fremdsprachige Texte als Quellen Dienten Texte aus anderssprachigen Literaturen als Quellen, ist es oft schwierig, die vom Autor benutzte Version zu ermitteln, da z. B. nicht von vornherein klar ist, ob der Autor den originalsprachlichen Text selbst las oder eine Übersetzung benutzte. Las der Autor ihn selbst, erweist sich nicht selten die Ermittlung der von ihm benutzten originalsprachlichen Ausgabe als schwierig. Kann die vom Autor benutzte Version der Quelle ermittelt werden, ist natürlich diese vom Editor zu zitieren oder zumindest anzugeben; ist dies nicht möglich, sollte sowohl ein bibliographischer Nachweis der ersten fremdsprachigen Ausgabe als auch der zur Zeit des Autors verbreitetsten Übersetzung erfolgen. Sollte der Editor aufgrund der Gegebenheiten zu der Auffassung kommen, daß eine bestimmte fremdsprachige Version oder eine bestimmte Übersetzung benutzt wurde, wäre diese, falls es überhaupt notwendig ist, abzudrucken, der Editor sollte aber einem historischen fremdsprachigen Text dann immer noch eine Übersetzung

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hinzufugen. Liegt nicht sehr nahe, welche zeitgenössische Übersetzung vom Autor benutzt wurde, sollte eine moderne Übersetzung zitiert werden. 6. Die Bibel als Quelle Jede Bibelstelle kann zwar exakt angegeben werden, gleichwohl erweist sich der Nachweis der benutzten Übersetzung oft als schwierig. Die Droste z. B. zitiert Bibelverse oder paraphrasiert sie, oder sie wirken als Reminiszenzen in ihrem Text nach. Die Lutherübersetzung im Kommentar der Edition heranzuziehen, wäre hier offensichtlich falsch. Aber auch alle zeitgenössischen katholischen Übersetzungen erweisen sich als nicht wortwörtliche Vorlage, am ehesten findet sich noch eine Übereinstimmung zwischen den Zitaten der Droste und den von den Pfarrern des Bistums Münster zur Predigtvorbereitung benutzten deutschen Perikopenbüchern. Doch auch hier gibt es Abweichungen, die sich m. E. nur so erklären lassen, daß die Autorin zum Teil auswendig zitierte und sich in ihrem Kopfe verschiedene Versionen des Bibeltextes vereint bzw. abgewandelt hatten; hinzu kommt noch, daß sich im Gedächtnis die Parallelstellen der Evangelien mischen können. Im Kommentar des Geistlichen Jahres der Droste habe ich deshalb nur die Bibelstellen als solche einschließlich ihrer Parallelen nachgewiesen und in Einzelfällen eine moderne Übersetzung hinzugefügt.

V. Quellen in der Edition Historisch-kritische Ausgaben enthalten die 'Entstehungsgeschichte' der Werke, die auf der Auswertung der historischen Quellen, z. B. der Zeugnisse zur Biographie und der Quellen im literarischen Sinne beruht. Der Editor wird in der Regel die Ergebnisse seiner Auswertung sämtlicher ermittelter Quellen in eine Darstellung der 'Entstehung' integrieren, wobei er -je nach Zweckmäßigkeit - die wichtigen Quellen auch referiert oder zitiert. Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, einzelne Quellen in extenso zu präsentieren, sei es innerhalb der 'Entstehungsgeschichte', sei es separat in einem 'Anhang'. l. Kritische Prüfung Ist der Werktitel einer Quelle ermittelt und diese für einen Abdruck in der Edition vorgesehen, ist es nicht nur, wie erwähnt, bei fremdsprachigen Texten oft schwierig, die richtige Textgrundlage zu finden. Generell gilt, daß eine Quelle in der Gestalt, in der der Autor sie las, abgedruckt beziehungsweise zitiert wird, also nicht nach einer modernen kritischen, sondern der zeitgenössischen beziehungsweise - und das trifft häufig zu - einer noch älteren Ausgabe. Im Einzelfall kann es philologischer Bemühung bedürfen, die richtige beziehungsweise wahrscheinlich richtige - und das muß natürlich keineswegs die beste sein - Textgrundlage für den Wiederabdruck einer Quelle

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auszuwählen. Keinesfalls geht es an, unkritisch irgendeine Ausgabe, und mag sie noch so gut sein, abzudrucken. Außerdem gibt es Fälle, in denen handschriftliche Papiere, die ein Autor für sein Werk benutzte, bis heute unpubliziert sind und deshalb in einer kritischen Ausgabe erstmals ediert werden müssen. An schwer leserlichen, z. B. korrigierten Stellen, kann es dabei auch vorkommen, daß der Autor sich verlesen hat. Ist handschriftliches Material, z. B. ein Tagebuch, das der Autor auswertete, oder sind Briefe, die der Autor noch im Nachlaß einsah, zwischenzeitlich veröffentlicht worden, ist gleichwohl zu befürchten, daß dabei z. B. Vollständigkeit, Grammatik, Wortformen, Orthographie und Interpunktion nicht peinlich genau beachtet wurden, so daß dem Editor trotz dieser inzwischen vorliegenden Publikation der erneute Weg ad fontes nicht erspart bleibt. Der Editor literarischer Texte ist nur für die Ermittlung der Quellen und gegebenenfalls deren textkritisch einwandfreie Wiedergabe verantwortlich; Quellenkritik im Sinne der Historiker, also die Prüfung ihrer Zuverlässigkeit, ist zwar auch für den Editor nützlich, aber er braucht deren Ergebnisse, da es bei ihm im allgemeinen ja um die Edition fiktionaler Texte geht, nicht im Kommentar auszubreiten. 2. Technische Möglichkeiten der Quellenpräsentation Der - kostspielige - Abdruck von Quellen ist nicht primäre Aufgabe einer historischkritischen Ausgabe. Die Möglichkeit des Quellenabdrucks hängt natürlich einerseits von der Textsorte der Quelle ab, dann andererseits pragmatisch vom Umfang der Quelle - ein vom Autor benutztes Buch kann man nicht in seine Ausgabe aufnehmen. Ist das benutzte Exemplar noch vorhanden, wird darauf hingewiesen, ersatzweise werden andere Standorte - möglichst - identischer Exemplare genannt. Die meisten großen Ausgaben haben Arbeitsstellen, dort können solche umfangreichen Quellen zugänglich gemacht werden, z. B. als Verfilmungen. In Ausnahmefallen empfiehlt es sich, außerhalb des Editionsprojektes ein Faksimile oder einen Nachdruck der Hauptquelle eines Werkes anzuregen: So wäre es z. B. nach einem Vorschlag von Wolfgang Albrecht sinnvoll, J. J. Volkmanns Handbuch Historisch-kritische Nachrichten von Italien (Leipzig 1771) neben der historisch-kritischen Ausgabe der Tagebücher Goethes wieder verfügbar zu machen. Auch für die Edition der Thüringischen Landeschronik z. B. hält Sylvia Weigelt die Herausgabe eines eigenen Quellenbandes für notwendig. Folgt ein Autor in größeren Passagen eines Werkes eng seiner Hauptquelle, so kann diese Quelle fortlaufend in einer Spalte, auf der gegenüberliegenden Seite oder unter dem Text dargeboten werden, so daß der Benutzer leichter vergleichen kann. Eine solche Form der Quellenpräsentation hat aber auch ihre Tücken: In der Regel hat ein Autor mehr als eine Quelle benutzt, dies würde durch eine solche Form der Präsentation verdeckt. Dann nahmen Autoren häufig Veränderungen ihren Quellen gegenüber vor, etwa derart, daß sie Passagen auswählten und umstellten. Nicht unproblematisch ist der bei Vorliegen einer umfangreichen Quelle häufig gemachte Versuch des Editors, diejenigen Textstellen herauszuziehen, die als 'Parallelstellen' angesehen werden. Diese sollten sich dann zumindest nicht auf die Stellen beschränken, an denen wörtliche

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oder sinngemäße Übereinstimmungen festzustellen sind, denn ein solches Verfahren bedarf wohl immer der ergänzenden Erläuterung durch den Editor. Zu bedenken bleibt etwa, worauf Sigurd Paul Scheichl hingewiesen hat, daß vom Autor häufig der gesamte Bezugstext gemeint ist, insbesondere z. B. bei der Satire, auch wenn nur einzelne Stellen wörtlich zitiert oder paraphrasiert werden. Für den Literaturwissenschaftler kann gerade auch von Interesse sein zu wissen, welche Passagen seiner Quelle der Autor nicht übernahm. Besonders zu behandeln sind die Fälle, in denen Exzerpte des Autors aus einem Buch erhalten sind oder gar Marginalien und Anstreichungen. Für solche Fälle wurden inzwischen insbesondere von der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) brauchbare technische Präsentationsformen entwickelt. Sind Quellen weniger umfangreich beziehungsweise sind umfangreiche Quellen nur partiell benutzt worden, haben sich verschiedene Formen einer angemessenen optischen Wiedergabe bewährt, z. B. Spaltendruck, Zeilenparallelisierung, Typenwechsel, Annotationen beziehungsweise Verweise in einer Marginalspalte oder einem Apparat, so daß insbesondere Parallelstellen und Abweichungen dem Benutzer auch optisch erkennbar sind. Ich verweise an dieser Stelle auf die Verfahren der Büchner-Ausgabe, wie sie in editio 11 (1997) von Burghard Dedner: Die verschiedenen Textsorten der Quellen und deren unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten präsentiert werden, sowie auf die einschlägigen Überlegungen, die Klaus-Detlef Müller ebda in Bezug auf Brecht anstellt: Bertolt Brechts 'Tage der Kommune'. Zu Problemen einer quellenkundlichen Edition. Sowohl ein vollständiger Quellenabdruck in der Edition als auch eine anschauliche Aufbereitung entlasten den Einzelstellenkommentar erheblich. 3. Kommentarbedürftigkeit des abgedruckten Quellentextes Manche Quellen stammen aus ganz anderen Bereichen als dem der Literatur. Werden sie also in der Ausgabe eines Dichters abgedruckt, sollte dies nicht ganz unkommentiert geschehen, damit der Benutzer sich ein Bild machen,unter Umständen auch die Quelle selbst einschätzen kann. Das gilt gerade für geschichtliche Ereignisse. So sollte eine aus heutiger wissenschaftlicher Sicht abwegige Ansicht des Autors von einem historischen Ereignis vom Editor gegebenenfalls aus der Benutzung obskurer bzw. damals als wissenschaftlich geltender Quellen erklärt werden. Insofern müssen im Ausnahmefall auch hinter dem literaturwissenschaftlichen Kommentar eines Autortextes quellenkritische Überlegungen des Editors stehen, insbesondere wenn nur teilweise klar ist, in welchem Maße der Autor aus welchen Quellen schöpfte. Gelegentlich stellt sich die Frage, woher die Informationen über ein zeitpolitisches Ereignis, das ein Autor schildert, stammen. War er Augenzeuge, kann er gleichwohl mündliche Berichte oder Zeitungsberichte herangezogen und in seinem Text berücksichtigt haben. So schildert die Droste in einem stilistisch gestalteten Brief an ihre Mutter vom Februar 1838 einen Aufstand in Münster im Dezember 1837, den sie vom Fenster aus miterlebte. Sie schildert dabei vieles, was sie gar nicht selbst gesehen oder erlebt haben kann, z. B. Aussprüche betroffener Bürger. So etwas ist ihr also mündlich

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zugetragen worden. Blickt man außerdem in die damals wichtigste Münstersche Zeitung, so findet man eine viel harmlosere Darstellung der Ereignisse. Ehe man nun annimmt, die Droste habe das Geschehen allzu sehr ausgemalt, muß man auch daran denken, daß die Zensur für den Tenor der Zeitungsberichte verantwortlich war. Ebenso wird man die briefliche Schilderung der Droste vom 10. November 1847 über den Schweizer Sonderbundkrieg, die bald darauf ohne ihr Wissen im Westfälischen Merkur erschien, quellenmäßig hinterfragen müssen. Es wurden von ihr offenbar Zeitungsberichte im süddeutschen Raum über die Ereignisse und die Wertung dieser Ereignisse durch ihren Schwager Laßberg sowie mündliche Berichte zu einem packenden, freilich eindeutig konservativ wertenden Bericht zusammengestellt. Oft sind solche Zusammenhänge später nicht mehr ganz entwirrbar. Der Editor sollte den Benutzer aber nicht völlig ohne Hilfe lassen. Die Beziehung 'Quelle - Autor - Text' bedarf in solchen Fällen in der Edition eines zumindest kurzen einführenden Kommentars, der etwas über Ausmaß und Bedeutung dieser Beziehung für die Entstehung des Textes aussagt. 4. Quellen als Hilfsmittel des Kommentierens Die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte eines Werkes wird durch die Gewißheit, daß vom Autor bestimmte Quellen benutzt wurden, erleichtert. Der Kommentar kann insbesondere manchmal den Zeitpunkt der Heranziehung einer Quelle im Verlauf des Entstehungsprozesses noch präzisieren, zumal wenn die Benutzung der Quelle nicht am Anfang stand, denn es lassen sich zuweilen innerhalb der Arbeitsmanuskripte eines Werkes noch Spuren des Quelleneinflusses nachweisen, woraus sich wiederum eine exaktere Datierung innerhalb der Werkgenese ergeben kann. Die vielfachen Erläuterungsmöglichkeiten, welche die Auswertung einer Quelle für den Einzelstellenkommentar bietet, können hier nicht generalisiert werden. Hingewiesen sei nur auf folgendes: Einzelne Gedanken und Vorstellungen können dem Leser zunächst originell oder fremd vorkommen, die Heranziehung der Quelle kann dann aber z. B. klären, ob diese damals verbreitet waren. Assoziationen, Metaphern und Vergleiche innerhalb der Quelle können vom Autor übernommen, ausgebaut beziehungsweise abgewandelt worden sein. Möglicherweise zeigt erst der Vergleich mit der Quelle, wie diese vom Leser zu verstehen sind. Sogar Wörter und Begriffe in einem Werk, die heute zunächst völlig verständlich erscheinen, können sich auf Grund der genaueren Betrachtung der Quelle als inhaltlich verändert erweisen, worauf der Editor ohne Kenntnis der Quelle vielleicht kaum gekommen wäre. Viele Fachtermini (Mesmerismus), geographische Namen (Rheinland), Pflanzennamen (Kuckucksblume), medizinische Termini (Nervenfieber) und Bezeichnungen aus dem gesellschaftlich-politischen Bereich, z. B. dem Bildungssektor, haben sich inhaltlich entscheidend gewandelt. Die Heranziehung der Quellen und unter Umständen deren Auswertung unter Rückgriff auf zeitgenössisches Wissen erleichtern die Arbeit am Stellenkommentar.

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5. Exkurs: Quellenauswertung als Mittel der Textkritik Ein Beitrag über die Quelle in der Edition muß auch etwas über die gelegentliche Bedeutung der Quelle für die Textkritik des Autortextes enthalten. Dies soll freilich nur am Rande erwähnt werden, denn es ist für die neugermanistische Edition selten von Bedeutung. Textkritische Fragen innerhalb einer lateinischen Überlieferung konnten unter Umständen durch Rückgriff auf die ältere griechische Behandlung des gleichen Stoffes gelöst werden. Oder: Ist in einer mittelhochdeutschen Legende eine Textstelle offenkundig verderbt überliefert, kann der Rückgriff auf die ältere lateinische Version helfen, das Richtige zu erkennen. So können Verderbnisse und Überlieferungen eines Textes mit Hilfe der Quellen berichtigt werden. Hier ist aber nun eines wichtig, was bisher kaum beachtet wurde: Ein mittelhochdeutscher Legendenautor konnte natürlich keine kritische Ausgabe seiner mittellateinischen Vorlage benutzen, sondern war mehr oder weniger auf das - heute nicht mehr greifbare - Exemplar angewiesen, das ihm zur Verfügung stand, d. h. auch Fehler seiner Quelle, z. B. in der Namensschreibung, mußten in seinen Text eingehen. Findet sich also in der allein erhaltenen späteren mittelhochdeutschen Überlieferung dieses Textes ein Fehler, der auch in älteren mittellateinischen Legendenhandschriften auftaucht, dann darf gerade er in einer kritischen Edition nicht wegkonjiziert werden. In der Neuphilologie tritt dieses Problem einmal dann auf, wenn hier die Überlieferungssituation ähnlich wie in der Mediävistik ist, nämlich daß originale Handschriften beziehungsweise autorisierte Drucke fehlen. Zum ändern - und dieser Fall ist häufiger - kann es bei Handschriften, die aus dem Nachlaß eines Autors ediert werden, Entzifferungsprobleme geben. Mehrfach habe ich z. B. bei der Transkription von Exzerpten eines Autors graphematische Doppeldeutigkeiten mit Rückgriff auf die exzerpierte Quelle beseitigen können. Auch dort, wo die Originale eines Textes verloren sind und der Text aus unzuverlässigen Abschriften oder Drucken wiedergewonnen werden muß, kann unter Umständen der Rückgriff auf eine bekannte Quelle des Autors für die Wiedergewinnung des originalen Wortlauts wichtig sein. Der Editor kann (sollte?) mit seiner Quellenermittlung, -auswertung und gegebenenfalls -Präsentation dem Literaturwissenschaftler die Arbeit erleichtem, wobei er ihm zunächst einmal Aufklärung über das Verhältnis des Autors zu seiner Quelle bzw. zu seinen Quellen verschafft. Der Literaturwissenschaftler kann auf Grund der vom Editor geschaffenen Basis sinnvoller fragen, inwieweit der Autor einer Quelle folgte oder warum er in welcher Intention von ihr abwich, wie sich z. B. schließlich seine dichterische Wahrheit zur historischen verhält. So wird die Intention einer Neuschöpfung sichtbar, und es wird erkennbar, inwiefern sich diese von den Intentionen vorangegangener Bearbeiter der Quelle, insbesondere aber der Quelle selbst unterscheidet. Aus der Analyse der Verwendung fremder Textpassagen und -elemente und aus dem Vergleich der einstigen und jetzigen Funktion ergeben sich neue Zugänge zum Verständnis eines Werkes und seines Autors.

Thomas Bein

Der Offene' Text - Überlegungen zu Theorie und Praxis

I.

Zwei Vorbemerkungen: Erstens: In meinem Beitrag werden mehr Desiderate formuliert und Fragen gestellt als Probleme gelöst. Ich spreche nicht nur über den offenen Text, mein Sprechen selbst wird notwendigerweise offen und vorläufig sein. Zweitens: Das Rahmenthema der Tagung, für die dieser Beitrag bestimmt war, lautete: 'Quelle - Text - Edition'. Wie fügt sich mein Beitrag hier ein? Ich befasse mich nicht mit dem unmittelbaren Verhältnis eines Textes zu der ihm mutmaßlich zugrundeliegenden Quelle und den editorischen Darstellungsproblemen dieses (Abhängigkeits-) Verhältnisses. Ich strapaziere den Quellenbegriff etwas: Von Offenheit' zu sprechen, macht nur Sinn, wenn man 'Geschlossenheit' dagegendenkt; und wenn man die Vorstellung eines Originals', eines Prätextes, eines Urtextes nicht radikal aufgeben möchte, dann ergibt sich aus den Polen 'Veränderbares' und 'Verändertes' ein vergleichbares Verhältnis, wie es zwischen 'Quelle' und 'Text' besteht - und damit auch vergleichbare editionstheoretische und praktische Probleme.

II.

Wenn von Offenen Texten' die Rede ist, dann wird man zunächst an Umberto Ecos einschlägige Arbeiten denken.1 Er hat - in auf den ersten Blick paradoxer Weise Vgl. Umberto Eco: Die Poetik des offenen Kunstwerkes. In: Ders.: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1973 [ital. Original: Mailand 1962, 1967], S. 27-59 und vgl. Umberto Eco in: Ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Leipzig 1990, S. 113-141. - Zur Offenheit': Moderne Künstler rechnen mit der 'Mitarbeit' des Rezipienten, legen ihre Kunstwerke bereits mit Blick auf diese Dialektik an. „Allerdings ist dies eine Erkenntnis, zu der die zeitgenössische Ästhetik erst nach dem Erlangen einer reifen kritischen Bewußtheit hinsichtlich der interpretativen Beziehung gekommen ist; frühere Künstler waren von dieser Bewußtheit noch weit entfernt" (S. 117). Dennoch sei bereits in der Antike bekannt gewesen, daß es notwendige Beziehungen zwischen Künstler, Kunstwerk und Rezipient gebe (S. 117). - Zum 'vierfachen Schriftsinn' im Mittelalter führt Eco aus,

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Thomas Bein

Texten dann Geschlossenheit zugesprochen, wenn sie eine spezifische Rezeption intendieren, aber gerade deshalb prinzipiell für jede Lesart offen sind; er hat Texten dann Offenheit zugesprochen, wenn der Autor von vornherein den Leser als zweiten Autor mitbedacht hat. Grundsätzlich spielt hier die Bedeutung des Lesers, der Lektüre eine zentrale Rolle: Kein Text ist festlegbar, jeder Text und sein Sinnpotential sind in Bewegung, verändern sich in der je individuellen Aneignung, wenn ein Text auch - jedenfalls nach Eco nicht beliebiger Deutung unterworfen ist - dafür sorgten bestimmte Textstrukturen. Thesen dieser Art sind entwickelt an modernen Texten, die ihren Ort in einer modernen Kulturwelt haben, an Dichtern, die das Verhältnis ihres Tuns zur Rezeption ihres Tuns reflektieren und diese Reflexion als ein poetologisches Element mit in ihren Text einfließen lassen, und zwar weiterreichend und grundsätzlicher, als es traditionelle Rhetorik immer schon getan hat. Stephane Mallarmes Weltprojekt Le Livre wäre der Offene Text' par excellence geworden. Der Livre war als „oeuvre pure", als Werk ohne Autor konzipiert. Der Livre sollte zum Spiel werden („instituer un jeu"). „Die Lektüre des aus Zeichen, Zahlen und Bildmetaphern bestehenden Buches war [...] als ein geistiges Würfeln und Kombinieren gedacht, als ein Spiel, das den Hasard ausgeschaltet, die Einzelinterpretationen als Zufall jedoch zugelassen hätte."2 Diese Differenzierung zwischen 'hasard' und 'Zufall' ist wichtig, sie betrifft auch die Fälle, die ich als Mediävist im Auge habe. Ein Text wird zum 'Spiel', aber wie jedes Spiel folgt auch dieses bestimmten Regeln. Obwohl es eine Buchedition der ,/vre-Fragmente gibt3, ist das Werk als solches freilich unedierbar im traditionellen Sinn, denn eine Edition würde stets eine bestimmte Partie des Spiels vorgeben - wie es bei fast allen unseren mediävistischen Editionen auch der Fall ist - mit nicht geringen Konsequenzen für das Geschäft der Deutung. Der Mediävist hat es natürlich mit anderen Texten als symbolistischen Sprach- und Textexperimenten zu tun. Er hat sich um alte Texte zu kümmern, mehr schlecht denn recht überliefert, die ihr Leben in einer anderen - vielleicht ganz anderen - Kulturwelt hatten. Eine Übertragung moderner Theorien muß mit Vorsicht und Umsicht erprobt werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, den Erkenntnisgegenstand messerscharf zu verfehlen. Die Rede vom Offenen Text' ist indes auch der Mediävistik nicht fremd. Jürgen Kühnel hat 1975 einen Aufsatz veröffentlicht, den er Der offene Text nannte. Er hat, ohne große Resonanz, gefordert, den Textbegriff den Epochen, um die es geht,

daß ein Text offen sei für bestimmte Deutungen, aber diese seien doch begrenzt und festgelegt (Enzyklopädien, Bestiarien, Lapidarien usw.): „Die Ordnung des Kunstwerkes ist die einer herrscherlichen und theokratischen Gesellschaft; die Leseregeln sind Regeln einer autoritären Führung, die den Menschen bei allen seinen Handlungen leiten, ihm die Ziele vorschreiben und die Mittel in die Hand geben" (S. 119). Josef Theisen: Endzeit des Buches? Betrachtungen zu Mallarmis Livre. In: Die neueren Sprachen 68 (NF 18), 1969, S. 365-372. Vgl. Jacques Scherer: Le Livre de Mallarme". Nouvelle odition revue. Paris 1977.

Der Offene' Text - Überlegungen zu Theorie und Praxis

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anzupassen; 'Text' sei nicht gleich 'Text'4, und die Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur zeige, daß ein Text in jener Zeit einen anderen Status gehabt habe als im 18., 19. oder 20. Jahrhundert. Kühnel hat den Offenen Text' als „begrenzt variable Textgestalt der volkssprachigen Texte des Mittelalters" im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und aufführungsbedingter Mündlichkeit bezeichnet.5 Der Diskussion im mediävistischen Lager wurden dann von Bernard Cerquiglini 1989 neue Impulse verliehen. Er versteht den mittelalterlichen Text nicht als Produkt, als 'produif, sondern als Prozeß. Die „ecriture" als „variance essentielle" löse den alten statischen Werk- und Textbegriff ab.6 Das Wesen mittelalterlicher Literatur bestehe in der 'variance', und jede traditionelle Buchedition würde gerade dieses Wesen verfehlen. Daher plädiert er schließlich für die PC-Edition, wie sie mit Hypertext-Programmen realisiert werden könnte. Die Vertreter der sogenannten 'New Philology' haben Cerquiglinis Gedanken dann aufgegriffen und zu applizieren versucht; auf die Reaktionen im altgermanistischen Lager komme ich später noch kurz zu sprechen. Ich breche jetzt die allgemeinen und forschungsgeschichtlichen Bemerkungen ab und wende mich einem konkreten 'Fall' zu, einem unter zahllosen anderen, versteht sich. Im Anschluß versuche ich zu abstrahieren und übergreifende Konsequenzen zu diskutieren.

III. Im lyrischen Genre ist die Offenheit' von Texten besonders Offen-sichtlich'. Und wie wenige andere Dichter bietet - aufgrund recht breiter Überlieferung Walther von der Vogelweide viel diskussionswürdiges Anschauungsmaterial.7 4

5 6 7

Jürgen Kühnel: Der „offene Text". Beitrag zur Überlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters (Kurzfassung). In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Heft 2. Hrsg. von Leonard Forster und Hans-Gert Roioff. Bern, Frankfurt a. M. 1976, S. 311321, hier: S. 312. Kühnel 1976, vgl. Anm. 4, S. 314. Vgl. Bernard Cerquiglini: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989, S. 54. Ich will hier auf einige markante Fälle hinweisen (und stelle einen Fall oben detailliert vor); Textgrundlage: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996. WvdV, 20 (L. 43,9): Ich hoere in so vil tagende jehen ist ein vierstrophiges Lied, das in sieben Hss. überliefert ist (B, C, E, F, O, a, s). Die Hss. repräsentieren überlieferungsgeschichtlich einen großen zeitlichen und regionalen Raum: vom Oberdeutschen bis zum Niederdeutschen (s), vom frühen 14. bis zum 15. Jh. Interessant ist, daß die Strophenreihenfolge (IIV) in allen Hss. die gleiche ist, daß wir aber außergewöhnlich viel Textvariation zu verzeichnen haben. WvdV, 25 (L. 48,12) zeigt Varianz in mehreren Bereichen. Fünf Hss. sind als Überlieferungsträger bekannt (A, B, C, n, e). C und e tradieren je fünf Strophen, die sich jedoch nicht nur in der Textsubstanz unterscheiden, sondern auch in der Reihenfolge der Strophenanordnung (C: I, II, III, IV, V; e: I, V, III, IV, II) und in der Autorzuweisung (e: Reinmar). Die Hss. A und B haben je

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Im folgenden stelle ich Ton 35 (Text nach der neuen Edition von Christoph Cormeau) vor. Ich präsentiere drei Fassungen (dies anders als in der Ausgabe), einmal Bestand und Folge nach Handschrift A, dann nach C und schließlich nach E (und teilweise O). Da es nur sehr geringe lexikalische Varianten gibt, habe ich darauf verzichtet, für die einzelnen Fassungen je eigene Texte herzustellen. Im Anschluß an die Textdarbietung übersetze ich die längste Fassung und gehe auf die übrigen nur knapp paraphrasierend ein. Die Überlieferung im Überblick: A: III, II, I B/C: I-V E: I, II, III, V, VI, VII

Strophenfolge und -bestand nach Handschrift A (Kleine Heidelberger Liederhandschrifi)

III Welt, du solt niht umbe daz zürnen, daz ich lönes man. trceste mich ein wenic baz, sich mich minnecllchen an. Du mäht mich wol pfenden und min heil erwenden: daz stet, vrowe, in dlnen henden.

II Du hast lieber dinge v/7, der mir einez werden sol. Welt, wie ich daz verdienen wil! doch solt du gedenken wol.

kürzere Versionen bewahrt: A: I, II, III, IV; B: I, III; n verzeichnet nur eine Strophe (IV). WvdV, 29 (L. 52,23) stellt ein sehr interessantes Phänomen dar, das ich ausführlich in meiner Habilitationsschrift diskutiert habe (Thomas Bein: 'Mit fremden Pegasusen pflügen.' Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. [Im Druck (erscheint voraussichtlich Ende 1997, Anfang 1998)]. WvdV, 30 (L. 53,25), in vier Hss. (A, C, D, N) überliefert, zeigt sich uns in drei verschiedenen Reihenfolgen (A: l, III, IV, V, II; C: I, II, V, III, IV; D/N: I, II, III, IV, V); hinzu kommt, daß Hs. D eine Tonvariante im jeweils 9. Vers einer jeden Strophe aufweist. Die sehr auffällige Überlieferung hatte bereits Karl Lachmann veranlaßt, über die Existenz zweier Lieder zu spekulieren (I, III, IV und I, V, II) - in seiner Edition druckte er freilich nur eine hs. Version ab: die der Hs. C, wobei er als Liedkern die Strophen I, III, IV ansah und die Strophen V und II als Erweiterung betrachtete. Weitere Fälle: WvdV, 40 (L. 64,13): unterschiedliche Reihung, beide sehr sinnvoll; WvdV, 44 (L. 69,1): unterschiedliche Reihung, beide sehr sinnvoll; WvdV, 84 (L. 112,35): 3 Strophen und eine Gelegenheitsstrophe?; WvdV, 86 (L. 114,23): 2 Hss. 3 Str.; l Hs. 5 Str.: Genese?; WvdV, 104 (KLD 62.VII): 5 Str. unter Walther, 3 Str. Walther von Mezze; interessant auch die Fälle in Hs. m (WvdV, 113-117): Auswahl durch m und Autorzuweisung.

Der Offene' Text - Überlegungen zu Theorie und Praxis 5 Obe ich ie getrcete fiioz von miner stcete, sit du mich dir dienen bcete. I Wie sol man geworfen dir, Welt, wilt du also winden dich? wcenest dich entwinden mir? nein, ich kan ouch winden mich. 5 Du wilt sere gähen, und ist ouch unnähen, daz ich dir noch sül versmähen.

Strophenfolge und -bestand nach den Handschriften B und C (Weingartner Liederhandschrift und Große Heidelberger Liederhandschrifi) l Wie sol man gewarten dir, Welt, wilt du also winden dich? wcenest dich entwinden mir? nein, ich kan ouch winden mich. 5 Du wilt sere gahen, und ist ouch unnahen, daz ich dir noch sül versmahen. II Du hast lieber dinge vil, der mir einez werden sol. Welt, wie ich daz verdienen will doch soll du gedenken wol, 5 Obe ich ie getrcete fuoz von miner stcete, sit du mich dir dienen bcete. III Welt, du soll niht umbe daz zürnen, daz ich lones man. trceste mich ein wenic baz, sich mich minneclichen an. 5 Du mäht mich wol pfenden und min heil erwenden: daz stet, vrowe, in dinen henden.

IV Ich enweiz, wie din wille ste wider mich; der mine ist guot wider dich, waz wilt du me, Welt, von mir wan höhen muot?

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Thomas Bein 5 Wilt du bezzer wurme, danne man dir gunne vröide und der gehelfen kunne? V Welt, tuo me des ich dich bitte, volge wiser Hute tugent! du verderbest dich da mitte, •wilt du minnen törenjugent. 5 Bitte die alten ere, daz si wider kere und aber dm gesinde lere.

Strophenfolge und -bestand nach den Handschriften E und O (Würzburger Liederhandschrift und Berliner Fragment (ohne Str. VII)) I Wie sol man geworfen dir, Welt, wilt du also winden dich? wanest dich entwinden mir? nein, ich kan auch winden mich. 5 Du wilt sere gähen, und ist auch unnahen, daz ich dir noch sül versmähen. II Du hast lieber dinge vil, der mir einez werden sol. Welt, wie ich daz verdienen wil! doch soll du gedenken wol, 5 Obe ich ie getrcete fuoz von miner stcete, sit du mich dir dienen bcete. III Welt, du soll niht umbe daz zürnen, daz ich lönes man. trceste mich ein wenic baz, sich mich minneclichen an. 5 Du mäht mich wolpfenden und min heil erwenden: daz stet, vrowe, in dinen henden.

V Welt, tuo me des ich dich bitte, volge wiser Hute tugent! du verderbest dich da mitte, wilt du minnen törenjugent.

Der Offene' Text - Überlegungen zu Theorie und Praxis 5 Bitte die alten ere, daz si wider kere und aber dm gesinde lere. VI Werlt, wie lange sol ich gern, du weist wol wes unde wä? du muost miner fröide enpern, mir enwerde buoz aldä. 5 Get heim, hie ist gesungen, wirde ich hie verdrängen, so beslüzze ich mine zungen. VII Ich han dir gedienet so, Werlt, daz ich michs niht schäme, swie du mich mit lone machest fro, dir geschiht vil llhte alsame. 5 Ich wölte oc ein vil deine, weistu waz ich meine? wider liebe liep, daz eine.

Übertragung ins Neuhochdeutsche i Wie soll man dir dienen, Welt, wenn du dich so windest? Glaubst du, daß du dich mir entwinden kannst? Nein, auch ich kann mich winden. Du willst schnell eilen, aber es ist noch lange hin, bis ich dich verschmähe. II Du hast viele schöne Dinge, von denen mir eines zuteil werden soll. Welt, wie ich mich darum bemühen werde! Du sollst auch darüber nachdenken, ob ich jemals auch nur ein wenig von meiner Beständigkeit gewichen bin, seit du mich batest, dir zu dienen. III Welt, du sollst nicht deshalb zürnen, daß ich Lohn einfordere. Tröste mich ein wenig besser, sieh mich freundlich an.

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Thomas Bein Du kannst mir ein Pfand abnehmen und mein Glück verkehren: Das liegt, meine Herrin, in deinen Händen, IV (aus B/C) Ich weiß nicht, wie dein Wille mir gegenüber ausschaut; meiner dir gegenüber ist gut. Was willst du mehr, Welt, von mir als 'hohen Mut' Willst du noch größere Freude, als die, die man dir gönnt und zu der man dir verhelfen kann? V Welt, tu mehr, um was ich dich bitte, folge dem Rat kluger Leute! Du stürzt dich ins Verderben, wenn du die Jugend der Toren wertschätzt. Bitte die alte 'Ehre', sie möge zurückkommen und erneut dein Gesinde unterrichten.

VI Welt, wie lange soll ich begehren, du weißt schon, was und warum/wo? Du mußt auf meine Freude verzichten, wenn da nicht bald Abhilfe geschaffen wird. Geht nach Hause, hier hat es sich ausgesungen. Wenn ich hier weggedrängt würde, schlösse ich meinen Mund. VII Ich habe dir in einer Weise gedient, Welt, daß ich mich dessen nicht zu schämen brauche. Sobald du mich mit Lohn erfreust, wird es dir leicht genauso ergehen. Ich will auch nur wenig. Weißt du, was ich meine? Freude um Freude, nur das.

Fünf Hss. repräsentieren drei verschiedene Textfassungen. Die lexikalischen Varianten sind, wie gesagt, gering. Strophenbestand und -reihung hingegen gehen weit auseinander. Die relativ frühe Hs. A bewahrt drei Strophen (III, II, I); die chronologisch folgenden Hss. B und C präsentieren ein fünfstrophiges Lied (I, II, III, IV, V); Hs. E, gleichfalls später entstanden, läßt Str. IV aus, weist aber zwei andere auf (VI, VII); so auch O (zwar fehlt hier Str. VII, dies aber mutmaßlich nur wegen des Fragmentcharakters), mit E verwandt, aber sehr viel früher als alle anderen Hss. entstanden (noch aus dem 13. Jh.). Damit ist die Vorstellung eines allmählichen Anwachsens eines Urliedes

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ausgeschlossen oder doch stark relativiert. Es hat bereits in der frühesten Phase der uns heute noch vorliegenden Überlieferung eine Kurz- und eine Langfassung gegeben, und das häufig anzutreffende Urteil von den späten Überlieferungszeugen, die zum Ausund Abschweifen neigten (wie E), trifft hier nicht zu. Betrachten wir nun die einzelnen Fassungen, um entscheiden zu können, ob sie Regeln folgen beziehungsweise ob sie unseren Rezeptionsregeln zuwiderlaufen. Zunächst Fassung A: Das Lied setzt ein mit einer Anrede an die Welt: Das Ich fordert Lohn ein und legt sein Heil in die Hände der vrowe, also der Frau Welt. In der zweiten Strophe gibt das Ich seine Dienstfertigkeit und Treue zu erkennen: Dem eingeforderten Lohn wird angemessener Dienst gegenübergestellt. Die dritte Strophe ist von Vorwürfen an die Welt geprägt: Sie verhalte sich zu wankelmütig, versuche, sich dem Ich zu entziehen, doch das Ich - damit endet das Lied - wird der Welt weiter auf der Spur bleiben. Die -Fassung bietet mit ihren drei Strophen eine gut lesbare, sinnvolle Folge. Die fünfstrophige B/C-Fassung setzt mit den drei aus A bekannten Strophen ein (übernimmt sie wie eine Quelle?); diese jedoch zeigen eine andere Reihung: Die Vorwürfe stehen zu Beginn, es zeigt sich ein selbstbewußtes, kämpferisches Ich, das in der zweiten Strophe seine Qualitäten benennt und in der dritten explizit Lohn einfordert. Die vierte Strophe fährt mit einem Räsonnieren über die Grunddisposition der Welt fort; das Ich benennt deutlich seine Leistung für die Welt, nämlich für Freude und Hochgestimmtheit gesorgt zu haben. Die fünfte Strophe enthält ein neues Thema, das nicht unmittelbar zu den übrigen Strophen zu passen scheint. Das Ich fordert die Welt auf, wieder der alten ere zu ihrem Recht zu verhelfen und sich nicht an falschen Leuten zu orientieren. Damit endet das Lied anders oder doch sehr viel allgemeiner, als es begonnen hat; die eher persönliche Auseinandersetzung Ich-Welt mündet in eine allgemeine Welt-Didaxe. Die E/O-Fassung beginnt wie die B/C-Fassung: Vorwurf und kämpferisches Ich (I), Dienstbereitschaft und Qualitäten des Ich (II), Lohnforderung (III). Nun ist die WeltDidaxe angefügt, d. h. die Perspektive wird erweitert. Neu sind die Strophen VI und VII. Die sechste Strophe verengt die Perspektive wieder auf das Ich: Es fragt, wie lange es noch auf Lohn warten müsse, und kündigt Gegenmaßnahmen an: Es werde aufhören zu singen. Damit wird der zuvor noch allgemein gehaltene Dienst konkretisiert: Er ist Sangeskunst.8 Die siebte, abschließende Strophe wiederholt pointiert die Lohnforderung: liepfür liep ist die Devise, Gegenseitigkeit wird eingefordert. Alle drei Fassungen sind, denke ich, mögliche Texte. Es gibt keine textlogischen Probleme, die gegen Bestand und Reihenfolge sprechen würden. Es gibt keine Pronomina Vgl. dazu auch Thomas Bein: Das Singen über das Singen. Zu Sang und Minne im Minnesang. In: 'Aufführung' und 'Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996, S. 67-92.

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an 'falscher' Stelle, keine deiktischen Hinweise, die eine Folge festlegen würden. Struktur und Textsubstanz sind - wie in Mallarmes Livre? - von einer Art, die Text'Sinn' in keiner Variation zerstört oder unmöglich macht, der 'hasard' ist ausgeschaltet, der Zufall nicht.

IV.

Es fragt sich nun, wie die Literaturwissenschaft mit einem solchen Phänomen umgehen soll. Die traditionelle Richtung, im 19. Jh. begründet, war (und ist teilweise auch heute noch) bemüht, aus den drei Fassungen die eine ursprüngliche herauszuarbeiten und zu edieren, gleichsam die 'Quelle' für die Variationen herzustellen. Die mutmaßlich sekundären und dann nicht mehr autorisierten Strophen wurden in Apparate oder Anhänge verbannt. Der Offene' Text war als solcher nicht vorgesehen. Die grundsätzliche editionstheoretische und -praktische Neubesinnung in den 70er Jahren (vor allem die Lyrik betreffend) führte dazu, die Suche nach dem originalen Wortlaut eines Textes weitgehend einzustellen und sich auf das zu beschränken, was überliefert ist. Präsentiert wurde dennoch fast durchweg stets ein Text, eine Fassung, die sodann Grundlage für Interpretationen aller Art wurde. Bernard Cerquiglini hat - wie anfangs angedeutet - diese Form der Edition radikal in Frage gestellt und für die elektronische Edition plädiert, wenngleich man auch auf einem Bildschirm immer nur eine Fassung wahrnehmen kann. In Buchform, aber immerhin vom Prinzip her Cerquiglini umsetzend, hat 1989 Hubert Keinen eine Art experimenteller Edition vorgelegt; mit ihr hat er versucht, die 'mouvance' mittelalterlicher Texte qua synoptischer Anordnung präsent zu halten9, und hat damit eine 'historische Edition' im Sinne Kühnels vorgelegt.10 Es fragt sich nun, ob man diese Wege weitergehen soll, ob wir damit den mittelalterlichen Texten und ihrem internen und externen Sinnpotential gerechter werden. Eine erste und bis heute die einzige maßgebliche Antwort auf die poststrukturalistischen Ideen von Cerquiglini und den Vertretern der 'New Philology' stammt von Karl Stackmann.11 Er hat zwar einerseits die Ideen als diskussionswürdig gelobt und auch eine Reihe von Berührungen mit philologischen Innovationen aufgeführt, sich andererseits aber doch vehement gegen die mehr oder weniger radikalen Forderungen 9

Vgl. Hubert Meinen: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989; dazu meine Rezension in: ZfdPh 110, 1991, S. 437-443. 10 Vgl. Kühnel, 1976, vgl. Anm. 4, S. 318: „Die 'historische Edition' sollte [...] möglichst nahe an die mittelalterlichen Ueberlieferungsverhältnisse heranführen. Editorisches Ziel wäre die Offenlegung der ganzen Breite und Vielfalt der mittelalterlichen Ueberlieferung, die Dokumentation des Offenen Textes'". 1 ' Vgl. vor allem Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 398-427, hier bes. S. 419.

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editionspraktischer Art gestellt. Er kritisiert, daß Cerquiglini das eine Extrem (Suche des Urtextes) durch ein anderes ersetze, nämlich durch die Festlegung des Editors auf einen prinzipiell instabilen Text. Nun wäre es einfach zu sagen, man möge doch auf die Mitte der beiden Extreme zusteuern. Vielleicht liegt dort in der Tat eine adäquate Lösung. Es scheint mir jedoch nötig zu sein, zuvor noch einige Problemkomplexe näher aufzuarbeiten. Dazu zählt vor allem die Begrifflichkeit Offen'/'geschlossen', 'stabil'/'instabil' bezogen auf mittelalterliche Texte.

V.

Folgendes ist zu diskutieren: l. Kulturtechnik Stehen wir heute - um es pointiert zu formulieren - nur deshalb so vielen Textvarianten gegenüber, weil es im Mittelalter noch keine maschinellen Kopiergeräte gab? Oder hat die Varianz (immer? auch?) poetologisches Gewicht? Sähe die mittelalterliche Textkultur mit Kopiergeräten grundsätzlich anders aus? Diese Fragen sind nicht hie et nunc zu beantworten. Einer Beantwortung vorangehen müssen umfassende Untersuchungen zur Textvarianz an sich. Wir müssen ein noch deutlicheres Bild davon bekommen, welche Arten von Varianzen in der Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur begegnen. Wir kennen ja Fälle, in denen ein Text über mehrere Jahrhunderte erstaunlich konstant überliefert wird; wir kennen gleichermaßen Fälle, die genau das Gegenteil repräsentieren. Wir müssen genauer erforschen, in welchen Textbereichen welche Typen von Varianz und auch Konstanz begegnen, um auf breiter Basis besser entscheiden zu können, inwieweit Varianzen kulturtechnischer und inwieweit textkultureller Natur sind. Der Bereich der Performanz ist dabei wesentlich. Christoph Cormeau hat in der Einleitung zur neuen Walther-Ausgabe, deren Erscheinen zu erleben ihm nicht mehr vergönnt war, geschrieben: „Aus verallgemeinerbaren Beobachtungen [...] ist zu schließen, daß dem Vortrag immer eine gewisse Variabilität eigen ist. Das heißt für den literarischen Text, daß seine ursprüngliche Existenzform nicht auf die endgültige Gestalt, sondern auf einen Raum von Variation - Anpassung des Wortlauts, Auswahl, Ergänzung als Reaktion auf veränderte Situationen - ausgerichtet ist."12 Dies zielt im engeren Sinn auf den poetologischen Status mittelalterlicher Lyrik ab. Wir müssen allerdings noch klarer zu differenzieren versuchen, wo Poetologisches und wo Überlieferungstechnisches den primären Grund für Variation darstellt. Die gerade in den letzten Jahren vorangetriebenen Forschungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sollten für

12

Walther von der Vogelweide 1996, vgl. Anm. 7, S. XV.

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derartige Fragen dienstbar gemacht werden.13 Und es wird dann auf Art und Intention der Edition ankommen, wie die Varianzen dokumentiert werden. Mit Fragen der Kulturtechnik verbunden sind solche nach dem Stellenwert von Varianzen für den Textproduzenten und -rezipienten. 2. Produzent - Text, Rezipient - Text Wie sieht das Verhältnis des Autors zu seinem Text aus? Wie sehr wacht er über das, was er verfaßt; wie sehr ist er darauf bedacht, daß sein Text keine Veränderung erfährt? Und wie steht dazu der Rezipient? Ist für den mittelalterlichen Literaturkonsumenten ein Text Offen'? Ist es ihm gleich, ob er Walthers Lied als drei-, fünf- oder sechsstrophige Fassung präsentiert bekommt? Weiß er überhaupt, daß es mehrere Fassungen gibt? Weiß er, welche auf Walther selbst zurückgeht/-gehen und welche von Vortragenden verändert wurden? Das sind - ich weiß es sehr genau - Fragen, die man nur schwer beantworten kann, da uns zeitgenössische Quellen weitgehend fehlen. Vielleicht aber haben wir auch noch nicht angestrengt genug gesucht oder einfach den Blick für Fragen wie diese bei der täglichen philologischen Arbeit nicht geschärft. Es ist immerhin zu erinnern an das Philobiblon des Ricardus de Bury (14. Jh.), wo Bücher sprechen können und panische Angst vor Veränderung äußern. In gewisser Weise ist Ricardus' Text eine mittelalterliche 'Antwort' auf die Dekonstruktion: Der Text wird hier als ein ursprüngliches, intentional festgelegtes, geschlossenes Ganzes festgeschrieben, das sich vehement gegen seine 'Dekonstruktion', gegen seine Auflösung in viele Lektüren und Aneignungen wehrt.14 Hier mag auch das Zeugnis des Caesarius von Heisterbach aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, also etwa 100 Jahre vor Richard, für sich sprechen. Caesarius hat nämlich in einem Brief seine Schriften verzeichnet, gleichsam sein 'Werk' katalogisiert. Zu Beginn beklagt sich Caesarius, daß einzelne seiner Schriften ohne sein Wissen abgeschrieben und verfälscht worden seien.15 Heinrich Seuse hat rund 100 Jahre später ganz vergleichbare Nöte und Sorgen.

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Vgl. Paul Zumthor: Die performance. Mündlichkeit und Schrift. In: P. Z.: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Klaus Thieme. München 1994, S. 35-58 [frz. Original: La poosie et la voix dans la civilisation mediovale. Paris 1984]; Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; 'Aufführung' und 'Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996. Vgl. Riccardo da Bury: Philobiblon. Edizione critica a cura di Antonio Altamura. Con VIII tavole fuori teste. Napoli MCMLIV, S. 88, Z. 159-187. Vgl. weiter Helmut Presser: Das Buch vom Buch. Mit einer Übersetzung des Philobiblons von Lutz Mackensen und einer Bibliographie von Hans Wegener. Bremen 1962. Vgl. Anton E. Schönbach: Studien zur Erzählungsliteratur des Mittelalters. Tl. 4: Über Caesarius von Heisterbach. I. Wien 1902. (Sitzungsberichte der Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Classe. CXLIV), S. 5f.

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In der Vorrede zu seinem Büchlein der ewigen Weisheit gibt er davon Kunde, daß durch dumme Schreiber Gestalt und Gehalt der Bücher arg gelitten hätten.16 Diese und noch einige andere Dokumente17 belegen eine Sorge um Textkonstanz, die Warnung vor Textvariation und -aneignung durch unverständige Schreiber oder gar böswillige Rezipienten, die Angst vor dem Plagiat und der falschen Text-Namen-Zuordnung. Es sind dies Einzeldokumente, Bruchteile aus dem Ganzen der Schriftkultur von drei oder vier Jahrhunderten. Diese Relation muß stets präsent bleiben. Wir werden diese Texte aber trotzdem als Zeugnisse eines Metadiskurses ernst nehmen dürfen und ernst nehmen müssen; sie sind uns Hinweise auf das (Selbst-)Verständnis derer, die - in einem weiten Sinne gefaßt - aktive Teilnehmer eines (schrift-)literarischen Kultursystems sind. Zu erinnern ist aber auch an Walther, der seine Lieder gerne anderen überläßt (habe ime wis und wort/mit mir gemeine: lobe ich hie, so lobe er dort; 30 I; L. 53,25). Ein schönes Lied darf- so die Aussage - gerne zu verschiedenen Gelegenheiten von unterschiedlichen Interpreten verwendet werden. Die Lösung eines Textes von seinem Autor ist - schaut man auf die 'Praxis' mancher Werbung - im sogenannten Botenlied indirekt im Medium des Liedes selbst vertextet; denn wenn man - und vielfach ist das ja der Fall - den Sang als den eigentlichen 'Dienst' betrachtet und wenn der Dienst der Dame über einen Boten angetragen wird, dann - so läßt sich folgern - wird der Bote mit dem Sang, mit dem Lied, mit einem Ausschnitt Kunst auf die Reise zur Dame geschickt. Ein pointiertes Beispiel bietet ein Lied, das in der Überlieferung teils Rudolf von Rotenburg, teils Neidhart und teils Walther von der Vogelweide zugewiesen wird (Ton 101: Waz ob mich ein böte versumte gare? / ich \vil me dan tusent senden dare. / dazs ir bringen / disen vil süezen sanc. /sos in schone singen, /so wirt mir doch ein habedanc.} Die Tätigkeit des Boten wird eindeutig im Singen eines Liedes, eines Textes gesehen. Der Autor überantwortet seinen Gesang anderen und muß hoffen, daß er einigermaßen schone bei denen ankommt, für die er bestimmt ist.18

16

17 18

Vgl. Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte hrsg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907, S. 4, Z. 1-8. Vgl. Bein [im Druck], vgl. Anm. 7. Es ist selbstverständlich zu bedenken, daß wir das Lied nicht als 'sachliches' Zeugnis für eine kulturtechnische Praxis ansehen können; dazu ist der geschilderte Vorgang zu sehr eingebunden in eine literarische Situation, die ihrerseits determiniert ist durch andere literarische Situationen (zu erinnern ist daran, daß das Botenlied ein Texttyp mit konstanter Tradition ist). Man könnte das Lied also als intertextuelle Entgegnung auf den bekannten Botenlied-Typ lesen und bliebe dann (bzw. wäre dann erst recht) in einer geschlossenen literarischen Welt. Dagegen aber gibt es Widerstände, die in der Konkretisierung des Botendienstes zu sehen sind. Diese Konkretisierung (singen, lief, sanc) verweist auf die Praxis dessen, der darüber gerade singt; der Bote wird nicht mehr definiert als derjenige, der Inhalte transportiert, sondern er ist hier jemand, der über eine Tätigkeit definiert ist: über das Singen, das Aufführen von - fremder - Dichtung. In diesem Sinne bricht die literarische Welt auf, und in diesem Sinne kann der Text als zumindest mittelbares Zeugnis für eine Literaturpraxis betrachtet werden, zu der ein Unterwegssein von Texten gehört.

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Thomas Bein

Es sollte eine wichtige Aufgabe fiir die Zukunft sein, solcherart textreflexive Dokumente aufzuspüren und auszuwerten19, und zwar die Volkssprachen übergreifend. Wir sollten dann eher in der Lage sein, Variationen, Fassungen, Versionen zu kategorisieren und ihren Stellenwert zu beschreiben. 3. Der Literaturwissenschaftler und die Varianz Schließlich muß meines Erachtens neu diskutiert werden, was eigentlich das oder doch ein vorrangiges Erkenntnisziel des Literaturwissenschaftlers, hier des Mediävisten, sein soll: Will er zurück in die Zeit der Genese eines Textes? Will er wissen, was der ureigenste Text des Dichters war, bevor er in die Welt und damit in die Varianz entlassen wurde? Oder will er wissen, wie ein Text gelebt hat, wie, wo und warum man ihn konserviert hat? Damit im Zusammenhang stehen Fragen nach den Schlüssen, die aus der Textanalyse gezogen werden, Schlüssen, die zum Teil ja weite Bereiche der Kultur- und Sozialgeschichte berühren. Kommen wir noch einmal kurz auf unseren Beispielfall zu sprechen. Die traditionelle Walther-Philologie hat bislang nur eine Fassung (in den Editionen Karl Lachmanns, Carl von Kraus', Friedrich Maurers) zur Kenntnis genommen und interpretiert; diese Interpretation fand dann einmal mehr, einmal weniger modifiziert Eingang in sogenannten 'Gesamtwürdigungen' beziehungsweise Darstellungen und Deutungen von Waltherschen Texttypen. Die anderen Fassungen mit je eigenen Sinnakzenten blieben unberücksichtigt beziehungsweise hätten nur bei einer anderen editorischen Entscheidung Berücksichtigung gefunden. Einmal mehr zeigt sich hier die fatale Abhängigkeit des Literarhistorikers vom Editor.20 Und ich möchte noch etwas radikaler fragen, ob es ein adäquates Herangehen an Phänomene wie den Minnesang ist, wenn man Autoroeuvres in Form von Bucheditionen studiert oder wenn man gar größere Textsammlungen wie MF als (ja moderne!) Sammlung analysiert. Man geht so an der eigenen historischen Existenzform der Texte vorbei; so, wie ein Philologe, hat kein mittelalterlicher Mensch die Texte erfahren. Der Stellenwert von Liedern, Sangsprüchen, Epen, Romanen im Kultursystem der Zeit kann leicht fehlgedeutet werden. Man müßte - als Experiment - einmal versuchen, das Repertoire für eine literarische Sequenz an einem Hof zu rekonstruieren: hohe Minne, Obszönes, Komisches, ein Schwank, ein Artusroman, schließlich ein besinnlicher Marienleich zum Abschluß. So mag wohl die Realität ausgesehen haben - aber freilich: Darüber wissen wir nichts! Wir wissen aber immerhin, daß es keine MF-Ausgabe gab, keine Lachmannsche, noch weniger von Kraussche Walther-Ausgabe, kein Lachmannsches Nibelungenlied, keinen Lachmannschen Parzival. Was wir wissen, ist ferner, daß Ende des 13. Jahrhunderts und dann vor allem im 14. Jh. Textsammlungen angelegt wurden, Sammelcodices, textkulturelle Gedächtnisse, denen wir weithin ausschließlich unsere Kenntnis der Texte verdanken. Diese Sammlungen - vergleicht man sie einmal miteinander - präsentieren uns 19 20

Vgl. weitere Beispiele bei Bein [im Druck], vgl. Anm. 7. Vgl. Karl Stackmann: Über die wechselseitige Abhängigkeit von Editor und Literarhistoriker. Anmerkungen nach Erscheinen der Göttinger Frauenlob-Ausgabe. In: ZfdA 112, 1983, S. 37-54.

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gleichfalls als Sammlungen eine Offene' Textkultur: Denn die Walther-Sammlung in A ist eine andere als die in B, die sich wieder von C und E unterscheidet usw. Den Sammlern und Auftraggebern, auch den Rezipienten der Sammlungen, war Walther immer nur im geschlossenen Raum der jeweiligen Sammlung eine feste Bezugsgröße. Erweitert man die Perspektive, dann erkennt man viele 'Walther', viele Parzival, viele (Euvres, die alle ihre 'eigenen' Autoren besitzen. Wenn wir vom offenen Text reden, dann dürfen wir den Textbegriff auf keinen Fall beschränken auf den Einzeltext (Lied, Strophe, epischer Text), sondern müssen ihn auf das Textensemble ausdehnen, das im Mittelalter kodifiziert, zum Teil auch kanonisiert wurde. Am Ende sei - was vielleicht provokativ klingt oder ist - einer Literaturgeschichte der Rezeption, einer Literaturgeschichte der Performanz das Wort geredet, die zumindest von ihrem Ansatz her bemüht wäre, den 'Aggregatzustand' der Texte deutlich zu machen, das Changieren zwischen 'warm' und 'kalt', 'lebendig' und 'tot', 'mündlich' und 'schriftlich' über die Dokumentation von Offenheit' sichtbar oder wenigstens erahnbar zu machen.21

21

Vgl. Horst Wenzel, vgl. Anm. 13, S. 242.

Johannes Fournier

Das St. Pauler Evangelienreimwerk Authentizität der Evangelien und Auflösung der Form

Im 13. und 14. Jahrhundert werden im mitteldeutschen Sprachgebiet verschiedene Antworten auf das Problem einer ,,nationale[n] Aneignung der Bibel"1 in der Volkssprache durchexerziert. Diese Antworten bedienen sich ganz unterschiedlicher Formen: Neben Bibeldichtung und Bibelparaphrasen, wie den Werken des Deutschen Ordens oder der Christherre-Chronik, und Bibelprosa, wie sie schon früh im Evangelienbuch für Matthias Beheim verwandt wird, tritt auch das unvermittelte Nebeneinander von Vers und Prosa, das sich z. B. im Berliner Evangelistar zeigt. Besonders bemerkenswert ist das Formexperiment des Mahrenberger Psalters mit seiner „einzigartigen Verwendung von Reimprosa"2. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit einem weiteren Formexperiment, dem sogenannten St. Pauler Evangelienreimwerk, das, sehr zugespitzt formuliert, Prosa in Versform bietet. Überliefert ist der Text nur in einer Pergamenthandschrift aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die zwar nicht das Autograph des Übersetzers darstellt, doch dem Original sehr nahe stehen dürfte.3 Diese Handschrift wird heute in der Bibliothek des Benediktinerstifts St. Paul im Kärntner Lavanttal aufbewahrt.4 Obwohl die Handschrift schon im Jahr 1840 in Moriz Haupts Altdeutschen Blättern von Hoffmann von Fallersleben kurz beschrieben wurde,5 hat die altgermanistische Forschung bislang kaum Notiz vom St. Pauler Evangelienreimwerk genommen. Die einzige Monographie zu diesem Gegenstand stammt aus der Feder Anton E. Schönbachs und bietet neben einer ausführlichen Beschreibung der Handschrift und ihrer 1

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Konrad Burdach: Die Nationale Aneignung der Bibel und die Anfänge der germanischen Philologie. In: Festschrift Eugen Mogk zum 70. Geburtstag, 19. Juni 1924. Halle/Saale 1924, S. 231-334. - Für die stete Bereitschaft zur Diskussion meiner Thesen danke ich Herrn Prof. Dr. Christoph Gerhardt, Trier. Nigel F. Palmer: Mahrenberger Psalter. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. Bd. 5. Berlin/New York 1985, Sp. 1160-1162, hier Sp. 1161. Anton E. Schönbach: Mittheilungen aus altdeutschen Handschriften. Sechstes Stück: Über ein mitteldeutsches Evangelienwerk aus St. Paul. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Klasse. 137,5, 1897 [Nachdruck: Hildesheim/New York 1976], S. 9. Signatur: Codex St. Paul 53/1, zuvor 25.2.37, zuvor XXV c/53, zuvor XXV d/10. Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Die vier Evangelien. In: Altdeutsche Blätter 2, 1840, S. 83f.

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Sprache sowie Abdrucken der Prologe, die den Evangelienübertragungen vorangestellt sind, ein umfängliches Glossar zum Wortschatz des Evangelienreimwerks. Schönbachs Ausführungen blieben in der Forschung jedoch fast ohne jede Resonanz; allein Friedrich Maurer ging in seinen Untersuchungen zur mitteldeutschen Bibelübersetzung vor Luther kurz auf Schönbachs Hauptthese ein, um dessen Auffassung zu widerlegen, daß das St. Pauler Evangelienreimwerk gemeinsam mit dem Evangelienbuch für Matthias von Beheim auf eine mitteldeutsche Prosavorlage zurückgehe, die versifiziert worden sei.6 Das geringe Interesse der Altgermanistik dürfte nicht zuletzt darin seinen Grund finden, daß eine Ausgabe des St. Pauler Evangelienreimwerks bislang fehlt. Schönbach selbst, der eine Edition des ganzen Textes als wünschenswert erachtete, aber befürchtete, angesichts des großen Umfangs der Übersetzung sei „eine vollständige Publication kaum [zu] erhoffen"7, verzeichnet in seinem umfangreichen Glossar zwar vielfach die lateinischen Parallelstellen aus der Vulgata. Doch fällt es aufgrund einer solch fragmentarischen Darbietung des Textes schwer, ein Bild der eigentlichen Übersetzungsleistung im St. Pauler Evangelienreimwerk zu entwerfen. Dabei ist diese Leistung eher leicht zu rekonstruieren, da zum einen die Vulgata als alleinige Quelle der Übersetzung in Betracht kommt. Diese ist im Grunde genommen fest und keinen wesentlichen Textveränderungen unterworfen. Zum anderen stellt die unikale Überlieferung des Evangelienreimwerks den Übersetzungsvergleich nicht vor Probleme, wie sie sich bei der Untersuchung spätmittelalterlicher Literatur dann ergeben, wenn die Heranziehung einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen auf verschiedenen Textstufen zur vielfältig kontaminierten Überlieferung führt. Ohne also ähnliche Schwierigkeiten in Rechnung stellen zu müssen, kann ein Vergleich von Quelle und Text den Charakter des St. Pauler Evangelienreimwerks als Formexperiment näher beleuchten. Dafür möchte ich zunächst Eigentümlichkeiten der (lexikalischen) Stilistik und der Textsyntax erörtern, bevor ich abschließend ein Problem aus dem Bereich der editorischen Darbietung schildere.

I. Zur (lexikalischen) Stilistik Das St. Pauler Evangelienreimwerk überträgt alle vier Evangelien vollständig in 14.756 Reimpaarverse. Neutestamentliche Heilsgeschichte wird also nicht in einer synoptisch harmonisierenden Auswahl vorgeführt, wie sie seit der Spätantike das gesamte Mittelalter hindurch vielfach bezeugt ist.8 Im Evangelienreimwerk wird die Vulgata Vers für 6

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Friedrich Maurer: Studien zur mitteldeutschen Bibelübersetzung vor Luther. Heidelberg 1929 (Germanische Bibliothek. Zweite Abteilung: Untersuchungen und Texte. 26), S. 52-57. Schönbach 1897, vgl. Anm. 3, S. l.

Vgl. Dieter Kartschoke: Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfrid von Weißenburg. München 1975; Stefan Sonderegger: Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzung in Grundzügen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. von Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan

Das St. Pauler Evangelienreimwerk

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Vers übertragen, und zwar ohne daß sich die so oft in spätmittelalterlicher Übersetzungsliteratur beobachteten Kürzungen, Erweiterungen, Umstellungen und Erläuterungen in größerem Umfang finden. Dies bedeutet offensichtlich, daß der Versifikator darum bemüht war, die in der Vorlage enthaltene Information in seiner Übertragung weder zu beschränken, noch seinen Text der Quelle gegenüber zu ergänzen.9 Somit dürfte das Si. Pauler Evangelienreimwerk eher an die Seite der spätmittelalterlichen Prosabibelübersetzungen als an die der volkssprachlichen Bibeldichtungen gestellt werden.10 Allerdings unterscheidet sich die Übertragungsweise des St. Pauler Evangelienreimwerks notwendigerweise von derjenigen einer schlichten Prosaübersetzung, von der behauptet werden durfte: Uz der byblien ist dise ubirtragunge in daz mittelste dutsch [seil.: stilus mediocris] mit einualdigen slechtin werten uz gedrukit. zuo glicheit des einualdigen textes.1' Um die Evangelien überhaupt in deutsche Reimpaarverse übertragen zu können, war der Dichter nämlich darauf angewiesen, die Forderungen von Reim und Rhythmus durch Zusätze und Auslassungen zu erfüllen. Dies konnte ihm den Vorwurf einbringen, die Wahrheit zu verfälschen, wie es z. B. der oftmals zitierte Prolog zur Wenzelsbibel zeigt:12 Sonderegger. 1. Halbband. Berlin/New York 1984 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Hrsg. v. Gerold Ungeheuer, Herbert Ernst Wiegand. 2.1), S. 129-185, hier S. 151-158. Zur theoretischen Rechtfertigung dieser Kunst: Walter Haug: Literaturtheorie des deutschen Mittelalters. 2., überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1992, S. 18f., 29-42, passim. 9 Nur dem Zufall der Überlieferung ist es anzulasten, wenn der Text des Evangelienreimwerks erst mit der Übertragung von Mt 17,4 einsetzt. Selbst die Auslassung dreizehn weiterer Verse - eine verschwindend geringe Zahl angesichts des großen Umfangs der Übersetzung - spricht keineswegs gegen die prinzipielle Treue zur Vorlage. Zum einen können die über das ganze Werk verteilten Auslassungen vorlagebedingt sein, wofür etwa eine Auslassung wie die von Mt 23,14 spricht, da dieser Vers nach Ausweis der besten Vulgata-Uberlieferung auf einen späten Einschub nach MC 12,40 zurückgeht. Andererseits können manche Auslassungen wohl - bei vorsichtiger Interpretation - dem Wunsch entsprungen sein, die Textkohärenz nicht zu stören (das dürfte z. B. für Mt 25,2, Lc 16,12 und 1,24 zutreffen). Auch Zusätze zum reinen Bibeltext können vorlagebedingt sein, wie V. 1346-1348 zu Mt 24,41 zeigen: Ihnen liegt eine Lesart zugrunde, wie sie auch Handschriften aus London [Z], Fulda [F] und Split [P] bieten (die Siglen nach: Biblia Sacra 1983, vgl. Anm. 16). I ° Der grundlegende Unterschied zu einer Bibelparaphrase wie bspw. der Christherre-Chronik besteht darin, daß das St. Pauler Evangelienreimwerk nur einer Quelle folgt und deren Disposition treu beibehält. Eingriffe in die Makrostruktur der Quelle, durch die die vorgegebene Gliederung bewußt umgestaltet werden soll (vgl. Monika Schwabbauer: Profangeschichte in der Heilsgeschichte. Quellenuntersuchungen zu den Incidentien der Christherre-Chronik. Diss. Trier 1995. [erscheint als Band 15/16 der Vestigia Bibliae.], Kap. V.4), kommen im Evangelienreimwerk nicht vor. II Zitiert nach: Des Matthias von Beheim Evangelienbuch in mitteldeutscher Sprache. 1343. Hrsg. von Reinhold Bechstein. Leipzig 1867 [Nachdruck: Amsterdam 1966], S. XVIII. 12 Zitiert nach: Wenzelsbibel. König Wenzels Prachthandschrift der deutschen Bibel. Erläutert von Horst Appuhn. Mit einer Einführung von Manfred Kramer. Bd. I. Dortmund 1990 (Die bibliophilen Taschenbücher. 1001), f. l vb .-Zwar häuft sich die Kritik am Reimpaarvers im späteren Mittelalter generell, doch der Vorwurf, die Wahrheit durch die Versform zu entstellen, mußte die Bibelübersetzung besonders hart treffen, wenn das wahre, göttliche Wort vermittelt werden sollte. Um so interessanter scheint

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Johannes Fournier Wenne wer es also [seil.: zu reime] wolde sagen der muste czu und abe tragen und die schrifi gar vorkeren

So begegnen im Evangelienreimwerk beispielsweise eine Fülle von Umschreibungen lateinischer Lexeme durch umfangreiche deutsche Wortgruppen („czu tragen") und die Reduktion von Nebensätzen auf Nominalphrasen („abe tragen"); auch werden Tempora und Modi der Vorlage in der Übersetzung oftmals vernachlässigt. Obwohl diese Verfahrensweisen dem Versuch einer wörtlichen Übertragung - wie es auf den ersten Blick scheint - entgegenstehen, zeigt sich in der Übersetzungsweise des Evangelienreimwerks dennoch ein deutliches Bemühen um die Wiedergabe eines unverfälschten Bibeltextes, d. h. eines Textes, der auf die Glossierung der Evangelien verzichtet. Insofern unterscheidet sich das Evangelienreimwerk nicht nur von Bibelparaphrasen wie denen des Deutschen Ordens, die oft umfangreiche exegetisch-kommentierende Abschnitte enthalten13, sondern auch von glossierten Prosabibelübersetzungen wie dem Klosterneuburger Evangelienwerk. Während in der St. Pauler Übertragung selbst kleinere Syntagmen nur recht selten ausgelassen werden,14 wodurch zwar der Wortlaut, doch keineswegs der Inhalt der mitgeteilten Stellen geändert wird, lassen die Zusätze zum Bibeltext deutlich erkennen, daß ihre Verwendung Gottes Wort nicht verfälschen sollte. Der genaue Vergleich von Quelle und Übersetzung zeigt nämlich, wie eine ganz bestimmte Form 'inhaltsarmer Zusätze' charakteristisch für das Evangelienreimwerk ist: Syntagmen der Quelle werden oftmals durch zwei, in wenigen Fällen sogar durch drei weitgehend synonyme deutsche Wortgruppen wiedergegeben, wobei nicht allein Wörter, sondern Satzgruppen und ganze Sätze - „Synonymik höheren Grades"15 - verdoppelt werden:16

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mir die Beobachtung, daß ausgerechnet in Frankreich, wo die Prosa viel früher als in Deutschland zur vorherrschenden Form wird, sich gerade im Bereich der Bibeldichtung die Versform sehr lange hält. Vgl. Haug 1992, vgl. Anm. 8, S. 246. Vgl. Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob. Aus der Handschrift des Königlichen Staatsarchivs zu Königsberg hrsg. von T[orsten] E[vert] Karsten. Berlin 1910 (DTM. 21, Dichtungen des Deutschen Ordens. IV). - Die poetische Bearbeitung des Buches Daniel. Aus der Stuttgarter Handschrift hrsg. von Arthur Hübner. Berlin 1911 (DTM. 19, Dichtungen des Deutschen Ordens. III) unterscheidet den Kommentar durch besondere Überschriften von der Bibelparaphrase. Beispielsweise folgen der Übersetzung von Daniel, Kap. 2, in den Versen 561-910 in den Versen 911-1164 gleich zwei Auslegungen. Eine Ausnahme von dieser generellen Beobachtung stellt die Übertragung des Lukas-Evangeliums dar, wo offensichtlich der große Bekanntheitsgrad vieler Gleichnisse zur freieren übersetzerischen Behandlung des Textes führt. Hier häufen sich die Auslassungen kleinerer Syntagmen in auffälliger Weise. Friedrich Wenzlau: Zwei- und Dreigliedrigkeit in der deutschen Prosa des XIV. und XV. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des neuhochdeutschen Prosastils. Halle/Saale 1906 (Hermaea. IV), S. 2. Die Zitate aus der Vulgata nach: Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem. Hrsg. von Bonifatius Fischer und Robert Weber. 3., verb. Aufl. Stuttgart 1983. - Die Verszählung des Evangelienreinrwerks richtet sich nach einer maschinenlesbaren Transkription und stimmt mit der der geplanten Ausgabe überein.

Day St. Pauler Evangelieweimwerk

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Cum ergo videritis abominationem desolationis quae dicta est a Danihelo propheta stantem in loco sa«c/o(Mt24,15) 1235

[ 15] So dyse vnmenscheit ir eesehent des undrostes vnd ir eespehent. die derprophete uor eeseit hat, Danyel, vndvzseleit an heiliger stat, an der er stunt

et clamavit dicens / lesu Fili David miserere mei / et qui praeibant increpabant eum ut taceret / ipse vero multo magis clamabat / Fili David miserere mei (Lc 18,38f.) 9413

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[38] [any«] er einen ruf gedeih, er sprach: 'Ihesu, Dauides sun, seruche du mir senade dun vnd dine erbermede an mich selese!' [39] die da vor gingen [vfdem wege], die straften yn [da], daz er swiee vnd sins eerufes sich verzise. vnd er geriefte des die me: 'ey sun Dauides, an mich ge din gnade, [als ich ir dürftig bin].'

Diese Technik wird so auffallend häufig angewandt, daß sie nicht allein auf Reimnot und Phantasielosigkeit des Übersetzers beruhen kann - so ist im zweiten Beispiel der reimliefemde Zusatz „vfdem wege" nicht an der Dopplung beteiligt und der Quelle nur implizit zu entnehmen -, sondern geradezu zum 'Stilprinzip' der Evangelienübertragung wird. Diese Verfahrensweise ermöglicht es dem Übersetzer, den Sinn der evangelischen Nachricht auch nicht durch den Zwang zu Zusätzen zu verfälschen. Er variiert so zwar den Wortlaut, nicht aber den Inhalt seiner Quelle. Indem gerade „Synonyme in des Wortes eigenster Bedeutung"17 gebraucht werden, unterscheidet sich der Übersetzer des St. Pauler Evangelienreimwerks als Tidus interpres' sowohl von der kanzleimäßigrhetorischen Zweigliedrigkeit vieler Übersetzungen des 14. und 15. Jahrhunderts als auch von dem Bemühen, lexikalische Doppelausdrücke zu verwenden, um die Verbreitung eines Textes auch in anderen Dialekträumen zu gewährleisten, wie es etwa in der Prosabibelübersetzung anzutreffen ist.18 Außerdem ahmt der Dichter des Evangelienreimwerks durch die Häufung von Synonymen ein charakteristisches Merkmal biblischer Sprache nach. Dies wird unter 17 18

Wenzlau 1906, Vgl. Anm. 15, S. 41. Vgl. etwa Walthers 9. Zweig (S. 373 unten) oder auch den 12. Zweig (S. 406-409). Die unterschiedlichen Positionen der Forschung zur Beurteilung der sog. Zwillingsform im Überblick bei E.-Anette Koeppel: Die Zwillingsform in Konrad Halters Legende des Heiligen Notker (1522). Ein Beitrag zur frühneuhochdeutschen Prosa. In: ZfdPh 105, 1986, S. 387-395, hier S. 388-391. Wenzlau 1906, vgl. Anm. 15, S. 40f, tadelt an der mitteldeutschen Übersetzung des Apollonius von Tyrus gerade, daß der Gebrauch der Synonyme eine „gewisse Steigerung im Sinn und in der Form" vermissen lasse - ganz wie wir es aus dem Evangelienreimwerk kennen -, wenngleich auch im Apollonius der Einsatz der Zweigliedrigkeit als Stilmittel zu werten sei.

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anderem dadurch bestätigt, daß die bekannten redeeinleitenden Doppelausdrücke eine besondere Gruppe unter den Synonymenzusätzen des Codex St. Paul 53/1 darstellen. Sie nämlich sind vorgeprägt durch die Übernahme der besonders in den synoptischen Schriften vielfach verwendeten Formel „respondens dixit", die unser Übersetzer - meist unter Auflösung des lateinischen Participium coniunctum in ein beigeordnetes finites Verb - selbst dort einsetzt, wo die Quelle nur ein verbum dicendi verwendet, um den Redebeginn zu markieren.19 Der Übersetzer gibt seinem Text durch den Gebrauch der immer wiederkehrenden Formel eine durchgängige Geschlossenheit, indem er sie besonders häufig ergänzend seiner Übersetzung des lateinischen Johannes-Evangeliums einfügt, wo diese Wendung nur selten erscheint.20 Auch der Versuch einer Klassifikation weiterer Zusätze bestätigt die Annahme, daß der Dichter des Evangelienreimwerks möglichst wenige inhaltliche Zusätze zum biblischen Text geben wollte, geschweige denn eine über den Literalsinn hinausgehende Interpretation beabsichtigte. Auslegungen des evangelischen Berichts finden sich nie. Die spärlichen Erläuterungen sind nach meinem derzeitigen Kenntnisstand kaum auf eine direkte Benutzung mittelalterlicher Kommentarliteratur zurückzuführen,21 sondern unmittelbar dem theologischen Grundwissen des Übersetzers zuzuschreiben. Doch gehen theologisch-dogmatische Hinweise in der Regel nicht über das Ausmaß von Flickversen und Reimfloskeln hinaus, die wohl schon überinterpretiert sind, wollte man sie als Autorkommentar auffassen. So dürfte in den unten markierten Zusätzen kaum die Lehre der Menschen- und Gottnatur Jesu thematisiert worden sein; in V. 11673 ist der Zusatz wohl allein durch die intransitive Konstruktion des mittelhochdeutschen Verbs „wirken" bedingt. Et nihil manducavit in diebus illis / et consummatis illis esuriit (Lc 4,2) 6222

in dysen dagen er niht az. biz an daz ende da besaz yn hunger nach der menschen svde. lesus autem respondit eis / Pater meus usque modo operatur et ego operor ( 11671

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5,17)

[17] Ihesus antworte yn des begatte: 'min vater wirket noch biz her, vnd ich wirke auch rehte alsam er.'

Auch dieses Phänomen läßt sich ganz ähnlich in den Prosabibeln nachweisen, z. B. zu Mt 22,37 in Walthers 17. Zweig (S. 460) oder zu Mt 22,18 im 19. Zweig (S. 496). Vgl. V. 11131, 11627, 12081, 12389, 12514, 14160, 14211, 14297, 14360. Auch bei den Synoptikern finden sich ähnliche Ergänzungen, so V. 945 (Mt), V. 2647, 3635 (Mc), V. 5881,6797 (Lc). - Der Versuch einer möglichst authentischen Wiedergabe des biblischen Wortlauts zeigt sich zugleich in der häufigen Nachahmung lateinischer Wortspiele und Redefiguren, z. B. V. 1614ff.: „warum ir sint gefer / dem wibe, die gewirket hat / an mir eins guden Werkes dat?' zu Mt. 26,10: „opus bonum operata est in me"; vgl. auch V. 12574 zu 9,4 oder V. 12744 zu 10,1. Das deutet Heimo Reinitzer: St. Pauler Evangelienreimwerk. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. Bd. 7. Berlin/New York 1989, Sp. 363-366, hier Sp. 366, vorsichtig an.

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Es zeigt sich also, daß der Evangelientext in dieser Reimübersetzung so unverfälscht wie irgend möglich dargeboten werden sollte. Auf solche Weise wurde auch Laien der Wortlaut der Heiligen Schrift ohne jedes exegetische Beiwerk zugänglich.22

II. Zur syntaktischen Charakteristik Auch auf der Ebene der Syntax läßt sich deutlich zeigen, daß der Übersetzer des Evangelienreimwerks um größtmögliche Treue zur Vorlage bemüht war. Es war in einem gereimten Verstext zwar unmöglich, die Wortstellung der Vorlage beizubehalten, doch finden sich in der Übersetzung zahlreiche Passagen, wo der deutsche Text gerade deshalb schwer zu verstehen ist, weil er sich eng an die Quelle anlehnt. So erörtern die Pharisäer Jesu Frage, ob die Taufe des Johannes vom Himmel oder von den Menschen käme, in folgenden Worten: dicentes / si dixerimus de caelo dicet quare ergo non credidistis ei / 32sed dicemus ex hominibus timebantpopulum / omnes enim habebant lohannem quia vere propheta esset (Mc 11, 31 f.) 4411

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sie sprachen: 'ist ez, daz wir iehen, daz er von hymel kumen si, so sprichet er zuhant da bi: war \m ir glaubten! ym da niht? [32] ist aber, daz man ym vergiht, er sie uon menschen worden hie?' daz folg sie musten forthen ie; zu Johanne alle folg getraden, für einen propheten sieyn haden.

Die Übersetzung liest sich fast so, als ob ein oder zwei Verse nach 4416 ausgefallen wären. Diese Härte kann nur durch die Interpunktion des Herausgebers etwas gemildert werden. Zwar wäre die Passage durch den Einschub eines weiteren Verses vermutlich leichter zu verstehen gewesen, doch sollte an dieser Stelle wohl die Ergänzung von Wörtern, die nicht schon in der Vorlage zu finden waren, vermieden werden. Des weiteren kann die Übersetzungsanalyse gewissen Aufschluß über Bildung und Umfeld des Autors geben, der kaum über die Interpretation der Eingangsgebete zu den einzelnen Evangelien erhalten werden kann. Diese nämlich arbeiten überwiegend mit traditionell-konventionellen Motiven, die sich auch in den Eingangsgebeten anderer geistlicher Dichtungen mühelos nachweisen lassen dürften.23 Die Versifizierung der 22

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Vgl. Friedrich Maurer: Eine dogmatisch allegorische Reimbearbeitung des Lebens Jesu aus dem 14. Jahrhundert. In: Bibel und deutsche Kultur 11, 1941, S. 364-376, hier S. 365. Aufgrund der konventionellen Gebetsrhetorik steht nicht zu vermuten, daß das verlorene Eingangsgebet zur Übertragung des Evangeliums nach Matthäus grundlegenderen Aufschluß über die Intention des Autors und seine Stellung zur deutschen Bibel geben könnte. Zur Problematik: Christian Thelen: Das Dichtergebet in der deutschen Dichtung des Mittelalters. Berlin/New York 1989 (Arbeiten zur

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Evangelien selbst aber weist den Übersetzer des St. Pauler Evangelienreimwerks als guten, vielleicht zu guten Lateiner aus. Denn immer wieder zeigt sich, daß er seine Verse in Wortstellung und Satzbau eher lateinischen als deutschen Mustern nachbildet,24 und zwar gerade dort, wo die Quelle vergleichbare Konstruktionen gar nicht nahelegte. So wird z. B. eine Präposition - wohl nach lateinischem Muster - in die Mitte eines deutschen präpositionalen Ausdrucks gestellt; Agensangaben werden häufig mit ab markiert,25 selbst wo die Quelle gar keine entsprechende Konstruktion bietet, da die Übersetzung mit Passiv-Konversen arbeitet: Erat ergo recumbens unus ex discipulis eius in simt lesu/quem düigebat lesus ( 13470

13,23)

der lungern einer nu gelag schoze in Ihesus ruwe er plag, wan Ihesus minne hatte anyn.

non enim misit Deus Filium suum in mundum ut iudicet mundum / sed ut salvetur mundus per ipsum 003,17) 11285

got in die werlt sinen sun er sante nihl, so daz er dun solde über dyse werlt vrteil, sunder daz sie die werlt heil [gar mildeclichen] ab ym enphingen [vnd allen noden gar engingen].

Neben dem auf diese Weise generell zu beobachtenden Einfluß lateinischer Syntax zeigt der Satzbau im Evangelienreimwerk außerdem, welche Schwierigkeiten aus dem Versuch resultierten, die gebundene Rede für eine möglichst wörtliche Übersetzung zu verwenden. Als 'Formexperiment' zeigt sich die Versifikation der Evangelien beispielsweise an einer Vielzahl äußerst merkwürdiger Konstruktionen, wo sich Hauptund Nebensatz in einer Art 'Satzaufbrechung' gegenseitig durchdringen: Vae vobis scribae et Pharisaei hypocritae quia mundatis quod deforis est calicis et parapsidis (Mt 23,25) 1091

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We, schribere vndpharisey, ir glichesere, uch wonef bi! vnflat, der uzen, vnd mist, an kelche vnd an schuzscheln ist, den kunnent ir gar wol gefegen.

Frühmittelalterforschung. 18), S. 401-403; wichtig vor allem Thelens Hinweis, daß Eingangsgebete geistlicher Gedichte im Hinblick auf autobiographische Aussagen kaum ergiebig seien: ebda, S. 103. Allein in den Vv. 40, 86f., 492, 1816, 1824, 2064, 2213, 2263 des Evangeliums nach Matthäus muß das im lateinischen Verb latierte Subjekt sinn- und kontextgemäß ergänzt werden. Aus der mittelhochdeutschen Literatur lassen sich vielleicht folgende Konstruktionen vergleichen: „mirst getroumet ab der guoten" aus den Minnesängern (hrsg. von Bodmer und Breitinger) und „ich hoer vil liute ab iu klagen" aus Boners Edelstein; beide zitiert nach Georg Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Erster Band: A-L. Leipzig 1854, Sp. 3, Z. 16f.

Das St. Fauler Evangelienreimwerk etpanis quern ego dabo car o mea estpro mundi vita ( 12010

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das selbe brot, daz ich wil geben, min fleisch ist, v/n der werlde leben.

Fast wie in einem Puzzlespiel müssen die Satzglieder der Teilsätze versetzt werden, damit die Aussage verständlich wird. Hier wie auch sonst empfiehlt sich eine syntaktische Interpunktion, die dem Benutzer der Edition ein leichtes und genaues Verständnis der Evangelienübersetzung ermöglicht. Die 'Satzaufbrechung' ist aber nur ein Beispiel für die Auflösung der Form, die sich immer dann zeigt, wenn der Versuch, die Quelle möglichst wortgetreu zu übertragen, zu diskontinuierlichen Elementen des Satzbaus beiträgt: Im Evangelienreimwerk wimmelt es geradezu von Parenthesen, Anakoluthen, Apokoinou und anderen Merkwürdigkeiten, die im klassischen Mittelhochdeutsch doch deutlich zu den syntaktischen Ausnahmeerscheinungen gehören.26 Sehr merkwürdig zu lesen ist ferner eine Reihe von Passagen, in denen eine Nebensatzkonjunktion statt in Spitzenposition im Satzmittelfeld erscheint:27 Nolite iudicare et non iudicabimini (Lc 6,37) 6784

[37] verurteilt! ir nieman ensolnt, vngeurteilt obe ir bliben wolnt.

Es ist mir derzeit zwar noch nicht möglich, differenziertere Gründe für das Auftreten der je spezifischen Besonderheiten anzuführen, doch dürfte die soeben vorgeführte 'Auflösung der Form' offensichtlich als Preis zu verstehen sein, den der Dichter des Evangelienreimwerks für die angestrebte Wörtlichkeit einer Versübertragung zu zahlen hatte.

III. Textgliederung Die editorischen Probleme bei unikaler Überlieferung sind bekannt; die derzeit bewährten Prinzipien zur Edition unikaler Textzeugen werden im allgemeinen auch für die Edition des St. Pauler Evangelienreimwerks befolgt. Die Notwendigkeit einer genauen syntaktischen Interpunktion und eines Quellenapparats dürfte durch die gerade vorgestellten Beispiele zur Genüge einleuchten. Während hierüber also nichts weiter zu 26

27

Vgl. Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 23. Aufl., neu bearb. von Peter Wiehl und Siegfried Grosse. Tübingen 1989 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. A. Hauptreihe. 2), S. 467-473. Satzaufbrechungen finden sich z. B. noch V. 12f. zu Mt 17,5; V. 631f. zu Mt 21,15; V. 1328f. zu Mt 24,38; V. 8155f. zu Lc 11,51. Aus engem Anschluß an die Syntax der Quelle entsteht V. 2483 , V. 2878f., V. 12612f. Anakoluth. Beispiele für Apokoinou in den Versen 2438, 4856, 5559f, 11090, 14259f. Weitere Beispiele in den Versen 1583f., 4554, 8411, 10178.

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bemerken ist, scheint mir ein Problem von methodisch allgemeinerem Interesse, das nun näher erläutert werden soll, und zwar das Verhältnis von handschriftlicher Textgliederung und Gliederung der Ausgabe durch den Editor. Beim fast gänzlichen Fehlen von Abschnittsinitialen28 bietet der Vergleich von Quelle und - was recht bedeutsam ist - nur abschriftlich überlieferter Übersetzung nämlich gewisse Anhaltspunkte für die Gliederung des zu edierenden Textes. Zwar kennt die Handschrift als Gliederungssignale Paragraphenzeichen am Rand der Spalten, die vielfach mit den eusebianischen Kanones übereinstimmen,29 doch ist es nicht unproblematisch, die Absätze der Edition ausschließlich aufgrund dieser Zeichen einzurichten. Denn die Paragraphenzeichen grenzen nicht nur Abschnitte verschiedenen Inhalts voneinander ab, sondern übernehmen auch verschiedene andere Funktionen. So markieren sie den Sprecherwechsel in Dialogen oder auch einen Ortswechsel selbst in inhaltlich eng zusammengehörenden Abschnitten: Et relictis illis abiit for as extra civitatem in Bethaniam ibique mansit / civitatem esuriit (Mt 21,17f.) 645 H 11

mane autem revertens in

[ 17] Da liez er sie. her dan er quam vz der stat in Bethaniam. da bleyb er [ 18] vnd des morgens drat hin wider aber in die stat. da geuilyn hunger an, [...]

Geht man nun davon aus, daß das Paragraphenzeichen auf den Beginn von Vers 18 Bezug nimmt, wäre es sogar drucktechnisch diffizil, das Paragraphenzeichen durch Einzug zu repräsentieren, wenn die Verse, wie in der Handschrift selbst, abgesetzt geboten werden. Vergleichbare Textstellen finden sich noch öfter. Nun bieten aber Zusätze zum eigentlichen Vulgatatext eine Stütze für die Verwendung der Paragraphenzeichen als Abschnittsmarker. Denn eine genaue Analyse der Übersetzung ergibt, daß häufig Ergänzungen zur Vulgata, die den Umfang eines ganzen Verses annehmen, am Ende längerer Erzähleinheiten stehen, um diese zusammenfassend abzuschließen. Sehr häufig gehen diese Verse eben jenen voran, die mit einem Paragraphenzeichen eingeleitet werden. Das belegt die gliedernde Funktion dieser Verse. Daher läßt sich vermuten, daß diese Zusatzverse oftmals auch dort zur Text- und Abschnittsgliederung herangezogen werden können, wo ein Paragraphenzeichen manchmal wohl aus Unachtsamkeit - fehlt. Da durch die Paragraphenzeichen einerseits, die Zusatzverse andererseits Gliederungssysteme verschiedener Ebenen - nämlich der der Schreiber und der des Autors 28 29

Sie finden sich allein zu Beginn der Eingangsgebete und der Evangelien selbst. In dem beliebig herausgegriffenen 21. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus werden z. B. die Kanones für die Verse 6, 9, 12, 14, 21, 22 und 45 im Evangelienreimwerk nicht bezeichnet; das Reimwerk selbst hat dagegen Paragraphenzeichen vor den Versen 8 und 18, wo in der Ausgabe von Fischer und Weber nicht auf die Kanontafeln verwiesen wird. In den Versen l, 4, 10, 15, 17, 23, 28 und 33 stimmt die Markierung überein.

Das St. Pauler Evangelienreimwerk

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deutlich werden, sei die Überlegung erlaubt, ob nicht beide Ebenen editorisch repräsentiert werden könnten: So könnten die Paragraphenzeichen beispielsweise am rechten Rand des Verstextes belassen werden, während mit dem Einzug einer Zeile angezeigt würde, wo der Übersetzer selbst den Text bewußt gegliedert hat, indem nach jedem 'Schaltvers' ein neuer Abschnitt der Edition beginnen würde. Doch stellt sich einer konsequenten Umsetzung dieser Idee die Tatsache entgegen, daß die 'Schaltverse' nicht prinzipiell an jedem sinnvoll scheinenden Absatzende stehen. Wo schon die Vorlage deutliche Elemente zur Textgliederung enthält, die in die Übersetzung eingingen, waren zusätzliche Gliederungsmittel nämlich oft kaum nötig. Um dennoch beide Gliederungsebenen markieren zu können, schlage ich deshalb folgendes Verfahren vor: Alle Paragraphenzeichen werden, soweit irgend möglich, durch Einzug repräsentiert (bzw. im Apparat vermerkt, wo sich die Gliederung nicht nach ihnen richtet). Die auf einen 'Schaltvers' folgende Zeile beginnt halbfett, um die Gliederung durch den Autor zu markieren. Durch die Kombination der Gliederungssysteme läßt sich schnell erkennen, wo handschriftliche und Autorgliederung übereinstimmen.

IV. Editionsbeispiel Ich möchte diese Ausführungen mit der Präsentation eines solchen Versuchs beschließen. Dazu wähle ich Jesu Wehe-Rede gegen die Pharisäer, die sich für ein solches editorisches Experiment gut eignet. Denn die gerade beschriebenen 'Schaltverse' finden sich besonders häufig in längeren Jesus-Reden. Die Wehe-Rede ist zudem durch die Wehrufe gegen die Pharisäer schon in der Quelle deutlich gegliedert. Zusätzlich finden sich als Schaltverse V. 1044 (zu Mt 23,15), V. 1064 (zu 19), V. 1090 (zu 24), V. 1102 (zu 26) und V. 1120 (zu 30). Die Verse 1044, 1090 und 1102 finden sich unmittelbar vor einem Wehe-Ruf, was ihre Funktion als Gliederungsmittel unterstreicht (siehe unten). Offenkundig trägt die durch die 'Schaltverse' vorgenommene Funktionalisierung nicht authentisch biblischen Textbestands zur besseren Strukturierung der Übersetzung bei. Außerdem verlangsamen die gliedernden Zusätze den Informationsfluß in ähnlicher Weise wie die oben erwähnten Synonymen-Übersetzungen, so daß das Gehörte besser aufgenommen werden konnte.30 Daher läßt sich abschließend wohl festhalten, daß die Auflösung der Form nicht nur notwendige Begleiterscheinung der durch Wörtlichkeit angestrebten Authentizität ist, sondern zugleich zur leichteren Rezeption des Formexperiments St. Pauler Evangelienreimwerk beitragen sollte.

Anhang: Editionsbeispiel

30

Schönbach 1897, vgl. Anm. 3, S. 7f. vermutet, daß die Paragraphenzeichen insbesondere das Vorlesen des Textes erleichtem sollten.

48

Johannes Fournier

Mt23.15 1040

1045

[38vb] 1050

1055

1060

1065

1070

1075

1

gewinnent. vnd als ir yn dan gewunnen hant, so machent ir yn sun der hellen me dan zwir so uil, als ir da selber wesent, vnd zu uerluste sie gelesent. [ 16] We si geleider uch so blint! wan uwer lere vnd wort die sint: wer bi dem tempel iht geswere, daz si niht- vnd yn gar verhere. wer aber sweren wolle bi des tempels golde, er schuldig si. [17] ir dore vnd auch ir blinden! waz wollnt ir grozer finden1 an golde wan an dem tempel? nu hant ir des wol gut exempel, daz heilig ist des tempels gult, daz ez muz sin des tempels schult. [18] vnd wer dan swert bi dem altare, daz ist niht. so kumt er zu vare, wer bi des altars gäbe swert, die geopphert uf den altar wert. [19] ir blinden! waz mag grozer sin: der altar oder opphers schin, der doch daz oppher wirdig machet vnd heilikeit an ym besachet? [20] ir sollent wiszen daz ie zware: wer sweret iht bi dem altare, der swert auch bi dem allen gar, daz braht wirt uf den altar dar. [2l] wer swert bi dem tempel dan, der swert auch bi dem selben man, der wonende dar inne vert. [22] wer dan bi dem himel swert, der swert bi godes throne, dar uffe er sitzet schone. [23] We, schribere vnd phrisey, ir glichesere, uch wonet bi! von menten vnd von ruten nement

1052-1056: quid enim maius est aurum an templum quod sanctificat aurum.

Das St. Pauler Evangelienreimwerk

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den zehenden ir vnd auch gezement 1080

[39ra] 1085

1090

von anyse vnd von zynemin vnd daz da hat uil gruzern schin

vnd in der e wol heiter ist, daz lazent ir durch gydes list: gerihte vnd auch barmherzikeit vnd was an glauben ist geleit. des solde man uon noden plegen vnd diz nit lazen vnderwegen. [24] Ir blinden leider! durch genuz den himmel ir gesyhent vz2 vnd ein kamel ir wol verslindent, als ir die fuge dar zu fmdent. [25] We, schribere vnd pharisey,

1065 zware aus sware korr. 2

1086 nit über der Zeile nachgetragen.

1088-1090: excolantes culicem / camelum autem gluttientes.

Evangelium

Kurt Gärtner

Original- und Kopialüberlieferung von deutschen Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts am Beispiel der Balduineen

L

Im Rahmen des Tagungsthemas 'Quelle - Text - Edition' über Urkunden zu sprechen, muß etwas näher erläutert und begründet werden. Es liegt nicht allein am Tagungsort und der an der Universität Graz regen germanistischen Urkundenforschung und Urkundenedition, daß ich das Thema gewählt habe, sondern das Thema läßt sich auch von der Sache her begründen. Freilich ist es einfacher und liegt auch näher - gerade für einen Mediävisten -, an einem Beispiel aus der Literatur zum Tagungsthema etwas beizutragen; denn literarische Texte des Mittelalters beruhen in der Regel auf Quellen oder setzen für ihre Gestaltung spezielle, aus bestimmten Quellen gewonnene Kenntnisse voraus,1 die Quelle für eine Urkunde dagegen ist nicht in vergleichbarer Weise vorhanden, sie geht meist auf ein actum, eine Handlung, zurück und fixiert als datum, als 'Verbrieftes' und zugleich 'Übergebenes', den Inhalt dessen, was mündlich verhandelt oder in irgendeiner Weise verfugt worden ist. Urkunden scheinen also im Hinblick auf das Tagungsthema zunächst von geringem Interesse, weil ihr Gegenstand in der Regel außerliterarisch ist; eine Urkunde ist eine Originalschöpfung, die im Normalfall keine literarische Quelle hat, wenn man einmal absieht von besonderen Urkundentypen wie den Landfrieden, die immer wieder erneuert wurden, und auch absieht vorn Urkundenformular, das die speziellen Kenntnisse einer Quelle oder Tradition voraussetzt, nach der eine Urkunde gestaltet wird. Urkunden geben also im Hinblick auf ihre Entstehungsgeschichte nicht viel her für die Quellenproblematik. Anders verhält es sich mit ihrer Textgeschichte.2 Urkunden können zu Quellen werden, die in historiographischen und literarischen Werken verarbeitet werden.3 Wie Urkunden zu Quellen für Texte werden, ohne daß sie tiefgreifenden

Vgl. Siegfried Scheibe [u. a.]: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 173. Zur Textgeschichte einer Urkunde gehört auch das Konzept als unmittelbares Ergebnis des Diktats, das nach der Korrektur dann mundiert, d. h. ins reine geschrieben wird. Konzepte sind allerdings selten erhalten, die Reinschrift dagegen ist das Original und Ausgangsstufe für weitere Überlieferung. Dies zeigt an einem frühen Beispiel der Beitrag von Dosire"e Welter in diesem Band.

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Kurt Gärtner

Umgestaltungen unterzogen werden, hat Karin Kranich-Hofbauer am Starkenbergischen Rotulus gezeigt.4 Ich möchte an einem prinzipiell ähnlich gelagerten Fall zeigen, wie für eine bestimmte Textsorte Urkunden zu Quellen für einen Text werden. Bei dieser Textsorte handelt es sich um das 'Kopiar' oder 'Kartular'.5 In einem Kopiar werden die einzelnen Urkunden nach einer systematischen Ordnung zusammengestellt, um einen raschen und genauen Überblick über Rechts- und Besitztitel zu bekommen, das Kopiar zieht zum Zeitpunkt seiner Anlage „gewissermaßen Bilanz der rechtlich abgesicherten Positionen."6 Mit Hilfe des transportablen Kopiars können Besitzstreitigkeiten an einem beliebigen Ort rasch geklärt werden, und die Verwaltung eines Territoriums kann dadurch erheblich erleichtert werden. Damit das Kopiar diese Funktionen erfüllen kann, bedarf es - wie gesagt - einer systematischen Ordnung der Urkunden, d. h. eines Rahmens mit einer sachlichen Systematik, und eines in den Rahmen eingebetteten erschließenden Registers. Aus der Perspektive der Textsorte Kopiar kann das Verhältnis von Text und Quelle hochinteressant sein, vor allem deshalb, weil es immer wieder Abweichungen von Quelle und Kopiartext gibt oder aber auch unterschiedliche Originale, d. h. mehrere Ausfertigungen einer Urkunde, und die Kopiarvorlage erst durch den Quellenvergleich zu ermitteln ist. Anhand des Quellenvergleichs kann schließlich auch die Zuverlässigkeit des Kopiars überprüft werden, und dies kann für solche Urkunden, von denen keine Ausfertigungen mehr vorhanden sind, in Rechnung gestellt werden. Die Edition eines Kopiars oder von Teilen daraus kann also im mehrfacher Hinsicht mit der Quellenproblematik zu tun haben. Ich beschäftige mich im folgenden mit einer zusammenhängenden Serie von vier Kopiaren, die wie die genealogisch bestimmte Gruppe von Handschriften eines literarischen Textes miteinander verwandt sind, und untersuche anhand von wenigen Beispielen das Verhältnis der Kopiartexte zu ihren Quellen. Bei den ausgewählten Quellen handelt es sich um drei Originalurkunden, von denen zwei in alle vier Kopiare eingegangen sind, eine aber nur in eines, dafür aber liegen von dieser einen Urkunde drei Originalausfertigungen vor. Bevor ich zur Untersuchung der Abweichungen komme, gebe ich eine Charakteristik der Kopiare und erörtere auch die textgenealogischen Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen.

Vgl. Karin Kranich-Hofbauer: Wenn aus Quellen Texte werden. Quelle - Text - Edition bei spätmittelalterlichen Urkunden und Akten. In: editio 10, 1996, S. 49-67. Vgl. Alfred Gawlik: Kartular. In: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von Robert Henri Bautier. Bd. 5. München, Zürich 1991, Sp. 1026f. Vgl. Wolf-Rüdiger Schleidgen: Das Kopiar der Grafen von Kleve. Kleve 1986 (Klever Archiv. 6), S. 15 in seiner instruktiven Einleitung zur Edition des Kopiars der Grafen von Kleve, das 1337/38 angelegt wurde. Vgl. auch Brigitte Sternberg: Zur Ausprägung des volkssprachigen Urkundenwesens am klevischen Hof. In: Xantener Vorträge zur Geschichte des Niederrheins 1994-1995. Hrsg. von Dieter Geuenich. Duisburg 1995, S. 33-55, hier S. 41 f.

Original- u. Kopialüberlieferung von deutschen Urkunden

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Bald nach 1330 ließ der Trierer Erzbischof Balduin von Luxemburg (1307-1354),7 der Bruder Kaiser Heinrichs VII. (1308-1313), ein großes Kopiar anlegen, das 2239 Urkunden umfaßt.8 Dies ist das sogenannte Balduineum IV (=B. IV) oder Balduineum Kesselstadt? Etwa 20 Jahre später ließ Balduin drei weitere, eng miteinander verwandte Kopiare mit einem wesentlich geringeren Umfang anfertigen, die Balduineen /-///, die 1212 (B. I), 1223 (B. II) und 1309 (B. III) Urkunden umfaßten.10 Die Entstehung der Kopiare läßt die Arbeitstechniken des tüchtigen Notars und späteren Offizials des Erzbischofs, Rudolf Losse, erkennen, der die Herstellung beeinflußt haben könnte." Das Vorgängerwerk bildete - zumindest als Modell - eine Vorstufe für die weniger umfangreichen späteren Kopiare, in welchen die 'Temporalia' nicht mehr berücksichtigt wurden und welche daher die oben erwähnte „Bilanz der rechtlich abgesicherten Positionen" genauer repräsentieren. 'Temporalia' sind Urkunden, die von nur temporärer Bedeutung für die Verwaltung waren und keine andauernde Rechtswirkung hatten. Die jüngeren Balduineen enthalten also kaum noch Temporalia, sondern im wesentlichen nur noch die 'Perpetualia'; das sind die Urkunden, welche die Rechtsgrundlagen des erzbischöflichen Territoriums ausmachten.12 Vergleicht man das umfangreichere Vorgängerwerk mit den jüngeren, eine eigene Textfassung repräsentierenden Stufen der Balduineen, so zeigt sich, daß der Rahmen, in den die Urkunden in einem Kopiar eingebettet sind, differenzierter geworden ist. Auch im Vorgängerwerk gibt es eine systematische Ordnung, die im Register überschaubar gemacht ist. Die Urkunden sind also nicht immer durchgehend strikt chronologisch geordnet, wie wir es aus modernen Regestenwerken und Urkundeneditionen gewohnt sind, sondern systematisch, d. h. nach Sachgesichtspunkten. Die differenzierte Ordnung der Urkunden in Bücher und Kapitel wird am Schluß des Vorwortes zu den jüngeren Balduineen beschrieben und begründet. Dieses Vorwort13 enthält zunächst eine kurzgefaßte Geschichte des Erzbistums bis zum Regierungsantritt Balduins. Auf das Vorwort 7

8

9

10

11

12 13

Über ihn vgl. Franz-Josef Heyen: Balduin von Luxemburg. In: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von Robert Henri Bautier. Bd. 1. München, Zürich 1980, Sp. 1372-1374; Balduin von Luxemburg. Erzbischof von Trier und Kurfürst des Reiches 1285-1354. Festschrift aus Anlaß des 700. Geburtsjahres. Hrsg. von Franz-Josef Heyen unter Mitwirkung von Johannes Mötsch. Mainz 1985 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte. 53). Das Folgende nach Johannes Mötsch: Die Balduineen. Aufbau, Entstehung und Inhalt der Urkundensammlung des Erzbischofs Balduin von Trier. Koblenz 1980 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz. 33), S. Iff. Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 27-41; die Handschrift befindet sich jetzt im Landeshauptarchiv (LHA) Koblenz unter der Signatur Best, l C 3 a. Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 3-27; die Handschriftensignaturen lauten: Balduineum l = LHA Koblenz Best, l C l, Balduineum 11= ... l C 2, Balduineum 111= ... l C 3. So die Vermutung von Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 64. Über Losse vgl. Friedhelm Burgard: Rudolf Losse (um 1310-1364). In: Rheinische Lebensbilder. Bd. 14. Im Auftrag der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde hrsg. von Franz-Josef Heyen. Köln 1994, S. 47-70; Ame Holtdorf: Losse, Rudolf. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. Bd. 5. Berlin 1985, Sp. 913-920. Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 43, Anm. 148. Vgl. ebda, S. 5.

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Kurt Gärtner

folgt ein Register, das entsprechend der im Vorwort erläuterten Buch- und Kapiteleinteilung gegliedert ist und zu jeder Urkunde die Rubrik enthält, die aus einer kurzen Inhaltsangabe besteht und im Kopiar dem jeweiligen Stück vorangeht. Diese Rubriken sind zusammen mit dem Register und der systematischen Ordnung das Neue, das zu den Urkundentexten hinzukommt. Es entsteht also ein neuer Text durch die systematische Vereinigung der Einzelurkunden im Codex, dem Kopiar. Aus der Perspektive des Kopiars will ich die Quellen, d. h. die Einzelurkunden, vergleichen.14

II.

Bevor ich zu meinen drei Beispielen mit den Vergleichen von Kopiartext und Quelle, d. h. Einzelurkunde, komme, sind die Verwandtschaftsverhältnisse der vier Kopiare und erschließbaren Zwischenstufen zu erörtern, um die Genese von Varianten besser beurteilen zu können und diejenige(n) Kopiarhandschrift(en) näher zu bestimmen, die einer Edition zugrundegelegt werden sollte(n). Wir haben in der Urkundenüberlieferung den höchst aufschlußreichen Fall, daß die Textstufen des Überlieferungsprozesses fast alle erhalten sind und daß daher das Verhalten der Schreiber gegenüber ihren Vorlagen genau kontrolliert werden kann. Bei der Überlieferung literarischer Texte des Mittelalters ist ein solcher Befund ziemlich selten, denn die frühesten Textstufen - vor allem die im Bereich des Archetyps, d. h. der Ausgangsstufe der Überlieferung - sind in der Regel nicht mehr erhalten. Die Verwandtschaftsverhältnisse der Kopiare und ihrer Quellen können in einem Stemma dargestellt werden. Dieses Stemma, auf dessen Begründung ich nicht sehr ausführlich eingehen kann,15 sieht nach den Untersuchungsergebnissen von Johannes Mötsch für die Balduineen folgendermaßen aus:

14

15

Vgl. auch den Versuch von Werner Ames: Untersuchungen zur Urkundenschreibe und -spräche der kurtrierischen Kanzlei unter Erzbischof Baldewin. Ein Beitrag zur Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache. Phil. Diss. Saarbrücken 1976, S. 7-9, 17-19, 148ff. Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 46-64; das Stemma S. 57, das ich im Hinblick auf den Normalfall und auf die Beispiele etwas modifiziere. Zur Entstehungsgeschichte der Balduineen findet sich eine Zusammenfassung bei Johannes Mötsch: Schriftgutverwaltung. In: Balduin von Luxemburg 1985, vgl. Anm. 7, S. 251-261, hier S. 257-259. Einen aufschlußreichen quellenkritischen Vergleich der Überlieferung in den Balduineen lieferte jüngst am Beispiel des Verzichts von Pfalzgraf Heinrich auf die Vogtei über Kirche und Stadt Trier zugunsten von Erzbischof Johann im Jahre 1197 (bei Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 112, Nr. 165) Franz-Josef Ziwes: Der Verzicht des rheinischen Pfalzgrafen Heinrich auf die Trierer Stadtvogtei. Randbemerkungen zur Quellenlage. In: 'Liber amicorum necnon et amicarum' für Alfred Heit. Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte und geschichtlichen Landeskunde. Hrsg. von Friedhelm Burgard, Christoph Cluse und Alfred Haverkamp. Trier 1996 (Trierer Historische Forschungen. 28), S. 43-54.

Original- u. Kopialüberlieferung von deutschen Urkunden

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Konzept

l Originalurkunde

1330

B. IV

(X)

Z = Zwischenstufe (Zettelversion) in Resten erhalten

1350

1354

B. I

B. II

Anhand des Stemmas von Mötsch läßt sich der Weg der Einzelurkunden, d. h. auch der von mir verglichenen drei originalen Ausfertigungen, in die Kopiarüberlieferung folgendermaßen nachzeichnen: Die Einzelurkunden waren die unmittelbaren Vorlagen für das Balduineum IV (B. IV) gewesen; von diesem wurde - nach dem Ausscheiden der Temporalia - für die Anlage der neuen Kopiare I-III eine Zwischenversion Z mit neuer Systematik angelegt (nicht in Codex-, sondern Zettelform), welche dann unmittelbare Vorlage für das Balduineum III (B. III) war; von diesem wurde dann zuerst das Balduineum II (B. II) und danach / (B. I) direkt abgeschrieben, allerdings unter gelegentlichem Rückgriff auf die Zwischenstufe Z, die aufgrund ihrer flexiblen Zettelform auch die unterschiedliche Reihenfolge der Urkunden in B. I-III ermöglichte. Textkritisch gesehen steht das Balduineum IV den Originalurkunden am nächsten und muß daher nach Mötsch künftigen Editionen und Regestenwerken „als die beste Handschrift zugrundegelegt werden."16 An der Darstellung der Handschriftenverhältnisse durch Mötsch erheben sich nun aber zumindest in Einzelfällen Zweifel: Die Herleitung der postulierten Zwischenstufe Z aus B. IV erscheint nämlich ausgeschlossen, wenn man die Varianten aus unserem ersten Beispiel, der Sühneurkunde von Thurandt vom Jahr 1248, vergleicht und ihre Entstehung plausibel zu machen versucht. Die Varianten zu einer Stelle mögen genügen für den Nachweis, daß B. IV weder die unmittelbare Vorlage von Z noch von B. III gewesen sein kann. Ein Satz der Urkunde lautet in den fünf Überlieferungszeugen: Original B. IV B. III B. II B. I

16

So So So So So

wanne wanne wanne wanne wanne

wir wir wir wir wir

cuene zwene euene euene euene

Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 57.

versihhert versichert versichert versichert versichert

werdin werden werden werden werden

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Kurt Gärtner

B. IV hat „cuene" = „zwene" im Original richtig verstanden und als „zwene" kopiert; in B. I-III ist aber das Wort zu „euene" = „ebene" geworden, eine durchaus sinnvolle Variante, aber ein Abschreibfehler, der nur aus der Graphic des Originals („cuene">„euene") erklärt werden kann. Die Zwischenstufe Z kann in diesem Fall also nicht aus B. IV hergeleitet werden, sondern nur aus dem Original selbst, eine Möglichkeit, die Mötsch einräumt für die in B. I-III erhaltenen, aber in B. IV fehlenden Urkunden.17 Die von Paul Richter postulierte Zwischenstufe Balduineum X, ein direkt auf die Originale zurückgehender und möglicherweise in Rotulusform angelegter „Konzeptcodex"18, erklärt die Entstehungsrichtung der Variante „cuene"> „euene" nun ebenso wie die Annahme einer Zwischenstufe Z in Zettelform von Mötsch, nur müßte diese - wenn auch nur punktuell - nicht aus B. IV, sondern aus den Originalen hergeleitet werden. Die textkritische Diskussion der Variante aus der Überlieferung der Thurandt-Sühne legt aber auch die Vermutung nahe, daß als Vorlage für B. III immer wieder auch die Originale herangezogen werden konnten, und zwar nicht über eine Zwischenstufe, sondern direkt.19 Wie gerade die volkssprachigen Urkunden mit ihrem Variantenreichtum gut zeigen können, scheint die Entstehungsgeschichte der Balduineen doch komplexer gewesen zu sein, als das Stemma von Mötsch sie darstellt. Zur Charakteristik der Kopiare gehört schließlich noch die Untersuchung und Feststellung der beteiligten Schreiber, die im Entstehungs- und Überlieferungsprozeß eine wesentliche Rolle spielen.20 Am Balduineum ///war nur ein Schreiber tätig, an den Balduineen I und // waren es zwei Schreiber, eine Haupthand (A), welche alle im folgenden verglichenen Stücke in B. I und B. II schrieb, und eine weitere Hand (B); wieviele Schreiber am Balduineum IV beschäftigt waren, scheint noch nicht genauer untersucht worden zu sein.21 Ob die Schreiber der Kopiare auch Urkunden mundiert haben und diese Stücke eventuell auch in die von ihnen geschriebenen Kopiare eingingen, bliebe ebenfalls noch zu untersuchen.

17 18

19

20 21

Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 57, Anm. 214. Paul Richter: Die kurtrierische Kanzlei im späten Mittelalter. Leipzig 1911 (Mitteilungen der k. preußischen Archivverwaltung. 17), S. 70f.; zur Rotulusform der Zwischenstufe vgl. S. 71, Anm. l. Damit rechnet auch Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 56 dann, wenn mehrere Ausfertigungen vorhanden sind, von denen die eine in B. IV, die andere aber in B. I-III einging. Vgl. die vorbildliche Untersuchung von Schleidgen 1986, vgl. Anm. 6, S. 10-13. Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 62; an IV waren vermutlich mehrere Schreiber tätig, Mötsch spricht S. 63 von „einem Schreiber" für IV, S. 30 heißt es für IV „die Schreiber". Zu den Schreibern von B. I und II vgl. Richard Laufher: Untersuchungen über die Urkundensammlung des Trierer Erzbischofs und Kurfürsten Baldewin von Luxemburg. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 2, 1950, S. 141-162; zu den Schreibanteilen der Schreiber A und B vgl. die Tabellen hinter S. 144 und S. 152.

Original- u. Kopialüberlieferung von deutschen Urkunden

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III. Doch nun zu meinen drei Beispielen. Das erste, die Sühne von Thurandt, ist in allen vier Balduineen überliefert.22 Da die Originalurkunde erhalten ist, kann die Textfassung der Kopiare mit der Quelle verglichen werden. Dabei läßt sich zeigen, welche Veränderungen der Wortlaut der ältesten deutschen Originalurkunde aus dem Moselraum bei seiner Übernahme in die Kopiare erfahren hat. Die Veränderungen beschränken sich im wesentlichen auf graphisch-lautliche und morphologische Erscheinungen. So werden die merkwürdig altertümlichen vollen Endsilbenvokalschreibungen der Originalurkunde von 1248 in der Regel beseitigt, aber nicht in allen Kopiaren; wo sie erhalten bleiben, dürften sie auf das Original beziehungsweise die Zwischenstufe Z oder X zurückgehen, denn daß sie unabhängig von einer Vorlage in die jüngeren Kopiare selbständig eingeführt werden, ist ausgeschlossen. Dazu einige Beispiele: „süna", „ensida" (Original und B. IV) - „süne", „enside" (B. I-III), „grevo" (6x Original, je 3x B. II und III) - „greve" (je 6x B. IV und I), „helfera", „wemo", „demo" (nur Original) - „helfere", „weme", „deme" (B. I-IV). Die auffallenden westmoselfrk. Pronominalformen mit „h-", nicht nur bei „he"/„her" für „er", sondern auch bei „hit", „hir", „hime" für „it", „ir", „ime" werden in B. IV fast sämtlich durch die „h"-losen Formen ersetzt, in den drei jüngeren Balduineen geschieht die Ersetzung jedoch stufenweise: B. III, das wohl die Vorlage für B. I und II war, bewahrt die prothetischen „h-" der Pronomina noch, die beiden anderen Kopiare, die zuletzt entstanden, aber nicht mehr. Ähnlich verteilt sind die Formen für das Pronomen beziehungsweise den Artikel im Fern. Singular und Plural: B. III und II haben die Form der Quelle, nämlich „di"; B. IV und I dagegen setzen unabhängig davon die obd. Form „die", mit „ie"-Schreibung also. Auch die für das Westmitteldeutsche charakteristischen Kontraktionsformen sind nur in B. III, nicht aber in B. IV sowie in B. I und II konsequent erhalten: „ingesiele", 22

Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 117, Nr. 208; dort auch die Überlieferungsnachweise in allen vier Balduineen, die Archivsignatur der Originalurkunde = LHA Koblenz Best, l A 110 und ein Kurzregest. Die Originalurkunde ist abgedruckt bei Friedrich Wilhelm: Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Bd. I: 1200-1282. Lahr 1932, S. 22f. (Nr. 9), ein verbesserter diplomatischer Abdruck bei Kurt Gärtner u. Günter Holtus: Einführung in das Projekt 'Westmitteldeutsche und ostfranzösische Urkunden- und Literatursprachen im 13. und 14. Jahrhundert'. Mit einem germanistischen und einem romanistischen Beispiel. In: Beiträge zum Sprachkontakt und zu den Urkundensprachen zwischen Maas und Rhein. Hrsg. von Kurt Gärtner u. Günter Holtus. Trier 1995 (Trierer Historische Forschungen. 29), S. 11-40, hier S. 18f., Faksimile S. 38; die Rückvermerke sind S. 20 von mir unzutreffend beurteilt, sie gehören zur Entstehungsgeschichte der Glossare, vgl. dazu Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 58f. und Richter 1911, vgl. Anm. 18, S. 63-68. - Auch Ames 1976, vgl. Anm. 14, hat diese Urkunde in seine Schreibsprachenanalysen einbezogen, ebenso wie die Balduineen, doch interessiert ihn das Verhältnis von Originalausfertigung und Kopiar eher am Rande (S. 7-9), weil die Entwicklung des Schreibgebrauchs in der Zeit Balduins im Mittelpunkt steht, für den die Originalurkunden in erster Linie die Basis bilden. Die Kopiare nehmen nach seinen Beobachtungen nur in begrenztem Maße an dieser Entwicklung teil, denn sie weisen im allgemeinen eine große Überlieferungstreue auf (vgl. S. 69); B. II, mit den modernsten Zügen und in einer Buchschrift auf hohem Niveau geschrieben (wie auch B. I), wird von Ames bevorzugt (vgl. z. B. S. 61) gegenüber B. III, das wie B. IV in Kursive geschrieben ist.

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„besielen" (Original und B. III) - „ingesigele" (B. IV), „ingesiegele" (B. I-II), „besiegelen" (B. IV, I-II). In der Datierungsformel haben für den Genitiv „dages" das Original und B. I-III die Kontraktionsform „daes", B. IV aber „dages", für den Dativ „daye" des Originals haben B. I-III „dage", B. IV hat „daige", das aussieht wie eine Kompromißform, die sich jedoch in das Schreibsystem von B. IV fügt, denn B. IV hat gegen das Original und gegen B. I-III mehrfach die aus ripuarischer Schreibtradition stammenden Formen mit dem als Dehnungszeichen bekannten 'graphischen „i"' („goitzhous", „goider", „gedain", „gelais"= „geläz"", „dein").'* Konstant und ohne Ersetzung werden in der Gruppe B. I-III die westlichen Präpositionen „bit" für „mit", „van" für „von" und die typisch ripuarisch-kölnische Form der Konjunktion „inde" für „vnde" bewahrt; nur ausnahmsweise weichen die beiden jüngsten Kopiare B. I und II, in denen der Urkundentext vom selben Schreiber (A) geschrieben wurde, ab und ersetzen „inde durch „vnde" und „van" durch „von". Das älteste Kopiar dagegen, B. IV, ersetzt die westlichen Formen außer „bit" fast durchgehend. Es ergibt sich folgende Verteilung:

Orig. B. IV B. III B. II B. I

bit 5 5 5 4 5

mit 1 -

van 8 1 8 8 7

von 7 1

inde

unde

15 4 15 14 13

10 1 2

Die Änderungen des Textes, die am meisten auffallen, betreffen die Schreibungen für die Namen 'Köln' und 'Luxemburg'. Die westliche, dem Niederländischen verwandte Form „Keulnen" (Dativ) mit „K" und „eu" für Köln wird in B. I-III durch „Collene" mit „C" und „o" durchgehend ersetzt; ebenso wird die romanisierte Form „Lucenburg" in B. III durch „Lutzellemburg" und in B. I und II durch „Lutzillimburg" ersetzt. B. IV dagegen hat die dem Original näherstehenden Formen „Kuelen" beziehungsweise „Luc(c)elenburg". Auf die Orte wird also beim Anlegen des Kopiars mit der vermutlich jeweils aktuellsten Form Bezug genommen. Der rund 100 Jahre ältere Text der Originalurkunde, der Quelle also, wird bei den Namenschreibungen am stärksten verändert; und zwar in allen vier Kopiaren. Das gilt nach Mötschs Beobachtungen ebenso für die

23

Vgl. Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Unter der Leitung von Bettina Kirschstein und Ursula Schulze erarbeitet von Sibylle Ohly und Peter Schmitt. Bd. 1. Berlin 1994, S. 609: „geläz" wird hier als st. M. o. N. 'Überlassung, Auftrag' erklärt, erwogen wird auch eine Verschreibung für das Part. Prät. „geläzen". Nach meiner Ansicht handelt es sich um einen frühen Beleg für das Part. Prät. ohne ,,-en", wie es für das Moselfrk. kennzeichnend ist. 24 Vgl. Thomas Klein: Längenbezeichnung und Dehnung im Mittelfränkischen des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Quantitätsproblematik und Metrik. Greifswalder Symposion zur germanischen Grammatik. Hrsg. von Hans Fix. Amsterdam, Atlanta 1995 (Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik. 42), S.41 -71.

Original- u. Kopialüberlieferung von deutschen Urkunden

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lateinischen Urkunden,25 die im Gegensatz zu den volkssprachigen Urkunden sonst kaum Varianten in der Kopiarüberlieferung aurweisen. Mein zweites Beispiel ist eine sehr umfangreiche Urkunde; es handelt sich um einen Friedensvertrag, den Erzbischof Balduin für die Gräfin Loretta von Sponheim am 7. Juli 1328 ausstellte. Mit dieser Sühneurkunde wurden die Auseinandersetzungen zwischen dem Erzbischof und der Gräfin beendet, im Verlauf derer der Erzbischof einige Wochen vorher bei einer Fahrt moselabwärts auf dem sponheimischen Gebiet von den Leuten der Gräfin gefangengenommen worden war.26 Diese Urkunde ist in drei Ausfertigungen erhalten, eine davon ist ein Rotulus. Sie ist nur ins Balduineum IV, das älteste Kopiar also, eingegangen und ist dort unter die Temporalia eingereiht.27 Daß der Erzbischof die Angelegenheit mit der streitbaren Gräfin über 20 Jahre später endgültig geregelt hatte, liegt nahe anzunehmen. Von den drei Ausfertigungen befinden sich zwei im Bestand 'Kurtrier' des Landeshauptarchivs Koblenz, eine in einem Bestand des Hauptstaatsarchivs München, der aus dem Archiv der Sponheimer stammt.28 Die Quelle für das Kopiar war eine der Kurtrierer Ausfertigungen; ihre Textfassung geht nur ganz geringfügig verändert ins Kopiar ein, aber es gibt auch merkwürdige Übereinstimmungen des Kopiars mit der Sponheimer Ausfertigung, so daß eine verlorene weitere Ausfertigung angenommen werden könnte, welche die direkte Vorlage für den Schreiber des Kopiars war. So hat das Kopiar regelmäßig „von", die Kurtrierer Ausfertigungen noch öfter „van", die Sponheimer ausschließlich „von". Die Sponheimer Ausfertigung hat 12mal regionales „bit", 22mal überregionales „mit", die Kurtrierer Ausfertigungen und das Kopiar kennen nur „mit".29 Die Formen für Oder' dagegen sind so verteilt, daß die überregionale Form „odir" (46mal) ausschließlich in der Sponheimer Ausfertigung erscheint, die regionale Form „of dafür in den Kurtrierer Ausfertigungen und im Kopiar. Formen für „daz"/„dat" sind ähnlich verteilt:

1. LHA Koblenz Best. 1 A Nr. 4658 2. LHA Koblenz Best. 1 A Nr. 4659 3. HStA München Sponh. Urk. V. 206 4. Balduineum IV

25 26

27 28

29

dat

daz

31 29 32 14

41 42 38 60

Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 53, Anm. 204. Vgl. Johannes Mötsch: Trier und Sponheim. In: Balduin von Luxemburg 1985, vgl. Anm. 7, S. 357401, hier S. 372-376. Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 205, Nr. 846. Die Kurtrierer Ausfertigungen ebda; die Sponheimer bei Johannes Mötsch: Die Regesten des Archivs der Grafen von Sponheim 1056-1437. Bd. 1. Koblenz 1987, S. 310-313 (Nr. 475). Die Angaben beruhen auf der gründlichen Untersuchung zu den Ausfertigungen und der Kopiarüberlieferung, die Joachim Thielen im WS 1985/86 als Hausarbeit vorgelegt hat.

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Kurt Gärtner

Die Sponheimer Ausfertigung bietet eine merkwürdige Mischung von modernen überregionalen und regionalen Formen; die Kurtrierer (Nr. l und 2) sind konsistenter, das Kopiar (Nr. 4) weist die größte Konsistenz auf. Die sprachlichen Veränderungen sind also geringer in der Kopiarüberlieferung solcher Quellen, deren Entstehungszeit und Entstehungsort nicht weit weg vom Kopiar liegen. Für die Quellenkritik wäre die Aufgabe, anhand der drei erhaltenen Ausfertigungen die Vorlage des Kopiars zu eruieren, um diese Vorlage in der Edition des Kopiartextes in geeigneter Weise zu berücksichtigen. Mein drittes Beispiel ist eine wieder in alle vier Kopiare eingegangene Urkunde, die ebenfalls aus dem Jahre 1328 stammt, es handelt sich um die Beilegung eines Streites, den der Erzbischof mit dem mächtigen Wilhelm von Manderscheid ausgetragen hat.30 Die Unterschiede zwischen der Kurtrierer Ausfertigung und allen vier Kopiaren, die untereinander nicht sehr differieren, sind gering. So wird z. B. das Modalverb 'sollen' in der Quelle, der Kurtrierer Ausfertigung, immer nur mit einem T geschrieben, in den Kopiaren dagegen mit doppeltem T. Die typisch moselfränkischen Schreibungen „eruen", „auer", „auend" sind in der Quelle durchgehalten, in den Kopiaren dagegen nicht immer, im Balduineum II werden die spirantischen Schreibungen „eruen", „auer", „auend" systematisch ersetzt durch „erben", „aber", „abend". Die Tendenz zu überregionalen Formen in den Schreibungen ist aber nicht nur um 1350 ausgeprägter als um 1328. Schon im ältesten Kopiar, dem Balduineum 7Faus den 1330er Jahren, gibt es Abweichungen vom Original, die, wie schon in der Thurandt-Sühne, wiederum viel größer sind als in den jüngeren Kopiaren. Sie bestätigen die Beobachtung, daß B. IV nicht eine Vorstufe von B. I-III gewesen sein kann. Doch will ich hier den Detailvergleich abbrechen.

IV.

Das Studium der Varianten beim Vergleich von Quelle und Text wird hier nicht betrieben um der Textgeschichte der Einzelurkunde willen, sondern um das Neue und für den Text des Kopiars und seine Geschichte Relevante zu erkennen und um das Schreiberverhalten im Kopierprozeß zu beobachten. Quellenkritische und textkritische Untersuchungen zu den Balduineen zeigen, daß Entstehungs- und Textgeschichte der Kopiare ein komplizierter, aber überschaubarer Prozeß waren, bei dem man wohl auch mit nicht erhaltenen Vor- und Zwischenstufen zu rechnen hat. Aber die Zahl der Zwischenstufen ist begrenzt. Überschaubar ist auch die Zahl der Schreiber. Für die jüngeren Balduineen I-III sind drei Hände zu unterscheiden, aber nur zwei kommen in der Regel in Frage, weil ein einziger Schreiber den Großteil von B. I wie B. II geschrieben hat.31 Die Art der Textbehandlung, gerade wenn man die Originalurkunden zum Vergleich hat, ist höchst aufschlußreich. Derselbe Schreiber schrieb z. B. über viele Seiten nur 30 31

Vgl. Mötsch 1980, vgl. Anm. 8, S. 205, Nr. 848. Vgl. ebda, S. 62f.

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lateinischen Text, wechselte dann aber immer wieder kurz zum Französischen oder Deutschen über, ohne daß die volkssprachigen Texte entstellt wurden. Der quellenkritische Detailvergleich, den ich nur anhand von wenigen Beispielen vorgeführt habe, zeigt gerade auch, daß diese volkssprachigen Urkunden, die Quellen also, bei der Übernahme ins Kopiar nicht einer strikten orthographischen Normalisierung unterworfen werden, sondern daß eine Aktualisierung des Wortlautes auch bei den zeitlich entfernteren Stücken nur in begrenztem Maße stattfindet.32 Aufgrund ihres Variantenreichtums eignen sich die volkssprachigen Stücke besser zur Aufhellung der Entstehungsgeschichte der Kopiare als die lateinischen, auf die sich die Historiker in der Regel beschränken. Was in diesem Beitrag anhand von drei deutschen Urkunden versucht wurde, sollte auch für die französischen Urkunden, die in die Balduineen eingegangen sind, von romanistischer Seite einmal versucht werden. Die Untersuchung des Verhältnisses von Quelle und Text am Beispiel von Originalund Kopialüberlieferung ist auf jeden Fall aufschlußreich für den Überlieferungsprozeß und möglicherweise in einigen Fällen übertragbar auf die Überlieferung von literarischen Texten, insbesondere der volkssprachigen Kleinepik. Mit einem Blick auf diese möchte ich daher schließen. Die Kopiare erlauben ergiebige quellenkritische Untersuchungen, ihre Entstehungsund Textgeschichte ist viel klarer konturiert als die von Werken der volkssprachigen Kleinepik. Sie könnten daher eventuell zur Aufhellung der Entstehung der großen Sammlungen wie der Heidelberger Handschrift Cpg 341 und ihrer Schwesterhandschrift aus Kälocsa, die heute in der Bodmeriana in Genf als Cod. Bodmer 72 aufbewahrt wird, beitragen. Das Verhältnis dieser beiden Handschriften zueinander ist ähnlich dem der jüngeren Balduineen. Wie die Kopiare sind auch die großen Sammelhandschriften des 14. Jahrhunderts systematisch geordnet. Sie haben Rubriken mit Inhaltsangaben und zum Teil auch Register zur raschen Orientierung; es sind nicht Sammelsurien, sondern planvoll angelegte Gesamtwerke, die als solche heute auch durch Editionen erschlossen werden. Die Werke der Kleinepik, die im Konvoi der großen Sammelhandschriften überliefert werden, sind zunächst auch einmal in diesem Verband zu betrachten und ihre Textveränderungen aus den Überlieferungszusammenhängen zu erklären.33 32

33

Vgl. auch Schleidgen 1986, vgl. Anm. 6, S. 17: „Eine größere Zahl von Abweichungen ergibt sich nur bei den deutschen Urkunden. Auch hier ist das Bemühen des Kopisten unverkennbar, selbst die Orthographie der Vorlage beizubehalten." Für die Herstellung von maschinenlesbaren Versionen der untersuchten Urkundentexte habe ich Ruth Rosenberger und Thomas Rothenbücher zu danken; die in dem Beitrag erörterten Fragen konnte ich mit Thomas Bonn, Friedhelm Burgard und Andrea Rapp erörtern. Allen bin ich zu Dank verpflichtet. Der vorstehende Beitrag ist im Rahmen der Arbeiten des von Günter Holtus (ehemals Trier, jetzt Göttingen) und mir geleiteten Teilprojektes D7 'Westmitteldeutsche und ostfranzösische Urkunden- und Literatursprachen im 13. und 14. Jahrhundert' des Sonderforschungsbereichs 235 der Universität Trier ('Zwischen Maas und Rhein: Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert') entstanden. Zu den Arbeiten des Teilprojektes vgl. den Anm. 22 genannten Sammelband von Kurt Gärtner und Günter Holtus.

Andrea Hofmeister

Quelle und Macht Bewußte Quellenberufungen als Mittel rechtlicher Sicherung beim Brixner Dommesner Veit Feichter (Mitte 16. Jh.)

I. Vorbemerkung Die Schriften des Brixner Dommesners Veit Feichter, von denen in diesem Beitrag die Rede sein wird, sind bisher noch nicht ediert worden. Diese Aufgabe habe ich übernommen, und zwar soll das umfangreichere der beiden Werke, das sogenannte Brixner Dommesnerbuch in absehbarer Zeit zusammen mit der Darstellung eines eigens dafür entwickelten Konzepts einer 'dynamischen Edition' auf der Basis von paläographischen und graphematischen Analysen verfügbar sein; das sogenannte Dommesner-Urbar, das ebenfalls bereits als Rohtranskription vorliegt, kann unmittelbar danach folgen. In meinem Beitrag zum Themenkreis 'Quelle - Text - Edition' will ich jedoch nicht auf besagtes Editionskonzept eingehen.' Vielmehr möchte ich mich dem dritten Aspekt des Rahmenthemas dieser Tagung widmen, nämlich den Quellen - allerdings im historiographischen Sinn -, aus denen Feichter zum einen das in seinen Schriften tradierte Wissen bezieht und welche er zum anderen als Beweis für die Richtigkeit seines Rechtsstandpunktes zitiert. Um es gleich vorwegzunehmen: Keine der Quellen, aus denen Feichter geschöpft hat, ist uns direkt überliefert;2 wir können lediglich deren Reflexe in seinen Schriften erkennen. Daher wird es hier nicht möglich sein, objektive Vergleiche mit diesen Vorlagen anzustellen. Was jedoch ungeachtet der fehlenden Originale sehr wohl möglich scheint, ist eine Zusammenstellung und Klassifizierung der verschiedenen Quellen nebst Überlegungen zu Art und Funktion ihres Einsatzes.

Das Editionskonzept wurde zuletzt anläßlich des 3. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (1995) vorgestellt: Andrea Hofmeister: Dynamische Edition in Theorie und Praxis. Editionsmethodische Überlegungen anhand der Schriften des Brixner Dommesners Veit Feichter. In: Literatur und Sprache in Tirol. Von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Akten des 3. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (10.-12. April 1995). Hrsg. im Auftrag des Vigil-Raber-Kuratoriums Sterzing von Michael Gebhardt und Max Silier. Innsbruck 1996. (= Schlern-Schriften. 301.) S. 339-358. Zumindest nach meinem derzeitigen Kenntnisstand; vielleicht könnte entsprechende Hartnäckigkeit doch noch das eine oder andere Stück zutage fördern.

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Andrea Hofmeister

II. Biographische Daten zu Veit Feichter Als Veit Feichter nach dem Tod seines Vaters mit Datum des 30. Juni 1547 vom Brixner Domkapitel als dessen Nachfolger in das Amt des Dommesners eingesetzt wurde, war damit gleichzeitig der Auftrag verbunden, ein „Inventar" zu verfassen.3 Veit Feichter war für diese Aufgabe geradezu prädestiniert, hatte er doch seit 15234 - wohl bereits im zarten Knabenalter5 - bei seinem Vater Cristan Feichter die Lehre als Dommesnerknecht absolviert und war also in diesem Metier gleichsam aufgewachsen. Seine Schriftkundigkeit dürfte Veit Feichter in der 'hauseigenen' Domschule erworben haben, die nicht ausschließlich von zukünftigen Geistlichen, sondern auch von Bürgersöhnen besucht wurde. Es scheint nicht ausgeschlossen, daß das Domkapitel den Mesnersohn bereits frühzeitig gezielt förderte, um seine Qualifikation für das ihm zugedachte Amt zu erhöhen.6 Während seiner - gemessen an seinen Vorgängern - relativ kurzen Amtszeit als Dommesner (1547-1560) verfaßte Feichter also auftragsgemäß ein „Inventar"7, der Anlage nach „eine Art Gültenverzeichnis bzw. Zehentinventar"8, das jedoch bereits nach dem ersten Sechstel seines Umfanges den gattungsspezifischen inhaltlichen Rahmen verläßt und eine Vielzahl von Aufzeichnungen unterschiedlichsten Inhalts in sich vereinigt, die lediglich durch den Umstand zusammengehalten werden, daß sie allesamt im engeren oder weiteren Sinn mit den juridischen und wirtschaftlichen Belangen des Dommesenamtes (und damit unmittelbar auch dessen Verwalters) zu tun haben. Die Abfassungszeit konnte von Wernfried Hofmeister aufgrund innerhandschriftlicher 3 4

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Vgl. Domkapitel-Protokolle [Brixner Domkapitelarchiv, o. Sign.], Bd. IV,98: 1547, VI, 30. Veit Feichter gibt in seinem Urbar (DMU, 18r/25) an, er sei Vom 23 lar biß auffdas 47 lar Mesnerknecht gewesen. Das Geburtsjahr Veit Feichters ist nicht belegt, kann jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit im Zeitraum zwischen 1510 und 1515 angesetzt werden. Sein Vater war um 1495 aus Gereuth bei Brixen zugewandert und hatte im Domkapitel als Dommesnerknecht Anstellung gefunden. 1510 war er zum Dommesner befördert worden, wie aus den Angaben Veit Feichters im biographischen Vorwort seines Urbars errechnet werden kann, und hatte 1519 das Bürgerrecht erlangt, wie aus der entsprechenden Eintragung im Bürger vnd Inwoner Püech zu Brixen. Vom 1500: lar an / bis 1593, fol. 22r [Stadtarchiv Brixen, A-6] hervorgeht. Das erste urkundlich gesicherte Lebensdatum Veit Feichters ist seine Bürgerrechtsverleihung 1549 (vgl. ebda, fol. 72v). Einen weiteren Anhaltspunkt liefert uns Feichter in seinem Urbar (fol. 44r), wo er seine persönlichen Eindrücke vom Bauernaufstand in Brixen 1525 schildert, den er als junger Mesnerknecht miterleben mußte. In der Tat scheint es in Brixen Tradition gewesen zu sein, daß der jeweilige Dommesnerknecht in das Amt nachfolgte: So hatte bereits Cristan Feichter das Amt von seinem Lehrherrn Hans Valser nach dessen Tod 1510 übernommen (vgl. das in Anm. 5 erwähnte Vorwort zu Feichters Urbar), und auch nach Veit Feichters Tod 1560 rückte dessen Knecht Gallus Fächer nach (vgl. Domkapitel-Protokolle, Bd. V, 197: 1561,I,29undV,218: 1561, IV, 20). Nach Emil von Ottenthal / Oswald Redlich: Archiv-Berichte aus Tirol. Bd. II. Wien, Leipzig 1896, S. 418, wird das „Urbar des Dommesenamtes mit Abschr. der zugehörigen Urk. aus dem 17. Jahrh." (o. Sign.) im Brixner Domkapitelarchiv, Schrank II, Lade 37, aufbewahrt; laut mündlicher Auskunft von Herrn Dr. Karl Wolfsgruber im August 1993 befindet sich der Kodex jedoch in Lade 32. Wernfried Hofmeister: Erzähltes Recht. Der Bohnenstreit im 'Urbar' Veit Feichters, thuem mesner vnd burger zu Brichsen. In: Literatur und Sprache in Tirol 1996, vgl. Anm. l, S. 433.

Quelle und Macht

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Indizien für den Zeitraum zwischen dem Herbst des Jahres 1555 und dem Jahr 1558 nachgewiesen werden.9 Diese Sammlung von 'Urbarialien' - ich bezeichne sie in weiterer Folge der Einfachheit halber als Dommesner-Urbar (DMU) - umfaßt 59 Papierblätter in 9 unterschiedlich starken Lagen etwa in DIN A4-Format und ist in ein Pergamentblatt aus einer ausrangierten liturgischen Handschrift eingeschlagen. Dem Textteil sind ein detailliertes Inhaltsverzeichnis (fol. Ir-IIIv) und eine Art Vorwort (fol. Or-v) vorangestellt. Letzteres erteilt über Motiv und Intention der Niederschrift sowie über die Biographie Feichters Auskunft und stellt somit eine reiche Ergänzung zu den spärlichen, in äußerst mühevoller Kleinarbeit zu gewinnenden Hinweisen aus anderen archivalischen Quellen dar. Die Handschrift wird ergänzt durch ein 'Einkünfteverzeichnis', ein 24 Blätter von DIN A5-Format in 2 losen Lagen enthaltendes Heft ohne Einband, das ich künftig Urbar-Heft (UH) nennen werde. In diesem Heft notierte Feichter seit seinem Amtsantritt jährlich die tatsächlichen Einnahmen des Dommesenamtes aus den abgabenpflichtigen Gehöften, und zwar für die ersten Jahre seiner Amtszeit zumeist nachträglich aufgrund von „zedF'/„zedlen"10 (UH, l v/2 und 3v/2) beziehungsweise aus dem Gedächtnis und daher nur summarisch, während die Einkünfte etwa ab 1555 bis 1557 für jedes Jahr detailliert aufscheinen. Außer diesem Dommesner-Urbar verfaßte er während seiner Amtszeit" (in Eigeninitiative?) noch eine zweite, mit 184 Blättern im Folioformat weitaus umfangreichere Handschrift, die den (nachträglich von anderer Hand beigefügten) Titel „Directorium seu Rubrica pro vtilitate chori ac Editui Eccl(es)ie Brixinen(sis)" trägt.12 Ich schlage für diese Schrift die schlichte Bezeichnung Dommesnerbuch (DMB) vor in Anlehnung an die Benennung ähnlicher Texte.13 Dieses Werk will in erster Linie Anweisungen zur Durchführung der liturgischen Riten aus der Sicht des Mesners für einen ebenfalls laikalen Amtsnachfolger liefern und ist daher im Gegensatz zu allen anderen liturgischen Schriften in deutscher Sprache abgefaßt. Inhaltlich vereinigt es eine Mischung von vielerlei liturgischen Textsorten in 9

Vgl. ebda, S.433,Anm. 3. Die graphische Gestalt der Textzitate aus den Schriften Feichters ist in diesem Beitrag gegenüber der diplomatischen Rohtranskription hinsichtlich der Superskripte leicht normalisiert: gewöhnliches Häkchen über u sowie Trema über y werden unterdrückt, alle anderen Superskripte werden einheitlich durch den Akut (') wiedergegeben und damit graphematisch wie phonematisch nicht näher interpretiert. Auf die Beibehaltung originaler Unterstreichungen wurde hier verzichtet, da sie nur in größerem Kontext Informationswert besitzen. Alle übrigen Phänomene der Graphic (z. B. Groß- und Kleinschreibung, Interpunktion etc.) entsprechen jedoch dem Original. " Wohl kaum gleichzeitig, sondern eher etwas später (1558?), worauf die spärlich auftretenden Datumsangaben im Dommesnerbuch vorsichtig schließen lassen: Das Jahr 1554 wird auf fol. 36r/10 und 72v/l l, das Jahr 1558 auf fol. 153r/30 (Fest Maria Himmelfahrt, 15. August) als bereits vergangen genannt; der letzte Nachtrag Feichters nach Abschluß des kirchlichen Jahreskreises ab fol. 182r schildert die Begräbniszeremonie für Kaiser Karl V. im Domstift am 15. Jänner 1559. 12 Brixner Domkapitelarchiv, o. Sign., Abt. Codices. 13 Inhaltlich vergleichbar sind etwa die beiden von Albert Gumbel 1928 bzw. 1929 herausgegebenen 'Mesnerpflichtbücher' aus Nürnberg (1493 und 1482) sowie das noch unedierte deutschsprachige 'Mesnerbuch' aus Innichen (um 1617), das von Egon Kühebacher: Prozessionen des Stiftes Innichen im frühen 17. Jahrhundert. In: Der Schiern 60, 1986, S. 641, Anm. 30, so genannt wird. 10

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sich. Die nicht vom Autor selbst stammende Bezeichnung „Directorium" wird dem Inhalt des Werkes insofern gerecht, als es sich tatsächlich um einen 'Liber Ordinarius', ein liturgisches Regelwerk, handelt, dessen Ordnung vom liturgischen Jahreskreis bestimmt wird, auch wenn ein solchen Direktorien meist eigens vorangestellter General- oder Regionalkalender fehlt. Überhaupt besitzen die Anweisungen nicht für ein bestimmtes Jahr Geltung, sondern sind aufgrund spezieller Zusatzhinweise beliebig übertragbar, so daß wir eine Art „'ewiges' Direktorium"14 in Händen haben. Das im Titel synonym gesetzte „Rubrica", ursprünglich „Anweisungen für den Gebrauch der liturgischen Texte und den Vollzug der Zeremonien",15 trifft den Inhalt insofern nicht exakt, als es dem Mesner nicht darum geht, die Auswahl und Reihenfolge der liturgischen Texte und Gesänge für jeden Tag festzulegen und in Form von Initien zu notieren ganz zu schweigen vom ursprünglich wörtlich gemeinten Einsatz roter Tinte für die optische Trennung der Regieanweisungen von den schwarz geschriebenen liturgischen Texten.16 Vielmehr beschreibt Feichter, was der Kirchendiener in Ausübung seines Amtes zur jeweiligen liturgischen Handlung vorzubereiten und beizutragen hat, und wenn er Initien von liturgischen Texten anführt, so zu dem Zweck, die nötigen Stichworte für den Mesner zu liefern, die einen penibel geregelten Ablauf der Zeremonien ermöglichen. Doch sind die Anweisungen nicht auf die Vorgänge während der Gottesdienste beschränkt, sondern widmen vor allem den Vorbereitungen und Tätigkeiten 'hinter der Kulisse' vor und nach den liturgischen Feiern breiten Raum. Insofern könnte man dieses Buch eher als 'paraliturgisches' Schrifttum einstufen, das von der Perspektive des für einen genau abgesteckten Bereich zuständigen Mesners geprägt ist.

III. Die Erwähnung von Quellen in den Schriften Veit Feichters All dieses Wissen um die Belange des Dommesenamtes, das in den beiden Schriften seinen Niederschlag gefunden hat, verdankt der Autor nicht allein seiner eigenen langjährigen Berufspraxis. Ein Großteil davon wird ihm durch mündlichen Bericht seines Vaters überliefert worden sein, doch weisen gelegentliche Erwähnungen in seinen Schriften daraufhin, daß ihm wohl auch schriftliche Quellen zur Verfügung standen. Stellt man die direkten und indirekten Nennungen von schriftlichen und mündlichen Quellen im Dommesnerb u c h zusammen, fällt die Ausbeute eher spärlich aus: Veit Feichter zitiert darin nämlich keinerlei schriftliche Vorlagen, die er für seine Aufzeichnungen als Quelle herangezogen hat, jedoch läßt sich vermuten, daß die dem DMB zugrunde liegenden liturgischen Regeln (Kalender etc.) mit den entsprechenden lateinischen Ordines der Geistlichkeit übereinstimmen. Ob er diese allerdings persönlich 14

15

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Virgil Fiala / Wolfgang Irtenkauf: Versuch einer liturgischen Nomenklatur. In: Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften. Hrsg. von Clemens Köttelwesch. Frankfurt a. M. 1963. (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderheft.) S. 119. A. Stiegler: Rubriken. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 2., völlig neu bearbeitete Aufl. Hrsg. von Josef Höfer und Karl Rahner. Bd. 9. Freiburg 1964, Sp. 82. Vgl. ebda.

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eingesehen hat, von einem Geistlichen darin unterwiesen wurde oder, was eher unwahrscheinlich ist, alle Fakten einzig aus seiner täglichen Erfahrung zusammengetragen hat, läßt er offen. Ein Querverweis auf das Dommesner-Urbar im Dommesnerbuch überschreitet die Grenze zwischen dem liturgischen und dem wirtschaftlich-rechtlichen Verantwortungsbereich des Dommesners: Dieser Verweis findet sich in Form einer Marginalie von Feichters Hand in DMB, fol. 70r/14: „von wegen zwayer maß weins vo(n) kern / fuech in meinem vrbar / das ich gefchriben hab". Hat dieser Vermerk auch als heiße Spur zur Wiederentdeckung des Dommesner-Urbar s geführt, so zielt diese Marginalie leider doch ins Leere, denn im ganzen Urbar ist die Entlohnung des Mesners für die österliche Kirchenreinigung in Form von Wein nirgends näher erläutert. Selbst das bereits im Inhaltsverzeichnis des Urbars angekündigte Kapitel „Von der Thuembkirchen vnd Creuczgang auf zu kern 16" (DMU, IIv/3) zeigt keinerlei Korrespondenz zur genannten Marginalie. Dennoch kann der Nachweis der identischen Autorschaft mit absoluter Sicherheit erbracht werden, wie bereits eingangs ausgeführt wurde. Zahlreiche Kapitel über finanzielle Angelegenheiten des Mesners im Urbar beweisen den inhaltlichen Zusammenhang der beiden Handschriften. Nicht viel häufiger vertreten sind im Dommesnerbuch mündliche Quellen, und zwar in Form von insgesamt nur drei Berufungen auf väterliche Unterweisung17 sowie einer einzigen Berufung auf den Kustos als den unmittelbaren Vorgesetzten Feichters. Letzterer dürfte den direkten oder indirekten Anstoß für das Engagement Feichters zur Erhaltung der liturgischen Tradition gegeben haben. Dies läßt sich aus jener Passage im Dommesnerbuch herauslesen, wo Feichter sich ereifert gegen das Ansinnen der Priesterschaft,18 die Lichtmeßkerzen auch jenen auszuhändigen, die durch gleichzeitige Meß Verpflichtungen auf den Seitenaltären nicht zum rechten Zeitpunkt anwesend sein können. Dem starken Druck der Fordernden stellt er entgegen, daß es nicht in seiner Kompetenz liege, von der Tradition abzuweichen, und verweist auf die Autorität seines Vorgesetzten: „Es fey auch mier / durch meinem herren Cu[tor verpotten Das Ich der Cuftorej kain Newerung fol auffpringen" (45r/9-17). Auffällig sind im Dommesnerbuch Formulierungen, die auf nicht näher bestimmte 'Tradition' verweisen.19 Diese passen gut zur Grundhaltung, die der Verfasser gegenüber dem Inhalt seines Textes einnimmt: Die von ihm auf diesem Wege weitergege-

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„Item als ich vom meinen Lieben vatern feiigen vernomen hab" (llr/1); „Item Ich habs auch von meinem Lieben frumen vater feiigen gehört" (45r/26f.) und mehr beobachtend: „Als mein Lieber frumer vatter feiig hat gehalten" (83v/16f.). An mehreren Stellen im DMU und im DMB berichtet Feichter über die Zahl der benötigten Kerzen, für die er das Wachs beschaffen, die er aber auch selbst anfertigen mußte. Offenbar mußte er mit dem kostbaren Rohmaterial sparsam umgehen, denn das Gewicht und die Größe der Kerzen für die verschiedenen Anlässe waren genau vorgeschrieben. Die „abprunen kerczen ftimpff' (DMB, 173v/19) wurden für weniger festliche Messen verwendet und die Reste wurden zu neuen Kerzen verarbeitet. Es wurde stets streng darauf geachtet, wer die Kerzen für die einzelnen Messen (etwa aus Stiftungen) bereitstellen mußte. Beispiele: „wie gwonlich der prauch ift" (17r/15); „das ift der alt / vnnd recht brauch" (132v/16).

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bene Tradition gilt dem loyalen Kirchendiener als unumstößliches Faktum20 und bedarf, da sie dem sakralen Bereich angehört und allein aufgrund dieser Tatsache sakrosankt ist, keiner Legitimation. Daher betreffen die wenigen Quellenberufungen im Dommesnerbuch niemals liturgische Angelegenheiten, sondern ausnahmslos materielle Ansprüche entweder des Mesners gegenüber anderen Personen für bestimmte Leistungen oder umgekehrt. So konträr wie die Textgattungen sind, denen die beiden Schriften des Dommesners Feichter zuzuordnen sind, so verschieden ist auch die Handhabung von Quellenberufungen. Gut zwei Dutzend schriftliche Dokumente aus dem profanen rechtlichen Bereich und zwei Schriftstücke aus dem autonomen Verwaltungsbereich des Domkapitels finden im Dommesner-Urbar Erwähnung. Am häufigsten nennt Feichter „meine vrbar bayde / das gar alt vrbar / vnd meins vatern feiigen vrbar / welliches er [mangels Schriftkundigkeit] von Newen hat laf [en befchreiben / dem thuem mefen ambt zum gueten" (DMU, 48v/6-9).21 Bei diesen beiden Pergamenturbaren handelt es sich tatsächlich um die Hauptquellen für sein eigenes Urbar, auch wenn sie zu seiner Zeit längst nicht mehr auf dem neuesten Stand waren. Als Gründe dafür fuhrt Veit Feichter an, daß die Aufzeichnungen in jenem Urbar, das sein Vater erst wenige Jahrzehnte zuvor aktualisieren hatte lassen, lückenhaft seien (Or/22); manches habe ihm der Vater nur mündlich mitgeteilt (Ov/6-9), und zudem sei im Lauf der Zeit durch Verkauf oder Tausch manche Änderung in den Besitz- und Pachtverhältnissen eingetreten - zum Nachteil für das Dommesenamt (Or/25-Ov/5). Stolz behauptet er von diesen seinen Urbarien: „das feint mein vrbar / die ich von meinen vorfodern hab fo das nicht folt fein / fo meine vnuermayligte vrbar anzeigen / fo mieft alles nicht fein" (49v/12-14); und in der Tat behält Veit Feichter gemäß eigenem Bericht in jedem „Irtfpan" [= (Rechts-) streit22], den 20

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Weiteres Indiz für diese Grundhaltung des Dommesners ist die Ausdrucksweise im DMB. Die gesamte Schrift besitzt gemäß ihrer Intention Anweisungscharakter: Doch sind die Anweisungen nicht überwiegend im Imperativ der 2. Person Singular formuliert, sondern zumeist indirekt, indem der Ablauf der Handlungen in präsentischer Erzählform (oft im Passiv) geschildert wird und sehr häufig allgemeine und unpersönliche Formulierungen gewählt werden - wodurch der Verfasser sein Ich weitgehend zurückzunehmen scheint - nach dem Muster: 'man' + Verbum finitum oder 'man' + Modalverb 'muß' + Verbum finitum, während Einkleidungen in persönliche Erfahrungsberichte eher selten und dann in Zusammenhang mit Ausnahmesituationen auftreten, die eine spontane Entscheidung des Mesners erfordert haben: z. B. „Ich habs nachmals nicht Mer auß kort" (l l r/31); „vnd habs alfo gehalt(en)" (42v/21). Es sei daraufhingewiesen, daß sämtliche Urbar-Erwähnungen in Feichters DMU ausnahmslos die beiden vom Vater übernommenen Pergament-Urbare meinen und niemals sein eigenes Urbar, das zeitlich erst nach Beilegung der meisten beschriebenen Streitfälle entstanden ist. Vgl. W. Hofmeister 1996, vgl. Anm. 8, S. 439f. Dieser Ausdruck findet sich in Feichters Urbar dreimal (DMU, Ir/13 und 24, 35r/6), ist jedoch in den gängigen Wörterbüchern des Tirolischen (J. B. Schöpf: Tirolisches Idiotikon. Wiesbaden 1968. [= Neudruck der Ausgabe Innsbruck 1866.]; Josef Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten. Für den Druck vorbereitet von Karl Finsterwalder. 2 Bände. Innsbruck 1955-1956. (Schlern-Schriften. 119 und 120); Hans Fink: Tiroler Wortschatz an Eisack, Rienz und Etsch. Nachlese zu Josef Schatz. Wörterbuch der Tiroler Mundarten. Zum Druck vorbereitet von Karl Finsterwalder. Innsbruck, München 1972. (Schlern-Schriften. 250)) nicht verzeichnet. Die Bedeutung dieses offenbar

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er mit Hilfe dieser beiden Quellen bestreitet, recht, und diesen neuen geklärten Rechtszustand für seinen Nachfolger und alle künftigen Dommesner erläuternd festzuhalten, ist der Hauptzweck seiner jüngsten Urbar-Neufassung. Ehe er mit der Niederschrift des aktuellen Status quo beginnen konnte, mußte er gründliche Recherchen durchführen. So begab er sich „auch felber an die ort vnd endt" (Ov/9f.), befragte Zeitzeugen und studierte schriftliche Verträge. Gelang es ihm nicht, die Zehentpflichtigen von seiner Rechtsansicht zu überzeugen, sah er sich gelegentlich gezwungen, seinen obersten Vorgesetzten im Domkapitel, den Fürstbischof, oder ein weltliches Gericht als Beistand anzurufen.23 Mit seinen Bemühungen um die Wiederherstellung ursprünglicher Rechtsverhältnisse trug er wesentlich zur wirtschaftlichen Absicherung des Dommesenamtes sowie zur Sicherung seiner eigenen Existenz bei. Dies wird durch einen Vermerk in den Domkapitel-Protokollen unterstrichen, demzufolge Feichter für sein Engagement beim Verfassen dieser Handschrift eine Belohnung in der Höhe von 20 Gulden zuerkannt wurde.24 Die systematische und äußerst gründliche Vorgangsweise des Dornmesners bei der Erfüllung seines Auftrages erklärt auch den beträchtlichen zeitlichen Abstand zwischen der Auftragserteilung zum Zeitpunkt seines Amtsantritts und der Ausführung, hat Feichter doch korrekterweise zuerst recherchiert und sich um Ordnung der Verhältnisse bemüht und erst das Ergebnis seiner Arbeit mit allen rechtserheblichen Fakten in einer Art niedergeschrieben, die es künftigen Amtsnachfolgern ersparen sollte, die betreffenden Fälle jemals wieder von neuem aufrollen zu müssen. Auf der Grundlage der von ihm erhobenen Beweisquellen schuf Feichter also - notfalls durch Ergänzungen - ein Konvolut, das dazu bestimmt war, selbst zur Rechtsquelle zu werden.

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juristischen Terminus ergibt sich bei Feichter jeweils eindeutig aus dem Kontext. Lexikographisch zahlreich belegt sind hingegen Zwillingsformeln aus den beiden substantivischen Grundbestandteilen in wechselnder Reihenfolge wie z.B. „spenn/spän und irrigkait/irrthumb" oder ,,irr/irrung(en) und span/spän/spen" (vgl. Deutsches Wörterbuch. Von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 10,1. Leipzig 1905, Sp. 1867-1870; vgl. ferner den Beleg „irtung und span [...]" in: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Ulrich Goebel und Oskar Reichmann. Bd. 8, Lfg. 1: i, j. Bearbeitet von Vibeke Winge. Berlin, New York 1997, Sp. 231.). Es liegt also nahe, im Kompositum „Irtfpan" eine Verschmelzung der synonymen Komponenten, „irrung" (f., „zwist, span, Zerwürfnis"; s. Deutsches Wörterbuch, Bd. 4,2. Leipzig 1877, Sp. 2178; abgeleitet vom Adjektiv mhd. „irre", vgl. ebda, Sp. 2161, Abs. 4.) und „span" (m., „controversia, lis"; s. Deutsches Wörterbuch, Bd. 10,1. Leipzig 1905, Sp. 1867 und besonders Sp. 1869, wo speziell die Zwillingsformel „spän und irrung" als „rechtsausdruck der alten dorfgerichte" nachgewiesen wird.) zu sehen. Das t im Morphemauslaut von „Irt-" läßt sich einerseits als Epenthese erklären (vgl. Robert Peter Ebert [u.a.]: Frühneuhochdeutsche Grammatik. Hrsg. von Oskar Reichmann und Klaus-Peter Wegera. Tübingen 1993. (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. A, 12) § L 47,4.), andererseits könnte es von einer oberdeutschen Nebenform „irrtung" für „irrung" (vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 4,2. Leipzig 1877, Sp. 2179.) herrühren, die vermutlich als „Kontamination aus irrung und irtum" (Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, wie oben.) entstanden ist. Ob das Kompositum „Irtfpan" eine innovatorische Eigenschöpfung Feichters darstellt, kann derzeit nicht beurteilt werden, da diese Verschmelzungsform bislang nicht dokumentiert ist. Ebenso kann eine verstärkende semantische Wirkung der Kompositionsbildung gegenüber einfachem „span" o.a. nur vermutet werden. Siehe den von W. Hofmeister 1996, vgl. Anm. 8, analysierten 'Bohnenstreit' zwischen Veit Feichter und einem Pächter namens Urban Pirgstaller, der sich über mehr als fünf Jahre hinzog. Vgl. Domkapitel-Protokolle, Bd. Va, 157: 1559, X, 20.

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Andrea Hofmeister

Außer diesen beiden „pirgamen vrbar", die also die Ausgangsbasis für seine Tätigkeit bilden, erwähnt Feichter noch einige andere Quellen, die eine ergänzende Funktion erfüllen, wo die Informationen aus den Urbarien zur Beweisführung nicht ausreichen. Diese Schriftstücke erfahren durch den Dommesner je nach ihrer Wertigkeit verschiedene Behandlung: In manchen Fällen reicht es offenbar für seine Zwecke, deren Existenz zu erwähnen beziehungsweise anzugeben, wo sie einzusehen sind; besonders wichtige Schriftstücke, denen auch in der Zukunft höchste Relevanz zukommen würde, nimmt Feichter in umsichtiger Weise als Abschrift in sein Urbar auf. Diese Vorgangsweise wählt er etwa für zwei alte Verträge, die zwar der Kustos bei den Akten des Dommesenamtes verwahrt, die Feichter jedoch in seiner eigenen Aktensammlung jederzeit 'griffbereit' haben möchte. Aus demselben Grund trägt er einen nach langwierigem Rechtsstreit mit einem Bauern ausgehandelten Vertrag in sein Urbar ein25 und findet sich schon wenig später in seiner Strategie bestätigt, als derselbe Bauer bald nach Vertragsabschluß einen der festgehaltenen Vertragspunkte neuerlich in Zweifel ziehen möchte: Hier bewähren sich das minuziöse Verlaufsprotokoll des leidigen Streites und die sorgfältige Sammlung von rechtlichen Beweisen, denn mit Hilfe seines Urbars kann dem störrischen Bauern diesmal ein 'kurzer Prozeß' gemacht werden. Nicht in jedem Fall kann sich Feichter auf ein schriftliches Beweisdokument berufen. Relativ groß ist daher die Zahl der Nennung von mündlichen Zeugenaussagen (etwa von Nachbarn über den Verlauf von Grundstücksgrenzen oder über Tradition gewordene Vorgangsweisen bei der Zehenteinhebung etc.). Naturgemäß dürfte ein beträchtlicher Teil der mündlichen Unterweisungen von Feichters Vater stammen, dessen Autorität Feichter immer dann als zweitsicherste Instanz beizuziehen scheint, wenn er sich in seinen Aufzeichnungen nicht auf schriftlich fixierte Rechtsansprüche berufen kann und deshalb auf mündliche Rechtstradition angewiesen ist. Daß schriftliche Vereinbarungen mündlichen vorzuziehen und unbedingt streng nach ihrem Wortlaut einzuhalten sind, wird an mehreren Stellen deutlich, wo Feichter darauf besteht, daß Abweichungen von den ursprünglichen schriftlich festgelegten Zehentvereinbarungen zwischen seinem Vater und einzelnen Bauern jeweils nur bis auf Widerruf gelten können,26 längstens jedoch bis zum Ableben eines der beiden Rechtspartner. Jedenfalls weigert er sich mit dem Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit derartiger eigenmächtiger Änderungen, diese von seinem Vater 'als Erbe' zu übernehmen. Der Grund liegt auf der Hand: Wenn der Vater anstelle von ursprünglich (nach Gewicht oder Hohlmaß) vereinbarten Naturalien eine Geldabfertigung akzeptiert hat, ohne eine 'Indexanpassung' festzulegen, konnte dadurch dem Dommesenamt im Laufe mehrerer Jahrzehnte beträchtlicher finanzieller Schaden erwachsen.

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Die Abschrift des in der „Cuftorei" (40v/28) aufbewahrten „brieff (41r/3) vom 3. März 1552 befindet sich im DMU auf 41r/l - 41 v/23. „In dem hat fich mein vatter feiig laffen bereden / das ers alfo etlich wenig lar hat Eingenomen die 22 k(reuczer) / Aber doch mit der befchaidenhait / auff Irer bayder wall / Lenger nit / dan er kun feinen nachkomenden thuemb mefnern nicht vergeben / es fey auch nit In feiner macht" (35r/3 l-35v/l).

Quelle und Macht

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Zahlreiche Formulierungen berufen sich nicht auf konkrete Gewährspersonen, sondern auf die soziale Gemeinschaft schlechthin. Äußerungen dieser Kategorie sind demgemäß 'unpersönlich', wie z. B. die Erwähnung von Vulgo-Namen.27 In diesen Bereich der Beweisquellen gehört auch wiederum die 'Tradition', die Feichter durch gesellschaftliche Veränderungen - z. B. das im Zuge der Reformation und der Bauernaufstände aufkeimende Selbstbewußtsein der Zehentpflichtigen - bedroht sieht. Dies dürfte einer der Hauptgründe sein, weshalb er so sehr darauf bedacht ist, althergebrachte Verhältnisse auch im weltlichen Bereich zu erhalten und jeden Versuch, sie zu hinterfragen oder gar verändern zu wollen,28 im Keim zu ersticken. Ist aber eine Veränderung bereits eingetreten, muß diese unbedingt wieder rückgängig gemacht werden.29 Neben einigen konkreten Beispielen für Feichters Traditionsbewußtsein findet sich im Dommesner-Urbar noch ein weiteres Dutzend Berufungen auf „prauch" /„brauch", die jedoch eher allgemein affirmativen Charakter haben und in formelhaften Wendungen stehen.30 Nicht zuletzt stellt auch die eigene Erinnerung für Veit Feichter eine wichtige Instanz der Glaubhaftigkeit dar, auf die er sich im Bewußtsein seiner eigenen Autorität gerne stützt: „Ich bin des guet Ingedenckh" (l lr/5f); „Ich bin des wol Ingedenckh" (l lr/12) und noch zwei ähnlich lautende Stellen, von denen eine die Erinnerung mit väterlicher Unterweisung kombiniert nennt: „Ich bin des guet Ingedenckh das mein vater feiiger hat gefagt" (17v/19f.). Zieht man nun die Summe aus der Fülle von Einzelbeobachtungen, so stellt man fest, daß das Besondere an Feichters Quellen nicht ihre Beschaffenheit ist, denn die enge Verflochtenheit von mündlichen, also historisch nicht mehr faßbaren, und schriftlichen Quellen aus zweiter Hand ist im Umfeld von Urbarialien gewiß nicht ungewöhnlich. Bemerkenswert ist vielmehr der bewußte und zielgerichtete Umgang Feichters mit allen für ihn greifbaren mündlichen und schriftlichen Informationen, die er selektiert und so zusammensetzt, daß daraus ein jeweils vollständiges Bild von rechtlichen Sachverhalten entsteht. Indem er dieses für seine Amtsnachfolger schriftlich fixiert, schafft er selbst neue Quellen, versteht diese aber auch sogleich erfolgreich für seine (bzw. des Dommesenamtes) Zwecke einzusetzen. Daß Feichter eine derartige (angesichts der oft geringen materiellen Streitwerte) etwas überzogen wirkende Strategie entwickelt hat, scheint psychologisch begründet zu sein: In jungen Jahren mußte er die Erhebung der Bauern gegen die gesamte Obrigkeit miterleben, die im Tiroler Raum 1525 in Brixen ihren Ausgang genommen hatte. Auch sein Vater als Zehenteintreiber für das Dommesenamt war damals zur Zielscheibe der Demütigung durch die Bauern geworden, 27

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Beispiele: „Item mer ain agker von aim ftar fam genant die fätfchn / oder Inn der fätfch" (l v/5 f.); „Item mer ain ftuckh weingartnn gelegenn vnnd gehayffenn auff dem gaft Steig" (3v/4f.); „der ain ackher haift der mullackher / vnd der ander haift der moff ackher" (10v/20f.); „So hab Ich gehört / Sant Martheins kirchen In . pfunders / fey rechter Grunther darüber" (43v/1 Of.). „das wellen fy jeczundt fchon ain brauch darauf machn" (17v/2f.). „vnd hab das wellen widerum In ainen alten brauch bringen wie vor" (42v/9-l 1). Beispiele: „wie Landts brauch ift" (47v/30); „wie es doch der prauch ift" (31 v/7); „wie von alter her iftkomen"(18v/16).

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Andrea Hofmeister

und der Knabe hatte mitanzusehen, wie sein Vater dem dreisten Widerstand der Zehentpflichtigen ohnmächtig gegenüberstand. Das mag ihn angespornt haben, den Verlust an Autorität durch Bildung zu kompensieren und das, was die Bauern freiwillig nicht mehr zu leisten bereit waren, mit Hilfe dieser Überlegenheit - seiner Kenntnis der Rechtslage wie auch der Wege, die zur Durchsetzung von rechtlichen Ansprüchen führen - zu erzwingen. Dabei sind die Mittel, die Feichter anwendet, durchwegs legal, und er erweckt den glaubwürdigen Eindruck von höchster Integrität, wenn er lediglich einfordert, was dem Dommesenamt von Rechts wegen zusteht, jedoch niemals versucht, die Bauern zu übervorteilen. Und er ist stolz auf seine erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten, die ihm die Entwicklung seiner Strategie überhaupt erst ermöglicht und in seinem eng begrenzten Kompetenzbereich Macht verliehen haben. Da seine Bemühungen um das Wohl des Dommesenamtes mit beträchtlichem Aufwand an Zeit und persönlichem Engagement verbunden sind, sei ihm das Gefühl der Genugtuung gestattet, wenn er, der Quellenkundige, wieder einmal aus dem alltäglichen Machtkampf mit den Bauern siegreich hervorgegangen ist.

Michael Kern

König Othe von Thessalien Zum Verhältnis zwischen antiken Texten und deren Bearbeitung in Georg Hagers Meisterliedern

Der ausgesprochen geringe Bekanntheitsgrad Georg Hagers macht einige einleitende biographische Bemerkungen unerläßlich: Georg Hager ist ein Meistersinger der Nürnberger Singschule des ausgehenden 16. beziehungsweise des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts. Er wird am 26. November 1552 als Sohn eines Schuhmachers geboren und übernimmt die Nachfolge seines Vaters sowohl beruflich als auch hinsichtlich des Meistergesangs. Bezüglich der Schulbildung des Meistersingers ist bemerkenswert, daß er zweimal darauf hinweist, keine Schule besucht, sondern Schreiben und Lesen durch den Meistergesang erlernt zu haben. Beide Male ist mit dem Hinweis ein Appell an die Nachsicht des Lesers im Umgang mit seiner Handschrift verbunden: Dan ich mein schreiben in keiner schul, sundern durch die gnad gottes von mir selbst gelernt habe, vnd wo mich nit der lust zu dem hoch löblichen maister gsang getriben, so könd ich aufdise stund weder lesen noch schreiben, aber Gott sey lob vnddanckh ge sagt, Amen!^

Zwar wirkt diese Aussage angesichts des ausgesprochen gut ausgebildeten Nürnberger Schulsystems nicht ganz glaubwürdig - immerhin gab es vier Lateinschulen, eine 1622 zur Universität erhobene Akademie und etliche 'teutsche Schulen', die speziell der Ausbildung von Handwerkern und Kaufleuten dienten -, dennoch ist man infolge der schlechten Informationslage zur Person des Meistersingers gezwungen, sich in erster Linie an der Aussage Hagers zu orientieren. Für die folgenden Überlegungen ist dieses biographische Detail insofern von Wichtigkeit, als man von einer Ausbildung Hagers ausgehen kann, die keine Kenntnisse des Lateinischen oder Griechischen umfaßt. Die Familie Hager hatte engen Kontakt zu Hans Sachs, Georg erzählt darüber aus seiner Kindheit:

Clair Hayden Bell: A Meistersinger of Nürnberg 1552-1634. Bd. 2. Berkeley/Los Angeles 1947 (University of California publications in modern philology. 30), S. 7, Z. 63-66. Für den zweiten Hinweis vgl. ebda, S. 9, Z. 69-76. Zu der im folgenden benutzten Zitierweise der Lieder von Hager sei angemerkt, daß sich die innerhalb der Klammern neben der Nummer der Beil-Ausgabe befindliche Angabe auf die Zählung des Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Horst Brunner und Burghart Wachinger. Tübingen 1987-1990 - zitiert als RSM - bezieht.

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Michael Kern vnd her nach, da ich als ein knab zu meinem ver stand kam, Hab ich mich bey Dem Hans Sachsen taglich vnd v/7finden lasen, Sam ich sein angenumener knab vndziblin wer.2

Obgleich der Vater Hagers unmittelbar für den ersten Kontakt seines Sohnes mit der Meistergesangskunst verantwortlich ist, bezeichnet Hager selbst Sachs als seinen eigentlichen Lehrer: vnd Ob ich wol mein singen vnd dise lobliche kunst von meinem votier seligen gelernet hob, jst sie doch vom Sachsen her kumen, dann Mein votier Hat sein handwerck, das schuhmachen, vom ge melten Hans Sachsen gelernet, So wol auch das singen}

Für die Situation Hagers als Meistersinger bedeutet die persönliche Bekanntschaft mit Sachs einerseits einen nicht zu unterschätzenden Prestigezuwachs im Rahmen der Tätigkeit als 'Merker' und Schuloberhaupt, andererseits ermöglicht sie ihm den Zugriff auf die persönliche Bibliothek des Hans Sachs, deren Bestände Hager auch intensiv nützt. Besonders Übersetzungen antiker Autoren sind ihm auf diese Art zugänglich. 1608 wird Hager erstmals ins 'Gemerck' gewählt, er führt ab 1611 die Singschulprotokolle und wird schließlich 1619 als 'Ältester Merker' das Oberhaupt der Schule, ein Amt, das Hager bis zu seinem Tod innehat. Am 23. Oktober 1634 stirbt Hager neben fünf weiteren Mitgliedern der Nürnberger Singschule an der Pest, die in der Reichsstadt durch die ständigen Kriegsbelastungen der voraufgegangenen Jahre und die damit einhergehenden schlechten hygienischen Zustände ausgebrochen ist und durch die sich auch äußerlich der Niedergang der einst so mächtigen, unabhängigen Reichsstadt offenbart. Die uns erhaltene Meisterliedproduktion Hagers umfaßt 620 Lieder, die er im Zeitraum zwischen 1588 und 1630 verfaßt. Die Produktionsintensität der einzelnen Jahre ist sehr unterschiedlich; es fällt auf, daß Hager zwischen 1590 und 1611, das sind 51% der gesamten Produktionszeit, 592 Meisterlieder, also 95% seiner gesamten Meisterliedproduktion, verfaßt. Die ab 1611 verstärkt einsetzenden Verpflichtungen im Rahmen der Merkertätigkeit sind wohl auch ein Grund für das abrupte Abfallen seiner Produktivität. Gemäß Hagers Protokolleintragungen von 1613 kommt es in diesen Jahren innerhalb der Singschule zu weitreichenden Unregelmäßigkeiten, welche die Produktion und Organisation der ganzen Meistersingerschule betreffen.4 Es liegt nahe, das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Bevölkerung und Rat, ausgelöst durch die zögernde Zustimmung des Rates zum Beitritt zur protestantischen 'Union' und durch das damit einhergehende verstärkte Bemühen des Rates, sich das Wohlwollen des Kaisers zu sichern, ebenfalls als Grund für das Abfallen der Produktionsintensität innerhalb der Singschule ins Auge zu fassen.

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Ebda, S. 9, Z. 51-54. Ebda, Z. 46-51. Vgl. Nürnberger Meistersinger-Protokolle von 1575-1689. Hrsg. von Karl Drescher. Bd. 1. Tübingen 1897 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. 213), S. 130.

König Othe von Thessalien

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59% der Meisterlieder sind geistlichen, 41% weltlichen Inhalts. Die eindeutige Vorliebe Hagers für die Beschäftigung mit Bibelstellen und die textanalytische Erkenntnis, daß auch die weltlichen Meisterlieder Hagers in erster Linie einem moralisch-religiösen Interesse dienen - nur manchmal versucht er, sein Publikum zu belustigen, äußerst selten verarbeitet er Obszönes -, lassen den ernsten, gottesfürchtigen, ja konservativen Charakter Hagers erahnen. Die Durchsicht der weltlichen Meisterlieder Hagers unter dem Aspekt eines möglichen Zusammenhanges mit der griechisch-römischen Antike zeigt folgendes Ergebnis: 43 Lieder enthalten Merkmale, die auf eine Verwertung antiker Texte für die Produktion eigener Meisterlieder hinweisen. Zum einen handelt es sich dabei um lateinische oder griechische Orts- und Personennamen, zum anderen um die von Hager zitierten antiken Quellen, welche die eigentliche 'Fabel' einleiten oder diese im Rahmen des moralischen Zusatzes abschließend kommentieren. Die Überprüfung des Zitierverhaltens Hagers bei den 43 in der Folge als 'Antikelieder' bezeichneten Meisterliedern zeigt eine interessante Verteilung: 11% der Lieder enthalten keine Quellenangabe, in 56% wird ein antiker Autor angegeben, die restlichen 33% verweisen auf eine deutschsprachige Vorlage. Die insgesamt 89% der Lieder, die eine Quellenangabe enthalten, sprechen somit deutlich für einen sehr bewußten Umgang Hagers mit Inhalten und Informationen, die nicht aus seiner eigenen Erfahrung stammen. Da man jedoch, wie bereits oben angedeutet, davon ausgehen muß, daß Hager weder die lateinische noch die griechische Sprache beherrschte und daher auf die Verwendung deutschsprachiger Vorlagen angewiesen war, stellt sich die Frage, warum in den 'Antikeliedem' verhältnismäßig oft ein antiker Autor als Quelle genannt wird. Offensichtlich macht der Meistersinger keine Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärquelle: Wenn die von ihm tatsächlich verwendete Vorlage eine antike Quelle nennt, übernimmt Hager diese; erst wenn die Vorlage keine Angaben zur ihrerseits verwendeten Quelle macht oder lediglich deutschsprachige Quellen zitiert, nennt Hager seine tatsächlich verwendete Quelle im Lied. Handelt es sich dabei um ein anderes Meisterlied, übernimmt er die dortige Quellenangabe, sofern eine verfügbar ist; ist dem nicht so, verzichtet Hager auf eine Quellenangabe. Aus diesem Zitierverhalten ist folgendes ablesbar: Georg Hager zitiert sehr intensiv, verbindet jedoch mit den zitierten Quellentexten ein unterschiedliches Maß an Autorität. Man ist in der Folge versucht, eine 'Quellenhierarchie' anzunehmen, an der bemerkenswert ist, daß die tatsächliche Verfügbarkeit und die damit einhergehende Benützung der Vorlagentexte nicht das bestimmende Kriterium ist. Denn an erster Stelle stehen die antiken Quellen, die er aber sicher nicht verwendet hat, erst an zweiter Stelle kommen seine tatsächlich benützten deutschsprachigen Vorlagen. Andere Meisterlieder betrachtet Hager offensichtlich überhaupt nicht als zitierenswerte Quellentexte.5 Das 5

Vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 810: Hager nennt in Lied Nr. 393 (RSM, Bd. 7, S. 341, HaG/97a) als Quelle Herodot, seine tatsächlich verwendete Vorlage ist jedoch Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum, das Hager die Information über Herodot liefert. Weiters vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 998: In Lied Nr. 512 (RSM, Bd. 7, S. 452f. , 2HaG/422) zitiert Hager seine 2

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tatsächliche Motiv für diese Reihung ist durchaus nachvollziehbar: Ein exempelhafter Text mit moraldidaktischem Inhalt bedarf zum Zweck einer angemessenen Wirksamkeit der Legitimation, sei es nun durch den Verfasser selbst oder, falls dieser dazu nicht in der Lage ist, durch eine andere Person. Klingende Namen wie Ovid, Livius, Plinius, Plutarch und andere schienen Hager wohl eher dafür geeignet als zeitgenössische Autoren wie Hondorff, Franck oder Bunting. Kollegen aus der Singschule kamen dafür überhaupt nicht in Frage, auch wenn es sich dabei um eine unbestrittene Meistersingergröße wie Hans Sachs handelte. Bei den von Hager benützten deutschsprachigen Vorlagen handelt es sich sowohl um Übersetzungen antiker Autoren, die ihm zum Teil über die Bibliothek des Hans Sachs zugänglich waren, als auch um zeitgenössische Exempel- und Legendensammlungen. Die für die 'Antikelieder' am häufigsten benutzten Primärquellen sind das Promptuarium Exemplorum des Andreas Hondorff5 und die Chronica des Sebastian Franck7. Ersteres enthält dem Titel entsprechend Beispielgeschichten, welche die Bedeutung und Wirkung der Zehn Gebote verdeutlichen und einem möglichst breiten Publikum zugänglich machen sollen. Gott wird als Tugend belohnend und Untugend strafend dargestellt. Francks Chronica will eine chronologisch geordnete Darstellung der Weltgeschichte sein, deren Historien Franck als Offenbarung des göttlichen Willens versteht. Bemerkenswert ist, daß Hagers Lieder und so manche von ihm verwendete Vorlage - allen voran das Promptuarium - hinsichtlich ihres exempelhaft-appellativen Charakters einander sehr ähneln, wenn auch die formale Realisierung unterschiedlich ist: So zeigen die Meisterlieder eine klare strukturelle Trennung in Handlungsverlauf und meist abschließenden moralischen Kommentar, das Promptuarium dagegen weist mehreren Erzähleinheiten eine übergeordnete moralische Devise in Form einer Überschrift und eines einleitenden Textes zu. Diese Gleichheit der semantischen Struktur kommt einer Gliederung der verglichenen Texte in 'Handlungsstrang' und 'moralischen Zusatz' sehr entgegen und ermöglicht einen eindeutigeren Umgang mit dem Begriff der 'moralischen Intention'. Grundsätzlich besteht ein sehr enges Verhältnis zwischen den Liedern Hagers und deren Primärquellen: Beinahe wörtliche Übernahmen sind keine Seltenheit, Differenzen zwischen Text und Quelle finden sich weit weniger häufig, sind jedoch für die Besprechung der Quellenbearbeitung durch Hager von wesentlicher tatsächlich verwendete Quelle („Beschreibet Heinrich Bunting fein," Str. 3, V. 1), Bunting selbst macht keine Quellenangaben. Schließlich vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 796: Für Lied Nr. 385 (RSM, Bd. 7, S. 321, 2HaG/27) verwendete Hager ein Lied von Sachs, zitiert jedoch nicht diesen, sondern übernimmt die Angabe des antiken Autors bei Sachs: „Es schreibt Ouitius" (Str. l, V. 1) bei Hager vs. „Ouidius / schreibt" bei Sachs in dessen Lied Batus wird zw aim kiselstain. Zitiert nach Hartmut Kugler: Handwerk und Meistergesang. Ambrosius Metzgers MetamorphosenDichtung und die Nürnberger Singschule im frühen 17. Jahrhundert. Göttingen 1977 (Palaestra. 265), S. 207. Vgl. [Andreas Hondorff:] Promptuarium Exemplorum. Das ist: Historien vnd exempelbuch / nach Ordnung vnd Disposition der heiligen zehen Gebott Gottes [...] Getruckt zu Franckfurt am Mayn / im JarM.D.LXXX. Vgl. [Sebastian Franck:] Chronica, Zeitbuch vnnd Geschichtbibell von anbegyn bis in dis gegenwertig M.D.xxxvi. iar verlengt [...] [o.O.] Anno M.D.XXXVI.

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Bedeutung, zumal jede wie immer geartete Bearbeitung einer Vorlage eine Differenz zwischen dieser und dem Vergleichstext zur Folge hat. Aus der Sicht der wissenschaftlichen Rezeption ist die Differenz das motivierende Signal, sich mit dem Zusammenhang zwischen Text und Quelle eingehender zu befassen. Im folgenden wird daher auf die Behandlung von Äquivalenzen zwischen Text und Quelle verzichtet. Die auf den Handlungsverlauf sich beziehenden Abweichungen sind an die Bedingungen der Textsorte gebunden: Der straff vorgegebene Raum bewirkt Aussparungen und Strukturveränderungen;8 die Rezeptionsbedingungen - z. B. Erwartungs- und Bildungsniveau des Publikums - verursachen sprachliche und gedankliche Vereinfachungen sowie Dramatisierungen zum Zweck eines lebendigeren Handlungsverlaufs.9 Die auf die moralische Intention bezogenen Veränderungen sind tiefgreifender: So scheut Hager nicht davor zurück, den Charakter eines Protagonisten der erzählten Handlung im Vergleich zur Version der Vorlage massiv zu verändern, um die moralische Aussage deutlicher werden zu lassen.10 Weiters nimmt er auf der Grundlage von Vorlagentexten, die ein primär naturkundliches oder geographisches Interesse haben, Interpretationen vor, welche die entsprechende Textsequenz erst für die Verarbeitung

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Vgl. z. B. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 4, S. 1149, Nr. 551 (RSM, Bd. 7, S. 477, 2HaG/504), weiters Hondorff 1580, vgl. Anm. 6, S. 323V und schließlich Franck 1536, vgl. Anm. 7, S. 172r: Sowohl Hondorff als auch Franck sind als Primärquellen für Hagers Lied anzunehmen, beide enthalten Informationen über Geburt, Bildung und Charakter des Titus Vespasianus, des Protagonisten der Handlung, Details, die Hager allerdings unberücksichtigt läßt. Vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 810, Nr. 393, (RSM, Bd. 7, S.341,2HaG/97a) und Franck 1536, vgl. Anm. 7, S. 68V: Die dem Hagerlied zugrundeliegende Sequenz bei Franck setzt mitten im Geschehen ein, das Vorhergegangene wird später in Form eines Rückblicks wiedergegeben. Hager bricht diese Struktur auf und erzählt das Geschehen in linearer Abfolge. Vgl. z. B. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 966, Nr. 489 (RSM, Bd. 7, S. 426f, 2HaG/334) und Hondorff 1580, vgl. Anm. 6, S. 349r: Hager umgeht die Verwendung des Fremdwortes 'Elementa', das der Vorlage dazu dient, einleitend die Hoffartigkeit des Xerxes darzustellen. Vgl. weiters Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 957, Nr. 482 (RSM, Bd. 7, S. 417f., 2HaG/315) und Hondorff 1580, vgl. Anm. 6, S. 149r: Hager läßt seinen Titus Manlius Torquatus die Entscheidung und Begründung der Hinrichtung seines eigenen Sohnes diesem selbst mitteilen. In der Vorlage dagegen wird die Szene vom Erzähler referiert. Vgl. z. B. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 796, Nr. 385 (RSM, Bd. 7, S. 321, 2 HaG/27), weiters den Text des entsprechenden Sachs-Liedes bei Kugler 1977, vgl. Anm. 5, S. 207 und schließlich P. Ovidius Naso: Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text hrsg. von Erich Rösch. München 1980 (Tusculum Bücherei.), S. 78 (II, 706f.): Im Lied Hagers wird das Vergehen des Battus durch Merkur bestraft, indem der Gott den Hirten zornig in einen Stein verwandelt. In den möglichen Vorlagen, einem Sachs-Lied mit gleichem Inhalt und dem übersetzten Ovidtext selbst (vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 1051, Anm. zu Lied Nr. 385) kommt kein vergleichbarer Charakterzug des Gottes vor. Während Sachs die Szene sehr kursorisch abhandelt („Er sprach: 'mercurius es hat.' / zehant verwandelt er in glat / vmb sein vndat in ainen kisselsteine."), verhöhnt Merkur sein Opfer bei Ovid, bevor er es verwandelt: „risit Atlantiades et 'me mihi, perfide, prodis? / me mihi prodis?1 ait, periuraque pectora vertit / in durum silicem." Hager macht dadurch aus dem souveränen und lachend strafenden Gott der Antike einen der christlichen Tradition eher entsprechenden zornig strafenden Gott. Als Personifizierung der moralischen Intention des Liedes kann Merkur keinesfalls den moralisch Fehlenden verhöhnen.

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als Meisterlied brauchbar machen,11 und schließlich erhöht Hager, ausgehend von einer durchaus vergleichbaren Situation und moralischen Intention im Vorlagentext, die Deutlichkeit der Aussage durch prägnantere Begrifflichkeiten.12 Die vorangegangene überblicksorientierte Darstellung der Quellenbearbeitung Hagers mit Bezug auf die 'Antikelieder' ist damit abgeschlossen. Im folgenden werden drei Lieder unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen Verhältnisses zu den Vorlagentexten exemplarisch analysiert. Alle drei Beispiele verdeutlichen eine Kategorie der Quellenbearbeitung in besonders einleuchtender Weise und enthalten überdies unterschiedliche Merkmale, die bereits im Rahmen einer Edition kommentiert werden sollten.

l.jn Der kalten pßngst weis Georg Hagers /jphis er Henck sich vor lieb13 Unter den 43 'Antikeliedern' ist dies das einzige Lied, in dem die Liebe als außerfamiliäres Phänomen thematisiert wird. Dies geschieht in sehr desillusionierender Weise: Ein junger Mann namens Iphis aus Salamis auf Zypern versucht, die Gunst einer gewissen Anaxerete zu erringen. Jegliches Werben bleibt jedoch erfolglos, Iphis bemüht sich zwei Jahre lang, erntet jedoch lediglich Spott, bis schließlich „eins nächst er kleglich mit be gir / schrey: du bringst mich vmbs leben! / So ich dich mus aufgeben!"14 und er sich über dem Eingang zu Anaxeretes Haus erhängt. Die Umworbene erblickt den Toten, erkennt, daß Iphis ihretwegen gestorben ist - „ach, du leidest den dort / von meinet wegen Eben!"15 -, bereut ihre Hartherzigkeit und erstarrt zu Stein. Der Rest der dritten Strophe enthält die Quellenangabe - „dut Ouitius sagen"16 - und die moralische Intention:

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Vgl. z. B. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 4, S. 1123, Nr. 535 (RSM, Bd. 7, S. 472, 2HaG/492), weiters Franck 1536, vgl. Anm. 7, S. 158r und Pliny: Natural History. With an english translation in ten volumes by H. Rackham, W. H. S. Jones. Vol. Ill, S. 302 ( , 5, 17): Hagers Lied erzählt vom listigen Jagdverhalten des Adlers; schließlich wird er als Symbol fiir die Verblendung durch den Teufel bezeichnet: „Diser adler be deut / Den Teufel, der noch Heut / ver blent die leüt / mit falscher ler gar Eben." Das Jagdritual des Greifvogels ist bei allen möglichen Vorlagetexten gleich beschrieben, nirgends findet sich dagegen die Interpretation des Verhaltens als Folge der Verblendung durch den Teufel. Vgl. z. B. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 962, Nr. 485 (RSM, Bd. 7, S. 419, 2HaG/321) und Hondorff 1580, vgl. Anm. 6, S. 148V: Kaiser Augustus bezeichnet im Lied Hagers die allzu intensive Beschäftigung mancher Frauen mit ihren Hunden als Sünde: ,jch das nit loben kane / vor ane, / jr thüet sünd dran hin forte." Bei Hondorff dagegen kleidet Augustus seine Kritik in eine Frage, die wegen ihres offensichtlichen ironischen Gehalts die Szene aufheitert: „[...] Hat er gefraget / ob jhre Weiber bey jhnen nicht auch Kinder geberten / [...] Hiemit hat er den fürwitz höflich gestrafft [...]" Vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 798f., Nr. 386 (RSM, Bd. 7, S. 321, 2 HaG/28a). Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 798, Nr. 386, Str. I, V. 18ff. Ebda, Str. II, V. 14f. Ebda, S. 799, Str. III, V. 10.

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secht, wie noch in den tagen / Die lieb manchen bringt in ge far; / Wer ir gibt räum all zeit, / Der wiert verßeret weit, / schwecht im all seine klider, / nimbt oft das leben auch dar zu. / darum so merck Her wider, / las die lieb nie ein wurczlen. du / be zeit dich von ir wende, / Sy nimbt ein draurigs ende.11

Hager verbindet mit diesem Lied demnach eine deutliche Warnung vor einer zu intensiven Auseinandersetzung mit der Liebe. Sie stelle eine Gefahr dar, indem sie den Betroffenen vom 'rechten Weg' abbringe, ihn körperlich schwäche und schließlich sogar ums Leben bringe. Man solle sich daher beizeiten von diesem Gefühl trennen. Das im Text enthaltene Quellenzitat läßt in Verbindung mit dem Verwandlungsmotiv auf die Metamorphosen von Ovid schließen. Die persönliche Bibliothek des Hans Sachs enthält eine deutsche Übersetzung des antiken Sammelgedichts,18 so daß Hager die Episode vielleicht durch diese Ausgabe bekannt war. Ein Vergleich mit dem Ovidtext zeigt einige nicht unerhebliche Abweichungen: Der Monolog des Iphis unmittelbar vor dem Selbstmord wird von den 15 Hexameterversen bei Ovid auf vier vergleichsweise kurze Liedzeilen gekürzt19, wobei eher die Form der direkten Rede als deren Inhalt einen Zusammenhang zum lateinischen Text herstellt. Beim Anblick des Leichnams wird die Anaxerete des Meisterliedes traurig und bereut ihre Hartherzigkeit, Ovid dagegen läßt seiner Anaxerete keine Zeit für derartige innerliche Wandlungen, sondern vixque bene inpositum lecto prospexerat Iphin, / deriguere oculi, calidusque e corpore sanguis / inducto pallore fugit, conataque retro / ferre pedes, haesit, conata avertere vultus l hoc quoque non potuit, paulatimque occupat artus, / quodfuit in duro iampridempectore, saxum.20

Die Strukturen der beiden Texte sind trotz der völligen Gegensätzlichkeit der Textsorten durchaus vergleichbar. Einer erzählten Handlung mit protreptischer Funktion folgt die Definition der intendierten Verhaltensweise in Form einer Handlungsaufforderung durch den 'Erzähler'. In den jeweiligen Interpretationen der beiden Handlungen, den moralischen Intentionen, von denen die des Meisterliedes oben bereits als Warnung vor zu intensiver Beschäftigung mit der Liebe bezeichnet wurde, liegt die bemerkenswerteste Differenz zwischen Lied und Vorlage. Denn die Episode in den Metamorphosen ist in eine Rahmenhandlung eingebettet: Der Gott Vertumnus versucht in Gestalt einer alten Frau mit dieser Erzählung die Nymphe Pomona von deren abweisender Haltung abzubringen und zur Liebe zur überreden. Bei Ovid sagt der noch immer verwandelte Vertumnus im Anschluß an die Episode: „quorum memor, o mea, lentos / pone, precor, fastus et amanti iungere, nymphe."21 Die Handlungsaufforderung des Vertumnus ist demnach geradezu konträr zu der Hagers. Der Warnung vor der Liebe im Meisterlied steht ein Appell für die Liebe bei Ovid gegenüber. Die Art der Abweichung von der 17 18 19 20 21

Ebda, V. 11-20. Vgl. Hans Sachs. Bd. 26. Hrsg. von A. von Keller und E. Goetze. Tübingen 1908 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. 250), S. 154. Vgl. ebda, Str. I, V. 19f. und Str. II, V. 3f. bzw. Ovid 1980, vgl. Anm. 10, S. 548ff., XIV, 718-732. Ovid 1980, vgl. Anm. 10, S. 550 (XIV, 753-758). Ebda, 761 f.

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Vorlage besteht demnach in einer die moralische Intention betreffenden Funktionsveränderung. Aus dem Zitat des Ovid und der eigenwilligen Interpretation der Episode durch Hager ergibt sich die Notwendigkeit, bereits auf der Ebene der Edition die Problematik zumindest zu umreißen. Die Frage, ob die Abweichung die eigenständige Leistung Hagers ist oder ob er sie von einer anderen Quelle übernommen hat, berührt dagegen nicht den Bereich des Editors, sondern ist wohl Aufgabe einer darüber hinausgehenden literaturwissenschaftlichen Textanalyse. In der Tat existiert ein nicht ediertes Lied von Hans Sachs mit dem Titel Iphis der jungling henkt sich selber22, das Hager auch als Vorlage gedient haben könnte. Gemäß der Inhaltsangabe im Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder besteht mit Bezug auf die Person der Anaxerete zwar Übereinstimmung hinsichtlich des Erkennens der eigenen Grausamkeit, jedoch scheint das Sachs-Lied keine vergleichbare Interpretation zu enthalten.23

II. jm kurczen thon Hans vogels / Exempel, wie man sich der armen an nemen sol24 Das Lied wird eingeleitet mit dem Namen des römischen Kaisers Tiberius Constantinus und der Behauptung, daß er sehr freigiebig gewesen sei. Es folgt eine dies belegende Episode aus seinem Leben: Bei einem Spaziergang erblickt Tiberius einen mit dem Kreuzzeichen versehenen Pflasterstein am Fußboden eines seiner Säle. Aus Unmut darüber, daß auf diese Art tagtäglich das Zeichen Gottes mit den Füßen berührt wird, läßt er den Stein entfernen. Darunter findet man zwei weitere Steine mit demselben Merkmal, die ebenfalls verlegt werden. Schließlich „fanten sie an der stett / von lautterem golt klare / Einen grosen schacz an dem ort."25 Tiberius verteilt den Schatz und wird dafür von Gott mit „glück vnd Heil"26 belohnt. Die dritte und letzte Strophe enthält eine weitere kurze Handlungssequenz, in der Tiberius einen zweiten Schatz erhält und weiterhin freigiebig verteilt, überdies das Quellenzitat - „Wie Das Exempel Buch zeigt an"27 - und schließlich die Handlungsaufforderung, ebenfalls den Armen zu helfen, die mit der Versicherung verknüpft wird, von Gott Glück und Segen zu erhalten. Das Quellenzitat bezieht sich auf das Promptuarium Exemplorum Andreas Hondorffs; Hager gibt somit seine Primärquelle an. Das Beispiel verdeutlicht das oben bereits besprochene Zitierverhalten Hagers, erst dann die tatsächlich verwendete Vorlage zu zitieren, wenn ihm keine antiken Autoren zur Verfügung stehen. Hondorff zitiert an der entsprechenden Stelle lediglich Chroniken, darunter die deutschsprachige Chronik Kaspar Hedions.28 22 23 24 25

26

Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 1051, Anm. zu Lied Nr. 386. Vgl. RSM, Bd. 10, S. 427,2S/2938b. Vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 4, S. 1148f, Nr. 550 (RSM, Bd. 7, S. 477,2HaG/503). Ebda, S. 1148, Nr. 550, Str. II, V. 5ff.

27

Ebda, V. 14. Ebda, Str. III, V. 7.

28

Vgl. Hondorff 1580, vgl. Anm. 6, S. 323v.

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Der zu kommentierende Eingriff Hagers verbirgt sich hinter den einleitenden Zeilen der dritten Strophe: „Her nach er noch ein schacz be kam. / Den selben er auch nam / vnd Half den armen Eben"29. Die Stelle weckt die Erwartung auf eine Wende im Handlungsablauf, es stellt sich jedoch heraus, daß sie keine erkennbare Funktion hat und der dadurch enstehende Informationszuwachs für den Ausgang der Handlung und die moralische Aussage unwesentlich ist. In weiterer Folge wird die Passage als Nahtstelle unangenehm spürbar: Tatsächlich erklärt die entsprechende Sequenz im Vorlagentext diese Unebenheit innerhalb des Meisterliedes. Hinter dem zweiten Schatz verbirgt sich eine vollständige Nebenhandlung, die von einem gewissen Narses erzählt, der sein Leben lang heimlich Geld anhäuft, etwaige Mitwisser ermorden läßt und dessen Schatz post mortem vom einzigen überlebenden Mitwisser dem Tiberius übergeben wird, der diesen - hier setzt das Meisterlied wieder ein - an die Armen verteilt.30 Hager nimmt hier also eine Kürzung auf so ungeschickte Weise vor, daß sie nicht nur deutlich erkennbar ist, sondern als störend empfunden wird; ein Eindruck, der es gemeinsam mit dem eindeutigen Quellenzitat für den Editor unerläßlich macht, sich mit der Vorlage auseinanderzusetzen. Im Vergleich dazu ist eine weitere Kürzung, die Hager bei der Verarbeitung des Hondorff-Textes vornimmt, für den Editor ohne Belang: Hondorff leitet das Exempel mit einigen biographischen Bemerkungen zur Person des Tiberius Constantinus ein: „Tyberius Constantinus / von dem Geschlecht auß Thracia / der 55.Römische Keyser nach Augusto[...]."31 Infolge der eingeschränkten räumlichen Vorgaben und der beabsichtigten Pointiertheit des Meisterliedes leuchtet die von Hager vorgenommene Kürzung unmittelbar ein. Da sie im Lied selbst nicht wahrgenommen werden kann, sondern erst sekundär im Zuge einer Analyse des Quellentextes offensichtlich wird, ergibt sich im Rahmen der Edition die Forderung nach einer entsprechenden Kommentierung nicht. Aus demselben Grund stellt sich auch die zweifellos interessante Frage nach der sekundären, antiken Quelle für den Editor nicht.

III. Im Senfften thon Hein rieh Nachtigal / Drey getrewen heidnischen weiber32 Das letzte hier behandelte Lied Hagers befaßt sich in seinen drei Strophen mit jeweils einer Frauengestalt aus der Antike. Jede dieser Frauen hat etwas 'besonders Verdienstvolles' für ihren Mann getan: In der ersten Strophe wird von einer gewissen Adnete berichtet, deren Mann, König Othe von Thessalien, geweissagt wird, in kurzer Zeit sterben zu müssen. Adnete opfert sich und geht anstelle ihres Mannes in den Tod. Portia, die Frau des Caesarmörders Brutus, trauert in der zweiten Strophe so sehr um ihren Gemahl, daß sie mangels anderer Behelfsmittel sogar glühende Kohlen schluckt, um sich 29 30 31 32

Bell 1947, vgl.Anm. l, Bd. 4, S. 1148, Nr. 550, Str. III, V. Iff. Vgl. Hondorff 1580, vgl. Anm. 6, S. 323v. Ebda. Vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 1017f, Nr. 525 (RSM, Bd. 7, S. 460, 2 HaG/451).

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selbst zu töten. Die Protagonistin der letzten Strophe schließlich, Hippo, wird als Kriegsgefangene von Trojanern entfuhrt und springt vom Schiff in den Tod, um der Vergewaltigung zu entgehen und so ihrem Ehemann 'treu' bleiben zu können. Die abschließende, kommentierende Bemerkung Hagers lautet: „Hie sol bey der ge schiebt / Ein weib lehrnen, das sie jr ehr / Hab all zeit lieb vnd werdt, / Denn sie krieget Die nimer mehr. / Bricht sie die Eh auf erdt, / jst sie bey jetter man ver schmecht."33 Als Quelle, es handelt sich hier ein weiteres Mal um die antike und also sekundäre Vorlage, zitiert Hager „Valerius maximus"34 und versteht diese Angabe als gültig für alle drei immerhin voneinander unabhängigen Episoden. Zu der, wie sich herausstellen wird, reichlich verschlungenen Situation der Primärquellen meint Bell: Of Hager's three characters, Adnete, Porcia (Portia), and Yppo, only the story of Portia is told in Hondorff, Promptuarium Exemplorum (ed. 1595), 249r, where, as in Hager, Valerius Maximus is cited as source. ... It is thus evident that Hager used some other compendium, or perhaps one of the German editions of Valerius Maximus listed in the notes to No. 392.35

Neben einer Übersetzung der Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus, die Hager abermals über die Bibliothek des Hans Sachs zur Verfügung stand, kommen als „some other compendium" Francks Chronica und eine Übersetzung von Boccaccios De claris mulieribus in Frage.36 Für das hier zur Diskussion stehende Thema ist lediglich die erste Strophe von Belang: Die Forderung nach angemessener Kommentierung ergibt sich in diesem Fall aus dem Handlungsablauf, der heftige Erinnerungen an die Alkestis/Admetos-Episode aus der griechischen Literatur weckt, und den von Hager transportierten Namensformen Othe' und 'Adnete', die der besagten Episode fremd sind. Beils Hinweis auf Andreas Hondorff erweist sich insofern als richtig, als auf der zitierten Seite tatsächlich die Portia-Episode zu finden ist.37 Es fällt auf, daß dieselbe Seite auch Hagers Geschichte der ersten Strophe enthält, jedoch mit den der antiken Tradition entsprechenden Namen 'Alkestis' und 'Admetos'. Hondorff zitiert „Val.Max.libAde AmoreConiug."38. Dies bedeutet einerseits, daß das Promptuarium wegen der Namensdifferenzen kaum als Vorlage in Frage kommt, andererseits enthält es das mit Hager übereinstimmende Quellenzitat. Francks Chronica erzählt die Episode dagegen mit den ungewöhnlichen Namensformen - „Othe der künig Thessalie [...] Admete sein treüwes weib"39, jedoch ohne eine Quelle zu zitieren. Es ist demnach offensichtlich, daß Hager in erster Linie Franck als Quelle verwendet hat, unklar bleibt, woher das richtige Quellenzitat Hagers stammt. 33 34 35 36

37 38 39

Ebda, Str. III, V. 14-19. Ebda, S. 1017, Str. I, V. l. Ebda, S. 1113, Anm. zu Nr. 525. Vgl. Bell 1947, vgl. Anm. l, Bd. 3, S. 1059, Anm. zu Lied Nr. 392; weiters RSM, Bd. 7, S. 460, 2 HaG/451 sowie Sachs 1908, vgl. Anm. 18, S. 156. Vgl. Hondorff 1580, vgl. Anm. 6, S. 249r. Ebda. Franck 1536, vgl. Anm. 7, S. 138r.

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Die Herkunft der Kombination des bekannten Mythenstoffes mit den unbekannten Namensformen ist somit für das Meisterlied geklärt, es drängt sich jedoch die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang auf. Die Antwort liegt in der von Hondorff richtig zitierten Stelle aus dem Werk des Valerius Maximus. Dort ist im Rahmen einer Besprechung der ehelichen Liebe am Beispiel des Titus Gracchus und der Cornelia folgender Satz zu lesen: „o te, Thessaliae rex Admete, crudelis et duri facti crimine sub magno iudice damnatum [,..]."40 Franck scheint also den Akkusativ des Ausrufs te' und den damit korrespondierenden Vokativ des maskulinen Personennamens Admetus 'Admete' als zwei voneinander unabhängige Personennamen mißverstanden zu haben. Begünstigt wird dieses Mißverständnis dadurch, daß das auslautende -e des lateinischen Vokativs und die griechische feminine Endung - vergleichbare Qualität haben und tatsächlich das feminine Nomen proprium 'Admete' in der griechischen Mythologie existiert, jedoch in völlig anderem Zusammenhang.41 Die Art der Quellenbearbeitung ist in diesem Fall also eine unbewußte Übernahme eines Übersetzungsfehlers, der dem Autor der Primärquelle Hagers oder auch einem dieser zugrundeliegenden Autor passiert ist. Es bleibt lediglich zu klären, ob mit derartigen Nachforschungen das Arbeitsfeld des Editors nicht schon weit überschritten wird. Da die endgültige Erklärung für die ungewöhnlichen Namensformen mit dem Lied Hagers nichts mehr zu tun hat, ist man versucht, dies zu bejahen. Andererseits provoziert das Meisterlied durch das einleitende Zitat des Valerius Maximus sehr wohl die Beschäftigung mit der antiken Quelle, ebenso wie durch die Namensformen, die mit dem Handlungsverlauf nicht in Einklang zu bringen sind. Daß sich zwischen dem Meisterlied und dem lateinischen Text die eigentliche direkte Vorlage befindet, die für diese Ungereimtheit verantwortlich ist, ist zwar nicht minder interessant, dies spielt jedoch auf der Oberfläche des Textes keine Rolle und ist daher vom Editor nicht zu berücksichtigen. Die drei nunmehr analysierten Lieder Georg Hagers sind Beispiele aus den 'Antikeliedern' des Meistersingers, die allesamt einen Bezug zur griechisch-römischen Antike haben und denen daher notwendigerweise ein Quellentext zugrundeliegt. Da die Verbindung zu einem Quellentext bei den Meisterliedem, die eine exempelähnliche Funktion haben, keineswegs verheimlicht wird, sondern nachgerade als Legitimation dient und infolgedessen meist in Form eines eindeutigen Zitats hervorgehoben wird, stellt sich nicht die Frage, ob der Editor sich mit der Quelle auseinandersetzen soll, sondern, in welchem Ausmaß er die Quellentexte in die Edition mit einbeziehen soll. In den vorliegenden drei Liedbeispielen werden zum einen die Quellen zitiert, was eine genaue Angabe der entsprechenden Stelle notwendig macht, andererseits enthalten sie zum Teil sehr oberflächliche Signale an den Rezipienten, die den Wunsch nach einer weiteren Auseinandersetzung mit den zitierten (!), also nicht unbedingt primären Quellentexten 40

41

Valerii Maximi Factorum et Dictorum memorabilium libri novem. Hrsg. von Carolus Halm. Leipzig 1865, Lib. IV, Cap. 6, § l, S. 197. Vgl. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Bd. 1. München 1979 (dtv. 5963), Sp. 68.

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hervorrufen. Einmal ist es ein offensichtlicher Bruch im Handlungsgang, in zwei Fällen ist es eine den aufgrund des Quellenzitats genährten Erwartungen des Rezipienten widersprechende Textsequenz. Im Ovid-Lied handelt es sich um die für Ovid untypische Interpretation der erzählten Handlung, im Valerius-Lied um die für den antiken Stoff unpassenden Namensformen. Die Frage nach der Originalität und nach der tatsächlichen Verbindung des Meisterlieds zum antiken Stoff, also die Frage nach der Primärquelle wird meist nicht unmittelbar vom Text provoziert und fällt daher auch nicht in den Bereich des Editors.

Franzjosef Pensel

Zur DTM-Edition einer Prosaversion des Quoten Gerhart von Rudolf von Ems1

Nach den Stich- oder Leitwörtern dieser Tagung 'Quelle - Text - Edition' möchte ich meine Ausführungen untergliedern und erstens unter 'Quelle' von dem Fund der Prosaversion des Quoten Gerhart und der Handschrift, dann zweitens unter Text' über die Prosaversion und ihr Verhältnis zur Reimfassung der Dichtung von Rudolf von Ems und schließlich drittens unter 'Edition' von der geplanten Publikation der Prosaversion in der Reihe Deutsche Texte des Mittelalters (DTM) berichten.

I.

Bei Katalogisierungsarbeiten im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar und an einer Stelle in einer Handschrift, wo man es wohl am wenigsten erwartet hätte, fand sich eine Prosafassung beziehungsweise Prosaauflösung der Versdichtung Der guote Gerhart von Rudolf von Ems. Es handelt sich um die Handschrift Reg. O 157. Diese Handschrift, die zu dem umfangreichen Nachlaß Georg Spalatins (1484-1545) im Weimarer Archiv gehört, enthält, wie etliche andere Handschriften in diesem Nachlaß, Materialsammlungen und Einzelausarbeitungen - meist von Spalatin geschrieben - zur sächsischen Geschichte. Die Handschrift Reg. O 157 wird meines Wissens nur zweimal in der Literatur erwähnt: einmal von Willy Flach in seiner Übersicht Georg Spalatin als Geschichtschreiber2 und zum ändern von Irmgard Höss in ihrem Werk über Georg Spalatin3. Bei beiden findet sich aber kein Hinweis auf die Prosaversion des Quoten Ger hart, sondern es werden andere Teile der Handschrift erwähnt und aufgeführt, beide haben diese Prosaversion 'übersehen'. Der Vortragstext wurde redaktionell überarbeitet und im übrigen unverändert abgedruckt. Willy Flach: Georg Spalatin als Geschichtschreiber. Beiträge aus Spalatins Nachlaß im Thüringischen Staatsarchiv Weimar. In: Festschrift filr Walter Möllenberg. Hrsg. von Otto Korn. Burg bei Magdeburg 1939, S. 211-230, hier S. 228, nach Nr. 28. Irmgard Höss: Georg Spalatin. 1484-1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation. Weimar 1989; da ist Bl. 208r aus dieser Handschrift Reg. O 157 (Vuidekindius Corbeiensis) als Tafel III wiedergegeben; lat. Auszug aus der Sachsengeschichte Widukinds von Korvei lib. I, c. 9 (von Spalatins Hand.)

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Dies ist vielleicht verständlich, wenn man bedenkt, daß es sich bei der Handschrift Reg. O 157 um eine umfangreiche Papierhandschrift von 314 Blättern im Folioformat (31,5 : 21,5-24 cm) handelt, die aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammt und mehrere Zählungen aufweist. Das Titelschild auf dem Rücken hat die Aufschrift: „Georgii Spalatini / Collectanea / von Witikindo biß uffs / ietzige Chur- und f[ürst]l[iche] / Hauß z[u] S[achsen]". Vermutlich befindet sich die Handschrift seit 1572 im Archiv auf Grund des in diesem Jahre getroffenen sächsischen Erbteilungsvertrages. Der hauptsächliche Inhalt der Handschrift Reg. O 157 sind meist von Spalatins Hand angefertigte Materialien und Einzelausarbeitungen zur sächsischen Geschichte, wie sie auch in etlichen anderen Handschriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs vorliegen. Es mögen hier nur kurze Angaben folgen, um einen Eindruck zu vermitteln, in welchem thematischen Umfeld die Prosaversion des Guoten Gerhart steht. Der Titel auf Bl. Flautet: Der Churfurstlich Stamm des Fürstlichen Haws zw Sachssenn. 1514. Von der Cristlichen Frawen des heyligen vnd Grossen Konygs Widekindt zu Sachssenn, erwachssen. Nach antzaigung etlicher anderen Cronicka dan den Adam Fulda gefolget hat.

Unter der Überschrift Sechsisch stehen Angaben über Karl den Großen bis Otto den Großen und zu den Landgrafen von Thüringen. Auf Bl. 32r bis 33r folgt eine Aufstellung der Herrscher von „Carolus Magnus" bis „Maximilianus", die Spalatin mit Ergänzungen vervollständigt hat. Unmittelbar darauf und nicht mehr von Spalatins Hand geschrieben steht auf den Blättern 34r bis 57V die Prosaversion des Guoten Gerhart unter der Überschrift: „Von kayser otto dem Rotten vnd Dem gutten Gerhartt von kolnn." Im Anschluß daran steht - wieder von Spalatins Hand geschrieben - auf den Blättern 58r bis 72V „Eyn Auszcug aus der Magdeburgischen Cronicka, mit begreiffung aller Besundern geschieht dar Innen vermeldt." Alle weiteren Teile der Handschrift haben ebenfalls einen deutlichen Bezug zur sächsischen Geschichte, wovon hier nur noch der nd. Text mit einem Auszug „Ex libris Scabinorum" (Bl. 73r-75v), weitere Materialsammlungen zur sächsischen Geschichte und schließlich lat. Texte auf Bl. 189r-206vb („Latina Chronica a Widekindo Magno inchoata") und Bl. 207r-220v („Ex Vuidikindo Corbeiensi") erwähnt seien. Man fragt sich, wie in diese kompilatorischen Arbeiten von Georg Spalatin und in diesen umfangreichen Sammelband eine Prosafassung des Guoten Gerhart gekommen ist. Als Antwort findet man schnell den thematischen und historischen Bezug zur sächsischen Geschichte. Denn den Ausgangspunkt bildet offenbar die Stadt Magdeburg, die Kaiser Otto der Große zum Erzbistum erhoben hat und die, wie es in der Prosafassung heißt, „In Sachsen ligett" (Bl. 34 r ,ll). Dieses korrespondiert freilich mit der

Der guote Gerhart - Prosaversion

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Reimfassung, wo es V. 182f. heißt: „ditz ist noch Megdeburc genant; / ze Sahsen in dem lant ez lit."4

II.

Der Text der Prosafassung steht, wie schon erwähnt, auf den Blättern 34r bis 57V; diese Blätter sind im Format etwas kleiner als andere Partien der Handschrift (30,5 : 22 cm). Mit großer Wahrscheinlichkeit sind sie wie auch die anderen Teile der Handschrift erst in diesem Sammelband vereinigt und zusammengebunden worden. Zum paläographischen Befund der Prosafassung ist zu bemerken, daß die Schrift eine Bastarda ist, die Kanzlei- oder Geschäftsschriften nahezustehen scheint. Man wird sie zu Anfang des 16. Jahrhunderts zu datieren haben. Als typische Kriterien für die Spätdatierung sind besonders die durchgezogenen Schleifen an den Unterbögen von h und z, die kleine Schleife am r und die schwungvoll runden liegenden großen D und S1, neben den tildenförmigen diakritischen Zeichen auf dem u und w und vor allem auch die runden Haken auf dem u anzusehen.5 Als einziges Stück des ganzen Sammelbandes weisen die Blätter 34 bis 57 Reklamanten auf, und zwar stehen sie auf Bl. 44V und 54V und bedeuten jeweils das Ende einer Lage. Wie einige andere Teile der Handschrift haben die Blätter, auf denen die Prosaversion des Quoten Gerhart steht, ein Wasserzeichen; es handelt sich bei diesem um einen einfachen Ochsenkopf, der ähnlich mit dem bei Briquet Nr. 152606 ist; nach der Wasserzeichenkartei bei Piccard weist unser Wasserzeichen große Ähnlichkeiten mit dem Typ Piccard V, 194-199 bzw. V,221-2277 auf. Jedoch stimmen nicht alle Maße mit den Angaben bei Piccard völlig überein. Wie bei den bei Piccard abgebildeten und zum Vergleich herangezogenen Ochsenkopf-Wasserzeichen dürfte es sich auch bei unserem Wasserzeichen um das einer süddeutschen Papiermühle, wahrscheinlich aus Memmingen, handeln. Die Zeitangaben für diese Gruppe von Wasserzeichen differieren zwischen den Jahren 1507 und 1525. Für den süddeutschen Raum, speziell für den schwäbisch-alemannischen, und für eine relativ frühe Abfassungszeit sprechen sowohl der lautliche als auch der schreibsprachliche oder dialektale Befund der Prosafassung. Die Diphthongierung von langem i zu ei ist noch nicht konsequent durchgeführt; so begegnet neben „zeitten" das monophthonge in „sin", „din", „min", daneben aber Der guote Gerhart von Rudolf von Ems. Hrsg. von John A. Asher. 3. Aufl. Tübingen 1989, (ATB. 56), V.182f. Freundliche briefliche Mitteilung von Karin Schneider vom 24. 3. 1994 mit der Bemerkung: „Alles dies finde ich in meinem Material nicht vor den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts belegt." C. M. Briquet: Les Filigranes. Dictionnaire historique des Marques du Papier. Bd. 1-4. Leipzig 2 1928 Die Wasserzeichenkartei Piccard im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Findbuch XV, Stuttgart 1987 (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg. Sonderreihe.) S. 323.

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auch „mein" usw. Auch die Diphthongierung von langem ü 211 au ist weitgehend noch nicht erfolgt; es steht ,,vf(f)", „vfnemen", „vß", „vsgehalten" usw., daneben aber auch „Tausent" und „fünffzigtussendt". Ebenfalls ist die Diphthongierung von iu zu eu/äu noch nicht erfolgt; es finden sich „lut" bzw. „lütt" und „tütschen". Der schreibsprachliche oder dialektale Befund der Prosafassung weist ins Oberdeutsche, und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit ins Schwäbisch/Alemannische. Hierfür sprechen u. a. die Schreibung ai bzw. ay in den Wörtern „arbaitter", „bayder", „staind vf', „klainett"; die kontrahierte Form „kemnate", die viermal belegt ist, und das Wort „kaufmännj", das im Text zweimal vorkommt und in den Wörterbüchern8 nicht verzeichnet wird. Hier sei auf „kaufmännin" im DWB9 hingewiesen; danach ist dieses Wort nach Adelung „noch süddeutsch". Der Abfall des auslautenden -n scheint dies zu bestätigen. Auf ein anderes Wort sei gleichfalls hingewiesen, es handelt sich um das einmal belegte Wort „haß", zu mhd. „häz" stm. bzw. „haeze", „haez" stn. in der Bedeutung 'Rock, Kleid, Kleidung'. Wiederum nach dem DWB10 ist „häsz" „ein oberdeutsches, namentlich alemannisches und schwäbisches wort". Ebenfalls ins Alemannische weist die archaische Form „erlichosten" mit der vollen Endung (für die 'Ehrlichsten'). Auffallig ist die im Prosatext stehende zweimalige Wendung „Das gott wil mag ett jempt wenden" (49r,26) bzw. „was gott haben will das kan ett jempt wenden" (50r,19f). Das Adverb „ett" zu mhd. „eht", „et" im DWB11 zeigt „sich bis heute in schweizerischer, schwäbischer Volkssprache". Die Form , jempt" ist abgeleitet von dem zählenden Pronominalsubstantiv „ie-man", „ie-men"; aus der Abschwächung des a und dem Ausstoß des n mit Synkope des Vokals ergibt sich die Form „iemt"; vermutlich in Analogie zu der im Alemannischen gebräuchlichen Form „niempt", die gleichfalls im Prosatext belegt ist, ist dann Jempt" gebildet worden. Die Reimfassung Der guote Gerhart von Rudolf von Ems ist in zwei Wiener Handschriften12 überliefert und umfaßt nach der Ausgabe von John A. Asher13 insgesamt 6920 Verse. Die Hs A weist zwei größere Lücken auf, und zwar fehlen durch Blattverlust die Verse 2640-2909 und 4828-5105 (= 548 Verse), die in Ashers Ausgabe nach B ergänzt sind. Die Prosafassung des Quoten Gerhart steht in der Weimarer Handschrift auf insgesamt 24 Blättern oder 48 Seiten und hat einen Umfang von insgesamt 1231 Zeilen. Schon aus diesen Angaben geht deutlich hervor, daß die Prosafassung gegenüber der Reimversion in ihrem Umfang deutlich kürzer ist.14 8

9 10 11 12 13 14

Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878; Kurt Gärtner [u. a.]: Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index. Stuttgart 1992. DWB, V,338. DWB, IV/II,555. DWB, III,20f. Hs A (ÖNB 2699) und B (ÖNB 2793) J. Asher, vgl. Anm. 4. Das Verhältnis ist 1:5,81; vgl. die Tabelle im Anhang.

Der guote Gerhart - Prosaversion

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Zunächst sei darauf hingewiesen, daß dem Kompilator der Prosafassung der vollständige Text der Versdichtung Rudolfs bekannt gewesen sein muß, nämlich die Fassung, die in der Hs B oder in einer anderen, heute nicht mehr existierenden vollständigen Abschrift davon vorliegt. Denn bei einem Vergleich mit den fehlenden Verspartien zur Hs A lassen sich in der Prosaversion keine inhaltlichen Auslassungen und Lücken feststellen. Ob die Wiener Hs B, deren Mundart schwäbisch ist, dem Kompilator der Prosafassung als Vorlage gedient hat, kann nicht entschieden werden; ihm muß aber mit großer Wahrscheinlichkeit eine Handschrift aus dem obd. Raum und mit schwäbisch-alemannischer Mundart für seine Prosafassung vorgelegen haben. Die Prosafassung basiert aber eindeutig direkt auf der Reimversion; das läßt sich stringent dadurch beweisen, daß in ihr mehrmals fast wörtlich Verse der Reimdichtung stehen. Hierfür gebe ich zwei Beispiele: Es heißt in der Prosafassung Bl. 40r, Zeile 3 ff.: Ich fragt sy mir zesagen wie Ir herr hieß Sy sagten Er hieß straimur vnd war ain graffvber das land, vnnd am Burggraff In der statt genannt Er was so wöl beschaiden wie wol er was ain hayden, das Ich Im von gott v/7 hayls wünscht

Hierzu die entsprechenden Verse aus der Reimfassung15: 1449 1450

1455

do tet ein knappe mir bekant daz er Stranmur war genant, er was lantgräve überz lant, burggrave in der stat genant, er was so wo! bescheiden, swie er doch waer ein Heiden, daz ich im immer sunder spot wünsche heiles umbe got.

Ein weiteres Beispiel fast wörtlicher Übereinstimmung bietet Prosafassung Bl. 42r, Zeile 3 ff.: Es ist an dir ein thomer won das du verloren wandest haben dehaine schlachte guttätt

Dazu die Verse aus der Reimfassung: 1851

Ez was an dir ein lumber wan daz du verlorn wandest han dekeiner slahte guottat

Es gibt mindestens noch zwei weitere Stellen mit fast wörtlicher Übereinstimmung.16 15

Nach der Ausgabe von J. Asher, vgl. Anm. 4.

16

Prosafassung Bl. 42r, Zeile 6f. = V. 1860-1862; Prosafassung Bl. 57r, Zeile 16-19 = V. 6725-6728.

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Rudolf von Ems, dessen nähere Lebensdaten unbekannt sind, hat seine Werke vom Quoten Ger hart bis hin zur Weltchronik von etwa 1220 bis in die Mitte der fünfziger Jahre des 13. Jahrhunderts geschaffen. Der guote Ger hart gehört, wie allgemein angenommen wird, zu seinen Frühwerken, vermutlich ist es sein erstes. Die dieses Werk überliefernden Handschriften werden wie folgt angesetzt: Hs A: letztes Viertel 13. oder erstes Viertel 14. Jahrhundert; Hs B: letztes Drittel des 15. Jahrhunderts. Datiert man die Abfassungszeit der Prosafassung auf das erste Viertel des 16. Jahrhunderts, so liegen zwischen ihr und der Hs B ca. + 50 Jahre. Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich offensichtlich das Literaturverständnis gewandelt: Nicht mehr Reimfassungen der mhd. Dichtungen waren gefragt, sondern deren Prosaauflösungen. Über die Beweggründe für diese Umsetzungen und was man dadurch erreichen wollte, ist in den letzten Jahren viel publiziert worden.17 Aus Zeitgründen kann hier nicht näher darauf eingegangen werden. Es sei hier nur auf eine deutliche Kapitelgliederung im Guoten Gerhart mit Hilfe von Überschriften hingewiesen. Der erste Buchstabe des jeweils folgenden Textabschnittes nach den Überschriften ist ausgespart beziehungsweise wurde als kleiner Buchstabe für den Rubrikator vorgeschrieben, woraus geschlossen werden kann, daß die einzelnen Textabschnitte nach den Überschriften mit Initialen versehen und vermutlich auch rubriziert werden sollten. Da das nicht geschehen ist, weist der Text keinerlei Auszeichnung auf. Die erste Überschrift (auf Bl. 34r) habe ich schon genannt: „Von kayser otto dem Rotten vnd Dem gurten Gerhartt von kolnn." Weitere Überschriften folgen, und wenn man sie Revue passieren läßt, hat man sofort eine inhaltliche Gliederung des Stoffes.18 Bemerkenswert ist auch hier die Akzentuierung auf den guten Gerhart, denn dieser wird in den 14 Überschriften zwölfmal genannt. Kaiser Otto, König Wilhelm und die Königin, der Graf Straimur und die anderen Personen gehören notwendigerweise zum Inhalt und zur Substanz der Geschichte, aber der eigentliche Handlungsträger und die dominierende Figur ist der gute Gerhart von Köln, der dem Kaiser, und zwar auf dessen Bitten, seine Erlebnisse und seine von ihm als gering eingeschätzten guten Taten erzählt. Für die Erzählung, die schon vom Umfang der Reimfassung Rudolfs komprimiert werden mußte, hat sich der Kompilator bei seiner Darstellung meist kürzerer Sätze bedient. Bei der syntaktischen Textgestaltung weist die durchschnittliche Gesamtsatzlänge einen Umfang von 14,7 Wörtern auf; damit liegt die Prosaversion unter der von literarischer 17

18

Alois Brandstetter: Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühnhd. Prosaroman, Frankfurt a. M. 1971; Rüdiger Schnell: Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter. Zum Entstehen des frühneuhochdeutschen Prosaromans. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stuttgart 1984, (Germanist. Symposienberichtsbände.5.)S.214-248. Alle Überschriften einschließlich der Zeilenzahlen der Prosafassung im Vergleich mit den entsprechenden Verszahlen der Reimfassung sind in Tabelle l im Anhang zusammengestellt.

Der guote Gerhart — Prosaversion

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Prosa aus dieser Zeit, bei der die durchschnittliche Gesamtsatzlänge 19,3 Wörter beträgt.19 Hieraus ist schon zu sehen, daß es dem Verfasser der Prosafassung nicht auf literarische Ausschmückung ankam, sondern auf die Bereitstellung eines Textes, der dem Leser beziehungsweise Hörer rasche Informationen in übersichtlicher Darstellungsweise bietet. Er verkürzt den Text der Reimfassung und komprimiert den Handlungsablauf; dabei ist auffällig, daß er vor allem religiöse und christliche Ausdeutungen und Erweiterungen fortgelassen hat.

III. Nachdem der Text in der Weimarer Handschrift als eine Prosaversion des Quoten Gerhart von/nach Rudolf von Ems erkannt und identifiziert war, stellte sich die Frage, wie und auf welche Weise der Text zu edieren wäre. Denn darüber, daß eine Edition des neuen Prosatextes erfolgen müßte, bestanden von Anfang an keine Zweifel, dürfte doch dieser Prosatext als eine wichtige und willkommene Bereicherung der spätmittelhochdeutschen bzw. frühneuhochdeutschen Literatur anzusehen sein. Als erster Schritt wurde vom Original und mit Hilfe von Kopien eine blatt- und zeilengetreue Abschrift vorgenommen und somit ein 'Transkriptionstext' geschaffen. Die Überlieferung bietet keine gravierenden Probleme; bis jetzt ist nur diese eine Handschrift bekannt. Mithin stellt sich nicht die Frage von Lesarten aus anderen Handschriften usw. Dieser Umstand dürfte einer baldigen Publikation zugute kommen. Die Textwiedergabe folgt weitgehend den DTM-Editionsgrundsätzen, wie sie in Band 38 der DTM stehen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist auch, daß der Text der Prosaversion in den Computer eingegeben wurde20 und mit TUSTEP be- und verarbeitet wird. Wichtige Grundsätze für den Editionstext sind folglich: - der Ausgleich von i und j, u und v; i und u stehen für Vokal, j und v für Konsonant; w mit eindeutig vokalischem Lautwert wird mit u wiedergegeben; - bei der Groß- und Kleinschreibung: nur Eigennamen (Personen, geographische Namen) und die Anfänge von Überschriften und Kapiteln werden groß geschrieben, alles andere klein; 19

20

Das scheint eine konstante Größe in der deutschen Sprachgeschichte zu sein, denn für Schriften von Meister Eckhart ist eine Gesamtsatzlänge von 19,8, für Reformationsdialoge 1520-1525 von 19,78 und für die literarische Prosa der Gegenwart von 19,3 Wörtern angegeben. Vgl. hierzu Wladimir G[rigorjewitsch] Admoni: Die Entwicklung des Ganzsatzes und seines Wortbestandes in der deutschen Literatursprache bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1972, S. 245; Rudolf Bentzinger: Untersuchungen zur Syntax der Reformationsdialoge 1520-1525. Berlin 1992, S. 50f; Helmut Meier: Deutsche Sprachstatistik. Hildesheim 1967,8. 191. Dafür danke ich Frau Dr. Haase und Herrn Prof. Gärtner.

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FranzjosefPensel

-

bei der Interpunktion wird die der Handschrift weitgehend beibehalten. Die halbhohen Striche (Virgeln) werden durch Kommata wiedergegeben. Vor der direkten Rede steht ein Doppelpunkt, die direkte Rede in einfachen Häkchen. Rede innerhalb der Rede wird in doppelte Häkchen gesetzt. Folgt Rede unmittelbar auf Rede, wird sie durch Gedankenstriche von der Vorgängerrede getrennt. - die Diakritika werden vereinheitlicht wiedergegeben: beispielsweise erscheint u mit darüberstehendem sich fast schließenden Haken als u, deutlich übergeschriebenes kleines e über a und o wird als solches geschrieben, ansonsten werden zwei Punkte gesetzt; Striche oder Punkte über dem y entfallen. - Sinnabschnitte werden durch Absätze gekennzeichnet, Schreibfehler werden korrigiert bzw. konjiziert; die Schreibweise der Handschrift steht im Apparat. Vom Schreiber korrigierte Fehler werden nicht berücksichtigt. Es sei darauf hingewiesen, daß in der Einleitung des geplanten DTM-Bandes die angewendeten Editionsgrundsätze genau dargestellt werden. Ebenso wird der Text mit Kolumnentiteln versehen und der Ausgabe ein Namen- und ein Wortverzeichnis beigegeben. Eine andere Frage, auf die ich abschließend eingehen möchte, war, wie man mit der Reimvorlage verfahrt. Schon bei der ersten Fassung, dem 'Transkriptionstext', war es erforderlich und wichtig, die entsprechenden Verse aus der Reimversion (am Rande) zu vermerken. Diese Verskonkordanzen mußten bei einer Edition des Prosatextes Berücksichtigung finden. Man hätte nun die entsprechenden Verszahlen an den Rand oder unter den Strich setzen können; es wäre auch denkbar gewesen, die korrespondierenden Verse aus Rudolfs Dichtung im Apparat abzudrucken, aber das hätte diesen unnötig belastet und anschwellen lassen. Daher entschlossen wir uns - nach dem Vorbild von Kurt Gärtner mit der stark kürzenden Prosaauflösung der Kindheit Jesu von Konrad von Fußesbrunnen21 - die Verskonkordanzen, d. h. die Verszahlen jeweils in Klammern vor die entsprechende Stelle der Prosafassung zu setzen. An dem Beispieltext im Anhang soll gezeigt werden, wie vom Faksimile beziehungsweise dem 'Transkriptionstext' unter Berücksichtigung der Reimfassung der 'Editionstext' entsteht. Beim 'Editionstext' sind die Verskonkordanzen angegeben und auch die schon erwähnten DTM-Editionsgrundsätze befolgt. Mit fortschreitender Handlung werden die Verskonkordanzen allerdings geringer und seltener. Der Schluß ist in der Prosafassung völlig anders gestaltet. Wie es am Schluß heißt, findet man die Geschichte noch heutigen Tags - ist damit eventuell die Zeit Spalatins gemeint? - zu Magdeburg auf dem Dom22; desgleichen wohl auch zu Köln, was man interpretieren könnte 'vermutlich auch noch zu Köln'. 21

22

Kurt Gärtner: Zur neuen Ausgabe und zu neuen Handschriften der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen. In: ZfdA 105, 1976, S. 11-53. Vgl. Prosafassung Bl. 57V, Zeile 9-14 (vgl. Editionsbeispiel im Anhang).

Der guote Gerhart - Prosaversion

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Darüber hinaus ist die Geschichte zu Magdeburg 'versiegelnd, h. rechtlich gesichert vorhanden und durch ein Siegel bestätigt. Stand die Stadt Magdeburg am Anfang der Prosafassung und war gewissermaßen ihr Ausgangspunkt, so schließt sich mit der Nennung dieser Stadt am Ende des Prosawerkes der Rahmen eines kompositorisch zwar inhaltlich komprimierten, aber dennoch wohlüberlegten und durchdachten neuen Prosawerkes.

Anhang: Editionsbeispiel, Tabelle

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Franzjosef Pensel

EDITIONSBEISPIEL

Faksimile (verkleinert)

Reimfassung 6787

ze Kölne enbeiz, er reit von dan.

6794 6795

gen Magdeburc reit er sä und buozte sine schulde

6875

daz man daz rüemen laze sin;

6805

daz maere dö nach im wart offenbärlich enbart

Der guote Gerhart — Prosaversion

95

' Transkriptionstext' 57V,1

5

10

Damit schied der kayser van köln / vnnd kan gen mägtenburg geritten / man empfing In mit eren damit büst er sin sunde das er sich allso gerumett hett / vnnd gedacht In Im besser war / das dise sach / Nach Im geoffenbarett wurd / dann verschwigen beliben das gesach Nach sinem tod es geoffenbarett ward / Man fmt die geschieht noch hütt deß tags zu Magdeburg vff dem thüm geschriben vnnd versigellt wol Deßglich zu coin In ainem closter das der selben zytt gerharts huws gewesen ist vnnd sydher ain closter daruß gemacht

'Editionstext' 57V, l

5

10

57V,2 kan

damit schied der kayser van (6787) Köln unnd kam (6794) gen Mägtenburg geritten, man empfing in mit eren. damit (6795) büst er sin sunde das er sich allso (6875) gerumett hett, unnd gedacht in im besser war, das dise sach, (6805f.) nach im geoffenbarett wurd, dann verschwigen beliben. das gesc/zach. nach sinem tod es geoffenbarett ward, man fmt die geschieht noch hütt deß tags zu Magdeburg uff dem thüm geschriben unnd versigellt wol deßglich zu Coin in ainem closter das der selben zytt Gerharts huus gewesen ist unnd sydher ain closter daruß gemacht.

8 gesach

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TABELLE Zur DTM-Edition einer Prosaversion des Quoten Gerhart von Rudolf von Ems Überschriften ('Transkriptionstext') Prosafassung

Zeilenzahl

Verszahlen der Reimfassung

34r

1.

Von kayser Otto dem Rotten vnd Dem guten Gerhartt von kolnn

24

81-216=181 Verse

34V

2.

Wie er [=der Kaiser] yffain zeytt gott bait In wyssen zu lassen waß Ion, im vmb solhs wurd

57

285-628 = 344 Verse

35V

3.

Wie der kayser gen koln zu dem gutten Gerhart kam

44

629-876 = 248 Verse

36V

4.

Wie der kayser mit dem gutten Gerhartten redtt

85

877-1118 = 242 Verse

38V

5.

Hie sagt der gutt Gerharlt sin guttatt dem kayser

85

1119-1482 = 364 Verse

40r

6.

Wie der grqff an gerharten begert In sin kaufmanschätz besechen zu lassen

203

1483-2597 = 1 1 1 5 Verse

44'

1.

Wie der gutt gerhartt mit der erlößten schar haim kan

28

2598-2803 = 206 Verse

44V

8.

Wie der gutt Gerhartt widervmb mit der kunigin gen köln kam

69

2804-3088 = 285 Verse

46'

9.

Wie der gutt Gerhartt mit der kunigin Ir ain kaufman ze geben redt

115

3091 -3816 = 726 Verse

48r

10. Wie der gutt gerhartt küng Wilhelmen fand

63

49V

11. Wie der gutt Gerhartt Künig Wilhelmen vnd die kunigin zu samen geben ließ

134

3817-4148 = 332 Verse (mitten im Satz!) 4149-5205 = 1057 Verse

52'

12. Wie der gutt Gerhartt mit künig Wilhelmen vnd der kunigin gen Engelland für

75

5223-5473 = 251 Verse

53V

13. Wie künig Wilhelm zu Engelland mit der kunigin empfangen ward

169

5474-6581 = 1108 Verse

56V

14. Wie der gutt Gerhartt wider gen köln kam vnd wie der kayser abschied

40

6581-6814 = 234 Verse

1191

(+Überschr.=1231 Zeilen)

Die letzten Zeilen haben keine Entsprechung in der Versfassung

Bl. 34r-57v = 24 Bll.

Verhältnis l : 5,81 (Verhältnis mit Überschriften: l : 5,62) 6920 Verse

Andrea Rapp

Die Standardisierung eines mittelalterlichen Textes durch den Verleger Bruder Philipps Marienleben in der Ausgabe Diebold Laubers (Hagenau, 15. Jahrhundert)1

Kurt Gärtner zum 20. Juni 1996 gewidmet I. Vorbemerkungen

Im Kontext der gesamten Schrift-Überlieferung deutscher Texte bedeutet das 15. Jahrhunden geradezu eine Literaturexplosion. [...] Es wird mehr und mehr das Zeitalter der Übersetzungen, Bearbeitungen, Adaptionen - so sehr, daß alle Text-Konstituentien geradezu in diesem Verbrauch unterzugehen scheinen, daß auch die Neu-Produktionen nur vom Durchscheinen rezipierter Muster her sich verstehen lassen.2

So formuliert Hugo Kühn in einem Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur seine plakative Charakterisierung des Zeitraums. Sowohl Diebold Laubers Werkstatt im elsässischen Hagenau als auch die Prosaauflösung von Bruder Philipps Marienleben, die den neutestamentlichen Teil in einigen Historienbibeln vertritt, sind typische Erscheinungen des 15. Jahrhunderts. Dabei sind diese beiden Bereiche aufs engste miteinander verknüpft: Von den 22 bislang bekannten Textzeugen des Prosamarienlebens3 stammen mindestens 14 aus Laubers Atelier, ebenso wie drei oder vier weitere Historienbibelhandschriften ohne Marienleben; insgesamt sind also mindestens 17 Lauber-Historienbibeln bekannt.4 Sie können daher als Leicht überarbeitete Fassung des Referats vom l . März 1996, wobei die Vortragsform im wesentlichen beibehalten wurde. Die hier vorgestellten Überlegungen und Ergebnisse basieren auf einer umfangreicheren Arbeit zur Werkstatt Laubers: Andrea Rapp: 'bucher gar hübsch gemolt.' Studien zur Werkstatt Diebold Laubers am Beispiel der Prosabearbeitung von Bruder Philipps Marienleben in den Historienbibeln lla und Ib. Phil. Diss. Trier 1996 [erscheint als Vestigia Bibliae. 16]. Hugo Kühn: Versuch über das 15. Jahrhunden in der deutschen Literatur. In: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Hrsg. von Ulrich Gumbrecht. Heidelberg 1980, S. 19-38, hier S. 20 und 21. Darunter befinden sich 2l mehr oder minder vollständige Handschriften sowie ein vier Blätter umfassendes Fragment. Dies sind in alphabetischer Reihenfolge die folgenden Handschriften: Bonn, Universitätsbibliothek, Ms. S 712 (Ha); Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Hs. Nr. l (Ha); Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Mscr. Dresd. A 50 (Ha, ohne Marienleben); Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. ms. 7 in scrinio (Ib); Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln, Hs. W fol. 250 (Ha); Kolmar, Stadtbibliothek, Ms. 304 (Ib, ohne Marienleben); Kopenhagen, Kongelige

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Andrea Rapp

der 'Bestseller' des Hagenauer Unternehmens bezeichnet werden, dem insgesamt zwischen 60 und 70 Handschriften zugewiesen sind,5 und eignen sich hervorragend als Untersuchungsgegenstand zur Gewinnung allgemeingültiger Aussagen über Laubers 'Verlagskonzept'. Stichwort 'Literaturexplosion': Diebold Lauber und seine Mitarbeiter produzierten Handschriften auf rationelle und ökonomische Weise für einen gewachsenen Bedarf: in arbeitsteiligem Verfahren, auf relativ preiswertem Papier, mit rasch gezeichneten, gleichförmigen, lavierten Federzeichnungen und in normierter, standardisierter Erscheinungsform, kurz 'in Serie'; zum Teil bereits auf Vorrat für eine anonyme Käuferschicht. Stichwort 'Literatur-Verbrauch': Die Historienbibeln sind in der Regel Bearbeitungen verschiedener älterer Vorlagen. Hans Vollmer definiert die Historienbibeln in seinem großen Systematisierungsunternehmen von 1912 als deutsche Prosatexte, die in freier Bearbeitung den biblischen Erzählungsstoff, möglichst vollständig, erweitert durch apokryphe und profangeschichtliche Zutaten und unter Ausschluß oder doch Zurückdrängung der erbaulichen Glosse darbieten, ganz gleichgültig, ob dabei gereimte Quellen oder die Vulgata, Historia scholastica, das speculum historiale oder sonstige die heilige in Verbindung mit profaner Geschichte behandelnde Texte als Vorlage dienten.6

Aufgrund dieser verschiedenen Quellen klassifiziert Vollmer die Historienbibeln in 10 Gruppen; das Prosa-Marienleben hat seinen Platz in den Gruppen Ha und Ib, die im alttestamentlichen Teil Prosa-Bearbeitungen älterer gereimter Vorlagen, nämlich der Wellchronik des Rudolf von Ems (Ila) beziehungsweise einer umfänglichen Chronikkompilation (Ib), überliefern. Wir haben es im Falle der Lauber-Historienbibeln also mit Erscheinungsformen zeittypischer und zeitgemäßer Literatur-Adaption zu tun. Diese Adaption ist insofern zeitgemäß, als sie auf den gesteigerten Handschriftenbedarf mit neuen Produktionsmethoden reagiert, und zeittypisch insofern, als sie die Texte nicht mehr im überkommenen Reimpaarvers, sondern in einer 'modernen' Prosaform tradiert. Laubers Handschriften sind Zeugnisse einer Zeit des Umbruchs, in der sich die 'Medienlandschaft' ebenso verändert wie die Rezeptionssituation, denn im 15. Jahrhundert vollzieht sich der umwälzende Medienwandel von der individuellen Handschrift zum gedruckten Bibliotek, Ms. Thott 123 fol. (Ila); Mainz, Stadtbibliothek, Hs. II 64 (Ha); München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 1101 (Ha); München, Bayerisches Nationalmuseum, Ms. Nr. 2502 (Ha); Prag, Universitätsbibliothek, Ms. VI.E.A. 5 (Ha); Privatbesitz (Ila, ohne Marien/eben); St. Gallen, Kantonsbibliothek, Ms. 343c+d (Ib); Solothurn, Zentralbibliothek, Cod. S II 43 (Ib); Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1.15. Aug. fol. (Ib); Würzburg, Universitätsbibliothek, Ms. eh. fol. 25 (Ila); Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 5 (Ha) sowie möglicherweise die Handschrift Frauenfeld, Thurgauische Kantonsbibliothek, Ms. 19 (Ila, ohne Marienleben). Vgl. Sigrid Krämer: Lauber, Diebolt, Schreiber, gen. 1427-67, Hagenau (Elsaß). In: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 13. Berlin 1982, S. 694f. Hans Vollmer: Ober- und Mitteldeutsche Historienbibeln. Berlin 1912 (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters. 1,2), S. 5.

Standardisierung eines mittelalterlichen Textes

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Buch. Laubers serielle und genormte Handschriften nehmen zwischen diesen beiden Polen gewissermaßen eine Zwischenstellung ein. Diese besondere Stellung im Kontext von Produktions- und Rezeptionssituation soll anhand eines Gesichtspunktes exemplarisch dargestellt werden, nämlich anhand der formalen Standardisierung der Lauberhandschriften, oder anders gesagt, anhand ihres charakteristischen Layouts.

II. Die Organisationsstruktur der Werkstatt Diebold Laubers Zuvor jedoch seien summarisch einige Bemerkungen zur Arbeitsweise in der Werkstatt vorweggeschickt, die einen ersten Einblick in die Arbeitsorganisation und die Rolle des Werkstattleiters ermöglichen. Rudolf Kautzsch ermittelte in einer älteren Arbeit zur Lauberwerkstatt, daß mindestens 16 Zeichner dort beschäftigt waren.7 Ihre Zusammenarbeit läßt sich nicht pauschal charakterisieren, sondern wurde flexibel nach Bedarf geregelt. In einigen Handschriften wechseln die Zeichnerhände in lockerer Folge, in anderen lagenweise, wieder in anderen stammen die großen Zier-Initialen auf den Prologseiten von besonders fähigen Zeichnern. Dennoch bleibt der Grundbestand der Zyklen ebenso gleichförmig wie ihre formale Ausführung. Wie meine eigenen Untersuchungen zu den Schreibern der Lauberwerkstatt ergeben haben, sind allein in den Historienbibeln mindestens 18 verschiedene Hände nachweisbar, wobei bis zu vier Schreiber an einer Handschrift arbeiteten.8 Die Arbeitsweise der Schreiber ist ähnlich flexibel wie die der Zeichner, sie können z. B. lagenweise, aber auch mitten in der Zeile wechseln. Gleichzeitig ist jedoch hervorzuheben, daß alle Lauberhandschriften einem strikt verbindlichen Konzept unterstehen; sie sind sogar so gleichförmig, daß ihnen dies in der älteren Forschung immer wieder angekreidet wurde. Apostrophierungen wie „Massenware" oder „gefällige Fabrikwaare(l)" bezeugen dies.9 Ich möchte nun in meinen Ausführungen dieses Phänomen unter umgekehrtem Vorzeichen betrachten und fragen: Ist es nicht gerade diese Gleichförmigkeit, die als besondere Leistung der Werkstatt und vor allem ihres verantwortlichen Leiters gesehen werden muß? Denn dieser personale Aspekt ist nach den Ausführungen zur Arbeitsorganisation ganz deutlich zu betonen. Ein solch einheitliches 'Qualitätsprodukt' mit unverwechselbaren Markenzeichen, die wir bis heute als solche erkennen, kann von so vielen verschiedenen und offensichtlich ständig wechselnden Mitarbeitern nur unter der Rudolf Kautzsch: Diebold Lauber und seine Werkstatt in Hagenau. In: Centralblatt für Bibliothekswesen 12, 1895, S. 1-32, 57-113; hier S. 18. Vgl. Rapp 1996, vgl. Anm. l, S. 161-188. Bei Albrecht Kirchhoff: Beiträge zur Geschichte des deutschen Buchhandels. 1. Bändchen. Notizen über einige Buchhändler des XV. und XVI. Jahrhunderts. 1851 [Nachdruck: Osnabrück 1966], S. 27, findet sich die Wertung „künstlerisch unbedeutend und Massenware"; bei Kautzsch 1895, vgl. Anm. 7, S. I die Bezeichnung „gefällige Fabrikwaare". Eine Zusammenstellung der Negativurteile auch bei Lieselotte E. Stamm-Saurma: Zuht und wicze. Zum Bildgehalt spätmittelalterlicher Epenhandschriften. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 41, 1987, S. 42-70; hier S. 42f.

100

Andrea Rapp

Leitung und Oberaufsicht eines Verantwortlichen erstellt worden sein, den wir aufgrund einiger Glücksfälle der Überlieferung, nämlich aufgrund des Erhalts seiner berühmten Bücheranzeigen, als Diebold Lauber kennen.10 Auf diese 'Markenzeichen' Laubers soll im folgenden etwas genauer eingegangen werden. Zunächst werden die gliedernden und texterschließenden Mittel des Layouts am Beispiel des Marienlebens im einzelnen vorgestellt, bevor ein kurzer Vergleich mit dem Layout anderer Handschriften unternommen wird. Gemeinsam mit dem Vergleich mit einigen Frühdrucken vermag die Ermittlung der Traditionsstränge, an die Lauber anknüpfen kann, zu zeigen, daß seine Literatur-Adaption und -Tradierung zwar die 'rezipierten Muster' durchscheinen läßt, aber dennoch innovativ ist - und auf Gebrauchszusammenhänge verweist, denen wir bis heute verpflichtet sind, sofern wir nicht bereits den Medienwandel zu den elektronischen Medien vollzogen haben.

III. Zu den Gliederungselementen der Historienbibeln l. Werkankündigungen oder Generaltitel" Nach dem Vorbild der Bibel werden die Historienbibeln in Altes und Neues Testament unterteilt, und diese Einteilung wird in manchmal recht ausführlichen 'Werkankündigungen' oder 'Generaltiteln', die meist durch Auszeichnungsschrift und Farbe hervorgehoben sind, expliziert. Die einfachste Form lautet z. B.: Hie vohent sich an dis büches cappittel, das do genant ist die Bybel der alten .ee. vnd ist mit figuren gemolet. bzw. Hie vohent sich an des büchs cappittel, das do genant ist die Bybel der nuwen ee vnd ist mit figuren gemolet.' ^

Solche Titel sind im gesamten Handschriftenwesen durchaus keine Selbstverständlichkeit - vielmehr stellen sie in Antike und Mittelalter die Ausnahme dar. Selbst im Buchdruck sind Titel nicht allgemein verbindlich; so finden sich auch erste Titelblätter 10

Abbildung der berühmtesten Bücheranzeige Laubers aus der Handschrift London, British Library, Cod. addit. 28752 in: Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen. Bd. I . Hrsg. von Hans Widmann unter Mitwirkung von Horst Kliemann und Bernhardt Wendt. Hamburg 1965, Abb. I. Zur Auswertung der Bücheranzeige siehe ausführlich Rapp 1996, vgl. Anm. l, S. 12ff. 1 ' Die Eingangsseiten der praktisch immer mit einem Register beginnenden Lauber-Handschriften werden in der Regel nicht abbgebildet, meist wird bei einer Abbildung die Schmuckseite mit dem Textbeginn gewählt. Eine Lauberhistorienbibel der Gruppe Ib ist vollständig als Farbmikrofiche-Faksimile zugänglich: Historienbibel (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Cod. 7 in scrinio). Farbmikrofiche-Edition. Einführung und Beschreibung der Handschrift von Heimo Reinitzer. München 1988 (Codices illuminati medii aevi. 6). Der Anfangsteil dieser Handschrift ist defekt, so daß Generalüberschrift und Register zur Alten Ee fehlen. Überschrift und Register zur Neuen Ee finden sich BI. 291 ra-296v. 12 Mainz, Stadtbibliothek, Hs. II 64, Bl. l r und BI. 219r.

Standardisierung eines mittelalterlichen Textes

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in den 1470er Jahren und setzen sich erst danach allgemein durch.13 Der Grund für die Anfuhrung des Titels oder später eines Titelblatts ist aus einer buchhändlerischen Notwendigkeit heraus zu verstehen; sie werden da wichtig, „wo man zwischen verschiedenen Werken und Autoren unterscheiden wollte"14 oder mußte. Demnach wird auch bei Lauber, der sowohl im Auftrag als auch auf Vorrat produzierte, diese buchhändlerische Notwendigkeit zur 'Generalüberschrift' geführt haben. Die an der Bibel orientierte Zweiteilung wird mit Hilfe weiterer Gliederungssignale deutlich gemacht: Die beiden Teile beginnen jeweils mit einem Kapitelregister, auf das unten noch näher einzugehen sein wird. Auf einer Verso-Seite befindet sich gegenüber der aufwendig verzierten Prologseite (Recto) eine ganzseitige programmatische Eingangsillustration, so daß der Textbeginn eine Art Schauseite bildet.15 Auch die Frühdrucke etablieren später diese Anordnung mit Register und Einleitungsholzschnitt auf der dem Textanfang gegenüberliegenden Seite.16 2. Illustrationen Die Illustrationen des Marienlebens, zumeist zwischen 20 und 30 an der Zahl, gliedern den biblisch-apokryphen Stoff auf eine ganz spezifische Weise. Es handelt sich um relativ anspruchslose lavierte Federzeichnungen, die immer am Kapilelbeginn erscheinen.17 Dessen Überschrift fungiert dann zugleich als Bildbeischrift. Ihre Aufgabe als Teil des Gliederungsinstrumentariums wird besonders augenfällig, betrachtet man die

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Vgl. Rudolf Hirsch: Printing, Selling and Reading 1450-1550. Second printing with a supplemental annotated bibliographical introduction. Wiesbaden 1974, S. 3, Anm. 4. Martin Hengel: Die Evangelienüberschriften. Heidelberg 1984 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; phil.-hist. Klasse, Bericht 3), S. 28. Vgl. dazu die Abbildung von Bl. 317v-318r der Handschrift Solothum, Zentralbibliothek, Hs. S II 43 bei Vollmer 1912, vgl. Anm. 6, Tafel X; zur Ikonographie und Deutung dieser Illustration siehe ausführlich Rapp 1996, vgl. Anm. l, S. 442-464. Die alttestamentlichen 'Schauseiten' der Handschriften Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Hs. Nr. l, Bl. lv-2r sowie München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 1101, Bl. 9v-10r sind abgebildet bei Ute von Bloh: Die illustrierten Historienbibeln. Text und Bild in Prolog und Schöpfungsgeschichte der deutschsprachigen Historienbibeln des Spätmittelalters. Bern [u. a.] 1991/92 (Vestigia Bibliae. 13/14), Abb. 19 sowie Abb. 52f. Vgl. Gerhardt Kiesling: Die Anfänge der Titelblatts in der Blütezeit des deutschen Holzschnitts (1470-1530). In: 'Das Titelblatt im Wandel der Zeit'. Buch und Schrift. Jahrbuch des deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum III, 1929, S. 9-45, hier S. 18. Vgl. die Faksimile-Ausgabe der Hamburger Historienbibelhandschrift, vgl. Anm. 11. Die im folgenden Abschnitt dargelegten Illustrationsprinzipien gelten in der strikten Form für die Ila-Historienbibeln. Die Handschriften der Gruppe Ib lockern die Vorgaben in einigen Fällen, so auch die Hamburger Handschrift. Die Illustration kann in dieser Gruppe aus Platzgründen in den Fließtext gesetzt werden, steht also nicht immer am Kapitelbeginn. Vgl. dazu Rapp 1996, vgl. Anm. l, S. 281, Anm. 647. Weitere Abbildungen von Illustrationen aus Lauberschen Historienbibeln bei von Bloh 1991/92, vgl. Anm. 15, Abb. 18, 31, 44, 54, 89, 92, 97. Vgl. auch die illustrierten Parzival-Handschriften aus der Lauberwerkstatt; diese Abbildungen sind zugänglich bei: Wolfram von Eschenbach: Parzival: Die Bilder der illustrierten Handschriften. Hrsg. von Bernd Schirok. Göppingen 1985 (Litterae. 67).

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Themen der Marienleben-Zyklen in den Historienbibeln näher, die in ihrem Grundbestand genormt sind. Dieser grundsätzlich verbindliche Bestand umfaßt folgende 15 Themen: 1. Begegnung Annas und Joachims an der goldenen Pforte, 2. Geburt Mari ens, 3. Tempelgang Mariens, 4. Josephs blühende Gerte, 5. Verkündigung, 6. Visitatio, 7. Geburt Jesu, 8. Hirtenverkündigung, 9. Anbetung der Könige, 10. Bethlehemitischer Kindermord, 11. Taufe Jesu, 12. Einzug in Jerusalem, 13. Gethsemane, 14. Kreuzigung, 15. Auferstehung. Diese Themen sind nicht spezifisch für die Historienbibeln, sondern gehören zum Grundbestand praktisch aller Marienzyklen, ob sie nun als Handschriften, Fresken, Glasfenster oder Altäre gestaltet werden. Sie illustrieren im wesentlichen die zentralen Stationen der Erzählung, die durch ein Kirchenfest gefeiert werden.18 Damit dienen die Bilder des neutestamentlichen Teils der Historienbibeln neben dem Schmuck, der Repräsentation und der prinzipiellen Orientierungshilfe auch der Gliederung und Erschließung des Stoffs im Rhythmus des kirchlichen Festkalenders. Es handelt sich also um eine 'liturgische Gliederung' des Stoffs durch die Illustrationen, wie sie z. B. auch in Psalterhandschriften zu finden ist. Der Gliederungsauftrag der Illustrationen wird formal besonders deutlich durch ihre Positionierung am Kapitelbeginn. Dies stellt durchaus nicht die übliche Plazierung von Textillustrationen dar; vielmehr finden sie sich in der Regel überwiegend im Fließtext.19 Man könnte die Illustrationen der Lauberhandschriften daher auch als 'figürliche Kapitelüberschriften' bezeichnen. 3. Kapitelüberschriften und -zählung20 Der gesamte Text ist in kleinere Erzähleinheiten untergliedert, nämlich in durchgezählte Kapitel mit jeweils einer Überschrift. Diese Überschriften gehören bereits zum Grundbestand des Philippschen Marienlebens und werden bei der Prosaisierung

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19

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Feste duplica primae classis sind: Geburt Christi, Epiphanie/3 Könige, Verkündigung [seit 1895], Ostern, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Himmelfahrt Mariens, Unbefleckte Empfängnis; Feste duplica secundae classis sind: Beschneidung, Purificatio, Visitatio, Geburt Mariens, Anna und Joachim. Feste duplica primae classis sind der Hierarchie nach besonders wichtige Feste mit einer Oktav; Feste duplica secundae classis werden z. T. mit Oktav gefeiert. Siehe K. A. Heinrich Kellner: Heortologie oder die geschichtliche Entwicklung des Kirchenjahres und der Heiligenfeste von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. 3., verb. Aufl. Freiburg 1911, S. 11; dazu auch Wilhelm Lurz: Feste, II. Kirchliche Feste. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Josef Höfer und Karl Rahner. Bd. 4. Freiburg 1960 [im folgenden zitiert als LThK], Sp. 97-99 und Balthasar Fischer: Herrenfeste. In: LThK Bd. 5, Sp. 270f. Eine ähnliche 'liturgische' Bilderreihe stellt auch Emile Male: Die Gotik. Die französische Kathedrale als Gesamtkunstwerk. 2. Aufl., Sonderausg. Stuttgart, Zürich 1994, S. 182, auf. Vgl. z. B. das Layout der Wenzelsbibel. Faksimileausgabe: Wenzelsbibel. König Wenzels Prachthandschrift der deutschen Bibel. Erläutert von Horst Appuhn. Mit einer Einführung von Manfred Kramer. 8 Bde. Dortmund 1990 (Die bibliophilen Taschenbücher. 1001). Vgl. dazu die in Anm. 17 genannten Abbildungen.

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übernommen bzw. mitbearbeitet.21 Sie sind dadurch zu erklären, daß Philipp seinerseits eine lateinische Vorlage bearbeitete, die gemäß den Traditionen der mittelalterlichen lateinischen Literatur mit Kapitelüberschriften ausgestattet war. Nicht zum Grundbestand gehört dagegen die Kapitelzählung, die als lauberspezifisches Element zu betrachten ist, das in allen seinen Handschriften begegnet. Die Überschriften der Prosafassung sind kurze, aber recht genaue und informative Inhaltsangaben des folgenden Abschnittes. Gegenüber den ursprünglichen Überschriften der Versfassung sind sie zumeist elaborierter und ausführlicher. Sie sind häufig unabhängig vom Text formuliert, während die Versfassung oft den ersten Vers des 'Kapitels' als Überschrift einsetzt. Vorherrschend in der Prosafassung ist der Typ, wie er in folgenden Beispielen begegnet: Do Maria in den tempel wart geben zu den megeden, do sy was syben ior alt. Also Her ödes alle kint hyesse doten in sime lande, daz knaben worent vnd vnder zwein joren worent.22

Die Kapitelüberschriften der Lauberhandschriften sind optisch hervorgehoben durch rote Farbe sowie optisch abgesetzt durch meist zeilenbreite Spatien oder Durchschuß. Auch die mehrzelligen, farbigen Lombarden, mit denen jedes Kapitel beginnt, tragen zur Betonung dieser Gliederungseinheit wesentlich bei. Eine solche aufgelockerte Seitenaufteilung ist bis weit in das 15. Jahrhundert hinein vollkommen untypisch, vielmehr herrscht das Prinzip des horror vacui vor, d. h. die Seite oder Spalte wird peinlich genau ausgefüllt. Dies ist auch in den Frühdrucken zu beobachten, erst Zainers deutschsprachiger Bibeldruck von 1475, der als Spitzenprodukt der Frühdruckerkunst gilt, bricht mit dieser Tradition, worauf ich unten nochmals zurückkomme. Die Zählung in roten römischen Ziffern findet sich entweder als 'lebender Kolumnentitel' am oberen Blattrand (Ila-Typus), was einen sehr raschen Zugriff auf ein gesuchtes Kapitel ermöglicht, oder direkt über der entsprechenden Überschrift (Ib-Typus). 4. Absatz- und Satzgliederung23 Ein System von Capitulumzeichen, rubrizierten Majuskeln und Minuskeln, einfachen Majuskeln, eventuell auch Punkten und Virgeln gliedert den Text in Sinn- und Satzeinheiten, wobei schreiberspezifisch große Unterschiede im Einsatz dieser formalen Mittel auftreten können, so daß die Vorgaben in diesem Bereich also weniger streng gewesen sein müssen als bei den übrigen Elementen.

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Vgl. Heinrich Rückert: Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben. Quedlinburg, Leipzig 1853 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur. 34) [Nachdruck: Amsterdam 1966]. In dieser Edition des Philippschen Marienlebens sind die Überschriften nicht in den Text aufgenommen, sondern in den Apparat verbannt. Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 5, Bl. 331 va und 349va. Vgl. dazu die in Anm. 17 genannten Abbildungen.

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Bemerkenswert ist noch, daß das vor allem aus der lateinischen Literatur im wissenschaftlichen Kontext bekannte Capitulumzeichen24 in die volkssprachige (Unterhaltungs-)Literatur übernommen wird. Allerdings kann es bei den verschiedenen Schreibern auch unterschiedliche Funktionen übernehmen (z. B. Absatz- oder Satzgliederung), so daß diese für jede Handschrift respektive für jeden einzelnen Schreiber geklärt werden müssen. 5. Kapitelregister25 Die Lauberhandschriften weisen zu Beginn - bei den Historienbibeln zu Beginn eines jeden Teils - ein Kapitelregister auf, das als Inhaltsverzeichnis und damit als Orientierungshilfe dient. Darin findet sich jede Kapitelüberschrift abgesetzt geschrieben und durch ihre Nummer aus dem fortlaufenden Text eingeleitet. Diese Register sind als 'Aushängeschilder' der Handschriften formal besonders sorgfältig gestaltet und es erhebt sich nun die Frage, wie es mit der inhaltlichen Sorgfalt und der tatsächlichen Benutzbarkeit bestellt ist. Diese Frage hängt eng mit der nach der Produktionsweise des Registers zusammen. Wurde es nach einer Vorlage geschrieben, wie dies z. B. für die Sachregister einiger Sachsenspiegelhandschriften ermittelt wurde, wobei es vorkam, daß Text und Register verschiedenen Vorlagen folgten, mithin nicht aufeinander abgestimmt waren26 - oder wurde das Register individuell für jede Handschrift aus dem Text exzerpiert? Letzteres trifft zu. Dies kann z. B. anhand solcher Fälle erwiesen werden, in denen die Zählung im Text Fehler aufweist und diese 'Fehler' auch im Register auftauchen, so daß solche Irrtümer gewissermaßen aufgefangen werden können und die tatsächliche Benutzbarkeit der Handschrift gewährleistet bleibt.27 Das ist in der Tat ein sehr bemerkenswertes Ergebnis, denn wie bereits mit dem Beispiel der Sachsenspiegelhandschnften angedeutet wurde, ist eine solche Abstimmung keinesfalls die Regel. Es wirft ebenfalls ein helles Licht auf die Qualitätsstandards, denen die Lauberwerkstatt verpflichtet war. Bemerkenswert ist ferner, daß diese Aufgabe häufig einem anderen Schreiber als dem des Haupttextes übertragen und somit auch eine zusätzliche Kontrollinstanz geschaffen wurde.28

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27 28

Vgl. Nigel F. Palmer: Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher. In: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 43-88, hier bes. S. 46-48. Vgl. die Hamburger Historienbibel, vgl. Anm. 11, Bl. 29lra-296v. Vgl. Bärbel Müller: Kapitelverzeichnisse und „Sachregister" zum Sachsenspiegel in Mgf 10 und in der Wolfenbütteler Bilderhandschrift: Ein Vergleich. In: Der Sachsenspiegel als Buch. Hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand und Dagmar Hüpper. Frankfurt a. M. [u. a.] 1991, S. 143-168. Vgl. Rapp 1996, vgl. Anm. l, S. 253-258. Mehr noch, es läßt sich sogar ein 'Spezialist' für das Register ausmachen, dessen Hand bislang in drei Registern nachgewiesen werden konnte — möglicherweise Lauber selbst.

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IV. Zusammenfassung Das Layout, das hier beschrieben wurde, ist uns aus dem modernen Buchdruck beziehungsweise aus unserer eigenen Arbeit wohlvertraut: Es ist geprägt durch Erschließungsmöglichkeiten des Textes für den Leser und es kann mit dem Begriff des 'wissenschaftlichen Layouts' gekennzeichnet werden, denn die Texte werden mit dem Apparat in seiner Gesamtheit als 'Nachschlagewerk' aufbereitet.29 Damit im Zusammenhang ist die Art und Weise des Lesens zu sehen: Es kann gezielt nachgeschlagen werden, zentrale Stellen können immer wieder leicht aufgefunden und gelesen werden. Dieser Wandel in der Rezipientenhaltung kann als Wandel von der monastischen, also halblaut meditativen, zur scholastischen, also kritisch planmäßigen lectio charakterisiert werden.30 In der Scholastik wird das System der texterschließenden Mittel daher notwendigerweise etabliert und im Wissenschaftskontext verbindlich gemacht. Die vorstellbare konkrete Gebrauchssituation einer Historienbibel wäre z. B. das vertiefende Lesen des in der Predigt zum entsprechenden Kirchenfest Gehörten.

V. Vergleich mit dem Layout anderer Handschriften Anhand einiger Beispiele soll nun kurz gezeigt werden, wie sich die spezifisch Laubersche Einrichtung von der anderer Handschriften und Drucke absetzt, dabei soll einerseits herausgearbeitet werden, was daran innovativ ist, aber andererseits auch, welche Traditionsstränge aufgegriffen werden konnten. l. Literarische Handschriften Als Beispiel für Handschriften mit volkssprachiger Versliteratur sollen die gut bekannten Parz/vfl/-Handschriften G und D31 dienen. Zunächst zu Parzival G: Die Verse sind zwar abgesetzt geschrieben, jedoch gibt es keinerlei weitere optische Gliederung der 29

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31

Ute von Bloh charakterisiert die Gebrauchssituation der Historienbibeln in ähnlicher Weise: „Die Bemühungen, Orientierungshilfen bereitzustellen, und die vereinfachten Themendarbietungen kennzeichnen auch den Rahmen ihrer Rezeption: Die Historienbibeln sind so ausgerichtet, daß jeder interessierte Laie, der privilegiert war, ein Buch zu besitzen und lesen zu können, sich selbständig Kenntnisse zur biblischen Historic aneignen konnte." Ute von Bloh: 'Lug für dich vnd betracht d(a)z gar eb(e)n'. Zu den Präsentationsformen in Texten und Bildern der Historienbibeln I und II. In: Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters. Beiträge eines Kolloquiums im Deutschen BibelArchiv. Unter Mitarbeit von Nikolaus Henkel hrsg. von Heimo Reinitzer. Bern 1987/88 (Vestigia Bibliae. 9/10), S. 450-470, hier S. 464. Vgl. Barbara Frank: Die Textgestalt als Zeichen. Lateinische Handschriftentradition und die Verschriftlichung der romanischen Sprachen. Tübingen 1994 (ScriptOralia. 67), S. 83. Parzival G = München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 19; Parzival D = St. Gallen, Kantonsbibliothek, Cod. 857. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival (Handschrift D). Abbildung des /•arz/va/'Teils von Codex St. Gallen 857 sowie des (heutigen) Berliner Fragments L (mgf 1021) der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen aus dem St. Galler Codex. Hrsg. von Bernd Schirok. Göppingen 1989 (Litterae. 110).

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Kolumnen mit Ausnahme der sogenannten Abschnittsinitialen, die hier jedoch ganz offensichtlich nach einem dekorativen und nicht nach einem inhaltlichen System gesetzt werden.32 Hinsichtlich der Handschrift Parzival D sei hier nur noch pauschal auf das Fehlen der gewohnten optischen Gliederung hingewiesen; dies bedarf keiner weiteren Ausführung mehr. 2. Wenzelsbibel und Bibeldrucke Die Bibel benötigt Gliederungssignale aufgrund ihrer Zusammensetzung aus verschiedenen 'Einzelbüchern' und wegen ihrer liturgischen Verwendung; daher ist das Layout von Bibelhandschriften zumeist wesentlich komplexer aufgebaut als das literarischer Handschriften. Als Beispiel für eine volkssprachige Prachtausgabe der Bibel auf höchstem Niveau kann die Wenzelsbibel dienen.33 Als Orientierungshilfe werden eingesetzt: lebende Kolumnentitel mit der Bibelbuchangabe, optisch hervorgehobene Kapitelzählung, zugleich zweizeilige Lombarden zur Betonung dieser Gliederungseinheit, Illustrationen im Fließtext (und am Rand), ferner rubrizierte Majuskeln und Punkte zur Satzgliederung. Der Beginn der einzelnen Bibelbücher ist durch rote, nicht abgesetzte incipits gekennzeichnet. Ganz offensichtlich ist das bestimmende Prinzip der horror vacui. Die hier bereitgestellten Orientierungshilfen sind zwar nützlich, die Handschrift kann jedoch nicht eigentlich als leserfreundlich bezeichnet werden. Die repräsentative Schmuckform steht gegenüber der pragmatischen Nutzung im Vordergrund. Ganz ähnlich ist z. B. die 42-zeilige lateinische Gutenbergbibel aufgebaut; ihr Layout ist mit dem der Wenzelsbibel gut vergleichbar. Völlig anders dagegen präsentiert sich Zainers Bibeldruck von 1475, dessen formale Qualitäten in der Literatur gerühmt werden, und der in der Tat ein drucktechnisches Meisterwerk darstellt; so wurden z. B. hier erstmals die roten Lombarden und Tituli sowie die Holzschnitte mitgedruckt.34 Das Erscheinungsbild der Seite ist aufgelockert, das Auge findet sich mühelos darauf zurecht, denn die Buchseite ist übersichtlich geworden, was durch den Vergleich mit der Wenzelsbibel deutlich hervortritt. Ebenso offensichtlich ist nun aber auch, daß Laubers Layoutprinzipien, die bereits 50 Jahre zuvor entwickelt waren, denen der fortschrittlichen, völlig modern und zeitgemäß anmutenden Zainerbibel gleichen und aufs Ganze gesehen wenig mit den zeitgleichen volkssprachigen Handschriften gemein haben. So finden sich zwar einzelne Elemente wieder (Zählung oder Kapitelüberschriften beispielsweise), doch sind diese noch nicht in ein solch umfassendes, planmäßiges und leserfreundliches System eingebunden.

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Vgl. Gesa Bonath: Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach. Bd. I und II. Lübeck, Hamburg 1970 und 1971 (Germanische Studien. 238/239), hier Bd. II, S. 79, Anm. 4. Vgl. das in Anm. 19 genannte Faksimile der Wenzelsbibel. Vgl. Hans Volz: Martin Luthers deutsche Bibel. Entstehung und Geschichte der Lutherbibel. Eingeleitet von Friedrich Wilhelm Kantzenbach, hrsg. von Henning Wendland. Hamburg 1978, S. 21.

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3. Weltchronik- bzw. Mar/ew/etan-Handschriften Abschließend sei auf ein letztes Vergleichsbeispiel hingewiesen, nämlich auf die Weltchronikhandschrift der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, fol. Ms. theol. 4.35 In dieser Handschrift wurden Lombarden, Kapitelüberschriften und Illustrationen zur Textgliederung eingesetzt; doch sind z. B. die Überschriften optisch nicht vom Text abgesetzt, und auch die Illustrationen sind meist als Kolumnenillustrationen realisiert. Das Layout dieser Weltchrow£-Handschrift ist daher dem der Wenzelsbibel vergleichbar.

VI. Schlußfolgerungen und Konsequenzen für eine Edition des Prosa-Marienlebens Dieser kurze Vergleich hat zeigen können, daß die formale Gleichförmigkeit der Lauberhandschriften keinesfalls mit Nachlässigkeit, Phantasielosigkeit oder gar Unvermögen zu tun hat. Im Gegenteil: Lauber verfolgt und etabliert hier Prinzipien, die sich in der Geschichte der Buchproduktion auf lange Sicht hin durchgesetzt haben, wenn sich auch sein Produktionsverfahren durch die Erfindung Gutenbergs rasch überlebt hatte. Dennoch ist er einzuordnen in die im 15. Jahrhundert häufig zu beobachtende Tendenz, einer geänderten Gebrauchssituation und damit einem geänderten Markt gerecht zu werden. Seine Bücher sind durch das System der texterschließenden Mittel aufbereitet für alle möglichen Gebrauchszusammenhänge, sie sind damit offen geworden für einen anonymen Rezipientenkreis. Mit der 'Egalisierung' der äußeren Erscheinungsform geht also eine 'Individualisierung' der Rezeptionsmöglichkeiten einher. Die Rolle Diebold Laubers, der seine Texte und deren Erscheinungsform so entscheidend prägte, ist daher der eines Verlegers im modernen Sinne durchaus vergleichbar, und seine Handschriften kommen dem, was wir als 'Ausgabe' bezeichnen, so nahe, wie es im handschriftlichen Medium eben möglich ist. Für eine Edition des Marienlebens bedeutet dies, daß eigentlich nur eine Edition der 'Lauberausgabe' dem Text und seiner besonderen Überlieferungssituation angemessen ist und hierin die Chance besteht, die Textbehandlung und Textfassung einer spätmittelalterlichen Werkstatt mit dieser einzigartigen geschlossenen Überlieferung zu dokumentieren. Mit einem Zitat von Hugo Kühn wurde das Referat eingeleitet und mit einem des amerikanischen Mediävisten Ivan Illich soll es schließen. Es stammt aus dem 1991

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Diese Handschrift ist ebenfalls in einer Farbmikrofiche-Edition zugänglich: Rudolf von Ems. Weltchronik (Gesamthochschul-Bibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, fol. Ms. theol. 4). Farbmikrofiche-Edition. Literarhistorische Einführung von Kurt Gärtner, Beschreibung der Handschrift von Hartmut Broszinski. München 1989 (Codices illuminati medii aevi. 12).

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erschienenen Essay Im Weinberg des Textes und faßt pointiert zusammen, worin die Bedeutung und Relevanz des hier von mir behandelten Themas liegt: Ich richte mein Augenmerk auf einen wichtigen Moment in der Geschichte des Alphabets: den Moment, als - nach Jahrhunderten des christlichen Lesens - die Buchseite sich verwandelte; aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text ftlr logisch Denkende. Ich erzähle die Geschichte, wie in einem fernen Jahrhundert der Umbruch der Lesekultur stattfand und eine Epoche begann, die jetzt zu Ende geht.36

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Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt a. M. 1991, S. 8.

Sylvia Weigelt

Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe Ihre Quellen und deren editorische Darstellung am Beispiel der Vita Ludowici in der Übersetzung des Friedrich Köditz von Salfeld

Unter den germanistischen Mediävisten herrscht Konsens darüber, daß der Analyse und Aufbereitung der Quellen eines Textes besondere Bedeutung zukommt. In welchem Umfang und in welcher Form dieser Aspekt auch in der Editionspraxis Berücksichtigung findet, darüber wird gegenwärtig, vor allem mit Blick auf die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten, offensichtlich neu nachgedacht. Bisherige Editionen orientieren sich im wesentlichen an den traditionellen Mustern: Hinweise auf Quellen beziehungsweise Quellenbearbeitung finden sich in der Regel im einleitenden Teil der Edition. Weitere Möglichkeiten, innerhalb der Edition auf die entsprechenden Quellentexte zu verweisen, sind marginale Vermerke der Quelle oder Anmerkungen zur Quelle im Apparat, mitunter wird auch der stellenweise Paralleldruck von Text und Quelle praktiziert. Doch wodurch wird die Entscheidung des Editors, welche der Möglichkeiten er bevorzugt, beeinflußt? Inwieweit kann und sollte überhaupt das Verhältnis von Text und Quelle über die Edition bereits erschlossen werden, und wo sind ganz einfach auch die Grenzen für die Arbeit des Editors zu ziehen? Zwei Beispiele aus der jüngeren Editionspraxis mögen als 'Denkansatz' herangezogen werden: In der 14. Auflage des Gregor i us hat B. Wachinger als Novum im Vergleich zu den vorherigen Ausgaben „zur Erleichterung des Vergleichs mit Hartmanns altfranzösischer Vorlage vor allem in Seminarübungen" am Rande Verweise auf die Quelle Hartmanns angebracht. Doch „wo zwischen diesen Punkten Gleichlauf herrscht und wo Hartmann eigene Wege geht" - so Wachinger -, „kann nur in der konkreten Durchführung des Vergleichs festgestellt werden."1 Auch in L. Wolffs Ausgabe des Iwein2 und in der Übertragung des Erec durch W. Mohr3 dient die Kennzeichnung der Parallelen zu Chretien lediglich als Ausgangspunkt für die weitere Beschäftigung mit dem Problem 'Verhältnis Text - Quelle'.4 1

2

3 4

Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. von B. Wachinger. 14. Aufl. Tübingen 1992 (ATB. 2), Einleitung, S. XXIIIf. Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. von G. F. Benecke und K. Lachmann. 7. Aufl., neu bearbeitet von L. Wolff. 2 Bände. Berlin 1968. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg., übersetzt und erläutert von W. Mohr. Göppingen 1980 (GAG. 291). Die Tatsache, daß die Editoren 'klassischer' mittelhochdeutscher Texte, wie sie die angeführten Beispiele darstellen, parallel zu dem edierten Text auch konkrete Quellenverweise anmerken, ist

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Sylvia Weigelt

Das zweite Beispiel: die Rechtssumme Bruder Bertholds.5 Diesem Text sind - neben weiteren drei Apparatbänden - auch zwei separate Quellenkommentarbände6 als „integrierter Bestandteil der Edition" beigegeben. Die „eigenständige Behandlung und Darstellung des Quellenkomplexes" wird unter anderem damit begründet, daß Berthold seine Hauptquelle „keineswegs nur übersetzt", sondern „sie vielmehr radikal umgearbeitet hat" und erst „in Verbindung mit den entstehungsgeschichtlichen Nachweisen des Kommentars [...] der edierte Text der Rechtssumme im umfassenden Sinne in seiner geschichtlichen Dimension sichtbar" wird.7 Nun ist die Rechtssumme sicher ein besonders wichtiger Text des Spätmittelalters, doch eine entsprechende Begründung für den Umfang der Quellennachweise ließe sich ebenso für andere Texte, insbesondere natürlich für die Textsorte 'Chronik', finden. Denn Chroniken präsentieren sich ja in der Regel auch als Quellenbearbeitungen mit eigenständiger Ausrichtung des Chronisten und erst über den Vergleich Text - Quelle wird eben diese eigenständige historiographische Leistung des Autors sichtbar. Diese beiden Beispiele zeigen zum einen, daß Umfang und Form der Darstellung des Verhältnisses Quelle - Text in erster Linie sowohl textspezifisch als auch benutzerorientiert sind. Ein durch extreme Abhängigkeit von seiner/n Quelle/n charakterisierter Text erfordert auch eine adäquate Umsetzung durch die Edition. Zum anderen wird aber auch deutlich - ungeachtet der grundsätzlichen Verschiedenheit der Texte -, was in bezug auf die Quellenverweise nötig und was möglich ist. Nun stehen nicht jedem Editor die Mittel und Möglichkeiten der Würzburger Forschungsstelle zur Verfügung, um die 'Maximallösung' zu praktizieren. Deshalb sind wir gehalten, einerseits einen Weg zu finden, der die für den edierten Text unbedingt notwendigen Quellenverweise mitteilt, andererseits aber darüber hinaus auch über Möglichkeiten nachzudenken, die Tendenzen der Quellenbearbeitung durch den Autor bereits über die Edition anzuzeigen, wenn es die Spezifik des Textes erfordert und der Rezeption des Textes förderlich scheint. Der Rezipient eines Chroniktextes richtet sein Interesse naturgemäß auf dessen Quellen und deren Bearbeitung durch den Verfasser,8 schöpft doch der Chronist in besonderem Maße - sofern er sich nicht auf die Darstellung seiner Gegenwart beschränkt möglicherweise als Indiz dafür zu werten, daß auch im Bereich der Editionen höfischer Epik ein Umdenken gegenüber der bisherigen Editionspraxis erfolgt, das von der Bedeutung der Quelle für die Erschließung des Textes her motiviert ist. Von den wenigen Ausnahmen abgesehen, so scheint es, hat man diesem Aspekt der Edition wohl mit Blick auf die im Vordergrund stehende literarische Leistung des Autors und dem vordringlicheren Problem der Herstellung eines gültigen kritischen Textes - noch zu wenig Beachtung geschenkt. Die Rechtssumme Bruder Bertholds. Synoptische Edition der Fassungen B, A, und C. Hrsg. von G. Steer [u. a.]. 4 Bände. Tübingen 1987. Die Rechtssumme Bruder Bertholds. Bände VI (A-H) u. VII (I-Z). Hrsg. von M. Hamm und H. Ulmschneider. Tübingen 1991. So G. Steer im Vorwort zum Quellenkommentar: Rechtssumme 1991, vgl. Anm. 6, Bd. VI, S. VII. Diesem Interesse versuchte schon die Editionstechnik des 19. Jahrhunderts - maßgebend hier die Monumenta germaniae historica - entgegenzukommen, indem sie die Originalpassagen des Verfassers (durch Großdruck) von den aus den Quellen übernommenen Passagen (durch Kleindruck) graphisch unterschied.

Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe

111

- aus Quellen der Vergangenheit. Obgleich sich mittelalterliche Chroniken bei genauerem Hinsehen häufig 'nur' als Kompilationen verschiedener Quellen erweisen, so vermitteln sie uns doch mehr als eine vom Autor geprägte Sicht auf die Ereignisse der Vergangenheit. Sie sind auch als Ausdruck eines Geschichtsbewußtseins zu werten, das sich vordergründig über die Auswahl des zur Verfügung stehenden Quellenstoffes durch den Chronisten und seine individuellen Zusätze dem heutigen Benutzer mitteilt.9 Welche Möglichkeiten hat nun der Editor einer Chronik, über die Angabe der ja oftmals nur schwer zu ermittelnden Quellen hinaus, zusätzlich auch noch die Tendenz der Bearbeitung durch den Autor anzuzeigen und - um noch einen Schritt in Richtung 'Maximallösung' weiterzugehen - möglicherweise auch die eigenständige geschichtsreflektierende Leistung des Chronisten über die Edition transparent zu machen? Und, so muß man weiter fragen, welchen Vorteil hätte dies für den Benutzer der Edition, und - eine nicht ganz unwesentliche Frage im Hinblick auf die möglichst zügige Bereitstellung von Editionen - in welchem Verhältnis bewegen sich Aufwand und Nutzen? Ich möchte diese komplexe Fragestellung am Beispiel der Thüringischen Landeschronik des Johannes Rothe10 zumindest im Ansatz diskutieren und wähle dafür den Abschnitt über Ludwig IV., Landgraf von Thüringen (1200-1227), und die für dessen Lebensbeschreibung benutzte Hauptquelle, Das Leben des heiligen Ludwig des Friedrich Köditz von Salfeld.1' Die Thüringische Landeschronik entstand um 1418 in Eisenach. Diese erste volkssprachige Landeschronik Thüringens umfaßt die Entstehung und Geschichte der thüringischen Landgrafschaft und ihrer Herrscher bis zum Jahre 1407. Vorangestellt wird die Universalgeschichte von der Schöpfung bis zu Alexander dem Großen. Damit folgt sie dem gängigen Modell der Landesgeschichtsschreibung. Über die Funktion der Chronik läßt sich nur mutmaßen: Der Prolog enthält eine Dedikation an Bruno von Teutleben, einen landgräflichen Beamten aus alteingesessenem thüringischen Adel, der für das Jahr 1418 als Amtmann auf der Wartburg bezeugt und damit Zeitgenosse des Chronisten Johannes Rothe ist. Der gesamte Entstehungs- und Überlieferungskontext der Chronik weist auf eine über die persönliche Widmung hinausgehende, in landesgeschichtlichem Zusammenhang stehende Bestimmung der Chronik hin. Möglicherweise ist eine befürchtete Vereinnahmung des Thüringer Landes durch die wettinisch-meißnischen Markgrafen auslösendes Moment für die Abfassung der Landeschronik gewesen. Diese Vermutung wird neben anderen Hinweisen vor allem durch den Inhalt der Chronik, die Auswahl der Quellen und die Zusätze des Chronisten gestützt. 9

Ich verweise hier auf den von H. Patze herausgegebenen Sammelband: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Sigmaringen 1987, besonders auch auf die Zusammenfassung verschiedener Tagungsergebnisse durch H. Patze und F. Graus, S. 821-845. 10 Die Edition dieser Chronik nach dem Codex Gothanus Chart. B 180, Landes- und Forschungsbibliothek Gotha wird von mir für die Deutschen Texte des Mittelalters vorbereitet. Ich zitiere in der Folge: LChr. Die angegebenen Blattverweise beziehen sich auf diese Handschrift. 1 ' Das Leben des heiligen Ludwig, Landgrafen in Thüringen, Gemahls der heiligen Elisabeth. Nach der lateinischen Urschrift übersetzt von Friedrich Köditz von Salfeld. Hrsg. von H. Rückert. Leipzig 1851. Die angegebenen Belege beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Sylvia Weigelt

Die Chronik offenbart sich bis auf wenige Abschnitte als eine Kompilation verschiedener Quellen zur Geschichte Thüringens und seiner Landgrafen, die Rothe je nach Bedarf und Vermögen erweitert oder kürzt. Vorrangig benutzt er zwei lateinische Landeschroniken,12 die er jedoch für bestimmte Abschnitte durch andere Quellen ergänzt, wenn diese ihm zweckdienlichere Informationen bieten können. Dies ist offensichtlich der Fall in dem Abschnitt über Ludwig IV., den Gemahl der heiligen Elisabeth. Ich werde in einem ersten Abschnitt zunächst das Problem der Quellenzuordnung umreißen, dem zweitens die Interpretation des Verhältnisses Quelle - Text an ausgewählten Beispielen folgen wird, bevor ich mich drittens der editorischen Umsetzung der Quellenanalyse zuwende.

I.

Zur Verfügung standen Rothe für diesen Abschnitt folgende Quellen: 1. die Historla de landgraviis Thuringiae, die sog. Eccardiana, 2. die Cronica Thuringorum, die sog. Pisloriana,

3. die Reinhardsbrunner Chronik,13 4. die Vita der heiligen Elisabeth Dietrichs von Apolda14 und schließlich 5. Das Leben des heiligen Ludwig des Friedrich Köditz von Salfeld. Die Quellenfrage allein für diesen Abschnitt der Chronik gestaltet sich - nicht zuletzt aufgrund der völlig unzureichenden Erschließung der thüringischen Geschichtsquellen - außerordentlich kompliziert. Als ursprüngliche Quelle gelten die um 1228 verfaßten Gesta Ludowici des landgräflichen Kaplans Berthold. Doch die Schrift Bertholds ist verloren und nur in zwei Ableitungen, der Elisabeth-Vita Dietrichs und einer nach 1308 in Reinhardsbrunn entstandenen Vita Ludowici, überliefert. Aber auch letztere Schrift, die Vita Ludowici, eine Kompilation aus den Werken Bertholds und Dietrichs, liegt nicht mehr im Original, sondern nur noch in Auszügen in der um 1340/49 verfaßten Reinhardsbrunner Chronik und in einer deutschen Übersetzung des 14. Jahrhunderts vor.15

Diese Übersetzung ist die des Friedrich Köditz. Möglicherweise sind Teile der Reinhardsbrunner Chronik — neben verschiedenen anderen Quellen - auch in die Pistoriana

12

13

14 15

Chronica Thuringorum (=Pistorianä), unter dem Titel Historia Erphesfordensis anonymi scriptoris de lantgraviis Thuringiae erstmals gedruckt durch J. Pistorius. In: Scriptores rerum germanicarum I, Frankfurt 1583, S. 908-955. - Historia de landgraviis Thuringiae (=Eccardiana), gedruckt durch J. G. Eccard. In: Historia genealogica principum Saxoniae superioris, Leipzig 1721, Sp. 351-468. Cronica Reinhardsbrunnensis. Hrsg. von O. Holder-Egger. Hannover 1896 (Monumenta germaniae historica. SS. XXX/1), S. 542-588. Die Vita der heiligen Elisabeth des Dietrich von Apolda. Hrsg. von M. Rener. Marburg 1993. M. Werner: Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda als Beispiel spätmittelalterlicher Hagiographie. In: Geschichtsschreibung 1987, vgl. Anm. 9, S. 523-541, hier S. 535.

Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe

l ]3

und die Eccardiana eingangen, so daß die Überlieferungslage insgesamt für die Vita Ludwigs doch recht undurchsichtig ist. Von diesen - auf mannigfache Weise miteinander verwobenen - Quellen, die Rothe für seine Darstellung des Abschnittes über Ludwig benutzt haben könnte, liegen drei in kritischen Ausgaben vor (Dietrich, Reinhards brunner Chronik, Köditz), die beiden anderen stehen nur in einem Druck von 1573 beziehungsweise 1721 zur Verfügung. Der Textvergleich kann jeweils nur auf der Basis einer zur Verfügung stehenden gedruckten Handschrift erfolgen. Auf das Desiderat einer kritischen Edition dieser beiden Quellen und die möglichen Konsequenzen für den zu edierenden Text (z. B. zusätzliche oder fehlende Informationen) - auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann werde ich innerhalb der Einleitung hinweisen, die kritische Edition der Quellen jedoch liegt außerhalb meiner Aufgabe als Editor der Landeschronik.16 Nicht immer ist bei diesen komplizierten Überlieferungsverhältnissen zu klären, welcher Quelle Rothe genau folgt, mitunter vermischt er in dem benannten Abschnitt auch die Darstellung bei Köditz und die Ausführungen der Eccardiana. Dennoch ist die Hauptquelle für den Abschnitt über Ludwig IV. meines Erachtens die Übersetzung des Friedrich Köditz von Salfeld. Dafür sprechen vor allem inhaltliche, mitunter sogar wörtliche Übereinstimmungen, die Rothes Chronik gegen die lateinischen Quellen mit Köditz aufweist. Auf eine detaillierte Begründung muß ich an dieser Stelle verzichten.

II.

Friedrich Köditz von Salfeld war Rektor der Klosterschule Reinhardsbrunn, dem Hauskloster der Ludowinger. Die Übersetzung der Vita Ludowici hat er wahrscheinlich zwischen 1314/18 und 1323 angefertigt. Köditz' Werk reiht sich ein in die nach dem großen Brand von 1292 einsetzenden Reinhardsbrunner Bemühungen, Kapital aus dem Ruhm des frommen Herrscherpaares Ludwig und Elisabeth zu schlagen, um so dem drohenden Niedergang des Klosters entgegenzuwirken.17

Damit Ludwig auch dem durchaus nicht aus seiner Regentschaft abzuleitenden Beinamen 'der Heilige' gerecht wird, sind der ohnehin schon sagenhaften Beschreibung seines Lebens in den Büchern I-V noch insgesamt 153 Wunder (Buch VI) hinzugefügt. Von diesen Wunderberichten geht jedoch keiner in Rothes Chronik ein. Rothe benutzt nur die Bücher I-V, die von der Geburt Ludwigs im Jahre 1200 bis zu seinem Tod während seines Aufbruchs ins Heilige Land (1227) und Begräbnis zu Reinhardsbrunn im Jahre 1228 handeln. 16

17

Eine Edition dieser beiden Landeschroniken plant M.Werner, Historisches Institut der FriedrichSchiller-Universität Jena. H. Lomnitzer: Köditz, Friedrich. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. Bd. 5. Berlin, New York 1985, Sp. 6.

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Sylvia Weigelt

In welcher Weise erfolgt nun die Bearbeitung dieser Quelle etwa einhundert Jahre später durch den dem landgräflichen Hof und seiner Heimatstadt Eisenach verbundenen Weltgeistlichen Johannes Rome?18 Rein formal betrachtet 1. als wörtliche oder im Wortlaut nur geringfügig abgewandelte Übernahme, 2. als verkürzte Wiedergabe, die bis zu Auslassungen ganzer Abschnitte geht, 3. als erweiterte Wiedergabe, wobei die Zusätze unterschiedlichen Charakter tragen und ebenso wie die Auslassungen gegenüber der Quelle interpretationsbedürftig sind. Ich möchte dies im folgenden anhand weniger Beispiele in gebotener Kürze konkretisieren. Zu 1.: Unproblematisch für die Interpretation sind die - insgesamt eher seltenen wörtlichen oder nur geringfügig abgewandelten Übernahmen des Köditzschen Textes. In der Regel finden sie sich vor allem in den Abschnitten, in denen Köditz sich einer Wertung der geschilderten Ereignisse enthält und sich auf die Überlieferung von 'Fakten' beschränkt,19 die freilich mit dem kritischen Blick der Gegenwart kaum als historische Fakten zu bewerten sind. Zu 2.: Auffällig sind dagegen die Quellenabschnitte, die Rothe wissentlich nicht in seine Darstellung übernimmt. Diese beziehen sich insbesondere auf das von Köditz tradierte Persönlichkeitsbild Ludwigs, das vollständig bestimmt wird durch die Funktion der Lebensbeschreibung im Kontext der Vereinnahmung Ludwigs vorrangig als Gemahl der heiligen Elisabeth durch Reinhardsbnmn. So fehlen in der Landeschronik bezeichnenderweise die Passagen, in denen Köditz ausführlich die fromme und keusche Lebensweise Ludwigs und seiner Gemahlin beschreibt. Als Beispiel sei nur auf den Bericht über ihre Hochzeit und den sich anschließenden Kommentar Köditz' verwiesen: Nu sehet unde merkit disen jungen kuschin fwstin, do he zu der e grifen wolde, do stunt her nicht nach grozim schätze [...]: her stunt nach zucht unde nach fromekeit [...]. he wüste wol daz ein zuchtig bidder wip macht einen zuchtigen bidderman [...]. ach welch ein selig heilig unschuldig par volkis kam hi zu samene von gotis willen! (III. l., S. 27, lOff.)

Die ausführliche Schilderung der Umstände der Hochzeit20 fehlt bei Rothe ebenso wie der Kommentar. Rothes Überlieferung erschöpft sich in der Mitteilung:21

18

19

20 21

Über J. Rothe vgl. V. Honemann, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. Bd. 8. Berlin, New York 1992, Sp. 277-286 und ders.: Johannes Rothe als Autor. In: Autorentypen. Hrsg. von W. Haug und B. Wachinger. Tübingen 1990 (Fortuna vitrea. 7), S. 69-88. Z. B. der Bericht über die Gefangennahme von Räubern durch Ludwig (III.1., S. 30, 10-14) oder die Besetzung Reichenbachs durch Ludwig (III.9., S. 40). Beide Berichte finden sich nur bei Köditz. Der gesamte Bericht über die Hochzeit umfaßt III. 1., S. 26, Zeile 30-33 und S. 27, Zeile 1-28. Der Textabdruck folgt der Handschrift (vgl. Anm, 10), nur die Abbreviaturen wurden aufgelöst und in Klammem gesetzt. Auf die Kennzeichnung der Zeilen wurde verzichtet.

Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe

\\5

Also man czalte nach cristi geborth tußent CCXXI jar Da liß om der togu(n)tsam(m)e landtgraue loddewig die heilige jung/rawe Sent Elizabethe(n) des kon(n)igis tochter Von vngarn die om syn vater landsgraue herma(n) seiliger gefrigit hatte zu wartperg uf der borg bie legen Vnde hatte eyne schone hochczit mit or. (Bl. 23 Iv4-12)

Auslassungen gegenüber seiner Quelle betreffen auch die Kommentare, in denen sich Köditz als Vertreter der Klosters Reinhardsbrunn zu erkennen gibt. Als Beispiel verweise ich auf den Bericht zum Tod Hermanns I. und dessen Begräbnis. Köditz teilt zunächst mit, daß Hermann - trotz des Widerspruchs des Reinhardsbrunner Abtes - nicht in Reinhardsbrunn, dem Hauskloster der Ludowinger, sondern in dem von Hermann gestifteten Katharinenkloster in Eisenach begraben wurde. Darauf folgt sein Kommentar, den Rothe einfach ignoriert: „Waz da geschach, daz geschach wider recht." (II. 1., S. 16, 1). Dagegen ergänzt Rothe aus der Eccardiana den Bericht über die Gründung des Katharinenklosters, die Köditz aus naheliegenden Gründen nicht erwähnt. Ein anderes Beispiel: Nachdem Köditz einige Belege dafür gegeben hatte, wie Ludwig „mit grozir gerechtikeit [...] sine arme lute schuzte unde vorteidingte unde daz clostir zu Reinhersborn daz im besundern libete" (II.8., S. 25, Iff.), appelliert er anschließend: „Ach i edeln furstin von Doringen tret in sin gespor: schuzt unde schürt kloster unde arme lute, daz uch got an uwer leztin henefart wolle behüte!" Auch diesen Zusatz ignoriert Rothe. Während Köditz bei jeder Gelegenheit Reinhardsbrunn als das dem besonderen Schutz des Landgrafen unterstellte (und des weiteren Schutzes durch die regierenden Landesherren bedürftige) Kloster in das Bewußtsein seines Publikums rückt und seinem Auftrag gemäß auch Ludwig emphatisch als gottgefälligen Herrscher preist, erscheint Rothes Darstellung fast sachlich, mitunter auch distanziert. Dies läßt sich vor allem aus seinem gegenüber Köditz veränderten historiographischen Standort und der damit verbundenen Funktion der Landeschronik erklären. Noch deutlicher kann man der Intention Rothes anhand der Zusätze beziehungsweise Erweiterungen, die er gegenüber seiner Quelle einfügt, folgen. Zu 3.: Die Zusätze Rothes resultieren zum einen aus dem Bemühen, das machtpolitische Agieren Ludwigs für die Adressaten der Landeschronik als 'gerechtes' Handeln darzustellen; so z. B. in dem Bericht über den Polenfeldzug, den der Landgraf mit einem 3400 Mann starken Heer - sowohl für seine eigenen Begleiter als auch für die polnischen Herren völlig unmotiviert - unternimmt, um die Burg Lebus zu besetzen.22 Köditz, und Rothe folgt ihm hier weitgehend, berichtet auffällig ausführlich über diesen Zug. Als Begründung für Ludwigs Einfall in Polen und die Besetzung der Burg lesen wir bei Köditz auf die verwunderte Frage des Herzogs von Polen, weshalb er denn eine so weite Reise unternommen habe, die Antwort Ludwigs, die eigentlich keine Antwort ist: Er halte die Burg solange besetzt, bis er das Gebiet seiner Herrschaft unterworfen habe oder aber einer komme, der mächtiger sei als er und ihn daraus vertreibe (III. 9., S. 38, 14ff). Dieses 'Motiv' Ludwigs geben alle zur Verfügung stehenden Quellen an, auch Rothe folgt hier Köditz. Jedoch stellt Rothe in der Landeschronik dieser 22

LChrBl. 234vl8-236v9.

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Sylvia Weigeh

'Erklärung' Ludwigs einen wichtigen Einschub voran: Er allein motiviert Ludwigs Kriegszug durch ein vormals schuldhaftes Handeln des polnischen Herzogs: Nachdem nämlich Ludwig in Polen Einzug gehalten hat, bittet ihn der Herzog um Frieden, denn er wolle „den sine(n) kere(n)23 was her on geno(m)men hette von kauffama(n)schatcze vnde von pferden." Doch der „landtgraue Karte sich zumale nicht daran vnde entpoth om wurvmbe her des nicht gethan hette da her om fru(n)ttlich darvmbe geschrebe(n)" (Bl. 235vll-17). Ludwig fuhrt also einen 'gerechten' Krieg, der Herzog hatte sich ins Unrecht gesetzt, indem er Ludwigs Untertanen, vermutlich Händlern, Waren und Pferde geraubt und auch auf ein an ihn gerichtetes Schreiben des Landgrafen mit der Bitte um Herausgabe des geraubten Gutes nicht reagiert hatte. - Ein markanter Zusatz Rothes mit eindeutig funktionalem Charakter! Zum anderen beziehen sich die Ergänzungen der Landeschronik auf lokale Angaben, die Rome einfügt, um eben nicht - wie Köditz - auf die enge Verbundenheit des Landgrafen mit Reinhardsbrunn, sondern mit Eisenach, der Residenz der thüringischen Landgrafen und Rothes Heimat zu verweisen. Diese Umschichtung gegenüber der Quelle erfährt aus der dem Chronisten unmittelbar gegenwärtigen Gefahrdung Eisenachs als Residenzstadt des Landgrafen24 - ähnlich der Reinhardsbrunns als Hauskloster - ihre Motivation. Deutlich formuliert Rothe dies in der der Landeschronik nur kurze Zeit später folgenden Thüringischen Weltchronik, wenn er in dem Bericht über den prunkvollen Ausbau der Wartburg unter Landgraf Friedrich dem Freidigen nach dem Brand von 1317 klagt, daß die einst so prächtige Wartburg jetzt verfalle, weil sich die Fürsten nicht mehr darum kümmerten und ihnen der Berg zu hoch geworden sei.25 Ein Beispiel für Rothes Abweichung von seiner Quelle sei noch gegeben, weil es meines Erachtens geeignet ist, die unterschiedliche Sichtweise des Reinhardsbrunner Übersetzers und Rothes auf die Vergangenheit, auf die Zeit Ludwigs IV. zu veranschaulichen: die sogenannte Krämersage. Köditz überliefert dazu nur zwei Sätze: „dar nach wart einem armen siner manne ein esil geroubit uff der straze, do Hz der erber furste nach volge biz kein Wirzeborg, daz dem armen manne sin esil widder worde" (II. 8., S. 25,16ff). Diese kurze Notiz stellt er unter die Überschrift: „Einsatz Ludwigs für die Armen und für Reinhardsbrunn" (II. 8., S. 25, 1-3). Was macht nun Rothe aus dieser lapidaren Mitteilung? Offensichtlich fand er sie nicht besonders aufregend, denn er ignoriert hier Köditz und folgt stattdessen der Version der Eccardiana. Nach dieser Darstellung übernimmt der Landgraf zwar auch die Rolle des schutzgewährenden Landesherren, darüber hinaus aber erfährt die Geschichte eine auffallige Modifizierung: Der arme Mann agiert hier als durchaus selbstbewußter, wenn auch nur unbedeutenden Kram vertreibender Krämer, der bewußt den 23 24

25

Hier im Sinne von 'ersetzen', 'wiedergeben'. Vgl. Geschichte Thüringens. Bd. II/l. Hrsg. von H. Patze und W. Schlesinger. Köln 1974, S. 234. Mit konkretem Belegmaterial bestätigt dies B. Streich: Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung: Der wettinische Hof im späten Mittelalter. Köln, Wien 1989 (Mitteldeutsche Forschungen. 101), S. 267f. Düringische Chronik des Johann Rothe. Hrsg. von R. von Liliencron. Jena 1859 (Thüringische Geschichtsquellen. 3), Kap. 635, S. 542.

Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe

\ 17

Schutz des Landesherrn für seinen Handel einfordert, damit dieser gedeihen und sich vermehren kann. Und sowohl der Verfasser der Eccardiana als auch Rothe scheinen hier den merkantilen Geist auch ihrer Gegenwart quasi in die Vergangenheit zu transportieren, indem sie Ludwig als Gegenleistung für den begehrten Schutzbrief die geschäftliche Partnerschaft und die Hälfte des jährlichen Zugewinns einfordern lassen.26 Soweit die Beispiele! Das von Rothe in seiner Thüringischen Landeschronik vermittelte Bild Ludwigs IV. folgt über weite Strecken der Darstellung des Lebens des heiligen Ludwig des Friedrich Köditz. Sowohl dem Reinhardsbrunner Übersetzer als auch dem Chronisten Rothe geht es - im Kontext der Funktion ihrer Darstellungen - um die Überlieferung einer Herrschergestalt mit Vorbildfunktion. Gleichzeitig aber setzt Rothe bewußt eigene Akzente in seiner Bearbeitung der Köditzschen Darstellung, die nur erkennbar werden durch die Auslassungen und Zusätze gegenüber seiner Quelle. Diese resultieren zum einen aus dem gegenüber Köditz veränderten historiographischen Standort des Chronisten und zum anderen aus dem der Landeschronik eigenen funktionalen Charakter. Die Frage ist nun, welche der gewonnenen Erkenntnisse der knapp skizzierten Quellenanalyse kann und muß ich in der Edition unterbringen, und in welcher Form kann ich dies tun?

III. Wenn ich als Parameter zum einen den 'quellenintensiven' Text und zum anderen den avisierten Nutzer beziehungsweise den Zweck meiner Edition setze, dann stehen bevorzugt drei Möglichkeiten der Quellenverweise zur Diskussion, die ich an zwei bewußt kurz gewählten Textbeispielen (Ritterweihe, Hochzeit) diskutieren möchte: l. Vermerk der Quelle/n am Rande des Textes bzw. im Apparat ('MinimalVariante') Beispiel 1: Ludwigs Ritterweihe (Bl. 229v6-17) 20

25

Also man czalte nach cristi geborth tußent CCXVII1 iar da hatte landtgraue loddewig ein großen hoffzuysenache Vnde da -worn alle sine grafen in dori(n)ge(n) In deme osterlande missen vnde hessen Vilfursten vnde herren Vnde tath on da große erbarkeit mit koste(n) vnde kleynotte(n) vnde wart da ritther In der kyrchen Sente Jeorien Vor dem altare ufde(n) achte(n) tag sente petirs vnde sente pauwels der heiligen apposteln Vnde wolde anders nerne ritther werde(n) da(n)ne da seibist.

20-25 Köditz II. 7., S. 24, 13-17; Eccardiana, Sp. 421, 23-25. 26

Diese Episode wertet Patze, vgl. Antn. 24, Bd. II/2, S. 15, als Bemühen des Chronisten, „die Welt der Bürger mit der der Fürsten" zu verbinden. U. Liebertz-Grün spricht bezogen auf die Weltchronik des Jans Enikel von dem Unvermögen des Chronisten, die „Andersartigkeit vergangener Epochen und die historische Bedingtheit und Relativität der eigenen Zeit" zu erkennen. Vgl. U. LiebertzGrün: Gesellschaftsdarstellung und Geschichtsbild in J. Enikels Weltchronik. In: Euphorien 75, 1981,8.78.

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Sylvia Weigelt

Beispiel 2: Hochzeit Ludwigs (Bl. 231v4-12) 5

Also man czalte nach cristigeborth tußent CCXXljar Da liß om der togu(n)tsam(m)e landtgraue loddewig die heilige jungfrawe Sent Elizabethe(n) des kon(n)igis tochter Von vngarn die om syn vater landtgraue herma(n) seiliger gefrigit hatte zu wartperg ufder borg bie legen Vnde hatte eyne schone hochczit mit or.

4-7 Köditz III.l., S. 26, 27-33 und S. 27, 1-28; Eccardiana, Sp. 414, 27-29.

Ich kann mit diesen Angaben zwar auf die entsprechenden Quellenabschnitte hinweisen, vermag jedoch weder die Zusätze Rothes im ersten Fall (Schwertleite als höfisches Fest) noch die Auslassungen gegenüber der Quelle im Bericht über die Hochzeit (wie oben beschrieben) zu kennzeichnen. Allein dieser lapidaren Quellenangabe kann der Leser auch nicht entnehmen, ob Rothe nun seiner Quelle wörtlich oder annähernd wörtlich folgt oder seine Darstellung um möglicherweise wichtige Aspekte verkürzt oder erweitert. Der Rezipient ist in diesem Fall gehalten, sich durch den Blick auf die angegebenen Textstellen selber ein Bild über die Art und Weise der Quellenbearbeitung zu verschaffen. - Für mich als Editor hat diese Variante des Quellenverweises den Vorteil, daß ich keinerlei Bewertung der Rotheschen Bearbeitung vornehmen muß. Eine zügige Bearbeitung des zu edierenden Textes und damit dessen Bereitstellung für den Nutzer ist zu erwarten. Die minimalen Erwartungen des Benutzers werden erfüllt und die unbedingt notwendigen Angaben hinsichtlich der im Text verarbeiteten Quellen gegeben. Doch weshalb nicht einen Schritt weiter gehen und zumindest den Versuch unternehmen, die im Vorfeld der Textausgabe und der Beschäftigung mit der Landeschronik ohnehin 'angefallenen' Ergebnisse des konkreten Vergleichs Quelle - Text auch in die Edition selber einzubeziehen?27 2. Vermerk der Quelle/n im Apparat (oder am Rand) und Anzeige der Tendenz der Quellenbearbeitung (Übernahme, Verkürzung, Erweiterung) durch vorab definierte Zeichen Ich habe folgende vier Zeichen verwendet, um die Tendenz der Quellenbearbeitung durch den Verfasser zu kennzeichnen: O = wörtliche oder annähernd wörtliche Übernahme = Rothe erweitert die Quelle durch wahrscheinlich eigene Zusätze28 fi = Quelle wird durch eine andere Quelle ergänzt, diese wird eventuell in Klammer gesetzt •U = Auslassungen gegenüber der Quelle.

27

28

Kurt Gärtner (Trier) verdanke ich den entscheidenden Anstoß, über diese Möglichkeit und ihre editorische Realisierung nachgedacht zu haben. Die Wahrscheinlichkeit ist dadurch gegeben, daß sich die Zusätze nicht aus den von mir herangezogenen Quellen ableiten lassen. Möglicherweise ist hier jedoch auch mit der Aufnahme mündlicher Tradierung zu rechnen.

Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe

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Beispiel 1: Ritterweihe (Bl. 229v6-17) 20

25

Also man czalte nach cristi geborth tußenl CCXVIII iar da hatte landtgraue loddewig ein großen hoff zu ysenache Vnde da worn alle sine grafen in dori(n)ge(n) In deme osterlande missen vnde hessen Vilfursten vnde herren Vnde tath on da große erbarkeit mit koste(n) vnde kleynotte(n) vnde wart da ritther In der kyrchen Sente Jeorien Vor dem altare ufde(n) achte(n) tag sente petirs vnde sente pauwels der heiligen apposteln Vnde wolde anders nerne ritther werde(n) da(n)ne da seibist.

20-25 o Köditz .7., S. 24, 13-17; o Eccardiana, Sp. 421, 23-25.

Beispiel 2: Hochzeit (Bl. 231v4-12) 5

Also man czalte nach cristi geborth tußenl CCXXljar Da liß om der togu(n)tsam(m)e landtgraue loddewig die heilige jungfrawe Sent Elizabethe(n) des kon(n)igis tochter Von vngarn die om syn vater landtgraue herma(n) seiliger gefrigit hatte zu wartperg ufder borg bie legen Vnde hatte eyne schone hochczit mit or.

4-7 U Köditz III. 1., S. 26, 27-33 und S. 27,1-28; O o Eccardiana, Sp. 414, 27-29;

Dieses Verfahren des Quellenverweises erspart dem Benutzer im Bedarfsfall zwar nicht den konkreten Vergleich, kann aber schon für die Interpretation des Textes wichtige Hinweise liefern, kann das Verhältnis Quelle - Text zumindest quantitativ anzeigen und damit die Eigenleistung des Verfassers kenntlich machen - dies alles, ohne den Apparat unnötig aufzublähen. Freilich ist auch dieses Verfahren mit gewissen Risiken behaftet. Zum einen lege ich mich als Editor auf eine Interpretation des Verhältnisses von Text und Quellen fest und beeinflusse damit möglicherweise die 'wertfreie' Aufnahme des Textes als Produkt des Autors Rothe. Zum anderen aber - und dies scheint mir das größere Problem zu sein - ist ein solches Verfahren arbeitsaufwendiger - und damit einer zügigen Fertigstellung der Edition hinderlich - als das unter a) benannte Verfahren; es ist jedoch nicht so aufwendig, wie die dritte Möglichkeit der Quellenanzeige. 3. Der entsprechende Quellenabschnitt wird in einem Apparat unter (oder neben) dem edierten Text wiedergegeben ('MaximalVariante') Beispiel 1: Ritterweihe (Bl. 229v6-17) 20

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Also man czalte nach cristi geborth tußent CCXVIII iar da hatte landtgraue loddewig ein großen hoff zu ysenache Vnde da worn alle sine grafen in dori(n)ge(n) In deme osterlande missen vnde hessen Vilfursten vnde herren Vnde tath on da große erbarkeit mit koste(n) vnde kleynotte(n) vnde wart da ritther In der kyrchen Sente Jeorien Vor dem altare ufde(n) achte(n) tag sente petirs vnde sente pauwels der heiligen apposteln Vnde wolde anders nerne ritther werde(n) da(n)ne da seibist.

20-25 Köditz II. 7., S. 24,13-17: Alse man schreib nach Christi gebort zwelfliundirt jar dar nach in dem achtzendin jar an dem achtin tage der Üben zweifbot in sente Petirs unde Pauls in dem heumanden wart der tugentliche lantgrave Lodewig in siner stat zu Isenach er/ich zu rittere geslagin. Eccardiana, Sp. 421, 23-25: Anno Domini MCCXVIII. pridie nonas Julii Lodewicus gloriose in civitate sua Isenach militarem honorem consecutus est.

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Beispiel 2: Hochzeit (Bl. 231v4-12) 5

Also man czalte nach crisli geborth tußent CCXXIjar Da liß om der togu(n)tsam(m)e landtgraue loddewig die heilige jungfrawe Sent Elizabethe(n) des kon(n)igis tochter Von vngarn die om syn voter landtgraue herma(n) selliger gefrigit hatte zu wartperg ufder borg bie legen Vnde hatte eyne schone hochczit mit or,

4-7 Köditz III.1., S. 27, 20-28: Nu merke, alse man schreib nach Christi gebort zwelfhundirt jar dar nach in dem ein unde zwenzigistenjare, do slifbi der edele turefitrste, lantgrave Lodewig von Doringen, unde hatte hochzit mit der hochgebornen koniginne von Ungirn, sente Elyzabeth. ach welch ein selig heilig unschuldig par volkis kam hi zu samene von gotis willen! si furtin ein Upiich unde geistlich elich lebin mit ein andir. si hatten unsprechliche übe zu samene in gote. der heilige engil was zwuschin on dicke ein böte. Eccardiana, Sp. 414, 27-29: Hie Elisabeth Regis Ungariae filiam olim sibi per patrem desponsatam, duxit in uxorem, anno Domini MCCXXl in Castro suo Wartpergk.

Die Vorteile dieser 'Maximalvariante' liegen auf der Hand: schneller Zugriff auf die Quellen und damit die Möglichkeit des direkten Vergleichs Quelle - Text durch den Benutzer. Eine Analyse des Verhältnisses von Quelle und Text (vgl. 2.), die innerhalb der Einleitung der Edition ihren angestammten Platz finden würde, entfällt für den Editor. Für Texte und Quellen von geringem Umfang scheint mir dieses Vorgehen eine optimale Realisierung einer sowohl textspezifisch als auch am Benutzer orientierten Edition zu sein. Doch für umfangreiche oder gar quellenmäßig schwer erschließbare Texte bietet dieses Verfahren mehr Nachteile als Vorteile. Zum einen würde sich der Quellenapparat gegenüber den Varianten a und b um ein Vielfaches erweitern; im Falle der Landeschronik entspräche der Umfang des Quellenapparates - ungeachtet sonstiger in den Apparat zu verweisender Anmerkungen - ungefähr dem Umfang des edierten Textes. Hinzu kommt, daß sich - aufgrund der verworrenen Quellensituation -ja nicht immer eindeutig klären läßt, welcher der möglichen Quellen Rome gefolgt ist und damit mitunter mehrere Quellentexte den entsprechenden Passagen der Landeschronik zugeordnet werden müßten. Wenn man nicht auf die Bereitstellung der entsprechenden Quellentexte verzichten will, dann bietet sich ein eigenständiger Quellenband an, der dann allerdings die von Rothe benutzten Quellen im Paralleldruck aufnehmen sollte, um auch seine Auswahlprinzipien für den Benutzer transparent zu machen. Der Abdruck der Quellen ist jedoch in jedem Fall mit mindestens einem weiteren Problem verbunden: Nach welchen Grundsätzen ediere ich die Quellen, die zudem - wie im Falle der beiden Hauptquellen der Landeschronik - nur in der Form eines Abdruckes nach einer Handschrift zur Verfügung stehen? Konsequent wäre es, daß im Falle der bereits edierten Quellen die entsprechenden Passagen noch einmal abgedruckt werden. Die noch nicht edierten Quellen könnten lediglich in der Form der vorliegenden gedruckten Handschriftentexte aufgenommen werden; denn als Aufgabe steht die Edition der Landeschronik und nicht die der Quellen. In dieser Form aufgestellt, wäre der Quellenapparat in sich inhomogen, ein kritischer Text stünde gleichberechtigt neben einem unkritischen Text. Schließlich aber - und darin wird ein weiterer Nachteil der 'Maximalvariante' deutlich - wäre dieses Vorgehen weitaus zeitaufwendiger in der Realisierung

Die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe

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als die beiden anderen zur Wahl stehenden Varianten des Quellenverweises und damit einer zügigen Realisierung des Editionsvorhabens hinderlich. Ob ich mich nun für die Variante l oder 2 entscheide - der Blick auf den eigentlichen Quellentext bleibt dem Benutzer, dem es nicht allein um den Text, sondern auch um die Quelle zu tun ist, in keinem Fall erspart. Man könnte aber über die bisher von vielen Editoren bevorzugte 'Minimalvariante' doch hinausgehen, eine gewisse Orientierung für den Benutzer schaffen, indem man die Variante 2 praktiziert und so zumindest die quantitativen Tendenzen der Quellenbearbeitung durch den Textautor transparent werden läßt. Die Möglichkeit der historiographischen Detailforschung - wie sie die Variante 3 erlauben würde - über die Einleitung hinaus mit der Edition zu eröffnen, wird wohl in der Praxis für Texte mit ähnlich problematischer Quellenlage, wie sie sich für die Thüringische Landeschronik des Johannes Rothe darstellt, eine die Grenzen und Absichten der meisten Editoren übersteigende Aufgabe bleiben.

Desiree Welter

Urkundliche Quellen und städtische Chronistik Entstehung und Wirkung von Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln (1270/71)

Die mittelalterliche Großstadt Köln wird in der Mediävistik allgemein als ein kulturelles, wirtschaftliches, politisches und religiöses Zentrum geschätzt, das im Gebiet der deutschen Lande seinesgleichen sucht. Wie sich aber im Laufe der Arbeit des Trierer Projekts zu den westmitteldeutschen und ostfranzösischen Urkunden- und LiteraturSprachen im 13. und 14. Jahrhundert1 herausgestellt hat, ragte Köln nicht nur im Hinblick auf die wirtschaftliche Leistung und die Fortschrittlichkeit der politischen Strukturen hervor, sondern wirkte auch in bezug auf die Ausbildung der volkssprachigen Schriftlichkeit innovativ. So erwies sich Köln am Aufkommen der deutschen Urkunde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als in so hohem Maße beteiligt, wie dies bisher nur vom süddeutschen Gebiet angenommen wurde.2 Durch die Verbindung von sprachwissenschaftlichen, paläographischen und historischen Ansätzen ist es im Rahmen des Projekts gelungen, innerhalb des Gesamtkorpus der Kölner Urkunden Kleinkorpora zu bilden und diese einzelnen Schreiberpersönlichkeiten zuzuordnen.3 Insbesondere dem markanten und bedeutenden Schreiber, der als 'meister Godefrit' bekannt ist und in Köln zwischen 1262 und den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts als Urkunden- und Stadtschreiber tätig war, muß bei der Einfuhrung der deutschen Urkunde Das germanistisch/romanistische Projekt 'Westmitteldeutsche und ostfranzösische Urkunden- und Literatursprachen im 13. und 14. Jahrhundert' unter der Leitung von Prof. Kurt Gärtner und Prof. Günter Holtus besteht seit 1990 und ist dem Trierer Sonderforschungsbereich 235 'Zwischen Maas und Rhein. Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert' zugeordnet. Kurt Gärtner: Zur Erforschung der westmitteldeutschen Urkundensprache im 13. Jahrhundert. In: Chronologische, areale und situative Varietäten des Deutschen in der Sprachhistoriographie. Festschrift für Rudolf Große. Hrsg. von Gotthard Lerchner, Marianne Schröder u. Ulla Fix. Frankfurt a. M. [u. a.] 1995 (Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte. 2), S. 263-272; ders.: Die deutschen Einträge in den Kölner Schreinskarten als früheste Zeugnisse für den Gebrauch des Deutschen in der Urkundensprache im 12. Jahrhundert. In: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tagung Greifswald, 18.20. September 1992. Hrsg. von Christa Baufeld. Göppingen 1994 (GAG. 603), S. 51-65. Zu den Grundlagen und bisherigen Ergebnissen der Projektarbeit vgl.: Beiträge zum Sprachkontakt und zu den Urkundensprachen zwischen Maas und Rhein. Hrsg. von Kurt Gärtner u. Günter Holtus. Trier 1995 (Trierer Historische Forschungen. 29); vgl. in diesem Band insbesondere den Beitrag von Thomas Bonn/Andrea Rapp:Zur Untersuchung westmitteldeutscher Urkunden des 13. Jahrhunderts. Historische, paläographische und sprachwissenschaftliche Aspekte, S. 41-59.

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eine führende Rolle zugekommen sein, da ihm bisher das verhältnismäßig umfangreiche Korpus von 21 volkssprachigen Urkundenautographen zugewiesen werden konnte.4 Noch bis vor kurzem wurde in der Forschung kontrovers diskutiert, ob dieser 'meister Godefrit' mit 'Godefrit Hagene' gleichzusetzen ist,5 von dem die etwa 6300 Verse umfassende, ripuarische Reimchronik der Stadt Köln aus den Jahren 1270/71 überliefert ist.6 Durch die historisch-paläographischen und sprachwissenschaftlichen Untersuchungen des Trierer Projekts konnten jedoch die Zweifel über die Identität von Urkundenschreiber und Chronikautor weitgehend zerstreut werden. Dies gab den Anstoß zu einer Neuedition des Textes, die schon seit langem als ein besonderes Desiderat galt, da die bisher maßgebliche Ausgabe von Schröder/Cardauns wegen ihrer fragwürdigen Normalisierungen stets heftiger Kritik ausgesetzt war. Durch die Gleichsetzung der Personen ist es jetzt möglich geworden, die Erstellung von Text und Apparat nicht mehr allein von der autorfernen Überlieferung einer Handschrift vom Anfang des 15. Jahrhunderts7 und einem 125 Verse umfassenden Fragment vom Anfang des 14. Jahrhunderts8 abhängig zu machen. Der Rückgriff auf die Urkundenauto-

Urkunden von Gottfrieds Hand sind: Köln, Historisches Archiv der Stadt Köln, HUA 3/258 (Corp.I, 60); HUA 2/261 (Corp.I, 61); HUA 3/267 (Corp.I, 69 AB); HUA 2/268 (Corp.I, 70); HUA 3/273 AB (Corp.I, 71); HUA 3/274 AB (Corp.I, 72 AB); HUA 1/275 (Corp.I, 74); HUA K/277 (Corp.I, 75); HUA 3/278 (Corp.I, 76); HUA K/280 (Corp.I, 78); Domstift U3/297 (Corp.I, 79); HUA 2/284, Düsseldorf Hauptstaatsarchiv, Kurköln 106 (Corp.I, 83 [ul]); HUA 2/285 AB (Corp.I, 85, N68); HUA 1/286 (Corp.1, 86); HUA 3/252 (Corp.I, 53); HUA 2/315a [u3]; StA 393/392 (Corp.I, 223/224). - Die Stücke u l und u3 waren bisher unediert, sind aber jetzt abgedruckt in Thomas Bonn/Andrea Rapp: Nachträge zum 'Corpus der altdeutschen Originalurkunden'. Mit Editionen und Untersuchungen. In: Sprachkontakt 1995, vgl. Anm. 3, S. 215-283. - Die übrigen Urkunden sind ediert in: Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Bd. I. Hrsg. von Friedrich Wilhelm. Lahr 1932. Für die Identität von Urkundenschreiber und Chronist plädierten zunächst Johann Jakob Merlo: Meister Godefrit Hagene. In: Bonner Jahrbücher 59, 1876, S. 114-131; ders.: Meister Godefrit Hagene (Nachträgliches). In: Bonner Jahrbücher 75, 1883, S. 79-81; Heinrich Kelleter: Gottfried Hagen und sein Buch von der Stadt Köln. In: Westdeutsche Zeitschrift ftlr Geschichte und Kunst 13, 1894, S. 150218.- Zweifel an der Identität meldeten an: Ernst Domfeld: Untersuchungen zu Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln nebst Beiträgen zur mittelripuarischen Grammatik. Breslau 1912 (Germanistische Abhandlungen. 40) [Nachdruck: Hildesheim, New York 1977]; Johannes B. Menke: Geschichtsschreibung und Politik in deutschen Städten des Spätmittelalters. In: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 33 (1958), S. 1-84 und 34/35 (1959/60), S. 85-195; Hugo Stehkämper: Gottfried Hagen. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 7. Hrsg. von der historischen Kommission der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1966, S. 478-479. - Für eine Gleichsetzung sprachen sich erneut aus Elmar Neuss: Das sprachhistorische Problem von Godefrit Hagens Reimchronik der Stadt Köln. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 33 (1969), S. 297-329; Hartmut Beckers: Gottfried Hagen. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. 2., erweiterte Auflage. Bd. 3. Berlin, New York 1981, Sp. 384-387. Des Meisters Godefrit Hagen, der Zeit Stadtschreibers, Reimchronik der Stadt Coin aus dem 13. Jahrhundert. Hrsg. von Eberhard von Groote. Köln 1834 [Nachdruck: Vaduz 1972]; Gottfried Hagen. Dit is dat boich van der stede Coelne. Hrsg. von Hermann Cardauns u. Karl Schröder. Leipzig 1875 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis 16. Jahrhundert. 12) [Nachdruck: Göttingen 1968], Frankfurt, Stadt- und Universitätsbibliothek, Ms. germ. 8°, 26. Köln, Historisches Archiv, Leihgabe des Düsseldorfer Staatsarchivs, Hs. CV1; vgl. dazu auch Andrea Rapp: Das Düsseldorfer Fragment von Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln im Rahmen von

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graphe des Chronisten erlaubt es vielmehr, verläßlichere Aussagen über den Sprachstand des Originals zu machen und verderbte Stellen besser zu emendieren. Ein Vergleich des Textes mit den Urkunden ist aber nicht nur in sprachlicher Hinsicht wichtig, sondern läßt auch auf der inhaltlichen Ebene interessante Beobachtungen zu. Anhand eines exemplarischen Falls soll daher im folgenden herausgearbeitet werden, auf welche Art und Weise der Chronist Gottfried die von ihm selbst als Schreiber aufgesetzten Urkunden in seiner Chronik verarbeitet und wie 200 Jahre später seine Bearbeiter an diesen Stellen vorgehen. Dabei wird sich zeigen, daß Gottfrieds Chronik trotz oder gerade wegen ihrer oft tendenziellen Darstellung — als Quelle für die Kölner Geschichtsschreiber des 15. Jahrhunderts von kaum weniger prominenter Bedeutung war, als sie es für die heutigen Historiker ist. Die Untersuchung über die Entstehung und Wirkung der Reimchronik wird dabei von der Frage begleitet, in welchem Maße das jeweilige Geschichtsverständnis und die historischen Rahmenbedingungen auf die Vorgehensweise der Autoren und die Darstellung der verschiedenen Texte einwirkten. Gottfried Hagens Boich van der stede Coelne, wie er es selbst tituliert, ist keine Chronik im eigentlichen Sinn, da konkrete Daten und Zeitangaben fehlen, Zeitsprünge auftreten und die Art der Darstellung eher dramatisch als erzählend ist. Die Reimchronik hat als das früheste Zeugnis einer gereimten deutschsprachigen Geschichtsschreibung zu gelten, die den universalgeschichtlichen Aspekt vernachlässigt und statt dessen die Ereignisse einer einzelnen Stadt in den Mittelpunkt stellt.9 Mit Gottfried Hagen erscheint „erstmals ein Mann auf dem literarischen Plan, der ganz nur Stadtluft atmet und den allein die sozialen Verflechtungen und Spannungen in den Mauern der Stadt etwas angehen."10 Vermutlich hat er die meisten der geschilderten Geschehnisse im Zeitraum von 1252 bis 1271 persönlich miterlebt und war in dieser Zeit als Urkunden- und Stadtschreiber, Beauftragter der Stadt gegen eine päpstliche Bannandrohung, Bote des Erzstifts und Pfarrer von St. Martin1' auch aktiv in die Kölner Stadtpolitik eingebunden. Er beschreibt daher die Unruhen, die in dieser Zeit in Köln herrschten und die sich zwischen der patrizischen Oberschicht und den Erzbischöfen Konrad von Hochstaden und Engelbert von Falkenburg einerseits, innerhalb der patrizischen Oberschicht selbst und zwischen dieser und den aufstrebenden Zünften andererseits ergaben. Als Stadtschreiber, der eines der höchsten Ämter der städtischen Verwaltung innehatte, war er geradezu dazu prädestiniert, da er nicht nur über die notwendige literarische und juristische Bildung verfugte, sondern auch mehr Hintergrundinformationen besaß als irgendein anderer. überlieferungsgeschichtlichen Fragestellungen und Vorüberlegungen zu einer Neuausgabe. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 59 (1995), S. 1-30. 9 Menke 1958, vgl. Anm. 5, S. 52-55. 10 Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. 1. Teil: 12501350. München 1962 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Helmut de Boor u. Richard Newald. 3,1), S. 204. 1 ' Vgl. Kelleter 1894, vgl. Anm. 5, S. 177-210; Manfred Graten: Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung. Köln 1995 (Städteforschungen. A 36), S. 228-246.

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Gleichwohl wurde seine Chronik aufgrund ihres literarischen Charakters von der positivistischen Geschichtswissenschaft als seriöse Quelle kaum geschätzt. Auch die Literaturwissenschaftler zeigten sich von ihrem künstlerischen Wert wenig angetan, obwohl die Autorkommentare darauf schließen lassen, daß Gottfried eher einem literarischen als einem historischen Anspruch genügen wollte. In der Tat ist der Text keine in allen Einzelheiten stimmige Faktensammlung, sondern die erzählerische Verarbeitung von Ereignissen und Rechtsgeschäften, die der literarischen Konvention entsprechend umgestaltet wurden. Umso ergiebiger ist der Text aber deshalb im Hinblick auf Fragestellungen, die die Intention des Autors und die geistesgeschichtliche Ebene betreffen. Dabei eröffnet sich, daß die Reimchronik kaum zu übersehende tendenzielle Züge zugunsten der sogenannten Overstolzen-Partei' trägt,12 die ab 1268 nach längeren Auseinandersetzungen mit der konkurrierenden Partei der 'Weisen' wieder das Stadtregiment bestimmte. Dennoch ist Gottfrieds Chronik wohl weder ein Auftragswerk noch ein Instrument aktueller politischer Agitation,13 denn trotz seiner Bindung an diese Gruppierung der städtischen Oberschicht besitzt der Autor keineswegs nur die beschränkte Sicht eines Parteigängers, sondern zeigt sich in seiner Darstellung durchaus auch um den Ausgleich der Konflikte und das einträchtige Zusammenleben in der Stadt bemüht. Zur Beilegung dieser langandauernden und alle gesellschaftlichen Ebenen umfassenden Streitigkeiten wurden in den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts mehrere Sühneurkunden aufgesetzt, wobei bevorzugt Gottfried als Schreiber hinzugezogen wurde. Zu den allerersten Urkunden von Gottfrieds Hand gehört auch die Sühne vom 16. Juni 126214, die einen Konflikt zwischen Erzbischof Engelbert und verschiedenen städtischen Gruppierungen beilegen sollte. Daraufhin war es einer Gruppe von Patriziern, die 1259 im Zuge von Erzbischof Konrads sogenannter „Revolution von oben"15 ihrer Ämter enthoben und aus der Stadt gewiesen worden war, erlaubt, nach Köln zurückzukehren. Zu ihnen gehörten auch einige Angehörige der Overstolzen-Partei, die nach ihrer Wiedereinsetzung in Amt und Würden allem Anschein nach dafür sorgten, daß der ihnen nahestehende Gottfried Hagen als Schreiber ihres Vertrauens auf höchster Ebene etabliert wurde und dort als Fachmann für das volkssprachige Urkundenwesen wirken konnte. Welchen Stellenwert Gottfried seiner Tätigkeit als Schreiber beimaß und wie wichtig ihm sein erster größerer Auftrag gewesen sein muß, wird daran ersichtlich, daß er dieser Sühne und den vorangegangenen Ereignissen in seiner Chronik mehr als 600 Verse widmet und detailliert auf die Verhandlungen und gegenseitigen Ansprüche eingeht. Dabei folgt er jedoch den Anforderungen eines literarischen Textes und stellt die erzählerische Anschaulichkeit über die präzise Wiedergabe der verbrieften Rechtslage, 12 13 14

15

Vgl. hierzu ausführlich Groten 1995, vgl. Anm. 11, S. 246-257. Vgl. Menke 1958, vgl. Anm. 5, S. 55. HUA 3/258 (Corp.I, 60).

Hugo Stehkämper: Über die rechtliche Absicherung der Stadt Köln gegen eine erzbischöfliche Landesherrschaft vor 1288. In: Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen. Hrsg. von Werner Besch u. a. Bonn 1972, S. 343-377, hier S. 346.

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die ihm als Schreiber der Urkunde sicher bekannt, aber literarisch zu wenig ergiebig gewesen sein wird. Daraus resultieren inhaltliche Diskrepanzen zwischen den beiden Texten, die die Forschung bisher dazu verleitet haben, bei Autor und Chronikschreiber von zwei getrennten Personen auszugehen. Eine umfassende Betrachtung der Reimchronik fuhrt jedoch zu dem Ergebnis, daß die Diskrepanzen durchaus mit der Identität zu vereinbaren und durch die historischen und persönlichen Rahmenbedingungen des Autors zu erklären sind. Als Beispiel soll hier die obengenannte Sühne von 1262 angeführt werden. Es werden in der Urkunde folgende Bestimmungen getroffen: Die Rheinmühlen und ihre Einnahmen werden halb dem Bischof, halb der Stadt zugesprochen. Das gleiche gilt für den Bierpfennig und die Akzise, die jedoch vorerst ganz der Stadt zugute kommen soll, damit sie für ihre alten Schulden und eine Wiedergutmachung von 6000 Mark beim Bischof aufkommen kann. Im Gegenzug dazu sollen die vertriebenen Patrizier ihren Besitz, ihre angestammten Rechte und ihre Ämter zurückerhalten. In der Reimchronik stellen sich die Dinge etwas anders dar.16 Hier läßt Gottfried den Bischof in einer Rede Ansprüche auf eine obrigkeitliche Einsetzung von Schöffen, Bürgermeister und Amtmann erheben, wovon die Urkunde nichts weiß. Die Historiker gehen davon aus, daß sich dadurch Pläne zur „Änderung der Stadtverfassung"17 andeuten sollten. Ob aber ein solches Vorhaben tatsächlich bestand oder ob Gottfried es dem Bischof nur zuschreibt, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Im übrigen entsprechen die finanziellen Ansprüche, die Bischof Engelbert in bezug auf Bierpfennig, Weinzoll, Wegezoll, Mühlen und Akzise und eine einmalige Wiedergutmachungszahlung in der Reimchronik mit Vehemenz anmeldet, den Bestimmungen der Urkunde, wenn sie auch dort in ihrem Umfang in reduzierter Form festgehalten sind. Es ist wohl wieder auf die pro-städtische Tendenz der Chronik zurückzuführen, daß Gottfried hier nur von den Forderungen, nicht aber von den wesentlich moderateren endgültigen Bestimmungen berichtet. Der Vergleich zwischen Urkunden- und Chroniktext bietet also ein zwiespältiges Bild: Einerseits werden viele Details in der Chronik wiederaufgegriffen, die nur durch besondere Kenntnisse und Interessen des Autors zu erklären sind. Andererseits divergieren die beiden Texte in manchen Punkten so merklich, daß man bewußte Eingriffe Gottfrieds im Sinne seiner patrizischen Förderer vermuten kann. Dabei muß man sich allerdings auch vor Augen halten, daß zum Zeitpunkt der Abfassung der Chronik acht Jahre und fünf weitere Sühnen ins Land gegangen waren. Einfache Irrtümer von Seiten des Autors sind daher nicht ausgeschlossen. Genau 200 Jahre später, zwischen 1469 und 1472, beschäftigte sich der Kölner Heinrich von Beeck18 in seiner Agrippina betitelten Prosachronik19 erneut mit dem von 16 17 18

Vgl. Text l im Anhang. Groten 1995, vgl. Anm. 11, S. 259. Vgl. Hartmut Beckers: Heinrich von Beeck. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. 2., erweiterte Auflage. Bd. 3. Berlin, New York 1981, Sp. 693-695.

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Gottfried beschriebenen Zeitraum und geht dabei auch auf die Sühne von 1262 ein.20 Seine Quelle ist hier die Reimchronik, wobei er die erzählerischen Passagen stark kürzt und paraphrasiert, doch von den Rechtsgeschäfte betreffenden Punkten keinen ausläßt. Diesem Bemühen um juristische Vollständigkeit steht jedoch der Umstand entgegen, daß er die Angaben der Quelle nicht immer genau übernimmt. So werden aus den „burgermeister ind amptman", die bei Gottfried erwähnt sind, „zwene burgermeister"; und statt auf Gerste läßt von Beeck in der Agrippina Abgaben auf Weizen erheben. Es stellt sich nunmehr die Frage, ob diese Abweichungen auf bewußte Korrekturen, Nachlässigkeit oder Verständnisfehler zurückgehen. Offensichtlich ist jedoch, daß der Chronist des 15. Jahrhunderts sich dabei allein auf den literarischen Text stützt und nicht mehr selbst auf die entsprechende Urkunde zurückgeht, da er keine Änderungen vornimmt, die Gottfrieds Abweichungen gegenüber der Urkunde berichtigen oder ergänzen würden. Und dies, obwohl er mitunter auch juristische Dokumente als Quelle heranzieht und sie in einem Anhang in selbst angefertigten Abschriften beigibt. Andererseits ist es auch typisch für seine Arbeitsweise, eine ungewöhnlich große Anzahl von Vorlagen zu verwenden, sie aber unbearbeitet und unkritisch nebeneinanderzusetzen.21 1499 wurde die Sühne von 1262 in der nach ihrem Drucker benannten Koelhqff'schen Chronik22 eines unbekannten Verfassers erneut aufgegriffen.23 Ein Vergleich der Prosachronik mit ihren Vorgängern ergibt, daß der Autor Reimchronik und Agrippina gleichzeitig als Quellentexte benutzt haben muß. Was bestimmte Formulierungen und die Wortwahl angeht, ist in der Koelhoff'schen Chronik die Agrippina als Vorlage auszumachen. Beachtlich ist jedoch, daß Koelhoff trotz dieser Anlehnung wieder zu einer ausgedehnteren Form der Darstellung übergeht und bei der Umformung in Prosa kaum einen Vers aus der Reimchronik ausläßt. Daneben übernimmt er keineswegs die inhaltlichen Änderungen der Agrippina gegenüber Gottfried, sondern kehrt auch hier zum Urtext zurück. So nennt er neben der richtigen Getreidesorte beispielsweise auch wieder „burgermeister ind amptman" im Singular. Die Anlehnung an die Agrippina ist somit eine primär formale, die wohl darauf zurückzuführen ist, daß die modernere sprachliche Form der Agrippina dem Autor der Koelhoff'schen Chronik nähergestanden haben wird als die der Reimchronik. Dennoch hat er in inhaltlicher Hinsicht seinem über 200 Jahre älteren Vorgänger mehr Vertrauen entgegengebracht als seinem Zeitgenossen. 19

20 21

22

23

Heinrich von Beeck: Agrippina. (K, Historisches Archiv der Stadt Köln, Chroniken und Darstellungen, Nr. 19, Sigle A). Bl. 71r, Z. 23 - 94v, Z. 8, unveröffentlichte Transkription des Autographs erstellt von Ingrid Mich und Andrea Rapp. Vgl. Text 2 im Anhang. Vgl. Hermann Cardauns: Einleitung zur Koelhoff'schen Chronik. Leipzig 1875 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis 16. Jahrhundert. 13) [Nachdruck: Göttingen 1968], hier S. 229f.; Menke 1958,vgl.Anm. 5, S. 57. KoelhofFsche Chronik (Dat boich van der hilliger stede van Colne). Hrsg. von Severin Corsten (Faksimile). Köln 1972; Severin Corsten: Die Kölnische Chronik von 1499. Kommentar zum Nachdruck. Köln 1981; Hartmut Beckers: KoelhojfjTsche Chronik. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. 2., erweiterte Auflage. Bd. 5. Berlin, New York 1981, Sp. 79. Vgl. Text 3 im Anhang.

Urkundliche Quellen und städtische Chronistik

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Über die Verläßlichkeit seiner Quelle hegt er augenscheinlich keine Zweifel, denn auch er spart sich den Rückgriff auf die Urkunde und stützt sich allein auf den literarischen Text. An einer anderen Stelle ist jedoch der entgegengesetzte Fall zu beobachten. In der Reimchronik wird der Absetzung der Kölner Münzerhausgenossen durch Erzbischof Konrad von Hochstaden im Jahre 1259 nur in drei knappen Versen gedacht (V. 12181220). Gottfried geht wohl nicht näher auf die Vorgänge und die Urkunde ein, da sie vor seiner Schreibertätigkeit und persönlichen Augenzeugenschaft anzusetzen sind. Der Verfasser der Agrippina dagegen gibt seiner Darstellung im Anhang eine Abschrift der entsprechenden lateinischen Urkunde bei, doch der eigentliche Text zu diesem Ereignis ist nicht umfangreicher als bei Gottfried. Der Verfasser der Koelhoff'schen Chronik geht noch einen Schritt weiter, denn er übersetzt die Urkunde nicht nur ins Deutsche, sondern fügt sie in den laufenden Text ein (Bl. 204r/v). Um den Rückgriff der beiden Bearbeiter auf eine Urkunde zu erklären, die deren 'literarische Quelle' nicht benutzt hat, erweist sich wieder ein Blick auf den historischen Kontext als hilfreich. Vermutlich hegten beide Chronisten ein besonderes Interesse für die Münzerhausgenossen und Fragen des Geldverkehrs, da diese für sie eine gewisse Aktualität besaßen. Schließlich befand sich am Ende des 15. Jahrhunderts das Münzwesen in Köln in einer Krise, die sich in einer Flut von Verordnungen und Reformversuchen niederschlug24 und die Chronisten deshalb nach den historischen Wurzeln ihrer aktuellen Probleme suchen ließ. Die späteren Chronisten greifen also für ihre Darstellung der Stadtgeschichte durchaus auf frühere Urkunden zurück, wenn der betreffende Fall ihrem eigenen Interesse entgegenkommt und die primäre Quelle darüber nicht genügend Auskunft gibt. Wenn aber die historischen Ereignisse keine direkte persönliche Bedeutung für sie haben, genügt ihnen offenbar das Zeugnis der Reimchronik. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Gottfried Hagens Reimchronik als einzigartiger „Frühansatz"25 der Kölner Geschichtsschreibung zu gelten hat, bei dem die Bezugnahme auf die Zeitgeschichte einer einzelnen Stadt als Charakteristikum der spätmittelalterlichen Historiographie erstmals durchbricht. Sie hatte aber keine direkten Nachfolger, denn erst im 15. Jahrhundert gelangte die städtische Geschichtsschreibung in Köln zu einer neuen Blüte. Dabei beschränken sich die Kompilatoren aber nicht mehr wie Gottfried auf die eigene Zeitgeschichte, denn ihr Interesse für Geschichte „ist bereits selbstverständlicher vorhanden und wendet sich in steigendem Maße auch der historischen Literatur zu."26 So benutzten sie neben anderen Texten auch die Reimchronik als Quelle, die ihnen verläßlich erschien und in den meisten Fällen darüber hinausgehende eigene Recherchen überflüssig machte. 24

25 26

Vgl. Clemens von Looz-Corswarem: Unruhen und Stadtverfassung in Köln an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In: Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit. Hrsg. von Wilfried Ehbrecht. Köln, Wien 1980 (Städteforschungen. A 9), S. 53-97. Menkel958, vgl. Anm. 5, S. 55. Menke 1958, vgl. Anm. 5, S. 58.

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Trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen und Darstellungsweisen ist den drei Texten aber gemeinsam, daß sie nicht nur über die inneren Auseinandersetzungen in Köln im 13. und 15. Jahrhundert berichten, sondern aus diesen gewissermaßen auch hervorgehen. Sie geben damit nicht nur ein Bild der Geschichte, sondern sind selbst ein Teil davon. Es gilt daher, die spezifischen Rahmenbedingungen zu beachten und diese in die Interpretation der Quellen sowie die Untersuchung zur jeweiligen Quellenverarbeitung miteinzubeziehen, Da die ältere Forschung diesen Aspekt vernachlässigt hat, kam es soweit, daß der Urkundenschreiber und Chronikautor Gottfried in zwei verschiedene Personen dividiert wurde. Gleichfalls wurde aufgrund dieses eingeschränkten Blickwinkels die Technik der Kompilation bei den Prosachronisten als minderwertig abgelehnt. Dabei wurde jedoch übersehen, daß einem Kompilator, wie dem Verfasser der Koelhoff'sehen Chronik, durchaus eine eigenständige Leistung zugestanden werden kann, denn indem er mehrere Quellen nebeneinander benutzt und - wie im beschriebenen Fall - zwischen Reimchronik und Agrippina kritisch sichtet, erweist er sich als Vorläufer der kritischen Geschichte- und Literaturwissenschaft. Aber auch die Agrippina verdient trotz ihrer Ungenauigkeiten einige Beachtung, da sie als erste Kölner Prosachronik eine wichtige Etappe der Geschichtsschreibung bezeichnet und Aufschluß über das neue Geschichtsverständnis und die entsprechende Arbeitsweise der Historiographien geben kann. Die mittelalterliche Kölner Geschichtsschreibung erweist sich damit als ein lohnender Untersuchungsgegenstand, der interessante Aufschlüsse über das jeweilige Geschichtsverständnis und seine literarische Umsetzung liefern kann.

Anhang: Textbeispiele 1-3

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Anhang

Die Wiedergabe von Text l entspricht den Konventionen der Trierer Neuausgabe der Reimchronik. Dabei ist die Hs. F maßgebend; es wird lediglich ein i/j-, u/v- und s/fAusgleich vorgenommen. Abkürzungen sind hier entgegen der Ausgabe in runden Klammern aufgelöst. Die Interpunktion folgt modernen Gepflogenheiten. Text 2 und 3 entsprechen genau dem Autograph beziehungsweise dem Druck. In die Graphemik wurde abgesehen von s/f nicht ausgleichend eingegriffen. Abkürzungen sind in runden Klammern aufgelöst; Schrägstriche geben die originale Interpunktion wieder. Die doppelten Senkrechtstriche bedeuten Zeilenwechsel.

Text l

Gottfried Hagen, Reimchronik (V'. 2327-2363)

Der busschoff, unser alre here, hie wilt ain eymans weder kere der stede nuwe scheffen setzen, die uch zo unwijs neit en beschetzen als men bis her hait gedain ind die ir stat ku(n)nen verstain. die burgermeister ind die amptman wilt maichen, den is myn here gan. wan e sal gain die stat zo rade, id sy vro off id sy spade, dat is wille des heren myn, dat van synen wegen dar over syn sy zwene die des neit en gestaden, dat sy eit raden up uren schaden. [...]

nu hoirt vort: ever wilt myn here beer pe(n)nynge ind wege toi noch me myn here haven sal, alle die molen ind die assise, dat weis Herman wale der wyse. [...] we evenz malz gilt ein maider, is hie ju(n)ger, is hie aider, hie sal geven seis pe(n)nynge even, van gersten mois hie geven seven. [...] van myns heren mu(n)de sagen ich it uch nu, men sal't keren an myns heren bu. dar zo wilt hain myn here seis dusent marck die men dar an kere. vort sal hie uch schetzijngen laissen quijt, dat ir eme dys gevolgich sijt.

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Desiree Welter

Text 2

Heinrich von Beeck, Agrippina (Bl. 83v, 13-19)

da wart v(er)kundiget dat || yr here neuwe scheffe(n) wolde setze(n) vp dat dye ge-1| meyne nyet me also as uur geschat wurde(n) / vn(d) || wulde zwene burg(er)meist(er) va(n) syne(n) wegen setze(n) vort || wulde hey haue(n) wege toll vnd beyr axyse vnd alle || moelen axyse / vort va(n) körne weysse vnd haberen || vnd ander war me vnd wolde dar zu va(n) schetzu(n)ge(n) haue(n) 6000 marck

Text3

Koelhoff'sche Chronik (Bl. 213b)

Der buschoff vnser alre here / wilt wissen die gelegenheit ind ordenu(n)ge vre Stat ind wille der Stat nuwe Scheffen settze(n) / die genedichlich mit vch sullen vmbgain die vch niet so vnmanierlich schetzen sullen als bys her eyn wile geschiet is Item Hie wilt settzen eyn Bürgermeister ind dair tzo eyn Amptman van synen wegen Ind so wa(n)ne die Stat sail zo raede gain / so sullen die tzwene dair by syn, ind die sullen niet tzo layssen dat iet beslossen werde vp vren schaden [...] Item vort wilt min here haue(n) byer axise / wege gelt wege tzoll ind alien moelen axise. [...] Item wer even Maltz gilt eyn maider der sal geven .vj. pennynge Item desgelijchen van ander ware wart gesalzt axise Dat selue gelt dat van den vurß waren kumpt dat sail gekeilt werden an myns heren buwe. Item tzom lesten wilt myn here ouch hauen van vch alien [...] dat yr vch vndereynander schetzt ind eme geuet .vj. dusent mark, alias Ind van .vj. pe(n)ningen eyn. Ind mit der schetzunge suit yr quijt sijn. vp dat yr eme des gevulchich sijt.

Ralf Georg Bogner

Die exemplarische Kommentierung rhetorischer, poetischer und sprachästhetischer Textproduktionsmuster in Editionen frühneuzeitlicher Texte I. Die perspektivierte Pluralisierung der Kommentierung anstelle des illusionären Vollkommentars In der editions wissenschaftlichen Forschungsliteratur1 ist nicht bloß einmal, sondern immer wieder die Meinung vorstellig gemacht worden, ein Stellenkommentar könne im Verein mit raffenden Kommentarfonnen sowie Vorreden und Nachworten sämtliche sachlichen und sprachlichen Wissensvoraussetzungen einholen, die zwischen einem historischen Text und seinen heutigen Leserinnen und Lesern stehen. Der garstige Graben unterschiedlicher Wissenshorizonte, der den Autor und die gegenwärtigen Rezipienten voneinander trenne und die Erläuterungsbedürftigkeit historischer Texte verschulde, könne gemäß einer mehrfach geäußerten Ansicht von der Editionsphilologie durch den Kommentar überbrückt werden, ja dieser Graben vermöge, so die Vertreter des Konzepts des sogenannten Vollkommentars, völlig überbaut und geschlossen zu werden.2 Darüber hinaus ist häufig auch noch die Ansicht bekundet worden, es handle sich auf diesem Gebiet editionsphilologischer Arbeit durchaus um eine nicht-interpretative Tätigkeit und damit im (gedruckten) Ergebnis auch um eine nicht-interpretative Komponente einer Textausgabe.3 Zum Kommentar in Editionen literarischer Texte vgl. vor allem die Beiträge in den beiden Sammelbänden: Probleme der Kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Frankfurt a. M., 12.-14. Oktober 1970 und 16.-18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller-Seidel. Boppard 1975 (Kommission für germanistische Forschung. 1); Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, 4.-7. März 1992. Autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio. 5). Vgl. des weiteren die Beiträge in: editio 7 (1993) sowie Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Darmstadt 1990, S. 178-202. Vgl. z. B. die Forderung nach einem Vollkommentar, der sich allein aus arbeitstechnischen Gründen nicht realisieren lasse: jüngst z. B. Winfried Woesler: Zu den Aufgaben des heutigen Kommentars. In: editio 7 (1993), S. 18-35, hier S. 19 u. ö. - Vgl. zur Diskussion um den Vollkommentar z. B. Volkmar Hansen: Hermeneutischer Vollkommentar. Überlegungen aus Anlaß von Klaus Brieglebs „Heine-Ausgabe". In: Heine-Jahrbuch 17 (1978), S. 239-250. Zur Diskussion um die Frage, ob ein Einzelstellenkommentar als interpretativ zu bewerten sei, vgl. z. B. Kraft 1990, vgl. Anm. l, S. 185f. u. ö.; Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme 1975, vgl. Anm. l, S. 33-74, hier S. 36, 45 u. ö.

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Solche Meinungen widerlegt allerdings bereits ein flüchtiger Blick in nahezu jede beliebige neuere Edition (sofern sie sich überhaupt der Mühe einer Textkommentierung unterwindet). Allein schon die gängige Auswahl an Perspektiven, die in der heute eingespielten Kommentierungspraxis auf einen Text geworfen zu werden pflegen, verrät die, oftmals uneingestandenen, interpretativen Vorentscheidungen. Die Kommentierungspraxis konzentriert sich in der Regel auf biographische, lokale, geschichtliche und politische Bezüge, auf den Nachweis literarischer Anspielungen und Zitate sowie von Wortbedeutungen. Ausgeblendet bleiben dagegen zumeist syntaktische Spezifika, graphematische Formen (im weitesten Sinne) und vor allem die einzelnen rhetorischen und poetischen Textproduktions- und -gestaltungsmuster (über die Poetologie eines Textes oder eines Autors / einer Autorin wird hingegen in raffenden Kommentaren manchmal Auskunft gegeben). Diese geläufige Auswahl an Perspektiven für die Kommentierung legt zum einen deutliche interpretatorische Vorentscheidungen bei der Kommentargestaltung im Großen offen (womit noch keinerlei Aussage über die interpretatori sehen Vorentscheidungen bezüglich der Auswahl der einzelnen kommentierten Lemmata innerhalb dieser Perspektiven getroffen ist). Zum anderen läßt sich erahnen, daß eine Ergänzung des heute üblichen Bündels an Perspektiven, mit denen edierte Texte kommentatorisch beleuchtet werden, durch die möglichen weiteren Perspektiven, die nach dem Vorbild des Vollkommentars den besagten garstigen Graben schließen sollen, zu einer völligen Hypertrophierung des Kommentars führen würde. Schwerer noch als das pragmatische Problem, daß ein idealiter nach allen Gesichtspunkten kommentierter Text von seinen Erläuterungen überwuchert und erstickt würde, wiegt freilich ein theoretisches Argument. Wenn, wie unter anderem Herbert Kraft gefordert hat, ein zu edierender Text nicht als autorintentionales Produkt konzipiert wird4, sondern als textueller Schnittpunkt von literarischer Produktion und Rezeption, dann verlagert sich die Kommentierungspraxis von der Einholung eines autorbezüglichen Wissenshorizontes (biographische Daten, idiolektale Spezifika, politische Haltung, Wirkintention etc.) hin zur Rekonstruktion jenes semiotischen Prozesses, innerhalb dessen die Wissenshorizonte von Textproduzenten und -rezipienten aufeinandertreffen. Die theoretisch notwendige Forderung an den Kommentar, die Wissensvoraussetzungen zu diesem Prozeß einzuholen, ist freilich, da dieser semiotische Prozeß nur in Ansätzen zu rekonstruieren wäre, nicht umsetzbar. Jeder Kommentar ist auf diesem Hintergrund unabänderlicherweise ein Fragment - und das Ideal des Vollkommentars nur noch als unerreichbare Illusion zu bewerten. An die Stelle der eingespielten Kommentierungspraxis mit ihren gängigen selektiven Perspektiven und an die Stelle der illusionären Vollständigkeit eines nie erreichbaren Vollkommentars könnte daher eine Erläuterungspraxis gesetzt werden, die sich Vgl. Kraft 1990, vgl. Anm. l, S. 18-24 u. ö. sowie Ricklefs 1975, vgl. Anm. 3, S. 50. Zur Konzeption eines Kommentars als Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte vgl. Klaus Kanzog: Historizität und Aktualität. Semiotische Probleme des Erläuterns und Kommentierens. In: editio 7 (1993), S. 76-84, hier S. 78. Vgl. dagegen z. B. das Konzept des Kommentators als „Sachwalter des Autors" bei Hans Gerhard Senger: Der Kommentar als hermeneutisches Problem. In: editio 7 (1993), S. 62-75, hier S. 71.

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programmatisch die exemplarische Konzentration auf die Kommentierung spezifischer Phänomene zum Ziel macht und einem explizit perspektivierten Kommentar zuarbeitet. So könnten Editionen etwa einen Schwerpunkt in der Textkommentierung von einer bestimmten Problemstellung her setzen, oder so ließen sich auch die jeweiligen Abschnitte von Texten unter je verschiedenen Gesichtspunkten in den Erläuterungen thematisieren. Anthologien beispielsweise (zu Gattungen einer Periode oder zu thematisch zusammengefaßten Texten) könnten die unterschiedlichen dargebotenen Texte gezielt perspektivieren, durch den Einzelstellenkommentar ebenso wie mittels raffender Kommentarformen. Zu plädieren wäre mithin für eine perspektivische Pluralisierung der Kommentierungspraxis.

II. Die exemplarische Kommentierung eingespielter Textherstellungs- und Textgestaltungsmuster frühneuzeitlicher Texte Die Literaturproduktion des 17. Jahrhunderts ist bekanntlich in außerordentlichem Maße von bestimmten typischen Textherstellungs- und -gestaltungsmustern geleitet. Die Systeme von zeitgenössischer Rhetorik, Poetik und Sprachästhetik steuern Aufbau, thematische Ausrichtung, intertextuelle Bezüge, sprachliche und ornamentale Gestaltung und so fort. Neben den einzelnen in der Erläuterungspraxis üblicherweise kommentierten Stellen in Texten des 16. und 17. Jahrhunderts,5 also beispielsweise neben der Erläuterung von Bezugnahmen auf Figuren der antiken Mythologie und auf zentrale Begriffe der moralistischen Terminologie der Zeit, neben dem Nachweis von Zitaten oder Paraphrasen von Bibelversen, könnten die gängigen Textherstellungs- und Textgestaltungsmuster, unter anderem jene der topischen 'inventio',6 in den Blick genommen werden. Denn auch sie stellen Wissensvoraussetzungen von Produzenten wie Rezipienten dar, und viele jener Bezugnahmen und Zitate verdanken sich gerade ihnen und erscheinen dadurch in einem anderen Licht. Es müßte demnach möglich sein, bestimmte Elemente literarischer Texte in Verbindung mit den Textherstellungs- und Textgestaltungsmustern zu stellen, die in den Auxiliarien für die Literaturproduktion, das heißt in den Lehrbüchern der Poetik und Rhetorik, in Wort-, Phraseologie- und Zitatflorilegien sowie in gattungsspezifischen Handbüchern, wie Brief- und Predigtstellern, vermittelt Vgl. dazu: Kommentar-Empfehlungen für Editionen von Texten der Frühen Neuzeit. In: Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Lothar Mundt, Hans-Gert Roioff und Ulrich Seelbach. Tübingen 1992 (Beihefte zu editio. 3), S. 161-167. Vgl. grundlegend Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1973. Vgl. auch an neueren einschlägigen Arbeiten zur Rekonstruktion von Textherstellungs- und -gestaltungsmustern in der frühneuzeitlichen Literaturproduktion Barbara Bauer: Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt a. M. [u. a.] 1994 (Frühneuzeit-Studien. 2), S. 31-61; Wolfgang Neuber: Topik und Intertextualität. Begriffshierarchische und ramistische Wissenschaft in Theodor Zwingers Methodvs apodemica. In: Kühlmann/Neuber 1994, S. 253-278.

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werden.7 Und diese Relationierung ist nicht allein möglich, sondern auch wünschenswert, weil sie entscheidende Aufschlüsse über eingespielte Textproduktionsverfahren und gleichzeitig über eingelernte Rezeptionserwartungen gibt - und damit über einen wichtigen Teil der Wissensvoraussetzungen im historisch-semiotischen Prozeß von Literaturproduktion und -rezeption. Allerdings ist eine Verbindung zwischen einem einzelnen Text, der kommentiert werden soll, und je bestimmten Auxiliarien (als seinen Quellen) in den meisten Fällen nicht möglich, da die jeweiligen textproduktionsleitenden Hilfsmittel für einen konkreten Text unbekannt oder nicht eruierbar sind oder weil von einer nicht-schriftlichen, vielmehr schulischen oder akademischen Aneignung von Aufschreibestrategien auszugehen ist. Dieses Manko muß freilich dann keinen Schaden bedeuten, wenn einerseits die Textherstellungs- und Textgestaltungsmuster der frühen Neuzeit systemisch konzipiert und rekonstruiert werden (dabei natürlich zeitlich, konfessionell und stilistisch differenziert) und wenn andererseits, nochmals über Vermittlung des produktions- wie auch rezeptionsorientierten Textbegriffs, eine solche systemische Rekonstruktion als Chance gedacht wird: Auf diese Weise könnten die Erläuterungen zu einem Text typische und gängige, von vielen Autoren für ihre Textproduktion aktualisierte literarische Strategien dokumentieren, die zugleich für das Publikum wenigstens teilweise als solche zu erwarten und wiederzuerkennen gewesen sind. Diese spezifische Kommentierungsleistung, diese besondere Kommentierungsperspektive müßten nun Editionen bei einem Verzicht auf das Ideal des Vollkommentars keineswegs durchlaufend bieten, vielmehr kann die systemische Beziehung zwischen Gestaltungselementen eines Textes und gängigen Textherstellungs- und Textgestaltungsmustern exemplarisch aufgewiesen werden. Hier wäre sowohl an einmalige Modelleditionen als auch an die perspektivierte Kommentierung einzelner, markanter Passagen von Texten als auch an punktuelle Hinweise bei signifikanten Textstellen zu denken. So müßte es zum Beispiel möglich sein, die gattungskonstitutiven Signalelemente eines Textes mit zeitgenössischen Poetiken in Verbindung zu setzen, die Textgliederung auf charakteristische rhetorische Dispositionsschemata hin zu kommentieren oder die sprachliche Gestaltung eines Textes auf gainings- und themen-typische, durch Florilegien verbreitete Formeln und Phrasen hin zu erläutern. Die Nutzung der spezifischen Möglichkeiten und Vorteile von Stellenkommentar hier und raffenden Kommentarformen dort ist von Fall zu Fall jeweils zu prüfen und zu entscheiden.

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Vgl. diese Forderung z. B. bei Jochen Schmidt: Die Kommentierung von Studienausgaben. Aufgaben und Probleme. In: Probleme 1975, vgl. Anm. l, S. 85.

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III. Eine beispielhafte Applikation auf den ersten „Reyen der Höflinge" aus Andreas Gryphius' Trauerspiel Leo Armenius Abschließend soll das hier vorgestellte Modell zur exemplarischen Kommentierung rhetorischer, poetischer und sprachästhetischer Textproduktionsmuster in Editionen frühneuzeitlicher Texte am Beispiel eines kanonisierten und vieldiskutierten Gedichtes von Andreas Gryphius skizzenhaft verdeutlicht werden. Es handelt sich dabei um den ersten „Reyen der Höflinge", das heißt das erste, von einer Gruppe von Höflingen vorgetragene Chorlied aus dem Trauerspiel Leo Armenius (1650 in erster Auflage publiziert).8 Der Text eignet sich als illustratives Beispiel besonders gut, weil die vorliegenden Editionen und die vielen einschlägigen germanistischen Deutungen gerade aufgrund der vernachlässigten Reflexion auf im 17. Jahrhundert gängige Textgestaltungsmuster fast durchweg auf markante interpretative Irrwege geraten sind.9 Das dreistrophige Gedicht thematisiert, wie es in Vers 2 ausdrücklich heißt, die Zunge des Menschen. Daß es sich dabei um den Zentralbegriff des Chorlieds handelt, ist in allen Interpretationen unbestritten, was auch angesichts der massiven Wortwiederholungen in den 46 Zeilen kaum verwundert. Die germanistischen Geister haben sich freilich an der Deutung dieses Wortes wie auch an der thematischen Zuordnung des „Reyen" geschieden. Es werde hier die Rhetorik reflektiert,10 so ist in Vorschlag gebracht worden, die Kluft zwischen mündlicher und verschriftlichter sprachlicher Mitteilung,11 die Dichotomic zwischen Wörtern und Dingen,12 die Verderbtheit der Rede am Hof,13 die menschliche Vernunft ganz allgemein14 und so weiter. Gryphius freilich bezieht sich mit dem Begriff der Zunge auf keines dieser Themen, Systeme, auf keinen dieser Diskurse. Der „Reyen" aktualisiert eine in vielen frühneuzeitlichen Texten immer wieder aufgerufene und dargestellte ethische Theorie des Sprechhandelns in der Alltagskommunikation, eine Theorie, die ganz allgemein eine 8

Vgl. Andreas Gryphius: Dramen. Hrsg. von Eberhard Mannack. Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek Deutscher Klassiker. 67), S. 35f.; vgl. dazu den Kommentar S. 893f. und 902f. 9 Vgl. dazu Ralf Georg Bogner: Die Bezähmung der Zunge. Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit. Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit) [im Druck], Abschnitt 1.1, S. 1-9; zur folgenden Interpretation des „Reyen" als Aktualisierung einer spezifischen ethischen Theorie des Sprechhandelns vgl. Abschnitt 1.3, S. 22-42. 10 Vgl. Wilfried Bamer: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 90; Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern, München 1978, S. 64f. 1 ' Vgl. Herbert Heckmann: Elemente des barocken Trauerspiels. Am Beispiel des Papinian von Andreas Gryphius. Darmstadt 1959 (Literaturals Kunst), S. 21 Of. 12 Vgl. Harald Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Historisch-ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius. Tübingen 1977 (Studien zur deutschen Literatur. 51), S. 105f. 13 Vgl. Helmuth Kiesel: „Bei Hof, bei Höll." Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979 (Studien zur deutschen Literatur. 60), S. 161. 14 Wilfried Bamer: Gryphius und die Macht der Rede. Zum ersten Reyen des Trauerspiels Leo Armenius. In: Deutsche Vierteljahresschrift 42 (1968), S. 325-358. Vgl. auch die Deutung als 'Logos' bei Manfred Beetz: Disputatorik und Argumentation in Andreas Gryphius' Trauerspiel Leo Armenius. In: Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980), H. 38/39, S. 178-203, hier S. 198.

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'Zäumung' der Zunge fordert, vor diversen negativ bewerteten Formen des Sprechens (den sogenannten Zungenlastern, beispielsweise Fluchen, Verleumden, Prahlen oder Lügen) warnt und verschiedene andere Sprechweisen empfiehlt. Die bereits im Mittelalter ausgearbeitete Theorie um den Zentralbegriff 'Zunge' wird seit dem 16. Jahrhundert durch die Homiletik und die Moralistik popularisiert und bald auch breit in der Literatur und damit in der poetischen Sprache rezipiert. Der Terminus 'Zunge' erlangt in dieser Bedeutung auch Aufnahme in alle wichtigen Florilegien und Ärarien der frühen Neuzeit, zum Beispiel in den dritten Band von Harsdörffers Trichter,15 in Michael Bergmanns Poetische Schatzkammer16 und Gotthilf Treuers Deutschen Dädalus.11 Diese Hilfsmittel für die Textproduktion lemmatisieren alphabetisch eine Auswahl der wichtigsten Wörter der poetischen Sprache, versehen sie mit allfalligen semantischen Erläuterungen und sammeln zu diesen Begriffen die gängigen Attribute, Vergleiche, Metaphern und Phraseologismen. Die Florilegien bieten Exzerpte gängiger sprachlicher Muster aus den kanonisierten literarischen Texten, die von den Benutzern dieser Auxiliarien wiederum als stereotype Textfertigteile für die Textproduktion übernommen werden können. Gryphius greift in seinem „Reyen" aus dem in den Florilegien kodifizierten Vorrat an gängigen Textbausteinen etwa zwei geläufige Synonyme für 'Zunge', nämlich 'Reden' und 'Lippen' heraus, des weiteren die Vergleiche der Zunge mit dem Schwert und mit der Flamme und ferner die Phrase, daß nichts so scharf auf Erden sei wie die Zunge. Eben solche verbreiteten Attribuierungen finden sich wie auch die stereotype Redewendung, daß der Zunge respektive den Lippen ein Zaum anzulegen sei, gleichermaßen bei Gryphius wie in den Phraseologien der frühen Neuzeit,18 das sind Auxiliarien, die zu den wichtigsten Begriffen der literarischen Kommunikation einen Schatz von stilistisch eleganten Epitheta und Phrasen aufbereiten. Von besonderem Interesse für die Kommentierung können darüber hinaus die Zitatflorilegien sein, die, geordnet nach zentralen Termini der poetischen Sprache, der Ethik oder der Theologie, einen Vorrat geläufiger auktoritativer Textstellen aus unterschiedlichen Quellen präsentieren. Der Status einer Bezugnahme auf einen Prätext im Prozeß von literarischer Produktion und Rezeption und der Status eines zitierten Prätextes im historischen Wissenshorizont läßt sich häufig erst aus einer Überprüfung dieser Referenz in einem Zitatflorilegium erschließen. Die Bibelverse beispielsweise, die Gryphius in seinem Chorlied nahezu wörtlich, aber ungekennzeichnet paraphrasiert (vor allem Spr 10, 19 und 18, 21), gehören zu einem kleinen Kanon zentraler Stellen aus der 15 16

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[Georg Philipp Harsdörffer]: Prob und Lob der Teutschen Wolredenheit. Nürnberg 1653, S. 501503. Michael Bergmann: Deutsches Aerarium Poeticum oder Poetische Schatzkammer. Hildesheim, New York 1973, S. 526-528. Gotthilf Treuer: Deutscher Dädalus / Oder Poetisches lexicon. Bd. 1-2. Berlin 1675, Bd. 2, S. 940949. Vgl. Anonym: Novus synonymorum, epithetorum et phrasium poeticarvm Thesaurus latino germanicus. Frankfurt a. M. 1690, S. 511f.; Paul Aler: Gradus ad pamassum, sive novum synonymorum, epithetorum, et phrasium poeticarum thesaurus. Köln 1699, S. 433; Teodorico Morelli: Enchiridion oratorivm. Köln 1625, S. 233f. (vgl. auch die Auflage Wien 1715, S. 240f).

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Schrift, die immer wieder in die einschlägigen Bibelauxiliarien19 und auch in die zeitgenössischen Schulbehelfe für das Auswendiglernen der wichtigsten Bibelverse aufgenommen werden.20 Gryphius schmückt demnach sein Chorlied nicht mit entlegenen Stellen aus der Schrift, die nur für wenige theologisch Gebildete als solche zu erkennen sind, er greift vielmehr bei der Thematisierung der Zunge ein gängiges Textgestaltungsmuster auf: Er repetiert die in diesem Kontext gängigsten Bibelverse. Schließlich folgt auch die Disposition der ersten beiden Strophen des „Reyen" einem geläufigen Muster für den Aufbau von Texten zur Zunge. Eine stereotype Eigenschaftszuschreibung an die Zunge, daß sie nämlich zugleich das beste und böseste Glied an dem ganzen menschlichen Leib darstelle, läßt sich, wie etwa das Rhetoriklehrbuch des Fran9ois Pomey musterhaft vorführt,21 mittels des Verfahrens der 'chrie' in seine beiden konträren Richtungen systematisch erschließen. Gryphius greift also für den Aufbau seines Gedichtes, wie übrigens auch viele andere Autoren, die sich mit der Zunge beschäftigen, auf eine geläufige Textstrukturierungsstrategie aus der Rhetorik zurück.

IV. Resümee Ein Kommentar, der, wie skizziert, systemische Verbindungen zwischen einem einzelnen Text und zeitgenössischen Auxiliarien herstellt, kann den heutigen Leserinnen und Lesern einer Edition den Umfang und die Form des Rückgriffs auf eingespielte Textherstellungs- und Textgestaltungsmuster durch einen Autor des 17. Jahrhunderts vorführen. Zugleich wird es damit möglich, die konventionellen Anteile der thematischen, dispositionellen, sprachlichen, stilistischen und prätextuellen Elemente eines frühneuzeitlichen Textes, die als solche auch vom Publikum der Zeit erkannt und erwartet worden sind, zu verdeutlichen. Und perspektivierte Kommentare, die durch eine Vermittlung des edierten Textes mit den Textproduktionsmustern seiner Zeit das Gängige, das Konventionelle, das Übliche kenntlich machen, können, so steht zu hoffen, gleichzeitig deutlicher das Neue, das Innovative, das Subversive in den Blick nehmen und bringen, das diesen Text von allen bisherigen absetzt und um dessentwillen seine Edition sich lohnt.

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Vgl. Anonym: Flores bibliae. Tyrnau 1743, S. 396-404; Andreas Spanner: Polyanthea sacra. Bd. 1. Augsburg, Dillingen 1739, S. 851a-854b. Vgl. Georg Michaelis: Alphabetum Biblicum Das ist Biblisches Spmch=Register. Flauen 1686, Bl. B5 v u. ö. Vgl. Francois Pomey: Novus candidatus rhetoricae. Lyon 1668, S. 114-116.

Andreas Brandtner

Hypotextdokumentation Zu Edition und Kommentierung des Florian von der Fleschen (1625)

Eine differenzierte Rekonstruktion des Problemkontextes zwischen Quelle, Text und Edition hat in systematischer Perspektive den Modus der Quellenkonstruktion, die Valenz texttheoretischer Prämissen und die Erkenntnis- und Darstellungsinteressen des verwendeten Ausgabentyps zu vermitteln. In historischer Perspektive sind vor allem kulturspezifisch, gattungstypologisch und individuell festgelegte Quelle-Text-Relationen im Rahmen einer Textpragmatik, die die Produktions- und Rezeptionsprozesse steuert, zu berücksichtigen. Die dergestalt strukturierte Fragerichtung wird hier an einen Einzelfall rückgebunden, um den Problemhorizont aus der Komplexität des historischen Materials exemplarisch abzuarbeiten. Am Beispiel der Neuausgabe eines hochgradig intertextuell organisierten frühneuzeitlichen Textes lassen sich so die Zusammenhänge zwischen literaturtheoretischen Voraussetzungen, textanalytischen Befunden und editionsphilologischen Konsequenzen einer editorischen Berücksichtigung der unmittelbaren Vorlagen des edierten Textes reflektieren. Dabei kann auf die Quellenrecherche und -dokumentation zu der Edition des Florian von der Fleschen rekurriert werden.1

I. Die Relevanz der Textanalyse für die Edition Der Neudruck des Florian von der Fleschen basiert auf der Erstausgabe des Textes, die 1625 in Straßburg bei Holland Findler beziehungsweise Fundler anonym erschienen ist. Eine Kontextualisierung der von der Forschung kaum beachteten2 Parodie von Amerika Vgl. Florians von der Fleschen Wunderbariiche/ seltzame/ abenthewrliche Schiffarten vnd Reysen/ Welche er kurtz verwichner Zeit/ in die newe Welt gethan/ was sich gedenckwürdiges vnder dessen begeben/ vnd wie er vnd die seinige alles vollauff vnd genug bekommen. Edition, Kommentar, Hypotexte. Hrsg. von Andreas Brandtner. Wien, Köln, Weimar 1996 (Frühneuzeit-Studien) (in Vorbereitung). Für eine grundsätzliche Positionierung des Textes vgl. Wolfgang Neuber: Die frühen deutschen Reiseberichte aus der Neuen Welt. Fiktionalitätsverdacht und Beglaubigungsstrategien. In: Zeitschrift für historische Forschung, Beih. 7 (1989), S. 43-64, hier S. 57f.; ders.: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991 (Philo-

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-Reiseberichten bereitet aufgrund der Überlieferungslage Schwierigkeiten. Nicht nur die Absenz des Autors, sondern überdies die Erfolglosigkeit der Verfasserrecherche verweigern dem traditionell privilegierten Interpretationsregulativ der Autorintention seinen Eintritt in die Analyse. Die sozio-kulturelle Fundierung des Textes im Umfeld des Straßburger Universitätsmilieus muß hinsichtlich der Einzeltextanalyse ebenso allgemein bleiben wie seine literarhistorische in der elsässischen Satiretradition etwa eines Georg Friedrich Messerschmid. Rezeptionszeugnisse scheinen nicht vorzuliegen, die Durchsicht der Produktion des Universitätsdruckers Findler ist wenig aufschlußreich. Somit korrespondiert die Bestimmung des historischen Bedeutungspotentials des Textes zentral mit der Analyse der intertextuellen Konstitution. Die Abhängigkeit von den Vorlagen verleiht Florian von der Fleschen seinen historischen Ort im literarischen Diskurs, die Spezifität der Quellenreferenzen legt fundamentale semantische Vorgänge offen. Aus dieser Konstellation entsteht die Notwendigkeit, die Quellen, die im vorliegenden Einzelfall für die Konstitution und den Bedeutungsrahmen des Textes entscheidend sind, in die Edition einzubeziehen. Da die konkret verwendeten Fassungen der Vorlagen allerdings nicht in aktuellen Ausgaben vorliegen3 und der exakte intertextuelle Bezug nur durch eine Auswahl aus den Vorlagen transparent gemacht werden kann, ist für die Edition der traditionelle Quellenverweis über eine bloße Titelnennung nicht ausreichend. Daraus resultiert die Konsequenz, die Vorlagen als integrativen Bestandteil in die Edition aufzunehmen. Von der erwähnten Editio princeps des Florian von der Fleschen ist bislang nur ein einziges Buchexemplar bekannt, das sich als Teil der Sammlung Faber du Faur in der Yale University Library befindet. Die satzdifferente Zweitausgabe von 1627, die ebenfalls nur in einem Exemplar der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin überliefert ist, wird zur Textkritik herangezogen und in einem Verzeichnis der Überlieferungsvarianten berücksichtigt. Die vorrangig für die wissenschaftliche Benützung eingerichtete Ausgabe des etwa 50 Druckseiten umfassenden Textes verfügt neben dem kritischen Apparat über einen Einzelstellenkommentar, verortet den Text literaturgeschichtlich vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstands in einem Nachwort, besitzt einen breiten bibliographischen Anhang, ist über mehrere Register erschlossen und nimmt - worauf sich die Darlegung konzentriert - das Corpus der Quellen selektiv auf. Die Analyse des Florian von der Fleschen ergibt, daß der Text mit Ausnahme der Vorrede an den Leser, die eine Herausgeberfiktion aufbaut, gänzlich aus unterschiedlich umfangreichen Segmenten fremder Texte konstituiert ist. Die Aufarbeitung dieses logische Studien und Quellen. 121), S. 99-101, 214, 267f.; Andreas Brandtner: Intertextualität und Diskursintegration. Die Fiktionalisierung der Pflanzenschafsequenz der Moscovia Herbersteins in Florian von der Fleschen. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt a. M. [u. a.] 1994 (Frühneuzeit-Studien. 2), S. 391-442. Vgl. z. B. die aktuelle Ausgabe der Navigation, die eine frühere Fassung der konkreten Quelle repräsentiert: Le Disciple de Pantagruel. . Edition critique. Hrsg. von Guy Demerson und Christiane Lauvergnat-Gagniere. Paris 1982.

Hypotextdokumentation

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Sachverhalts war methodisch von der Intertextualitätsforschung geleitet. Um analytischen Unscharfen des gegenwärtig mitunter bloß zur terminologischen Aufrüstung und sachlichen Verunklärung eingesetzten Intertextualitätskonzepts vorzubeugen, ist darzulegen, daß die Applikation das literarhistorische Potential des Begriffs mit seinem texttheoretischen4 zu verbinden sucht und Intertextualität als prinzipiell latenten, aber graduell und strukturell differenzierten Faktor jeder Textkonstitution ansieht. Für die terminologisch einheitliche Fassung dieses Problembereichs ist auf das Modell von Gerard Genette zurückzugreifen, das in objekttheoretischer Hinsicht gestatten sollte, intra- und intertextuelle Phänomene, Text-Text- und Text-System-Referenzen sowie Paratextualität zu differenzieren. Folglich wird jener Text, der von einem früheren Text durch Transformation abgeleitet wurde, als Hypertext und seine je spezifische Vorlage als Hypotext bezeichnet.5 Dieses Begriffspaar scheint im Unterschied zu den hier zurückgestellten Termini Prätext, Posttext, Referenztext, Subtext, Quelle etc. theoriegeschichtlich wenig belastet und sollte zumindest tendenziell eindeutig sein. Für die spezifische Problemwahmehmung wird der in der Intertextualitätsdebatte kontroversiell diskutierte Bereich infiniter Textualität nur kurz gestreift und das Anwendungsfeld auf konkrete Text-Text-Referenzen beschränkt. Die Option für das Intertextualitätskonzept ist neben seiner Kompatibilität mit dem hier vertretenen Textbegriff darin begründet, daß sich gegenüber den traditionellen Angeboten der Einflußgeschichte und Quellenforschung wohl zwei Vorteile hinsichtlich der Erfassung textueller Interaktion abzeichnen: erstens die Funktion, einen theoretisch zureichenden konzeptionellen Rahmen zu liefern, in dem das Quellenstudium als eine Variante intertextueller Analyse neben anderen integriert werden kann,6 und zweitens die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Textproduktion und Rezeption.7 Vor allem Intertextualität wird als ein Kriterium von Textualität etwa gefaßt von Robert-Alain de Beaugrande und Wolfgang Ulrich Dressler. Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 28), S. 188-215. Vgl. Görard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993 (edition suhrkamp. 1683 = NF 683 = Aesthetica.), S. 18. Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus [Rez.]: 'Le Plaisir de l'Intertexte. Formes et fonctions de l'intertextualito: Roman populaire, Surrialisme, Andrö Gide, Nouveau Roman.' Actes du Colloque ä l'Universitö de Duisburg. Ed. par Raimund Theis et Hans T. Siepe. Frankfurt a. M. 1986. . In: Romanische Forschungen 99 (1987), S. 275-279, hier S. 279. Daß die Überlegenheit des Ansatzes gegenüber Quellenkritik und Einflußforschung in der Einbeziehung des Lesers liegt, vermerkt Wolf-Dieter Stempel: Intertextualität und Rezeption. In: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hrsg. von Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel. Wien 1983 (Wiener slawistischer Almanach. Sonderbd. 11), S. 85-109, hier S. 88.-Zur systematischen Vermittlung von Produktion und Rezeption vgl. Peter V[aclav] Zima: 'Rezeption' und 'Produktion' als ideologische Begriffe. In: Ders.: Kritik der Literatursoziologie. Frankfurt a. M. 1978 (edition suhrkamp. 857), S. 72-112, hier S. 79: ,,'[E]criture' und 'lecture' sind komplementäre Aspekte 'einer' signifikanten Praxis, die bald als 'Lesen', bald als 'Schreiben' dargestellt werden kann, ohne daß zwischen den beiden Betrachtungsweisen ein Widerspruch entstünde. Literarische Texte können im historischen Zusammenhang verstanden werden, wenn sie (intertextuell) als Synthesen verschiedener Lektüren und als Transformationen nichtliterarischer signifikanter Praktiken einer Gesellschaft aufgefaßt werden". So „ist es durchaus denkbar, daß eine Lektüre als Produk-

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dieser letzte Aspekt, der es gestattet, Florian von der Fleschen als Synthese verschiedener Lektüren fremder Texte zu rekonstruieren, ist für die Auswahl, Aufnahme und Vernetzung der Hypotexte im Rahmen der Edition zentral. Die konkrete Analyse der literarischen Heteronomie zeigt nun, daß Florian von der Fleschen Ausschnitte mehrerer Texte, die sämtlich Alteritätsdarstellungen (z. B. Exotismen, Prodigien) transportieren, kombiniert und in einer Reisebewegung strukturell vereinheitlicht vorfuhrt. Die nicht-markierten Übernahmen konzentrieren sich auf wenige Einzelstellen der Vorlagen, importieren diese dann allerdings fast ausnahmslos textgetreu. So wird zur Konstruktion der 'narratio' der rabelaisianische Satellitentext Navigation du Compaignon a la Bouteille - eine alternative Titeltradition des Disciple de Pantagruel - teilweise übersetzt und auf den Gesamttext verteilt. Um diesen narrativen Hauptstrang gruppieren sich 'descriptio'-Passagen aus Amerika-Reiseberichten der 1590 von Theodor de Bry begonnenen Großfolio-Reihe (Jose de Acosta, Thomas Hariot, Jean de Lery, Ulrich Schmidel und Hans Staden), Walter Raleighs Guiana-Beschreibung in der Fassung der 26 Schiffahrten des Levinus Hulsius, Sigismund von Herbersteins Moscovia, Andre Thevets Cosmographie universelle und Antonio de Torquemadas Dialog El iardin de flores curiosas. Funktional betrachtet setzt Florian von der Fleschen damit einerseits die intradiskursiv angeschlossene Navigation fort, und fiktionalisiert andererseits die interdiskursiven Berichte in ihrem Anspruch, Wirklichkeit zu repräsentieren. Florian von der Fleschen benützt also die auf Lukians Vera Historia aufbauende argumentative Grundeinstellung der pseudo-rabelaisianischen Vorlage, um den Textmodus der selegierten Historiographien völlig zu verschieben, ohne das Textmaterial selbst zu verändern. Diese spezifische Textstrategie, die den Text der verbindlichen 'auctoritas'-Orientierung entzieht, macht die Parodie zu einem wichtigen Zeugnis für die Ausbildung frühneuzeitlicher Fiktionalität.

II. Die Hypotextdokumentation Auf der Basis der dargestellten textanalytischen Befunde und editorischen Rahmenbedingungen kann nun klargelegt werden, daß die Versammlung der Hypotexte in der Ausgabe die Möglichkeit eröffnet, die intertextuelle Bedingtheit und somit die Spezifität der Textgenese des Florian von der Fleschen transparent zu gestalten. Aufgrund der spezifischen Voraussetzungen kann die Genese allerdings nicht diachron, sondern nur als Ergebnis eines erzähltechnischen Ereigniskomplexes nachgezeichnet werden. Die Durchführung dieser genetischen Darstellung, die den Prozeß des Schreibvorgangs die 'ecriture' - nachvollziehbar machen soll, setzt die Abklärung einiger Problem-

tionsprozeß dargestellt wird". Vgl. dazu Ottmar Ette: Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte [9], 1985, S. 497-522, hier S. 501.

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bereiche voraus. Zu beachten sind hier vor allem die Auswahl der Hypotextabschnitte, ihre Edition und Anordnung sowie die Herstellung der Referenzen zum Hypertext. Das Interesse, die spezifische Selektions- sowie Transformationsleistung des intertextuellen Prozesses in der Ausgabe zu verdeutlichen, und die pragmatische Unmöglichkeit, die umfangreichen Vorlagen vollständig aufzunehmen, lassen eine textstellenbezogene Wiedergabe des Hypotextes adäquat erscheinen. Denn Florian von der Fleschen referiert die Hypotexte primär punktuell und erst über den jeweiligen Repräsentationswert der einzelnen Selektive, der graduell differiert und aus den entsprechenden Textsignalen erschlossen werden kann, in ihrer Gesamtheit. Bei der ausgewählten Repräsentation der Hypotexte ist besonders zu beachten, daß der Selektionsprozeß als dialektischer Vorgang nicht nur im Horizont der Textübernahme, sondern auch negativ als Ausgrenzungsakt über das in die Edition aufgenommene Material darstellbar wird. Daraus folgt für den konkreten Fall, daß die Hypotextdokumentation in der Edition umfangreicher ausfällt als der edierte Text selbst. Die Auswahl aus den Gesamtvorlagen darf nicht kontingent erfolgen, sondern setzt voraus, daß die Hypotextsegmente in ihrer textkonstitutiven Relevanz und ihrer Quantität exakt bestimmt und theoretisch stringent definiert sind. Im Rahmen des Intertextualitätsparadigmas scheint es naheliegend, die bereits angesprochene wechselseitige Konstitution von Textproduktion und Rezeption für die heuristische Bewältigung dieser Problematik zu nutzen. Wird Florian von der Fleschen als Ergebnis einer höchst selektiven und produktiven Lektüre seiner Hypotexte rekonstruiert, kann sich die Auswahl der Hypotextsegmente an den rezeptionsregulativen Strukturen der Vorlagen orientieren. Die Grenzen der textgenetisch und somit editorisch relevanten Selektive werden folglich über die Beobachtung des Paratextes der Vorlagen festgelegt. Dieser strukturiert das Textsyntagma durchgängig und prädisponiert die linearen beziehungsweise punktuellen Lektüren. Im vorliegenden Beispielfall verantwortet vor allem der Peritext, der als Element des Paratextes innerhalb des Bandes situiert ist,8 die Segmentierung der Vorlagen. Hypotextselektive sind im konkreten Fall also Textabschnitte, die durch Binnentitel, graphische Absatzmarkierungen etc. gegliedert, mittels Marginalien dem kursorischen Durchgang nahegelegt oder über Register- und Inhaltsverzeichniseinträge direkt auffindbar sind. Innerhalb der Ausgabe wird die Hypotextdokumentation deutlich vom Einzelstellenkommentar getrennt und als selbständiger Teil der Edition eingerichtet. Aus den zahlreichen Ausgaben und Übersetzungen der vorliegenden Hypotexte konnten in einem detaillierten Textvergleich die Fassungen, die der konkreten Konstitution des Florian von der Fleschen vorgelegen haben, ermittelt und zur Dokumentation herangezogen werden. Die Anordnung der Hypotexte in der Dokumentation erfolgt gemäß ihrer Reihenfolge im sequentiellen Verlauf des Hypertextes. Daraus entsteht parallel zum Hypertext der intertextuelle Bezugshorizont als durchgehendes Syntagma, das für die Vgl. Gorard Genette: Paratexte. (Das Buch vom Beiwerk des Buches). Frankfurt a. M. [u. a.] 1989. Zum Zusammenhang von formalen Textdarstellungsmodi, Rezeptionsweisen und Semioseprozessen in historischer Perspektive vgl. Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. [u. a.] 1990 (Historische Studien. 1), S. 12.

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Ausgabenbenützung den unmittelbaren Vergleich mit dem Hypertext ermöglicht. Da die Edition die Konstitution des Florian von der Fleschen als Lektüreleistung der Hypotexte simuliert und die Vorlagen nur äußerst selektiv aufgenommen werden, erscheint es vorteilhaft, die abgedruckten Dokumente nicht kritisch zu edieren, sondern auf der historischen Wahrnehmungsebene - gewissermaßen in der Optik des Florian von der Fleschen - zu belassen und vorrangig auf die Einheitlichkeit ihrer Wiedergabe und deren Konsequenzen zu achten. Dieser Einrichtungsmodus ist hier auch insofern angebracht, als neben den in reichlich unterschiedlicher Form vorliegenden deutschen mit der Navigation und Thevets Cosmographie auch französische Hypotexte, die eine davon gänzlich abweichende Druckgestalt aufweisen, zu integrieren sind. Die Referenz zum Hypertext wird objektiv über ein Verweisungssystem (z. B. Marginalspalte mit Verweisfunktion), das den Hypotexten beigegeben ist und sie seitenund zeilengenau dem edierten Text anpaßt, und explikativ über den Einzelstellenkommentar hergestellt. Dadurch erhält der Kommentar neben seinen traditionellen Funktionen (z. B. sach- und sprachlexikographische Erläuterung, Zitat- und Allusionsbeleg, Referenz auf sekundäre Intertexte, textinterner Stellenverweis) die zusätzliche Aufgabe, die intertextuellen Transformationen und Rekombinationen zu akzentuieren und hinsichtlich ihrer semantischen Relevanz zu bestimmen. So richtet der Kommentar sein Augenmerk weniger auf die Übereinstimmungen, sondern primär auf die Differenzen zwischen Hyper- und Hypotext. Dabei muß die Kommentierung des intertextuellen Textes strikt die Referenz ihres Objekts beachten. Nicht der real-historische Kontext der hypotextuellen Berichte ist in den Erläuterungen zu fokussieren, sondern die intertextuelle Resemantisierung. Bezüglich der Relevanz der vorgestellten Editionspraxis, die ihr Erkenntnisinteresse nicht auf die Kohärenz des Einzeltextes, sondern auf seine diskursive Einbindung in die Semiosedynamik des Kommunikationskontextes richtet, sind zwei Einschränkungen zu machen. Erstens privilegiert die breite editorische Aufnahme der Hypotexte die Referenz des Textes auf literaturinterne Kontexte. Diese Vernachlässigung außerliterarischer Faktoren scheint für den Beispieltext, der sich primär durch seinen Bezug auf andere Texte konstituiert, gerechtfertigt, ist aber mit Blick auf die Textproduktion der Vormoderne keineswegs zu verallgemeinern. Erst ab der Moderne legitimiert sich die Dominanz der innerliterarischen Beziehungen aus einer Ästhetik, die die Selbstreferentialität von Kunst zentriert. Diese Ästhetik kann selbst im 18. Jahrhundert als Produkt funktionaler Ausdifferenzierungsprozesse wirksam werden. Der historische Tatbestand läßt vermuten, daß das hier vorgestellte Modell einer editorischen Hypotextdokumentation, das auf Text-Text-Referenzen beschränkt bleibt, seine Anwendungsmöglichkeiten nur vereinzelt in der frühen Neuzeit (z. B. für die Tradition des Prosaromans), aber verstärkt in der Moderne (z. B. bei Collage- und Montagetechniken) finden kann. Die volkssprachige Parodie Florian von der Fleschen steht zweitens außerhalb des Kanons der normativen Poetik und nimmt auf die Relevanz von 'imitatio' und 'aemulatio' ausschließlich negativen Bezug. Diese Distanz zum rhetorisch reglementierten Umgang mit Quellen lenkt die Aufmerksamkeit primär auf Text-Text-Referenzen und bringt nur mittelbar systemische Bezüge (etwa zu Gattung und Diskurs) ins Spiel. Die

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Problematik der Text-System-Referenzen9 (vgl. etwa die Wirksamkeit von Textproduktionsmustern) kann folglich zurückgestellt werden.10 Da die Auswahl einer Textpassage allerdings auch als implizite Entscheidung für die von ihr repräsentierten Systeme erfolgt, verschiebt sich der Aspekt der Systemaktualisierung auf den jeweiligen Repräsentationswert des Hypotextselektivs. Die Darstellung der je spezifischen Repräsentationsleistung kann innerhalb der Edition nicht mehr im Rahmen der Hypotextdokumentation geleistet werden, sondern ist an den Kommentar und an das Nachwort zu delegieren. Da die Text-System-Referenzen in der Ausgabe nur beschrieben, aber nicht wiedergegeben werden können, wird klar, daß die Hypotextdokumentation ihre Qualität und ihren heuristischen Wert vorrangig aus der präzisen Anpassung der Segmente an den edierten Text, die nicht bloß pragmatisch zu entscheiden, sondern theoretisch zu begründen ist, zu gewinnen hat.

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Zur systematischen Darstellung vgl. Klaus W[illy] Hempfer: Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik . In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hrsg. von Michael Titzmann. Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 33), S. 7-43, hier S. 7-9. Frühneuzeitliche Intertextualitätsphänomene außerhalb des Geltungsbereichs humanistischer Poetik behandelt Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts Ehzuchtbüchlein und Geschichtklitterung. In: Intertextualität 1994, vgl. Anm. 2, S. 63-109.

Christiane Caemmerer ··

Original und Übersetzung vs. Quelle und Text Zur Bedeutung der Quellen bei der Edition von Schäferspielen des 17. Jahrhunderts am Beispiel von Jan Harmens Kruls Chris en Philida und Hermann-Heinrich Sehers Daphnis und Chrysilla

I. Vorbemerkung Das Vorhaben, nicht einen Text, sondern dessen Übersetzung mit höchstem philologischen Aufwand zu edieren, mag zunächst Verwunderung erregen, zumal die wissenschaftliche Edition von Übersetzungen eher selten ist. Plausibel wird ein solches Unterfangen aber, wenn die Bedeutung der Übersetzungen in einem bestimmten literarhistorischen Zusammenhang größer ist als die der Originale. Dies kann für Übersetzungen zutreffen, deren Übersetzer auch anderweitig literarisch tätig waren1, oder für solche, die sich so weit vom Original entfernt haben, daß sie als eigenständige Texte für die literarische Entwicklung im Land der Zielsprache von Bedeutung sind, wie z. B. die Tieck/Schlegel-Übersetzungen des Shakespeareschen Werkes, die bekanntermaßen weniger das elisabethanische England als das Deutschland des 18. Jahrhunderts repräsentieren. Und dies gilt auch für die Edition von Übersetzungen, die zu einer Zeit unternommen wurden, als das Ziel der Übersetzung noch nicht die größtmögliche Ähnlichkeit mit dem Original war, sondern die Aneignung des Textes für den eigenen kulturellen Raum im Vordergrund stand, was einige uns heute befremdlich erscheinende Modifikationen erlaubte und gar erforderte. Von einer solchen Zeit und solchen Übersetzungen soll im folgenden die Rede sein: von der Edition deutschsprachiger Schäferspiele aus dem 17. Jahrhundert. Daß die Gattung bisher so wenig Interesse geweckt hat,2 liegt auch daran, daß die Stücke fast ausschließlich auf ausländischen Vorlagen beruhen und daher von der literaturwissenschaftlichen Forschung in die Rubrik 'Übersetzungsliteratur' abgeschoben

Klaus Gerlach: Zu Problemen der Edition von Bearbeitungen und Übersetzungen. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Berlin 1991, S. 105-110, hier S. 106f. Eine ausführlichere, aber mittlerweile veraltete Darstellung der Texte bot bisher einzig Karl Ninger in seiner Dissertation: Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts. Phil. Diss. Wien 1923. [Masch.] Ausführlich zu den Spielen jetzt auch: Christiane Caemmerer: „Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit". Das deutsche Schäferspiel im 17. Jahrhundert dargestellt an exemplarischen Untersuchungen. Phil. Diss. Berlin 1994. [Masch.]-Zum Desiderat ihrer Edition vgl. Christiane Caemmerer: Schäferspiele im 17. Jahrhundert - eine bis heute bekannt-unbekannte Gattung - und das Projekt ihrer Edition. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Amsterdam 1996 (Chloe. Beihefte zum Daphnis) [erscheint demnächst].

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und als „wenig originell" bezeichnet wurden.3 Die Konzentration auf die Originalität eines Textes aber geht für eine Zeit wie das 17. Jahrhundert, in der die 'imitatio' zum Handwerkszeug des Literaten gehörte, generell an den eigentlichen Produktionsbedingungen vorbei. Daher könnte man jetzt ins andere Extrem verfallen, auf die Berücksichtigung und ausführlichere Verweisung auf die Vorlagen völlig verzichten und die Texte als Originale behandeln. Das scheint nun freilich ebenso wenig sinnvoll, weil gerade die Schäferspiele, die durch ihren stark formalisierten Handlungsablauf häufig als eintönig oder kryptisch erscheinen, den Exegeten, oft auch schon den Kommentator, vor große Probleme stellen.4 Hier kann die Berücksichtigung der Quelle im Rahmen der Textgeschichte und später im Kommentar äußerst hilfreich sein. Gerade da die Schäferspiele, sowohl die Originale wie auch die Übersetzungen beziehungsweise Bearbeitungen, meist auf einen Anlaß hin konzipiert waren, hilft die Kenntnis der Quelle, Bezüglichkeiten und Anspielungen präzise zuzuordnen. So nimmt etwa die Sylvie (1626) des Franzosen Jean Mairet auf die aktuelle politische Situation in Frankreich Bezug, Ernst Christian Homburgs Dulcimunda5 aber, eine Bearbeitung der Sylvie, natürlich nicht mehr.6 Gleichermaßen ist das libertinistische Ideenpotential, das Homburg, wenn auch stark reduziert, übernimmt, nicht direkt auf Theophile de Viau zurückzuführen, sondern auf die Viau-Rezeption Mairets.7 Dieses kleine Beispiel zeigt, wie wichtig die saubere Aufarbeitung des Hintergrundes eines Textes durch den Editor beziehungsweise Kommentator ist, da sie die Recherchearbeit des Literaturwissenschaftlers verkürzen und damit die interpretatorische Arbeit erleichtern kann. Die Gefahr besteht allerdings, daß sich Editor und Kommentator hier im Detail verlieren. Die Dimensionierung des Quellenbegriffs ist gerade bei einer Gattung wie der Bukolik, die geprägt ist von stereotypen Argumentationen, von großer Bedeutung. Denn jedes in einen 3

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„Im Hinblick auf das pastorale Liebesdrama in deutscher Sprache muß konstatiert werden, daß es sich hier fast ausschließlich um Übertragungen und Bearbeitungen handelt, wobei anzumerken ist, daß die wenigen Schäferdramen, die einen Anspruch auf Originalität erheben, letzten Endes auf fremdländische Anregungen zurückgehen." Robert J. Alexander: Das deutsche Barockdrama. Stuttgart 1984 (Sammlung Metzler. 209), S. 47. Der Kommentar zu Johann Christoph Gottscheds Atalanta, der da lautet: „Gottscheds Schäferspiel ist selbständig, jedoch ohne Originalität, da alle Begriffe, Motive, Personen und Situationen bekannt waren", geht nicht auf die durchaus eigentümliche Gestaltung der festen Elemente und ihre Aussage ein. Siehe Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hrsg. von P. M. Mitchell. Elfter Band: Kommentar zu Bd. I-IV. Berlin, New York 1983 (ADL), S. 79. Ernst Christian Homburg: Tragico-Comoedia Von der verliebten Schäfferin Dulcimunda. Jena 1643. Jean Mairet (1604-1686) hatte sein Schäferspiel in der Zeit von November 1625 bis September 1626 in Chantilly, dem Wohnsitz seines Gönners Due Henri II. de Montmorency, geschrieben. Den Anlaß gab die Hochzeit des Bruders Ludwigs XIII. und Thronerben Gaston d'Orlöans, der mit Montmorency zu den Führern der adligen Opposition gehörte. Chantilly war zu dieser Zeit eines der Zentren politischen Widerstandes gegen Ludwig XIII. und seinen Premierminister Kardinal Richelieu und ein Hort adligen Libertinismus. Vgl. William A. Bunch: Jean Mairet. Boston 1975 (Twayne's World Authors Series. TWAS 358 France); Ernst Dannheisser: Studien zu J. Mairets Leben und Wirken. Phil. Diss. Ludwigshafen 1888; Giovanni Dotoli: Per una interpretazione socio-politica della Sylvie di Jean Mairet. In: teatro al tempo di Luigi XIII. Bari, Paris 1974 (Quaderni del seicento Francese. 1),S. 13-64. Sprache, Stil und Ideen der Sylvie sind so stark von Theophile de Viau beeinflußt, daß immer wieder das Gerücht auftauchte, es sei eigentlich dessen Werk. Vgl. Bunch 1975, vgl. Anm. 6, S. 16.

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Baum geschriebene Gedicht mit dem generellen Hinweis auf Tassos Aminta oder auf Theokrit zu versehen, hieße den Quellenbegriff zu weit zu fassen. Ein wichtiger Punkt ist dabei auch die Art der Präsentation der Quelle. In der hier zur Verhandlung stehenden Edition von Schäferspielen scheint mir die vollständige Wiedergabe der Quellen dem Gegenstand nicht angemessen.8 Sie würde da Dubletten schaffen, wo die Quellen bereits in Neueditionen vorhanden sind - und das ist bei den meisten italienischen und französischen Vorlagen der Fall9 -, und sie würde gleichermaßen ein Ungleichgewicht herstellen zwischen der bekannteren, häufig sogar berühmten Quelle und dem - so wie die Forschungslage im Augenblick noch ist - unbekannt gebliebenen deutschen Text. Es kann in diesem Fall also nur darum gehen, im Rahmen der Quellengeschichte auf die Quelle zu verweisen und die Art der Handhabung - wörtliche Übersetzung, Bearbeitung, Beibehaltung des Versmaßes, Veränderung der Personenführung bis hin zur Umstrukturierung des Textes etc. - kurz darzustellen. Eventuell kann, wenn dies sich für den deutschen Text als wichtig erweist, auch auf den Autor der Quelle eingegangen werden. Ob dies jeweils innerhalb der Quellengeschichte als zusammenhängender Text geschieht oder an den passenden Stellen im Kommentar, sollte von Fall zu Fall entschieden werden, da die Relevanz der jeweiligen Quellen für die Texte von unterschiedlicher Art sein kann. Für den Kommentar ist die Quelle an den Stellen heranzuziehen, an denen sie deutlich die Textbezüge erhellen kann. Daß hier Kommentator und Editor besonders auch deshalb gefordert sind, da sie einen fremdsprachigen Text angemessen behandeln und eine fremde Literaturwissenschaft angemessen einbeziehen müssen, sei nur am Rande erwähnt.

II. Kruls Chris en Philida in den Niederlanden und Sehers Daphnis und Chrysilla in Deutschland An einem speziellen Fall läßt sich die Bedeutung der Quelle als Original' des zu edierenden Textes deutlich machen. Diese betrifft nicht nur die reine Textebene der Quelle, gleichermaßen können formale Veränderungen und das Bezugsfeld, in dem die Quelle steht, Informationen über den zu edierenden Text liefern.

So die Überlegung von Klaus Gerlach: „Bearbeitungen und Übersetzungen literarischer Werke stellen ein besonderes editorisches Problem dar, weil der Herausgeber solcher Werke vor der Frage steht, ob und wie er den Zusammenhang von Ausgangstext und Bearbeitung beziehungsweise Übersetzung darstellen soll. Bei einer Edition 'normaler' Werke besteht kaum noch eine Frage darüber, für wichtig erachtete Fassungen des zu edierenden Werkes vollständig abzudrucken und die Varianten in einem entsprechenden Apparat darzustellen. Der Benutzer kann dann, so lückenlos es die Überlieferung des Materials zulaßt, den Entstehungsprozeß des Werkes nachvollziehen. Bei Bearbeitungen und Übersetzungen ist das bisher selten erfolgt." (Gerlach 1991, vgl. Anm. l, S. 105.) Torquato Tassos Aminta (Erstdruck 1573) und Giovanni Battista Guarinis Pastor Fido (Erstdruck 1590) wurden bereits mehrfach neu ediert. Aber auch Jean Mairets Sylvie, Antoine de Monchrestiens Bergerie und Thomas Comeilles Le berger extravagant stehen in neuen Editionen aus dem 20. Jahrhundert zur Verfugung.

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1638 erschien in Hamburg die New=erbawte Schäferey von der Liebe Daphnis und Chrysilla, neben einem anmutigen Auffzuge vom Schafe—Dieb des bis heute völlig unbekannten Autors Hermann-Heinrich Scher aus Jever. Dem Text liegen als Vorlagen die drei Auflagen des Schäferspiels Cloris en Philida aus den Jahren 1631, 1632 und 1634 des in der Niederlandistik nicht ganz so unbekannten holländischen Autors Jan Harmens Krul zu Grunde.10 Krul (1601-1646) kommt als Sohn eines Schmiedes, der sich seinen Lebensunterhalt als Schmied, Eisenwaren- und Buchhändler sowie als Makler verdient hat, aus eher kleinbürgerlichen Kreisen. Von einer höheren Schulbildung oder einem Universitätsstudium wissen wir nichts. Zudem gehört er als Katholik zu einer religiösen Minderheit in den Niederlanden, die zwar toleriert, aber nicht unbedingt akzeptiert wurde.11 Krul war ein Theatermacher mit Leib und Seele. Schon im Alter von 16 Jahren war er Mitglied der traditionellen Amsterdamer Rederijkerkamer 'De Eglantier', auch Oude Kamer' genannt. Als Zwanzigjähriger übernahm er die Leitung der 'Kamer', deren Autoren mit ihren Bühnenstücken den Spielplan der Amsterdamer Schouwburg bestimmten. Vorausgegangen waren politische, religiöse und poetologische Streitereien der Mitglieder dieser Dichtervereinigung und Dichterschule, die 1617 zum Auszug so bekannter niederländischer Autoren wie Samuel Coster, G.A. Bredero und P.C. Hooft und zur Gründling der 'Nederduitschen Academie' geführt hatten, die sich in ihren Intentionen an den italienischen Akademien orientierte. Ihre Bühnenstücke lehnten sich an den Klassizismus des auch für die frühe deutschsprachige Dichtung so einflußreichen Daniel Heinsius12 an. Sie gestalteten ihr Personal immer volkstümlicher, während die Oude Kamer' nach dem Weggang von Hooft die althergebrachten romantisierenden Schauspiele Theodore Rodenburghs auf ihren Spielplan setzte. Den Kampf um das Publikum der Schouwburg aber, die nun von beiden Kammern bespielt wurde, konnte 1623 Krul mit seiner Diana zugunsten der Oude Kamer' entscheiden. „Een zekere gemakkelijkheid van stijl, een naieve intrige in zijn stukken, een uitgesproken neiging tot moralisieren hadden hem dit publiek verworven."13 Als die Stadtregierung von Amsterdam jedoch, der ständigen Streitereien zwischen den Kammern und der häufigen Angriffe aufführende kirchliche Autoritäten in Costers Dramen überdrüssig, 1634 kurzer Hand die Oude Kamer' mit der 'Academie' zusammenlegte, gründete Krul mit der 'Musijckkamer' seine eigene Vereinigung. Er verstärkte die musikalischen Elemente in seinen Dramen, hielt aber gleichzeitig an den alten Rederijkertraditionen fest. Sein 10

Zu Jan Harmens Kruls Leben und Werk vgl. die ausführliche Monographie von N. Wijngaards: Jan Harmens Krul. Zijn Leven, zijn Werk en zijn Betekenis. Zwolle 1964 (Zwolse Reeks van Taal- en Letterkundige Studies). 1 ' Zur Toleranz gegenüber den Katholiken in Amsterdam vgl. Ben Albach: Längs kermissen en hoven ontstaan en Kroniek van een nederlands toneelgezelschap in de 17de eeuw. De Walburg pers Zutphen 1977, S. 161, Anm. 44. 12 Zum Einfluß von Heinsius auf Martin Opitz und die frühe deutschsprachige Literatur siehe Ulrich Bornemann: Anlehnung und Abgrenzung. Untersuchungen zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts. Assen, Amsterdam 1976 (Respublica literaria Neerlandica. 1). 13 Wijngaards 1964, vgl. Anm. 10, S. 51.

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Hang zu teuren Bühnenausstattungen ließ das Unternehmen jedoch zu einem finanziellen Fehlschlag werden, von dem sich Krul nie wieder erholte. Er mußte von nun an in den verschiedensten Berufen arbeiten, um seine Familie ernähren zu können, die er dennoch völlig mittellos zurückließ, als er 1646 starb. Diese Information über den Autor des Originals enthält eine Reihe von Fakten, die auch für das deutsche Spiel wichtig sind. Wir haben es bei Krul mit einem innerhalb der großen poetologischen und politisch/religiösen Auseinandersetzungen14 des Amsterdamer Theaters wichtigen Mann römisch-katholischer Konfession zu tun, der in der deutschen Literaturwissenschaft kaum bekannt ist, der aber für die deutsche Literatur vielleicht von größerem Einfluß war, als bisher angenommen. Auffallend ist, daß seine Texte noch heute in den großen Bibliotheken recht gut vertreten sind. Kürzlich konnten auch zwei seiner Gedichte als Vorlage für Gedichte Jacob Schwiegers nachgewiesen werden.15 Erst wenn die Germanistik Kenntnis von diesem ihr bisher unbekannten Autor hat, kann die Wirkung auch seiner übrigen Texte in Deutschland untersucht werden. Andererseits aber fallt folgende Diskrepanz auf: Krul gehört nicht zu den berühmten niederländischen Dramatikern des 'goldenen Zeitalters' der niederländischen Literatur, deren Texte jedoch - weder Hoofts berühmtes Schäferspiel Granida noch die Schäferspiele von Bredero und Coster - wurden nicht ins Deutsche übersetzt. Nur eines der Schäferspiele von Krul, nämlich das hier zur Debatte stehende Spiel von Claris und Philida, und das einzige Schäferspiel von Jacob Cats, Aspasia16, liegen in deutschen Fassungen vor. Eine mögliche Erklärung dafür bietet Morhofs lapidarer Satz aus seinem Unterricht von der Teutschen Sprache: „Niederländisch ist Teutsch. Hochteutsch ein neuer Dialectus."17 Dies heißt, es war zur damaligen Zeit nicht notwendig, niederländische Stücke in dem Sinne zu 'übersetzen', da man sie ohne große Mühe lesen konnte. Wenn wir also ein niederländisches Stück in hochdeutscher Sprache haben, so diente die Quelle als Grundlage für eine Bearbeitung. Daß der Autor der deutschen Fassung, Hermann-Heinrich Scher, die niederländische Sprache ohne große Mühe rezipieren konnte, kann aus seinem Wohnort geschlossen werden. Er ist in Jever/Ostfriesland geboren und beherrschte das Niederdeutsche, wie das im Dialekt geschriebene Zwischenspiel Vom Schafedieb zeigt, das er seiner Fassung des Krulschen Schäferspiels 14

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Vgl.W. M. H. Hummelen: Amsterdams Toneel in het begin van de Gouden Eeuw. Studies over „het wit Lavendel" en de Nederduytsche Academic. S'Gravenhage 1982; Mieke B. Smits-Veldt: Het Nederlandse Renaissancetoneel. Utrecht 1991. Vgl. Louis Peter Grijp: Fußbank: Strophenvergleichung als heuristisches Verfahren, geprüft an einigen deutschen Barockliedern nach holländischen Mustern. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Gudrun Busch und Anthony Harper. Amsterdam 1992 (Chloe. Beihefte zum Daphnis), S. 107-125, hier S. 112 und 123. Zur Aspasia vgl. Caemmerer 1994, vgl. Anm. 2; Egbert Krispyn: Die Wandlungen der Aspasia. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten Kongresses Basel 1980. Hrsg. von Heinz Rupp und Hans-Gert Roioff. 3. Teil. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1980 (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A . 8), S. 460-465; ders.: Koningklyke herderin Aspasia im Urteil ihrer Bearbeiter. In: De nieuwe taalgids 74, 1981,4, S. 309-312. Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie. Hrsg. von Henning Boetius. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1969 (Ars poetica. 1). Reprint der Ausgabe von 1700, S. 130.

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beifügte.18 Für die Edition heißt dies, daß der Hinweis auf den Herkunftsort der Quelle wie auf die Sprachkompetenz des deutschen Autors eine vorläufige Aussage über die Art des Verhältnisses zwischen Quelle und Text zuläßt, die sich in diesem Fall leicht verifizieren läßt. Die Informationen über die Quelle tragen dazu bei, auch den Autor der deutschen Fassung biographisch festzumachen, denn es gibt bislang wenig Informationen zu Sehers Leben.19 Die Hinweise, die die Vorreden zu Daphnis und Chrysilla enthalten, sowie archivalische und genealogische Studien fuhren zu folgenden Ergebnissen: Scher kommt aus einem deutlich anderen Umfeld als Krul. Daß er protestanischer Konfession war, läßt sich aus dem Geburtsort Jever und den Studienorten Hamburg und Groningen als ziemlich sicher erschließen. Er war Jurist und läßt sich in der akademischen Welt der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts, wenn auch etwas mühsam, nachweisen. Mühsam ist dies, da Scher selbst sich weder in die Matrikel des Hamburger Johanneums noch in die der Universität Wittenberg eingetragen hat. Es war aber damals durchaus üblich, in der Matrikel eines Verwandten zu studieren. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß er sein Grundstudium in Hamburg20 am Johanneum absolvierte. Aufgrund von Widmungsschriften und Zueignungsgedichten läßt er sich zu einem Freundeskreis zählen, der in Wittenberg21 bei Buchner studierte und enge (Studien-)kontakte zu den Niederlanden pflegte. Scher selbst hat 1639 in Groningen22 seine Studien der Juristerei und der Philosophie (wieder-)aufgenommen23 und dort auch geheiratet.24 Zu seinen Freunden gehören Vincentius Fabricius (1612-1666)25, der lange in den Niederlanden 18

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1636 hatte Scher ein niederdeutsches Hochzeitsgedicht Nies vpstafferde koste- oft högevasken, van olem tüge tohope samlet unter dem seinen Namen latinisierenden Pseudonym 'Dominus Vir Forcipius' auf die Hochzeit von Hindrick Radings mit Anna Sieg-Manns geschrieben, das mit seinen 214 Zeilen das älteste und eines der längsten niederdeutschen Exemplare seiner Gattung ist. Wiederabgedruckt in: Scherzgedichte von Johann Lauremberg. Hrsg. von J. M. Lappenberg. Stuttgart 1861, S. 101-106. Das Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hans Schröder, fortgeführt von F. A. Cropp, C. R. W. Klose und A. H. Kellinghusen. Bd. 6. Hamburg 1873, S. 514, gibt folgende biographische Daten: „Scheren (Hermann Heinrich) geb. zu Jever im Großherzogtum Oldenburg gegen Ende des 16ten Jahrhunderts oder im Anfange des 17ten lebte 1638 in Hamburg. Nähere Nachrichten über ihn fehlen." Ähnlich unbefriedigend ist auch die Angabe in der ADB. Zum Studium am Akademischen Gymnasium Hamburg hatte sich am 6. August 1622 ein Gerhard Scherius Frisia Jeverensis eingetragen. In Wittenberg immatrikulierte sich 1630 ein Johann Friedrich Scher aus Jever. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, daß diese 1614 gegründete Universität als die 'Heimatuniversität' eines Jeveraners bezeichnet werden kann. Vgl. Album Studiosorum Academiae Groningae. Uitgegeven door het Historisch Genootschaap te Groningen. Groningen 1915, Sp. 29; vgl. Carl Louis: Ostfriesische Studentenverbindung in Groningen 1615-1667. In: Quellen zur ostfriesischen Familienforschung l, 1935, S. 23. Wie die Kirchenbücher von Groningen ausweisen, hat Scher im Sommer 1639 Anna van Eusum die Hand zur Ehe gereicht. Dies teilte die Rijksuniversität te Groningen Studienrat Enno Schönbohm aus Jever, dem ich für die Überlassung der Daten danke, 1965 auf Anfrage mit. Vincent Fabricius besuchte das Johanneum in Hamburg und studierte ab 1631 in Leiden Jura und Medizin. Er lebte eine Zeitlang auf dem Landgut von Janus Dousa und war eng mit Zacharias Lund befreundet, mit dem er einen Teil seiner Jugenddichtungen, die großenteils in den Niederlanden entstanden waren, zusammen herausgab. Neben einem Gedicht an August Buchner in Lunds deutsch-

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studierte und auch holländische Gedichte schrieb, Zacharias Lund (1608-1667) und Paulus Relovius (1600-1666)26. Alle drei haben mit je einem Widmungsgedicht zur Schäferey beigetragen, und alle drei haben das Hamburger Johanneum besucht. Zwischen 1635 und 1638 hielt sich Scher zumindest zeitweise in Hamburg auf27, und zu dieser Zeit lebte auch Ernst Christian Homburg dort. Er hat wie Scher in Groningen28 und wie Lund und Fabricius nachweislich bei Buchner in Wittenberg studiert. Scher hat ihm ein sehr herzliches Widmungsgedicht zur ersten Auflage seiner Clio von 1638 geschrieben.29 Spätestens in Hamburg muß Homburg mit Scher zusammengetroffen sein, auf den er seinerseits ein sehr freundschaftliches Gedicht in den Epigrammen des 2. Teils der Clio veröffentlichte.30 Der warmherzige Ton beider Gedichte weist auf einen vertrauten Verkehr der beiden Juristen hin. Mit Lund und Homburg nun verbindet Scher auch die Bearbeitung eines fremdsprachigen Schäferspiels.31 Die Viten der beiden Autoren Krul und Scher zeigen, daß sie zu völlig verschiedenen sozialen Gruppen gehören; von daher ist mit einer völlig unterschiedlichen Intention beider Autoren beim Verfassen der Texte zu rechnen, was die Anlage der beiden Spiele bestätigt.

III. Die Quelle und ihre Bearbeitung Die Uraufführung des Schäferspiels Cloris en PhilidcP2 fand 1631 in Amsterdam noch im Rahmen der Oude Kamer' statt. Ein Vergleich der im selben Jahr erschienenen ersten Fassung mit der schon ein Jahr später veröffentlichten zweiten Fassung33 und der

sprachigen Gelegenheitsgedichten ist das Widmungsschreiben an Scher das zweite von Fabricius nachweisbare Gedicht in deutscher Sprache. Vgl. auch Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, vgl. Anm. 18, Bd. 2. Hamburg 1854, S. 260. 26 Paulus Relovius in Hamburg geboren, war Magister und wurde 1650 zum Lehrer der 7. Klasse am hamburgischen Johanneum erwählt. Seit 1650 war er auch Domvikar. Vgl. auch Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, vgl. Anm. 18, Bd. 6. Hamburg 1873, S. 241. 27 Zwischen 1634 und 1636 trug Scher sich in Hamburg in das Stammbuch des wegen seiner theosophischen Neigungen verfolgten und später in Hamburg im Irrenhaus internierten Joachim Morsius (1593-1643) ein. Vgl. Heinrich Schneider: Joachim Morsius und sein Kreis. Zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Lübeck 1929, S. 102. In Hamburg erschien 1638 auch sein Schäferspie] Daphnis und Chrysilla. 28 Homburg ist hier im Jahr 1635 eingeschrieben. Siehe Album Studiosorum Academiae Groningae 1915, vgl. Anm. 23, Sp. 33. 29 E. C. Homburg: Schimpff- vnd Emsthaffte Clio. Erster Theil. 2. Aufl. Jena, Hamburg 1642, S. a7ra8v. Schon in der ersten Auflage von 1638 enthalten. 30 Ebda. Zweiter Theil, S. Bb5v. Ebenfalls schon in der ersten Auflage von 1638 enthalten. 3 ' Lunds Bearbeitung einer französischen Fassung des Schäferspiels von Luigi Grotos // Pentimento Amoroso mit dem Titel Schäferische Komödie der Dieromene ist nur handschriflich überliefert. 32 J. H. Kruls Pastorael Bly-eyndigh-Spel/ Van Cloris en Philida. Amsterdam 1631. 33 J. H. Krul: Cloris en Philida. Amsterdam 1632.

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1634 in der Sammlung Eerlycke Tytkorting34 veröffentlichten Version zeigt, daß Krul sein Werk immer wieder umarbeitete, jedoch mehr aus dramaturgischen, denn aus inhaltlichen Gründen.35 Drei Handlungsstränge bestimmen das Spiel: Der Kampf des Königs und seines Höflings Cloris um die Liebe der Schäferin Philida, die Liebe der wankelmütigen Lerinde zu den Schäfern Thirsis und Philander und die Liebe der Bauern Kaes und Jaep zu den Bauemmädchen Margeriet und Meulenaar. In der Fassung des Stückes von 1631 laufen die beiden Haupthandlungen fast unverbunden nebeneinander her und werden erst in der Schlußszene zusammengeführt. Auch die Bauernszenen nehmen keinen Bezug auf die Haupthandlungen. Die emotionalen Zustände der Personen - deren Beschreibung eines der die bukolische Textsorte ' Schäferspiel ' definierenden Elemente ist - werden exempelhaft vorgestellt, ohne aus dem Zusammenhang des Stückes heraus motiviert zu werden. Die grobschlächtige Handlungsführung und die plakative Darstellung emotionaler Zustände wird schon 1632 geglättet und das Stück zu größerer dramatischer Einheitlichkeit gebracht, indem die Szenen der Philida- und der Lerinde-Handlung innerhalb der Akte regelmäßig abwechseln und Ereignisse, die in der ersten Fassung im Nachhinein erzählt werden, jetzt auf der Bühne dargestellt werden. Beide Handlungsstränge laufen darüber hinaus nicht mehr so vollständig unabhängig nebeneinander her. Cloris und Philida nehmen an der Hochzeit von Lerinde und Thirsis teil. Cloris tröstet Lerinde nach dem Tod ihres Ehemanns und hilft ihr, Thirsis zu begraben. Auch die Bauernhandlung wird in die übrige Handlung integriert, indem das Geschehen bei den Schäfern von den Bauern kommentiert wird. Nach der glücklichen Vereinigung der Paare schließlich treten die Bauern zu den Schäfern, und plötzlich verwandeln sie sich alle in junge Amsterdamer. Kennzeichen dafür ist ein Wechsel in der Diktion. Anders die Bearbeitung von 1634, die durch ihre vielen Lieder für eine Aufführung im Rahmen von Kruls 'Musijckkamer' geschrieben zu sein scheint. Die Szenenführung entspricht der Fassung von 1632, aber die Bauemhandlung fehlt ganz. Das Stück schließt hier mit der Vermählung der beiden Paare Cloris und Philida, Lerinde und Philander. Hermann-Heinrich Scher nun nennt ganz bewußt und zurecht sein Stück Neuerbaute Schäferey und verweist in seiner Einführung gar nicht erst auf seine Vorlage, denn er hat zwar von Krul das Handlungsraster ungefähr übernommen, seine theatralische Umsetzung aber weicht ganz entscheidend vom Original ab. Scher benutzt für seine Bearbeitung mindestens die ersten beiden Fassungen von Kruls Stück. Dies zeigt die Übernahme der beiden Nebenfiguren Amyntas und Amarillis, die bei Krul in der Fassung von 1632 fehlen, und die Gestaltung der ersten Begegnung zwischen den beiden Hofmitgliedern und der Schäferin in einer Jagdpause, die erst in die Fassung von 1632 aufgenommen ist. Scher teilt das sechsaktige Stück Kruls in fünf Akte mit unterschied34

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Cloris en Philida. In: Eerlycke Tytkorting bestaende in verscheyde Rymen. Gemaeckt door Jan Hermansz Krul. Amsterdam 1634. Das Stück wurde ein weiteres Mal in der Werkausgabe Pampiere Wereld 1644 gedruckt. Da diese Ausgabe für die deutsche Bearbeitung von Hermann-Heinrich Scher, die 1638 erschien, nicht mehr wichtig ist, wurde sie hier nicht mit berücksichtigt.

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lieber Szenenanzahl ein, an deren Ende jeweils eine Szene aus dem Aufzug vom Schafe-D\eb gespielt wird. Die Kurz- und Langverse Kruls hat Scher durch den Wechsel von Prosa und Vers ersetzt, d.h. in den Prosatext sind Lieder und Gedichte eingefügt. Diese Lieder und Verse stehen immer zu Beginn oder am Ende eines Argumentationszusammenhanges oder einer Diskussion und fassen strophenweise die von den einzelnen Gesprächsteilnehmern vertretenen Ansichten programmatisch zusammen. Die Abkehr von der durchgehenden Versform ist nicht als Armutszeugnis des deutschen Autors zu verstehen, sondern als eine bewußte Annäherung an die deutsche Prosaekloge und den deutschen Schäferroman, die beide die Prosa-Vers-Mischform verwenden. Eine Annäherung, die Scher auch inhaltlich vollzieht, denn er setzt weniger auf dramatische Handlung als auf theoretischen Diskurs. Die Personen haben bei Scher fast alle neue Namen erhalten, auch ihre soziale Rolle hat sich teilweise geändert. Aus Philida wird Chrysilla, aus Cloris wird Daphnis. Lerindes Liebhaber heißen Thirsis und Corydon. Die schäferliche Welt ist erweitert um die Schäferin Amarillis und den Schäfer Amyntas, die bei Krul in der ersten Ausgabe nur zwei Sätze auf der Hochzeit von Lerinde und Thirsis zu sprechen hatten und in den späteren Ausgaben gestrichen waren. Sie bekommen jetzt tragende Rollen als Gesprächspartner von Chrysilla und als Kommentatoren des Geschehens. Die göttliche Instanz der Liebes- und Ehegötter, die bei Krul von Venus und Cupido vertreten wurden, wird bei Scher von Cupido und Hymen, Flora und Priapus übernommen. Damit wird den Göttern der Liebe und der Lust mit Hymen auch der Gott der Institution Ehe hinzugefügt. Die Rollen von Jaep, Kaes und ihren Gespielinnen sind zugunsten des niederdeutschen Aufzugs ganz gestrichen. Das Personal, das zur Welt des Hofes gehört, ist entscheidend umstrukturiert. Dabei setzt Scher deutliche Akzente, indem er es mit sprechenden Namen ausstattet und damit die höfische Handlung allegorisiert. Aus dem König ist der Herzog Nocentius, der Missetäter, geworden. Er ist von einem Hofstaat, bestehend aus dem Marschall Honorius, der ein Ehrenmann ist, dem Kämmerer Damnipetus, dem Schadensverursacher, und dem Edelknaben Parthenophilus, dem Jungfrauenfreund, umgeben. Die Personen sind durch ihre Namen als Allegorien auf (politische) Tugenden und Laster zu erkennen. Das Handlungsgerüst von Scher zeigt noch offensichtliche Ähnlichkeiten mit Cloris en Philida, macht aber auch die Veränderungen deutlich. Ein Vergleich der ersten Szene in der holländischen und der deutschen Fassung zeigt, wie Scher von Krul nur einzelne Verlaufsphasen der Handlung übernimmt und sprachlich ganz frei gestaltet. Berste Handelingh, eerste uytkomste. KONINCK, CLORIS, Met eenighe Hovelinghen op de lacht. Koninck: Gantsch moed' en mat gherent, ben ick door't vluchtich laghen, Soo dat het rüsten my sal zijn een welbehaghen Hier in dit dichte Bosch; ick set my gins wat neer, Op dat ick (heel vermoeyt) my mach bedaren weer. Cloris: In dien sijn Majesteyt, begeerich om te rüsten Een aengename plaets begheert; hy sal met lusten

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Christiane Caemmerer En wel vernoeghde vreucht, hier in dit lieflick groen Sijn welbehaghen, na sijn Inst kunnen voldoen: Indient ghelieven sal, sijn Hoocheyt noch wat verder Te nemen sijne gangh, alwaer dat menich Herder Met soet vermaeck en lust, onschuylt de heete Son, Verfrissende sich, door de koele Beeck, en Bron. (Krul, S. 1-2)

Act. I, Seen. 4 Nocentius Hertzog/ Daphnis. kommen aus der Jagt. Chrysilla. Amarillis. Lerinde. Coridon. Thirsis. Amintas. Nocent.: Es ist zwar liebster Sohn eine treffliche Lust / vnd fast eine Götter gleiche Freiheit / daß man in den wolbesetzten Wäldern / auf den zierlichen Wiesen l an den lieblichen Flüssen / das Jagergarn den Thieren stellen / vnd hinein treiben mag. Wenn es aber bey so starcker Sonnen wird angefangen / ist wegen vnerleidlicher Hitze fast keine grössere Müh/vnd zu abmattung der menschlichen Kräffie keine nähere Erfindung als eben diese. Jch binjetzundso hart vndsawr angestrenget/ daß ich vmb eine wenige Ruh durch den Geist des freundlichen Zephyrus ersanfftet / einen theil meiner Fürstlichen Hoheit möchte darben. Daphnis: Wann es Durchl. Fürst E.L. gefettet zu erquickung der niedersinckenden Glieder / vnd erfrischung der gesunden Kräffie etwas in Ruh zu begeben/ kan vns dieser mit anmutigen Krautern / vnd Schlaff=erweckenden Vogel= vnd Blettergereusch reichbelegter Ort ein bequemes Ruhbette verleihen. Haben sie aber belieben ein wenig weiter hinein zu gehen / kan es desto anmutiger seyn. Denn das lieblich=stossende Wasser des Brunnes / vnd die herrlich=klingende Music der berühmten Schäffer / soll vns sanffter zu ruhen grosse anlaß geben. (Scher, S. Cvr-Cvv)

Während Krul nur die Auf- und Abgänge der Personen verzeichnet oder die Position des Darstellers auf der Bühne bestimmt, schreibt Scher lange Regieanweisungen, die dem gesprochenen Text einen erzählenden Rahmen geben. Damit verschiebt sich der Charakter des Stückes von einer reinen Spielvorlage zu einem eher der Lektüre vorbehaitenen Text. So gibt es auch keine Nachricht, daß Sehers Schäferey auf einer Bühne gezeigt worden ist. Der Eindruck, es eher mit einem Lesetext als mit einem für die Aufführung bestimmten Spiel zu tun zu haben, wird noch dadurch verstärkt, daß Scher einem Gedicht die Gattungsbezeichnung, in diesem Falle „Sonnet" (S. Evr), voranstellt. Nicht Handlung, sondern Gespräch beherrscht die Szenen.

IV. Thematische Varianten Kruls Stück irritiert den heutigen Betrachter an zwei Stellen ganz besonders. Der Tod des Schäfers Thirsis beim Liebesakt mit seiner ihm gerade vermählten Frau auf offener Bühne berührt fast ebenso peinlich wie die bereitwillige Vergebung, die dem König gewährt wird, nachdem dieser, als Höfling Cloris verkleidet, - ebenfalls auf offener Bühne - Philida fast vergewaltigt hätte. Beide Szenen verweisen auf zwei zentrale Themen in Kruls weltanschaulichem System, die - hier zeigt sich Kruls Liebe zur Emblematik - als Motto und Subscriptio das Drama umschließen. Seit der Abfassung der

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Diana versah Krul jedes seiner Dramen und so auch Chris en Philida - hier als Subscriptio - mit dem Spruch: „gedenckt te sterven". Mit einem Herzschlag, den Thirsis im Augenblick des höchsten Glückes im Schöße Lerindes erleidet, hat Krul in diesem Stück ein besonders deutliches Beispiel für die Allgegenwart des Todes im Leben gewählt. So begreift auch Cloris das Geschehen, als er auf die entsetzten Schreie Lerindes herbeieilt und das Furchtbare erfaßt: O Coden, wat ick sie, wat is een Mensch? soo strack; En weynich tijdt verleen, heb ick hem noch ghesproken, Nu leyt dien longhen Helt met Ooghe toe gheloocken: Het leven isser uyt: o Spieghel dal de staet; Van s' Menschen leven, als een Bloem tot niet vergaet: (Krul, S. 66)

Dieses drastische memento mori führt dem Zuschauer die Gebundenheit des Menschen an sein Fatum vor Augen. Aber laute Klage ist nicht Kruls Antwort darauf. Die von göttlicher Gerechtigkeit bestimmte Ewigkeit vor Augen, muß der Mensch versuchen, sich im Diesseits zurechtzufinden. Nicht Verzweiflung, sondern tatkräftiger Einsatz, wie ihn Cloris und Philida zeigen, sind nötig, um das Erdenleben ehrenvoll zu bewältigen. Auf dieses Erklärungsmodell seines Stückes deutet die Inscriptio im Titel hin: Pastorel Bly-Eyndend-Spel, van Cloris en Philida, op de sin Een Maeght die voor haer kuyscheydt strydt Noyt aff-breeck in haer Eere lydt. So ist Philida von der sexuellen Gier ihres vermeintlichen Bräutigams zwar völlig überrascht, als der König sie in den Kleidern seines Höflings Cloris überfallt. Aber nach kurzem Besinnen bleibt sie fest bei ihrer Überzeugung, daß Sexualität nicht vor, sondern nur in der Ehe ihren Platz hat, und weist die Wünsche ihres Gegenübers zurück. Philida: Is Cloris van dien aert, is Cloris soo ghesinl? Soo rout het my, dot ick oyt Cloris heb gemini: Wech hater van mijn eer, sijn dit u Hoofsche treken? Die buyten schoon, maer vol bedrogh inwendich steken: Mijn Liefd' verheert in haet, ick Liefden u wel eer, Maer wilt ghy die wegh uyt? ick Lief u nimmermeer. (Krul, S. 83)

Sie ist bereit, für ihre Tugend alles zu opfern, sogar das Leben: O deughd' lievende Goon, [...] Bevrijt my voor dit quaet, ghy weet het goede Code, Ick sterfveel liever, als te breken u gebode: [...] Doet alles wat ghy wilt, ick sal mijn voor mijn eer Met Vrouwelijcke kracht gaen stellen dan ter weer. (Krul , S. 87)

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Obwohl Krul christlich-katholisch argumentiert, steht sein Tugendbegriff'deughd' dem Begriff der 'constantia' des Justus Lipsius, wie dieser sie in seinem 1584 erschienenen gleichnamigen Buch beschreibt, nahe. Beide verlangen neben Geduld und Beständigkeit einen aktiven Einsatz des einzelnen für sein Heil. Wenn Gerhard Oestreich die 'constantia' des Lipsius als eine vom Kampfgeist beseelte Widerstandskraft gegen alle Bedrängnis der Welt definiert, für die die Parole lautet: Ausharren und Kämpfen, nicht nachgeben oder feige fliehen,36 dann entsprechen diese Verhaltensweisen der von Philida und Cloris geübten 'deugdh', die Krul als guter Katholik durch den Kampf des Guten gegen das Böse, die 'quat', ergänzt. „Kruls 'deughd' is de morele houding van de mens die zieh te weer stell tegen het kwaard dat zijn eeuwig geluk bedreigt."37 Gleichzeitig plädiert der Autor für die Feindesliebe. „Voor zover Krul de deugd als een positieve kracht voorstelt, is ze het kwaad met goed vergelden, het excuseren van andermans misslagen."38 So verzeihen Philida und Cloris christlich großzügig dem reuevollen König seine Taten, die Ausdruck eines Mangels an Tugend waren: Cloris: Mijn hert, wiens Lief ick eeuwich blijf; Ick heb den Koninck (Lief) sijn misdaet al vergeven, Indien ghy suyver in u eere sijt gebleven. Philida: Mijn eer, mijn lief die is in 't minste niet misdaen. Cloris: Soo neemt den Koninck dan weer in genade aen. Philida: 'k En wil geen quaet met quaet, maer doe na u behagen, Grootmogend' Majesteyt, alsoot de Goon voorsagen, Dat door haer schickingh u voornemen wert belet, Ken ick sijn Hoogheyt vry, mits ick niet ben besmet. (Krul, S. 93f.)

Der Kampf der Tugend gegen das Böse im Angesicht des ständig gegenwärtigen Todes, dies ist Kruls Thema in Cloris en Philida. Die bukolische Gattung gibt zwar Raum für eine traditionelle Hofkritik, in der der Ehrgeiz der Höflinge ebenso angegriffen wird wie die Falschheit der höfischen Frauen. Aber Philida ist als Schäferin nicht die den Fürsten Cloris läuternde Repräsentation staatsmännischer Tugenden. Politische oder staatsphilosophische Aspekte spielen kaum eine Rolle. Das Verhältnis zwischen Cloris und dem König wird lapidar durch die unbedingte Gehorsamspflicht des Cloris gegenüber seinem Herren dargestellt, der zwar vom allgemeinen Besten redet, dabei aber nur sein eigenes Glück im Auge hat, während Cloris sich voll Vertrauen seinem Urteil unterwirft und seine Gefangennahme erst der Intrige anderer Mitglieder des Hofes zuschreiben zu müssen glaubt, bis er einzusehen bereit ist, daß er Opfer der Interessen des Königs selbst geworden ist. Der Gegensatz von Tugend und Untugend wird hier, so bietet es das von Krul gewählte bukolische Genre an, als Gegensatz von 'liefde' und 'minne' gestaltet. Diese Unterscheidung, die zwar inhaltlich, aber nicht immer verbal 36

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Gerhard Oestreich: Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates. In: Ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S. 40. Wijngaards 1964, vgl. Anm. 10, S. 258. Ebda, S. 259.

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das ganze Stück durchzieht, hat Krul von Rodenburgh und Hooft übernommen.39 Philida macht sie dem als Cloris verkleideten König deutlich, um ihn an seine Pflichten als Mann, nicht als Herrscher, zu erinnern. Philida: '/ Voeght niet, mijn suyvere school met mins onreyne heue, Voor dat wy sijn gepaert, met minne te besmette: Maer als wy (door de trou) in d"Echte sijn vergaert, Soo wil ick (Liefdens)lust voldoen na Liefdens aert, Wat is de min? (Eylaes!) een voedtsel van qua lusten, Die een oprechte Ziel, beneemt haer hooghste rüsten: Een voedster van bedrogh, een oorspronck van ellent, Een dief-egh vande eer, die maeghden kuysheyt schent: Een doolhofvol verdriet, een wellust sonder vreuchde, Een soetheyt sonder foet, een kancker inde deuchde: (Krul, S. 81)

Die 'liefde', so wie sie der echte Cloris und Philida vertreten, ist eine im katholischen Sinne gottgefällige Liebe, die sich auch in das neustoische Argumentationssystem einfügt. Hier herrscht die Seele über den Leib, die Vernunft über die Sinne, so daß alle Begierden und hitzigen Bewegungen des Gemüts gedämpft und gezähmt werden.40 So Philida: Soo Cloris mijn bemini, moet hy met mijn bekennen Dat mins gebruycken is. op rechte Liefde schennen: Net is Liefd's rechte aert dat sy de min versmaet, Eer dat het recht gebruyck van d'Echt de lust toelaet: Ist (Lief) dat ghy mijn mint, moet ghy de lust verwinnen, Soo niet, en ist geen Liefd', maer prickelingh van minne: Die ghy (bid ick) mijn Liefuyt uwe sinne set; En na de trou voldoet Liefd's lust door heyl'ge wet. (Krul, S. 81)

Mit Lerinde und dem König dagegen stellt Krul die ungezügelte sexuelle Sinnlichkeit der 'minne' dar. Hier ist keine Rede mehr von Vernunft, die Sinne haben gesiegt und beherrschen das Gemüt. Damit fehlen, nach Lipsius, Beständigkeit und Wahrheit. Wenn die Sinne regieren, herrscht die Wankelmütigkeit.41 Diese Wankelmütigkeit stellt Lerinde in Kruls Drama dem Zuschauer vor Augen, wenn sie heute mit Philander schläft und morgen Thirsis ihre Hand zum ehelichen Bunde reicht. Erst Thirsis' Tod bringt sie zur Besinnung und läßt sie ein vemunftbezogenes Leben beginnen, eine

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Ebda, S. 272. Vgl. Justi Lipsii Von der Bestendigkeit. (De Constantia). Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des Andreas Viritius. Nach der 2. Aufl. von 1601. Mit den wichtigsten Lesarten der 1. Aufl. von 1599 hrsg. von Leonard Forster. Stuttgart 1965 (Sammlung Metzler. 45), Bl. 14V. Vgl. dazu ebda, S. 14r: „Heut begert er [der Wahn, die Sinne (Anm. C.C.)] dieses / Morgen veracht ers: diß lobt er / bald schilt ers: thut nichts aus rechtmessigem vrtheil / sondern ist nur in allen dingen dem Leibe und den Sinnen zu willen."

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Lebensweise, zu der Philander in seiner Zeit als Eremit gefunden hat, so daß sie beide am Ende ein Paar werden können. Krul dramatisiert in seinem Stück die Notwendigkeit einer beständigen Vernunft, um in einer Welt voll Täuschungen, in der der Tod jederzeit den Lebensfaden abschneiden kann, den Wechselfällen des Schicksals standhalten und den kommenden Tod als gegeben hinnehmen zu können. Die Wahl des bukolischen Genres ermöglicht es ihm, dieses Thema ohne eine genaue Einbindung in eine konkrete gesellschaftliche oder politische Situation allgemeingültig zu gestalten. Es sind die moralischen Ideen des Neustoizismus, die sich in der christlich-katholischen Argumentation Kruls wiederfinden lassen, und das machte das Stück für Scher wohl zunächst interessant. Nicht theoretischer Diskurs, praktische Präsentation ist dabei Kruls Mittel. Er schreckt, um die bittere Pille der Vernunft seinem kleinbürgerlichen Amsterdamer Publikum recht schmackhaft zu machen, weder vor eindeutigen Liebesszenen, noch vor einer beinahe vollzogenen Vergewaltigung auf offener Bühne zurück. Anders Scher, der bei der Gestaltung des Liebesthemas auf den theoretischen Diskurs setzt und, auch wenn er moralisch argumentiert, es politisch meint. Für die Handlung innerhalb der schäferlichen Gemeinschaft allerdings übernimmt er zunächst die Thematisierung des neustoischen 'constantia'-Ideals aus Chris en Philida und stellt die verheerenden Folgen der sinnlichen Liebe am Beispiel Lerindes, Thirsis' und Condons sowie den Triumph der vernünftigen Liebe am Beispiel Chrysillas und Daphnis' dar. Ähnlich wie bei Krul erleiden die beiden Schäferinnen Lerinde und Chrysilla im Laufe des Stückes einen harten Schicksalsschlag (den Verlust des geliebten Mannes), den Chrysilla mit Hilfe der geduldigen Vernunft zu meistern versteht, während Lerinde erst durch ein Tal des Elends gehen muß, um ihre Haltung zu korrigieren. Aber anders als Krul führt Scher diese Entwicklungen nicht allein als dramatische Handlung vor. Er ergänzt sie durch theoretische Erörterungen der Schäfergesellschaft. Hier tragen Chrysilla, Amyntas, Amarillis und Lerinde ihre Positionen vor. Scher läßt seine Leser oder Zuschauer nie ohne einen einordnenden Kommentar. So sprechen z. B. Daphnis und Chrysilla schon davon, wie sie ein kommendes Unglück als Bewährungsprobe ihrer Liebe bewältigen werden, noch ehe ihr Liebesglück durch die Verfolgungen des Fürsten ein vorübergehendes Ende findet. Das Geschehen exemplifiziert die Streitgespräche, der Kommentar erklärt das Geschehen. Beide sind eng miteinander verbunden. Dadurch umgeht Scher die in Kruls Variante mögliche Gefahr, daß der Zuschauer aufgrund der erotischen Einkleidung die bittere Moral vergißt, die der niederländische Autor im Gegensatz zum deutschen niemals expressis verbis ausspricht. Darüber hinaus reduziert Scher die Darstellung der sinnlichen Liebe auf der Bühne sowohl sprachlich Obszönitäten haben hier keinen Platz mehr - als auch darstellerisch: Es gibt keine Liebesszenen im Gebüsch. Höhepunkt der Darstellung von Lerindes Wechselhaftigkeit ist ein Liebesgespräch, das sie mit Thirsis führt, wobei sie gleichzeitig Condon mit den Augen signalisiert, daß er gemeint ist. Der Liebestod des Thirsis auf offener Bühne wird ebenfalls gestrichen. Von seinem Hinscheiden erfährt der Zuschauer nur durch Hörensagen.

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Die Schäfergemeinschaft unterscheidet sich erheblich von der sonst im Schäferspiel üblichen idealisierten Landbevölkerung und auch von den Schäfern bei Krul. Sehers Schäfer sind die gebildeten Intellektuellen, die, wie es in ähnlicher Form in den Schäferromanen und den deutschen Prosaeklogen üblich ist, über Gott und die Welt und vor allem über die Liebe disputieren und singen. Hier herrschen auch gesellschaftliche Zwänge. Nicht eine Geistererscheinung, wie bei Krul, sondern der Druck der Freunde veranlaßt Lerinde, sich schließlich für einen der sie liebenden Schäfer zu entscheiden. Chrysilla holt sich Rat bei ihren Mitschäfern, was diese von dem angeblichen Schäfer Daphnis halten. Der deutsche Autor hat zwischen den Schäfern einen gesellschaftlichen Zusammenhang hergestellt, um Kruls recht allgemein gehaltene Darstellung der Beständigkeit als Lebensform auf eine noch stärker auf Lipsius hin orientierte Vorstellung der 'constantia' als Verhaltensnorm des Untertanen zurückzuführen, die Scher - und hier weicht er völlig von Krul ab - durch eine ausführliche Erörterung über die richtige Herrschaft ergänzt. Damit bezieht er neben moralischen Vorstellungen des Neustoizismus auch die politischen in sehr viel deutlicherer Form in das Stück ein, als es Krul getan hat, der rechte und falsche Herrschaft am Beispiel des Königs nur sehr allgemein behandelt hat. Indem er einen schlechten Regenten und seinen schlechten Ratgeber darstellt, gestaltet Scher ex negativo die Vorstellung von einem guten Regenten und seinen guten Ratgebern. Er öffnet damit sein Stück einer ähnlichen staatspolitischen Thematik, die auch Homburg in seiner Mairet-Adaption abhandelt. Die Umarbeitung der Vorlage zeigt damit deutlich den literarischen Zusammenhang, in den Scher mit seiner Bearbeitung den Text einbinden will. Der Angriff des Herzogs auf die Schäferin Chrysilla wird bei ihm nicht als moralisches Fehlverhalten eines einzelnen dargestellt wie bei Krul. Der Angriff ist Ausdruck eines tiefgreifenden politischen Konflikts. Bei Scher wird dieser Konflikt, über Krul hinausweisend, als Generationskonflikt zwischen Vater und Sohn dargestellt. Auch dies eine Parallele zu Homburg. Wie so häufig, wenn der schäferliche und der höfische Bereich im Drama miteinander konfrontiert werden, so ist auch hier die Liebe des Fürstensohnes Daphnis zu der Schäferin Chrysilla Ausdruck einer Verbindung von Herrschaft mit kluger Vernunft, Tugend und Beständigkeit. Nocentius dagegen empfindet sich als Fürst mit absoluter Gewalt und fühlt sich auch seinem Sohn gegenüber zu keiner Rechenschaft gezwungen. Als seine Verkleidung in einen jugendlichen Schäfer42 Chrysilla nicht täuschen kann, verspricht er ihr Geld43 und Besitz, appelliert an ihre Gehorsamspflicht44 gegenüber ihrem Fürsten und, da sich Chrysilla immer noch verweigert, versucht er, sich sein Vergnügen gewaltsam zu verschaffen.

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Anders als bei Krul, bei dem sich der König als sein Nebenbuhler verkleidete. „Da habe ich Chrysilla tausend ausserlesene Ducaten / die nehmet erstlich von mir vnd seyd meines Reichthumbs darneben gäntzlich versichert / vnnd gedencket nur zur Vergeltung mich zu lieben." (IV,4; Bl. PiJO „[...] durch mich müsset jhr erfrewet vnd erhalten werden. Ich bin Nocentius ewer Fürst. Alles was ihr betretet ist mein / ewer soll es bleiben / im falle ihr mich liebet." (I V,4; Bl. Oviijv.)

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Bey Warheit Chrysilla, ich werde ewren Reden nicht mehr können zuhören. Jhr müsset meinem Willen ein Genügen thun oder sterben! [...] Was Schmertzen? was rufft sie noch? Halt das Maul/oder ich will dir die Heillose Zunge abkürtzen. (Er wirfft sie vnter sich) (IV,4; Bl. Piijr"v)

Anders als Philida ist Chrysilla nicht nur die bedrohte Frau, die mit Argumenten der Sitte und des Anstandes gegen den gewalttätigen Mann vorzugehen versucht. Chrysilla argumentiert politisch: Könige vnd Fürsten / wie sie den Göttern an Gewalt vnnd Herrligkeit vor ändern Menschen gleichen; So sollen sie auch an Gaben der Tugend vnd Lobwürdigen Lebens jhnen sich ehnlich halten / vnd nicht die Fürstlichen Ehren (deren Tugend vnd Laster nimmer verschwiegen bleibt / sondern als ein stetes Exempel zu folgen oder zu meiden den Nachkommen wird anbefohlen) mit so schädlichem Nebel der Vntugendt vertuncklen. (IV,4; S. Pr)

Die Schäferin ist politische Warnerin, personifizierter Fürstenspiegel, Fürsprecherin eines rechten Regiments. Sie appelliert nicht an den männlichen Anstand des Fürsten, sondern erinnert ihn an seine Aufgaben als Herrscher: an seine Fürsorgepflicht gegenüber den Untertanen, seine Abhängigkeit von den Gesetzen, an die Notwendigkeit eines beispielhaften Verhaltens. Die Parallele zum Herrschaftskonzept des Justus Lipsius ist ganz offensichtlich, der im neunten Kapitel des zweiten Buches seiner Politico davon handelt, „daß die Unterthanen gemeiniglich gebessert werden / durch jhrer Oberherren guten Vorgang vnnd Exempel: Die dann zu gutem vnnd bösem Wandel viel vermögen."45 Im zehnten Kapitel desselben Buches spricht er zudem davon, „daß ein Regent dieselbe [Gerechtigkeit] auch gegen ihm selbst üben: Und so wohl als andere an die Gesatz gebunden sein müsse: Damit er nicht thue was er wolle."46 Chrysillas Forderung an den Herzog, sich den Gesetzen zu unterwerfen, und dessen Beharren auf einer unbedingten Souveränität: Wir seyn es Chrysilla, die Gesetze bawen vnd brechen / vnd dennoch in beyden theilen vnsern Willen vnd Beliebunge vns vorbehalten. Sollen wir nicht Macht vnd Gewalt zu thun vnd zu lassen haben? (IV.4; S. Pr'v)

zeigt, daß Scher mit dem Vergewaltigungsversuch an Chrysilla durch Nocentius mit Hilfe des moralischen einen politischen Konflikt um das absolute Machtstreben des Herrschers gestalten will. Geschickt verbindet der Autor die machtpolitische Argumentation des Herzogs mit dessen moralisch verwerflichem Handeln, so daß dem Rezipienten, sollte er noch über den Namen Nocentius hinweggesehen haben, die Stellungnahme Sehers gegen absolutistisches Machtstreben von Fürsten nun endgültig offenbar wird. Aber Scher geht nicht so weit, Nocentius als den geborenen Tyrannen, den rettungslosen Übeltäter darzustellen. Der Herzog ist das Opfer seiner falschen Ratgeber. Und dies in zweifacher Hinsicht. Er folgt seinen Trieben: 45

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Von der/ Unterweisung zum/ Weltlichen Regiment./ Oder von Bürgerlicher Lehr/ sechs Bücher/ Justi Lipsii [...] Anjetzo [...] transferirt und vbergesetzet Durch Melchior Haganaeum. Amberg 1599, IX. Cap., S. 45. Ebda, X. Cap., S. 47.

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Nacht vnd Tag habe ich meine Gedancken fliegen l vnd was weder Verstandes oder Tugend in mir ist / meine Rathgeber seyn lassen; (IV,2', S. Nvi v )

und hört auf die falschen Höflinge. Von dem treuen Honorius wendet er sich zu Damnipetus, der sich als intriganter Höfling weniger um die Vergrößerung der Macht seines Herren, als um seine eigene Teilhabe an dieser Macht bemüht, indem er versucht, mit Daphnis den Nachfolger des Königs politisch auszuschalten, Honorius zu einem Staatsstreich zu überreden, den Herzog zu ermorden, um schließlich selbst die Macht zu übernehmen.47 Erst die Verbindung des guten Rates Honorius und des Knaben Parthenophilus, der als Jungfrauenfreund der Schäferin den Weg zum Schloß ebnet, mit der Bewahrerin herrschaftlicher Tugenden Chrysilla ermöglicht es, Damnipetus zu überwinden. Sein Tod offenbart Nocentius seine Übeltaten. Er übergibt sein Reich Daphnis und Chrysilla und damit der Synthese aus Herrschaft und Tugend. Die Gründe für das Fehlverhalten des Herzogs werden freilich nicht so genau benannt, wie sie vorgeführt werden: mangelnde Vernunft, Herrschaft der Triebe und falsche politische Ratgeber. Nein, sie werden im Rückgriff auf die schäferliche Allegorie mit dem Fehlen der rechten Liebe angegeben.48 Scher hat in Anlehnung an die moralischen und politischen Prinzipien des Neustoizismus mit seinem Schäferspiel einen dramatischen Fürsten- und Untertanenspiegel gestaltet. Die in der Gattung der Prosaekloge, die Scher formal zitiert, übliche Identifizierung des Schäfers als gelehrten Dichter beziehungsweise dichtenden Gelehrten läßt annehmen, daß Scher hier eine Beteiligung des Geistesadels neben dem Geburtsadel,49 dargestellt durch Honorius und Damnipetus in den traditionellen Hofamtern als Kämmerer und Marschall, an der Macht im Staat fordert. Er stellt dies in der Verbindung zwischen der Schäferin Chrysilla und Daphnis dar. Gleichzeitig aber hält Scher an den althergebrachten Herrscherpflichten fest. Der Herzog und sein Hofstaat werden von Coridon als „die / vnter deren gnädigem Schirm wir sicher weiden" (I, 4; S. Cviv) vorgestellt. Das Verhältnis zwischen Volk und Herrscher will Scher ganz traditionell als von Fürsorge und Liebe geprägt sehen. Wenn Scher dieselbe Thematik in etwas veränderter Form im niederdeutschen Zwischenspiel vom Schafedieb auf heitere Weise wieder aufnimmt, verläßt er die holländische Vorlage nun vollständig, zumal er sich einer anderen Gattung zuwendet. Er greift dabei auf Anregungen von Rist und Lauremberg zurück, die niederdeutsche Bauernszenen in ihre Stücke eingearbeitet haben, um die Aussage der Haupthandlung zu exemplifizieren und zu stützen.50 Scher nutzt die Bauemszenen, um die Folgen einer 47 48 49

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Vgl. Neuerbaute Schäfferey, IV, 2; S. Nvi r -Nvi v ; S. Oijr. Ebda, V, 3; S. Vivv-Vvr. Vgl. Klaus Garber: Martin Opitz' Schäfferey von der Nymphe Hercinie. Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland. In: Martin Opitz. Studien zu Werk und Person. Hrsg. von Barbara Becker-Cantarino. Amsterdam 1982 (Daphnis 11,3), S. 547-603. Siehe Rists Perseus (1643) und Irenaromachia (1630) sowie Laurembergs panegyrische Festspiele auf die Hochzeit des dänischen Königs Christian mit Magdalena Sybille von Sachsen (1635). Vgl. auch H. Jellinghaus: Zwei plattdeutsche Possen von J. Lauremberg. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 3, 1877, S. 91-100; C. A. Nissen: Eine dritte plattdeutsche Posse von J. Lauremberg. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 11, 1885, S. 145150.

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Christiane Caemmerer

Machtausübung von der Art des Nocentius im gesellschaftlichen Bereich darzustellen und gleichzeitig eine fürsorgliche Herrschaftsausübung zu zeigen. Hier führt Scher die Folgen mangelnder Fürsorge des Herrschers am Beispiel Wulfferts vor, der, nachdem sein erster Herr den Hof versoffen hat, versucht, allein durch die Welt zu kommen, und List und Betrügerei als Mittel einsetzt. Abbild eines vorbildlichen Herrscher, der sich seiner Fürsorgepflicht deutlich bewußt ist, ist Junker Aßmus, der, wenn auch unter Murren, bereit ist, nicht nur für sein Personal zu sorgen, sondern auch für den von diesem verursachten Schaden aufzukommen. Mit Daphnis und Chrysilla verwendet Scher die bukolische Gattung, genauer das holländische Schäferspiel Chris en Philida von Jan Harmens Krul, um zu den staatspolitischen Ideen seiner Zeit Stellung zu nehmen. Er lehnt den über dem Gesetz stehenden absolutistischen Alleinherrscher ab und führt am Beispiel des Nocentius die Gefahren unkontrollierter Machtausübung vor. Gleichzeitig fordert er die Teilhabe bisher an der Macht nicht partizipierender Gruppen an der Herrschaft. Scher zeichnet in Schäferspiel und Zwischenspiel das Bild einer an altständischen Rechten und Pflichten orientierten Herrschaft unter Beteiligung des gelehrten Bürgertums, wie er es sich als ideale Herrschaftsform vorzustellen scheint. Dabei geht er weit über Kruls moralische Argumentationen hinaus.

V. Fazit Abschließend bleibt zu fragen, was die Einbeziehung der Quelle an Informationen gibt, die für den Editionstext relevant sind. Auf einige Punkte sei hier aufmerksam gemacht. Für das Verhältnis der beiden Literaturen - der niederländischen und der deutschen ist der Umstand wichtig, daß niederländische Stücke nie nur übersetzt wurden, sondern immer bearbeitet. Zu dem gewinnt die Annahme, der deutsche Text orientiere sich nicht nur in der moralischen, sondern auch in der politischen Dimension an Lipsius und nicht an irgend einem anderen Staatstheoretiker, durch die niederländische Quelle an Evidenz. Außerdem wird die Frage nach der Textsorte durch die Quelle präzisiert. Scher nennt seinen Text Schäferey: eine Bezeichnung, die für Schäferspiele, Prosaeklogen und Schäferromane gleichermaßen üblich ist. Sein Text schließt sich durch die Prosa-Vers-Mischform formal an die eher epischen bukolischen Texte an. Auch die sehr langen dialogischen Redebeiträge der Personen und die ein episches Ambiente schaffenden, ausführlichen Regieanweisungen rücken den Text in die Nähe der epischen Gattungsvariante. Dies gilt gleichfalls für die behandelte Thematik: die akademische Auseinandersetzung mit den neuen politischen Strukturen, dargestellt als eine Diskussion zwischen Schäfern. Es gibt zudem keinen Nachweis über die Aufführung des Textes. Für die Beantwortung der sehr komplexen Frage nach der Ausdifferenzierung der bukolischen Literatur in traditionelle Gattungen ist die Auskunft darüber, daß dem Text eine dramatische Quelle zugrunde liegt, hier sicher hilfreich. Es könnte nämlich

Original und Übersetzung vs. Quelle und Text

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sein, daß die geringe formale und thematische Ausdifferenzierung der bukolischen Gattungen ein deutsches Phänomen ist. Einen Platz im Kommentar verdienen zudem die Gespräche zwischen dem König und Philida aus der niederländischen Vorlage, um noch detaillierter, als dies hier geschehen konnte, die spezifische Argumentation Sehers erkennen zu können. Dies gilt auch für die anderen Gespräche des Liebesdiskurses. Dabei wird sich zeigen, daß Scher sehr viel differenzierter argumentieren läßt als Krul und der Gesprächsebene eine größere Relevanz beimißt als der Handlung. Die offenherzige Argumentation mit Erotik und Sexualität, die ein Merkmal von Kruls Stücken ist, fehlt bei Scher aber weitgehend. Ich denke, daß die sorgfältig positionierte Einbeziehung der Quellen bei der Edition deutscher Schäferspiele die konzeptionelle Gemeinsamkeit der deutschsprachigen Texte deutlich werden läßt, gerade durch das Aufweisen der Differenzen und Gemeinsamkeiten mit den Quellen.

Jörg Jungmayr

Quelle und Text Die Legenda Maior des Raimund von Capua im kontextuellen Spannungsfeld

Die Frage nach dem Verhältnis von Text und Quelle ist immer auch die Frage nach der gattungstypischen Einordnung eines Textes und nach der gattungsspezifischen Verwendung von Textvorlagen. Bei näherem Betrachten zeigt sich, daß die Textsorte 'Legende', um die es hier geht, gar nicht so eindeutig zu fassen ist, wie es zunächst scheinen möchte. Vielmehr lassen sich unter diesem Gattungsbegriff eine Fülle von disparaten Groß- und Kleinformen subsumieren, die sich gegenüber anderen Erzählformen wie dem Märchen, der Sage, der Fabel, dem Exempel oder dem Roman oft nur schwer abgrenzen lassen.1 Wenn wir 'Legende' zunächst als eine Textsorte definieren, die von einem Heilsereignis berichtet, das für das ihm zugedachte Publikum von unmittelbar exemplarischer Bedeutung ist, so haben wir damit einen definitorischen Ansatz gewonnen, von dem aus wir den Fragen nach der Produktion, Distribution und Rezeption2 dieser Textsorte nachgehen können. Hans-Peter Ecker3 hat eine Reihe von Gattungskriterien entwickelt, mit deren Hilfe das Phänomen 'Legende' auch auf komparatistischer und interdisziplinärer Ebene differenzierter dargestellt werden kann, als es in der früheren Forschungsliteratur der Fall war. Einige seiner Kriterien seien kurz vorgestellt: 1. Das Dissonanz-Konsonanz-Kriterium: Etwas Wunderbares ereignet sich, das in völligem Widerspruch zu den Alltagserfahrungen steht - daraus entsteht die Dissonanz. 1

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Untersuchungen zu Form, Inhalt und Funktion der Legende u. a. bei Hans-Peter Ecker: Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung. Stuttgart, Weimar 1993; ders.: Auf neuen Wegen zu einer alten Gattung. Was kann eine kulturanthropologisch orientierte Legendentheorie leisten? In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 25, 1993, Heft 2, S. 8-29; Heinrich Günter: Die christliche Legende des Abendlandes. Heidelberg 1910 (Religionswiss. Bibliothek. 2); ders.: Psychologie der Legende. Studien zu einer wissenschaftlichen Heiligen-Geschichte. Freiburg i. Br. 1949; Felix Karlinger: Legendenforschung. Aufgaben und Ergebnisse. Darmstadt 1986; Claudia Maria Riehl: Kontinuität und Wandel von Erzählstrukturen. Am Beispiel der Legende. Göppingen 1993 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 576); Hellmut Rosenfeld: Legende. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Bd. 2. Berlin 1965, S. 13-31; ders.: Legende. 4., verb, und verm. Auflage Stuttgart 1982 (Sammlung Metzler. 9); Werner Williams-Krapp: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Tübingen 1986. Vgl. Ecker 1993, vgl. Anm. l, S. 15. Vgl. ebda, S. 22-27.

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Gleichzeitig mit diesem Ereignis wird eine Strategie geboten, die dem Rezipienten eine kognitive Orientierung und Einordnung des Geschehens in ein rational begründetes Ordnungsgefuge ermöglicht - die Konsonanz wird wiederhergestellt. (Im Gegensatz dazu steht etwa die Schauergeschichte, die mit dem Phänomen des Irrationalen das Defizitäre der Alltagswelt bloßstellt, sich aber einer rationalen Rückkoppelung verweigert.) Das Achsen-Kriterium ermöglicht es, den Legendentext in eine von der Spannung zwischen transzendenten und innerweltlichen Ordnungskriterien geprägten Kulturgemeinschaft einzuordnen. Mit Hilfe des Theologie-Kriteriums werden theologisch-dogmatische Grundlagen und Intentionen des Textes herausgearbeitet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Wirklichkeits- und Objektivitätskriterium: Zwischen dem als wahr angesehenen kanonistischen Text und der fiktionalen Erzählung beansprucht die Legende einen mittleren, d. h. vermittelnden Geltungsstatus: Einerseits soll der dargestellte Stoff zu verifizieren sein, andererseits läßt sich die Legende nicht ohne substantiellen Verlust auf ein bestimmtes systematisiertes Wissen reduzieren; das narrativ-fiktionale Element ist also unerläßlich für die Konstitution der Textsorte 'Legende'. Mit Hilfe der Kontrastierung von Wunderbarem und Alltäglichem leistet die Legende einen Beitrag zur theologisch abgesicherten Daseinsbewältigung und zur gesellschaftlichen Integration - hier haben wir es mit dem Unterstützungskriterium zu tun.

In diesen verkürzt vorgetragenen Thesen ist das Verhältnis von Quelle und Text bereits angesprochen: 'Quelle' meint in diesem Zusammenhang nicht nur den Traktat, den narrativen Text, die Archivalie, sondern ebenso die bildliche Vorlage: Wie sonst keine andere narrative Form entwickelt sich die Legende aus dem Bild heraus und führt wieder zum Bild hin. Wer nun, um zum eigentlichen Thema zu kommen, war Caterina von Siena, und warum hat Raimund von Capua (ca. 1330-1399) ihr Leben als so wichtig erachtet, daß er ihr seine Legenda Maior, seine Vita Catherinae Senensis, widmete?4 Zu Raimund von Capua vgl. Hyacinthe-Marie Cormier: Le bienheureux Raymund de Capoue. XXIIIe Maitre gonoral de l'ordre des Freres-Precheurs. 2e od. revue et augmented. Rome 1902; R. P. Mortier: Histoire des Maitres g£ne>aux de l'ordre des Freres Precheurs. Tom. 3. Paris 1906, S. 491686; Werner Williams-Krapp: Raimund von Capua. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. Bd. 7. Berlin, New York 1989, Sp. 982-986. - Zum literar. Werk Raimunds vgl. B. Raymundi Capuani XXIII magistri generalis ordo Predicatorum opuscula et litterae. [Hrsg. von H.-M. Cormier]. Romae 1899; Registrum litterarum Raymundi de Capua 1386-1399, Leonard! de Mansuetis 1474-1480. Hrsg. von Benedikt-Maria Reichert. Leipzig 1911 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens in Deutschland. 6); Registrum litterarum Raymundi de Vineis Capuani, magistri ordinis 1380-1399, edidit Thomas Kaeppeli. Romae 1937 (Monumenta ordinis fratrum Predicatorum historica. 19). - Zur Überlieferung der Legenda Maior vgl. Jörg Jungmayr: Die Legenda Maior (Vita Catherinae Senensis) des Raimund von Capua in Italien und Deutschland. In: Der Buchstab tödt -

Quelle und Text in der Legenda Maior des Raimund von Capua

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Die 1380 verstorbene Caterina von Siena5 ist eine der großen Frauengestalten des europäischen Mittelalters; was nur wenigen Vertreterinnen der Mittel- und Unterschicht ihrer Zeit gelang, wurde in ihrem Leben Ereignis: Sie trat aus dem 'gran cerchio dell' ombra', aus dem großen Schatten des Schweigens, heraus und sprach als Mystikerin und Verkündigerin Bevölkerungsschichten an, die mit ihren Fragen und Problemen in einem von apokalyptischen Umbrüchen geprägten Saeculum von der Amtskirche allein gelassen wurden und nur allzuleicht ins häretische Abseits gedrängt wurden.6 Das ist aber nur die eine Seite ihres Wirkens: Als Friedenspolitikerin7 versuchte sie, das von machtpolitischen Antagonismen zerrissene Italien zu einigen; ihrem Einfluß ist es mit zu verdanken, daß Papst Gregor XI. aus Avignon, dem babylonischen Exil der Kirche, nach Rom zurückkehrte. Gleichzeitig gehört Caterina von Siena zu den schärfsten Kritikern der in machtpolitischem Lavieren erstarrten römischen Kirche: Sie forderte eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern sowie - in der Konsequenz - einen Verzicht der Kirche auf ökonomische und politische Macht. Als der Dominikaner Raimund von Capua sich 1384,8 vier Jahre nach dem Tod Caterinas und sechs Jahre nach dem Ausbruch des großen abendländischen Schismas, daran machte, seine Legenda Maior niederzuschreiben, tat er das mit den folgenden Zielsetzungen: 1. Unterstützung des römischen Papstes Urban VI. und Bekämpfung des der Geist macht lebendig. Festschrift zum 60. Geb. von Hans-Gert Roloff von Freunden, Schülern und Kollegen. Bd. 1. Hrsg. von James Hardin und Jörg Jungmayr. Bern [u. a.] 1992, S. 223-259, bes. S. 230-234; Thomas Kaeppeli: Scriptores ordinis Praedicatorum medii aevi. Vol. 3. Romae 1980 [Raimund von Capua]. Aus der schier unübersehbaren Fülle an Literatur zu Caterina nur einige wenige Hinweise: Eine kommentierende Bibliographie liegt von Lina Zanini vor: Bibliografia analitica di Santa Caterina da Siena. Roma 1971. - Immer noch die wichtigste quellenkritische Untersuchung zu Caterina ist Robert Fawtier: Sainte Catherina de Sienne. Essai de critique des sources. I. Sources hagiographiques. II. Les ouvres de Sainte Catherina. Paris 1921-1930 (Bibliotheque des Ecoles francaises d'Athenes et de Rome. 121/135). Einen dritten Band veröffentlichte der französische Historiker nach seiner Gefangenschaft durch die Gestapo zus. mit Louis Canet unter dem Titel: La double experience de Catherina Benincasa. Paris 1948; vgl. hierzu Eugenio Dupro Theseider: La duplice esperienza di S. Caterina da Siena. In: Rivista storica italiana 62, 1950, S. 533-574; vgl. außerdem Annette Kolb: Caterina von Siena. In: Wege und Umwege. Leipzig 1914, S. 69-95, auch in: Blätter in den Wind. Frankfurt a. M. 1954, S. 77-86; Katherina von Siena. Text: Walter Nigg. Bilder: Helmuth Nils Loose. Freiburg, Basel, Wien 1980; Jörg Jungmayr: Caterina von Siena. In: Mein Herz schmilzt wie Eis am Feuer. Die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters in Porträts. Hrsg. von Johannes Thiele. Stuttgart 1988 (Wege der Mystik.), S. 253-268; Claudio Leonardi: Katharina, die Mystikerin. In: Heloise und ihre Schwestern. Acht Frauenporträts aus dem Mittelalter. Hrsg. von Ferruccio Bertini. München 1991, S. 222-251. Vgl. hierzu Jörg Jungmayr: Caterina von Siena. Mystische Erkenntnis und politischer Auftrag in den Traditionen der mittelalterlichen Laienbewegung. In: Eine Höhe, über die nichts geht. Spezielle Glaubenserfahrung in der Frauenmystik? Hrsg. von Margot Schmidt und Dieter R. Bauer. Stuttgart, Bad Cannstatt 1986 (Mystik in Geschichte und Gegenwart. Abt. 1,4), S. 163-215. Vgl. Eleonore Freiin von Seckendorff: Die kirchenpolitische Tätigkeit der hl. Katharina von Siena unter Papst Gregor XI. (1371-1378). Ein Versuch zur Datierung ihrer Briefe. Berlin, Leipzig 1917 (Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte. 64); hierzu ergänzend Franz Bliemetzrieder: Raimund von Capua und Caterina von Siena zu Beginn des großen abendländischen Schismas. In: Historisches Jahrbuch 30, 1909, S. 231-273. Zur Entstehungsgeschichte der Legenda Maior vgl. Jungmayr 1992, vgl. Anm. 4, S. 225f.

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französischen Gegenpapstes Clemens VII., 2. Reform des Dominikanerordens, 3. Wiederherstellung der unter dem Schisma in Mitleidenschaft gezogenen Ordensdisziplin und 4. mit Hilfe der angestrebten Kanonisierung Caterinas - diese erfolgte schließlich 1461 durch Enea Silvio Piccolomini, Papst Pius II., - die endgültige Anerkennung des dominikanischen Laienordens, dessen prominentestes Mitglied Caterina gewesen war.9 Leben und Wirken Caterinas sind, was für eine Heilige durchaus nicht selbstverständlich ist, außerordentlich gut dokumentiert. Die zeitgenössischen Quellen, auf die Raimund von Capua zurückgreifen konnte und mit deren Hilfe sich auch der Prozeß der Distribution und Rezeption der Legenda Maior dokumentieren läßt, haben sich zum großen Teil erhalten und liegen auch in modernen Editionen vor. Besonders zwei dieser Quellen, das Supplement zur Legenda Maior10 und der sogenannte Processo Castellawo,n eine Sammlung von Aussagen von Zeitgenossen zu Leben und Werk Caterinas, zeigen deutlich, daß die Verbreitung der Legenda Maior in Europa nicht dem Zufall überlassen wurde, sondern ein genau geplantes, generalstabsmäßig durchgeführtes Unterfangen war.12 Raimund von Capua selbst reiste mit einem Manuskript letzter Hand zum Dominikanerkonvent nach Nürnberg.13 Dort wurde nach seinem Tod 1399 dann die Legenda Maior ins Frühneuhochdeutsche übersetzt. Diese Übersetzung, der sogenannte Geistliche Rosengarten, nicht die einzige, aber die wichtigste deutsche Caterinenlegende,14 wurde rasch populär; 1515 erschien sie in Augsburg im Druck,15 dann beendete die Reformation abrupt ihre weitere Verbreitung. Erst im Zuge der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges wurde die Legenda Maior noch einmal ins Deutsche übersetzt.16 9 10

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Vgl. Jungmayr 1986, vgl. Anm. 6, S. 175f. Thomas Antonii de Senis (Caffarini): Libellus de Supplemente. Primum ediderunt luliana Cavallini, Imelda Foralosso. Roma 1874 (Testi Cateriniani. 3). II Processo Castellano. A cura di M. H. Laurent con appendice di document! sul culto e la canonizzazione di S. Caterina da Siena. Milano 1942 (Fontes vitae S. Catherinae Senensis historici. 9). Vgl. Jungmayr 1992, vgl. Anm. 4, S. 226. Eine unmittelbar auf dieses Manuskript zurückgehende Handschrift hat sich in der Stadtbibliothek Nürnberg erhalten: Cent. IV, 75, Bl. 97ra-198vb (1. Hälfte 15. Jahrhundert; Provenienz: Predigerkloster Nürnberg; Schreiber: Frater Georg). Cent. IV, 75 weist gegenüber anderen Handschriften der Legenda Maior Charakteristika auf, an Hand derer sich zeigen läßt, daß der Text von Venedig aus seinen Weg über die Alpen nach Nürnberg genommen hat. Nürnberg Cent. IV, 14, Bl. 205ra-308ra (um 1450; Provenienz: Dominikanerinnenkloster St. Katherina in Nürnberg). Inc.: „Diß puch haisset ein gaistlicher Rosengartt vnd ist von sant katherein die do haisset katherina von den hohen synnen. Die do gewesen ist ein hymelischer mensche vnd ein jrdischer engel. Das hatt gemacht vnde geschriben der erwirdig General prediger ordens prüder Reymunt der do tot ist vnde ligt begraben zu Nuremberg jn der prediger Closter." - Vom Geistlichen Rosengarten sind insgesamt 14 Handschriften bekannt. Vgl. dazu Jungmayr 1992, vgl. Anm. 4, S. 234-240. Hystori vnd wunderbarlich legend Katharine von Senis/ der hailigen junckfrawen/ mit sampt zwayen predigen/ die ain von dieser hailigen Katarina/ die ander von sant Vincentio prediger ordens etc. [Am Ende:] Augspurg/ durch Maister Hannsen Otmar/ [...] Jn Verlegung des [...] Johann Rynman von öringen/ [...] Tausent/ Fünffhundert/ vnd ftlnnftzehen. etc. Die von Hans Gaßner angefertigte Übertragung Höchst Wunderbarliches Leben/ vnd aller seligstes absterben/ [...] Katharinae von Siena, die Augsburg 1619 und Köln 1665 im Druck erschien, geht auf die italienische Version der Legenda Maior zurück, die der Kontroverstheologe Ambrosius Ca-

Quelle und Text in der Legenda Maior des Raimund von Capua

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Zur Aufgabe einer Edition des lateinischen Textes der Legenda Maior und seiner frühneuhochdeutschen Übersetzung17 gehört es auch, mit Hilfe des Kommentarteils das Spannungsfeld von archivalischen und literarischen Quellen einerseits und der Legenda Maior andererseits zu dokumentieren. Nicht alle Quellen fügen sich nahtlos in das von Raimund entworfene und propagierte Bild Caterinas ein, es gibt Quellen, die diesem Bild widersprechen, die es modifizieren und differenzieren. Dazu gehört neben anderem auch das Oeuvre Caterinas selbst: ihr mystisches Hauptwerk, der Libro delta divina dottrina,1* und die 340 Briefe an die Zeitgenossen.19 An drei Beispielen soll nun das Verhältnis 'Quelle - Text' näher erläutert werden: Im ersten Beispiel geht es um das Geburtsdatum Caterinas. Wir wissen zwar genau, wann sie gestorben ist, ihr Geburtsdatum läßt sich aber nur indirekt erschließen. Raimund von Capua berichtet uns, daß Caterina 33 Jahre alt geworden20 und am 29. April 1380 verstorben sei;21 sie muß also 1347 geboren sein. Diese Altersangabe bestätigen auch zwei von Raimund unabhängige Quellen: In dem um das Jahr 1382 entstandenen

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tharinus 1524 in Siena hatte erscheinen lassen (Vita miraculosa della seraphica S. Catherina da Siena). Dieser Edition werden die beiden Nürnberger Handschriften Cent. IV, 75, Bl. 97ra-198vb (vgl. Anm. 13) und Cent. IV, 14, Bl. 205ra-308ra (vgl. Anm. 14) zugrunde gelegt. Für den lateinischen Text werden zudem die drei 'codices veteres' herangezogen: 1. XIV, 24, Bl. 18r-172v (Rom, Generalarchiv der Dominikaner. Olim X, 3002. „II Romano", um 1398, Schreiber: Tommaso Caffarini). 2. Ad. IX, 38, Bl. lr-173r (Mailand, B. Braidense. „II Braidense", Ende 14. Jahrhundert, Kopie eines Manuskripts aus dem Besitz Stefano Maconis). 3. L.ms. lat. 10.151, Bl. lra-93vb (Rom, B. Vaticana. Ende 14. Jahrhundert. Mit Korrekturen und Anmerkungen Stefano Maconis versehen). - Eine wissenschaftlichen Standards entsprechende Edition existiert bis jetzt weder von der Legenda Maior (die Ausgabe in den Acta Sanctorum, April, Bd. 3, S. 862-967, ist unzulänglich) noch vom Geistlichen Rosengarten, dieser wurde bisher noch nicht ediert. Libro della divina dottrina, volgarmente detto dialogo della divina providenza. A cura di Matilde Fiorilli. 2nda ed. riveduta da Santino Caramella. Bari 1928 (Scrittori d'Italia. 34); deutsche Übersetzung unter dem Titel: Gespräch von Gottes Vorsehung. Eingeleitet von Ellen Sommer-von Seckendorff und Hans Urs von Balthasar. 3. Aufl. Einsiedeln 1985 (Lectio Spiritualis. 8). Die kritische Briefausgabe ist leider über einen ersten Band nicht hinausgekommen: Epistolario di Santa Caterina. A cura di Eugenio Dupre" Theseider. Vol. 1. Roma 1940 (Fonti per la storia d'Italia. Epistolari. Secolo XIV). - Ansonsten muß auf die sechsbändige Ausgabe von Niccolö Tommaseo: Le lettere di S. Caterina da Siena. 2nda ed. Florenz 1939/40 bzw. auf das Epistolario. Introduzione e note a cura di D. Umberto Meattini. Roma 1979 (Collana patristica e del pensiero cristiano.) zurückgegriffen werden. - Von den deutschen Brieftibersetzungen seien erwähnt: Die Briefe der hl. Catharina von Siena. Hrsg. und eingeleitet von Annette Kolb. In neuer Ausg. Berlin [1919]; Katharina von Siena. Engagiert aus Glauben. Politische Briefe. Vorw. und übers, von Ferdinand Strobel. Braunschweig 1979 (Klassiker der Meditation.); Caterina von Siena. Hrsg., eingel. und übers, von Louise Gnädinger. Olten/Freiburg i.Br. 1980 (Gotteserfahrung und Weg in die Welt). Legenda Maior II, 6, 184: „Sicut enim Maria Magdalena trigintatribus annis stetit in rupe absque corporeo cibo in contemplacione assidua, [...] sie hec sacra uirgo ab illo tempore, quo hec acciderunt, usque ad trigesimum tercium annum etatis, in quo ex hac luce migrauit, tarn feruenter contemplacioni vacauit altissimi" (Nürnberg, StB, Cent. IV, 75, Bl. 143*4-3). Legenda Maior III, 4, 367: „Et hoc dicto sancta illa anima, sicut diu desiderauerat, carne soluta est et suo sponso, quem tarn ineffabiliter dilexerat, indiuisibili et perpetua unione coniuncta Anno domini m° Trecentesimo octuagesimo die xxviiij mensis aprilis, que fuit dies dominica modicum ante horam terciarum" (Nürnberg, StB, Cent. IV, 75, Bl. 183va/vb).

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Sermo in reverentiam beatae Katherinae de Senis des Augustinereremiten William Flete22 heißt es: „Quasi trigesimo tertio aetatis suae anno mortem prodidit et vitam invenit."23 (Man beachte den dialektischen Kunstgriff, anstelle des irdischen Lebens den Tod und an Stelle des Tods das ewige Leben zu setzen: „Mortem prodidit et vitam invenit.") Des weiteren liefern uns die Miracoli di Caterina2* zwei Zeitangaben, aus denen wir das Geburtsdatum Caterinas erschließen können: 1370 war sie 23,25 1374 27 Jahre26 alt. Auch den Miracoli zufolge muß sie also 1347 geboren sein. Nun finden sich in den Miracoli noch weitere Zeitangaben, die uns beim Festlegen des Geburtsdatums weiterhelfen könnten: Caterina war ungefähr sieben Jahre alt, als ihre Schwester Bonaventura starb,27 und ungefähr 14 Jahre beim Tod ihres Vaters Jakob.28 Aus den Totenlisten von San Domenico in Siena läßt sich das Todesdatum der beiden ermitteln: Die Schwester starb 1362,29 der Vater 1368;30 demzufolge wäre aber Caterina erst 1355 geboren, ein Datum, das im Widerspruch zu den erstgenannten Zeitangaben steht. Noch verwirrender wird die ganze Angelegenheit, wenn man eine mit dem Datum 17. August 1352 versehene Liste der Biblioteca Comunale in Siena31 konsultiert, auf der die Namen der Mitglieder der Terziarinnen in Siena aufgeführt sind. Auch Caterina war, wie bereits erwähnt, Mitglied dieses Laienordens. Unter anderem findet sich auf besagter Liste der

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William Flete oder Fra Guglielmo d'Inghilterra. Geb. in England, gest. ca. 1390 in Lecceto bei Siena. Zu ihm: M. Benedict Hackett: Guillaume Flete. In: Dictionnaire de spirituality ascetique e mystique, doctrine e histoire. Tom. 6. Paris 1967, Sp. 1204-1208; außerdem: Fawtier I 1921, vgl. Anm. 5, S. 53-81, bes. S. 53-58. Der Sermo wurde nach der Handschrift XIV, 24 des Generalarchivs der Dominikaner in Rom (s. Anm. 17) ediert von Robert Fawtier: Catheriniana. II. Une logende inödite da sainte Catherina de Sienne. In: Melanges d'archeOlogie et d'histoire 34, 1914, S. 34-75. Bei den zwischen Mai und Oktober 1374 entstandenen Miracoli di Caterina di Anonimo Florentine handelt es sich um einen von der Legenda Maior unabhängigen Legendentypus, der sich durch eine naive, unmittelbare Beobachtungsgabe auszeichnet. Die Miracoli liegen in der folgender Edition vor: I miracoli di Caterina di lacopo da Siena di Anonimo Fiorentino a cura di Francesco Valli. Firenze 1936 (Fontes vitae S. Catharinae Senensis historici. 4). Miracoli, Kap. 8: „E essendo giä d'etade di anni o in quel tomo, [...] vennele voglia di lasciare affatto quello poco del cibo corporate [...] e cosi fece, cominciando nella fine dell'anno del MCCCLXX, o in quel tomo" (Edition Valli, vgl. Anm. 24, S. 8). Miracoli, Kap. l: Venne a Firenze del mese di maggio anni MCCCLXX1V, [...] una vestita dellepinzochere di santo Domenico, ehe ä nome Caterina di lacopo da Siena, la quäle e d'etade di venzette anni (Edition Valli, vgl. Anm. 24, S. 1). Miracoli, Kap. 4: „Poi da ivi [bezieht sich auf das unmittelbar vorher geschilderte Ereignis, bei dem Caterina 7 Jahre alt war: „Essendo ella in etä di sette anni"] a certo tempo mori la sopra detta sua sirocchia" [Bonaventura] (Edition Valli, vgl. Anm. 24, S. 4 bzw. 2). Miracoli, Kap. 5: „E cosi crescendo venne alia etade de' quindici anni, e essendo giä morto il padre" (Edition Valli, vgl. Anm. 24, S. 5). „Domina Bonaventura filia lacobi tintoris de Fönte in Brando uxor Nicolai Tegghaccy sepulta est die augusti" [1362]. I Necrologi di San Domenico in Camporegio (Epoca Cateriniana) a cura di M.-H. Laurent. Firenze 1937 (Fontes vitae S. Catharinae Senensis historici. 20), Nr. 1065. „lacobus Benencase tinctor - et iste fuit pater illius thesauri pretiosissimi beate atque gloriose Katerine de Senis - sepultus est die XXII augusti 1368." Necrologi, vgl. Anm. 29, Nr. 1458. Siena, Biblioteca Comunale, Ms. T. II. 8. Ediert wurde diese Liste in den Fontes vitae S. Catharinae Senensis historici l (Documenti a cura di M.-H. Laurent). Firenze 1936, S. 22-24.

Quelle und Text in der Legenda Maior des Raimund von Capua

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folgende Eintrag: „Katerina lacobi benencase."32 Da es aber mehr als unwahrscheinlich ist, daß ein 1347 geborenes Mädchen im Alter von fünf Jahren in den Terziarinnenorden eingetreten ist, müßte man für Caterina ein Geburtsdatum vor 1347 annehmen.33 Was für einen Sinn macht es denn überhaupt, so mag man sich fragen, das Geburtsdatum Caterinas genau festlegen zu wollen? Für Raimund von Capua jedenfalls war es von essentieller Bedeutung, daß Caterina im Alter von 33 Jahren starb. Auch Christus war der mittelalterlichen Überlieferung zufolge 33 Jahre alt geworden, und so konnte die Zahl Drei zum symbolischen und kompositorischen Baustein der Legenda Maior werden: Drei Stadien sind es, die der Lehre Caterinas zufolge der Mensch bis zu seiner Vollendung durchläuft, folglich gliederte Raimund seine Legenda in drei Teile; die Zahl 33 setzt sich aus zwei Ziffern zusammen, demzufolge stellte er der Vita einen zweifachen Prolog voraus; aus 3 und 3 mal zwei, nämlich aus 12 Kapiteln, bestehen Teil eins und zwei der Vita, während der dritte, den 'stato perfetissimo' repräsentierende Teil sich auf 3 und 3, also 6 Kapitel beschränken kann. Die Gesamtzahl der Kapitel beläuft sich auf 30, also 3 mal 10, und die Zahl 3 ist auch konstitutiv für die Binnengliederung eines jeden Kapitels, das sich in ein 'exordium', eine 'narratio/argumentatio' und eine 'peroratio' gliedert. Das dreiteilige Gliederungsprinzip läßt sich auch noch in der Feinstruktur der einzelnen Kapitel nachweisen. Wäre nun Caterina nicht 1347 geboren worden, stände Raimunds kompositorisches Prinzip auf tönernen Füßen, er müßte sich vorwerfen lassen, um einer artifiziellen Gestaltung willen Lebensdaten falsifiziert zu haben.34 In der Forschungsliteratur ist das Problem des Geburtsdatums immer wieder diskutiert worden, die opinio communis heute ist, daß Caterina tatsächlich 1347 geboren wurde.35 Es gibt dafür eine Reihe von überzeugenden Begründungen, auf eine soll hier eingegangen werden: Daß die Liste der Terziarinnen 1352 angelegt wurde, bedeutet nicht, daß alle darin aufgeführten Frauen in diesem Jahr in den Orden eingetreten sind; unterschiedliche Hände haben die Liste weitergeführt, Neueingänge vermerkt und die Namen von Verstorbenen ausgestrichen beziehungsweise gekennzeichnet. Daß der Name Caterinas auf der Liste von 1352 zu finden ist, bedeutet also nicht, daß sie in diesem Jahr auch in den Verband der Laienschwestern aufgenommen wurde. Auch die widersprüchlichen Zeitangaben in den Miracoli lassen sich bei näherem Hinsehen erklären: Im Jahr 1374, als Caterina 27 Jahre alt war, lernte der Verfasser der Miracoli, ein anonymer Florentiner, Caterina persönlich in Florenz kennen, wie er eigens vermerkt: Dieses Datum hat sich dem Autor eingeprägt, während er über Sterbedaten von

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Fontes, vgl. Anm. 31, S. 24. R. Fawtier hat im ersten Band seiner Studie (Kap. 9, S. 131-150, vgl. Anm. 5) anhand sämtlicher ihm zur Verfügung stehenden Quellen die Frage des Geburtsdatums Caterinas diskutiert und kam zu dem Schluß, sie sei gegen 1337 geboren. Vgl. Fawtier I 1921, vgl. Anm. 5, S. 150: „Raymond de Capoue est excusable par son dosir d'otablir une conformite entre la sainte et le Christ, mais il semble bien difficile d'admettre que son erreur ait inconsciente." Die Hypothesen von Fawtier wurden überzeugend widerlegt von E. Jordan: La date de naissance de sainte Catherine de Sienne. In: Analecta Bollandiana 40, 1922, S. 365-411.

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Personen aus Siena und deren chronologische Einordnung durchaus keine präzise Vorstellung haben mußte. Konnte am ersten Beispiel gezeigt werden, wie sich mit Hilfe der Synopse von verschiedenen Quellen ein vom Text überliefertes Datum verifizieren läßt, so geht es im zweiten Beispiel darum, mit Hilfe von Quellen einem Ereignis aus dem Leben Caterinas auf die Spur zu kommen, das die Legenda Maior und alle auf ihr basierenden Texte wohlweislich unterschlagen. Hauptquelle sind wieder die Miracoli, die folgendermaßen einsetzen: Venne a Firenze del mese maggio anni mille trecento settanta quarto, quandofu il capitolo deifrati Predicatori, per comandamento del maestro dell'ordine una vestita delle pinzochere s i santo Domenico, ehe a nome Caterina di lacopo da Siena, la quäle e d'etade di venzette anni, quäle si reputa ehe sia santa serva di Z)/o.36

Caterina wird vor das Generalkapitel der Dominikaner in Florenz zitiert, sie erscheint daselbst in der Begleitung von drei Mitschwestern und muß sich für ihre ungewöhnliche Lebensweise - sie hatte zu dieser Zeit bereits Frauen und Männer aus unterschiedlichen Schichten um sich geschart und ihre ersten politischen Briefe geschrieben - verantworten. Mit anderen Worten: Es drohte ihr der Ketzerprozeß durch die 'Domini canes'. (Auch Caterinas Leben war also eine Wanderung auf sehr schmalem Grat zwischen Heiligenverehrung und Ketzerverbrennung!) Daß dieses skandalöse Ereignis in der Legenda Maior, die nicht müde wird, Caterina als gehorsame Tochter der Kirche darzustellen, keinen Platz finden durfte, ist leicht nachzuvollziehen. Wenn Raimund aber immer wieder glaubt, die Rechtgläubigkeit Caterinas betonen zu müssen, gegen angebliche 'detractores' und 'calumniatores' ins Feld zieht, dann zeigt er damit deutlich, daß Caterinas Position keineswegs so unangefochten war, wie er es seinen Lesern vorspielen möchte. Im Gegenteil: Mir scheinen die permanenten Beteuerungen und Ausfalle gegen namentlich nie genannte Gegner ein sehr deutlicher Reflex auf das unterschlagene Ereignis von 1374 zu sein. Es verwundert im übrigen nicht, daß Raimund unmittelbar im Anschluß an die Tagung des Generalkapitels in Florenz zum geistlichen Mentor Caterinas bestellt und als Lektor nach Siena beordert wurde. An Versuchen, den Bericht der Miracoli als unglaubwürdig darzustellen, mangelt es nicht, aber wir besitzen noch eine zweite, von den Miracoli unabhängige Quelle, die uns das Ereignis bestätigt. Es handelt sich dabei um die zwar sehr späte, aber äußerst zuverlässige Cronica annalistica von Santa Maria Novella in Florenz, der Kirche, in der das Generalkapitel 1374 tagte. Diese aus dem 18. Jahrhundert stammende Chronik erzählt das Ereignis ausführlicher als die sehr knapp gehaltenen Miracoli und geht auch auf die Gründe ein, deretwegen sich Caterina zu verantworten hatte: Anno 1374. Capitolo generate di tutto l'ordine in Firenze ed e il quinto celebratosi in Santa Maria Novella. Fufatta lafimzione nel capitolo de' Guidalotti [Spanische Kapelle] con lo intervento del generate maestro Elia Tolosano. [...] Non mancavano in quel tempo malviventi ehe si affaticavano di 36

Miracoli, Edition Valli, vgl. Anm. 24, S. 1-2.

Quelle und Text in der Legenda Maior des Raimund von Capua

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screditare la santita di S. Caterina da Siena con maligni ritrovati ehe dettava loro la invidia e l Odio ehe portavano alle opere di Dia; onde nel presente capitolofu chiamata detta santa a render conto di se e di sua condotta nella via di D/o.37

Es ist also der Neid und Haß gegenüber dem Ungewöhnlichen, das die „malviventi" veranlaßt hat, Caterina zu denunzieren. Die Chronik nennt auch den Namen ihres Beichtvaters aus Siena, Angiolo Adimari, der sie vor den Ordensoberen verteidigte und der dann durch Raimund von Capua ersetzt wurde. Obwohl Adimari Dominikaner wie Raimund und sein unmittelbarer Vorgänger bei Caterina war, findet sich sein Name in der Legenda Maior kein einziges Mal genannt. Bleibt noch zu erwähnen übrig, daß die Akten des Generalkapitels in Florenz von 1374, die Anklage und Freispruch Caterinas hätten festhalten können, verloren gegangen sind.38 In einem letzten Beispiel soll nun auf das Verhältnis 'Bild - Wort', von dem eingangs die Rede war, eingegangen werden: Im ersten Teil der Legenda Maior39 schildert Raimund eine Vision, durch die Caterina zum Eintritt in den Terziarinnenorden bewegt wurde: Mehrere Heilige, darunter Dominikus, erscheinen ihr. Caterina fühlt sich besonders zu Dominikus hingezogen, der eine Lilie und den Habit der Terziarinnen in Händen hält, und entscheidet sich für ihn. Diese Vision ist auch in anderen Quellen überliefert. Wieder sind es die Miracoli, die das Erlebnis auf eine ganz eigenwillige Art erzählen: Caterina habe sich an einem Ort außerhalb der Welt - das erinnert an die Göttliche Komödie - befunden. Angesichts einer scheinbar sinnlos und ohne Ziel hinund hereilenden Menschenmenge sei sie von großer Angst befallen worden und habe darauf eine Stimme gehört: Wenn sie durch die Menge hindurchgehen wolle, müsse sie sich unter einem weißen Gegenstand, d. h. dem Terziarinnenhabit, verbergen: E ella stando cosi tutta spaventata epaurosa, si udi una voce ehe le disse: „Se tu vuoglipoterepassara tutta questa genta, e' ti conviene nascondere sotto una cosa bianca. " E levando ella gli occhi verso quella voce, vidde santo Domenico in quella forma ehe veduta l'avea dipinto nella chiesa, H quölle le disse: Vieni i ricevi l'abito mio.^

Das psychologisch aufschlußreiche Moment dieser Erzählung liegt darin, daß sie zu erkennen gibt, wie eine Vision zustande kommt: Aus dem imaginativen Umsetzen einer bildlichen Vorgabe kommt ein als real wahrgenommenes mystisches Ereignis zustande:

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Miracoli, Edition Valli, vgl. Anm. 24, S. XVII. Außerdem abgedruckt bei Fawtier I 1921, vgl. Anm. 5, S. 160. Der Verfasser der heute im Pfarrarchiv von Santa Maria Novella in Florenz aufbewahrten Chronik ist Borghigiani. Es gibt noch eine weitere, von Borghigiani unabhängige Quelle aus dem 18. Jahrhundert, die die Zitierung Caterinas vor das Generalkapitel bestätigt: Domenico Sandrini: Breve notizia di quindici sante e buone donne dell'abito della penitenza di san Domenico, dipendenti dal Convento di Santa Maria Novella di Firenze. Florenz, Biblioteca Nazionale, Ms. Conv. Soppr. G. 6766 (Miscellanea di notizie relative ai PP. Predicatori), Bl. 187r-187v. Vgl. Fawtier I 1921, vgl. Anm. 5, S. 160, Anm. 3. Legenda Maior, I, 53. Miracoli, Kap. 9, Edition Valli, vgl. Anm. 24, S. 7-8.

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„Vidde santo Domenico in quella forma ehe veduta l'avea dipinto nella chiesa." (Sie sah Dominikus, wie sie ihn gemalt in der Kirche gesehen hatte.) Der toskanische Maler Neroccio di Landi hat Ende des 15. Jahrhunderts ein Tafelbild gemalt, auf dem das junge Mädchen Caterina knieend dargestellt ist. Über ihr erscheinen in einer Mandorla Franziskus, Benedikt und Dominikus; Dominikus hält eine Lilie und den weißen Habit der Terziarinnen in Händen.41 Aus Bildern werden Worte: Die Legende geht vom Bild aus, sie kehrt wieder zum Bild zurück.

41

George Kaftal: Saints in Italian art. Iconography of the saints in Tuscan painting. Florence 1952, S. 235, Nr. 63(1).

Wolfgang Albrecht

Zeitgenössische Alpen- und Italienbeschreibungen in Goethes Reise-Tagebuch 1786 Probleme ihrer Berücksichtigung für die Textkonstitution und Kommentierung innerhalb einer neuen historisch-kritischen Ausgabe der Tagebücher Goethes1

Bei der Stiftung Weimarer Klassik entsteht eine neue historisch-kritische Gesamtausgabe der Goetheschen Tagebücher. Sie ist im vorigen Jahr mit einem - an zahlreiche Fachkollegen versandten - Probeband, der auch ausführlich über die Arbeitsgrundsätze informiert, vorgestellt worden.2 Ich denke daher, die allgemeinen und grundlegenden Editionsprinzipien hier übergehen und mich auf einige der Konferenzthematik zugehörige Fragen konzentrieren zu können. Diese Probleme möchte ich von der Spezifik eines größeren Textkomplexes her entwickeln: des Reise-Tagebuchs 1786, durch die Weimarer Ausgabe unter dem zwar präziseren, doch fiktiven Titel Tagebuch der Italiänischen Reise für Frau von Stein bekannt.3 Es besteht - so sei kurz erinnert - aus mehreren Teilen, bezeichnet „erstes Stück" bis „fünftes Stück", und reicht bis zur Ankunft in Rom. Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit des Reise-Tagebuchs gegenüber der einschneidenden Bearbeitung im ersten Teil der sogenannten Italiänischen Reise (recte: Aus meinem Leben. Zweyter Abtheilung Erster Theil, 1816) sind außerhalb des Editionsbereiches seltsamerweise noch längst nicht genügend erkannt und anerkannt. Kontinuierlich berücksichtigt wird der ursprüngliche Text - wenngleich nach wie vor nicht unter seinem Originaltitel - einzig in Editionen; und zwar in den neueren größeren Goethe-Editionen, von der Berliner Ausgabe über die Münchner bis zur Frankfurter (dort gar doppelt abgedruckt, sowohl in der Werk-Abteilung als auch in der //. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche).4 Diesbezüglich hat die editorische

Plenarvortrag. Der Vortragscharakter ist für den Druck unverändert beibehalten, der Beitrag lediglich um Anmerkungen ergänzt worden. Johann Wolfgang Goethe: Tagebücher. 1. Januar bis 15. November 1777. Reise-Tagebuch 1786 erstes Stück. Text und Kommentar. Bearbeitet von Wolfgang Albrecht und Andreas Döhler. Probeedition. Stuttgart, Weimar 1995. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abth. 3, Bd. l: Tagebücher 1775-1787. Weimar 1887, S. 143-331. (Fortan zitiert als WA.) Goethe: Berliner Ausgabe. [Abt. 1:] Poetische Werke. Bd. 14. Berlin 1961, S. 7-153; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 3/1. München 1990, S. 7-158; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Ge-

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Aufarbeitung einiges der übrigen Goethe-Forschung voraus, wo das Reise-Tagebuch noch immer zumeist von der Italiänischen Reise her betrachtet wird5 - wenn es mit seinen Eigen- und Besonderheiten überhaupt in den Blick kommt.6 Es gehört zu einer Sonderform zwischen Reisebericht und Tagebuch, die generell wenig erforscht ist.7 Vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil es sich um eine relativ selten begegnende Form handelt, da diese unterwegs geführten Diarien von den Autoren gewöhnlich als Rohrnanuskripte und Quellenmaterial benutzt und nach der Publikation des ausgearbeiteten Reiseberichts vernichtet wurden. Unbestreitbar ist die Textkonstitution von Goethes Reise-Tagebuch 1786 seit dem Erstdruck (in den Schriften der Goethe-Gesellschaft, 1886)8 bis zu den beiden jüngsten Editionen - sieht man von der anhaltenden und gewiß nicht peripheren Problematik der orthographischen Modernisierung9 ab - verbessert worden. Insofern vor allem, als die Normierungen der Weimarer Ausgabe bei der Namensschreibung rückgängig gemacht und einige Verlesungen behoben wurden. Noch offenkundiger hat man, auf der Grundlage der maßstabsetzenden Neukommentierung der Italiänischen Reise durch Herbert von Einem (in der Hamburger Ausgabe)10, letzthin die Kommentierung des Reise-Tagebuchs vervollkommnet und vervollständigt." Namentlich für ein Problem aber, das

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spräche. Abt. l, Bd. 15/1. Frankfurt a. M. 1993, S. 599-745; Abt. 2, Bd. 3, 1991, S. 9-42, 48-121 und 126-150. Vgl. exemplarisch Manfred Link: Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine. Phil. Diss. Köln 1963, Kap. Il.b, mit dem banalen Resümee (S. 70): „Die Fassung von 1786 ist ursprünglicher, lebendiger, anschaulicher, unmittelbar eingehend, aber auch oberflächlicher (im Wortsinne), ungleichmäßiger und ungeformter." - Auf die „Weimarer Identität" des Reisenden Goethe zurückbezogen wird das Reise-Tagebuch formal-strukturalistisch bei Klaus H. Kiefer: Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise. Bonn 1978, Kap. 5.4, hier S. 357. Symptomatisch ein Dualismus bei Heinrich Niederer: Goethes unzeitgemäße Reise nach Italien 1786-1788. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1980, S. 55-107. Dort wird einerseits erstmalig spezifisch Itinerares herausgearbeitet, andererseits jedoch das Reise-Tagebuch bloß als eine Folge von Briefen wahrgenommen und zitiert - durchaus gemäß der überkommenen Ansicht, „es ist, recht besehen, ein einziger Brief an Frau v. Stein" (Gertrud Hager: Grundform und Eigenart von Goethes Tagebüchern. In: DVjs 25, 1951, S. 351-371, hier S. 357). Insgesamt gilt für Reise-Tagebuch und Italienische Reise unverändert, daß sie „nach wie vor überwiegend werkimmanent" und biographisch untersucht werden, unter Vernachlässigung ihrer „reisegeschichtlichen und literarhistorischen Zusammenhänge" (Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990, S. 286). Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt 1990, S. 165-180 (Exkurs: Das Reisetagebuch). Tagebücher und Briefe Goethes aus Italien an Frau von Stein und Herder. Mit Beilagen. Hrsg. von Erich Schmidt. Weimar 1886, S. 9-214. Eine rühmenswerte Ausnahme bildet die Taschenbuchedition: Johann Wolfgang Goethe: Tagebuch der Italienischen Reise 1786. Notizen und Briefe aus Italien. Mit Skizzen und Zeichnungen des Autors. Hrsg. und erläutert von Christoph Michel. Frankfurt a. M. 1976 (insel taschenbuch. 176). Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 11. (Neubearbeitung.) München 1981 (u. ö.). Wiederum freilich symptomatisch eine Bekundung wie die folgende: „Die Anmerkungen zum Reise-Tagebuch beschränken sich auf die zum Verständnis des Tagebuchs notwendigen Sacherklä-

Alpen- und Italienbeschreibungen in Goethes Reise-Tagebuch 1786

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genau mit dem Gegenstand unserer Tagung zusammenhängt, ist bislang keine befriedigende Lösung gefunden. Und mehr noch: Man hat es meines Erachtens noch nicht einmal als ein solches wahrgenommen. Ich meine die angemessene und editionswissenschaftlich überzeugende Berücksichtigung und Einbeziehung derjenigen Bücher, die recht eigentlich als Quellen, genauer: als gedruckte Quellen, für das Reise-Tagebuch anzusehen sind. Goethe selbst nennt derer drei12: 1. [Balthasar] Hacquet: Physikalisch-Politische Reise aus den Dinarischen durch die Julischen, Carnischen, Rhätischen in die Norischen Alpen, im Jahre 1781 und 1783 unternommen. Th. 1-2. Leipzig 1785. 2. Herrn Johann Jakob Ferbers Briefe aus Wälschland über natürliche Merkwürdigkeiten dieses Landes an den Herausgeber derselben Ignatz Edlen von Born. Prag 1773. 3. J[ohann] J[akob] Volkmann: Historisch-kritische Nachrichten von Italien, welche eine genaue Beschreibung dieses Landes, der Sitten und Gebräuche, der Regierungsform, Handlung, Oekonomie, des Zustandes der Wissenschaften, und insonderheit der Werke der Kunst nebst einer Beurtheilung derselben enthalten. Aus den neuesten französischen und englischen Reisebeschreibungen und aus eignen Anmerkungen zusammengetragen. Bd. 1-3. Leipzig 1770-1771.13 Hacquets Darstellung befand sich anscheinend nicht in Goethes Reisegepäck, da er stets ohne konkrete Stellenangabe auf sie verweist; während er Ferber mit exakten Seitenzahlen anführt und folglich wohl bei sich hatte - was er jedenfalls von Volkmann immer wieder selbst sagt. (Ferber und Volkmann finden sich denn auch heute noch in seiner Bibliothek.14) Daß Goethe diese Bücher neben anderen und neben Manuskripten zu den abschließenden Bänden seiner Werkausgabe (der bei Göschen veröffentlichten Schriften) mit sich nahm, spricht für eine umsichtige Vorbereitung der Reise und gegen die zählebige Annahme eines überstürzten, fluchtartigen Aufbruchs. Und mehr noch. Ich möchte die These aufstellen, daß die drei Quellen mitbestimmend waren: erstens für einen zielgerichteten Reiseverlauf namentlich auf italienischem Boden; zweitens für die Wahrnehmungen des Reisenden in einer spannungsvoll erwarteten Fremde und drittens für seine Aufzeichnungen von der Reise. Es erscheint mir angebracht, zunächst zu umreißen, inwiefern der Reisende Goethe die drei Titel nutzte und welchen Quellenwert sie dadurch für sein Reise-Tagebuch

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rungen. Vollständig kommentiert wird die Reise von Karlsbad nach Rom im Rahmen der Italienischen Reise [...]." (Goethe, Münchner Ausgabe, Bd. 3/1, S. 650.) Weitere quellenartige Bezugswerke Goethes bleiben hier themenbedingt außer Betracht. Es sind dies, um zur Veranschaulichung wenigstens zwei hochbedeutende Titel anzuführen, beispielsweise Francesco Scipione Maffei: Museum Veronense hoc est antiquarum inscriptionum atque anaglyphorum collectio cui Taurinensis adiungitur et Vindobonensis. Veronae 1749; Andrea Palladio: I qvattro libri deH'architettvra. Venetia 1570. Der Quellenwert dieser Nachrichten ist bereits vom Erstherausgeber des Reise-Tagebuchs, Erich Schmidt, erkannt und für die Kommentierung genutzt worden. - Vgl. femer Otto Stiller: J. J. Volkmann, eine Quelle für Goethes Italienische Reise. Berlin 1908 (Schulprogramm). Vgl. Hans Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog. Weimar 1958, Nr. 4047 und 2184.

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erlangten. Denn das Spezifische der gattungstypologischen Art und des individuellen Gebrauchs dieser Quellen dürfte ausschlaggebend für ihre editorische Aufbereitung innerhalb der Tagebuch-Ausgabe sein. Alle drei Bücher repräsentieren exemplarische zeitgenössische Formen von Reisebeschreibungen und Reiseführern einer aufklärerischen Autorengeneration, die die Beliebtheit des itineraren Schrifttums um 1770/80 ungemein steigerten (so daß es im Verein mit den zunehmend geschätzten Romanen die langjährige Vorrangstellung der Dramatik brach). Es waren drei Standardwerke, die Goethe kundig gezielt für seine Zwecke heranzog. Der Naturforscher Balthasar Hacquet (1739-1815) ließ sich gänzlich von jenem ganzheitlichen aufklärerisch kritischen und utilitaristischen Denken leiten, das zu seiner Zeit soziokulturelle Reisebücher ebenso wie naturwissenschaftliche prägte.15 Er wollte die Alpenkette insgesamt erkunden, ihre natürliche Beschaffenheit zuvörderst, doch auch das Leben ihrer Bewohner. So verknüpfte er seine lithologischen, vor allem mineralogischen, Darlegungen mit Bemerkungen über Gewerbe, Sitten und Tracht der Menschen. Durch ihn kannte Goethe beispielsweise im groben die Beschaffenheit der Kalkalpen von Südbayern bis Südtirol und war zudem gleich anfangs auf zielgerichtete geologische Beobachtungen vorbereitet: Die hohen Felsklippen sind alle Kalck, von dem ältesten der noch keine Versteinerungen enthalt. Diese Kalckfelsen gehn in ungeheurer ununterbrochener Reihe von Dalmaiien bis nach dem Gotthart und auch weiter fort. Hacquet hat einen grasen Theil der Kette bereist, davon mündlich.' **

Dieser Bemerkung zufolge müssen Schreiber und Adressatin des Reise-Tagebuchs mit dem bloß stichwortartig genannten Autor näher vertraut gewesen sein. Hacquet beeinflußte aber nicht bloß Wahrnehmungen des Italienreisenden Goethe, sondern darüber hinaus anscheinend die Anlage seines Tagebuchs, das heißt die organische Zusammenfuhrung naturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Einträge. Nur der erste Teil dieses Befundes (Impulse zur Wahrnehmung) gilt auch für die speziellere lithologische Publikation des Petrologen Johann Jakob Ferber (1743-1790) - ein Buch, dem Goethe andeutend einen eingeschränkteren Gebrauchswert zugemessen hat. Es stammte nach seinen Worten aus einer Zeit, „wo die ganze Wissenschaft [die Gesteinskunde (Anm. W. A.)] viel neuer war"17 und noch mit terminologischen Unsicherheiten verbunden. Immerhin schärfte es seine Aufmerksamkeit für die Gebirge der Brennergegend und regte ihn an, Gesteinsbestimmungen vor Ort zu überprüfen und einige Angaben Ferbers zu korrigieren.18 Eine ungleich größere Rolle als Ferber und Hacquet zusammengenommen spielten die vielfältigen Historisch-kritischen Nachrichten von Italien des Reiseschriftstellers und Kunsthistorikers Johann Jakob Volkmann (1732-1803). Sie waren eines der infor15 16

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Vgl. Brenner 1990, vgl. Anm. 6, Kap. IV. WA III l, S. 157; Probeband, vgl. Anm. 2, S. 30, mit folgenden Korrekturen: [...] Gothari und auch weiter fort. Haquet hat einen grosen Theil der Kette bereist Davon mündlich. WA III l, S. 190. Vgl. WA III l, S. 189-190.

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mationsreichsten zeitgenössischen Reisehandbücher über Italien; geschrieben vom Standpunkt eines faktenbezogenen rationalistischen Aufklärers, der gern gemeinsinnige Anstalten hervorhob, ohne etwa zu vernachlässigen, was ihm im Einklang mit seiner Zeit als nennenswerte Kunst erschien. Sein Dreibänder wurde für Goethe ein Reisebegleiter, ja Reiseführer besonderer Art bei dem, was man Goethes „Sehtraining" während der Hinfahrt genannt hat.19 Er bediente sich seiner zuvörderst, um sich zu orientieren und sich anregen zu lassen, wie er dann einmal aus Rom brieflich mitteilte: „Ich lese jetzt des guten, trocknen Volckmanns zweyten Teil, um mir zu notiren was ich noch nicht gesehea"20 Daß er den dritten Teil zum selben Zweck bereits auf der Reise nach Rom heranzog, belegen - neben langen Partien des allein Venedig vorbehaltenen vierten Stücks vom Reise-Tagebuch - einige Notizzettel aus Verona und Vicenza.21 Gelegentlich der Notizen zum Reise-Tagebuch eine kurze Zwischenbemerkung. Sie sind bislang nur auswahlweise gedruckt, verstreut unter den Paralipomena zur Italiänischen Reise, in der Weimarer Ausgabe, Abteilung I, Band 30-32. Unsere Edition soll sie und alle ähnlichen Notanda für die Tagebücher möglichst vollständig bringen. Dies setzt aber eine systematische Durchsicht des Nachlasses voraus, die ebensoviel Zeit wie genaueste Detailkenntnis der Diarien erfordert. Außerdem gilt es, Kritierien zu finden, die zwischen Aufzeichnungen oder Vorformulierungen für die Tagebücher und sonstigen Notizen wohlbegründet zu unterscheiden erlauben. Es ist deshalb an einen Band einschlägiger Addenda gedacht, der die Edition beschließen soll. Zurück zu Volkmann. Außer Orientierung und Anregung im Bereich der Sehenswürdigkeiten entnahm Goethe ihm, zum zweiten, partienweise eine Art verkürzenden Leitfaden für den Tagebuchbericht (der unter dem Eindruck der italienischen Städte immer umfangreicher, detaillierter wurde). Da wird die Adressatin des Berichts beispielsweise gelegentlich eines Tempels in Fuligno lapidar aufgefordert, „laß dir ihn Volckmann beschreiben."22 Zumeist indes notierte Goethe Seitenzahlen und Stichwörter und fugte seine Bemerkungen hinzu, ohne jenes grundlegend Allgemeine wiederholen zu müssen, was der Reiseführer mitteilte; so etwa in Venedig: „Nun einige Bemerckungen nach Anleitung des Volckmanns 3. Theil."23 Bei derartigen Partien setzte Goethe sich, zum dritten, mit ihm teils direkt und teils indirekt kritisch auseinander, um seine eigenen Wahrnehmungen, Wertungen, Schlußfolgerungen gleichsam abgehoben zu verdeutlichen. Nicht aus dem Reise-Tagebuch, sondern nur aus dem mitgenommenen Exemplar der Nachrichten von Italien läßt sich ein weiterer, ganz pragmatischer Verwendungszweck ersehen. Goethe benutzte sie wiederholt, um sich Besichtigungsdaten zu vermerken und Gesehenes zu kennzeichnen; er potenzierte also die Quellenfunktion für das ReiseTagebuch, das er auf die Art zugleich in gewisser Hinsicht ergänzte. Eine Memorialfunktion der Quelle schließlich ergibt sich indirekt aus zwei Spatien im Tagebuchtext, 19 20 21 22

23

Niederer 1980, vgl.Anm. 6, S. 94f. An Charlotte von Stein, 3. Februar 1787: WA IV 8, S. 161. Abgedruckt in WA I 30, S. 298. WA III l, S. 323. WA III 1,S.246.

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wo Namen (eines Malers, eines Palastes) fehlen, die bezeichnenderweise bei Volkmann nicht zu finden sind.24 All die mannigfaltigen Bezüge zu Ferber und Hacquet und vor allem zu Volkmann sind von den Editoren bislang unterschiedslos in den Stellen- oder Zeilenkommentaren behandelt worden. Mir erscheint dies für Goethes differenziertes Bezugnehmen unangemessen. Im Falle Ferbers und Hacquets mag es zureichen, lemmatisierte Einzelerläuterungen, möglichst mit zitathaften Kurzauszügen, zu bieten. Vollkommen unzulänglich ist dieses herkömmliche Verfahren jedoch dort, wo längere Sequenzen stichwortartiger Anknüpfungen an Volkmann begegnen, wie namentlich in Aufzeichnungen zu Padua, Venedig und Bologna. Bei ersterem Beispiel heißt es ausdrücklich: „Diesmal will ich Volckmannen folgen [...]. Ich nehme an daß du [Charlotte von Stein (Anm. W. A.)] die Artickel liesest, und ich mache nur meine Anmerckungen."25 Goethe setzt also nicht bloß die Kenntnis eines Quellentextes, das heißt konkret: des jeweiligen ortsbezogenen Kapitels bei Volkmann, voraus. Vielmehr erwartet er einen eingehenden Vergleich zwischen dieser Quelle und seinen eigenen ergänzenden oder korrigierenden, beistimmenden oder ablehnenden Bemerkungen. Solch Vergleich aber ist dem heutigen Leser, der im Normalfalle die selten gewordenen Bände nicht vorliegen hat, kaum ohne weiteres möglich. Und bleibt so lange unmöglich oder zumindest eingeschränkt, wie Auszüge aus und Erklärungen zu dem Quellentext in den Einzelanmerkungen zerstückt sind. Deshalb werde ich in der neuen Weimarer Ausgabe der Tagebücher anders vorgehen und Teildrucke der Quelle anhangsweise hinzufügen. Solch Quellenedition bildet aus meiner Sicht ein Komplement zur Konstitution des Tagebuchtextes und erfordert somit adäquate Hauptprinzipien (also: buchstabengetreue Reproduktion; lediglich Auflösung der Geminations- und der doppelten Binde- sowie Trennstriche; Nachweis der Emendationen). Es ist zwischen zwei naheliegenden Möglichkeiten der Quellenwiedergabe zu wählen. Erstens, alle die Kapitel abzudrucken, die die Orte behandeln, in denen Goethe sich auf seiner Reiseroute nach Rom aufhielt. Zweitens, den Abdruck auf die Orte zu beschränken, an denen er die Quelle wiederholt heranzog; das sind: Padua, Venedig, Ferrara mit Cento und Bologna. Die erste Variante scheidet wohl wegen Raummangels aus; ohnehin zeichnet sich ab, daß die Kommentarbände textsortenbedingt einen größeren Umfang als die Textbände haben werden (Text und Kommentar sollen jeweils gesondert, aber zugleich erscheinen). Angemessen und vertretbar dürfte mithin die zweite Variante sein, vier ungekürzte Kapitel aus Volkmanns Nachrichten zu bieten, insgesamt rund 250 Seiten in Oktav. Reizvoll wäre ein Reprint, raumsparend hingegen ein - selbstverständlich die Originalpaginierung markierender - Neudruck. Dieser würde die Seitenanzahl ungefähr halbieren und den Ansprüchen unserer Edition um so mehr genügen, da die Nachrichten unbebildert und zu ihrer Veranschaulichung zwei bis drei Faksimiles nebst Titelblattreproduktionen hinlänglich sind. (An Bebilderung wird der erste Band der neuen Tagebuchedition außer Handschriftenfaksimiles sowieso lediglich 24

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Vgl. WA III l, S. 201, Z. 19 und S. 306, Z. 19. An beiden Stellen sind die Namen dort im Text ergänzt worden. WA III l, S. 233.

Alpen- und Italienbeschreibungen in Goethes Reise-Tagebuch 1786

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die zum Reise-Tagebuch gehörigen Bilddokumente, die Zeichnungen Goethes, enthalten.) Für die Wiedergabe zumindest einiger Kapitel aus Volkmann spricht ein weiteres Argument: Goethe versah seinen Reiseführer mit Marginalien und Anstreichungen sowie Unterstreichungen.26 Soweit in den betreffenden Kapiteln vorkommend, sollen sie beim Abdruck gleich mit berücksichtigt werden. Als Modell dafür scheint mir geeignet: Corpus des notes marginales de Voltaire.2'1 Ich möchte dieses Modell allerdings etwas modifizieren, das heißt die eigentlichen Marginalien analog zu den Varianten der Tagebuchtexte seitenweise in einem Apparat zusammenfassen. Das mindert die Übersichtlichkeit nicht und erhält die ganze Satzbreite ungeschmälert für die Quelle. Ein Problem anderer Art, das sich in diesem Zusammenhang ergibt, sei wenigstens erwähnt. Während marginale Datenangaben in Goethes Handexemplar eine eindeutige Zuordnung bestimmter Randnotizen erlauben, läßt sich bei den Unter- und Anstreichungen keineswegs immer zweifelsfrei sagen, wann sie erfolgten; ob 1786/87 oder 1790 oder vielleicht auch erst bei der sogenannten Redaktion des Reise-Tagebuchs für die Autobiographie. Die abgedruckte Quelle ihrerseits zu kommentieren, erachte ich als unabdinglich und zu den elementaren Aufgaben des Bearbeiters einer historisch-kritischen Ausgabe gehörig. Gedacht ist an Sacherklärungen einschließlich Übersetzungen, deren hier betonte Notwendigkeit gewiß keiner weiteren Begründung bedarf. Des näheren erörterungswürdig finde ich vielmehr die Frage, inwieweit Goethes Hauptquelle (Volkmann) bei der Kommentierung des Reise-Tagebuchs herangezogen werden sollte. Prinzipiell könnte man mit Hilfe der Historisch-kritischen Nachrichten Volkmanns genau feststellen und angeben, was Goethe zwischen Trient und Rom unbeachtet ließ - vielleicht aber auch nur, und da wird es schon problematisch, nicht erwähnt hat. Unterschiedlich weit gehende Nachweise der Art gibt es in der Münchner und in der Frankfurter Ausgabe. Doch scheint mir, daß der Kommentator hierbei entweder nahezu lückenlos sein oder sich auf einige wenige exemplarische Fälle in größeren Erläuterungszusammenhängen konzentrieren müßte. Je vollständiger er aber ist, desto mehr tendiert er zum 'Interpretatorischen' und sprengt den Rahmen von 'Sacherläuterungen'. Und für sie plädiere ich bei historisch-kritischen Ausgaben allemal. Jeder spezielle Vergleich zwischen Text und Quelle, sei sie nun ganz, teilweise oder gar nicht mitediert, muß dem Benutzer selbst überlassen bleiben. Es ist somit bereits angedeutet, daß Goethes Hauptquelle gemäß den Erfordernissen des gewählten Kommentartyps (Sachkommentar) ausgewertet wird. Kapitelweiser Quellenabdruck und Textkommentar lassen sich nach meiner Überzeugung gerade im Falle der Volkmannschen Nachrichten und des Goetheschen Reise-Tagebuchs 1786 zu jener wechselseitig komplementären Einheit fügen, auf die es bei kombinierter Textund Quellenedition letztendlich stets ankommen dürfte. 26

27

Dazu einiges bei Helmut Prang: Goethe als Benutzer von italienischen Reiseführern. In: GoetheJahrbuch 1936,8.222-227. Corpus des notes marginales de Voltaire. Hrsg. von Olga Golubieva [u. a.]. Bd. l ff. Berlin 1979 ff.

Brigitte Leuschner

Georg Forsters Ansichten vomNiederrhein: Tagebuch, Briefe, Reisebeschreibung

Georg Forster lebte in einer Zeit, in der Reisen und Reisebeschreibungen eine große Rolle spielten. Auch für sein Leben und Schreiben waren Reisen von prägender Bedeutung. Seine erste größere Publikation, durch die er zu seinen Lebzeiten bekannt, ja berühmt wurde, war die Beschreibung von Cooks 2. Weltreise (1772-1775), an der Georg Forster zusammen mit seinem Vater teilgenommen hatte. Und eines seiner letzten Werke, dasjenige, das seinen Nachruhm wesentlich begründete, ist wiederum die Beschreibung einer Reise. Von dieser 1790 (25. März bis 11. Juli) unternommenen Reise sind dreierlei Aufzeichnungen überliefert. Während des Reisens schrieb Forster seine Erlebnisse, Eindrücke, Beobachtungen und Reflexionen als Tagebuch und außerdem in Briefen nieder. Nach der Rückkehr verfaßte er unter Benutzung dieser beiden Niederschriften seine Reisebeschreibung. Das erinnert an Goethe, der mit seiner ersten italienischen Reise ähnlich verfuhr, indem er sie im Tagebuch und in Briefen schilderte und später diese Aufzeichnungen bearbeitete und veröffentlichte. Auch die Motivation zur Reise zeigt eine Parallele. Für Forster war die Reise eine Flucht aus seiner Alltäglichkeit als Bibliothekar in Mainz. Goethe entzog sich mit seiner Reise dem Weimarer Alltag und seinen amtlichen Pflichten. Im Tagebuch vom September 1786 schreibt er: [...] mir ists nur jetzt um die sinnlichen Eindrücke zu thun, die mir kein Buch und kein Bild geben kann, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme und daß ich meinen Beobachtungsgeist versuche [...](WAIII 1,DTV. 78, S. 175)1

Forster schreibt im Brief an Jacobi vom 15. November 1789: [...] Mein Kopf ist leer, ich weiß der Welt nichts Eigenes mehr zu sagen. Wer doch auch nach Italien, oder nach England, oder nach Spanien oder noch weiter hin, wo nur irgend Neues zu sehen ist, reisen könnte! Denn am Ende, mehr hat man doch nicht, als was einem durch diese zwei kleinen Oeffnungen der Pupille fällt und die Schwingungen des Gehirns erregt! Anders als so nehmen wir die

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Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887ff. (in der Folge zitiert als: WA). Fotomechanischer Nachdruck: Deutscher Taschenbuch Verlag München 1987 (in der Folge zitiert als: DTV).

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Brigitte Leuschner Welt und ihre Wesen nicht in uns auf. Die armseligen vier und zwanzig Zeichen reichen nicht aus; etwas ganz Anderes ist die Gegenwart der Dinge und ihr unmittelbares Einwirken. (Forsters Werke AAXV, S. 37l) 2

Beide stellen hier ein unmittelbares Erleben der Welt höher als ein durch Wort oder Bild vermitteltes. Um unmittelbar Erlebtes festzuhalten, bietet sich ein Tagebuch an. Forster führt nicht nur sein Tagebuch von vornherein im Hinblick auf Verwendung für eine geplante Veröffentlichung. Auch seine Briefe an Therese sind streckenweise unter diesem Gesichtspunkt geschrieben. Er numeriert die Briefe und bittet die Empfängerin, darauf zu achten, ob alle Briefe eingetroffen sind, und dieses in ihren Briefen zu bestätigen, denn - so heißt es im Brief Nr.10 - „[...] enthalten sie doch allerley, was ich bey der künftigen Redaction meines Tagebuchs benutzen kann". (AA XVI, S. 91) Forster versteht also sowohl sein Tagebuch als auch seine Briefe als Vorbereitung für eine Publikation. Daß ein Tagebuch eines Autors solche Funktion hat, ist nicht ungewöhnlich. Daß auch Briefe mit dieser Intention geschrieben werden, ist weniger selbstverständlich. Forster erklärt es aus seiner Situation. Die Zeit, die ihm während des Reisens zum Schreiben bleibt, ist knapp. Als er in einem Brief an Therese ausfuhrlich die politischen Zustände in Aachen nicht nur geschildert, sondern auch analysiert und erörtert hat, fahrt er fort: Verzeih mir, liebste Therese, dass ich Dich von diesen kleinen politischen Angelegenheiten unterhalte. Ich benutze die Augenblicke so gut ich kann, und wo die Zeit so kurz ist, dass ich mein Tagebuch nicht nachfuhren kann, ohne Dich zu versäumen, da denk' ich ist es immer noch verzeihlicher, dass mein Brief eine Aehnlichkeit mit einem Tagebuch erhält. (A A XVI, S. 51 f.)

Eine ähnliche Verquickung von Tagebuch und Brief praktiziert Heinrich von Kleist. In einem Brief an Wilhelmine von Zenge heißt es: Damit wir aber immer beurteilen können, ob unsere Briefe ihr Ziel erreicht haben, so wollen wir beide uns in jedem Schreiben wechselseitig wiederholen, wie viele Briefe wir schon selbst geschrieben und empfangen haben [...] Und noch eins. Ich führe ein Tagebuch, in welchem ich meinen Plan täglich ausbilde und verbessre. Da müßte ich mich denn zuweilen wiederholen, wenn ich die Geschichte des Tages darin aufzeichnen sollte, die ich Dir schon mitgeteilt habe. Ich werde also dieses ein für allemal darin auslassen, und die Lücken einst aus meinen Briefen an Dich ergänzen. [...] Du mußt aber nun auch diese Briefe recht sorgsam aufheben;3

Goethe hatte solche Probleme nicht, da er sein Tagebuch von der italienischen Reise insgesamt für Charlotte von Stein bestimmte.4 Bei einem Tagebuch mit der Funktion einer Vorstufe für eine Publikation sind unterschiedliche Textstrukturen vorstellbar. Das Tagebuch kann stichwortartige Notizen Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften. Berlin 1958ff. (in der Folge zitiert als: AA mit röm. Ziffer als Bandbezeichnung). 21. August 1800. Heinrich von Kleist: Sämtl. Werke u. Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. 8. Aufl. München 1968. Bd. 2, S. 527f. Vgl. den Brief an Charlotte von Stein vom 14. Okt. 1786 (WA IV 8. DTV. 101, S. 30f., Nr. 2512).

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bieten, also eine Art Entwurf darstellen, der noch weitgehend auszuarbeiten ist, oder aber die Niederschriften sind bereits mehr oder weniger druckreif formuliert und bedürfen nur noch einer leichten Überarbeitung oder Redaktion, um publiziert zu werden. Bei Forsters Tagebüchern ist beides zu finden. Das Tagebuch von seiner Reise von London nach Paris 1777 stellt eine - allerdings fragmentarische - Reisebeschreibung dar, die sehr wahrscheinlich mit der Intention und in der Form, gedruckt zu werden, verfaßt wurde (AA XII). Dagegen hat das Tagebuch von 1784 (AA XII) einen sehr gemischten Charakter: Beobachtungen und Reflexionen wechseln mit rein chronologischem Registrieren des Tagesverlaufs im Telegrammstil. Auch hier erwägt Forster zwar eine Verwendung für eine spätere Veröffentlichung, ist sich jedoch dessen bewußt, daß hierfür eine Auswahl und Bearbeitung erforderlich ist (vgl. AA XIV, S. 188f.). Anders verhält es sich mit dem Tagebuch von 1790. Dieses ist nur ausnahmsweise stichwortartig und enthält überwiegend Beobachtungen und Betrachtungen in einer stilistischen Qualität, die keinesfalls als Entwurf anzusprechen sind. Treffender wären die Aufzeichnungen dieses Tagebuches als erste oder Urfassung der späteren Reisebeschreibung zu bezeichnen. Ähnliches gilt für die Briefe. Diese enthalten zwar rein persönliche Mitteilungen zu und Fragen nach häuslichen und familiären Angelegenheiten sowie enthusiastische Huldigungen an die geliebte Frau, außerdem und hauptsächlich jedoch detaillierte Beschreibungen des Reiseverlaufs, der Beförderungsmittel - Schiff, Barke, Kutsche - , der Gasthäuser, der Mitreisenden; Naturschilderungen, Landschaftsbeschreibungen, Bemerkungen über Kirchen und andere Gebäude, Gemälde, Einwohner und deren Kleidung, besonders der Frauen, Theaterbesuche und allgemeine, teils philosophische Betrachtungen über alles Gesehene und Erlebte. Diese summarische Aufzählung läßt erkennen, daß die Niederschriften über den Mitteilungscharakter eines Briefes, der nur für die Empfängerin gedacht ist, hinausreichen. Gleich in seinem ersten Brief weist Forster auf die sich ergebende Ähnlichkeit seiner Briefe mit einem Tagebuch hin (vgl. AA XVI, Nr. 22, S. 37). Und im nächsten Brief gesteht er es entschuldigend ein und erklärt es (vgl. AA XVI, S. 51). Auch in weiteren Briefen erwähnt er immer wieder sein Tagebuch im Hinblick auf die geplante Reisebeschreibung (vgl. z. B. AA XVI, S. 66 und S. 81). Dabei wird eine Arbeitsteilung zwischen Brief und Tagebuch sichtbar, wenn es heißt: Von Dünkirchen aus bis Nieuport sind wir auf Canälen geschwommen, wovon wenig zu sagen ist, und dieses wenige liest Du künftig in meinem Tagebuch; [...] (AA XVI, S. 82; vgl. auch AA XVI, S.91)

Im letzten Brief vor der Überfahrt nach England resümiert Forster rückblickend den ersten Reiseabschnitt und dessen Ertrag hinsichtlich des erhofften Erfolges „in Geschäften" und meldet seinem Schwiegervater Ch. G. Heyne : Hr. von Humboldt und ich sind indeßen mit der Feder sehr fleißig gewesen, unser Tagebuch ist sorgfältig geführt worden, und was ich da nicht von Bemerkungen niederschrieb, das steht in 15 langen

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Brigitte Leuschner Briefen, die ich successive an meine liebe Einzige Therese abgeschickt habe. (AA XVI, S. 143; vgl. auch AA XVI, S. 141)

Diese Arbeitsteilung zwischen Tagebuch und Briefen ist nicht streng thematisch erfolgt. Mit Ausnahme der persönlichen und privaten Niederschriften begegnen die für die Briefe aufgezählten Themenkreise auch im Tagebuch. Jedoch dem Tagebuch hauptsächlich vorbehalten sind Beobachtungen geologischer und geographischer Art sowie spekulative Erörterungen entsprechender wissenschaftlicher Theorien. Ebenso finden sich Bemerkungen über politische und wirtschaftliche Zustände, über Handel und Gewerbe sowie ausgebreitete Erörterungen über deren Vor- und Nachteile, Ursachen und Folgen im Tagebuch ausführlicher. Die sprachliche und stilistische Struktur der beiden Textsorten weist beide, Briefe und Tagebuch, als eigenständige Texte aus. Im Tagebuch begegnen nur selten stichwortartige Aufzeichnungen. Sonst sind weder das Tagebuch noch die Briefe als Rohfassung oder Entwurf anzusehen. Vielmehr sind beide so angelegt, daß sie streckenweise in eine publizierte Reisebeschreibung übernommen werden könnten. Tatsächlich sind Textpartien sowohl aus dem Tagebuch als aus den Briefen wenig verändert in der Reisebeschreibung wiederzufinden, z. B. gleich am Anfang. Im ersten Brief von der Reise schreibt Forster an Therese: Ich war eben im Begrif, meine beste Therese, unserer Philosophie eine Lobrede zu halten, als mir einfiel, dass im Grunde wenig dazu gehört, um sich in ein Schicksal wie das unsrige zu finden, welches uns Feder, Dinte und Postpapier gestattet, um an Dich schreiben zu können. Freylich wäre es schöner gewesen Dir alles was ich jezt auf dem Herzen habe aus Coblenz und mit der angenehmen Erwartung einer süssen Nachtruhe zu sagen [...] (AA XVI. S. 37)

Und die Ansichten beginnen: Ich war eben im Begrif, unserer Philosophie eine Lobrede zu halten, als mir einfiel, daß im Grunde •wenig dazu gehört, sich in ein Schicksal zu finden, welches Deinem Reisenden noch Feder, Tinte und Papier gestattet. Behaglicher wäre es allerdings gewesen, Dir alles, was ich jetzt auf dem Herzen habe, aus Koblenz und in der angenehmen Erwartung einer süßen Nachtruhe zu sagen; [...] (AA IX, S. 1)

Ein erschöpfender Vergleich zwischen Tagebuch, Briefen und Ansichten kann und soll hier nicht vorgeführt werden.5 Ausgewählte Beispiele mögen zeigen, wie Forster seine während der Reise entstandenen Aufzeichnungen verwendet und verwandelt. Zunächst ist festzuhalten, daß der Umfang der Ansichten wesentlich größer ist als Tagebuch und Briefe zusammen. Wenn man bei den Briefen die privaten Mitteilungen abrechnet, so ergibt sich, daß der Text der Ansichten mehr als das Doppelte des Textes darstellt, der als sich ergänzende und teils überschneidende Vorstufe anzusehen ist. Die Texterweiterung wird sowohl durch mehr Ausführlichkeit im Detail als durch Hinzufügung ganzer 5

Einen detaillierten und ausführlichen Vergleich bringt Helmut Peitsch in seiner Dissertation: Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein. Frankfurt a. M. 1978, bes. Kapitel IV, 2: Die Struktur der Ansichten.

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Abschnitte erreicht. Jedoch auch Kürzungen gegenüber der Quelle begegnen, wie an einem ersten Beispiel gezeigt werden soll. Die Beobachtung des Stapellaufs eines Schiffes in Amsterdam wird im Brief (Nr. 12/34, AA XVI, S. 111,26-112,12) in 24 und in den Ansichten (AA IX, S. 298,24-299,7) in 20 Zeilen geschildert. Inhaltlich ist die Schilderung völlig übereinstimmend, sprachlich leicht verändert und dadurch etwas kürzer geworden. In den meisten Fällen sind bei Kürzungen private Mitteilungen weggeblieben. Ein anderes Beispiel weist eine Texterweiterung nach. Die Besichtigung des Kölner Domes umfaßt im Tagebuch (S. 204,34-205,24) 26 und in den Ansichten (Kap. IV S. 23,9-24,21) 46 Zeilen. Ein Vergleich der beiden Texte ergibt, daß Forster Veränderungen in der Wortwahl und Umstellungen ganzer Textpartien sowie einzelner Sätze vornimmt und Einfügungen anbringt. Ein Satz aus dem Tagebuch ist weggelassen. Zusammenfassend ist zu sagen: Die Elemente der Aussage - Beschreibung, Bewunderung und philosophische Betrachtungen - sind in beiden Texten vorhanden; die Erweiterung des Textes betrifft das letztere und ist so in den Tagebuchtext integriert, daß Veränderung und Erweiterung eng miteinander verknüpft sind. Eine andere Art Erweiterung ist bei dem nächsten Beispiel zu erkennen. Der Bericht über die Herrnhuter Brüdergemeinde umfaßt im Brief vom 26. März (AA XVI, S. 41,32-42,5) 11 Zeilen und in den Ansichten (AA IX, Kap. II, S. 9,34-10,5) 10 Zeilen, hat also etwa gleiche Länge, ist jedoch verändert. Die Bezeichnung der Herrnhuter als 'Kopfhänger', die Forster schon im Brief einschränkend zurücknimmt, bleibt in den Ansichten ganz weg, ebenso die persönliche Bemerkung über die hergestellten Schnupftücher, die zu teuer seien. Dafür wird die Sitte des gemeinsamen Teetrinkens als Form der Geselligkeit gelobt. Dann folgt in den Ansichten ein Exkurs von l !/z Seiten über die negativen Folgen von Schwärmerei, der an die Bemerkung von der Trennung der Geschlechter bei den Herrnhutern anknüpft. In ähnlicher Art ist der Bericht über die Festung Ehrenbreitstein ergänzt worden. Nur wenig verändert und mit gleichem Umfang von 18 Zeilen wird im Brief (Nr. 2, AA XVI, S. 43,13-30) und in den Ansichten (AA IX, Kap. II, S. 7,23-8,4) der Eindruck geschildert, den die Gefangenen auf den Reisenden hervorrufen. Daran schließt sich in den Ansichten ein Diskurs von l Vi Seiten über Bestrafungen überhaupt, über Freiheitsstrafen und die Todesstrafe. An den beiden zuletzt genannten Beispielen wird die Doppelbedeutung des Titels der Reisebeschreibung deutlich. Ansichten bedeutet sowohl 'Anblick' als auch 'Meinung'. Forster beschreibt nicht nur, was er gesehen hat, sondern auch, was er darüber denkt. Er bietet Beschreibung und Kommentar. Oft überwiegt der Kommentar die Beschreibung oder Erwähnung des Gesehenen; das unmittelbar Erfahrene oder Erlebte, gleichsam die Begegnung mit der „Gegenwart der Dinge" - wie es im Brief an Jacobi hieß (vgl. AA XV, S. 371) - bildet nur den erwünschten Anlaß zu ausführlicher Betrachtung, die sowohl Vergangenheit als Zukunft mit einbezieht.6 Das gilt besonders für Darauf weist auch Peter Pütz hin, wenn er sagt, daß Forster bei seiner Zusammenschau manchmal „weniger in der Sache gefunden als vom betrachtenden Auge erfunden habe." Peter Pütz: Zwischen Klassik und Romantik: Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 97, 1978, Sonderheft, S. 15.

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die Schilderung der politischen und gesellschaftlichen Zustände in den Niederlanden. Aus dem Tagebuch-Text über den Aufruhr in Brüssel von etwa 6 Seiten wurden in den Ansichten 4 Kapitel mit 60 Seiten. Ähnlich verfährt Forster mit dem Thema Kunst. Der Besuch der Gemäldegalerie in Düsseldorf ist im Tagebuch (AA XII, S. 205-211) mit 61A Seiten festgehalten. Davon sind 1 1 /2 Seiten einleitende, allgemeine Erörterungen über Kunst und Kunstbetrachtung und 5 Seiten Auflistung der Maler und ihrer Bilder mit kurzen Anmerkungen zu jedem Bild. In den Ansichten sind der Gemäldegalerie und der Kunst 3 Kapitel - VI, VII und VIII - mit insgesamt 44 Seiten gewidmet. Auch hier beginnt Forster mit allgemeinen Reflexionen über Kunst, geht dann zu einzelnen Malern und Bildern über, deren Betrachtung und Beurteilung in weit ausholende Erörterungen über Kunst integriert wird. Durch solche essayistische Behandlung von Themen, zu denen Forster durch Beobachtung angeregt wurde, erhalten die Ansichten ihr eigenes und eigentliches Gesicht und Gewicht.7 Sie sind dadurch mehr und etwas anderes als eine zu jener Zeit übliche Reisebeschreibung. Hatte Forster vor der Reise geklagt, daß sein Kopf leer sei und er „der Welt nichts Eigenes mehr zu sagen" habe (vgl. AA XV, S. 371), so sind durch die Reise - wie er es nannte - „die Schwingungen des Gehirns erregt" worden und haben den Schriftsteller instand gesetzt, der Welt wieder etwas Eigenes zu sagen, nämlich seine Ansichten im weitesten Sinne über mannigfaltige Themen. Dabei sind die Tagebücher und Briefe zu großen Teilen in die Ansichten ein- und darin aufgegangen. Sie hatten für Forster die Funktion einer Vorstufe, können jedoch auch ihrer ursprünglichen Intention entsprechend rezipiert werden, nämlich als biographische Zeugnisse und als Chronik seiner Reise. Denn im Tagebuch und in den Briefen ist Forster bemüht, den zeitlichen Reiseverlauf festzuhalten und auch die Reihenfolge der Besichtigungen und Besuche in den einzelnen Städten zu beachten. In den Ansichten dagegen hält er sich nicht an die Chronologie. Er nimmt Umstellungen einzelner Textabschnitte und auch ganzer Themen vor. So stehen z. B. die geographischen und geologischen Beobachtungen und daran geknüpften Hypothesen in der ersten Eintragung des Tagebuchs, weil sie am Beginn der Reise begegneten. In den Ansichten stehen sie im III. Kapitel und mit Umstellungen innerhalb des Textes. Ähnliches gilt für die Schilderung des Aufenthaltes in Brüssel. In den Ansichten ist diese nach kompositorischen Gesichtspunkten geordnet, die nicht der im Tagebuch festgehaltenen Reihenfolge der Besichtigungen entspricht (vgl. AA XII, Tabelle S. 379). Es wird gewissermaßen ein Stadtrundgang fingiert, dessen Beschreibung mit einem Überblick über die Stadt insgesamt, über ihre Bevölkerung und deren Physiognomie und Mentalität beginnt, der im Tagebuch an zweiter Stelle steht (Tabelle 4.5.6.). Dann folgt die Besichtigung der drei Kirchen und ihrer Gemälde, die im Tagebuch an erster Stelle steht (Tabelle 2.1.3.). Als Fortsetzung der Kunstbetrachtung schließt sich die Gemäldegalerie Danhots an, die im Tagebuch den Schluß bildet (Tabelle 9.). Darauf wird in vier Kapiteln (XV-XVIII) im Zusammenhang mit dem Aufruhr vom 16. März das Thema Revolution unter vielen 7

Den Essay-Charakter von Forsters Ansichten betont auch Ralph-Rainer Wuthenow: Zur Form der Reisebeschreibung: Georg Forstners Ansichten vom Niederhein. In: Ders.: Vernunft und Republik. Bad Homburg 1970, hier S. 82.

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Aspekten abgehandelt (Tabelle 7.). Und den Schluß bildet als Ausklang von Kapitel XVIII die Beschreibung von Schloß und Park Schooneberg, die im Tagebuch an vorletzter Stelle steht (Tabelle 8.)· Ein weiterer Unterschied zwischen Brief und Tagebuch einerseits und Ansichten andererseits besteht darin, daß Tagebuch und Briefe - wenn auch als Vorbereitung für eine Publikation gedacht - unter dem unmittelbaren Eindruck des Gesehenen und Erlebten unbekümmert um Öffentlichkeit geschrieben wurden. Die Ansichten dagegen wurden aus zeitlichem Abstand und im Hinblick auf potentielle Leserinnen und Leser zielbewußt und eingedenk der öffentlichen Rezeption und Reaktion verfaßt. Trotzdem ähnelt der Text der Ansichten an manchen Stellen Briefen, und zwar nicht nur durch fast wörtliche Übereinstimmungen, wie an Beispielen gezeigt wurde, sondern auch durch die Diktion. Denn häufig begegnet innerhalb des Textes die Anrede der zweiten Person, die an die in jener Zeit beliebte Form der Reisebriefe anklingt. Jedoch sind die Ansichten als Ganzes nicht der Gattung der fingierten Reisebriefe zuzuordnen. Denn der „leichte Briefton", der Forster für eine Publikation seines Reisetagebuches von 1784 vorschwebte,8 und den er 1790 anwendete, bildet nur ein Stilmittel, gewissermaßen ein auflockerndes Gegengewicht zu den Abhandlungen, die für Reisebriefe wie Forster es selbstkritisch und wohl als understatement ausdrückt - „[...] zu ausgearbeitet, oder besser, zu mühsam und schwerfällig gearbeitet sind [...]" (AA XVI, S. 212). Ebenso wie Forster Beschreibung mit Empfindung, Beobachtung mit Interpretation, Reflexion und Argumentation verbindet, verknüpft er die Diktion von Brief, Tagebuch und Essay miteinander. Die Briefe haben streckenweise Tagebuchcharakter, das Tagebuch soll teilweise die Briefe ergänzen und erhält damit Brieffunktion. Die Ansichten weisen alle drei Textstrukturen auf, die des Briefes, die des Tagebuches und die des Essays. Trotz solcher Vermischung der drei Textsorten behalten alle drei Texte - Tagebuch, Briefe und Ansichten - ihren eigenen Stellenwert, so daß ihre getrennte Edition in den entsprechenden Bänden innerhalb der Gesamtausgabe gerechtfertigt ist.

Vgl. den Brief an Sömmerring vom 10. Okt. 1784 (AA XIV, Nr. 67, S. 189).

Gert Vonhoff

Integration als Funktion Aspekte editionsphilologischer Arbeit mit Quellen und anderen Vorlagen, dargestellt an Schillers Semele1

Das Verstehen literarischer Werke beginnt dort, wo der Lesende Relationen wahrzunehmen beginnt, Relationen innerhalb des Textes wie auch Bezüge, die der Text zu seinen verschiedenartigen Kontexten hat. Über 'Quellen' zu reden bedeutet nun, Relationen zwischen Text und Kontext unter dem besonderen Blick der Werkentstehung zu betrachten. Auffallig ist indes die Unklarheit, die in der Forschung bislang darüber besteht, was denn so genau unter den Terminus 'Quelle' falle. Ein Beispiel: „alle" Werke, „die zu ihrer Gestaltung bestimmte Kenntnisse voraussetzten, die der Autor sich erst verschaffen mußte oder die er mit Hilfe neuerer Untersuchungen und Abhandlungen über dieses Thema wieder auffrischte," seien „auf irgendwelche Quellen zurückzuführen" - so heißt es in einer Einführung in die Textologie.2 Die Vagheit wird da zum Spiegel von Unsicherheiten, welche die Interpretation der Werke selbst betrifft. Denn mit einem 'Irgendwie' kann die Spezifik der verschiedenartigen Kontextbezüge gerade nicht für die Bedeutungskonstitution der Werke funktional gemacht werden. Die gleiche Kritik trifft dann auch diejenigen, die im andersartigen Rahmen der verschiedenen Intertextualitätstheorien ganz allgemein von 'Prätexten' reden und mit diesem Begriff alle Arten von zwischentextlichen Bezügen erfassen wollen. Jede Differenzierung wird so aber zunächst erschwert, denn die Komplexität der Relationen bleibt hier auf die Benennung eines Immer-Gleichen reduziert. 'Prätext' ist alles, die Quelle, die Vorlage, die Folie, der Anspielungshorizont. Und wer als gemäßigter Intertextforschender am Textbegriff festhält und den Begriff'Prätext' verwendet, um damit bewußt zu halten, daß es sich um einen eigenständigen Text handelt, der hat am Ende das funktionale Moment der Relation aus dem Blick verloren. Ein hermeneutisch-struktureller Quellenbegriff, der hingegen die funktionalen Verweisungsarten eines Textes zu unterscheiden hilft, muß darum im Begriffsfeld der übrigen kontextuellen Bezüge zunächst noch definiert werden. Denn wie 'Quelle' als Begriff zu verstehen ist, ergibt sich erst, wo Klarheit

Der Beitrag ist aus den vorbereitenden Arbeiten zur Neuedition des fünften Bandes der 'SchillerNationalausgabe' hervorgegangen, der als Bd. 44 von Herbert Kraft herausgegeben wird. Der Verfasser greift dabei zum Teil auf Ergebnisse zurück, die er gemeinsam mit Claudia Pilling erarbeitet hat. Bei der Klärung musikgeschichtlicher Fragen half Mirjam Springer. Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 173.

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darüber besteht, was 'Vorlage', 'Zitat', 'Folie', 'Anspielungshorizont', 'Stoff und 'Motiv/Topos' bezeichnen. Die matrizenförmige Darstellung zeigt dies auf der Grundlage von Merkmalzuweisungen:

entstehungsgeschichtlicher Bezug zeitgenössischer Bezug Konventionalisierung Bezug zur Werkstruktur Bezug zu Teilstrukturen konkreter Text als Bezugspunkt Varianz

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Anspielungshorizont

z = zwingend f = freigestellt a = ausgeschlossen

Nicht als Universalien (im Sinne der 'distinctive features') sind die Merkmale zu verstehen,3 sondern als Erkenntnishilfen, mit denen geschichtliche Konstrukte beschrieben werden sollen. Und auch die auf solche Weise erfolgende Begriffsbestimmung ist allein von heuristischem Wert, darum ihrerseits geschichtlich: Denn eine sinnvolle Begrifflichkeit entsteht erst, wenn mit ihr die Bedeutung von Werken ermittelt werden kann, wenn also mit den heuristischen Hilfsmitteln das Besondere des einzelnen Werkes in seiner Funktion geschichtlich zu beschreiben ist. Die editionsphilologische Arbeit an Schillers Semele mag dies verdeutlichen. Weil Dokumente, welche die Entstehung der in der Anthologie auf das Jahr 1782 veröffentlichten Fassung klären könnten, nicht überliefert sind, eignet sich der Erstdruck von Semele* in besonderer Weise, die literarhistorische Dimension der Quellenfrage Siehe dazu etwa Theodor Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch 1. 4., neu bearb. Aufl. Heidelberg 1984, s. v. 'distinktive Merkmale'. Semele, eine lyrische Operette von zwo Scenen. In: Anthologie auf das Jahr 1782. Hrsg. von Friedrich Schiller. Faksimiledruck der bei Johann Benedict Metzler in Stuttgart anonym erschienenen ersten Auflage. Mit einem Nachwort und Anmerkungen hrsg. von Katharina Mommsen. Stuttgart 1973, S. 199-243.

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und damit den Zusammenhang von Edition und Interpretation auch für diesen Bereich anschaulich zu machen. Schärft bei der schlechten Dokumentenlage der Mangel den Blick für die Möglichkeiten editionsphilologischer Quellenarbeit, so sollten die Ergebnisse doch auch in jenen Fällen Berücksichtigung finden, bei denen entstehungsgeschichtliche Dokumente die Quellenfrage vermeintlich schon zufriedenstellend lösen. Der im Titel von Schillers Semele benannte Stoff, die Genreangabe - „eine lyrische Operette von zwo Scenen" ist das Werk untertitelt - und nicht zuletzt Angaben wie „Arie" (S. 200), „Simfonie" (S. 226) oder „Musik begleitet hier und in Zukunft den Zauber" (S. 236f.) legen es nahe, die Quelle im musikdramatischen Bereich zu suchen. Im Umfeld des barocken Theaters gibt es mit Boyers und de La Mottes Tragödien,5 im Bereich des Musiktheaters mit Förtschs „Sing-Spiel"-Libretto, mit Congreves von John Eccles (1707) und später von Händel (1743) vertontem Stück, auch mit Telemanns Oper und schließlich mit einem nicht überlieferten Ballett von Raupach (1774)6 eine ganze Reihe möglicher Quellen. Vergleiche mit Schillers Semele ergeben in all diesen Fällen keine überzeugenden AbhängigkeitsVerhältnisse - zu unterschiedlich sind die jeweiligen Gestaltungen des Stoffes; und auch im entstehungsgeschichtlichen Kontext finden sich keine schlüssigen Hinweise auf diese Werke.7 Mit ihren wenigen musikdramatischen Strukturelementen erweckt Schillers „lyrische Operette" im Kontext der benannten Libretti dann den Eindruck der Unabgeschlossenheit; genau das hat der Forschung pauschale Abwertungen erleichtert,8 für die sie zugleich auch Schillers spätere Äußerungen heranzog.9 Claude Boyer: Les amours de Jupiter et de 8 1 . Tragödie. Paris 1666; Antoine Houdard de La Motte: 8 1. § . Amsterdam 1711. [Johann Philipp Förtsch]: Semele. In einem Sing-Spiel vorgestellet. [Hamburg 1681]; William Congreve: Semele. An Opera. In: The Complete Works of William Congreve. Hrsg. von Montague Summers. Bd. 3. Soho 1923, S. 87-110; Georg Philipp Telemann: Jupiter und Semele. Textbuch. Fotomechanischer Nachdruck. Hrsg. und mit einem Nachwort von Wolf Hobohm. Magdeburg 1987; Georg Friedrich Händel: Semele. Oratorium. In: G. F. Händel's Werke. Ausgabe der Deutschen Händelgesellschaft. Lieferung VII. Leipzig [o. J.J. - Vgl. dazu auch Ludwig Pinscher: Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers Semele. In: Schiller und die höfische Welt. Hrsg. von Achim Aumhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 152. Ähnlich bereits Christa Vaerst-Pfarr: Semele - Die Huldigung der Künste. In: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1979, S. 294. Siehe dagegen Pinscher 1990, vgl. Anm. 6, S. 152. Vgl. etwa Hans Knudsen: Schiller und die Musik. Diss. Greifswald 1908, S. 33f.; Benno von Wiese: Friedrich Schiller. 4., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1978, S. 133; Hermann Fähnrich: Schillers Musikalität und Musikanschauung. Hildesheim 1977, S. 16-23. „Mangel an Würde im Ausdruck und Bilde, z. B. S. 200, wo Juno singt: 'Götterbrod und Nektarpunsch / Ueberflügeln meinen Wunsch.'" (Allgemeine deutsche Bibliothek 53, 1783, S. 406) - „Für die Anthologie danke ich Ihnen recht sehr. Ich lasse einige Gedichte daraus abschreiben. Daß Sie der Semele erwähnten, hat mich ordentlich erschröckt. Mögen mirs Apoll und seine Neun Musen vergeben, daß ich mich so gröblich an ihnen versündigt habe!" (Schiller an Caroline von Beulwitz und Charlotte von Lengefeld. 30. April 1789. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 25. Hrsg. von Eberhard Haufe. Weimar 1979, S. 251 f.) - Daß sich Schiller bereits 1783 so negativ über eine Stelle in der Semele äußerte und dem Stück 1789 gänzlich ablehnend gegenüberstand, hängt wahrscheinlich in erster Linie mit der Bedeutung zusammen, die dem skizzierten Stuttgarter Kontext für die Entstehung des Stücks zugekommen war. Die ungleich positiveren Mannheimer Theatererfahrungen

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Und doch widerspricht der solcherart abgeleitete Eindruck der Faktizität des überlieferten Werkes: Fertig und gedruckt liegt Schillers Semele vor als ein Text, der seinen ironischen, oftmals parodistischen Gestus mit vielen spät entstandenen Beiträgen Schillers für die Anthologie auf das Jahr 1782 teilt.10 Man braucht das Veröffentlichte nur zu interpretieren, schnell findet sich im entstehungsgeschichtlichen Kontext ein plausibler Anspielungshorizont. Die Karlsschüler hatten für die Geburtstagsfeiern des württembergischen Herzogs Karl Eugen und der Reichsgräfin von Hohenheim neben Festreden und Stücken regelmäßig höfische Huldigungsspiele zu entwerfen und aufzuführen. Schiller selbst war an diesen höfischen Festen 1779 und 1780 jeweils mit Festreden auf Franziska von Hohenheim beteiligt.11 Er soll zudem 1779 zum Geburtstag des Herzogs das komische Singspiel Der Jahrmarkt beigesteuert haben;12 einen Monat zuvor sei er auch an der Abfassung wie an der Aufführung des Festspiels Der Preiß der Tugend beteiligt gewesen, das die Karlsschüler für die Reichsgräfin gaben.13 Aus „ländlichen Unterredungen und allegorischen Bildern" entsteht hier ein panegyrisches Spektakel, das Anleihen beim Schäferspiel, beim Singspiel und bei der mythologischen Götteroper macht; die versatzstückartig gereihten Motive dienen dabei dem mehrfach wiederholten Versuch, der Reichsgräfin zu huldigen, und laufen im opernartigen Finale auf die Apotheose Franziska von Hohenheims hinaus.14 Neben dem Preiß der Tugend

hatten das Bewußtsein für die ästhetischen Möglichkeiten der Bühne verändert: Was als Reflex auf das gegenüber Mannheim so stark höfisch ausgerichtete Musiktheater Württembergs entstanden war, mochte da schnell veraltet erscheinen. Hinzu kamen die neuen Maßstäbe, die Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail, welche im Juli 1782 uraufgeführt wurde, für das Musikdrama setzte. Mit der die Kontexte berücksichtigenden Interpretation ändert sich also auch die Bedeutung der entstehungsgeschichtlichen Dokumente. Deutlich wird zugleich, daß solche Dokumente ebenfalls der Interpretation bedürfen. 10 Bereits der Dedikationstitel („Meinem Prinzipal dem Tod zugeschrieben"), die Zuschreibung und die Vorrede setzen sich durch die Bildlichkeit und die literarischen Verfahrensweisen vom herrschaftskonformen Gestus der Unterhaltungsalmanache ab (vgl. Anthologie auf das Jahr 1782, vgl. Anm. 4, Bl. 2- 6) und steuern so die Rezeption dieser Sammlung. Satirische Spitzen gegen die weltlichen Machthaber („Großmächtigster Czar alles Fleisches / Allezeit Vermindrer des Reichs", Bl. x3r), gegen die Zensur, die zeitgenössische Medizin und die Gelehrten (Bl. x2r-x4v) gehen einher mit der Almanachschelte (Bl. x5v-x6r). Zusammen mit den Anspielungen im Schluß-Gedicht Die Winternacht (S. 268-271), das denn auch konsequenterweise mit „ ." unterzeichnet ist, entsteht so ein insgesamt gesellschaftskritischer Rahmen für die Anthologie. 1 ' Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 3-9, 30-36. 12 Vgl. dazu Eduard Boas: Schiller's Jugendjahre. Hrsg. von Wendelin von Maltzahn. Bd. I. Hannover 1856, S. 164; J. Minor: Schiller. Sein Leben und seine Werke. Bd. 1. Berlin 1890, S. 191; Gero von Wilpert: Schiller-Chronik. Sein Leben und Schaffen. Stuttgart 1958, S. 29. 13 Vgl. Gerhard Friedl: Die Karlsschüler bei höfischen Festen. In: Schiller und die höfische Welt 1990, vgl. Anm. 6, S. 66. Gerhard Friedl hat in seinem Beitrag auf die „Hoffeste als Anregung und Hintergrund" für Schillers Semele aufmerksam gemacht, ohne jedoch den Bezug näher zu klären (S. 47). 14 Der Preiß der Tugend, in ländlichen Unterredungen und allegorischen Bildern von Göttern und Menschen, zur Ehre der besten Frau an Ihrem Geburts-Tag, Frau Francisco, Reichs-Gräfin von Hohenheim, gewidmet, auf gnädigsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht durch Eleven der Herzoglichen Militär-Akademie auf und in Musik gesezt, und von ihnen nebst einigen Demoiselles des

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kommt unter den Stuttgarter Huldigungsspielen vor allem die im Januar 1781 inszenierte Festa allegorica Minerva als entstehungsgeschichtliche Folie für Schillers Stück in Betracht.15 Dieses Stück verfugt wie Semele über eine geschlossene mythologische Handlung: Gezeigt wird, wie Minerva, als die Giganten den Olymp stürmen wollen, Jupiter beisteht, dafür vom Götterherrscher vor allen anderen Gottheiten erhöht wird und schließlich einen Tempel errichtet sowie einen Altar geweiht bekommt. Einher mit solcher Huldigung geht die Verwandlung des „unfruchtbaren Gestades in eine prächtige Stadt", in den „steten Siz der Künste und der Tugend" (S. 53, 55), eine Veränderung, die Jupiter zu Ehren Minervas herbeifuhrt. Am Ende wird die Allegorie dann aufgelöst: Minerva, die ein neues Reich des Friedens begründet, ist Franziska von Hohenheim (S. 65). Ins Mythologische überhöht werden so die Veränderungen dargestellt, welche die Herrschaft Karl Eugens unter dem Einfluß Franziskas für Württemberg erträglicher machten. Jubelchor, „allgemeiner Tanz" und ein „Kunstfeuer, das sich unversehens an den Sonnenstrahlen anzuzünden scheint, und in einem Augenblik den Tempel und den ganzen Vorhof bis an die Vorderscene mit seinem Schimmer umgiebt" (S. 67, 69), bilden das operngemäße Finale eines mythologischen Spiels, das in seiner Handlungsführung, in seinen Anleihen bei der Musik und bei der Bühnenkunst der Opera seria16 wie in seinem Umgang mit den mythologischen Details paradigmatisch für die höfische Funktionalisierung der zeitgenössischen Musikdramatik steht. Schillers Semele widersetzt sich solcher Vereinnahmung der jüngsten württembergischen Geschichte durch die höfische Repräsentationskunst: Die „lyrische Operette" ist eine literarische Kontrafaktur zu den Huldigungsspielen, zieht darum kolportageartig vereinzelte musikdramatische Strukturelemente zur Bedeutungskonstitution heran. Als Zitate ordnen sich die Anleihen beim Musiktheater so dem analytischen literarischen Modell unter. Indem

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Erziehungs-instituts dargestellt. Stuttgard, den 10. Januar 1779. (Ein Exemplar im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. A 272). Minerva. Festa allegorica, rappresentata nel gran teatro di Stutgard per ordine di sua altezza serenissima il Duca Regnante di Wirtemberg e Teck &c. &c. per celebrare il giomo di nascita di sua eccellenza la Contessa di Hohenheim, il giorno X. di Gennaro MDCCLXXXI. Stutgard. / Minerva. Eine festliche Vorstellung an dem Geburtsfest Ihrer Excellenz der Frau Reichsgräfin von Hohenheim auf dem grossen Theater zu Stuttgardt auf gnädigsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht aufgeführt den 10. Jenner 1781. [Stuttgart o. J.] (ein Exemplar im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Sign. A 272). - Das Libretto war bereits am 25. Dezember 1780 vertont (Vgl. Hermann Abert: Die dramatische Musik. In: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit. Hrsg. vom Württembergischen Geschichts- und Altertums-Verein. Bd. 1. Eßlingen a. N. 1907, S. 579). So ist es durchaus möglich, daß Schiller den italienischen Text oder dessen Übertragung ins Deutsche noch während seiner Karlsschulzeit kennengelernt hat. Auf jeden Fall konnten sie ihm in dem 1781 bei Cotta veröffentlichten Druck zur Verfügung stehen. Noch am Übergang zu den achtziger Jahren wirkte die Jommellische Oper der fünfziger und sechziger Jahre am Württembergischen Hof nach. Inzwischen waren die Karlsschüler „zu den eigentlichen Trägem der höfischen Kultur" gemacht worden (Friedl 1990, vgl. Anm. 13, S. 63). Jommellis Oper war „ganz das Produkt der höfischen Kunst des 18. Jahrhunderts": „Zur Verherrlichung einer Hoffestlichkeit, eines fürstlichen Geburtstages, eines erlauchten Besuches geschrieben, mußte ihre erste Aufgabe sein, zu glänzen und zu blenden, die Pracht und die Macht des eigenen Hofes dem Fremden vor Augen zu führen." (Ludwig Landshoff: Johann Rudolph Zumsteeg (1760-1802). Ein Beitrag zur Geschichte des Liedes und der Ballade. Berlin [1902], S. 5f.)

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Schillers Stück die Konstellation Herrscher - Mätresse - Volk und damit die Landesverhältnisse im dramatischen Text realistisch abbildet, konterkariert es die Selbstverherrlichung des ersten Standes. An die Stelle der Bilder, mit denen im Rahmen höfischer Repräsentation die Wohltätigkeit und die Fürsorge des Herrschenden zur Schau gestellt werden, treten in der Semele Figurenreden, welche dazu dienen, die tatsächlichen Machtverhältnisse zu analysieren. Durch den interpretierenden Vergleich von Schillers Stück mit seinen entstehungsgeschichtlichen Folien sind Voraussetzungen geschaffen, die nun die Ermittlung der Quelle erleichtem. Da es im Kontext der württembergischen Hoffeste keine Adaption des Semele-Stoffes gegeben hat, ist die Quelle ausschließlich in der antiken Überlieferung des Stoffes zu suchen. Für das dritte Buch von Ovids Metamorphosen als Quelle sprechen dann, daß Schillers Semele sowohl in der Fabel wie in der Figurenkonstellation Ovids Erzählungen eng folgt, daß Schiller die Metamorphosen gut kannte17 und auch sonst für Texte aus far Anthologie auf sie zurückgriff,18 schließlich noch, daß die herrschaftskritische Perspektive auch diesem antiken Werk über weite Strecken nicht fremd ist. Die Abweichungen von der Quelle aber sind auf die Art und Weise zurückzuführen, in der Schillers Semele Stellung bezieht gegenüber seinen literarischen Folien, den höfischen Huldigungssspielen am württembergischen Hof. Anders als in der Quelle hat Junos Haß auf Semele seinen Grund jetzt nicht mehr hauptsächlich in Semeies Abstammung, auch nicht darin, daß diese von Zevs schwanger wäre, sondern darin, daß sie den Standesunterschied ignoriert und so die Ordnung stört: Die zur Reichsgräfin von Hohenheim erhobene Franziska von Leutrum indes feierten die Huldigungsspiele als Retterin der bestehenden Ordnung. Weggefallen ist in Schillers Stück der Auftritt Jupiters mit seinen königlichen Insignien und damit die Inszenierung von Semeies Tod, dann auch die Rettung ihres ungeborenen Sohnes Bacchus: Im nicht auf Illusionierung, sondern auf Reflexion ausgerichteten Werk, in der 'Leseoperette', würde ein solch operngemäßes Schlußtableau nur stören; so aber ist in der abschließenden Unterredung zwischen Zevs und Merkur die Willkürherrschaft hervorgehoben. Was in der Quelle nicht zu finden ist, die Auftritte Merkurs und die Schäfer-Episoden, stammt aus den Huldigungsspielen: Wie bei den musikdramatischen Zitaten verkehrt sich die Bedeutung des Zitierten im anders strukturierten Werk; nicht legitimiert wird so die aufgeklärt absolutistische Herrschaft, sondern kritisiert als nach wie vor bestehendes Gewaltverhältnis. Solange man nur die Tatsache, daß Ovids Metamorphosen die Quelle sind, berücksichtigte, hat man ein ganz frühes Entstehungsdatum für Schillers Semele nicht

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So wählt Schiller als Motto seiner zweiten medizinischen Probeschrift eine Stelle aus Ovids Metamorphosen (vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20, vgl. Anm. 11, S. 37). „Turn primum radiis gelidi incaluere Triones" lautet das Motto, das sich auf den ersten Blick in die Sibirien-Metaphorik der Vorrede widerspruchslos einreiht (Anthologie auf das Jahr 1782, vgl. Anm. 4, Bl. x5r). Von solcher Erwärmung des eisigen Nordens durch die Strahlen der Sonne ist in Ovids Metamorphosen (II, 171) angesichts der Katastrophe die Rede, die Phae"thon nach der antiken Mythologie verursachte, als er die Gewalt über den Sonnenwagen verlor, den Phöbus seinem Sohn als Zeichen göttlicher Abkunft für einen Tag überlassen mußte (Met. II, 171-271).

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ausgeschlossen. Bis ins Jahr 1777 reichen diese Datierungsversuche zurück.19 Erst die im Kontext der literarischen Folien mögliche Auseinandersetzung darum, wie Schillers Stück mit der Quelle umgeht, erlaubt hingegen eine genauere Datierung. So zeichnet sich, gestützt auf Vergleiche mit den Entstehungszeiten anderer Anthologie-Beitrags, ein möglicher Entstehungszeitraum von Ende 1780 bis März 1781 ab. Und noch eine weitere Ableitung folgt aus der hier vorgestellten interpretierenden Quellenerschließung. Unwahrscheinlich wird nun, daß Schubarts Gedicht Jupiter und Semele20 eine Quelle für Schillers Werk ist. Denn mit Schubarts Hymne liegt eine 'Korrektur' zur „lyrischen Operette" vor. Der mythologische Stoff dient da der frommen Moral, die Beschreibung der Wirklichkeit im absolutistischen Staat wird ins Zeitlose der religiösen Moral zurückübersetzt.21 Auch aus anderen Texten der Anthologie entnimmt Schubart Zitate für seine Gedichte, für Lieder, in denen abgelesen werden kann, wie derjenige, der „als mißliebiger Kritiker der Regierenden verhaftet und ohne Anklage und Prozeß eingekerkert" worden war, schließlich zum „wimmernden Betbruder zusammengeschwunden" ist.22 Am hier Skizzierten läßt sich erkennen, daß die Bestimmung von Quellen mehr als eine formale Beschreibung von Abhängigkeitsverhältnissen ist, mehr auch als die Suche nach entsprechenden entstehungsgeschichtlichen Dokumenten. Wo die Quellenforschung die Kontextualisierung und die damit mögliche vergleichende Interpretation beinhaltet, erschließt die editionsphilologische Arbeit mit Quellen deren integrierende Funktion für die im übrigen isoliert nebeneinander stehenden Bereiche einer Werkausgabe. Quellen, Folien oder Anspielungshorizonte für einen zu edierenden Text zu 19

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„Nicht später als in's Jahr 1777" mochte Boas „die Entstehungszeit" setzen (Eduard Boas: Schiller's Jugendjahre. Hrsg. von Wendelin von Maltzahn. Bd. 2. Hannover 1856, S. 156). Weltrich plädierte für die „Jahre 1778-1779" (Richard Weltrich: Friedrich Schiller. Geschichte seines Lebens und Charakteristik seiner Werke. Unter kritischem Nachweis der biographischen Quellen. Bd. 1. Stuttgart 1885, S. 541). Noch Kluge plädiert mit seiner „ungefähren Datierung" „um 1779/80" für eine eher frühe Entstehung (Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Klaus HarroHilzinger [u. a.]. Bd. 2: Dramen I. Hrsg. von Gerhard Kluge. Frankfurt a. M. 1988, S. 1505). Chr. Fr. D. Schubarts Gedichte. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Gustav Hauff. Leipzig [1884], S. 378-381. „Der Mensch von Erde konnte die Gottheit nicht / In ihrer Nacktheit tragen. Wie beschämt / Der Heiden Dichtung unsre Weisen? / Sie wollen den Jehovah ohne Hülle, / Nicht in der Menschheit Jesus Christus sehen." (Schubart 1884, vgl. Anm. 20, S. 381.) Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2IIA. Hrsg. von Georg Kurscheidt und Norbert Oellers. Weimar 1991, S. 118; Christian Friedrich Daniel Schubart's Leben in seinen Briefen. Gesammelt, bearb. und hrsg. von David Friedrich Strauß. Bd. 2. Berlin 1849, S. 2. - In der Frömmigkeit, zu der Schubart im Kerker bekehrt wurde, konnte ihm die Anthologie auf das Jahr 1782 zur Anregung für die eigne Arbeit werden: So nahm er die Gedichte Triumfder Liebe, Laura am Klavier, Fantasie an Laura, Melancholie an Laura, Elisium, Morgenfantasie, Die Herrlichkeit der Schöpfung und Meine Blumen zu Vorbildern für zwölf Lieder, die während der Haft entstanden und 1784 in der Sammlung neuer Klavierstücke mit Gesang für das deutsche Frauenzimmer und in der Musikalischen Monatsschrift für Gesang und Klavier veröffentlicht wurden (wiederabgedruckt in Ernst Holzer: Schubart als Musiker. Stuttgart 1905, S. 117-125). Zitate aus der Anthologie in Schubarts Gedichten hat Bernhard Bosch nachgewiesen (Schubart und Schiller. In: Schwäbischer Schillerverein MarbachStuttgart. Rechenschaftsbericht. Stuttgart 1933, S. 57-63).

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suchen, heißt also zugleich immer, Aspekte der Entstehungsgeschichte und der Erläuterungen zu erarbeiten. Der Quellenarbeit kann damit eine integrierende Funktion innerhalb der Edition zukommen, ihre Ergebnisse allerdings sind hier nur bedingt integrativ darzustellen. Denn für die Präsentation des als Zusammenhang Aufgearbeiteten in den Ausgaben bleibt gültig: Am funktionalen Unterschied zwischen historisch-kritischen Werkausgaben und Interpretationen ist festzuhalten. Für die Edition gilt die Konzentration auf das Vereinzelnde, auf die konkreten Produktionsbedingungen in der Entstehungsgeschichte oder auf die Einzelstellen in den Erläuterungen. Integration kann jedoch immerhin innerhalb dieses Rahmens zur Darstellung gelangen: indem das Vereinzelte in seinen Bezügen untereinander präsentiert wird; auch indem Querverweise die verschiedenen Abteilungen der Anmerkungen untereinander verbinden; vor allem aber, indem die Interpretation, welche jeder Edition zugrunde liegt, für alle Teile einer Ausgabe als Voraussetzung begriffen wird.

Kristina Hasenpflug

Gedichte Clemens Brentanos an Luise Hensel Ein lyrischer Dialog

Einige der berühmtesten Gedichte Clemens Brentanos entstanden in den Jahren 1816 bis!819 unter dem Eindruck seiner Beziehung zu Luise Hensel, die, obwohl erst achtzehnjährig, damals schon einige Erfahrung als Lyrikerin gesammelt hatte. Brentano begegnete der Pastorentochter in einem Berliner Salon zu einer Zeit, zu der er sich in einer Glaubens- und Schaffenskrise befand. Seit dem frühen Tod der Mutter (1792) mit dem Gefühl der Unbehaustheit belastet, versuchte er immer wieder erfolglos, in der Bürgerlichkeit Fuß zu fassen - zuletzt im Winter 1814/15, als er bei Schinkel, mit dem Ziel Architekt zu werden, Unterricht nahm. Auch in der Liebe war ihm kein Glück von Dauer vergönnt. Und im Laufe der Jahre war sowohl der Glaube an die Liebe als auch der Glaube an die Kunst dem Gefühl der Bodenlosigkeit gewichen. Rückblickend beschreibt sich Brentano in einem Brief an seinen Bruder Christian als zum damaligen Zeitpunkt [...] verwüstet, geängstigt, im Innern unheilbar krank, erstarrt gegen Gott und geekelt gegen die Welt, wie in einer pfadlosen Traumöde im verderbten Leben stehend, verzweifelt an mir selbst, ohne Lust am Bösen und Guten.'

Von religiösen Zweifeln gequält, sehnte er sich nach einem Menschen, der ihn aus dieser Krise herausfuhren sollte. An Johann Nepomuk Ringseis schreibt er: „Dieser müßte mich an sich bannen durch die göttliche Atmosphäre der Unschuld und Frömmigkeit und mich leiten, wie einen freiwilligen Blinden, denn mir selbst kann ich nicht trauen."2 Diesen Menschen glaubte Brentano in Luise Hensel gefunden zu haben. Sie beeindruckte ihn durch ihre Frömmigkeit, ihre Unschuld bewunderte er, reizte ihn aber auch zur Verführung. Zwar blieb sein Werben um sie als Frau ohne Erfolg, doch es entwikkelte sich eine intensive Beziehung zwischen ihnen, in der der christliche Glaube keine unerhebliche Rolle spielte. Die selbst von konfessionellen Zweifeln gequälte Protestantin Luise Hensel hat entscheidend an Brentanos Reversion zur katholischen Kirche 1

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Clemens Brentano an Christian Brentano, Berlin, 03. Dezember 1817 (Du mußt mir ...), zitiert nach: Clemens Brentano's gesammelte Briefe. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1855, S. 238. Clemens Brentano an Johann Nepomuk Ringseis, Berlin, November 1815 - 1. April 1816 (Handschrift des Freien Deutschen Hochstifts: Ich habe nun ...).

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mitgewirkt. Namentlich ihre zwar einfachen, aber von tiefer Religiosität getragenen Gedichte scheinen auf Brentano wie ein Erweckungserlebnis gewirkt zu haben. Nachdem Brentano Anfang 1817 die Generalbeichte abgelegt hatte, nahm ihre Beziehung eine neue Wendung: Nun war es Brentano, der die Führung in religiösen Fragen für sich beanspruchte, und zwar die Führung hin zum Katholizismus. Wie es schon Gabriele Brandstetter dargestellt hat, ist ein solches Gefüge von Verführung und Bekehrung symptomatisch für Brentano und mit dem Begriff der Sublimierung allein nicht zu fassen.3 Nachdem Luise Hensel Ende 1818 während Brentanos monatelangem Aufenthalt in Dülmen am Krankenbett der stigmatisierten, visionär begabten Anna Katharina Emmerick und ohne sein Wissen konvertiert war, bewertete Brentano diesen Schritt als Verrat. Seine Kränkung und seinen Zorn kompensierte er aber bald, indem er seinen Bekehrungsversuchen ein neues Ziel steckte: den Klostereintritt Luise Hensels. Ein nicht zuletzt aus Eifersucht geborener Wunsch, denn Brentano vermutete in Berlin einen Nebenbuhler. Wenn er sie nicht als Frau gewinnen konnte, dann sollte dies auch keinem anderen Mann möglich sein. Als Luise Hensel deutlich werden ließ, daß sie Brentanos Drängen nicht mehr ertragen und sich auch nicht zu einem Klostereintritt entschließen wollte, erlitt ihr Verhältnis einen irreversiblen Bruch. Bevor und aber auch nachdem diese Beziehung zerbrochen war, verarbeitete Brentano die Gedichte Luise Hensels auf die unterschiedlichste Weise. Es ist bekannt, daß er die Gedichte Luise Hensels, die er für die Veröffentlichung in der von Melchior Diepenbrock herausgegebenen Lyrik-Anthologie Geistlicher Blumenstrauß ausgewählt hatte, stark verändert oder erweitert hat.4 Diese Erweiterungen gehen zum Teil so weit, daß sie das entsprechende Gedicht Luise Hensels völlig überformen. Brentano hat sein Eingreifen damit gerechtfertigt, daß er „so manches Persönliche darin und soviel unreifes Schwanken zwischen Welt und Himmel"5 gefunden habe und daher die Verfasserin vor der Preisgabe ihrer Intimität bewahren wollte. Brentano glaubte also, im Sinne Luise Hensels gehandelt zu haben, und nannte infolgedessen auch sie als Verfasserin der so entstandenen Texte. Daneben existieren aber auch Gedichte Brentanos, die Gedichte Luise Hensels in der verschiedensten Weise behandeln und deren Autorschaft Brentano für sich reklamierte.

I. Bearbeitungsverfahren - intertextuelle Phänomene und ihre Funktion Brentano hat seine Ausgabe der Trutznachtigall von Friedrich Spee Luise Hensel mit dem Gedicht Zueignung gewidmet.6 Seit Juni 1816 hatte sich Brentano mit der Idee 3

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Vgl. Gabriele Brandstetter: Erotik und Religiosität. Zur Lyrik Clemens Brentanos. München 1986, passim. Vgl. Hermann Cardauns: Aus Luise Hensels Jugendzeit. Freiburg 1918, S. 46-73. Zitiert nach: Cardauns 1918, vgl. Anm. 4, S. 71. Vgl. Clemens Brentano: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. 2., durchges. und im Anhang erw. Aufl. München 1978, S. 398-400.

Gedichte Clemens Brentanos an Luise Mensel

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einer Neuausgabe der Speeschen Lieder getragen, die Achim von Arnim Ende März 1817 als erschienen meldet.7 Die ersten drei Strophen der Zueignung (Vers 1-15) entwerfen wie eine Einleitung die Gedichtsituation: An Weihnachten begrüßt ein frommes Kind das Jesuskind in seinem Herzen und singt ihm ein Lied. An dieser Stelle bettet Brentano nun das dreistrophige Stille Gotteslob* Luise Hensels ein. In Metrik und Strophenbau lehnt sich Brentano völlig an Luise Hensels dreihebige Jamben, die dem Reimschema aabcb folgen, an. Am Rande sei bemerkt, daß der Hensel-Forscher Hermann Cardauns tatsächlich in seiner Ausgabe der Lieder als Erstdruck des Stillen Gotteslobs die Zueignung zur Trutznachtigall angibt. Brentano hatte von Luise Hensel zu Weihnachten 1816 Abschriften ihrer Gedichte bekommen, darunter auch Stilles Gotteslob, das er jedoch in seiner Montage in der Zueignung variiert (Vers 16-30): Zunächst paßt Brentano die Vortragssituation des Liedes in das Rollengedicht ein. Es wird nicht mehr wie bei Luise Hensel einem nicht näher definierten Publikum vorgetragen, „Ich hätt' euch längst gesungen" (Stilles Gotteslob, Vers 2), sondern dem Jesuskind, „Ich hätt' dir längst gesungen" (Zueignung, Vers 2). Entsprechend hat Brentano 'Vater' und 'Herr' durch 'Jesus' beziehungsweise 'Heiland' ersetzt. So heißt es in den Versen 2123 nicht mehr wie bei Luise Hensel: Ich weiß ja keine Weisen, Den Herren so :u preisen, Den Vater, treu und mild, (Stilles Gotteslob, Vers 6-8),

sondern: Ich weiß ja keine Weisen, Dich Heiland so :u preisen, Dich Jesu fromm und mild, (Zueignung, Vers 21 -23).

In die letzten beiden Verse greift Brentano stärker ein und variiert Luise Hensels: Ach. Kind, er weiß dein Lieben, Er sieht dir ja ins Her:. (Stilles Gotteslob. Vers 14f.)

zu: Ach Kind du weißt mein Lieben, Du siehst mir ja ins Her:! (Zueignung. Vers 29f.).

7

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Vgl. Konrad Feilchenfeldt: Brentano Chronik. München 1978, S. 102 und S. 106. Vgl. Otto Mallon: Brentano-Bibliographie. Berlin 1926 (Neudruck: Hildesheim 1965), S. 66. Luise Hensel: Lieder. Hrsg. von Hermann Cardauns. Regensburg 1923, S. 29.

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Während im Gedicht Luise Hensels hier nun das 'Kind', also das lyrische Ich der vorangegangenen Verse, angesprochen wird, behält Brentano die Sprechrichtung seiner Bearbeitung, nämlich das Kind spricht zu Jesus, bei. So bleibt das Lied des Kindes in der Zueignung ein Monolog, dem allein das Jesuskind lauscht, womit eine Situation von größerer Intimität geschaffen wird. Jede Strophe des Liedes variiert das Thema des Liedes neu: die Klage des Kindes über sein Unvermögen, seiner Liebe zu Jesus in Liedern oder „Weisen" Ausdruck zu verleihen. Es folgt die Erwiderung Jesu, in der er das Kind dreifach beschenkt. Zunächst beschert Jesus dem Kind ein „Kindlein, Schmerzenreich", das es rein wie die Muttergottes wiegen soll (Vers 32-35). Diese Verheißung hat einen konkreten biographischen Bezug, denn Luise Hensel sollte ab Januar 1817 den kleinen Sohn ihrer im Dezember 1816 verstorbenen Schwester aufziehen. In dem Attribut „Schmerzensreich" überlagern sich drei Bedeutungen: Zum einen ist es im Gedicht das Attribut des ,,Kindlein[s]", in der christlichen Terminologie ist es ein Attribut Jesu, zum anderen aber weist es auch auf Brentano selbst. Schmerzenreich oder Benone, „welches ein Mann des Schmerzens heißen soll"9, benutzte Brentano als Rollennamen in Berlin, unter dem ihn Luise Hensel in einigen ihrer überlieferten Briefe ansprach. Als zweites soll dem Kind ein zu Jesus bekehrtes Herz beschert werden (Vers 36-40), das ebenfalls mit dem polysemischen Attribut „an Schmerzen reich" versehen wird. Hier scheint es sich jedoch eindeutig auf Brentano zu beziehen, denn Luise Hensel schreibt in einem Brief, der aus den Tagen kurz nach Heiligabend 1816 stammen muß: „Ach Brentano, ich weiß, daß Ihr - nein, D e i n Herz, lieber Bruder! ein Geschenk Gottes ist."10 Als dritte Gabe wird dem Kind die „Weise" beschert, die Jesus „Trotz Lerch', trotz Nachtigall" lobsingt (Vers 41-45); diese Verse dedizieren dem Kind also explizit die Lieder der Trutznachtigall. Die folgende Strophe: Sieh, was ich dir gegeben, Drum sollst das Haupt du heben, Und öffnen deinen Mund, Undfreud'ge Lieder singen, (Vers 46-49)

schließt wieder den Bogen zu dem klagenden Lied des Kindes. Es soll wegen dieser Gaben Jesu freudige Lieder singen. Die nun folgenden vier Strophen der Antwort des Jesuskindes (Vers 51-68) bilden ein Jahreszeitengedicht, das an dieser Stelle überrascht. Für jede Jahreszeit werden charakteristische Attribute als Anlaß zur Freude, als Gabe Jesu an das Kind dargestellt: Im Frühling sind es Blumen und Kranz, im Sommer eine Ährengarbe, im Herbst Wein und Frucht und im Winter schließlich wird wieder Bezug genommen auf die Ausgangssituation der Zueignung, auf Weihnachten, im Winter ist es die Geburt Christi. In den restlichen Versen (69-75) der Zueignung ergreift wieder das 'Kind' das Wort: 9

Brentano 1978, vgl. Anm. 7, S. 1139.

10

Ein Brief Luise Hensels an Clemens Brentano. Mitgeteilt von Lujo Brentano. In: Hochland 14, 1917, Bd. 1,5.341-347.

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Da sprach das Kind ergeben: „Ja Kind, das will ich so! AU, was du mir bescheret, Hab ' ich von dir begehret Mit Liedes Flug und Fall,

Aber die Gaben, die Jesus in jeder Jahreszeit beschert, hat das Kind in seinem klagenden Lied in der Zueignung nicht erwähnt. Möglicherweise klingen hier weitere Lieder des 'Kindes' an. Tatsächlich findet sich unter den Gedichten Luise Hensels auch ein jenseitsgewandtes Jahreszeitengedicht, das den Titel Die Flucht der Zeitn trägt. Wie es seine Stellung innerhalb der chronologisch geordneten Lieder vermuten läßt, ist dieses Gedicht 1815 entstanden. Zwar findet es sich nicht in den Abschriften der Gedichte Luise Hensels, die Brentano seinem Bruder schickte, aber es existiert kein Hinweis darauf, daß diese Abschriften Brentanos ausschließlichen Kenntnisstand der Lyrik Luise Hensels dokumentierten, er also darüber hinaus keines ihrer Gedichte kannte. Luise Hensels achtstrophiges Gedicht gliedert sich in zwei symmetrische Teile. Während die ersten vier Strophen jeweils am Beispiel charakteristischer Attribute einer Jahreszeit die Vergänglichkeit des irdischen Lebens beschreiben, also den Vanitas-Topos immer neu variieren, zeigen die letzten vier Strophen als Alternative das ewige Leben bei Gott. Die Attribute, die Luise Hensel den Jahreszeiten zuordnet, sind: im Frühling der Blumenkranz, im Sommer die Getreideernte, im Herbst die gereiften Früchte und im Winter der Tod der Blumen und das Schweigen aller Lieder. Brentanos erste drei Jahreszeitenstrophen attribuieren Frühling, Sommer und Herbst also die gleichen Charakteristika. Die vierte Strophe weicht dann allerdings mit der Zuordnung des Weihnachtsfestes zum Winter von den Attributen, die Luise Hensel der letzten Jahreszeit gibt, ab. Diese Strophe ist es, die in Brentanos Gedicht wieder den zeitlichen Bogen zu der Ausgangssituation der Zueignung schließt. Doch gleichzeitig schließt auch der Vers „Es schweigen alle Lieder" des Gedichtes Luise Hensels, der in Brentanos Gedicht nicht zitiert wird, den Bogen zu der Klage des Kindes am Anfang der Zueignung. Der semantische Konnex der Jahreszeitenstrophen Brentanos zum Anfang der Zueignung wird so durch die palimpsestartig durchscheinenden Strophen aus Luise Hensels Flucht der Zeit geschaffen. Die Besonderheit ist hier, daß der eigentliche Sinnzusammenhang über den nicht zitierten Vers „Es schweigen alle Lieder" des Henselschen Gedichts hergestellt wird. Beide Referenztexte Luise Hensels erfahren durch ihre Integration in die Zueignung eine semantische Veränderung. Ihre jenseitsgewandte Haltung wird in freudige Bejahung des Lebens im kindlichen Glauben an Jesus Christus verändert. Gleichzeitig wird der aus ihnen sprechenden bescheidenen Haltung zur eigenen Lyrik widersprochen. Die Verse 74-75 „Drum will ich dir lobsingen / Trotz Lerch', trotz Nachtigall!" rücken die Lieder des Kindes, also die Gedichte Luise Hensels, in die Nähe der geistlichen Lyrik Friedrich Spees, die in den Versen 42-45 mit den gleichen Worten beschrieben bzw. n Hensel 1923, vgl. Anm. 8, S. 42f.

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umschrieben wurden. Die Referenzen der Zueignung sind besonders vielfaltig. Es zeigen sich biographische Bezüge, die, wenn sie in Briefen dokumentiert sind, auch zu Textreferenzen werden. Es findet sich die Montage eines vollständigen, fremden Textes. Und schließlich scheinen an einer weiteren Stelle der Zueignung wie bei einem Palimpsest vier weitere fremde Strophen durch den Oberflächentext Brentanos. Wobei es an dieser Stelle, trotz aller bei dem Phänomen der Intertextualität auftretenden Schwierigkeiten der terminologischen Differenzierung, zulässig scheint, von einer Kontrafaktur zu sprechen, verstanden als ein Verfahren, das charakteristische Merkmale einer Vorlage übernimmt, um sie für die Formulierung einer eigenen, unterschiedlichen Botschaft auszunutzen. Auch in seinem Gedicht Herr Gott, dich will ich preisen12, das Brentano in den Anhang der Trutznachtigall aufgenommen hat, ist ein Gedicht Luise Hensels eingearbeitet. Hier jedoch scheint die Zuordnung der jeweiligen Arbeitsanteile nicht mehr zu gelingen. In den Gesammelten Schriften Brentanos erscheint es unverändert wie in der Trutznachtigall. Dagegen stimmen im Geistlichen Blumenstrauß, wo es unter dem Titel Kindeslallen publiziert wurde, die ersten sechs Strophen mit denen in der Trutznachtigall überein, die danach folgenden vier Strophen wurden aber durch sechs andere ersetzt. Das Manuskript Luise Hensels für die erste Ausgabe ihrer Lieder folgt dieser Fassung. Allerdings lag Hermann Cardauns, der noch den Nachlaß Luise Hensels vor seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg einsehen konnte, ein Heft mit eigenhändigen Reinschriften vor, in dem das Gedicht nur acht Strophen hat. Leider erwähnt Cardauns nicht, ob und inwiefern diese kurze Fassung mit der längeren Fassung übereinstimmt. Cardauns schlägt eine mögliche Zuordnung der Arbeitsanteile zumindest für den Vergleich der Fassung in der Trutznachtigall Brentanos mit der im Geistlichen Blumenstrauß Luise Hensels vor, nämlich „die nicht übereinstimmenden Strophen dort Brentano, hier Luise zuzuweisen"13. Ob allerdings die kurze Fassung des Gedichts in dem Heft Luise Hensels die ursprüngliche ist und damit auch die umfangreichere Fassung im Geistlichen Blumenstrauß und in den Liedern durch Brentano beeinflußt wurde, kann auch Cardauns nicht beantworten. In diesem Fall kann als Bearbeitungsverfahren Brentanos die Montage nur vermutet werden. Brentanos Warum er mich verlassen1* entlehnt von Luise Hensels Gedicht Vertrauis en nicht nur Metrik und Strophenbau und -anzahl, sondern auch die Reime, häufig bei 23 von 40 Versen - sogar die Reimworte. Die formale Äquivalenz von Brentanos Warum er mich verlassen und Luise Hensels Vertrauen geht jedoch nicht mit einer inhaltlichen einher. Schon die jeweilige lyrische Zeit zeigt eine nuancierte Abweichung: Luise Hensels Gedicht wird in der ersten Gesamtausgabe ihrer Lieder und in ihrem Tagebuch vage in die Fastenzeit 1818 datiert, im Geistlichen Blumenstrauß lautet das Datum „Am Karfreitag" und im eigenhändigen Druckmanuskript für die dritte Auflage 12 13 14 15

Brentano 1978, vgl. Anm. 6, S. 400f. Cardauns 1918, vgl. Anm. 4, S. 53f. Brentano 1978, vgl. Anm. 6, S. 424f. Mensel 1923, vgl. Anm. 8, S. 84.

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ihrer Lieder ist von fremder Hand „Vor Karfreitag" hinzugefügt.16 Brentanos Gedicht dagegen ist mit Am Charsamstag 1818 überschrieben, ist also einen Tag nach Ende der Fastenzeit, nachdem das Erlösungsgeschehen vollbracht ist, datiert. In Luise Hensels Gedicht wendet sich das lyrische Ich wie in einem Gebet an den „Heiland" (Vers 28), während in Brentanos Gedicht das Bibelzitat (Mt 27,46; Mk 15,34) der ersten beiden Verse Warum er mich verlassen, Mußt' ich zum Vater schrein, (Vers l f.)

auf die Identität des Ich mit Jesus verweist. Der Vergleich der jeweiligen Gedichtaussagen macht das Verhältnis beider Gedichte zueinander evident: Luise Hensels Vertrauen greift die in der pietistischen Lyrik beliebte Brautmystik auf und gestaltet sie als verzweifelte Suche des Ich nach dem erwählten Bräutigam, nach Jesus: Ich liebe dich von Herzen, Ich sehne mich nach dir; Ich suche dich mit Schmerzen (Vers 5-7) [...] Und soll ich dich nicht haben, Den ich allein erwählt, So soll man mich begraben Verschmäht und unvermählt. (Vers 33-36)

Gekoppelt wird diese Suche mit der ebenfalls für die pietistische Lyrik charakteristischen Introspektion, der Betrachtung der eigenen Sündhaftigkeit, deren Überwindung Luise Hensel in ihrem Gedicht Jesus anheimstellt: Nimm alle meine Triebe In deine Hut und Acht. Nimm alle meine Sinnen Und schaff sie in dir neu; (Vers 19-22)

Brentanos Gegengedicht nun weist zur Aufhebung der Sünden auf das katholische Sakrament der Beichte und das Abendmahl hin: Bekenne deine Sünden, So wird dein Hoffen leicht, Und wollen deine Augen Mich liebend dann nicht sehn, Soll dir der Glaube taugen Blind zu dem Tisch zu gehn. (Vers 11-16)

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Vgl. Hensel 1923, vgl. Anm. 8, S. 85f.

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Dabei deutet er in der dritten Strophe das katholische Dogma der Transsubstantiation an: Dann werden alle Sinnen In meinem Hiersein neu (Vers 21 f.)

Dem Bußkampf des Ich im Gedicht Luise Hensels werden also von Brentano rein katholische Sakramente beziehungsweise den rein katholischen Dogmen entsprechend charakterisierte Sakramente entgegengesetzt. Die Emphase auf den Katholizismus gipfelt in dem Parallelismus der letzten Verse: Die Kirche, die sie schmähen, Sie ist die Mutter dein, Sie lehrt dich auferstehen Sie lehrt dich selig sein. (Vers 37-40)

Was Luise Hensel in ihren Notizen als „Gegenstück" zu ihrem Gedicht bezeichnet,17 ist eine gelungene Kontrafaktur mit Antwortcharakter: Der verzweifelten Suche nach Jesus wird die Konversion als Lösung entgegengestellt. Auch Brentanos O war' ich dieser Welt doch lös1* ist dieser Art Bekehrungsgedichte zuzurechnen, auch wenn hier die Frage der Referenz zu einem Gedicht Luise Hensels, nämlich Hinweg von hier! Hinauf zu dir!19, durch dessen unsichere Datierung nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten ist. O war' ich dieser Welt doch los gleicht Luise Hensels Hinweg von hier! Hinauf zu dir! in der Metrik und dem markanten Strophenbau, der vier jambische Vierheber kreuzweise reimt und dann vier jambische Zweiheber mit Füllungsfreiheit anschließt, die ebenfalls kreuzweise reimen. Während Brentanos Gedicht das Datum des 14. Juli 1818 trägt, datiert die Gesamtausgabe der Lieder Luise Hensels Gedicht auf 1818, dokumentiert aber auch einen eigenhändigen Vermerk auf einer geringfügig von der Druckfassung abweichenden Abschrift, der das Gedicht auf „Spätherbst 18"20 datiert. Dieser Vermerk kann sich allein auf das Datum der Abschrift beziehen, aber auch das Enstehungsdatum des Gedichtes meinen. Im letztgenannten Fall kann Luise Hensels Gedicht nicht als Referenztext Brentanos gelten, sondern es müßte von einer umgekehrten Abhängigkeit ausgegangen werden. Da aber die Verarbeitung fremder Texte für Brentano häufig belegt ist und er namentlich die Gedichte Luise Hensels gerne bearbeitet hat, während für Luise Hensel eine solche Arbeitsweise ungewöhnlich wäre, wird hier von dem erstgenannten Fall ausgegangen, also die Entstehung der ersten Fassung des Henselschen Hinweg von hier! Hinauf zu dir! vor dem 14. Juli 1818 vermutet. Das sechsstrophige Hinweg von hier! Hinauf zu dir! ist in seiner Motivik ebenfalls der Tradition der pietistischen Brautmystik verpflichtet und thematisiert den die 17 18 19

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Vgl. Cardauns 1918, vgl. Anm. 4, S. 48. Brentano 1978, vgl. Anm. 6, S. 431-438. Hensel 1923, vgl. Anm. 8, S. 97-99.

Ebda, S. 99.

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Henselsche Lyrik bestimmenden Dualismus von Welt und Gott, der auf der persönlichen Ebene mit dem Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit als Bußkampf ausgefochten wird: Die Welt ist falsch, nur du bist treu. (Vers l) [...] Auf deine Kraft hab' ich vertraut, So laß im Kampf mich siegen, Laß mich als deine sei 'ge Braut In deine Arme fliegen. (Vers 25-28)

Brentano übernimmt nun in seinem Gedicht O war' ich dieser Welt doch los nicht allein Metrik und Strophenbau, wobei er allerdings den Umfang auf dreißig Strophen erweitert und den Wechsel des Metrums mit dem fünften Vers durch Wortwiederholungsfiguren mildert, sondern auch die Thematik wird beibehalten. Von Luise Hensels Gedicht unterscheidet es sich zunächst dadurch, daß die Motive, die auch das Gedicht Luise Hensels benutzt, stärker eingebunden werden in den biographisch-persönlichen Bezugsrahmen. Den abstrakten Begriff der „Welt" konkretisiert Brentano zunächst zur Lebenswelt Luise Hensels. Beispielsweise die Verse Mein eigen Haus ist schlecht bestellt, Ich soll bei Fremden wachen, (Vers 11 f.)

beziehen sich auf die drückende finanzielle Situation der Familie Hensel, die es Luise Hensel abverlangte, als Erzieherin mit für den Unterhalt ihrer Familie zu sorgen. Den sozialen Ehrgeiz der Mutter, die ihre Kinder zur Pflege gesellschaftlicher Kontakte förmlich drängte, prangert Brentano in folgenden Versen an: Ich schaudre bei dem bunten Kram Von Anstand und von Lügen, Ich muß die Wahrheit und die Scham Mit Schicklichkeit betrügen, (Vers 17-20) [...] Und dort, doch nein, laß uns geschwind. Hin zum Erlöser wallen, Es möchte sonst sein dummes Kind In alte Fehler fallen, Ja fallen, zu Gefallen Den ändern zu sein, Umlaufen bei allen. Ihn lassen allein. (Vers 217-224)

Aber auch die von der „Welt" provozierte Versuchung wird durch Brentano konkretisiert. Er nennt zuerst die Versuchung des 'Wählens' (Vers 31), des 'Zweifeins' (Vers 49) und der „Neubegier" (Vers 51), die Brandstetter ganz richtig als „wägende Haltung

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der Ratio" und als „theologische Skepsis"21 erkennt. Gleichzeitig rekurriert Brentano mit der Qualifizierung des 'Zweifeins' und der 'Neugier' als negativ und sündhaft auf eine augustinische Lehrmeinung. Die curiositas wird in der Neuzeit als Recht des Menschen definiert, im Mittelalter aber wurde sie als Sünde klassifiziert. Denn die Wurzel dieser Art 'Schaulust' wurde in dem sich selbst genügenden und sich selbst genießenden Erkenntnisvermögen gesehen. Gleichzeitig ist sie, wenn sie sich auf Gegenstände der Natur etc. richtet, die Gegenrichtung der allein dem Menschen nützlichen Selbsterkenntnis. Ihre Wurzeln hat die curiositas nach Augustinus in dem amor actionis, in der verwerflichen Betriebsamkeit, die wiederum auf die superbia des Gott-gleichenWollens zurückzufuhren ist.22 Brentano hat die ins Verderben fuhrende Neugierde schon in früheren Prosawerken thematisiert, so in der Parabel vom schönen Bettler, die als Binnenerzählung das Ende der fragmentarischen Erstfassung der Chronica des fahrenden Schülers bildet, und in den Mährchen vom Rhein. Hier zielt der Rekurs auf die mittelalterliche Theologie auf den vorreformatorischen Zustand der ungeteilten katholischen Kirche, denn zur Überwindung der Sünden kennt der Katholizismus ein Mittel: Gieb daß das heil 'ge Sakrament Der Buße ganz mich reinigt, Ja reinigt und vereinigt Dem Kirchenbrautleib, Auf daß ich verdeinigt Dir ewig verbleib. (Vers 107-112)

Bekanntermaßen zählt die Buße allein in der katholischen Kirche zu den Sakramenten. Der Bitte des lyrischen Ich (hier also Luise Hensels) um Aufnahme in die Kirchengemeinschaft läßt Brentano nun eine Assumtion folgen, die gleich einem 'Stationsweg' an verschiedenen Heiligen vorbeifuhrt. Zum einen sind dies die Namenspatrone von Luise Hensel und Brentano, der hl. Ludwig (Vers 163) und der hl. Clemens (Vers 201), sowie von Luise Hensels Ziehkind Rudolf Rochs, der hl. Rudolph, dessen Patenschaft Brentano übernahm und dies als Grundlegung einer familiären Bindung zwischen ihnen begriff. Die Namen werden so zum Zeichen einer Gemeinschaft, die die irdischmenschliche Dimension überschreitet: Ob 's Rudolph oder Klemens sei, Dem sie ihn übergaben, Ja gaben und weihten In weltlichem Sinn, Wer nimmt von den beiden Zum Mündel ihn hin. (Vers 195-200)

Die Patenschaft, die auf der pragmatischen Ebene die Versorgung des Täuflings regelt, wird im sakralen Akt der Taufe durch die Namensgebung zur Einschreibung aller 21 22

Brandstetter 1986, vgl. Anm. 3, S. 159. Vgl. Hans Blumenberg: Augustins Anteil an der Geschichte des Begriffs der theoretischen Neugierde. In: Revue des Etudes Augustiniennes 7, 1961, S. 35-70, hier S. 35-44.

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Beteiligten in die christliche communio. Die so festgeschriebene familiäre Bindung wird durch die Namen in die - im wörtlichen Sinne verstandene - Gemeinschaft der Heiligen transzendiert und erhöht. Zum anderen fuhrt der 'Stationsweg' an einem Engel (Vers 123), an der Muttergottes (Vers 130) und an den Märtyrerinnen Perpetua (Vers 146), Juliana (Vers 170), Dorothee (Vers 177) und Katharina (Vers 185) vorbei. Mit der Nennung Vinzenz von Pauls (Vers 155) wird der Heilige in den 'Stationsweg' aufgenommen, an dem sich Brentanos Konfessionskritik darstellen läßt. Begeistert hatte er die im Mai 1818 erschienene Hagiographie des Heiligen von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg gelesen und daraufhin ein Gedicht auf Vinzenz von Paul verfaßt, Gepriesen sei der Glaubens held,23 Dem Gründer der 'Barmherzigen Schwestern' zollte Brentano auch noch Jahre später seine Hochachtung in einer umfangreichen Veröffentlichung über diesen caritativen Orden.24 Das in den Gesammelten Schriften25 unvollständig abgedruckte Gedicht ist in einer Abschrift Anna Barbara Sendtners erhalten und wurde in dieser Fassung von Hartwig Schultz zugänglich gemacht.26 Brentano feiert hierin Vinzenz von Paul als den wahren Erneuerer der Kirche („Er soll mein Reformator sein", Vers 176) und spart dabei nicht mit Kritik an Martin Luther. Die in diesem Gedicht hörbare Kirchenkritik und -Utopie erinnert stark an Novalis' Essay Die Christenheit oder Europa21, das die Utopie eines im Christentum geeinten Europas entwirft. Das ideale Wesen des Christentums findet Novalis hier im katholischen Mittelalter verkörpert. Denn: „Mit der 23

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25

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Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Leben des Heiligen Vincentius von Paulus und ein aus dem Italiänischen übersetztes Gespräch der heiligen Katharina von Siena. Münster 1818. - Bettina von Amim schreibt am 5. August 1818 an Achim von Arnim: „Ich habe den Vinzenzius von Paula gelesen, Clemens hat ein langes Gedicht darauf gemacht worin er beweist, daß dieser ein wahrer Held der Kirche ist, nicht aber Luther; damit hat er den Gerlach sehr geärgert." Zitiert nach: Achim und Bettina in ihren Briefen. Briefwechsel Achim von Amim und Bettina Brentano. Hrsg. von Werner Vortriede. Bd. 1. Frankfurt 1961, S. 138. Vgl. ebenfalls: Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805-1820. Hrsg. von Hans-Joachim Schoeps. Berlin 1966, S. 282f. und S. 288. Clemens Brentano: Die Barmherzigen Schwestern in Bezug auf Armen und Krankenpflege. Erstdruck: Coblenz 1831. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 22,1. Stuttgart 1985. Vgl. auch die Erläuterungen zu Vinzenz von Paul in Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 22,2. Stuttgart 1990, S. 200f. Vgl. Clemens Brentanos gesammelte Schriften. Bd. 1. Hrsg. von Christian Brentano, Frankfurt 1852,8.264-271. Clemens Brentano: Gedichte. Hrsg. von Hartwig Schultz, Aschaffenburg 1979, S. 180-188. Novalis: Schriften. Bd. 3. Stuttgart 1962, S. 507-524. Die Frage nach der Möglichkeit einer Abhängigkeit der konfessionskritischen Ideen Brentanos von Novalis' Essay wird allein schon dadurch gestellt, daß Die Christenheit oder Europa erstmals 1826 ediert wurde, während die hier behandelten Gedichte Brentanos einige Jahre früher entstanden sind. Doch wahrscheinlich datiert die erste Begegnung Brentanos mit Die Christenheit oder Europa aus seiner Zeit in Jena. Dort hatte Novalis sein Essay im Schlegel-Kreis Mitte November 1799 vorgetragen, sein Manuskript verblieb in Jena bis Februar 1800, ohne daß eine Abschrift angefertigt wurde (vgl. Richard Samuel: Einleitung zu Die Christenheit oder Europa. In: Novalis 1962, vgl. oben, S. 498 und 501). Der Lesung Novalis' hat Brentano zwar nicht beiwohnen können, da er sich zu dieser Zeit in Frankfurt aufhielt, doch kehrte er Mitte Dezember 1799 nach Jena zurück (vgl. Feichelfeldt 1978, vgl. Anm. 7, S. 24), wo er weiterhin in Kontakt mit dem Schlegel-Kreis stand und möglicherweise Novalis' Manuskript lesen konnte.

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Reformation wars um die Christenheit gethan."28 Der Hauptvorwurf, den Novalis den Protestanten macht, zielt auf deren Verabsolutierung des Worts und die damit einhergehende Freigabe der Bibelexegese.29 Daß Brentanos Position zu dieser Frage der Novalis' entsprach, läßt sich in seinem Spätwerk, aber auch in Briefen der Münchener Jahre belegen. Die Nennung Vinzenz von Pauls in O war ich dieser Welt doch los trägt daher programmatischen Charakter und ist als Signal für Brentanos Wunsch nach der Konversion Luise Hensels zu werten. Gleichzeitig mag hier aber in der Nennung des Gründers eines Frauenordens auch eine weitere 'utopische Referenz' impliziert sein, denn schließlich erhoffte Brentano auch den Klostereintritt Luise Hensels. Brentano kleidet also auch hier seinen Konversionsaufruf an Luise Hensel in die ihr eigenen sprachlich-lyrischen Formen. Die semantische Differenz zwischen seinem und ihrem Gedicht - dem bußfertige Haltung transportierenden Weltentsagungsgedicht einerseits und dem den Weg zum Heil durch den Eintritt in die katholische Kirche verheißenden Gedicht Brentanos andererseits - wird also durch formale Äquivalenz kaschiert. Brentano unterstützt seine Intention, die Gedichtaussage als die Luise Hensels erscheinen zu lassen, nicht allein, indem er sie als lyrisches Ich sprechen läßt, sondern auch durch die Konkretisierung der 'Welt' zur Lebenswelt Luise Hensels. Damit bindet Brentano das eine Antonym des als lyrischer Topos geläufigen Gegensatzes von Welt und Gott an die Person Luise Hensels und erreicht dadurch, daß dieser Antagonismus rückgeführt wird aus dem Ensemble der abstrakten, standardisierten literarischen Topoi in die Erfahrungswelt des Subjekts. Auch die erhoffte Konversion Luise Hensels, ihre Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen wird durch den familiäre Zugehörigkeiten stiftenden Taufakt ihres Ziehkindes als persönlich erfahrbar gezeichnet. Und schließlich wird das heilige, gottgefällige Leben in der katholischen Kirche, das Luise Hensel nach der Konversion erwartet, in den Heiligen des 'Stationsweges' personifiziert. Eine letzte intertextuelle Hommage für Luise Hensel findet sich in dem Schlußgedicht der Spätfassung des 'Gockelmärchens' von 1838, Alle patschten in die Hände30. Hierhinein montiert Brentano das heute noch bekannte Abendgebet Luise Hensels, Müde bin ich, geh' zur Ruh3]. Brentano entfaltet in seinem Schlußgedicht über die vielfältigsten Referenzen einen kosmologischen Zusammenhang, der in den das Gedicht beschließenden und Brentanos Spätlyrik leitmotivisch durchziehenden zwei Versen O Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!

kulminiert. Formal paßt Brentano sein Schlußgedicht des 'Gockelmärchens' dem Abendgebet Luise Hensels an, das sich formal an der durch Gesang- und Gebetbücher tradierten Ästhetik orientiert. Doch Brentanos Gedicht ist eingebunden in einen an 28

Novalis 1962, vgl. Anm. 27, S. 513. Vgl. ebda, S. 512. 30 Clemens Brentano: Werke. Bd. 3. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp. 2., durchges. und im Anhang erw. Aufl. München 1978, S. 826-831. 3 ' Hensel 1923, vgl. Anm. 8,5.71. 29

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literarischen Bezügen reichen ästhetischen Kosmos, der die verschiedensten Bedeutungsdimensionen faßt.

II. Editorische Behandlung der Intertextualität Die hier vorgestellten Gedichte Brentanos werden im Rahmen der vom Freien Deutschen Hochstift veranstalteten Frankfurter Brentano-Ausgabe (FBA) historisch-kritisch ediert, wobei die Gedichtbearbeitungen gesondert von Brentanos Lyrik erscheinen sollen. Im Falle der intertextuell organisierten Gedichte Brentanos gilt es daher zunächst zu entscheiden, ob sie als 'Bearbeitungen' oder als 'eigenständige Werke' einzustufen sind. Sinnvoll scheint es dabei, das Urteil Brentanos zu übernehmen, indem die Gedichte, die von ihm unter anderem Namen veröffentlicht wurden, wie beispielsweise die für die Edition im Geistlichen Blumenstrauß von ihm bearbeiteten Gedichte Luise Hensels, als 'Gedichtbearbeitungen' gelten, während die intertextuell organisierten Gedichte, deren Autorschaft Brentano für sich reklamierte, als eigenständige Werke klassifiziert werden. Das würde bedeuten, daß die in der Trutznachtigall veröffentlichte Fassung des Gedichtes Herr Gott, dich -will ich preisen in die Lyrikbände der FBA aufgenommen wird, während die Fassung im Geistlichen Blumenstrauß im Band der Gedichtbearbeitungen ediert wird. Über den Sachverhalt der Intertextualität wird innerhalb der FBA grundsätzlich im Kommentarteil informiert. Die Hinweise auf Brief- und biographische Bezüge werden im Stellenkommentar gegeben. Dort sollte auch auf Montagen der Gedichte Luise Hensels hingewiesen werden, wobei die Varianten der Bearbeitung Brentanos aus Gründen der Platzerspamis lemmatisiert dokumentiert werden. Im Falle der Darstellung der Kontrafaktur ist die editorische Gratwanderung zwischen Kommentierung und Interpretation, die nach den Editionprinzipien der FBA im Kommentarteil ausgespart bleiben soll, schwieriger. Hier hängt die Bereitschaft, bestimmte textuelle Phänomene als evidente Referenzsignale zu werten, stark von der theoretischen Position des Kommentators im Verhältnis zur Problematik der Intertextualität ab. Im 'Stellenkommentar' zur Zueignung sollte die Kontrafaktur des Henselschen Die Flucht der Zeit mit dem Hinweis zum Vergleich in voller Länge (da die Edition der Lyrik Luise Hensels schwer zugänglich ist) dokumentiert werden. Kann ein vollständiges Gedicht Brentanos als Kontrafaktur bezeichnet werden, wie beispielsweise das Gedicht Warum er mich verlassen, so sollte auf diesen Umstand innerhalb der 'Entstehungsgeschichte' hingewiesen und das als Prätext fungierende Gedicht Luise Hensels dort abgedruckt werden. Der Platz für Hinweise auf sich mit Intertextualität befassender Sekundärliteratur wäre jeweils dort zu geben, wo auf das Phänomen der Intertextualität im Kommentarteil aufmerksam gemacht wird.

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III. Intertextualität als genuin romantisches Phänomen Die in Brentanos (Euvre während aller Schaffensperioden und gattungsunabhängig auffällig vielfältigen literarischen Bezüge, sein unbefangener Umgang mit der Ver- und Bearbeitung vorgefundener Literatur finden ihre mythische Erklärung in der das 'Adamitische Buch' behandelnden Schöpfungsgeschichte des Moles in den Romanzen vom Rosenkranz. Dort berichtet der Dämon Moles von Schöpfung und Sündenfall mit einigen Abweichungen von der Genesis, die zum großen Teil der Kabbala entlehnt sind. Die in diesem Zusammenhang bedeutsamste Modifikation des Schöpfungsberichtes in den Romanzen vom Rosenkranz betrifft ein Buch mit allen Geheimnissen der Schöpfung, das Adam von Gott verliehen wurde. Der Entzug dieses Buches ist dann nach dem Sündenfall die erste Strafe für Adam, bevor er aus dem Paradies vertrieben und in die Unterwelt gestürzt wird. Nachdem Adam aus tieferen, von dunklen Mächten beherrschten Erdkreisen zurückkehren durfte, macht er sich sofort ans Werk, dieses verlorene Buch zu rekonstruieren. Es gelingt ihm allerdings nur eine um das Wissen aus der Unterwelt erweiterte und dadurch 'verderbte' und verdorbene Fassung zu beginnen, deren Fertigstellung als Menschheitsprojekt von Generation zu Generation weitergegeben wird - ohne allerdings jemals die von Gott zurückgenommene Urfassung erreichen zu können.32 Oder in der Formulierung von Hans-Walter Schmidt: Brentanos Ursprungsmythos des weltlichen Buches beantwortet die Frage, warum 'das Buch' nur als unabschließbares, unendlicher Erweiterung bedürftiges [...] existieren kann.33

Die via Literatur transportierte Wahrheit ist und bleibt also fragmentarisch. Als Beleg für Brentanos literarische Gestaltung dieser Idee führt Andreas Lorenczuk die Ausdeutung der Amaranthe am Blumensarg der Ahnfrau in der Spätfassung des „Gockelmärchens" an. Die der Amaranthe zugeschriebenen Bedeutungsinhalte werden von Brentano locker gereiht, die anaphorische Gliederung durch Gedankenstriche unterstützt - die alle Bedeutungen fassende Beschreibung kann nicht 'in einem Guß' verfaßt werden. Der Dichter kann sich nicht als Hervorbringer, als 'Autor' eines Gültigkeit beanspruchenden Weltmodells verstehen. Sein Werk kann nur Fragmentmontage sein [...]. Das Arrangement der Selbstund Fremdzitate, dem nicht nur die Lexika, sondern alle Literatur 'Nachschlagewerk' werden, bleibt aber dennoch weder völlig beliebig noch völlig unverbindlich. Es konstituiert vielmehr [...] das Paradigma eines lebendigen Traditionszusammenhanges, der jedoch nicht als a priori gesicherter Bezugsrahmen Dichtung legitimiert, sondern als 'Problem' den einzigen eigentlichen Gegenstand des Schreibens bildet.34

32

33 34

Vgl. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 10. Hrsg. von Clemens Rauschenberg. Stuttgart 1994, S. 250-253. Zu diesem Komplex vgl. auch Hans-Walter Schmidt: Die Erlösung der Schrift. Zum Buchmotiv im Werk Clemens Brentanos. Wien 1991, S. 89-95. Schmidt 1991, vgl. Anm. 32, S. 94. Andreas Lorenczuk: Die Bilder der Wahrheit und die Wahrheit der Bilder. Zum „Großen Gockelmärchen" 1838 und den Emmerick-Schriften von Clemens Brentano. Sigmaringen 1994, S. 144f.

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Schmidt belegt in seiner Untersuchung, daß in den poetologischen Überlegungen Novalis' und Friedrich Schlegels von der Möglichkeit der Entstehung eines unerschöpflichen Buches ausgegangen wird, dessen Abgeschlossenheit nicht mehr gefordert wird, vielmehr dessen unendliche Offenheit, sein ewiges Werden seine Lebendigkeit garantiert. Brentano dagegen rückt in seiner Emphase auf den Ursprung des weltlichen Buches im Sündenfall gerade dessen Sündhaftigkeit in den Vordergrund seiner Betrachtung und strebt deren Überwindung als ersten Schritt zurück ins Paradies an.35 Anhand der im Briefwechsel mit Runge von Brentano formulierten Voraussetzungen und Intentionen, die mit der Entstehung der Romanzen vom Rosenkranz verbunden waren, rekonstruiert Schmidt diese als Brentanos Gefühl, sein Selbst und damit einhergehend das Paradies verloren zu haben, was in den Versuch mündet, sich seiner Individualität durch die Bewußtwerdung der diese konstituierenden Einschreibungen zu vergewissern. Der daraus resultierende Entwurf der Romanzen ist daher gleichzeitig verschlüsselte Autobiographie und Versuch das verlorene Paradies wiederherzustellen. Relevanz für die Einschätzung der Beurteilung sprachlicher Möglichkeiten durch Brentano mißt Schmidt der Tatsache bei, daß Brentano in den Beschreibungen seines Selbstverlustes und des verlorenen und zu rekonstruierenden Paradieses immer wieder von 'Bildern' spricht, so daß der Text nur noch ein Notbehelf zu sein scheint. Und wirklich wendet sich Brentano ja an Runge mit der Bitte, die Romanzen mit Randzeichnungen zu versehen, die -jene „überphantasirend" - dann als „die Hauptsache" und der „Text ein armer Commentar"36 erscheinen. Damit wollte sich Brentano, nach der Interpretation Schmidts, „von der Last alleinverantwortlicher Autorenschaft" befreien und „eine exemplarische Selbsterlösung mittels einer paradiesischen Sprache in die Wege"37 leiten. Bedeutsam ist bei der Wahl Runges als 'Co-Autor', daß Brentano ihn im Briefwechsel und in seinem Nachruf als einen der paradiesischen Sphäre gewissermaßen zugehörigen Menschen beschreibt.38 Die künstlerische und die persönliche Wertschätzung gehen ineinander über. Dies dokumentieren auch die in Phasen großer emotionaler Nähe entstandenen Gemeinschaftswerke Brentanos mit Arnim oder Görres, Des Knaben Wunderhorn beziehungsweise BOGS der Uhrmacher. Entsprechend sollte auch das intertextuelle Phänomen der Verarbeitung von Texten ihm nahestehender Autoren im Werk Brentanos betrachtet werden, das nicht in der Beziehung zu Luise Hensel auftritt. In das Jahr 1817 fällt beispielsweise die lyrische Fortführung, O wie so oft, eines rhythmischen Prosastücks aus Achim von Arnims Die Kronenwächter. In dem frühesten der an Luise Hensel geschriebenen Gedichte, Ich bin 35 36

37 38

Vgl. Schmidt 1991, vgl. Anm. 32, S. 94-97. Clemens Brentano - Philipp Otto Runge. Briefwechsel. Hrsg. und kommentiert von Konrad Feilchenfeldt. Frankfurt 1974 (Insel-Bücherei. 994), S. 16. Schmidt 1991, vgl. Anm. 32, S. 127. Vgl. zum Vorangegangenen ebda, S. 122-127. So im Brief an Runge: „[...] denn an solchem Bestreben [dem Bestreben Runges; Anm. d. Verf.] sehe ich, daß das Leben der Kunst wahrlich verloren ist, indem der Künstler sich umsehen muß in sich selbst, um das verlerne Paradies aus seiner Notwendigkeit zu construiren." Brentano - Runge 1974, vgl. Anm. 36, S. 22. Und in dem den Nachruf beschließenden Gedicht heißt es über Runge: „Er lebte nicht, er war ein Abendroth, / Verspätet aus verlornen Paradiesen." Ebda, S. 47.

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durch die Wüste gezogen, zitiert Brentano einige Zeilen aus Novalis' Gedicht An Adolph Selmnitz, die er vor seinem Weggang nach Dülmen in seinem Abschiedsgedicht an Luise Hensel Nun soll ich in die Fremde ziehen39 nochmals verarbeitet. Doch hier bezieht sich das Zitat nicht mehr auf Novalis' Text, sondern erinnert an die mit diesen Zeilen in Ich bin durch die Wüste gezogen beschworene und nun durch die bevorstehende Trennung gefährdete Gemeinschaft - ist also eher Selbst- denn Fremdzitat. Auch von Luise Hensel selbst und anderen Personen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis wurden diese Verse Novalis' aufgegriffen und weiterverarbeitet, so daß Konrad Feilchenfeldt es in seiner ausführlichen Untersuchung von dessen Überlieferungsgeschichte gleichsam als 'Code' einer „Geistesgemeinschaft"40 charakterisieren konnte. Die Gedichte Brentanos, denen als Prätext ein Gedicht Luise Hensels zugrunde liegt, weisen sich im Unterschied zu den oben angesprochenen Werken durch die Besonderheit einer Bezugskomplexion aus. Denn hier findet sich nicht nur die intertextuelle Referenz zu Luise Hensel, sondern sie tritt dort erstens in verschiedenen Rollen selbst auf - so in der Zueignung als das „fromme Kind" und im Schlußgedicht des 'Großen Gockelmärchens' als „die Gouvernante", und zweitens ist sie die Adressatin dieser beiden Gedichte und von Warum er mich verlassen. Brentano webt sich gleichsam in das lyrische Schaffen und Leben Luise Hensels ein und entspinnt dabei einen lyrischen Dialog. Dahinter mag zum einen das für Brentano noch immer gültige romantische Ideal der Ganzwerdung des Menschen in Liebe und Freundschaft stehen. Ein Ideal, das auf Ursprungsmythen rekurriert, die den Menschen als eine ursprüngliche Einheit begreifen, die in zwei Hälften getrennt wird, in eine weibliche und eine männliche. Erst in der Endzeit wird diese Trennung wieder aufgehoben, und die Hälften werden zu einer Einheit verbunden. Vertraut waren solche Mythen den Romantikern und auch Brentano aus der Lektüre Jacob Böhmes.41 Zum anderen spielt hier die romantische Vorstellung der 'poetischen Existenz', die bei Brentano variiert wird zu der Vorstellung, 'gedichtet' zu werden, eine wichtige Rolle. Brandstetter hat diese Idee Brentanos, ein Objekt der Poesie sein zu wollen, untersucht und verschiedene Aspekte erarbeitet.42 So gründet diese Idee zum einen auf der Ablehnung des gesellschaftlichen Status des Künstlers, der das Individuum reduziert auf ein Sein als Subjekt und Produzent und es als solches vereinnahmt, zum anderen auf der angestrebten Aufhebung der Spaltung von Kunstproduktion und -rezeption und damit der gesellschaftlich bedingten, wesenhaften Einsamkeit des Künstlers. Daran anknüpfend kommt Brentanos Auffassung der Kunst als Kommunikationsprozeß und die mit diesem in Zusammenhang stehende mehrdimensionale Mittlerfunktion große Wichtigkeit zu. Dieser Kommunikationsprozeß umfaßt Künstler, Werk und Rezipient. Doch darf der künstlerische 39 40

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Brentano 1978, vgl. Anm. 6, S. 443f. Konrad Feilchenfeldt: „Da sang ich, reich treulich die Hände". Zur Überlieferungsgeschichte eines Novalis-Zitats im Freundeskreis Luise Hensels. In: Romantik und Moderne. Fs. für Helmut Motekat. Hrsg. von Erich Huber-Thoma und Ghemela Adler. Frankfurt 1986, S. 135-159, hier S. 154. Vgl. Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. Tübingen 1966, S. 121 f. Vgl. Brandstetter 1986, vgl. Anm. 3, S. 29-34.

Gedichte Clemens Brentanos an Luise Mensel

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Kommunikationsprozeß nicht auf diese drei beschränkt bleiben, sondern muß um die Verbindung mit dem Transzendenten erweitert werden. Dabei kommen Künstler und Werk die Aufgabe des Mittlers zu. In dem Wunsch, 'gedichtet zu werden', begreift sich das Ich dann selbst als Objekt der Kunst, und zwar als Produkt eines es liebenden Menschen. In der Poesie sollen daher die Dualismen von „Produktion und Rezeption, von Subjekt und Objekt"43 und von Ich und Du aufgehoben werden. Brentanos Verarbeitung, Um- oder Weiterdichtung der Lyrik Luise Hensels macht diese Auffassung augenfällig. Daher verkennt auch eine Wertung dieses Phänomens, wie sie besonders bei Liebhabern der Lyrik Luise Hensels nach Kriterien wie der 'eigenmächtigen Aneignung fremden geistigen Eigentums' oder der möglichen 'verfälschenden Veränderung des ursprünglichen Gedichtinhalts' anklingt,44 dessen Wesen. Hier wird jedoch nicht Brentano selbst zum Objekt der Poesie', sondern er 'dichtet' die geliebte Frau. Die Möglichkeiten dieses Einwebens oder Zusammenschreibens sind vielfaltig, und Brentano hat viele davon genutzt. Am Ziel stand wohl das Einswerden mit der Geliebten, das Zusammenfließen der Personen in ihrer Gänze, um erst dann ein vollkommenes Ganzes, ein 'Kunstwerk' zu werden.45 Selbstverständlich brachte Luise Hensel die entsprechenden Voraussetzungen als Projektionsfläche einer solchen Idee mit; wobei ihr lyrisches Schaffen sicher nicht die geringste Rolle spielte. Brentanos Wertschätzung der Lyrik Luise Hensels ist mehrfach dokumentiert. Die Zueignung zur Trutznachtigall setzte die Lieder des 'Kindes', also Luise Hensels, in eins mit der Lyrik Friedrich Spees, der in Brentanos Vorwort zur Trutznachtigall „ein kindlich frommer freudiger Sänger"46 genannt wird. Seinem Bruder Christian schickte Brentano im Dezember 1817 Abschriften der Gedichte Luise Hensels, die sie ihm zu Weihnachten 1816 geschenkt hatte, mit den Worten: 43 44

45

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Ebda, S. 33. Als Beispiel sei hier erstens Hermann Cardauns genannt, der die Erweiterung des Abendgebets Müde bin ich, geh'zur Ruh im Schlußgedicht des 'Großen Gockelmärchens' „gerade keine Verschönerung" nennt (vgl. Cardauns 1918, vgl. Anm. 4, S. 54); zweitens Josefine Nettesheim mit ihrer Kritik an Brentanos Bearbeitung des Henselschen Stillen Gotteslobs in der Zueignung (vgl. Luise Hensel und Christoph Bernhard Schlüter. Briefe aus dem deutschen Biedermeier 1832 bis 1876. Hrsg. von Josefine Nettesheim, Münster 1962, S. 15). An dieser Stelle soll noch eine diesbezügliche kritische Anmerkung erlaubt sein: Der in der Diskussion um diese Bearbeitung immer wieder, gleichsam zur 'Milderung des Tatbestandes' aufgegriffene Hinweis, Brentano habe schließlich die Luise Hensel entlehnten Strophen in Anführungszeichen gesetzt, verwechselt hier die Kenntlichmachung des Zitats mit der der wörtlichen Rede (so zuletzt bei Michael Grus: Brentanos Gedichte An Görres und An Schinkel. Frankfurt 1993, S. 381 f.). Auch wenn der eine Überlieferungsträger (Handschrift des Freien Deutschen Hochstifts: 7997a) nur diese Strophen in Anführungszeichen setzt, sollte doch angesichts der uneinheitlichen und inkonsequenten Interpunktion der Überlieferten Autographen Brentanos als maßgebliche Fassung der von Brentano autorisierte Druck in der Trutznachtigall gelten, und dieser setzt jede wörtliche Rede in Anführungszeichen. Daß Liebe und Freundschaft nach romantischem Verständnis Kunstcharakter tragen, ist in zahlreichen theoretischen und fiktionalen Texten dokumentiert. Vgl. beispielsweise: Friedrich Daniel Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Ders.: Werke. Auswahl in vier Bänden. Bd. 2. Mit Geleitwort von A. Dorner hrsg. von O. Braun und J. Bauer. 2. Neudruck der 2. Auflage. Leipzig 1927-28 [Neudruck: Aalen 1981]. Friedrich Spee: Trutz Nachtigall. Hrsg. von Clemens Brentano. Berlin 1817, S. VII.

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Kristina Hasenpflug Diese Lieder haben zuerst die Rinde über meinem Herzen gebrochen, durch sie bin ich in Thränen zerflossen, und so sind sie mir in ihrer Wahrheit und Einfalt das Heiligste geworden, was mir im Leben aus menschlichen Quellen zugeströmt. Indem ich sie Dir mittheile, theile ich Dir das Liebste, was ich habe, theile ich Dir, was mir noch immer das innerlich Erweckendste und Beweglichste ist, das mich stündlich mahnt und tröstet, mit.47

Brentano beschreibt hier eine Art Erweckungserlebnis, das die Gedichte Luise Hensels auslösten und immer wieder auszulösen vermögen, so daß hier ein kontinuierlicher Kommunikationsprozeß dargestellt wird. Sie werden als 'wahr' und 'einfaltig' beschrieben: Charakteristika, die die Voraussetzung bilden für ihre 'Heiligkeit'. Es werden auch augenfällige Parallelen zur verklärenden Beschreibung Runges in Brentanos Nachruf-Gedicht deutlich. Du Herrlicher! den kaum die Zeit erkannt, Der wie ein schuldlos Kind Begeistert fromm die treue keusche Hand Nach Gottes Flamme streckte, Der für das Eitle blind Ohn umzuschaun zur Wiege alter Kunst Durch neuer Lüge Götzentempel drang, Und stillanschaund die Göttliche erweckte. [...] Wer dich geliebt, verstand den schönen Traum, Den du im Himmel träumtest, dessen Schatten Aufunsrer dunklen Erde lichten Saum Weissagend niederfiel. Dein Künstlerwerk, es schien ein zierlich Spiel, [...] Doch wie im Frühlingstaumel fromm ein Herz Das Siegsgepräng des ewgen Gottes ließt, Wie in des Lebens ernstem Blumenscherz Dem Schauenden die Tiefe sich erschließt, So steht, die Schwester dieser Sündentrunknen Zeit, Vor deinen Bildern glaubend, hoffend, liebend, die Beschaulichkeit.^

Dem Werk Runges, der hier als 'Kind' apostrophiert wird, schreibt Brentano Offenbarungscharakter zu, rückt es dem Gottes Herrlichkeit verkündenden liber naturae an die Seite und weist, es als 'Schatten' des im 'Himmel geträumten Traums' beschreibend, auf dessen Funktion als Kommunikationsträger des Numinosen hin. Die Gedichte der pietistisch geschulten Luise Hensel thematisieren immer wieder den Bußkampf, die Auseinandersetzung des Individuums mit der Sünde, an deren Ende der Triumph der göttlichen Gnade erhofft wird, so daß hier die thematische Auseinandersetzung mit dem wahren und höchsten Ziel des Menschen gegeben ist. 47 48

Clemens Brentano an Christian Brentano. Berlin, 03. Dezember 1817 (Du mußt mir ...), zitiert nach: Clemens Brentano's gesammelte Briefe. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1855, S. 238. Brentano - Runge 1974, vgl. Anm. 36, S. 46f.

Gedichte Clemens Brentanos an Luise Hensel

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Aber Luise Hensels Gedichte empfindet Brentano auch als 'wahr' im Sinne von 'authentisch'. Über den Mangel an Authentizität, der ihm im religiösen Bereich häufig begegnete, beklagte sich Brentano in einem Brief an Ringseis: Von Erbauungsbüchem, in denen ich manchmal lese, hat mich bis jezt nichts recht und innig gerührt und ganz befriedigt, als Kempis und einige geistliche Lieder aus dem A n m u t h i g e n Blumenkranz aus dem Garten der G e m e i n d e Gottes die meisten ändern Schriften geben mir mancherlei Aergerniß, und wirken häufig mehr wie individuelle Beängstigungen anderer, denn als wie unmittelbare Offenbarungen Gottes auf mich. [...] Ich gestehe von ganzer Seele ein, daß ich viel besser, ja daß ich vollkommen wäre, wenn ich ganz nach dem Christenthum gelebt hätte, das man mich lehrte, aber ich kann mich nicht enthalten zu fühlen, daß die Lauheit, Kälte, Leerheit, Unwürde und Verkehrtheit, ja oft Abgeschmacktheit der Form mit und durch welche das Christenthum gegeben wird, und auch mir theilweise gegeben ward, demselben den unwiederstehlichen Charackter der höchsten Wahrheit und reinsten Schönheit so gänzlich verbaut [...].49

„Individuelle Beängstigungen", also subjektive Befindlichkeiten, und inhaltsleere Formen prägen die von Brentano erfahrene religiöse Praxis. Sein 1817/18 erschienener Beitrag zum Gesellschafter, Aus einem geplünderten Postfelleisen50, karikiert die sprachliche und gesellschaftliche, sich allein in der Form erschöpfende Frömmigkeit der Berliner Gemeinden, hinter der sich notdürftig Gewinn- und Genußsucht verbirgt. Davon hob sich Luise Hensel und auch ihre Lyrik in den Augen Brentanos positiv ab, sie erschien ihm als das langersehnte Vorbild an Einfalt und Frömmigkeit, das ihm ein religiöser 'Mittler' sein sollte. Auch die Idee eines 'Mittlers' spielt in frühromantischen Kunst- und Religionstheorien keine unbedeutende Rolle.51 Hier zeigt sich eine weitere frühromantische Überlegung, die für Brentano in der Zeit seiner Reversion noch aktuell bleibt. In der Person Luise Hensels konkretisiert sich für ihn zum einen die Vorstellung eines religiösen Mittlers, eines 'Seelenruhrers', zum anderen aber auch die des Dichters als Mittler, zu dem jener insofern wird, als er den Kommunikationsprozeß der Kunst um die Verbindung zum Transzendenten erweitert. Damit ist auch die Forderung nach der Einheit von Leben und Werk, nach einer 'poetischen Existenz' erfüllt, die auch die durch die Gebundenheit des Kunstwerks an das Subjekt des Künstlers gegebene Gefährdung einer Vermittlung des Transzendenten überwindet. Der Künstler wird so zu einem „Kanal des heiligen Geistes"52.

49

50 51 52

Brentano an Johann Nepomuk Ringseis, Berlin, November 1815- I.April 1816 (Handschrift des Freien Deutschen Hochstifts: Ich habe nun ...). Clemens Brentano: Werke. Bd. 2. Hrsg. von Friedhelm Kemp. München 1973, S. 1144-1153. Vgl. Brandstetter 1986, vgl. Anm. 3, S. 41. So Brentano 1824 an Böhmer. Vgl. Clemens Brentano: Briefe. Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Seebaß. Nürnberg 1951, S. 232.

Jürgen Hein

Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen und ihren Quellen Künstler erschaffen nicht, die schönsten Ideen der trefflichsten Meister sind nichts als Erinnerungen an Wirklichkeiten, die sie kunstvoll zusammenfügen, geistreich miteinander verbinden. (SW XV, S. 694)1

I. Bearbeitungsaspekte im Kontext des Wiener Volkstheaters Kaum eine der Possen Nestroys ist ein Originalwerk', alle gehen auf bekannte oder (noch) unbekannte Vorlagen zurück. Bei einigen hat er die Quelle selbst angegeben, oder sie ist auf dem Theaterzettel vermerkt, bei anderen finden wir Hinweise in seinen Bearbeitungsnotizen oder in der zeitgenössischen Theaterkritik. Auch wenn noch nicht für alle Stücke die Vorlagen ausfindig gemacht werden konnten, ist anzunehmen, daß Nestroy für kein einziges Stück die Fabel erfunden hat. Ihm ging es eher um das 'Finden', um die schöpferische Aneignung und Umformung zum eigenen Werk. Originalität' ist auf dem Hintergrund der spezifischen Produktionsbedingungen des Wiener Volkstheaters im Kontext sowohl der traditionellen Vorlagenbearbeitung - durch 'Verwienerung' und Parodie - als auch der neue Akzente setzenden internationalen 'Vergnügungsindustrie' zu sehen, die zum Heimischmachen fremder Stoffe und Herausarbeiten dankbarer Rollen für das Ensemble zwangen. Für über 50 von knapp 80 Stücken sind die Vorlagen bekannt; davon entfallen 25 auf französische, 20 auf deutsche, fünf auf englische Quellen, eine auf eine ungarische; mehr als 75 % sind dramatische Vorlagen. Bei den bearbeiteten Texten handelt es sich überwiegend um 'Unterhaltungs-' oder 'Trivialliteratur' (z. B. auch Feuilletonromane), die nicht in 'kritischen' Ausgaben vorliegt, z. T. auch um 'Theatergebrauchsware' nur in Manuskripten oder Manuskriptdrucken. Für die HKA stellt sich die Frage, ob und wie diese Texte zu edieren sind. Einige Vorlagen wurden erst im Zusammenhang der Arbeiten an der neuen Historisch-kritischen Edition entdeckt, wobei sich ein interessantes Forschungfeld im Zusammenhang von Textproduktion, Edition und Interpretation eröffnet; hier Beispiele für die Vielfalt der Vorlagen:2 Zitate und Nachweise nach: Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Fritz Brukner und Otto Rommel. 15 Bände. Wien 1924-1939 (= SW); Johann Nestroy: Gesammelte Werke. Hrsg. von Otto Rommel. 6 Bände. Wien 1948/49 (= GW); Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier und W. Edgar Yates. Wien 1977ff. (= HKA; bisher 28 Bände), mit Angabe des jeweiligen Band-Herausgebers. Vgl. die ergänzungbedürftige Aufstellung der bisher ermittelten Vorlagen bei Friedrich Walla: Untersuchungen zur dramatischen Technik Johann Nestroys. Phil. Diss. Wien 1969 [appr. 1972],

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Jürgen Mein

Epik Anekdote Erzählung Roman

Hinüber Herüber (Zeitungsanekdote a. Humorist) Der böse Geist Lumpazivagabundus (n. Weisflog) Der Unbedeutende (n. Masson) Heimliches Geld, heimliche Liebe (n. Soulie) Theater g'schichten [...] (n. Dumas) Die Anverwandten (n. Dickens)

Drama Comedie Comed.-Vaud.

Höllenangst (n. d'Epagny/Dupin) Der Talisman (n. Dupeuty/de Courcy) Das Mädl aus der Vorstadt (n.de Kock/Varin) Die Papiere des Teufels (n. Argo/Vermond) Eisenbahnheiraten (n. Bayard/Varin) Der Zerrissene (n. Duvert/Lauzanne) Unverhofft (n. Bayard/Dumanoir) Köm. Gemälde Eine Wohnung ist zu vermieten [...] (n. Angely) Comedy Liebesgeschichten und Heiratssachen (n. Poole) Farce Einen Jux mil er sich machen (n. Oxenford) Schwank Frühere Verhältnisse (n. Pohl) Schausp. Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab (n. Holtei) Bürg. Dr. Die verhängnisvolle Faschingsnacht (n. Holtei) Judith und Holofernes (n. Hebbel) Tragödie Oper Robert der Teuxel (n. Meyerbeer/Scribe) Tannhäuser (n. Wagner) Operette Häuptling Abendwind (n. Offenbach/Gille) Die Feststellung von Karl Kraus, Nestroy sei „umso schöpferischer, wo er den fremden Stoff zum eigenen Werk" erhebe,3 hat bei der Edition der Sämtlichen Werke dazu geführt, daß die Dokumentation von Nestroys Verhältnis zu seinen Vorlagen vernachlässigt und die den Schreibprozeß Nestroys anregenden Quellen ästhetisch abgewertet

S. 49-52 und Susan Doering: Der wienerische Europäer. Johann Nestroy und die Vorlagen seiner Stücke. München 1992, S. 105-122; vgl. ferner W. E. Yates: Nestroy and the Critics. Columbia, SC 1994, S. 57-59. - Zur Frage, wie Nestroy zu seinen Vorlagen kam (Lektüre, Hinweise durch Kollegen, Theaterkritiken, Spielpläne anderer Bühnen usw.) vgl. Johann Hüttner: Johann Nestroy im Theaterbetrieb seiner Zeit. In: Maske und Kothurn 23, 1977, S. 236f. und Friedrich Walla: „Da werden doch die deutschen Affen nicht lange zurückbleiben". Neue französische Quellen zu Stücken Johann Nestroys. In: Etudes Germaniques 51, 1996, S. 283-305. - Lohnend ist ferner der Blick auf das zeitgenössische Pariser und Londoner Volkstheater, vgl. Johann Hüttner: Theater als Geschäft. Vorarbeiten zu einer Sozialgeschichte des kommerziellen Theaters im 19. Jahrhundert aus theaterwissenschaftlicher Sicht. Mit Betonung Wiens und Berücksichtigung Londons und der USA. Habil.schrift Wien 1982. Karl Kraus: Nestroy und die Nachwelt. In: Die Fackel, Nr. 349/50, 1912, S. 7. - Kraus überakzentuiert mit seiner Bemerkung: „Er nahm die Schablone, die als Schablone geboren war, um seinen Inhalt zu verstecken, der nicht Schablone werden konnte" (S. 5).

Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen

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wurden.4 Subtile Vergleiche auf der Grundlage der edierten Texte können zeigen, wie der Possenautor gearbeitet hat, welche Abhängigkeiten von den benutzten Quellen es gibt, ob sich individueller Stilwille und Originalität' ausprägen. Dabei ist auf die Herkunft der Vorlagen ebenso wie auf die Bearbeitungskriterien und Transformationsmöglichkeiten zu achten. Für den Interpreten stellen sich viele Fragen, von denen hier einige, für die Edition relevante, genannt seien:5 Warum entnimmt Nestroy seine Stoffe vorwiegend Werken der Trivialliteratur? Wie prägt diese und die Auseinandersetzung mit ihr Fabel, Motive, Struktur und Sprache? In welchem Verhältnis stehen Qualität der Quelle und der Bearbeitung zueinander? Gibt es Unterschiede in der Bearbeitung von Werken der 'hohen' Literatur zu solchen der Unterhaltungsliteratur? Beeinflussen die Quellen Diktion und Weltbild der Possen? Spiegeln die Bearbeitungen Auseinandersetzungen mit Problemen der Zeit und der Gesellschaft wider? In welcher Weise geschieht eine Anpassung an Konventionen der Tradition des Wiener Volkstheaters beziehungsweise an Forderungen seiner Produktionsbedingungen (u. a. Zensur)? Welchen persönlichen, ästhetischen, gesellschaftlichen Faktoren verdankt die Bearbeitung ihre andere Akzentuierung? Welche Bedeutung hat die Konzeption der eigenen Rolle? In welcher Weise fördern oder behindern Gattungsspezifika der Vorlage die Ausarbeitung und Profilierung eigener dramatischer Modelle? Welche Zusammenhänge internationalen Unterhaltungstheaters können Vergleiche sichtbar machen, wie verhält sich demgegenüber die Bearbeitungs-Tradition des Wiener Volkstheaters? Welche Rolle spielen Direktionen und Theateragenturen bei der Vorlagenbeschaffung (z. B. Paris -Wien oder Austausch Wien - Berlin)? Welches sind die Kernpunkte in der zeitgenössischen Diskussion der Theaterkritik um Originalität' und Bearbeitung im Wiener Volkstheater, und wie verhält sich Nestroy dazu? Bei der zeitgenössischen Bewertung dürfen die Produktionsbedingungen des Wiener Vorstadttheaters (u. a. Novitätenjagd; 'Stückverbrauch' vs. Forderungen der Kritik nach höherer ästhetischer Qualität; Originalitäts'-Diskussion) nicht unberücksichtigt bleiben. Vom Volksstück erwartet man nicht nur, daß es die 'wahre' und 'gute' Seite des Volkes schildere, sondern auch, daß es ein Originalwerk' sei, keine Bearbeitung und auch kein politisches 'Tendenzstück'.6 Zu diesem Komplex gehören auch das Problem Zur neuen HKA vgl. Jürgen Hein: Aspekte der Nestroy-Edition. In: editio 3, 1989, S. 114-124; Ders.: Vom schaffenden zum edierten Nestroy. Beiträge zum Nestroy-Symposium im Rahmen der Wiener Vorlesungen 2S.-29. Oktober 1992. Hrsg. von W. E. Yates. Wien 1994. Verwiesen sei auf die Arbeiten von Günter Boege: Nestroy als Bearbeiter. Studien zu Die verhängnisvolle Faschingsnacht, Der Unbedeutende und Judith und Holofernes. Phil. Diss. Frankfurt a. M. 1968; Doering 1992, vgl. Anm. 2; Jürgen Hein: Johann Nestroy. Stuttgart 1990, S. 101-105; Ders.: Vom Einfall zum dramatischen Text: Johann Nestroy im Spiegel der Edition. In: Yates (Hrsg.) 1994, vgl. Anm. 4, S. 83-104; Helmut Herles: Nestroys Komödie Der Talisman. Von der ersten Notiz zum vollendeten Werk. Mit bisher unveröffentlichten Handschriften. München 1974; Walla 1995, vgl. Anm. 2; W. E. Yates: Nestroy. Satire and Parody in Viennese Popular Comedy. Cambridge 1972; Ders.: Paul de Kock und Nestroy. Zu Nestroys Bearbeitung französischer Vorlagen. In: Nestroyana 16, 1996,5.26-39.. Vgl. W. E. Yates: The Idea of the 'Volksstück' in Nestroy's Vienna. In: GLL 38, 1985, S. 469.

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des Plagiats und die Verwendung von Zitaten als Form der Benützung fremder Vorlagen.7 Originalität' thematisiert Nestroy im Vorspiel Die dramatischen Zimmerherrn (1844),8 die als Original' ausgegebene Übersetzung in einer Coupletstrophe in Der gutmütige Teufel (185l):9 Übersetzens aus Frankreich A Stuck, thut er dann gleich Sein Pegasus hetzen Thuts gschwind nur übasetzen Aus 'n Deutsch 'n ins Lokale Und nennts Originale Alte Witze manövriert er Macht draus neue Liader Was in d'Postbücheln gspasi Nimmt 'r auch z 'Half das waß i So schreibt 'r unverdrossen Alle Jahr zwanzig Possen [...]

Überdies ist der 'Subtext' zu berücksichtigen: Spiel- und Rollentradition sowie 'Regeln' der Possen-Poetik in der vor- und nachmärzlichen Theaterindustrie.10 Die HKA bietet mit der Rekonstruktion und Dokumentation des Schaffensprozesses erste Einblicke in diese Zusammenhänge. Gleichzeitig ergibt sich durch die Editionsarbeit die modellhafte Skizzierung des Bearbeitungsvorgangs.

II. Modell des Schaffensprozesses Die Zusammenhänge zwischen Einfall, Wahl der Vorlage und Anregung durch diese lassen sich bei einigen Possen an überlieferten Übersetzungen, Inhaltsskizzen, Nacherzählungen - von Nestroy z. B. „Plan", „Programm", „Hauptmomente", „Benützung" genannt - auch Rohübersetzungen von fremder Hand, an deren Rand Nestroy Einfalle notiert, nachvollziehen. Der Autor verweist mit Formulierungen wie „nach Ogl, n. B." oder „n. d. G." auf Konzepte, die er dem Original', dem 'Buch' oder dem 'Geschriebe7

8 9

10

Moritz Gottlieb Saphir warf Nestroy „Armuth im Erfinden" und Plagiat vor; vgl. W. E. Yates: „Ich will hiemit gar nicht gesagt haben, daß Herr N. entlehnt ...". Zu Nestroys Einfallen und Refrains. Vortrag bei den Wiener Vorlesungen 1994 „Der unbekannte Nestroy" [Druck in Vorbereitung]. Zum Plagiatsvorwurf bei Freiheit in Krähwinkel vgl. HKA Stücke 26/1. Hrsg. von J. R. P. McKenzie, S. 202-221; vgl. ferner W.E. Yates: Nestroys Kollektaneen. In: „Verbergendes Enthüllen". Zur Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift ftlr Martin Stern. Hrsg. von Wolfram Malte Fues und Wolfram Mauser. Würzburg 1995, S. 241-250. Vgl. HKA Stücke 19. Hrsg. von J. Kein, S. 96f. SW XIV, S. 633. Vgl. Jürgen Hein: „Eine Posse sehen, heißt für den Gebildeten gleichsam Lotterie spielen". Produktions- und Wirkungsbedingungen der Wiener Posse im internationalen Kontext. In: Unterhaltungstheater in Deutschland, Geschichte - Ästhetik - Ökonomie. Hrsg. von Wolfgang Jansen. Berlin 1995,8.29-53.

Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen

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nen' entlehnt; ferner finden sich Bearbeitungshinweise wie „s. k.", was möglicherweise 'sehr kurz' bedeutet, oder auch Hinweise wie: „komischer". Es lassen sich raffende, ergänzende, dramatisch gliedernde und akzentuierende Eingriffe beobachten, z. B. Ausbau von Motiven und Handlungslinien, neue Motivationen und Intrigen, 'Spaltung' oder Erfindung neuer Figuren sowie szenische und sprachliche Entwürfe, die in der Regel in 'Scenarien' münden. Von der einfachen adaptierenden 'Übersetzung' über parodierende Transformation bis zur neuen ästhetischen Organisation finden sich verschiedene Formen der Aneignung. Bei manchen Stücken sind so gut wie keine Vorarbeiten erhalten, und es gibt auch keine konkreten Hinweise auf die benutzten Quellen. In einigen Fällen - z. B. bei Unverhofft (1845; HKA Stücke 23/1. Hrsg.: J. Hein) - scheint Nestroy das französische Original Ohne Umweg' über eine Übersetzung, Aneignungsskizze oder ähnliches direkt adaptiert zu haben. Unterschiedliche Bearbeitungsverfahren erfordern entsprechende editorische Behandlung. Schematisch verkürzt läßt sich der Entstehungsprozeß so darstellen:1'

VORLAGE Übersetzung (Bearbeitung) Aneignungsskizze Plan, Programm, Benützung, Hauptmomente, Details Scenahum Notizen, Skizzen, Entwürfe

THEATERTEXT Die Szenarien, die bereits mit Akt- und Szeneneinteilung das Spiel 'inszenieren', haben am Rand bereits Einfalle, Wortspiele usw. und geben an, an welchen Stellen Couplets, Quodlibets etc. vorzusehen sind. Sie enthalten zum Teil schon umfangreichere Entwürfe für die Dialoge, Couplets usw. Dabei greift Nestroy nicht selten auf separat geführte Blätter mit Notizen, Sammlungen von Refrain-Versen und ähnlichem zurück. Im Zuge des Szenariums wird häufig auch schon das Personenverzeichnis entworfen. Während in Skizzen und Szenarienentwürfen in abgekürzter Form zumeist die Schauspieler- statt der Rollen-Namen (z. B. „Nsty" für Nestroy, „Schz" für Scholz; „SchzTochter") oder auch noch nicht adaptierte Namensformen der Vorlage benutzt werden, 'treten' in den 'endgültigen' Szenarien schon die handelnden Figuren mit ihren Rollennamen 'auf. Dabei spielt Nestroy in vielen Fällen verschiedene Namen durch, bis der treffende Rollen-Name gefunden ist. In einigen Fällen läßt er sich auch von den Figurennamen der Vorlage anregen. Auf dem Weg zur Reinschrift wird ein fast vollständiger, dialogisierter, nur wenige Abkürzungen enthaltender Entwurf mit Ausarbeitung der einzelnen Akte und Szenen angefertigt, nicht selten am Blattrand der für die Reinschrift vorgesehenen Bögen, die 1

' Zu Nestroys Arbeitstechnik vgl. auch Walla 1972, vgl. Anm. 2, S. 48-158. - Die bislang erschienenen Bände der HKA bieten Abbildungen aus den Handschriften, die einzelne Arbeitsschritte veranschaulichen.

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dazu in Spalten aufgeteilt werden. Bei zweispaltigem Aufbau notiert Nestroy in der schmäleren Spalte den Entwurftext, auch einzelne Einfalle; die Reinschrift wird auf dem breiteren Blatteil vorgenommen. Bei dreispaltigem Aufbau steht in der größeren mittleren Spalte die Reinschrift, die Randspalten sind je weis für Einfalle, Notizen, den Entwurftext oder für (spätere) Korrekturen und Ergänzungen vorgesehen. In der Regel fehlen in den Entwurfhandschriften noch - wohl aus Zensurgründen Monologe und Couplets. Diese entstehen gleichzeitig auf separaten Blättern. In manchen Handschriften ist allerdings das Auftrittscouplet schon im Haupttext vorhanden. In einigen Fällen läßt sich für Couplets und Quodlibets eine Zusammenarbeit mit dem Komponisten rekonstruieren. - Auch für die musikalischen Einlagen ist in verschiedenen Fällen der Vorlageneinfluß nachweisbar. Die Reihenfolge der einzelnen Arbeitsschritte kann variieren, sie läßt sich in manchen Fällen wegen fehlender Überlieferung nicht mehr rekonstruieren. Denkbar ist, daß einzelne Schritte übersprungen wurden und Nestroy die Quelle sozusagen direkt bearbeitete, ohne sich größere Vorstudien zu machen. In diese Arbeitsphase gehört die Vor- und Selbstzensur, durch die Nestroy für die Zensur 'Anstößiges' vorsorglich dem Kopisten, der den Text für das Zensurbuch abschreibt, kenntlich macht (durch Striche, Markierungszeichen, kleine Querstriche oder 'Kringel' mit roter Tinte) oder andere Formulierungen vorsieht. Auch hier ist auf Spuren der Vorlage zu achten.

III. Spezifische Bearbeitungsaspekte Nestroy benötigte nach Yates Vorlagen von „besonderer Art"; ein Kritiker formuliert es anläßlich der Uraufführung von Der Schützling (1847) so:12 Überhaupt tritt es in diesem Stücke neuerdings wieder ganz deutlich hervor, daß Nestroy in der Charakterzeichnung und szenischen Behandlung seiner Stücke nur so lange klar war, als er einfache und unbedeutende Stoffe behandelt, wie er an eine komplicirtere Erfindung kömmt, kann er sie nicht mehr bewältigen.

Diese Behauptung wäre an bisher ediertem Material zu überprüfen. Yates erkennt zunächst zwei Möglichkeiten: Entweder verwertet Nestroy eine skizzenhafte Vorlage, die er schöpferisch erweitern konnte, oder aber ein rein schablonenhaftes Rohmaterial, das sich satirisch-parodistisch verwienern ließ. Gerade deshalb habe er seine Dramenstoffe vorwiegend Werken der Trivialliteratur entnommen; wählte er als Vorlage ein selbständiges Kunstwerk, sei der Bearbeitungsprozeß über die bloße Imitation nicht hinaus-

12

W. E. Yates: Das Werden eines Nestroystücks. In: Viennese Popular Theatre: A Symposion. Das Wiener Volkstheater. Ein Symposion. Hrsg. von W. E. Yates und John R. P. McKenzie. Exeter 1985, S. 57; Ignaz Jeitteles. In: Der Humorist, Nr. 87, 12. April 1847, S. 347.

Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen

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gelangt.13 Diese drei Möglichkeiten werden an der Bearbeitung der englischen Vorlagen Martin Chuzzlewit {Die Anverwandten), Patrician and Parvenu (Liebesgeschichten und Heiratssachen) und A Day well spent (Einen Jux will er sich machen) diskutiert. Einen Kernbereich der Bearbeitung stellen Nestroys Transformationen französischer Vaudevilles dar. Eine entscheidende und noch nicht zureichend geklärte Frage ist dabei, ob es sich generell um parodierende Stoffaneignung handelt (z. B. Der Zerrissene, 1844; HKA Stücke 21. Hrsg.: J. Kein). Aufschluß darüber können Textvergleiche geben, wobei verschiedene Grade der Parodie zu beachten sind (Text- oder nur Stoffkenntnis beim Publikum; Anspielung; Intertextualität). Im Zusammenhang der Bearbeitung des Vaudeville Les Memoir es du Diable (1841) von Etienne Arago und Paul Vermond (nach dem Roman von Frederic Soulie), der sich unter anderem auch Nestroy mit Die Papiere des Teufels oder Der Zufall (1842; HKA Stücke 18/11. Hrsg.: P. Haida) anschloß, entwarf Franz Dingelstedt Möglichkeiten der Bearbeitung, unter denen er Nestroys Manier in „absichtlicher Parodie" nennt.14 Nestroys Nur Ruhe! (1843; HKA Stücke 20. Hrsg.: J. Hein) entfachte eine publizistische Auseinandersetzung zwischen den ,,Freunde[n] der Wiener Posse und de[n] Anhänger[n] der neumodischen Gattung der Vaudevilles"15; Moritz Gottlieb Saphir bringt die Stimmung auf den Punkt: Wir werden vielleicht immer ein g u t e s Vaudeville b e s u c h e n , aber h e i m i s c h fohlen werden wir uns nur bei u n s e r n V o l k s s t ü c k e n , b e i u n s e r n L o k a l p o s s e n ! 16 Nach Otto Rommel paßt Nestroy die Vaudeville-Komödie der „bodenständigen Form der Wiener Posse" an, insbesondere durch Übertragung auf Wiener Verhältnisse und Reduktion und Akzentuierung der Lieder.17 Differenzierte Analysen sind notwendig, um die ästhetische (und 'moralische') Abwertung der Vorlagen zu revidieren und die schöpferische Umwandlung des französischen Genres in die lokale Posse mit Gesang zu erkennen. Erfolgreiche Adaptionen waren unter anderem Der Talisman, Das Mädl aus der Vorstadt, Eisenbahnheirathen [...], Der Zerrissene (vgl. HKA Stücke 17/1. Hrsg.: J. Hein/P. Haida; Stücke 17/11. Hrsg.: W. E. Yates [in Vorbereitung]; Stücke 20, Stücke 21. Hrsg.: J. Hein). Nestroy benutzte für einige Possen mehr als nur eine Quelle;

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Vgl. ebda, S. 57f.; vgl. dazu auch ders.: Aus der Werkstatt eines 'schreibelustigen' Genies. Zu Nestroys Bearbeitung englischer Vorlagen. In: Johann Nestroy (1801-1862). Vision du monde et ecriture dramatique. Actes du colloque international organiso avec le concours de FInstitute Autrichien, Paris 31 janvier-2 fövrier 1991. Hrsg. von Gerald Stieg und Jean-Marie Valentin. Asniöres [Paris] 1991,8. 165-176. Vgl. HKA Stücke 23/1, S. 84-86 und 122 (Zitat Dingelstedt); Erich Joachim May: Wiener Volkskomödie und Vormärz. Berlin 1975, S. 98ff. und 119f.; Doering 1992, vgl. Anm. 2, S. 38; vgl. auch HKA Stücke 18/11, S. 136-139. Rommel. In: S W XII, S. 551; vgl. HKA Stücke 20, S. 181-196. Moritz Gottlieb Saphir. In: Der Humorist, 20. November 1843, zit. nach HKA Stücke 20, S. 184. SW XI, S. 488.

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hier kann die Edition möglicherweise Aufschluß über den Zeitpunkt der Veränderung der Konzeption geben.18 Schwierigkeiten der Bearbeitung französischer Vorlagen im Kontext der Gattungstransformation und der Theaterzensur-Bedingungen veranschaulicht Nestroy im November 1861 in einem Brief an seinen Schauspieler-Kollegen Louis Grois.19 Es geht dabei um die (von Nestroy nicht in Angriff genommene) Bearbeitung der OffenbachOperette Mesdames de la Halle; die dabei entstehenden Probleme lassen sich verallgemeinem. Es geht bei jeder Bearbeitung um textliche und dramaturgische Aspekte (Handlungsführung und -motivation, Figurenkonzeption, sprachliche Adaption, Übersetzungsmöglichkeit der Wortspiele, Umformung der Gesangseinlagen usw.) und um die Berücksichtigung des gesellschaftlichen und theatralischen Umfeldes (anderer Wertehorizont, 'Sittlichkeit', Publikumsgeschmack, Lokalkolorit und Wirklichkeitsbeziehung, 'Volkstümlichkeit', Genrespezifika, Spielraum der Satire und Berücksichtigung der Zensurvorschriften). Die Rücksicht auf diese Aspekte führt zu Veränderungen in der Fabel (z. B. Status und Funktion der komischen Volksfigur und der Frauenrollen, thematische Akzente) wie der Handlungsdurchfuhrung (Motivierung, Unterbrechung durch musikalische Einlagen u. a.). Die Nähe oder Ferne zur Quelle, die Analyse genrespezifischer Bearbeitungsstrategien (z. B. durch Entpathetisierung, Entsentimentalisierung und Komisierung, satirische Zuspitzung, parodistische Transformation) - Yates spricht von „satirischem Aufpolieren" („refurbishes the text")20 -, die andere Schwerpunktsetzung Nestroys (z. B. Behandlung der Liebe-Ehe-Thematik, sozialkritische Profilierung), Formen der Reduktion, Konzentration oder Ausweitung sind für jedes Stück anhand der Texte neu zu beschreiben. Vaudeville, Melodram, Operette, englische und französiche Vorlagen, Opern und Romane, Schauspiele und Komödien zeigen hei aller Ähnlichkeit des straffenden, verdichtenden und stilistisch wie theatralisch profilierenden Bearbeitungsverfahrens allgemein dann doch Unterschiede in der einzelnen Aneignung und Umformung, wobei auch die Bedingungen des Theaterbetriebs und der Geschmackswandel des Publikums eine Rolle spielen.

IV. Konsequenzen für die HKA Nestroys Die bisher erschienenen Bände der HKA wollen - soweit an erhaltenen Texten möglich - darstellen, wie Nestroys Possen durch schöpferisches 'Abarbeiten' am fremden Stoff - vom 'Einfair bis zum für die Aufführung intendierten Text - entstanden und welche Spuren der Vorlage in den einzelnen Entstehungsstufen nachweisbar sind. Dabei spie18 19 20

Vgl. z. B. Der Unbedeutende, HKA Stücke 23/11 und Walla 1995, vgl. Anm. 2. HKA Briefe, S. 225-227; vgl. Doering 1992, vgl. Anm. 2, S. lOOf. und S. 115-122. Vgl. Beispiele in Yates 1972, vgl. Anm. 5, S. 120-148 und Roger Bauer: Wienerisches und Europäisches in den Komödien Johann Nestroys. In: Europäische Komödie. Hrsg. von Herbert Mainusch. Darmstadt 1990, S. 382, der sich auf Yates beruft.

Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen

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len die Adaption der Vorlage und der Prozeß der Ausarbeitung von der ersten Notiz bis zur Reinschrift eine besondere Rolle. Leider sind, wie bereits erwähnt, in vielen Fällen wichtige Glieder der Kette von der Inspiration durch die Vorlage bis zum fertigen Stück nicht (mehr) vorhanden. Der kritische Apparat dokumentiert die einzelnen Bearbeitungsschritte im Produktions- und Rezeptionskontext vor allem in den Teilen „Entstehung und Vorlage", „Vorarbeiten" (Transkription der Entwürfe und Kommentierung der Bearbeitungsschritte) und „Aufnahme". Wo möglich und sinnvoll - das hängt von verschiedenen Faktoren ab - wird im Anhang die jeweilige Vorlage abgedruckt. Dabei ist es das Bestreben, die dem Autor bekannte oder von ihm benutzte Textquelle oder ihre Übersetzung zu dokumentieren, d.h. mit dem abgedruckten Text möglichst nahe an den Zeitpunkt des Entstehens der jeweiligen Posse heranzukommen. In einigen Fällen, wenn Vorlagen in mehreren Fassungen, Auflagen oder Übersetzungen vorliegen, ist noch zu klären, welche Quelle Nestroy benützt hat; dies gilt auch für Texte, die sowohl in epischer wie in dramatischer Form existieren. Bei den dramatischen Quellen sind Buch- und Theaterfassung zu unterscheiden. Empfohlen wird ein synoptischer Überblick über den Inhalt von Vorlage und Nestroytext (z. B. HKA Stücke 17/1. Hrsg.: J. Hein/P. Haida; Stücke 19, Stücke 20, Stücke 21, Stücke 23/1, Stücke 27/11. Hrsg.: J. Kein). - Für umfangreichere epische Vorlagen sind geeignete Darstellungsverfahren zu wählen (vgl. HKA Stücke 5. Hrsg.: F. Walla; Stücke 23/11, Stücke 32, Stücke 33. Hrsg.: J. Hein; Stücke 31. Hrsg.: H. Aust). In jedem Falle sind die bezeugten Übernahmen und die Umstrukturierung zu dokumentieren, Hinweise auf Motive, Fakten, Gestalten, Belege auch vermutete Belegtexte -, Gattungsvorgaben zu kommentieren und zu reflektieren.21 Die 'Richtlinien' für die HKA sehen einen vollständigen Faksimile-Abdruck der Vorlage nur bei Theaterstücken vor; dies gilt nicht für allgemein greifbare Dramen (z. B. Hebbels Judith; hier ist freilich fraglich, ob Nestroy Buch- oder Wiener Theaterfassung vorgelegen hat). Die Dramenvorlagen sollen nach Möglichkeit den vermutlich von Nestroy benutzten entsprechen.

V. Beispiele aus der HKA Beispiele aus den bisher erschienen Bänden der HKA veranschaulichen unterschiedliche Verfahren bei der Dokumentation der Quelle (Synopse, Inhaltsangabe, Faksimile), der Darstellung des Einflusses auf die Textkonstitution und der 'Abhängigkeit' sowie der Kommentierung der Vorarbeiten, die sich auf die Vorlage beziehen. Einige zusammenhängende Stationen des Bearbeitungsprozesses - Spuren der Vorlage bis in den 'fertigen' Theatertext - und die damit verbundenen editorischen Aspekte 21

Zur terminologischen Klärung von 'Quelle', 'Belegtext', 'Zitat', 'Entlehnung', 'Anregung' vgl. Burghard Dedner: Quellendokumentation und Kommentar zu Büchners Geschichtsdrama Danton 's Tod. Versuch einer sachlichen Klärung und begrifflichen Vereinfachung. In: editio 7, 1993, S. 194210.

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können am Beispiel der Posse Der Talisman (1840; HKA Stücke 17/1) dargestellt werden.22 Die Szenarium-Synopse Bonaventure - Talisman gibt einen groben Überblick über die Unterschiede zwischen der französischen 'comedie-vaudeville' und der wienerischen 'Posse mit Gesang'. Die transkribierten und kommentierten Vorarbeiten (Übersetzungsskizze, Szenarium, Entwürfe) dokumentieren Nestroys Adaption, Ausbau und Umarbeitung, zeigen motivliche Entsprechungen und eigene Ansätze, die ihren ersten Niederschlag bereits in Nestroys eigenhändiger Übersetzungsskizze finden. Es wird deutlich, wie Nestroy aus einzelnen 'Inhaltskernen' und Wörtern der Vorlage (z. B. „Schulmeister", „todt", „Bildung") neue Elemente für Dialog und Handlung gewinnt. Darauf verweist auch die am Schluß der Übersetzungsskizze stehende Sammlung von Einfallen zum Thema „Litterarisch", die bei der Ausgestaltung der Szene II, 24 Verwendung gefunden hat. Ferner bieten die Vorarbeiten einen Einblick in die Bearbeitungspraxis durch entsprechende Hinweise, z. B. „n. d. G.", was wohl 'nach dem Geschriebenen' bedeutet und auf die Vorlage beziehungsweise auf den schon daraus entwickelten eigenen Entwurf verweist, oder „s.k.", was möglicherweise 'sehr kurz' oder auch 'selbst konzipiert' oder 'selber konzipieren' heißen kann. Weitere Beispiele seien nur kurz skizziert: 1. Liebesgeschichten und Heiratssachen (1843): Das Szenarium enthält noch die Personen-Namen der Vorlage;23 2. Eisenbahnheiraten [...] (1844): Randnotizen in der Übersetzung der französischen Vorlage verweisen auf die eigene Konzeption; möglicherweise wurde Nestroy hier wie bei anderen Vaudevilles durch das Szenenbild auf der Titelseite des Magasin Theätral angeregt;24 3. Der Zerrissene (1844): Das Rollenheft für „Herrn v. Lips" trägt noch die französische Gattungsbezeichnung „Vaudeville", die gestrichen und durch „Posse" ersetzt wird;25 4. Der Unbedeutende (1846): Die dreispaltige Anordnung des von der Inhaltsangabe ausgehenden Entwurfs Das Sandkorn - Die Unbedeutenden ermöglicht den Übergang von der Erzählung über einzelne 'Einfalle' zur ersten Konzeption;26 5. Freiheit in Krähwinkel (1848) und andere Revolutionsstücke: Nestroy benützte für Zitate, Schlagwörter sehr wahrscheinlich 'Belege', 'Bezugstexte', Aufzeichnungen, Kommentare, Zeitungsberichte über die Ereignisse 1848/49;27 6. Höllenangst (1849): „Plan= u. Scenarium=Vorarbeiten zu Der Besessene" und 'Zitate' aus der gedruckten Übersetzung (z. B. „gastfreies England") vermitteln Einblicke in den Bearbeitungs- und Entstehungsprozeß;28 22

Vgl. kommentierte Darstellung bei Hein 1994, vgl. Anm. 5, S. 85-91 sowie Herles 1974, vgl. Anm. 5.

23

Vgl. HKA Stücke 19, S. 168-173 und 263.

24

Vgl. HKA Stücke 20, S. 360, 365 und 393-429 (Transkription der Übersetzung) sowie FaksimileDrucke der Vorlagen in anderen Bänden der HKA.

25

Vgl. HKA Stücke 21, S. 174 zu 25/2.

26

Vgl. HKA Stücke 23/11, S. 290-307 und 536 f.

27

Vgl. Hinweise auf zeitgenössische Publizistik in HKA Stücke 26/1. Hrsg. von John R. P. McKenzie.

Editorische Überlegungen zu Nestroys Possen

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7. Theater g'schichten durch Liebe, Intrigue, Geld und Dummheit (1854): „Original" und „Benützung" („Oliva" und 'richtige' Namensform der Vorlage „Olympia" sowie Erfindung des neuen Handlungsortes 'Apotheke'); durch die Vorarbeiten und Hinweise in Theaterkritiken konnte die Vorlage gefunden werden;29 8. Frühere Verhältnisse (1862): das vermeintliche Originalwerk' Nestroys erwies sich als eng an einen Berliner Schwank angelehnte Bearbeitung.30 Besondere Beachtung verdienen auch Quellen und Belege für einzelne Anspielungen, Zitate in Monologen, Dialogen und in den Couplets: z. B. die parodistisch-satirische Verarbeitung von bereits zu Schlagwörtern gewordener Wirklichkeit in den ZeitungsFeuilletons; als Beispiele seien der berühmte Ausspruch „Das ist klassisch" in Einen Jux will er sich machen oder die 'Zerrissenheits'-Thematik in Der Zerrissene genannt, für die sich solche Belege nachweisen lassen.31 Die Edition kann einen entscheidenden Beitrag zur Einsicht in Textentstehung und zur Interpretation leisten,32 darüber hinaus möglicherweise als Erkenntnisinstrument zur Bestimmung der Autorschaft oder im Vergleich von Bearbeitungen dienen: z. B. Der Unbedeutende und Carl Haffners Der Faßbinder (HKA Stücke 23/11); Eine Wohnung ist zu vermiethen [...] (HKA Stücke 12. Hrsg.: W. E. Yates) von der französischen Vorlage Les appartements a louer über Berlin (Louis Angely) und Frankfurt am Main (Karl Malss) nach Wien; Papiere des Teufels (HKA Stücke 18/1. Hrsg.: P. Haida) in Bearbeitungen anderer; ferner konkurrierende Fassungen, z. B. bei Josef Kupelwieser, der Nestroys Vorlagen zu Der Talisman, Die Papiere des Teufels und Höllenangst ebenfalls bearbeitete. Fener können, sofern das entsprechende Vorlagen-Material recherchiert ist, Antworten auf die Frage gefunden werden, warum einige Bearbeitungen Mißerfolge wurden. Zuletzt soll das Problem der Zuschreibung von Bearbeitungen als 'Nestroy-Text' erwähnt werden, z. B. bei Jacques Offenbachs Orpheus in der Unter-weit und David Kalischs Ein gebildeter Hausknecht, jeweils mit dem Vermerk „Für die österreichischen Bühnen bearbeitet von Johann Nestroy", und Louis Angelys Zwölf Mädchen in Uniform, mit dem Vermerk „Für das k. k. priv. Theater an der Wien bearbeitet von Johann Nestroy". Hier stellt sich die Frage nach dem 'autorisierten' bzw. 'authentischen' Nestroytext und nach der Begründung für die Aufnahme in die HKA.33 28

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32 33

Vgl. HKA Stücke 27/11, S. 157-160 sowie den faksimilierten Abdruck der frz. Vorlage und der dt. Übersetzung in diesem Band. Vgl. HKA Stücke 33, S. 214 f. und Jürgen Hein: Theaterg'schichten bürgerlich. Aus dem Kloster in die Apotheke oder von Alexandre Dumas zu Johann Nestroy. In: Nestroyana 14, 1994, S. 40-44. Vgl. Jürgen Hein: Frühere Verhältnisse und Alte Bekanntschaften. Eine Berliner Posse als Vorlage eines Nestroy-Stückes. In Nestroyana 9, 1989, S. 51-59 und HKA Stücke 38. Hrsg. von Peter Branscombe. Vgl. Kommentare in HKA Stücke 18/1 und Stücke 21; zur Terminologie vgl. Dedner 1993, vgl. Anm. 21. Vgl. auch Yates 1985, vgl. Anm. 12. Vgl. Hein 1990, vgl. Anm. 5, S. 99f. und die Diskussion um 'echten' und 'unechten' Nestroy; vgl. ferner Rommel. In: GW I, S. 179-184 sowie W. E. Yates: Das Werden eines (edierten) Nestroy-

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Bei der Arbeit an der Neu-Edition der Possen hat sich gezeigt: Nestroys Originalität beweist sich in der schöpferischen Bearbeitung der Vorlagen; Yates spricht von „creative adaption".34 Nestroy „erfindet das Gefundene", wie Karl Kraus es ausgedrückt hat,35 gemäß dem eingangs zitierten Motto der eigenen Notiz aus dem Nachlaß: „Erinnerungen an die Wirklichkeit [...] kunstvoll zusammenfügen, geistreich miteinander verbinden", im Transformationsprozeß den Gattungsspielraum voll ausnutzend, und zwar 'nach allen Regeln der (Possen-)Kunst', dabei im Brechtschen Sinne den „Materialwert" der Vorlage nutzend.36

34 35 36

Textes. In: Yates (Hrsg.) 1994, vgl. Anm. 4, S. 13f. -Nestroy wurden außerhalb Österreichs - wohl aus Werbegründen - fremde Stücke zugeschrieben, vgl. Jürgen Hein: Mit fremden Federn. Eine Werther-Parodk Nestroys? In: Nestroyana 10, 1990, S. 27-31 und ders.: Nestroy-Theatermanuskripte in der Zensurbibliothek des Landesarchivs Berlin. In: Nestroyana 13, 1993, S. 121-129. Yates 1972, vgl. Anm. 5, S. 120-148; vgl. Bauer 1990, vgl. Anm. 20 und Walla 1995, vgl. Anm. 2. Kraus 1912, vgl. Anm. 3, S. 7. Vgl. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. l. Frankfurt a. M. 1963, S. 80 ff.

Bodo Plachta

Das Feuilleton als Verbrecher! Georg Weerths Roman Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski zwischen Quellendokumentation und Quelleninterpretation

I.

Dieter Langewiesche hat in seinem Forschungsbericht über die deutsche Revolution von 1848/49 resümiert, daß diese in Architektur, Malerei und Literatur „keine tiefen Spuren" hinterlassen habe.1 Die Revolution habe insbesondere keine Werke angeregt, die später als „Signatur der Zeit" oder als Signal für etwas Neues angesehen worden wären. Dieses Schicksal hat auch Georg Weerths Roman Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski ereilt, der zuerst als Fortsetzungsroman in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 8. August 1848 bis zum 21. Januar 1849 und dann in leicht veränderter und um einige Kapitel erweiterter Buchfassung 1849 bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschien und dann erst wieder seit 1957 in einer Edition allgemein zur Verfügung stand.2 Dennoch hat Weerth mit seinem Fortsetzungsroman in das Revolutionsgeschehen eingegriffen und parallel zu den politischen Artikeln der Neuen Rheinischen Zeitung im Feuilleton eine literarische Deutung der Zeitereignisse versucht. „Gebrauchs- und Agitationswert"3 seines Textes standen dabei ebenso im Vordergrund, wie das journalistische Medium Form und Gestaltung des Werks von vornherein beeinflußte. Die Romankomposition erforderte dem Medium Zeitung entsprechend kurze abwechslungsreiche Episoden, die jeweils einen eigenen Höhepunkt hatten, dem Reisebildschema folgend häufige Schauplatzwechsel aufwiesen und so eine Handlungsvielfalt brachten, die mit der Hektik der politischen Zeitereignisse in der zweiten Hälfte des Jahres 1848 korrespondierte. Weerths Schnapphahnski-Roman gilt daher auch als erster deutscher Feuilletonroman, der seine Vorbilder in Eugene Sues Zeitungsroman Les Mysteres de Paris (1842/43) und den schnell nachfolgenden Feuilletonromanen von Dieter Langewiesche: Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, Teil II. In: Archiv filr Sozialgeschichte 31, 1991, S. 331-443, hier S. 425 (Teil I in: Archiv fllr Sozialgeschichte 21, 1981, S. 458-498). Zum Forschungsstand und seiner Geschichte vgl. Bernd Füllner: Georg Weerth. Ein Forschungsbericht. In: Georg Weerth. Neue Studien. Hrsg. von Bernd Füllner. Bielefeld 1988, S. 1-43, bes. S. 2730 zum Schnapphahnski-Roman. Zu Plänen für eine neue Weerth-Gesamtausgabe vgl. Bernd Füllner, Michael Vogt: „Ich laufe herum und erkundige mich bei allen Gimpeln, wo ein Markt fllr meine Überproduktion". Überlegungen zu einer neuen Edition sämtlicher Werke von Georg Weerth. In: Literatur in Westfalen 3, 1995, S. 281-287. Langewiesche 1991, vgl. Anm. l, S. 425.

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Bodo Plachta

Alexandre Dumas, Honore de Balzac oder George Sand hat. Das Phänomen der Massenpresse, dem diese Romane ihre Erfolge verdankten, aber auch die neue Darstellung gesellschaftlicher Defekte und ihrer Kompensation, die holzschnittartige, zuweilen bewußt überzogene Konturierung von Gut und Böse beziehungsweise von Freund und Feind sowie die Kolportage von Fakten oder angeblichen Fakten etablierten einen neuen Romantypus mit breiter Wirkung.4 Friedrich Engels' Bemerkung über den Schnapphahnski-Roman 1883 im Sozialdemokrat (Nr. 24, 7. 6. 1883): „Die Tatsachen sind alle wahr; wie wir sie erfuhren, darüber vielleicht ein andermal"5, illustriert nicht nur die besondere Überlieferung von Informationen in einer politisch brisanten Zeit. Auch von anderer Seite wurde der Wirklichkeitsbezug des Romans und seiner Hauptfigur bezeugt und etwa von einem Leser wie Karl August Varnhagen von Ense ausdrücklich nach der Lektüre im Tagebuch vermerkt: „Sämtliche Schändlichkeiten und Gemeinheiten Lichnowskis. Das Helgoländer Mädchen, die Herzogin, die Ohrfeigengeschichte - nichts fehlt "6 Der aus dem polnischsprachigen Teil Schlesiens stammende Fürst Felix Lichnowski war seit der Verspottung als Schnapphahnski in Heines Versepos Atta Troll (Cap. I, XXIII) dem Lesepublikum des Vormärz kein Unbekannter, und gleich in der ersten Folge seines Feuilletonromans, in dessen Verlauf er sich immer wieder auf Heines Atta Troll bezog und Versatzstücke aus Heines Text in den eigenen übernahm, betont Weerth durch seinen Erzähler, er wolle den ,,edle[n] Ritter aus seinem zauberisch-poetischen Nimbus" herausholen und „an den Zipfeln seines Frackrocks" vor „das große Publikum" zerren.7 Bernd Füllner hat Äußerungen von Karl Gutzkow, Heinrich Laube und Louise Aston zitiert, aus denen hervorgeht, daß der zeitgenössische Leser von Heines Versepos die historische Person nicht nur hinter der Schnapphahnski-Figur erkannte, sondern daß auch Karikaturen im Umlauf waren, die unter der Chiffre 'Schnapphahnski' auf die historische Person verwiesen.8 Das öffentliche Interesse an einem adligen Junker, der zunächst als Abgeordneter des ersten preußischen Vereinigten Landtags 1847 und dann 1848 in der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche die politischen Interessen des reaktionären Teils der Aristokratie vertrat, war Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Eugene Sue et le roman feuilleton. Remarques sur l'histoire d'un genre litteraire 'trivial'. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 2, 1978, S. 401-420, bes. S.419f. Zitiert nach: Karl Marx. Friedrich Engels. Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 21. Berlin/DDR 1962, S. 5-8, hier S. 6. Eintrag im Tagebuch am 24. August 1849: Tagebücher. Aus dem Nachlaß Varnhagens von Ense. Hrsg. von Ludmilla Assing. Bd. 6. Berlin 1862, S. 334f. Der Romantext wird zitiert nach der Buchfassung von 1849 in: Georg Weerth. Sämtliche Werke. Hrsg. von Bruno Kaiser. Bd. IV: Prosa 1848/49. Berlin/DDR 1957, S. 298. Vgl. Bernd Füllner: „Die Tatsachen sind alle wahr". Roman und Prozeß. Georg Weerths Adelssatire Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski. In: Georg Weerth (1822-1856). Referate des I. Internationalen Georg-Weerth-Colloquiums 1992. Im Auftrag der Grabbe-Gesellschaft e.V. hrsg. von Michael Vogt in Verbindung mit Werner Broer und Detlev Kopp. Bielefeld 1993, S. 240274, hier S. 242-247 und S. 273 die Abbildung von zwei entsprechenden Karikaturen.

Das Feuilleton als Verbrecher

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eminent. Nicht nur Lichnowskis politische Karriere war den Demokraten ein Dorn im Auge, sondern zahlreiche im Laufe der Zeit bekannt gewordene kompromittierende Einzelheiten aus seinem Leben legten den zwielichtigen Charakter des Fürsten bloß. Auch seine Rolle im Bürgerkrieg um die spanische Thronfolge von 1834 sowie seine politische Kompromißlosigkeit waren zunehmend Gegenstand der politischen Auseinandersetzung in der Tagespresse geworden.9 Lichnowskis 1841 erschienene Erinnerungen aus den Jahren 1837, 1838 und 1839 (2 Bde. Frankfurt am Main 1841) hatten das Ihrige zu diesem öffentlichen Ruf beigetragen und wurden von Heine und schließlich auch von Weerth als 'Quelle' genutzt, um mit Hilfe von derartigem authentischen Hintergrundmaterial ihren Spott pointiert über die politische Unperson Lichnowski auszugießen. Die Sprengkraft eines Romans, dessen „Tatsachen alle wahr" seien, zeigt sich aber am deutlichsten in dem Prozeß, der gegen Georg Weerth angestrengt wurde, nachdem Lichnowski am 18. September 1848 während des Frankfurter Septemberaufstands ermordet worden war und die preußischen Behörden sich zu einem verschärften Vorgehen gegen dessen politische Gegner - insbesondere in der demokratischen und liberalen Presse - veranlaßt sahen, da die „Überhand nehmenden Mißbräuche der freien Presse [...] mittelbar zu dessen Ermordnung beigetragen habe[n]."10 Deshalb wurde auch Georg Weerth vorgeworfen, sein Schnapphahnski-Roman enthalte „angeblich eine Verläumdung des Fürsten Lichnowsky". In seiner Vernehmung gab Weerth dem Gericht in Köln zu Protokoll: Die eben erwähnte Novelle sei nun allerdings aus seiner Feder hervorgegangen; dieselbe bilde eine Fortsetzung des Heinischen Gedichtes Atta Troll. Um die Erzählung der Jetztzeit mehr anzupassen, habe er als Geburtsort des Helden die Wasserpolakei angegeben, ihn auch zum Mitgliede einer Nationalversammlung gemacht. Dass ihm aber hierbei eine bestimmte Person, namentlich die des Fürsten Lichnowsky vor Augen geschwebt, müsse er entschieden bestreiten.11

Der Prozeß gegen den Feuilletonredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung war zwar als Verleumdungsprozeß deklariert, war aber unschwer als politischer Prozeß gegen die Zeitung selbst zu erkennen, denn zwischen dem 26. September und dem 3. Oktober 1848 waren die Neue Rheinische Zeitung und andere demokratische Medien während des in Köln verhängten Belagerungszustandes bereits verboten. Der Prozeß sollte vor diesem Hintergrund kaum klären, ob es sich bei dem Geschehen in Weerths Schnapphahnski-Roman um einen Tatsachenbericht oder um Fiktion handelte, es ging vielmehr 9

10

11

Michael Vogt weist daraufhin, daß Lichnowski in den 301 Nummern der Neuen Rheinischen Zeitung 106mal genannt wird, was statistisch bedeutet, daß er in jeder dritten Ausgabe der Zeitung Erwähnung findet („Unsere Leser werden sich erinnern, daß wir den edlen Ritter in Spanien verließen." M. V.: Zur Lektüre des ersten deutschen Feuilletonromans, Georg Weerths Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski, in der Neuen Rheinischen Zeitung. In: Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 1995, S. 97-106, hier S. lOlf.). Maschinenschriftliche Abschrift der Prozeßakten (A 6624) im Weerth-Nachlaß des Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis in Amsterdam. Ebda.

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Bodo Flachtet

um obrigkeitliche Repression in einer Zeit neuerlicher Restaurationsbestrebungen. Der Prozeß, der den erhaltenen Dokumenten zufolge eher mit formal-juristischen als mit inhaltlichen Argumenten über mehrere Instanzen hinweg geführt wurde, endete für Weerth mit einer dreimonatigen Haft, einer Geldbuße von 25 Reichstalern und dem Verlust der staatsbürgerlichen Rechte für fünf Jahre.12 Karl Marx brachte die eigentliche Causa schon nach der Beendigung der Voruntersuchung gegen Weerth in der Neuen Rheinischen Zeitung am 26. November 1848 (Nr. 153, Zweite Ausgabe) auf den Punkt: „Das Verbrechen Schnapphahnski! Das Feuilleton als Verbrecher!"13 Auch in dem der Buchfassung von 1849 beigegebenen Vorspiel·4 berichtet der Erzähler von seinem „Entzücken" und von seiner „Freude", die ihn überkam, als der Gerichtsdiener die Prozeßvorladung zustellt: er warf den Sessel um und den Tisch und alles, was darauf stand, und wäre fast dem Gerichtsvollzieher um den Hals gefallen, um ihn zu herzen und zu küssen, und ein über das andere Mal frohlockte er: „Ich bin ein Verbrecher! ein Verbrecher! Verbrecher!"^

II. Obwohl zur Entstehung des Romans weder Zeugnisse von Weerth noch von Dritten vorliegen, auch keine Entwürfe oder andere Vorarbeiten zum Roman im ansonsten gut überlieferten Nachlaß vorhanden sind, muß dennoch von einer „extensiven Quellenabhängigkeit"16 des Romans ausgegangen werden. Dem stehen allerdings die wenigen, allerdings prononcierten, Äußerungen Weerths entgegen, die er während des Verleumdungsprozesses gemacht hat. Nicht nur, daß er - wie bereits zitiert - in der Voruntersuchung den fiktiven Charakter des Romans in der Nachfolge von Heines Atta Troll hervorhob, in einer Eingabe an den Präsidenten des Königlichen Landgerichtes vom 20. Juli 1849 bezeichnete er die kurz vor der Auslieferung stehende Buchfassung des Romans als „Hauptbeweismittel" seiner Unschuld und führte weiter aus: Die s[eine]r Z[ei]t erschienenen Feuilletons der „Neuen Rheinischen Zeitung" bildeten nämlich nur den Anfang der Novelle, und würde das ganze Werk augenblicklich den Beweis liefern, daß ich nicht den genannten Fürsten Lichnowsky damit zu „verleumden" beabsichtige, sondern daß ich nur ganz allgemein das Leben eines sinnreichen Junkers darin zu schildern und eine Fortsetzung des Bären Atta Troll von Heine zu liefern versuchte und folglich kein größeres Verbrechen beging als

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Zu den Einzelheiten des Prozesses vgl. Füllner 1993, vgl. Anm. 8, S. 257-265. Zitiert nach: Karl Marx. Friedrich Engels. Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 6. Berlin/DDR 1968, S. 62f., hier S. 63. In der Zeitungsfassung hatte Weerth mit dieser Passage unter dem Titel Vorspiel an den Lesser nach einer fast dreimonatigen Unterbrechung die Fortsetzung des Romans am 13. Dezember 1848 in der Neuen Rheinischen Zeitung (Nr. 167) wieder aufgenommen. Weerth, Sämtliche Werke, vgl. Anm. 7, Bd. IV, S. 289f. Burghard Dedner: Quellendokumentation und Kommentar zu Büchners Geschichtsdrama Danton's Tod. Versuch einer sachlichen Klärung und begrifflichen Vereinfachung. In: editio 7, 1993, S. 194210, hier S. 195.

Das Feuilleton als Verbrecher

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weiland der Brite Shakespeare, indem er den Sir John Falstaff und Dortchen Lakenreißer „verleumdete", oder als der Spanier Cervantes, indem er den Don Quijote und den Sancho Pansa der allgemeinen Heiterkeit preisgab, oder als der Franzose Louvet, indem er den liebenswürdigsten aller leichtsinnigen Edelleute, den Chevallier Faublas, unsterblich machte.17

Sicherlich handelt es sich hier um eine 'adressatenbezogene' Äußerung, mit der Weerth - so Bernd Füllner - „quasi einen Kunstvorbehalt"18 geltend machte und mit dem erneuten Verweis auf Heine die politische Brisanz des Romans und seiner Wirkung dennoch nicht verleugnete. Gleichzeitig schmälerte er die Originalität des Romans, indem er immer wieder auf die Adaptation literarischer Vorbilder hinwies. Im Roman selbst bezieht sich der Erzähler hin und wieder auf ihm vorliegende „Manuskripte", denen er seine Informationen entnommen habe. Der überwiegende Teil der Episoden beruhe aber - so beteuert der Erzähler immer wieder mit ironischer Süffisance - auf mündlichen Mitteilungen, auf gezielten Indiskretionen, auf einem On dit' oder auf Klatsch. Schon Bruno Kaiser hat 1957 in seiner Weerth-Edition angemerkt, daß Weerth über die Neue Rheinische Zeitung in den Besitz von vertraulichen Dokumenten über den Fürsten Lichnowski gekommen sein dürfte,19 und Florian Vaßen nimmt die Gräfin Sophie von Hatzfeld, eine Freundin des Redaktionsmitglieds Ferdinand Lassalle, als Informantin und Materialbeschafferin an.20 Wie dem auch sei, seriöse journalistische Recherche und kolportierte skandalträchtige Episoden ohne unmittelbaren Wahrheitsgehalt dürften sich in diesem Roman die Waage halten. Schon 1959 hat Walter Grupe in den Beständen des Geheimen Preußischen Staatsarchivs (heute: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin) einen Aktenvorgang aufgefunden, der die im vierten Kapitel behandelte Diamantenaffäre historisch belegt.21 Demnach hatte Lichnowski, unmittelbar vor der Prüfung für den Eintritt in den diplomatischen Dienst stehend, auf einen Wechsel bei einem Berliner Juwelier Diamanten gekauft, einige dieser Preziosen einer Schauspielerin geschenkt, den überwiegenden Teil des Schmuckes aber zu überhöhten Preisen weiterverkaufen lassen, um auf diese Weise den Wechsel beim Juwelier einlösen zu können. Den Hinweisen Grupes ist Bernd Füllner 1993 nachgegangen. Er hat dabei eine Vielzahl von weiteren Dokumenten zutage gefördert, die nicht nur den Wahrheitsgehalt der Weerthschen Schilderung belegen, sondern gleichzeitig die Technik der Bearbeitung hinsichtlich des satirischen Konzepts des Romans erhellen. Der Umfang der zum Fürsten verwahrten Akten22 zeigt, 17

18 19 20

21

22

Georg Weerth. Sämtliche Briefe. Hrsg. und eingel. von Jürgen-Wolfgang Goette unter Mitwirkung von Jan Gielkens. 2 Bde. Frankfurt a. M., New York 1989, hier Bd. l, S. 495f. Füllner 1993, vgl. Anm.8, S. 260. Vgl. Weerth, Sämtliche Werke, vgl. Anm. 7, Bd. IV, S. 10. Vgl. Florian Vaßen: Georg Weerth. Ein politischer Dichter des Vormärz und der Revolution von 1848/49. Stuttgart 1971, S. 172, Anm. 7. Vgl. Walter Grupe: „Ritter Schnapphahnski" in den Akten des Deutschen Zentralarchivs. In: Neue deutsche Literatur 7, 1959, H. 5, S. 152f. Der Bestand Geheimes Zivilkabinett (I. HA Rep. 89 2.2.1. Nr. 1361) enthält die Dokumente zur Diamantenaffäre. Im Bestand Ministerium des Innern (I. HA Rep. 77 Tit. 6 Spez. L. Nr. 113) befindet sich eine Akte mit dem Titel Untersuchung gegen den Fürsten Lichnowsky und den Hauptmann a.D. v. Banden aus den Jahren 1840-42 und enthält Ermittlungen gegen Lichnowski wegen einer Ordens-

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daß Lichnowski auch für die preußische Ministerialbürokratie trotz allen politischen Wohlwollens keine unbedenkliche Figur war. Auch andere, heute mit Hilfe von Lexika, Memoirenliteratur, Lichnowskis Erinnerungen, zeitgenössischen Gesandtschaftsberichten oder Briefwechseln zu verifizierende Fakten und Personen der von Weerth geschilderten Duelle, amourösen Abenteuer und Skandale des Hasardeurs Schnapphahnski verraten die Absicht von Weerths Enthüllungsjournalismus, die politische und persönliche Integrität Lichnowskis in der Kunstfigur Schnapphahnski zu diskreditieren. Daß dabei die wiederholt vorgebrachte Beteuerung des Erzählers, sich nur auf authentische Quellen zu stützen, keine Schutzbehauptung ist, sondern beim Leser gerade durch das Wiedererkennen des Faktenhintergrunds die satirische Wirkung des Romans entfaltet, macht die Problematik offenkundig, die zwischen dem Nachweis der Fakten und ihrer Funktion im Roman besteht. Dabei ist zu beachten, daß der heute zu recherchierende Faktenhintergrund nicht das Material dokumentiert, das Weerth zur Verfügung gestanden hat.

III. Zur Aufgabe des Editors, die Entstehungsgeschichte eines literarischen Werks zu rekonstruieren, gehört nach allgemeiner Auffassung auch eine Untersuchung, in welcher Weise der Autor diese Quellen in dem betreffenden Werk für seine spezifischen Belange verwendete, wie weit er sie genau benutzte, wie weit er sie für seine Zwecke veränderte oder mit den Aussagen anderer Quellen vermischte.23

Im Fall des Schnapphahnski-Romans kennen wir die Quellen nicht, und das Material, das heute den Faktenhintergrund dokumentieren kann, hat allenfalls illustrierenden Charakter und ist zusätzlich häufig vom interpretierenden Textverständnis des Editors abhängig. Die Übereinstimmung zwischen Roman und recherchiertem Tatsachenmaterial ist zwar auffällig, geht aber - wie Burghard Dedner definiert hat - über die Funktion von Belegen, die letztlich keinen Quellenrang beanspruchen dürfen, nicht hinaus.24 Auch im Falle von Weerths Roman ist die Annahme wohl richtig, daß ein Großteil der Informationen zum Romanhelden allgemeinen und „kollektiven Wissenszusammenhängen" entstammte, daneben die nur Weerth vorliegenden, heute vielleicht nicht mehr verifizierbaren Informationen vom Leser als Tatsachen verstanden worden sind. Dedner hat für Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod gezeigt, wie notwendig die Rekon-

23

24

angelegenheit, wegen eines Duells und wegen eines Artikels Lichnowskis zur Judengesetzgebung. Der Bestand des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten (III. HA 2.4.1. ZB Nr. 815-817) enthält Akten zum beabsichtigten Eintritt Lichnowskis in den diplomatischen Dienst (1835-37) und über die Prüfung Lichnowskis (1836-37) sowie den Text der Prüfungsarbeit. Siegfried Scheibe [u. a.]: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin/DDR 1988, S. 174. Vgl. Dedner 1993, vgl. Anm. 16, S. 196.

Das Feuilleton als Verbrecher

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struktion solcher nicht bekannter Quellen durch vergleichbare Belege ist.25 Die genaue Beachtung einer terminologischen Unterscheidung zwischen Quelle und Beleg sollte sich auch in der editorischen Dokumentation niederschlagen. Der vollständige Abdruck etwa der erwähnten Akten zum Diamantenskandal in einem Anhang zugunsten einer Zitatauswahl für einzelne Lemmata könnte auch optisch dokumentieren, daß dieses Material nur eine Sekundärquelle mit Stellvertreterfunktion ist. Ebenso sollte der Editor bei der Zuordnung von Einzelinformationen zu Textstellen darauf achten, daß der zitierte Beleg nur illustrierenden Charakter hat, weil der Autor die eigentliche Information dem Romankontext stets untergeordnet hatte und der 'Tatsachen'Charakter des Romans zunehmend unerheblicher wurde.

IV.

Dies läßt sich abschließend an den beiden letzten Romankapiteln erläutern, die sich dem Kölner Dombaufest 1848 widmen. Beide Kapitel gehörten in der Zeitschriftenfassung ursprünglich nicht zur Romanhandlung, die mit dem zwanzigsten Kapitel (Die Politik) am 21. Januar 1849 ohne einen expliziten inhaltlichen Abschluß beendet wurde. Für die Buchfassung überarbeitete Weerth seinen Das Domfest von 1848 betitelten Aufsatz in der Neuen Rheinischen Zeitung (Nr. 79, 87, 90 vom 18., 27. und 31. August 1848) und fügte ihn dem Roman als Abschlußkapitel an. Der Faktenhintergrund ist vom Ablauf des Festes über den bei der Ankunft des Monarchen einsetzenden Regens bis zum Abdruck der Speisekarte für das Festessen im Gürzenich wieder deutlich erkenn- und durch Belege dokumentierbar. Allerdings ist Schnapphahnski völlig in Vergessenheit geraten. Der Erzähler berichtet nur von einem „eleganten, hübschen Mann" in einer „brillanten Karosse", der auf einen „fliegenden Buchhändler" reagiert, der das Erscheinen einer weiteren Fortsetzung der Schnapphahnski-Geschichte in der Neuen Rheinischen Zeitung ausruft. Dem zeitgenössischen Leser dürfte es aber nicht schwergefallen sein, an den typischen Attributen und dem Auftreten des Fremden die Romanfigur Schnapphahnski zu erkennen: Das Wort „Schnapphahnski" scheint ihn zum Stutzen gebracht zu haben; rasch greift er in die Tasche und wirft dem frohen Buchhändler ein Geldstück in den Hut; noch hastiger streckt er die Hand nach der gekauften Zeitung aus, und wie er das Blatt auseinanderfaltet und hinunter auf den Titel des Feuilleton blickt, da schrickt er zusammen und-aber die Rosse schlagen schon wieder aufs Pflaster, und der Wagen rollt weiter, und verschwunden ist der schöne Fremde, und „ Fortsetzung von Schnapphahnski! Fortsetzung des Ritters Schnapphahnski!" beginnt der Junge von neuem, und tönend verliert sich sein Ruf in dem Getöse der Gassen?·**

Schnapphahnski ist mit dieser Episode zu einer Randfigur im allgemeinen Geschehen reduziert worden, denn der Erzähler wendet sich nun der politischen Demonstration zu, die das Dombaufest mit sich bringt und die dem 'berühmten' Ritter in jeder Hinsicht 25 26

Vgl. ebda, S. 199. Weerth, Sämtliche Werke, vgl. Anm. 7, Bd. IV, S. 462f.

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die Schau stiehlt. Wieder ist keine bloße journalistische Berichterstattung beabsichtigt. Der Erzähler liefert allerdings trotz eines reportagehaften Erzählens eine politische Analyse, die wegführt vom individuellen Leben und Verhalten der SchnapphahnskiFigur zu einer grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Bestandsaufnahme nach dem Zusammentreten des Paulskirchenparlaments.27 Insgesamt wird das Dombaufest als eine „allein der Reaktion nützende[n] politische Komödie"28 bewertet, die in den überarbeiteten letzten Abschnitten für die Buchfassung in der Feststellung gipfelt: Ja, vorüber war die große kölnische Domfarce, bei der all die hohen Herrn mit den schönsten Phrasen im Munde, aber den Groll im Herzen, unter dem Jubel des törichten Volkes all die feinen Pläne ersannen, welche bald in den standrechtlichen Erschießungen Wiens, in der Oktroyierung der preußischen und österreichischen Verfassung und in dem Lächerlichwerden der Frankfurter Versammlung so treffliche Früchte tragen sollten?*

Der „dumme souvärene Michel", die „'volksfreundlichen' Fürsten", die „düpierten Volksrepräsentanten" und „die kugelzerrissenen Leichen der Proletarier von Paris, von Wien und Berlin" treten am Romanende den Beweis an, daß die eigentlichen nationalen Ereignisse des Jahres 1848 nicht die Märzrevolution und die Einberufung des Paulskirchenparlaments waren. Nicht nur die Abgeordneten der Nationalversammlung, sondern die gesamte kritische Öffentlichkeit mußte spätestens beim Kölner Dombaufest zur Kenntnis nehmen, daß die alte höfische Rangordnung weiterhin fortlebte. Der Reichsverweser hatte als protokollgerechte Begleitung für den preußischen König nämlich den Fürsten Lichnowski ausgewählt. Obwohl bekannt war, daß Lichnowski zu den „meistgehaßten"30 Abgeordneten der reaktionären Paulskirchenfraktion gehörte, galt er im Gegensatz zu den meisten Abgeordneten als standesgemäß.31 Das im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Realität stehende Original schien über die inzwischen verschwundene Kunstfigur gesiegt zu haben, denn im Nachspiel des SchnapphahnskiRomans resümiert der Erzähler schließlich: Aber was wurde aus Schnapphahnski? Lebt er oder ist er tot? Schnapphahnski lebt, und nimmer wird er sterben. Mein Schnapphahnski ist unsterblich!^

27 28 29 30

31 32

Vgl. Vaßen 1971, vgl. Anm. 20, S. 107. Ebda, S. 108. Weerth, Sämtliche Werke, vgl. Anm. 7, Bd. IV, S. 488. Ulrich Otto: Die historisch-politischen Lieder und Karikaturen des Vormärz und der Revolution von 1848/49. Köln 1982,8.369. Vgl. Langewiesche 1991, vgl. Anm. l, S. 427. Weerth, Sämtliche Werke, vgl. Anm. 7, Bd. IV, S. 489.

Elke Richter

Historische und literarische Quellen von Heines Tragödie Almansor Zu ihrer Darstellung in einer historisch-kritischen Edition (HSA)

Anfang April 1823 erschienen Heines Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo. Sie waren nach den Gedichten (1821) die zweite Buchveröffentlichung des jungen Autors, die er voller Ungeduld erwartet hatte. Der Band enthielt neben dem später in das Buch der Lieder aufgenommenen Gedichtzyklus Heines frühe Versuche auf dramatischem Gebiet, Almansor und William Rat cliff. Auf den entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang seiner beiden Tragödien, genauer auf ihre stofflich-thematische und strukturelle Polarität hat Heine später selbst mehrfach hingewiesen, so im Brief an Karl Immermann vom 24. Dezember 1822, in dem er das Erscheinen seines zweiten Buches ankündigte: „Dieses Buch wird meine kleine[!] maliziös-sentimentale[!] Lieder, ein bildervolles südliches Romanzendrama und eine sehr kleine nordisch düstre Tragödie enthalten."1 Bei aller Originalität von Heines dramatischen Versuchen waren wichtige Anregungen für den Almansor von der spanisch-maurischen Romanzendichtung, der orientalischen Literatur, den historisierenden Romanen Gines Perez de Hitas und einer Reihe von historischen und kulturgeschichtlichen Werken ausgegangen. Für den William Ratcliff spielten andere, dennoch aber vergleichbare Quellenbereiche eine Rolle. Dazu gehören insbesondere die englisch-schottische Volksballade, die historischen Romane Walter Scotts und die zeitgenössische Schicksalstragödie. Für beide Werke gilt, daß die Abhängigkeitsverhältnisse nicht linear sind und zahlreiche weitere Vorbilder und Anregungen wirksam wurden. Am Beispiel von Heines erstem dramatischen Versuch Almansor soll im folgenden der Umgang mit Quellen im Kommentar der Heine-Säkular-Ausgabe erläutert werden. Die Arbeit an Heines dramatischem Erstling erstreckte sich mit Unterbrechungen über einen Zeitraum von fast drei Jahren vom Sommer 1820 bis zum Frühjahr 1823, wobei die erste Entstehungsphase im Januar 1821 endete. Den Plan, eine Tragödie zu schreiben, hatte der Dichter gegen Ende seiner Bonner Studienzeit gefaßt, vermutlich im Frühsommer 1820. Heine durchlebte damals eine für ihn literarisch fruchtbare Phase, in der vor allem der Umgang mit dem in Bonn lehrenden August Wilhelm Schlegel anregend wirkte. Ungewöhnlich häufig nutzte der Student die Universitätsbibliothek in 1

Vgl. Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke. Briefwechsel. Lebenszeugnisse. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Bd. 20. Berlin 1970ff., S. 61,39-62,2 (fortan zitiert als: HSA, Bd., S., Zeile bzw. Vers).

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Bonn beziehungsweise ab Oktober 1820 die sehr viel besser ausgestattete Göttinger Bibliothek. Die Leihregister beider Bibliotheken für die Jahre 1820 und 1821 sind überliefert.2 Im Hinblick auf die Genese des Almansor, dessen Handschrift verschollen ist, sind die Eintragungen in die Leihregister der Bibliotheken in Bonn und Göttingen in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Einmal liefern sie Aufschlüsse über die stofflichen Grundlagen des Dramas. Zum zweiten erleichtern sie die Datierung der einzelnen Phasen des Entstehungsprozesses. Unter diesem zuletzt genannten Aspekt wird im Kommentarteil „Entstehung" zunächst auf die Quellen eingegangen. Im Kontext mit den Briefen und Lebenszeugnissen des Dichters läßt sich so die Chronologie eines Teils der Entstehungsgeschichte vergleichweise exakt rekonstruieren.3 Mit der Niederschrift des Almansor begann Heine allem Anschein nach nicht vor August 1820. Die Eintragungen in das Leihregister der Bonner Universitätsbibliothek belegen eine Beschäftigung mit dem Stoff der Tragödie erst ab Ende Juli. Schauplatz des Dramas ist Granada. Die Handlung spielt „zur Zeit der Vertreibung der Mauren aus Spanien"4, so der Untertitel des Zeitschriftendrucks. Die erste Entleihung, die auf den Tragödienstoff verweist, ist Ignaz Aurelius Feßlers Die alten und die neuen Spanier (Bd. 1-2. Berlin 1810) und stammt vom 27. Juli 1820. Es folgten drei weitere Werke zur spanisch-maurischen Geschichte. In Göttingen, wohin sich Heine wahrscheinlich noch im September, spätestens aber Anfang Oktober 1820 zur Fortsetzung seines Studiums begeben hatte, entlieh er bis zum Januar 1821 noch insgesamt 11 geschichtliche, kulturhistorische und literarische Werke, die im Zusammenhang mit der Arbeit am Almansor stehen. Zeitlich parallel zu diesen Quellenstudien entstanden erste Teile des Dramas. Am 29. Oktober schrieb Heine aus Göttingen an die Bonner Freunde Friedrich Steinmann und Johann Baptist Rousseau: Wie ich bis zur Zeit meiner Abreise gelebt, was ich in Beul gesagt und gesungen, und wie ich mich noch zuletzt in Bonn herumgetrieben habe, wirst Du gewiß schon an Rousseau erzählt haben, lieber Steinmann ich habe jetzt, bis auf einige Zeilen, den 3. A k t meiner Tragödie geschlossen. Das war der schwerste und längste Akt. Hoffentlich werde ich diesen Winter die beiden übrigen Akte auch vollenden. Wenn das Stück auch nicht gefallen wird, so wird es doch wenigstens ein großes Aufsehen erregen. In diesem Stücke habe ich mein eignes Selbst hineingeworfen, mit sammt meinen Paradoxen, meiner Weisheit, meiner Liebe, meinem Hasse und meiner ganzen Verrücktheit. Sobald ich es ganz fertig habe, übergebe ich es ohne weiteres dem Druck. Es wird schon aufs Theater kommen - gleichviel wann. 5

2

3

4 5

Verwiesen sei an dieser Stelle auf eine wichtige Vorarbeit für die Kommentierung, den Aufsatz von Walter Kanowsky: Heine als Benutzer der Bibliotheken in Bonn und Göttingen. In: Heine-Jahrbuch 1973, S. 129-153. Er enthält auch eine chronologische „Liste der von Heine in Bonn und Göttingen entliehenen Bücher" (ebda, S.132f, fortan zitiert als: Kanowsky-Liste Nr.). Auf die vollständige Wiedergabe aller Belegstellen muß verzichtet werden. Die ausführliche Entstehungsgeschichte des Almansor ist im Band 4K der HSA nachzulesen. HSA, Bd. 4K, Mitteilungen zum Text, S. 47, zu 7,Ü. HSA, Bd. 20, S. 29,11-22.

Quellen von Heines Tragödie Almansor

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Demnach müssen also die ersten beiden Akte des Almansor bereits in Bonn beziehungsweise im nahegelegenen Beuel, wo sich der Dichter im August und September 1820 aufgehalten hatte, entstanden sein. Wenn Heine auch Anfang November 1820 die Niederschrift der Tragödie unterbrach und sich wieder mehr seinem juristischen Studium zugewandt hat, so belegen doch die Eintragungen im Leihregister der Universitätsbibliothek Göttingen, daß er sich daneben weiter mit der spanisch-maurischen Geschichte beschäftigte und ziemlich intensive Shakespearestudien betrieb6. Wahrscheinlich hat er die noch übrigen zwei Akte des Almansor im Januar 1821 niedergeschrieben. Am 4. Februar nämlich teilte er Steinmann mit, er habe den Almansor „bis auf einen halben Akt"7 fertig. Daß die Arbeit an der Tragödie Ende Januar 1821 zunächst einmal beendet war, bestätigen auch die Eintragungen im Leihregister der Göttinger Universitätsbibliothek. Am 22. Januar 1821 hatte Heine die letzten Werke entliehen, die allem Anschein nach im Zusammenhang mit dem Almansor stehen, Herders Stimmen der Völker in Liedern (Tübingen 1807) und Blumenlese aus morgenländischen Dichtern (Tübingen 1807). Hauptteile des Almansor erschienen im darauffolgenden November in der Berliner Zeitschrift Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz. Die nachweislich letzten Veränderungen erfuhr das Drama im Februar und März 1823 während der Drucklegung der ersten und zu Heines Lebzeiten einzigen Buchausgabe. Insgesamt belegen die Entleihungen in Bonn und Göttingen, daß der Dichter während einer ersten zusammenhängenden Entstehungsphase des Almansor vom Juli 1820 bis Ende Januar 1821 kontinuierliche und weitreichende Quellenstudien betrieben hat. Aus den Eintragungen lassen sich im wesentlichen zwei Quellenbereiche des Dramas ermitteln: Werke zur spanischen Geschichte einschließlich der Geschichte der Inquisition sowie Werke zur Herrschaft und Kultur der Mauren. Hinzu kamen wichtige literarische Anregungen, die Heine zum Teil schon lange vor der Entstehungszeit des Dramas aufgenommen hatte. Im Kommentarteil „Entstehung" wird eine inhaltliche Zusammenfassung der wichtigsten Quellen, die zu den stofflichen Grundlagen des Almansor zu zählen sind, gegeben. Als Grundprinzip für den Umgang mit Quellen gleich welcher Art gilt in der HSA, daß entweder die von Heine selbst genutzten oder zeitgenössische Ausgaben zitiert werden. Zitate entsprechen in der Orthographie und Interpunktion sowie in den typographischen Hervorhebungen, mit Ausnahme der lateinischen Schrift bei fremdsprachlichen Textstellen, der Vorlage, d. h. es werden z. B. auch Varianten in der Namensschreibung unverändert übernommen. Wie erwähnt, findet sich die erste Eintragung, die auf eine Beschäftigung mit dem Almansor-Stoff schließen läßt, im Verleihregister der Bonner Universitätsbibliothek unter dem 27. Juli 1820 und betrifft Ignaz Aurelius Feßlers Die alten und die neuen Spanier. Ein Völker Spiegel (Bd. l und 2, Berlin 1810). Es folgten u. a. im August von Alexandre Adam Histoire d'Espagne, depuis la decouverte qui en ete faite par les 6 7

Vgl. Kanowsky-Liste Nr 7-15. Vgl. HSA, Bd. 20, S. 36,26.

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Pheniciens jusqu'ä la mort de Charles III (Bd. 2-4, Paris 1808) und im November bereits in Göttingen die Anleitung zur Kenntniß der allgemeinen Welt- und VölkerGeschichte für Studirende (Bd. 3 und 4, Leipzig 1784ff.) von Christian Daniel Beck, ein Handbuch der Geschichte von den Anfangen bis zur Entdeckung Amerikas. Alle drei Autoren behandeln auch die Heine besonders interessierende Zeit der Reconquista. Heines eigenen Intentionen am nächsten kam zweifellos Feßler, der die Kulturleistungen der Mauren würdigt, ihren wohltätigen Einfluß auf Kunst, Wissenschaften und Ökonomie hervorhebt und sie im Vergleich zu den fanatischeren Christen als mäßige und tolerante Sieger beschreibt. Zur Geschichte der Inquisition informierte sich Heine nachweislich in drei Spezialgeschichten: Esprit Flechiers Histoire du Cardinal Ximenes (Paris 1693), entliehen am 19. August in Bonn; Heinrich Matthias August Cramers Briefe über Inquisitionsgericht und Ketzerverfolgung in der römischen Kirche (Bd. l und 2, Leipzig 1784f.) und die Abhandlung des Altonaer Pastors Pluer über Ursprung und Absichten der Inquisition, besonders der spanischen, die in Anton Friderich Büschings Magazin für die neue Historie und Geographie (Bd. 5, Hamburg 1771) enthalten war. Die beiden zuletzt genannten Werke, die vom protestantischen Standpunkt aus die Inquisition verurteilen, entlieh Heine erst im Januar 1821; seine Detailkenntnisse bezog er also hauptsächlich aus der französischen Quelle. Flechier, Erzbischof von Nimes, verherrlicht die Taten Ximenes', des Erzbischofs von Toledo und Führers der spanischen Inquisition. Er teilt dabei jedoch viele historische Einzelheiten über die Bekehrung, Unterwerfung und Vertreibung der Mauren mit. Zahlreiche dieser Details finden sich als Anspielungen im Almansor. Alle genannten Autoren, insbesondere Beck und Feßler, verweisen auf einen für Heine vermutlich besonders wichtigen Aspekt, den engen Zusammenhang des Schicksals der Mauren mit dem der spanischen Juden. So berichtet Beck z. B.: Das Schicksal der Juden in Spanien hieng immer mit dem der Mauren zusammen. Sie waren öfters auf Anstiften der Bischöfe und Mönche verfolgt worden (z. B. 1391, 1461). Acht Wochen nach Eroberung Granada's ergieng das königl. Edict, daß alle Juden dieser Länder, die sich nicht wollten taufen lassen, binnen 4 Monaten (eine Frist, die hernach gar auf einen Monat herabgesetzt wurde) das Land räumen sollten. [...] Das Reich soll 170 000. (nach einigen gar 800 000.) Menschen verloren haben.8

Heines Maurenbild wurde darüber hinaus geprägt durch den österreichischen Orientalisten Franz von Dombay, der seiner Übersetzung der Geschichte der Mauretanischen Könige (Bd. l und 2, Agram 1794f.) des arabischen Geschichtsschreibers Ebulhaßan Aly Ben Abdallah, Ben Ebi Zeraa (Abu -Hassan ibn Abi Zar' al-Fasi) ausführliche kultur- und religionsgeschichtliche Kommentare beifügte. Neben Feßlers Völkerspiegel ist Dombay s am 5. September 1820, also noch ziemlich zu Beginn der Niederschrift des Almansor, entliehenes Werk wohl die wichtigste historische Quelle für Heines Drama. Offenkundig ist auch die stoffliche Nähe zu den historisierenden Romanen des Spaniers Gines Perez de Hita, vor allem der Historia de las guerras civiles des Grenada Ch. D. Beck: Anleitung zur Kenntniß der allgemeinen Welt- und Völker-Geschichte für Studirende. Bd. 2. Leipzig 1784,8.511.

Quellen von Heines Tragödie Almansor

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(1604?), die Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland eine ganze Reihe von Werken angeregt hatten. Für Heine stellte sich die Verbindung zu de Hita vermutlich über A. W. Schlegel her. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Heine Schlegels Erzählung Morayzela, Sultanin von Granada (1796) kannte, deren Stoff aus de Hitas Bürgerkriegen von Granada entlehnt war.9 De Hitas Werk las Heine aber nachweislich erst im November 1820, und zwar in der französischen Übersetzung von Alexandre Marie Sane: Histoire chevaleresque des Maures de Grenade, precedee de quelques reflexions sur les Musulmans d'Espagne, avec des Notes historiques et litter aires, 1801 in Paris erschienen. De Hitas Historia de las guerras civiles des Grenada enthielt außerdem viele der spanischen Romanzen, die Heine aber ebenso aus anderen Überlieferungen bekannt gewesen sein könnten. Variationen der Gedichte über die maurischen Liebespaare Zaid und Zaida beziehungsweise Gazul und Linderaja finden sich in Herders Stimmen der Völker in Liedern, die Heine, wie erwähnt, im Januar 1821 aus der Universitätsbibliothek in Göttingen entliehen hat. Möglicherweise kannte er sie aber schon sehr viel früher, läßt sich seine Herder-Lektüre doch bereits für die Düsseldorfer Zeit nachweisen.10 Auf Herders Volkslieder und eine zweite deutsche Ausgabe altspanischer Romanzenliteratur, die gleichfalls auf de Hita zurückgeht, Friedrich Justin Bertuchs Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur, verweist auch A. W. Schlegel in der Anmerkung zum Stoff seiner Erzählung Morayzela. Heine entlieh im Januar 1821 Band zwei und drei des Bertuchschen Magazins (Weimar 1781 und 1782), kannte aber vermutlich auch den ersten Band (1780) mit Übertragungen spanischer Volks-Romanzen und dem Fragment einer deutschen Übersetzung der Guerras civiles. Die in Band zwei veröffentlichte Geschichte des Gran Tacano. Oder Leben und Thaten des Erzschalks von Francisco Gomez de Quevedo hat die Gestaltung der Figuren des Don Enrique und Don Diego im Almansor beeinflußt. Längerwirkende Lektüreerlebnisse beziehungsweise literarische Anregungen werden in der „Entstehung" nur dann berücksichtigt, wenn es konkrete Belege dafür gibt. Als eine der frühesten Anregungen kann Fouques Romanze Don Gayseros aus dem Roman Der Zauberring (Nürnberg 1812) gelten.11 Im Nachlaß von Heines Schulfreund Christian Sethe befindet sich eine Abschrift des Fouqueschen Gedichtes, die von Heine stammt und nach dem Schriftbild zu schließen in der Düsseldorfer Schulzeit, vermutlich um 1815, entstanden sein muß. (Die Handschrift befindet sich im Heine-Institut, Düsseldorf.) Am 10. Juni 1823, nachdem Heine Fouque ein Widmungsexemplar der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo geschickt hatte, schrieb er ihm, auf die Gayseros-Romanze eingehend:

9

Vgl. A. W. Schlegel: Sämmtliche Werke. Hrsg. von E. v. Booking. Bd. 4. Leipzig 1846, S. 245. Vgl. E. Galley: Harry Heine als Benutzer der Landesbibliothek in Düsseldorf. In: Heine-Jahrbuch 1971, S. 38f. 1 ' Vgl. F. de la Motte-Fouquo: Der Zaubering. Teil 1. Nürnberg 1812, S. 150-155. 10

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Elke Richter Ich erinnere mich, die Romanze von Donna Clara und Don Gasairos im Zauberring, an die ich in den bedeutendsten Lebenssituationen lebhaft gedacht, und die ich in manchen Augenblicken selber geschrieben zu haben vermeine, diese liebliche Romanze hat mir oft vorgeschwebt, als ich den Almansor schrieb.12

Der Text der Romanze wird in der Entstehung vollständig in der Heine bekannten Fassung mitgeteilt. - Bezüge zwischen Heines Drama und der Fouqueschen Dichtung bestehen insbesondere in der Figurenkonstellation, dem sich daraus ergebenden Konflikt und dem Schauplatz der Handlung; auch bei bestimmten Motiven und dem Namen der weiblichen Hauptgestalt gibt es Übereinstimmungen. Im einzelnen werden diese Bezüge im Stellenkommentar nachgewiesen. Weniger genau läßt sich der Zeitpunkt bestimmen, zu dem Heine mit der arabischpersischen Legende von Medschnun und Leila, einem der Vorbilder für die Gestaltung des Liebesmotivs im Almansor, bekannt wurde. Möglicherweise lernte er die Legende durch Goethes West-östlichen Divan (1819) kennen, in dem sie zu den sechs „Musterbildern" mythischer Liebesgeschichten in orientalischer Überlieferung gezählt wird.13 Allerdings lassen sich die ersten nachweisbaren Spuren einer D/va«-Lektüre bei Heine erst einige Zeit später in seinen Briefen finden.14 Von den vielen in Frage kommenden Versionen der Legende kannte Heine vermutlich die des persischen Dichters Dschami aus dem 15. Jahrhundert näher, und zwar in der deutschen Übersetzung von Anton Theodor Hartmann: Medschnun und Leila. Ein persischer Liebesroman von Dschami. Aus dem Französischen übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und drei Beilagen versehen (Amsterdam 1808). Für diese Annahme spricht vor allem die Tatsache, daß die drei Stellen des Almansor, die direkt auf die Legende Bezug nehmen, stoffliche und motivische Parallelen zu Hartmanns Dschami-Übersetzung aufweisen. Im einzelnen wird dies im Stellenkommentar nachgewiesen.15 Daß sich Heine während der ersten Entstehungsphase des Almansor mit arabischer Dichtung beschäftigt hat, belegt eine Eintragung vom 13. September 1820 in das Album des Bonner Mitstudenten Isaak Coppenhagen, das Gedicht Fröhliche Mahle16. Außer der Angabe von Ort und Datum findet sich unter dem Gedicht der Vermerk „(Arrabisch)"17. Die Originalverse stammen aus der altarabischen Sammlung Hamasa von Abu Tammam, in vollständiger deutscher Übersetzung von Friedrich Rückert erst 1831 erschienen. Heines direkte Quelle war vermutlich Anton Theodor Hartmanns Moallakat-Verdeutschung Die hellstrahlenden Plejaden am arabischen poetischen 12 13 14

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16 17

HSA, Bd. 20, S. 89,37-90,2. Vgl. J. W. Goethe: West-östlicher Divan. Buch der Liebe. Erstes Stück. WA, Abt. I, Bd. 6, S. 49. Vgl. Heine an Moser, 21. 1. 1824. In: HSA, Bd. 20, S. 136,28-137,8; Heine an Christiani, 4. 9. 1824. In: HSA, Bd. 20, S. 174,22. Heines frühe Rezeption orientalischer Literatur untersuchte in neuerer Zeit am ausführlichsten Mounir Fendri. Die Kommentierung nutzte in diesem Bereich Ergebnisse seiner Studie: Halbmond, Kreuz und Schibboleth. Heinrich Heine und der islamische Orient. Hamburg 1980 (Heine-Studien) bzw. seines Aufsatzes: Fröhliche Mahle oder Heine und die Moallakat. In: Heine-Jahrbuch 1977, S. 129-133. Vgl. HSA, Bd. l, S. 250,1-21; HSA, Bd. 20, Nr. 9. Ebda, S. 250,21.

Quellen von Heines Tragödie Almansor

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Himmel, oder die sieben am Tempel zu Mekka aufgehangenen arabischen Gedichte (Münster 1802), in deren Einleitung das Gedicht Fröhliche Gastmahle als Muster altarabischer Poesie mitgeteilt wird. Den entscheidenden Hinweis auf die Moallakat könnte Heine wiederum in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans gefunden haben18. Heines vermutliche Quelle für das Gedicht Fröhliche Mahle dürfte für den Dichter des Almansor zudem von weiterreichendem Interesse gewesen sein. Hartmanns Übersetzung enthielt neben den Mustern altarabischer Sprachkunst eine ausführliche Einleitung und Erläuterungen zur Kultur und Geschichte der Araber. Rückblickend bekannte Heine am 10. April 1823 in einem Brief an Immermann: „Die vermaladeite Bildersprache, in welcher ich den Almansor und seine orientalischen Consorten sprechen lassen muste, zog mich ins Breite."19 Es läßt sich jedoch nicht mehr feststellen, in welchem Maße die Bildersprache des Almansor auf der Kenntnis orientalischer Dichter, d. h. der Übersetzungen ihrer Werke, beruhte, hatten um 1820 doch viele der von Heine gebrauchten metaphorischen Wendungen bereits Eingang in die deutsche Literatursprache gefunden. Neben den A/oa//tfÄa/-Gedichten kannte Heine zumindest aber auch Herders Übersetzungen von Saadi und verschiedenen anonymen Autoren. Am 22. Januar 1821 entlieh der Göttinger Student die Blumenlese aus morgenländischen Dichtern. Spuren der Herder-Saadi-Lektüre finden sich bereits im Brief vom 4. Februar 1821, in dem Heine dem dichtenden Freund Steinmann empfiehlt: Aber überhaupt sei streng gegen Dich selbst. Dieses ist bei jungen Dichtem nicht genug anzuempfehlen. Lieblich singt der persische Goethe, der herrliche Sadi: / Streng sei gegen dich selbst. Beschneide die üppigen Reben, / Desto fröhlicher wächst ihnen die Traube dereinst.20

Für den Stellenkommentar erweist sich die Kenntnis der Quellen unter verschiedenen Aspekten als aufschlußreich. Einmal dient sie der Erhellung von historischen und literarischen Bezügen. Zum Beispiel lassen sich Anspielungen auf bestimmte Details der spanisch-maurischen Geschichte nur mit Hilfe der Quellenkenntnis auflösen. So läßt Heine den Diener Almansors Einzelheiten über die blutige Christianisierung der Mauren berichten: Doch hat solch blutigen Besuch erwiedert Unlängst GrafAquilar mit seinen Rittern. Der hat zum letzten Tanz uns aufgespielt; Und beim Geschmetter gellender Trompeten, [...] Flog jählings mancher Maure in den Himmel, Und wen 'ge nur entrannen wir dem Tanzplatz.·2·^ 18

19 20 21

Vgl. J. W. Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans. Araber. WA, Abt. I, Bd. 7, S. l Of. HSA, Bd. 20, S. 80,7-9. HSA, Bd 20, S. 37,26-30 HSA, Bd. 4, S. 14,205-213.

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Nach de Hita war Alonzo d'Aguilar (Alfonso de Cordova Graf von Aquilar) der Befehlshaber der spanischen Truppen, die der König zur Niederschlagung der maurischen Rebellion ins Gebirge entsandt hatte. Aquilar, der bei den Kämpfen getötet wurde, ist der Held zahlreicher Romanzen, von denen de Hita zwei mitteilt: La cavalerie de d'Aguilar ne pouvant resister ä ce choc inattendu, est force de se replier. Envain d'Aguilar, tomoin de la deYoute totale de son armoe, cherche ä relever le courage abattu de ses troupes. Le carnage fiit si horrible que le chevalier Espagnol tomba perco de coups, apres avoir fait des prodiges de valeur et fait mordre la poussiere ä plus de trente Maures. Ferdinand apprit cet e"chec avec consternation, D'Aguilar fut honore" des regrets de toute l'Espagne. On composa le Romance suivante en memoire de cette journoe fatale.22

Almansor selbst schildert die Greuel der Inquisition: Glaub' mir, ich bin 's. Ich seh' den span 'sehen Hund! Dort spuckt er meinem Bruder in den Bart, Und tritt ihn noch mit Füßen obendrein. Ich hör's; dort weint das arme Mütterchen, Sie aß am Freitag gerne Gäsebraten, Drum bratet man sie selbst jetzt, Gott zu Ehren. Am Pfahl daneben steht ein schönes Mädchen Die Flammen sind in sie verliebt, umschmeicheln, Umlecken sie mit lüstern rothen Zungen; Sie schreit und sträubt sich holderröthend gegen Die allzuheißen Buhlen, und sie weint O schade! aus den schönen Augen fallen Hellreine Perlen in die gier 'ge G/H/.23

Über das Wüten der spanischen Inquisition teilen mehrere der von Heine vermutlich genutzten Quellen Einzelheiten mit. Vor allem bei Cramer und Büsching finden sich Details, die als Anregungen in die Autodafe-Passage des Almansor eingeflossen sein könnten. So berichtet Cramer, daß in den ersten Jahren der Inquisition unter Kardinal Ximenes „an die 6000 Menschen, nur allein auf dem Scheiterhaufen geendigt"24 hätten. In Büschings Magazin wird aus dem Allgemeinen Glaubens-Edict vom 17. Februar 1732 zitiert, das offen zur Denunziation von Juden und Moslems aufforderte. Dem Edikt zufolge waren die harmlosesten Vergehen, wie die Feier des moslemischen heiligen Freitags, auf die Heine in Vers 1361 anspielt, für Anzeige und Bestrafung ausreichend. Von der Verbrennung eines jungen Mädchens berichtet dieselbe Quelle:

22 23 24

G. Porez de Hita: Histoire chevaleresque des Maures de Grenade. Bd. 2. Paris 1801, S. 297f. HSA, Bd. 4, S. 54,1357-1369. H. M. A. Cramer: Briefe über Inqusitionsgericht und Ketzerverfolgung in der römischen Kirche, Bd. I.Leipzig 1784, S. 171.

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In dem vorhergehenden 173Isten Jahre ist ein sogenanntes Auto de Fee zu Madrid gehalten, und ein junges Mädchen als eine Jüdin verbrannt worden. Man sagte mir, sie hätte sich selbst mit großem Heldenmuth in die Flammen gestürzt, um den Händen ihrer grausamen Folterer zu entgehen.25

Von den Verbrechen des Ximenes wird folgende Einzelheit mitgeteilt: Wir hörten daß der furchtbare Ximenes, Inmitten auf dem Markte, zu Granada Mir starrt die Zung' im Munde - den Koran In eines Scheiterhaufens Flamme warf!26

Über die Taten des Kardinals Ximenes, insbesondere die von ihm angeordneten Bücherverbrennungen, berichten mehrere der Heine bekannten Quellen. Die Details teilt am ausfuhrlichsten Flechier mit: Avant done gagno les Docteurs Mahometans, il [Ximenes] leur ordonna de luy apporter tous les Alcorans, & autres livres de leur doctrine, de quelques auteurs qu'ils fussent, & de quelque matiere qu'ils traitassent & apre"s en avoir amasso jusqu'a cinq-mille volumes, il [Ximenes] les fit brüler publiquement, sans epargner ni enlumineures, ni relieures de grand prix, ni autres omemens d'or & d'argent, quelque priore qu'on luy fit de les faire servir ä d'autres usages, voulant effacer toutes les marques de ces erreurs, & faire oublier autant qu'il pourroit, qu'on les eust jamais suivies en Espagne.27

Außerdem ermöglicht die Kenntnis der Quellen textnahe Sacherklärungen, z. B. von geographischen Namen oder von Begriffen aus der arabisch-maurischen Kultur und Religion, deren zeitgenössische Bedeutung sich mitunter stark von unserer heutigen unterscheidet. Wenn in Vers 1221 vom ,,dunkle[n] Land der Barbarey"28 die Rede ist, so sind damit zunächst offenbar die Länder Nordafrikas gemeint, wohin die Mauren vor den Spaniern flohen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden diese u. a. von Berberstämmen bewohnten Gebiete als 'Barbarei' bezeichnet. Ganz in diesem Sinne erklärt auch Dombay das Wort: Diese fünf Kolonien hießen Sandhascha, Masmuda, Zenata, Gomara, und Hawara. Sie haben noch jetzt diesen Namen und sind nun in mehr als sechshundert Aeste der Brebem getheilet, deren einige unter Zelten, andere aber in Städten wohnen, von diesen Brebern erhielt das ganze Land den Namen Barbarey.29

Mit „Barbarey" wird im Kontext, in dem Heine die Bezeichnung verwendet, aber auch das Land assoziiert, in dem die Barbaren, d. h. die rohen, unzivilisierten Völker lebten, denen sich die spanischen Mauren nicht mehr zugehörig fühlten. 25 26 27 28 29

Zitiert nach Fendri 1980, vgl. Anm. 15, S. 59. HSA, Bd. 4, S. 15,239-242. E. Ftechier. Histoire du Cardinal Ximenes. Bd. 1. Paris 1693, S. 143. HSA, Bd. 4, S. 49,1221. F. v. Dombay: Geschichte der Mauretanischen Könige. Verfaßt von dem arabischen Geschichtsschreiber Ebulhaßan Aly Ben Abdallah, Ben Ebi Zeraa. Bd. 1. Agram 1794, S. 30.

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An anderer Stelle wird vom ,,glüh'nde[n] Samum" berichtet, der in den Wüsten Nordafrikas seinen „gift'gen Hauch" verbreitet.30 Eine Begriffserklärung, die auch Heine bekannt gewesen sein dürfte, gibt Hartmann in einer „Beilage" zu seiner Dschami-Übersetzung: S e m u m oder S a m u m ist die arabische und persische Benennung der heißen und giftigen Winde, deren Hauch auf der Stelle tödtet. Die meisten Landstriche von Mittelasien werden von diesem Gluthwinde heimgesucht. Der türkische Namen ist S a m i e l .31

Nicht zuletzt trägt die Kenntnis literarischer Anregungen zur Aufhellung sprachlichmetaphorischer Bezüge bei. In der Szene „Nacht. Alys Schloß von außen" tritt eine schwarz verhüllte Gestalt auf, die Almansor beschwört, die geliebte Zuleima zur Flucht zu bewegen: O sprich zu ihr: Zuleima steig' herunter Aus deines Marmorschlosses güldnen Kammern, Und schwing' dich aufAlmansors edles Roß. Im Lande, wo des Palmbaums Schatten kühlen, Wo süßer Weihrauch quillt aus heil 'gern Boden, Und Hirten singend ihre Lämmer weiden; Dort steht ein Zelt von blendend weißer Leinwand, Und die Gazellen mit den klugen Augen, Und die Kameele mit den langen Hälsen, Und schwarze Mädchen mit den Blumenkränzen, Stehn an des Zeltes buntgeschmücktem Eingang, Und harren ihrer Herrin - O Zuleima, Dorthin, dorthin entfliehe mit Almansor.^

Auffallend sind die wörtlichen Anklänge an das Gedicht Fröhliche Mahle33 vom September 1820, eine Nachdichtung altarabischer Verse aus der Hamasa des Abu Tammam, die Heine wahrscheinlich aus der Einleitung der Hartmannschen Moallakat-Übersetzung bekannt waren. Im Stellenkommentar wird das Gedicht in vollem Wortlaut wiedergegeben: Fröhliche Gastmahle, ein berauschender Becher, ein edles Kameel, das mit sicherm Tritt den Liebetrunknen schaukelnd durch das tiefe Thal trägt. Mädchen, weiß wie Marmor, im Innern der Gezelte verborgen, in seidnem, nachlässig umgeworfhem Gewände; Ueberfluß und sichre Ruhe, und des Saitenspiels liebliche Töne;

30 31

32 33

HSA, Bd. 4, S. 15,227-229. Medschnun und Lei'la. Ein persischer Liebesroman von Dschami. Aus dem Französischen übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und drei Beilagen versehen von A. Th. Hartmann. Bd. 2. Amsterdam 1808, S. 99f. HSA, Bd. 4, S. 38,863-875. Vgl. HSA, Bd. l, S. 250, l -20; HSA, Bd. 20, S. 27,4-23.

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Das sind des Lebens Süßigkeiten. - Der Mensch ist des Schicksals Spiel; und wankelmüthig ist das Schicksal. Ueberßuß und Mangel, Ungemach und Freuden erwartet endlich ein Laos. Was da des Lebens genießt, ist des Todes Eigenthum!^

Auch wenn die Ergebnisse von Heines Bemühungen um das Drama unter seinen Erwartungen geblieben sind und sie daher im späteren Werk keine Fortsetzung finden sollten, sind Almansor und William Ratcliff keineswegs bloße Nachformungen literarischer Vorlagen, sondern besitzen als Kunstwerke ein völlig eigenständiges Gepräge. Ein Bühnenerfolg allerdings war keiner der beiden Tragödien beschieden. William Ratcliff wurde gar nicht aufgeführt, und Almansor fiel bei seiner Uraufführung am 20. August 1823 in Braunschweig durch. Heine, der schwer unter diesem Mißerfolg litt, gab aber auch in späteren Jahren die Hoffnung auf einen Erfolg als Dramatiker nie ganz auf. So erinnerte sich Heinrich Laube 1868 an Gespräche mit Heine aus dem Frühjahr 1847: Ich habe in Gesprächen mit ihm oft mit Staunen bemerkt, welch' eine Theilnahme für dramatische Form er zeigte, wie er eigentlich darnach schmachtete, ein Stück schreiben zu können, welches aufgeführt würde. Er peinigte mich mit der wiederholten Frage, ob denn sein Almansor und Ratcliffe wirklich nicht auffuhrbar wären. Mir war diese Sehnsucht nach dramatischer Form ein merkwürdig Zeichen, ein Zeichen, daß auf dem Grunde seines Talents das Drama geruht hätte.35

-'4 A. Th. Hartmann: Einleitung in die Moallakat. In: Die hellstrahlenden Plejaden am arabischen poetischen Himmel, oder die sieben am Tempel zu Mekka aufgehangenen arabischen Gedichte. Münster 1802. S. 32. 3> Zitiert nach: Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen. Hrsg. von M. Werner. Bd. 2: 18471856. Hamburg 1973. S. 62.

Eberhard Sauermann

Edition und Funktion von Trakls Quellen Über die Dunkelheit der Gedichte Helian und Kaspar Hauser Lied

I. Vorbemerkung Bei der Lektüre von Gedichten Trakls stößt der Leser auf das Phänomen, daß sie Bekanntes evozieren, sei es aus der literarischen Tradition, sei es aus der Trakl-spezifischen Motiv- und Bilderwelt. Ein Kennzeichen von Trakls poetischer Verfahrensweise ist die Verwendung beziehungsweise Montage wörtlich übernommener oder bearbeiteter Zitate. Fremdzitate scheinen dabei so unentbehrlich gewesen zu sein wie Selbstzitate - Trakl hat besonders chronologisch unmittelbar vorangegangene Texte häufig als 'Steinbruch' für neue Texte benützt. Dient ihm die Übernahme von Versatzstücken zur Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, mit literarischen 'Vorbildern', oder zur assoziativen Parallelisierung/Kontrastierung von Textstellen, zur Verfremdung/Verdunkelung seiner Gedichte? Wir wollen mit der neuen Trakl-Ausgabe1 eine Antwort auf solche Fragen erleichtern, aber nicht die 'primäre Dunkelheit' von Trakls Gedichten aufheben. Daß hier Helian und Kaspar Hauser Lied jene Dunkelheit repräsentieren, geschieht nicht willkürlich: Der Schweizer Schriftsteller Jürg Amann setzte in seiner Auswahl von 82 Gedichten Trakls, die nach dem Grad ihrer zunehmenden Dunkelheit geordnet sind, das Kaspar Hauser Lied an die vorletzte und Helian an die letzte Stelle.2 Nachdem Ludwig Wittgenstein Ende November 1914 die Gedichte Kaspar Hauser Lied und Helian gelesen hatte, notierte er in sein Tagebuch, er halte sie für genial, ohne sie zu verstehen.3 In den Einzelstellen-Erläuterungen bieten wir - abgesehen von Bemerkungen zu den Eigennamen - vor allem Zitate aus Texten anderer Autoren, wobei wir möglichst alle Übernahmen der Hauptquellen Trakls, Rimbaud und Hölderlin, zu erfassen suchen, ferner jene von Verlaine, Baudelaire, Maeterlinck und der Bibel. Von ihnen hat Trakl Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Hist.-krit. Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Hrsg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. 6 Bände. Basel, Frankfurt 1995ff. (im laufenden Text abg. ITA mit Band- und Seitenangabe). Georg Trakl: Abendländisches Lied. Gedichte. Ausgew. und mit einem Nachw. von Jürg Amann. München, Zürich 1987 (Serie Piper. 514), S. 103ff. Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher 1914-1916. Hrsg. und dok. von Wilhelm Baum. Wien, Berlin 1991,5.43.

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Eberhard Sauermann

nicht nur Stilelemente, sondern auch Wörter, Bilder, ja ganze Passagen verwendet, und zwar quantitativ oder zumindest qualitativ so hervorstechend, daß sie als 'Steinbrüche' gelten können. Die Beschränkung auf Übernahmen aus 'Steinbrüchen' soll verhindern, daß es zu einer willkürlichen beziehungsweise zufälligen Auswahl an Erläuterungen kommt, da sich die Belesenheit der Herausgeber von der eines Benutzers wie auch von der Trakls zwangsläufig unterscheidet. Übereinstimmungen, die man als 'Lesefrüchte' oder 'Bildungsgut' klassifizieren könnte, werden von uns nicht hervorgehoben. Selten verweisen wir auf andere Quellen, die nur das jeweilige Gedicht beeinflußt haben (könnten), in der Entstehungsgeschichte mancher Gedichte werden solche Quellen näher beschrieben. Das betrifft weniger die Bücher, die in Trakls 'Bücherverzeichnis' aufscheinen, da die meisten offenbar keine Spuren in seinem Werk hinterlassen haben; bezeichnenderweise sind in der erhaltenen Liste seiner 1913 zum Verkauf angebotenen Bücher solche, die er noch brauchen konnte, nicht zu finden. Sondern das betrifft in erster Linie jene Publikationen, über die sich Trakl irgendwann geäußert hat, die ihm zur Kenntnis gebracht wurden oder die sich zu seinen Lebzeiten in der Bibliothek des Brenner-Herausgebers Ludwig v. Ficker befunden haben. Fast nie betreffen die Einzelstellen-Erläuterungen einzelne Wörter; wenn doch, handelt es sich um welche aus mehrfach verwendeten Texten oder um äußerst seltene Wörter („Rubinstaub" von Rimbaud, „Purpurbrüste" von Baudelaire); im Fall von „Adonaü!" (von Rimbaud) ist es nicht zuletzt der Zusatz „In fremdem zaubervollem Laut", der die Anregung zur Bildung „Elai!" mit dem Vorspann „Sanfter Dreiklang / Verklingt in einem" (Nachtlied III) plausibel macht. (Denkbar wäre auch ein Bezug zum Namen Baudelaire, wie in Helian ja auch ein Teil von Verlaines Anagramm, Lelian, stecken dürfte.) Wir nennen bei einzelnen Stellen die (möglichen) Bezugsstellen, überlassen jedoch ihre Auswahl und Gewichtung dem Benutzer der Ausgabe; wir enthalten uns ihrer weiteren Kommentierung, um nicht die Deutung des Lesers in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dabei sind wir uns dessen bewußt, daß unsere Erläuterungen nicht von allen Benutzern gleich überzeugend gefunden werden, wie auch umgekehrt manch einer für eine Stelle bei Trakl eine andere Quelle angeben könnte. Der Hinweis auf Bezugsstellen in fremden Texten soll nicht eine Determinierung der 'Bedeutung' einzelner Stellen suggerieren, sondern dem Benutzer vor allem das Motiv- und Lexikreservoir bereitstellen, aus dem sich Trakl offenbar bedient hat. Wir wollen damit eine Grundlage von Trakls poetischem Schaffen, den Rückgriff auf bestimmte Quellen, vermitteln. Seine Arbeit an der Aneignung literarischer Vorlagen, an deren Verwandlung oder Verschmelzung soll hier angedeutet werden. So läßt sich nachprüfen, ob sich die Übernahmen zu Sprachmaterial wandeln, das jeden Sinnzusammenhang mit dem ursprünglichen Kontext verliert, oder nicht. In der neuen Trakl-Ausgabe wird nur beim erstmaligen Vorkommen eines Zitats auf eine beziehungsweise auf mehrere (mögliche) Quellen hingewiesen, ab dann gilt eine solche Stelle als Selbstzitat. Da jedoch Band II (Dichtungen Sommer 1912 bis Frühjahr 1913} zuerst erschienen ist und Band I (Dichtungen 1906 bis Frühjahr 1912) erst in einigen Jahren folgen wird, nennen wir Quellen einzelner Stellen (bereits) in Band II, auch wenn die Übernahme schon vor 1912 erfolgt sein dürfte und deshalb in Band I

Edition und Funktion von Trakls Quellen

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(noch einmal) verzeichnet werden wird. Eigennamen werden hingegen bei jeder Verwendung erläutert.

II. Rimbaud, Verlaine, Hölderlin Trakls Beschäftigung mit Rimbaud, Verlaine und Hölderlin ist fast nur aus seinem Werk zu erschließen. Direkte Selbstaussagen von ihm gibt es keine, andere biographische Zeugnisse sind rar: Der 5re«wer-Mitarbeiter Karl Rock notiert in sein Tagebuch zum 22. November 1912: „Däubler Vorlesungsabend [...] dann im Restaurant Theresia. Trakl über Hölderlin"4. Angeblich hat Trakl Anfang Oktober 1914 einem Kollegen an der Front auf dessen Frage nach lesenswerten modernen Dichtern Verlaine und Rimbaud genannt (der nur wenig geschrieben habe)5; außerdem habe er Rimbauds 1914 in Paris erschienene Illuminations besessen, ein Exemplar mit Esteries Trakl-Exlibris habe sich im Besitz von Trakls Bruder Fritz befunden.6 In den Zwanziger Jahren meinte Ficker, Trakl habe ihm gegenüber eine Äußerung Bettina v. Arnims über Hölderlins Wahnsinn referiert7, gewiß sei Trakl unter dem Einfluß von Hölderlin und Rimbaud gestanden, dessen Kenntnis er der trefflichen und von ihm selbst gerühmten Übersetzung Klammers verdankt habe.8 Vor allem über die Bedeutung Rimbauds und Hölderlins für Trakl ist viel geschrieben worden. Trakl übernimmt schon früh poetische Techniken Rimbauds, um die sprachdeterminierte Logik des Darzustellenden aufzubrechen und den Gedichten einen höheren Grad an Abstraktion und objektivierender Aussage zu verleihen, um Halluzination und Fantasmagorie (als Organisation visueller Sequenzen) zu erreichen. Dies läßt sich nicht bei einzelnen Stellen darlegen, sondern muß im 'Editorischen Bericht' in Band I pauschal behandelt werden. Die vielen wörtlichen oder motivlichen Übernahmen von Rimbaud machen den Eindruck von Bausteinchen, die vor allem wegen ihrer Originalität, ihres Wohllauts oder ihres Grauens in Trakls Lyrik Verwendung finden. Darüber hinaus kann das einzelne Bild, im jeweiligen Kontext neu evoziert, als Assoziationssignal gesetzt werden; die Aussage eines Bildes wird durch seine bislang erfolgten Aktualisierungen mitbestimmt, was zur Dunkelheit der Gedichte Trakls beiträgt. Ab 1911/12 erweitert Trakl den Wortschatz, um eine Vermeidung der subjektiven Perspektive und eine Verwischung der Grenzen zwischen Subjekt und Natur zu Karl Rock: Tagebuch 1891-1946. Hrsg. und erl. von Christine Kofier. Bd. 1. Salzburg 1976 (Brenner-Studien. Sonderband 2), S. 168. Vgl. Brief Friedrich Plahls an Ficker von 1925. In: Erinnerung an Georg Trakl. Hrsg. von Hans Szklenar. 3. Aufl. Salzburg 1966, S. 193. Vgl. Adrien Finck: Über Trakl und Verlaine. In: Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Hrsg. von Remy Colombat und Gerald Stieg. Innsbruck 1995 (Brenner-Studien. 13), S. 49-63, hier S. 61 f. Vgl. Brief Fickers an Walther Riese, zit. nach W. R.: Das Sinnesleben eines Dichters. Georg Trakl. Stuttgart 1928, S. 52. Vgl. Brief Fickers an Karl Kraus, 29. Mai 1929. In: Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1926-1939. Hrsg. von Ignaz Zangerle [u. a.]. Innsbruck 1991 (Brenner-Studien. 11), S. 140.

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Eberhard Sauermann

erreichen: Von Hölderlin werden Substantive, Partizipien (z.T. als Substantivierungen), Feminina, bezugslose Demonstrativpronomen/Komparative und andere Elemente übernommen, ferner Naturbilder aus seinen schwermütigen Gedichten oder solche, die ins Negative umgedeutet werden. Am Beispiel von „Fremdling" läßt sich erkennen, wie Trakl Wörter/Motive übernimmt, um ihr Konnotationspotential zu nützen oder mit ihnen Verfremdungseffekte zu erzielen: 'Fremdling' wird bei Trakl nicht wie bei Hölderlin thematisiert, indem etwa der Eintritt eines Fremden in eine Gesellschaft, seine Herkunft, der Umgang mit ihm, seine Reaktion darauf oder das Ende des Fremdseins zur Sprache kämen: Im Gedicht Helian lautet eine Strophe: „Zur Vesper verliert sich der Fremdling in schwarzer Novemberzerstörung, / Unter morschem Geäst, an Mauern voll Aussatz hin, / Wo vordem der heilige Bruder gegangen, / Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns" (ITA II 252); jener Fremdling wird genausowenig eingeführt oder in seinen späteren Handlungen benannt wie dieser heilige Bruder, zudem ist es nicht ein Fremdling, sondern der Fremdling. Ab Sommer 1912 wird Trakl in den Brenner-Kreis integriert, wo soziale und kulturelle Mißstände zu einer Kritik an der Zivilisation und zu einem Plädoyer für ein 'reines Menschentum' fuhren, wo der Dichter-Seher als Einsamer und Fremdling dem entarteten, der Natur entfremdeten Geschlecht gegenübersteht. Die Orientierung an seinem wichtigsten Publikationsorgan veranlaßt Trakl zur Veröffentlichung von Gedichten im Brenner, die eine auf den Zusammenhang Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft ausgerichtete Deutung ermöglichen: Das Verfallsmotiv kann als historischer Ablauf gedeutet, der 'reine Mensch der Vorzeit' als Gegensatz zur gegenwärtigen Gesellschaft gesehen werden. Auch mit Hilfe von Versatzstücken aus Rimbauds und Hölderlins Werk wird das Verfalls- und Untergangsthema versprachlicht. Seit dem Einschnitt in seinem Leben vom Sommer 1912 galt es für Trakl mehr denn je, der chaotischen Wirklichkeit eine künstliche Ordnung entgegenzusetzen, zum Lebenssinn wurde ihm die Schöpfung einer eigengesetzlichen, 'wahren' Welt. Dazu bediente sich Trakl eigener Texte sowie solcher Rimbauds, Hölderlins und anderer. Die Berücksichtigung von Brenner-Themen erfolgte jedoch ohne eingehende Auseinandersetzung mit gesellschaftsphilosophischen beziehungsweise kulturkritischen Brenner-Beiträgen und ohne rege Teilnahme an Diskussionen im Brenner-Yj:eis über Nietzsche, Weininger, Kierkegaard, das Christentum o. ä., geschweige denn aufgrund einer Identifikation mit geschichtsphilosophischen Konzepten des Brenner (etwa der 'reine Mensch der Vorzeit'): Nicht einmal bei einem Zusammentreffen mit Brenner-Mitarbeitern nach der KrausLesung vom 16. Jänner 1913 kam es zu einer Diskussion mit Trakl; man denke auch an Trakls Sprachlosigkeit bei seinem Besuch Dallagos zu Ostern 1914 und an das Ausbleiben einer Rezeption des wichtigen Brenner-Essayisten Ludwig Erik Tesar. Trakls Briefe sind ein eindrucksvolles Zeugnis für sein Desinteresse an solchen Themen oder für sein Unvermögen, sich darüber zu äußern. Was Rimbauds Lyrik kennzeichnet, Klangfarbe, formale Desorganisation, Sinnverlust, Realitätsverweigerung, Ästhetik des Häßlichen, dürfte Trakl genauso fasziniert haben wie das Expressive, Abnorme, Antibürgerliche bei Verlaine und das Rätselhafte,

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Gegensatz-Ausgleichende, Archaische bei Hölderlin. Bestimmte Aussagen in den von Trakl wahrscheinlich benützten Ausgaben werden sein Interesse gefunden haben: Das betrifft vor allem Klammers Rimbaud-Übertragung mit der Einleitung Zweigs, die von Zweig herausgegebene Anthologie von Verlaine-Übertragungen und seine VerlaineBiographie, die Hölderlin-Ausgaben9 von Litzmann und Böhm, aber auch Georges Umdichtung von Baudelaires Blumen des Bösen und Klammers/Oppeln-Bronikowskis Übertragung von Gedichten Maeterlincks.10 Rimbauds Gedicht Das trunkene Schiff, nach Zweig das bedeutendste der französischen Literatur, sei „Revolte der Farben und phantastische Symphonie fiebernder Worte""; Rimbaud sei ein „voyant", ein Magier12, er werde zum „Seher"13. Verlaines Lyrik sei magische Kunst: die „Alchimie des Wortes", vermeintlich von Rimbaud erfunden, eine auf Idiosynkrasie beruhende Beziehung zwischen Farben, Vokalen und Tönen14; in Verlaines Dichtkunst wird gefordert, im Gedicht sei Musik vor allen Dingen; ähnlich in Novalis' Fragmenten: Gedichte, wohlklingend und voll schöner Worte, aber ohne Sinn und Zusammenhang, nur stellenweise verständlich, wie Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen, „höchstens einen allegorischen Sinn im Grossen und eine indirekte Wirkung wie Musik"15; Hölderlin pflege den Kult des unschuldigen Zeitalters, seiner Kindheit, mit dem Verlust der eigenen Kindheit betrauere er „das entschwundene goldene Zeitalter der Menschheit"16. In wichtigen Lebenssituationen greift Trakl auf briefliche oder poetische Aussagen seiner 'Vorbilder' zurück: Am 5. Oktober 1908, gerade nach Wien gezogen, schreibt er an seine Schwester Hermine (ITA V):

9

Da der Eingang des vom ersten Drittel des Jahres 1908 stammenden Morgenlieds („Nun schreite herab, titanischer Bursche, / Und wecke die vielgeliebte Schlummernde dir") aus Hölderlins Unsterblichkeit der Seele übernommen sein dürfte („Da weckten nahe Donner die Schlummernde"), kommt dafür am ehesten die Hölderlin-Ausgabe von Litzmann in Frage (es fehlt bei Schwab, bei Böhm in der 1. Auflage und bei Reclam). Diese Ausgabe kann jedoch nicht Quelle für viele Übernahmen in Trakls späteren Gedichten gewesen sein, da sie Hölderlins Gedichte 'aus der Zeit des Irrsinns' nicht enthält. Daß dafür am ehesten die Ausgabe von Böhm (2. Aufl.) in Frage kommt, ergibt sich nicht nur daraus, daß Trakl eine falsch wiedergegebene Stelle in Hälfte des Lebens übernommen hat („Mit gelben Blumen [...]" statt „Mit gelben Birnen [...]") - das träfe auch auf die Ausgabe von Joachimi-Dege zu -, sondern weil er offenbar auf Böhms Einleitung Bezug nimmt. 10 Arthur Rimbaud: Leben und Dichtung. Übertr. von K. L. Ammer. Einl. von Stefan Zweig. Leipzig 1907; Gedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Hrsg. von Stefan Zweig. 2. Aufl. Berlin, Leipzig 1907; Stefan Zweig: Verlaine. Berlin, Leipzig (1905); Hölderlins gesammelte Dichtungen. Neu durchgesehene und vermehrte Ausg. in zwei Bänden. Mit biogr. Einl. hrsg. von Berthold Litzmann. Stuttgart (1896/97); Friedrich Hölderlin: Gesammelte Werke. Hrsg. von Wilhelm Böhm. 3 Bände. 2. Aufl. Jena 1909-1911; Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George. Berlin 1901; Maurice Maeterlinck: Gedichte. Verdeutscht von K. L. Ammer und Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Jena 1906. 1 ' Rimbaud 1907, vgl. Anm. 10, S. 3. 12

13 14 15 16

Ebda, S. 13. Ebda, S. 39. Vgl. Zweig 1905, vgl. Anm. 10, S. 77. Maeterlinck 1906, vgl. Anm. 10, S. 67f. Hölderlin 1909-1911, vgl. Anm. 10, Bd. l, S. XII.

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Eberhard Sauermann Was mir in diesen Tagen geschah [...]. Ich habe die fürchterlichsten Möglichkeiten in mir gefühlt, gerochen, getastet und im Blute die Dämonen heulen hören, die tausend Teufel mit ihren Stacheln, die das Fleisch wahnsinnig machen. Welch entsetzlicher Alp! Vorbei! Heute ist diese Vision der Wirklichkeit wieder in Nichts versunken, ferne sind mir die Dinge, ferner noch ihre Stimme und ich lausche, ganz beseeltes Ohr, wieder auf die Melodien, die in mir sind, und mein beschwingtes Auge träumt wieder seine Bilder, die schöner sind als alle Wirklichkeit! Ich bin bei mir, bin meine Welt! Meine ganze, schöne Welt, voll unendlichen Wohllauts.

Vgl. Hyperion an Bellarmin: Mir ist lange nicht gewesen, wie jetzt. Wie Jupiters Adler dem Gesänge der Musen, lausch' ich dem wunderbaren unendlichen Wohllaut in mir. [...] Trauert nicht, wenn eures Herzens Melodie verstummt! bald findet eine Hand sich wieder, es zu stimmen! Wie war denn ich? war ich nicht wie ein zerrissen Saitenspiel? Ein wenig tönt' ich noch, aber es waren Todestöne.'7

Vgl. auch: „Aus Masken und Pantominen starrt des Dichters Gesicht schmerzlich verwirrt in den schwarzen Spiegel der Wirklichkeit... Denn in sein Leben war damals eine böse Gewalt eingebrochen".18 In seinem ersten Brief nach seinem Umzug nach Innsbruck (vor dem 21. April 1912, an Erhard Buschbeck) identifiziert sich Trakl mit Kaspar Hauser: „Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben"(ITA V). Vgl.: Rimbaud sei „wie Kaspar Hauser".19 In seinem nächsten Brief (vom 24. April 1912) kündigt er an: „Vielleicht geh ich auch nach Borneo" (ITA V), und am 8. Juni 1914 bewirbt er sich tatsächlich für den Sanitätsdienst in den niederländischen Kolonien. Vgl. Rimbaud, der sich als Soldat für die holländischen Kolonien in Ostindien verdungen hat20, dessen Aufenthalt auf den Großen Sundainseln Java und Sumatra, seine Ankündigung in einem Brief an die Familie: „Vielleicht gehe ich nach Sansibar [...] vielleicht nach China, nach Japan"21; ferner heißt es in diesem Brief Trakls: „Immerhin ertrag' ich all' dies Zerfahrene einigermaßen heiter und nicht ganz unmündig" (ITA V). Vgl.: „Nicht gar unmündig".22 Laut Rock hat Trakl im Juni 1912 in einer Stehbierhalle folgendes zum besten gegeben:23 Alles Gedichtemachen sei nichts; was brauche man Gedichte und Welt als Wille und Vorstellung, wenn man das Evangelium habe. Ein paar Worte des Evangeliums haben mehr Leben und Welt und Menschenkenntnis als all diese Gedichte: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das

17 18 19 20 21 22 23

Hölderlin 1896/97, vgl. Anm. 10, Bd. 2, S. 104 und 107. Zweig 1905, vgl. Anm. 10, S. 32. Rimbaud 1907, vgl. Anm. 10. S. 6. Vgl. Rimbaud 1907, vgl. Anm. 10, S. 2. Ebda, S. 57 und 9 l . Hölderlin 1909-1911, vgl. Anm. 10, Bd. 2, S. 370. Von den Übereinstimmungen mit Nietzsches Also sprach Zarathustra (die lügnerischen, oberflächlichen, eitlen Dichter im Kapitel Von den Dichtern) sei hier einmal abgesehen.

Edition und Funktion von Trakls Quellen

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Himmelreich." [...]. Alle Dichter sind eitel und Eitelkeit sei widerlich. [...] Mitteilen könne man sich auch nicht mit Gedichten. Man kann sich überhaupt nicht mitteilen.24

Vgl. die Aussagen über Rimbaud, „Die Poesie war ihm nichts", „Kunst - irgend eine Sorte von Arbeit"25, Rimbaud, „der einzige wahre Verächter der Literatur in unsern Tagen"26, vgl. aber auch den emphatischen Ausruf in Rimbauds Ein Sommer in der Hölle: „Das Evangelium, das Evangelium!"27, ferner im Kapitel Der Büßer über Verlaines „konfessionellen Trieb"28, schließlich daß Hölderlin das Evangelium der Liebe in sich aufnehme29. Außerdem habe Trakl gesagt, ein echter Dichter müsse sich darangeben, sich an seinen Stoffen verbluten (wie Mörike oder Liliencron). Vgl.: Verlaine „gab sich ganz hin an die Effluoreszenzen der Dinge", seine Seele habe sich „in Seufzer, Jubel und Schrei verblutet"30; die Verehrung der jüngeren Generation für Baudelaire beruhe auf dessen glühender Geistigkeit, „mit der er auch die sprödesten Stoffe durchdrang"31. Schließlich habe Trakl Goethe alle Höhe abgesprochen, er gleiche in seiner Weite dem Weibe, er sei ganz oberflächlich und herzlos, seine Art lüge, sei teuflisch, er sei kein echter Dichter, habe niemals neurasthenisch gedichtet, sei oft schamlos, voll Ausspruch, voll Bekenntnis. Vgl. in der Verlaine-Biographie Goethes Wort von den Bruchstücken der „grossen Konfession"32, ferner daß „der Herr von Goethe" ein Gegenstand von Hölderlins stiller Abneigung zu sein scheine33. Ficker schreibt in einem Brief an Walther Riese von 1927 oder 1928, daß „Trakl wiederholt einer merkwürdigen Äußerung Bettinas über Hölderlin Erwähnung tat, derzufolge der umnachtete Hölderlin den Eindruck gemacht habe, als trage er seinen stillen Wahnsinn wie eine Maske gegen die Welt"; Trakl habe ihn einmal gefragt, ob er es für möglich halte, daß er, Trakl, wahnsinnig werden könne34; am 1./2. April 1914 bittet er Ficker: „Sagen Sie mir, daß ich nicht irre bin" (ITA V). Vgl.: Den Freunden in Homburg wurde es schwer, an den Wahnsinn Hölderlins zu glauben. Es schien ihnen oft, als ob er nur zeitweilig die Maske des Wahnsinns vornehme und diese eine „aus wohl überdachten Gründen angenommene Äußerungsart sei." [...] Bettina schreibt, „[daß] einem die Idee, daß er wahnsinnig sei, ganz verschwinde".35

Seine neue Stelle als Rechnungspraktikant im Arbeitsministerium in Wien kündigt Trakl schon nach wenigen Stunden und fährt nach Innsbruck zurück: Rock berichtet in 24

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Zit. nach Hans Szklenar: Beiträge zur Chronologie und Anordnung von Georg Trakls Gedichten auf Grund des Nachlasses von Karl Rock. In: Euphorien 60, 1966, S. 222-262, hier S. 227. Rimbaud 1907, vgl. Anm. 10, S. 3 und 7. Zweig 1905, vgl. Anm. 10, S. 48. Rimbaud 1907, vgl. Anm. 10, S. 185. Zweig 1905, vgl. Anm. 10, S. 52. Vgl. Hölderlin 1909-1911, vgl. Anm. 10, Bd. l, S. VII. Zweig 1905, vgl. Anm. 10, S. 14 und 16. Baudelaire 1901, vgl. Anm. 10, Vorwort. Zweig 1905, vgl. Anm. 10, S. 53. Hölderlin 1909-1911, vgl. Anm. 10, Bd. l, S. CX. Zit. nach Riese 1928, vgl. Anm. 7, S. 51 f. Hölderlin 1909-1911, vgl. Anm. 10, Bd. l, S. CVII.

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seinem Tagebuch zum 4. Jänner 1913, daß Trakl erschütternd erzählt habe, wie er auf seinem neuen Posten „völlig geistesabwesend war, für seinen 'Helian'. Daher dann dem Posten dort entflohen sei"36; der 5rew«er-Mitarbeiter Karl B. Heinrich schreibt Ende Februar 1913, Trakl habe noch während der Entstehung des Gedichts Helian Innsbruck verlassen und sei nach Wien gefahren: „die Unmöglichkeit, in Wien einen 'Helian' zu vollenden, trieb ihn wieder nach Innsbruck zurück"37. Vgl.: Hölderlin werde von seiner Familie zur Sicherung seiner bürgerlichen Existenz gedrängt, seine Tatkraft sei aber gelähmt; „Fieberhaft muten uns seine Bemühungen an, die Entscheidung hinauszuschieben, er schützt die Vollendung der früheren Arbeiten vor".38 Am 26. Juni 1913 schreibt Trakl an Ficker (ITA V): Zu wenig Liebe, zu wenig Gerechtigkeit und Erbarmen, und immer zu wenig Liebe; allzuviel Härte, Hochmut und allerlei Verbrechertum - das bin ich. Ich bin gewiß, daß ich das Böse nur aus Schwäche und Feigheit unterlasse und damit meine Bosheit noch schände.

Vgl. Zweigs Aussage über Verlaine: Diese rührende Geste, dieses Bedürfnis, ändern Menschen sein Leben zu geben, hat von allen Dichtem unserer Jahre keiner so hinreissend, so mitleidsvoll und tragisch gehabt, wie Paul Verlaine. Denn keiner war so schwach gegen den Druck des Schicksals. Alle seine dichterische Tugend ist umgewandte Grosse, ist Schwäche39

sowie Klammers Urteil über Rimbauds Verhalten gegenüber Verlaine und dessen Kreis: „Welcher Stolz, welches Glück, welcher Triumph, den ändern als grundböser Geist [...] zu erscheinen!"40, und schließlich eine Passage aus Ein Sommer in der Hölle: „Ich waffnete mich gegen die Gerechtigkeit [...] in der Luft des Verbrechens mich getrocknet. [...] Der Schlüssel, meinte ich, wäre die Barmherzigkeit"41. Laut Ficker hat Trakl Ende Oktober 1914 im Garnisonsspital in Krakau befürchtet, wegen seines Selbstmordversuchs vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet zu werden - „Äußerung der Mutlosigkeit vor dem Feind".42 Vgl.: Rimbaud befürchtet, wegen seiner Desertion vom Militärgericht zum Tode verurteilt zu werden.43 Aufgrund der Übereinstimmungen dieser Belegstellen kann man behaupten, daß sich Trakl nach dem Vorbild Rimbauds, Verlaines und Hölderlins stilisiert hat, jedoch im Bewußtsein, ein solches Leben nie führen zu können. Seine 'Anlehnung' an diese Vorbilder ist schon von Zeitgenossen erkannt worden: Der Philosoph und 'Naturapostel' 36 37

38 39 40 41 42 43

Rock 1976, vgl. Anm. 4, Bd. l, S. 169. Karl Borromäus Heinrich: Briefe aus der Abgeschiedenheit. II. In: Der Brenner, 1. März 1913, S. 508-516, hier S. 514. Hölderlin 1909-1911, vgl. Anm. 10, Bd. l, S. LXXXIV. Zweig 1905, vgl. Anm. 10, S. 10. Rimbaud 1907, vgl. Anm. 10, S. 39. Ebda, S. 182. Erinnerung an Georg Trakl. (Hrsg. von Ludwig v. Ficker.) Innsbruck 1926, S. 159. Vgl. Rimbaud 1907, vgl. Anm. 10, S. 57 und 105.

Edition und Funktion von Irakis Quellen

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Carl Dallago, Hauptmitarbeiter des frühen Brenner, schreibt Ficker am 6. Juli 1913, Hölderlin und Trakl seien nicht wesens-, sondern gestaltungsverwandt (Ficker hat offenbar die beiden als wesensverwandt bezeichnet), und am 26. Juli 1913: „eher ist Trackl[!] eine Art Verlain[!] (deutsch slawischer Prägung), aber immer weniger Hölderlin".44 Der Brenner-Mitarbeiter Victor Bitterlich wehrt sich in seinem Brief an Ficker vom 11. Februar 1914 gegen den Vorwurf, er plagiiere Trakl: Das Chaos aller alten Qualitäten herzustellen, aus dem die Sprache „eigenzauberhändig" die neuen Dinge hole, ließe sich bei Rimbaud und schon bei Baudelaire entdecken.45 In den Zwanziger Jahren meinte Ficker, die Bezeichnung 'Bruder' in Trakls Werk sei wohl „aus dem Gedenken an Hölderlin, Rimbaud etc. geschöpft".46

III. Sonstige Quellen Übernahmen von Baudelaire und Maeterlinck finden sich vor allem in Gedichten der frühen und mittleren Periode. Auch von Baudelaire könnte Trakl zur Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und zu Spiegelungen angeregt worden sein; auch bei Maeterlinck nicht nur bei Rimbaud - konnte Trakl die Reihung disparater Dinge und Vorgänge sowie die kühne Verwendung der Farbe vorfinden, femer Langzeilen im freien Rhythmus, was er seit Sommer 1912 verwendet. Einzelne Übernahmen aus der Bibel47 finden sich im ganzen Werk Trakls. Davon abgesehen gibt es in Einzelfallen Stellen, die auf eine bestimmte Quelle schließen lassen: Ein für den Brenner zentraler Zyklus war Theodor Däublers Pan aus seinem Epos Nordlicht, aus dem Däubler die Strophen mit der Ankündigung an den Menschen: „Pan ist erwacht!" zur Auswahl für seine Innsbrucker Lesung vorgeschlagen hat. Trakl, der seit Mitte Juli 1912 von diesem Programm wissen konnte, scheint auf Däublers Dichtung, wie sie in der Besprechung des Brenner-Mitarbeiters Hugo Neugebauer gekennzeichnet wird, reagiert zu haben: Heißt es dort, „Pan, der Waldgott, der Gott des triebhaften Erdenlebens in Pflanze und Tier, bildet den ungestalten Erdtrieb als Erdgeist zu Lebensformen", und wird dort auf Pans Erwachen hingewiesen48, so führt Trakl in seinem Psalm I vom September 1912 den „Sohn des Pan" ein (den es im Mythos nicht gibt, aber in Rimbauds Antike), erniedrigt ihn zu einem „Erdarbeiter" und läßt ihn obendrein schlafen: „Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters, / Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft" (ITA II 20); 'Erdarbeiter' ist - nach einem zeitgenössischen Häufigkeitswörterbuch - ein sehr seltenes Wort, vgl. aber auch Rimbauds Arbeiter. Es gibt keinen Beweis für eine (über 44

45 46 47

48

Ludwig von Ficker Briefwechsel 1909-1914. Hrsg. von Ignaz Zangerle [u.a.]. Salzburg 1986 (Brenner-Studien. 6), S. 172 und 177. Ebda, S. 201. Brief Fickers an Adolf Meschendörfer, 16. Feb. 1926. In: Ficker 1991, vgl. Anm. 8, S. 13. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Berlin, Köln 1891. Der Brenner, l. Dez. 1910, S. 350.

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die Schulzeit hinausreichende) Beschäftigung Trakls mit der griechischen beziehungsweise römischen Mythologie, geschweige denn mit einem bestimmten Aspekt des PanMythos, demzufolge der Hirtengott an schattigen Orten schlafend oder musizierend der Sonnenglut der Mittagszeit zu entgehen trachtet. Auch in dem von den jungen Mitgliedern der Literatur- und Kunstgesellschaft „Pan" herausgegebenen literarischen Sammelwerk Salzburg, für das Trakl im Herbst 1912 vier Gedichte zur Verfügung stellte, ist Pan kein Thema. Und in Trakls Brief an Buschbeck vorn 6. Oktober 1912 figuriert Pan eher als Symbol der Trunkenheit: „Wein, dreimal: Wein, daß der k.u.k. Beamte durch die Nächte tost wie ein brauner, rotbrauner Pan." Von der Lebensphilosophie gestützt, war in manchen Kreisen der Mythos vom AllEinen zum Programm erhoben worden: Einheit von Gott, Welt und Natur, Pan als Symbol für Kraft, Genuß und Freiheit, Verherrlichung von allem 'Natürlichen'. Ficker berichtet von einem Treffen nach der Lesung Däublers vom 22. November 1912, an dem auch Trakl teilgenommen habe: In einer Pause zwischen Däublers Ausführungen soll Trakl aufgestanden sein, sich an die Stirn geschlagen und gedehnt gesprochen haben: ,,'Pan ... ist... erwacht!!?' So als ob einer, der das in der heutigen Zeit noch ernsthaft als Großereignis feiert, nicht ganz bei Sinnen sei."49 Fest steht, daß Trakl durch die Einführung von Pans Sohn und seine Beschreibung eines Schlafs mit einem Zweig der literarischen Pan-Tradition der Jahrhundertwende bricht. Im Helian greift er dieses Motiv auf: „doch immer schläft / Der Sohn des Pan im grauen Marmor" (ITAII 251) - nun ist es ein endgültiger Schlaf geworden; was übrigbleibt, könnte eine Statue oder ein Grabmal sein. Am 29. Juli 1913 empfiehlt Buschbeck in seiner Antwort auf Trakls Bitte um Bücher über die Gotik Emil Luckas Drei Stufen der Erotik50. Dort wird in einem mittelalterlichen Gedicht Gott angerufen: „verzeihe mir meine Sünden, aber wäre ich nicht geboren worden, so hätte ich sie nicht begangen!" Vgl.: „Groß ist die Schuld des Geborenen" (Anif, November 1913, ITA III 330); die Vereinigung von Griechentum und Christentum finde ihren Höhepunkt in Michelangelo, dessen Ideal „e i n Mensch, weder Mann noch Weib" sei, was gerade in der „Verwischung des Geschlechtes" einen hohen kulturellen Wert gehabt habe; ferner wird aus Novalis' Hymnen an die Nacht zitiert: „M it m e i n e m G e s c h l e c h t " , „Einst ist alles Leib, / E i n Leib, / In himmlischem Blute / Schwimmt das selige Paar"; über die dritte und letzte Stufe der Erotik heißt es: Die Liebenden seien zwei Menschen und nicht eine einzige unteilbare Einheit; es scheine ihnen unmöglich, gesondert weiter zu existieren; so entstehe in solch einer Seele der Gedanke, mit der Geliebten zusammen im Tode zu vollenden, was im Leben nicht möglich ist, einen höheren Zustand des Daseins zu verwirklichen, mit der Geliebten ein einziges zu werden. Vgl. bei Trakl: „Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden / E i n Geschlecht. Weihrauch strömt von rosigen Kissen /

49

50

Brenner-Gespräche, aufgezeichnet in den Jahren von 1961 bis 1967 von Walter Methlagl, S. 67 (unveröff.). Emil Lucka: Die drei Stufen der Erotik. Berlin, Leipzig 1913; die Zitate auf S. 86, 254, 281, 285 und 312ff.

Edition und Funktion von Trakts Quellen

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Und der süsse Gesang der Auferstandenen" (Abendländisches Lied, Dezember 1913, ITAIII420). Am 3. September 1913 zeigt Rock Trakl die Afra-Legende in einem erst kürzlich von Sieglinde Klettenhammer identifizierten Heiligenlegendenbuch51; kurz darauf verfaßt Trakl das Gedicht Afra, das einige Passagen von dem Monate früher entstandenen Gedicht Abendspiegel übernimmt und an Neuem auch religiösen Wortschatz enthält, aber nicht die geringste Anspielung auf Merkmale der Afra-Legende. Offenbar hat Trakl das Wort 'Afra' angesprochen, oder er wollte mit Afra als Titelfigur und jenen Wörtern aus dem religiösen Bereich die Erwartung seiner Leser (nicht zuletzt aus dem Brenner-Kseis) ansprechen. Womöglich hat sich Trakl von einem Besuch der AfraKapelle in Thaur (unweit von seinem Wohnort Mühlau) anregen lassen: Das dortige Bild der hl. Afra (in einem roten Mantel, mit Maria und dem Jesuskind sowie dem bekehrenden Bischof Narcissus) könnte man in den Versen „Gehüllt in blauen Mantel sah vor Zeiten / Der Mönch sie fromm gemalt an Kirchenfenstern" (ITA III 122) gespiegelt sehen. Am 10. Dezember 1913 liest Robert Michel an dem gemeinsam mit Trakl bestrittenen Autoren-Abend des Brenner die Novelle Vom Podvelez, in der sich der Held in der Nacht durch den Schnee zu seinem Haus kämpft, aber vor einem Fenster stehend erfriert, während dahinter sein Nachbar mit seiner Frau schläft. Wenige Tage später verarbeitet Trakl das Motiv in seinem Gedicht Ein Winterabend: „Mancher auf der Wanderschaft / Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden [...] Sinkt [...] In den weißen Arm dem Tod", „Nacht und Leidenschaft" (ITA III 412f.). Besonders im Frühwerk sind etliche Übernahmen von Nietzsche erkannt worden.52 Der Titel von Trakls Prosagedicht von Anfang 1914, Traum und Umnachtung, ist für Schier eine Anspielung auf Büchners Lenz, wo 'Traum' immer wieder thematisiert und schließlich Lenz' Weg in den Wahnsinn gezeigt werde; bei diesem Prosagedicht handle es sich um die Absicht, Zitate aus Werken Nietzsches, Büchners, Hölderlins und eigenen Texten bewußt als kompositionelles Formprinzip zu verwenden, indem Entsprechungen und Verbindungen zwischen verschiedenen Texten zum Strukturprinzip erhoben werden: Im vorliegenden Fall sind die zitathaft beschworenen Verbindungen die Motive des Wahnsinns, der Schuld, der Verzweiflung usw., die nicht nur Trakls Biographie bestimmen, sondern vor allem Entsprechungen zwischen den einzelnen Dichterschicksalen aufdecken.53

51

52

53

Heiligenlegende für alle Tage des Jahres. Mit Bevorzugung unserer deutschen Namenspatrone bearb. von Lorenz Beer. 2 Teile. Regensburg 1913, Tl. 2, S. 82-85. Vgl. Kempers Nachwort zu Georg Trakl: Werke, Entwürfe, Briefe. Hrsg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Stuttgart 1984 (Univ.-Bibl. 8251), S. 269-320. Rudolf D. Schier: Büchner und Trakl: Zum Problem der Anspielungen im Werk Trakls. In: PMLAA 87, 1972, Nr. 5, S. 1052-1064, hier S. 1052 und 1062.

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IV. Helian Helian ist eines jener Gedichte Trakls, die eine Fülle von 'Zitaten' aufweisen, ohne daß diese deutlich markiert wären. Weder hat Trakl im privaten Kreis Anleitungen zu einer speziellen Lektüre seines Werks gegeben, noch ist von zeitgenössischen Lesern bekannt, daß sie seine Gedichte auf der Folie von Texten bestimmter Autoren gelesen oder gar als Kontrafaktur gesehen hätten. Dennoch halten wir es für vorteilhaft, solche Übernahmen in der Ausgabe den Texten Trakls beizugeben. Die Einzelstellen-Erläuterungen dieses Gedichts (ITA II 23 3 ff.) berücksichtigen unterschiedliche Qualitäten; meistens handelt es sich um lexikalische Übereinstimmungen: 3 H, 12

5 T, 60 5 T, 71

Von Kot und Würmern starrt ihr Haar Vgl. „die Haut von Kot und Pest zerfressen, die Haare und die Achselhöhle voll von Würmern und noch größere Würmer im Herzen" (Rimbaud, Abschied, S. 214) Ein erhabenes Schicksal sinnt den Kidron hinab Vgl. „Hinunter sinket der Wald [...] oft sinnt, über den Fußtritt, / Ein groß Schicksal" (Hölderlin, Der Winkel von Hart, S. 370), „Kidronbach" (Rimbaud, Hunger, S. 205) in schwarzen Wassern spiegeln sich Aussätzige Vgl. der Weiher wie „ein schwarzes Waschbecken", „Das Wasser war immer schwarz", die Kranken, Siechen sehen in das Wasser hinein (Rimbaud, Beth-Saida, S. 47f.)

Manchmal handelt es sich um ähnliche Motive beziehungsweise Arten der Wirklichkeitserfassung: 4 H, 14

jene verstorben aus kahlen Zimmern treten Vgl. „Die junge verstorbene Mutter steigt die Treppe hinab" (Rimbaud, Kindheit, S. 221)

Die Erläuterung des Titels stellt einen Sonderfall dar: 5 T, 0

Helian Männlicher, wsch. von Trakl erfundener (Vor-)Name; vgl. „Helios" (Hölderlin, Der Mensch, S. 128), „pauvre Ldlian" (Zweig, als 2. Kap. Vom 'armen Lelian', S. 17 u. passim, und Rimbaud, Arthur Rimbauds Leben, S. 41 u. passim). - In der Trakl-Forschung wird der Name u. a. auch auf Heiland (bzw. den altsächsischen Heiland) und auf Helianthus (als wiss. Bezeichnung für Sonnenblume) zurückgeführt.

Wir sehen im Titel des Gedichts Helian dem Wortlaut nach eine Verschmelzung der Figur „Helios" von Hölderlin mit Verlaines Anagramm „Lelian", wollen aber auch die These inhaltlicher Übereinstimmungen nicht ausschließen. Wir nehmen an, daß sich „Helians Seele" (V. 83) und der dem dunklen Ende nachsinnende „Enkel" (V. 91) aus Hölderlins Gedicht Der Mensch herleiten, in dem der Mensch die hohe Seele seines Vaters Helios in sich birgt und die dunkle Zukunft sieht, halten aber die beiden Passagen mit dem „Menschen" (V. 30f£, eigentlich ein Selbstzitat aus Wo an schwarzen Mauern ..., und V. 65) nicht für eine Übernahme aus diesem Hölderlin-Gedicht und seine Identität mit der Figur „Helian" nicht für gesichert. Vielleicht wollte Trakl mit dem Wort „Helian" einen klangvollen, geheimnisvollen Namen finden, eine rätselhafte Figur 'erfinden' (beim ersten Auftauchen „Helians" ist nur dessen „Antlitz" sichtbar, in

Edition und Funktion von Trakts Quellen

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den Varianten verblaßt eine „Erscheinung" beziehungsweise „Gestalt", ITA II 20f.) und/oder eine Identifikation mit verschiedenen Erscheinungsformen ermöglichen (der Einsame, Blinde, der dem Tod geweihte Mensch, der Enkel); mit anderen Worten: der Deutung einen weiten Spielraum eröffnen. Gegen eine Gleichsetzung mit dem Heiland54 spricht schon, daß Trakl das Wort 'Heiland' stets in einem eindeutig religiösen Kontext verwendet. Doch soll die Entscheidung darüber jeder Benutzer selbst treffen. Das schließt auch Überlegungen mit ein, wie das Verwischen von Spuren intertextueller Bezüge zu bewerten ist: Trakl läßt das Gedicht Helian zuerst mit dem Vers „Dem gesungen ein Lied folgt" enden, in Anlehnung an den letzten Vers von Hölderlins Patmos: „Dem folgt deutscher Gesang", allerdings ohne dessen Deutschtum; dann ändert er den Vers zu „Dem zu Zeiten der Trunkene folgt", bevor er zur Form „Eh dem Winter und Schweigen folgt" findet (ITA II 250f).

V. Kaspar Hauser Lied Der Verfasser hat bereits an anderer Stelle zu zeigen versucht, was die Mißachtung von Quellen beziehungsweise literarischer Tradition einerseits und die Identifikation des „Er" in Trakls Gedicht mit dem historischen Kaspar Hauser andererseits für die Interpretation dieses Textes bedeuten.55 Letztlich geht es um die Frage, inwiefern Trakl den Kaspar-Hauser-Stoff bearbeitet, Bekanntes verdunkelt und Neues eingebracht hat. Sollen unterschiedliche Markierungen eines intertextuellen Bezugs editorisch verschieden behandelt werden? Man denke einerseits an den Vers „Ich will ein Reiter werden", eine Anspielung auf den bekannten ersten Satz des historischen Kaspar Hauser: 'ein solcher Reiter möchte ich werden, wie mein Vater gewesen ist' (freilich im Dialekt); auf den Sinngehalt dieses Satzes gehen wir in der Erläuterung zur Titelfigur ein, die Funktion des Zitats bei Trakl muß jedoch wie die des getilgten Bezugs zum Vater oder jene der Redeeinleitung, „Die dunkle Klage seines Munds", vom Benutzer analysiert werden.56 Andererseits denke man an den Schlußvers „Also sank des Fremdlings Haupt hin", verändert zu „Silbern sank des Ungeborenen Haupt hin", dessen Bezugsstellen in Jakob Wassermanns Roman Caspar Häuser oder Die Trägheit des Herzens sicher weniger geläufig waren beziehungsweise sind. Schließlich halte man sich die 'Idylle' am Eingang des Gedichts vor Augen, worin sich Trakl sowohl gegen die historische Überlieferung als auch gegen die literarische Kaspar-Hauser-Tradition stellt, aber 54 55

56

Vgl. z. B. den Querverweis zu 'Heiland' beim Stichwort „Helian": Heinz Wetzel: Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls. Salzburg 1971 (Trakl-Studien. 7), S. 298. Vgl. Eberhard Sauermann: Trakls Kaspar Hauser Lied in der Forschung. Zur philologischen Behandlung eines Mythos. In: Euphorion 88, 1994, H.4, S. 448-457. Neuerdings deutet Adrien Finck diesen Vers wieder als Todeswunsch, was durch die 3. Strophe von Verlaines Gedicht Gaspard Hauser chante nahegelegt werde (Finck 1995, vgl. Anm. 6, S. 58); vor Jahren hatte Ernst E. Metzner (Die dunkle Klage des Gerechten - poesie pure? In: GRM 55, 1974, S. 446-472) für dieselbe Deutung Eichendorffs Gedicht Das zerbrochene Ringlein als Quelle herangezogen.

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offenbar unter Anlehnung an die Evokation 'verlorener Paradiese' bei Hölderlin und Rimbaud. Trakl hat zwar expressis verbis auf die Figur Kaspar Hauser gewiesen, zugleich jedoch Verfremdungen vorgenommen, bereits im Titel, in dem durch das Fehlen der Bindestriche die Zusammengehörigkeit von Grundwort und Bestimmungswörtern gelockert wird, und durch die Verwendung der Er-Form für die handelnde beziehungsweise erduldende Person: Es ist nicht ein Lied des Kaspar Hauser, sondern vielleicht nur ein Lied, das an jemanden wie Kaspar Hauser erinnert. Deshalb dürfen Einzelheiten in diesem Gedicht nicht auf einen (von der Kaspar-Hauser-Geschichte) bestimmten Sinn festgelegt werden, schon gar nicht in einem Kommentar der Herausgeber. In der Entstehungsgeschichte dieses Gedichts nennen wir die Kaspar-Hauser-Literatur, die Trakl gelesen hat oder haben könnte, vor allem Verlaines Gedicht und Wassermanns Roman; schließlich deuten wir die Funktion der Kaspar-Hauser-Thematik um die Jahrhundertwende beziehungsweise den Evokationswert für zeitgenössische Leser an(ITAIII312): Das Auftauchen des Findlings (1828), mehr noch sein gewaltsamer Tod (1833) hatte eine Flut von Publikationen zur Folge, auch von poetischen. Hier konnte exemplarisch der Zusammenhang zwischen Welt, Sprache und Subjektivität/Ich-Bewußtsein dargestellt werden; vornehme Abstammung, Gefangenschaft, Sprachlosigkeit, Sozialisation, Unschuld, Bosheit, Betrug, Außenseitertum, Verfolgung, Ermordung waren Aspekte dieses sozialen wie medialen Ereignisses. Wurde im 19. Jh. meist die kulturelle Codierung des 'Natürlichen', 'Vorweltlichen' als Erfolg gefeiert, wird im Roman Wassermanns, der durchaus noch aufklärerischen Ideen und dem Ideal der fürsorglichen Familie verpflichtet ist, darüber Klage geführt, daß der Mensch in der menschlichen Gemeinschaft zugrundegerichtet werde. Bei Verlaine und seinen Übersetzern (wie Stefan George) mißlingt die Integration in die Gesellschaft völlig, sowohl Kaspar Hausers Wunsch nach Liebe wie der nach dem Tod bleiben unerfüllt.

An Beispielen für Einzelstellen-Erläuterungen wären folgende zu nennen (ITA III 315f.): 1-2 H, 0

1-2 H, l

Kaspar Hauser Am 26. Mai 1828 taucht ein ca. 16jähriger Knabe in Nürnberg auf, der kaum sprechen und nur seinen Namen schreiben kann; auf einem Zettel in seiner Hand werden seine (angebliche) Herkunft und seine bisherige Gefangenschaft genannt; er weist eigenartige physiologische Verhaltensweisen auf; wenn er Wünsche oder Empfindungen ausdrücken will, sagt er (im Dialekt): 'ein solcher Reiter möchte ich werden, wie mein Vater gewesen ist'. Schon früh vermutet man eine vornehme Abstammung (als der 1812 geborene und nach offiziellen Angaben gleich verstorbene Thronfolger des Großherzogtums Baden) und eine jahrelange Verwahrung in einem Verlies. Bald wird er zum Objekt verschiedener Interessen (pädagog., relig., sprach!., medizin., jurist.), man bringt ihm vieles bei, experimentiert aber auch mit ihm. Im Okt. 1829 erfolgt ein erster Mordanschlag auf Kaspar Hauser; manche halten ihn für einen Betrüger, Anselm v. Feuerbach entgegnet 1832 mit der Studie Caspar Hauser - Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen. Am 14. Dez. 1833 erfolgt der zweite Mordanschlag: ein Unbekannter fügt Kaspar Hauser im Ansbacher Hofgarten mit einem Messer schwere Verletzungen zu; am 17. Dez. stirbt er. Kaspar Hauser Lied Vgl. Lied Kaspar Hausers (Verlaine, S. 79, Übers, v. Richard Dehmel). Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn untergeht Vgl. am Morgen von Caspars

Edition und Funktion von Trakts Quellen

1-2 H, 7

1-2 H, 8

1-2 H, 10 1-2 H, 20

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Abtransport floß durch die geöffnete Tür der purpurrote Schein der Sonne in den Raum, später sieht Caspar, „die purpurne Scheibe rollte herab", und bekennt, „Caspar liebt die Sonne" (Wassermann, S. 25, 56 u. 57) 0 Mensch! Vgl. Daumers Notizbuch: „dann will ich der stumpfgewordenen Welt den Spiegel unbefleckten Menschentums entgegenhalten, und man wird sehen, daß es gültige Beweise gibt für die Existenz der Seele", Daumer „umarmte Caspar noch fester und rief mit emporgewandten Augen: 'Mensch, o Mensch!'. Das Wort ging Caspar durch Mark und Bein. Ihm war, als eröffne sich ihm auf einmal, was dies zu bedeuten habe: Mensch!", Caspar trägt dies dann in sein Tagebuch ein (Wassermann, S. 20 u. 127) Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend Vgl. „Ringsum ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse" (Hölderlin, Brot und Wein, S. 313), „Ich kam so fromm, ein Waisenkind, / das nichts als seine stillen Augen hat, / zu den Leuten der grossen Stadt" (Verlaine, Lied Kaspar Hausers, S. 79, Übers, v. Richard Dehmel), Caspar kam gegen die fünfte Nachmittagsstunde in die Stadt und schlief sofort in einem Stall ein (Wassermann, S. 9) Ich will ein Reiter werden Vgl. Caspar plappert nach: „Ich möcht' ein solcher Reiter werden wie mein Vater" (Wassermann, S. 24} Also sank des Fremdlings Haupt hin Vgl. Caspar als „Fremdling", der sterbende Caspar: „Das ermüdete Haupt bittet um Ruhe" (Wassermann, S. 8 u. 552)

VI. Stellen ohne Quellenangabe Manche Forscher sehen in einzelnen Stellen oder gar in ganzen Gedichten Trakls einen Bezug zu einer bestimmten Quelle, den andere nicht zu erkennen vermögen; je intensiver man sich mit einem Autor oder einem Text beschäftigt, desto mehr Ähnlichkeiten oder Gegensätze wird man naturgemäß in einem anderen Text finden. Wir verzichten auf die Ergebnisse solcher Untersuchungen, wenn sie weder auf dem Nachweis ausreichender Textidentität noch auf einem textexternen Zeugnis für Trakls Beschäftigung mit der vermeintlichen Quelle beruhen. Dabei handelt es sich allenfalls um Überbleibsel einer Lektüre, die unbewußt Eingang in Trakls Texte gefunden haben, oder schlicht um Zufall. Einige Beispiele müssen genügen: Nach Preisendanz57 fänden sich bei Trakl viele Übernahmen von Dichtern des Göttinger Hainbunds: „Ein goldner Kahn / schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel" (Elis}, vgl.: „Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen / Gleitet, wie Schwäne, der wankende Kahn; / Ach, auf der Freude sanftschimmernden Wellen / Gleitet die Seele dahin wie der Kahn" (Friedrich Leopold v. Stolberg, Lied auf den Wassern zu singen); „Endymion taucht aus dem Dunkel alter Eichen" (Abendmuse), vgl.: „Aus Eichendunkel steigt der Mond empor" (Matthisson, Das Kloster); „Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain" (Grodek), vgl.: „Siehe, da wallte Gott im sanften Säuseln / Durch die Stille des Hains" (Matthisson, Laura 's Quelle). 57

Vgl. Wolfgang Preisendanz: Auflösung und Verdinglichung in den Gedichten Georg Trakls. In: Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion. Hrsg. von W. her. München 1966, S. 227-261, hier S. 259f.

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Eberhard Sauermann

Obwohl wir eine Übernahme an jenen Stellen nicht für gegeben halten, ist nicht zu verkennen, daß manche Requisiten präromantischer Lyrik von Trakl oft verwendet werden (Abend, Dorf, Fels, Fischer, Flöte, Frühling, Grab, Hain, Herde, Hirte, Hügel, Hütte, Kahn, Landmann, Liebe, Pfad, purpurn, Quelle, Rohr, silbern, Teich, Weiher); andere hingegen nicht, vor allem Eigennamen wie „Elysium", „Luna", „Philomele" oder „Zephyr"; und von „Göttern" ist fast nur im Frühwerk oder im Sinne von 'Götterstatuen' die Rede. Die präromantische Dichtung habe sich für Trakl im besonderen Maße angeboten, meint Preisendanz, weil sie nicht nur von Schwermut und Klage über die Vergänglichkeit erfüllt sei, sondern in einem besonderen Maß requisitengebunden, d. h. mythologische, bukolisch-arkadische, ossianische, anakreontische und genrehafte Elemente zu Sprachbildem verwebend, „die es einem ganz unmöglich machen, an die Versammlung ihrer Elemente in irgendeiner empirischen Wirklichkeit zu denken"; man könnte hier von einem 'sentimentalen' Bezug zu den Wörtern als solchen reden, von einer Sprachsentimentalität, in der sich Dichten oft nur als ein Nennen des zu Nennenden erweist, der Bezug auf das poetische Wort und den von ihm bezeichneten Vorstellungskomplex das Eigentliche bleibt und jeden Bezug auf die den Wörtern zuzuordnenden Dinge und Sachverhalte verdrängt.58 Diese Faktoren ermöglichten Trakl wohl die Verschmelzung mit dem Wortschatz der Dekadenz, einer anderen Grundlage seines poetischen Kosmos. (Auch das muß im 'Editorischen Bericht' pauschal behandelt werden.) Nach Kemper59 könnte man behaupten, in Trakls Gedicht Geburt (vom Dezember 1913) sei von der 'blauen Blume' die Rede, obgleich sie dort nicht im Wortlaut erscheint: In der berühmten Passage aus dem ersten Kapitel von Novalis' Roman Heinrich von Oft er dingen träume der zum Dichter geborene Held von der 'blauen Blume': Heinrich gelangt in eine „Höhle", die von einem „Strome" durchflossen wird, der „bläuliches Licht" verbreitet; als er diesem Strom, der aus dem Becken in den Felsen hineinfließt, nachschwimmt, erblickt er die blaue Blume: [...] die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. ^

Damit vergleiche man besonders die 3. und 4. Strophe des Trakl-Gedichts (ITA III 416): O, die Geburt des Menschen. Nächtlich rauscht Blaues Wasser im Felsengrund; Seufzend erblickt sein Bild der gefallene Engel, 58 59 60

Ebda, S.260. Vgl. Silvio Vietta, Hans-Georg Kemper: Expressionismus. 5. Aufl. München 1994 (UTB. 362), S. 240ff. Novalis: Schriften. Hrsg. von I. Minor. Jena 1907, Bd. 4, S. 56.

Edition und Funktion von Trakts Quellen

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Erwacht ein Bleiches in dumpfer Stube. Zwei Monde Erglänzen die Augen der steinernen Greisin.

Nicht nur einzelne Motive, sondern der Inhalt, ja sogar der Vorgang des Traums seien in Geburt analog; Novalis' Roman vermöge sogar zu erklären, was dieser Traum mit Geburt zu tun haben kann, wenn auch erst im 6. Kapitel. Die 'blaue Blume' als Symbol für die Vereinigung von Mensch und Natur: bei Trakl sei jedoch der Anspruch dieser Konzeption und ihre Durchführbarkeit widerrufen, der Traum von der Erlösung der Natur und des Menschen durch den Dichter sei endgültig zerstört. Freilich räumt Kemper ein, zu solcher Sinndeutung durch eine relativ große Entfernung vom Wortlaut des Gedichts gelangt zu sein.61 Methlagl62 zieht als Referenzstelle zu Trakls Gedicht An die Melancholie beziehungsweise In ein altes Stammbuch (vom Herbst 1912) eine Passage aus Nietzsches Also sprach Zarathustra heran: Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntniss wird ihm im Mittage stehn.^

Trakl habe sich nicht nur diese Bildsymbolik zu eigen gemacht, um sie dann freilich in ihr Gegenteil zu verkehren, sondern mit seiner nach unten gerichteten Kreis-Ziel-Komposition (endend mit „Neigt sich jährlich tiefer das Haupt") auch das nach oben, auf den „großen Mittag" hin gerichtete Pendant im Zarathustra auf den Kopf gestellt; er habe dessen Trias 'Mittag - Abend - Morgen' in die zweiteilige Gegenbildlichkeit von 'Tag' und 'Abend/Nacht' verkürzt und den bei Nietzsche zum 'Übergang' relativierten 'Untergang' verabsolutiert: Der Nacht werde kein neuer Morgen folgen; die kreisende Bewegung „Wieder kehrt [...]" sei nicht auf den großen Mittag gerichtet, sondern auf die Nacht; die angestrebte Zielgröße sei nicht der Übermensch, sondern dessen Gegenbild, die Melancholie, „Sanftmut der einsamen Seele"; Trakls Gedicht sei ein Widerruf der Weltanschauung Nietzsches und seiner Anhänger (Sonnenmystik, Vitalismus, Kulturoptimismus). Diese Deutung von Trakls Gedicht quasi als Kontrafaktur jener Nietzsche-Passage übersieht jedoch, daß Verfall, Zerstörung, Untergang, Verzweiflung, Melancholie, Trauer, der leidende Mensch signifikante Themen nahezu aller Gedichte Trakls sind, die nach seiner angeblich von Nietzsche-Enthusiasmus erfüllten Jugend entstanden sind. Die gesamte mittlere und späte Lyrik Trakls auf Nietzsche zu beziehen, hieße jedoch, die Kriterien für intertextuelle Bezüge zu verwässern. Methlagls Auffassung, 61 62

63

Vgl. Vietta / Kemper, vgl. Anm. 59, S. 243. Vgl. Walter Methlagl: Georg Trakl: In ein altes Stammbuch. In: Informationen zur Deutschdidaktik 19, 1995, H. 2, S. 120-127, hier S. 126f. Friedrich Nietzsche: Werke. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 6. Abt., Bd. 1. Berlin [u.a.] 1968,5.98.

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Eberhard Sauermann

Trakl habe mit der Eintragung dieses Gedichts in das Stammbuch des germanophilen Tiroler Dichters und Nietzsche-Anhängers Arthur v. Wallpach einen Gegenentwurf zu dessen politischer Weltanschauung unterbreitet Im Zusammenhang vielseitigen kulturellen Gemeinschaftshandelns hat er mit dieser Eintragung eine poetische Einzelhandlung gesetzt, damit sie aus sich heraus ihre Wirkung tue, damit etwas gezeigt sei64

- kann sich weder auf eine Absichtserklärung Trakls noch auf eine Reaktion der Beteiligten (Wallpach, Däubler, Rock, Ficker, Trakl) stützen. Offenbar hat Trakls Eintragung nur jene Wirkung getan, die von einem Akt der Höflichkeit zu erwarten ist, zu dem ein gerade entstandenes, aus dem Gedächtnis zitierbares Gedicht gedient hat. In manchen Stellen sehen wir literarische Topoi, die man nicht auf eine bestimmte Quelle zurückführen sollte, auch wenn man eine ähnliche Stelle bei einem anderen Autor findet: „Die Weide weint" (Die drei Teiche von Hellbrunn), vgl.: „weinende Weide" (Klopstock, Der Frohsinn); „Einen Zug von wilden Rossen / Blitze grelle Wolken treiben" (Der Gewitter abend), vgl.: „Am Himmel aber erblich der Mond, / Er wurde immer trüber; / Gleich schwarzen Rossen jagten an ihm / Die wilden Wolken vorüber" (Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen), „Die Wolken schienen Rosse mir, / Die eilend sich vermengten" (Lenau, Die Haideschenke); „Zwei Rappen springen auf der Wiese" (Zu Abend mein Herz), vgl.: „Zwei schwarze Rößlein weiden / Auf der Wiese, / Sie kehren heim zur Stadt / In muntern Sprüngen" (Mörike, Denk es, o Seele; auch am Schluß von Mozart auf der Reise nach Prag). Bei der Stelle „Eva entstellt von Blut und Wunden" (In Milch und Öde ...) verweisen wir nicht auf „O Haupt voll Blut und Wunden" in Paul Gerhardts Geistlichen Liedern, bei der Stelle „Wie eitel ist alles!" (Psalm I) nicht auf Es ist alles Eitel von Andreas Gryphius: Im ersten Fall läge der Bezug auf eine Sammlung religiöser Lieder näher, im zweiten Fall genügt uns der Bezug zur Bibel (Pred. 12,8). Wie gesagt, entscheiden die beiden Kriterien 'ausreichende Textidentität'65 (quantitative Signifikanz in der Übereinstimmung von Wörtern oder Ähnlichkeit hinsichtlich der Qualität von Motiven) und 'biographisches Zeugnis für eine Beschäftigung mit einem bestimmten Text' darüber, ob wir eine Stelle bei Trakl mit einer Bezugsstelle aus einem fremden Text 'erläutern'.

64 65

Methlagl, vgl. Anm. 62, S. 127. Vgl. Eberhard Sauermann: Zur Datierung von Dichtungen Trakls. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 6, 1987, S. 22-30 (Kriterium 'Vergleich sprachlicher Zeichen'); Hermann Zwerschina: Die Chronologie der Dichtungen Georg Trakls. Innsbruck 1990 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. 41), S. 75f. (Kriterium 'lexikalische/motivliche Verwandtschaft').

Edition und Funktion von Trakls Quellen

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VII. Selbstzitate Selbstzitate finden sich mehr oder weniger deutlich in jedem Gedicht. Für Helian wären folgende Beispiele aus Texten vom Herbst 1912 zu nennen: „In reinen Händen trägt der Landmann Brot und Wein", vgl.: „Des Menschen Hände tragen braune Reben" (Verwandlung); „Schön ist der Mensch [...]", vgl.: „O wie schön ist der sterbende Mensch [...]" (Wo an schwarzen Mauern ...); „Schreie im Schlaf, vgl.: „Nachts schrein im Schlaf sie" (Menschheit); „Im Dunkel der Kastanien", vgl.: „Im Dunkel brauner Kastanien" (Psalm I). Umgekehrt könnte man einen 'Nachhall' des Kaspar Hauser Lieds in einigen Texten Trakls bemerken, z. B. in Auf einem Grabstein [> An Novalis]: „Ruhend unter herbstlichen Bäumen, wer bist du Fremdling? / Am dunklen Munde erfror ihm die Klage [> Vom dunklen Munde nahm ein Gott ihm die Klage] / Da er in seiner Blüte hinsank" (ITAIII 310). Das Gedicht O das Wohnen ..., das nur in einem handschriftlichen Entwurf auf einem Briefumschlag überliefert ist, weist folgende Gemeinsamkeiten mit dem Gedicht Sebastian im Traum auf: „alt", „Blut", „dämmernd", „dunkel", „frierend", „Garten", „Kindlein", „Mitleid", „rinnen", „schwarz", „o" + erweiterte Nominalphrase + mit „da" eingeleiteter temp. Nebensatz; ferner „Abend" - „abends", „Blau" - „blau", „Kühle" „kühl", „Purpur" - „purpurn", „sinnen" - „sinnend". Dabei handelt es sich offenbar um (im selben Zeitraum entstandene) Texte, die Trakl als 'Steinbruch' benützt oder deren Motiv-/Wortmaterial er 'vor Augen' gehabt hat. Selbstzitate werden in der neuen Trakl-Ausgabe nicht verzeichnet; sonst müßte fast jeder Vers auf Gemeinsamkeiten in früheren Texten Trakls zurückgeführt werden, was Aufgabe einer Konkordanz ist. Es ist ohnehin eine CD-ROM-Version unserer TraklAusgabe geplant, und jetzt schon hat der Benutzer durch die chronologische Anordnung der Texte viele Bilder aus 'benachbarten' Texten Trakls vor Augen.

VIII. Magie der Zitate Wie Trakl eigene Satzfragmente und Bilder aus früheren Gedichten als „wandernde Ausdrucksteile" mosaikartig zu neuen Gebilden zusammenfügte, so baute er auch Motive aus dem Werk Rimbauds in seine Verse ein, benützte also „das bizarre Labyrinth dieser Dichtung bedenkenlos als Steinbruch",66 was nach Ansicht Grimms ein gewandeltes Verhältnis zum vorgeformten literarischen Gut voraussetzt, „das nicht mehr Alleinbesitz eines originalen Kunstschöpfers bleibt, sondern gleichberechtigt als Stoff neben anderem Stoff erscheint", worin sich „die Neigung der Moderne zur Mystifikation, zur Maske, zum verhüllenden und doch anspielenden Chiffrieren" manifestiere.67 66

67

Reinhold Grimm: Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud. In: GRM N. F. 9, 1959, H. 3, S. 288-315, hier S. 312f. Ebda.

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Finck, der Trakl in der Nachfolge Verlaines sieht, spricht von „kreativer Imitation": Es gehe um den „progressiven Abbau der rationalen Sprachstruktur", um die „Emanzipation des Vieldeutig-Suggestiven und Klanglichen", was Abweichung von der Norm der Mitteilungssprache und zugleich Protest des 'verfemten Dichters' bedeute.68 Nach Methlagl stelle sich schon lange die Frage, ob die Übernahmen aus Hölderlin oder Rimbaud bewußte Assimilation literarischer Techniken bedeuteten, ob sie Versatzstücke einer mit distanziertem Kunstverstand durchgeführten 'Montage', einer Zitattechnik mit scharfrandig herausgestanzten literarischen Traditionsstücken seien oder ob Trakl die Tradition nicht doch eher über sich hat 'ergehen lassen', was über eine spontane Kombinatorik und ein enormes sprachbildliches 'Gedächtnis' hinaus auch seine totale persönliche Betroffenheit von Sprachverhängnissen plausibel machen würde.69

Die Einschätzung der Werke Hölderlins und Rimbauds als 'Steinbruch' hebe zu einseitig den bewußt-kontrollierenden Aspekt an Trakls Vorgangsweise heraus; nach einer Zeit, in der Trakl eher depersonalisiert als Texter' gesehen worden sei, könne heute von seiner 'Beziehung' zu Hölderlin ohne Rücksicht auf ihre existentielle Dimension kaum mehr gesprochen werden.70 Diese Problematik, die sich durch unsere Erkenntnis von 'Steinbrüchen' bei gleichzeitiger persönlicher Stilisierung verschärft, hat unser Konzept beeinflußt, in der neuen Trakl-Ausgabe Bezüge zu (möglichen) Quellen aufzuzeigen, den Leser in der Deutung der Funktion von Übernahmen jedoch nicht zu bevormunden. Schier schlägt vor, eine solche „Zitatendichtung", die sich aus bewußt eingefügten Übernahmen zusammensetzt, als eigene literarische Form oder Gattung zu betrachten; man habe es bei Trakl mit dem bewußten Versuch zu tun, ein sprachliches Gebäude mit schon vorhandenen Bausteinen zu errichten, „die Sprache Trakls erhält ihre Bedeutung nicht so sehr von Naturgegenständen, Gefühlsregungen und biographischen Erlebnissen als von der Tradition des überlieferten Sprachguts".71 Auch Doppier geht davon aus, daß Trakl seine Erfahrungen mit Bildern und Vorstellungen aus Gedichten anderer verbinde, daß er Kompositionselemente verwende, die aus der Durchdringung der persönlichen Sprache mit einer bestimmten literarischen Überlieferung entstehen: Das bedeute bereits dort, wo man von impressionistischen Gedichten Trakls spricht, eine „Abkehr von der Fingierung sinnlicher Wirklichkeit", „bewußte Literarisierung und Stilisierung des Lebens mit der Absicht, die bürgerliche Existenz durch eine ästhetische zu überbieten".72 68 69

70 71 72

Finck 1995, vgl. Anm. 6, S. 59. Walter Methlagl: "Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns ...". Zur Rezeption Hölderlins im Brenner bis 1915. In: Untersuchungen zum Brenner. Hrsg. von Walter Methlagl [u. a.]. Salzburg 1981, S. 35-69, hier S. 38. Ebda, S. 41 und 38. Schier 1972, vgl. Anm. 53, S. 1061 f. Alfred Doppier: Poetisches Bild als historisches Abbild. In: Ders.: Wirklichkeit im Spiegel der Sprache. Wien 1975, S. 100-132, hier S. 100 (ähnlich jetzt auch in: A. D.: Die Lyrik Georg Trakls. Wien 1992,8.46).

Edition und Funktion von Irakis Quellen

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Trakl hat „die Magie des Wortes in unermüdlichem Ringen erarbeitet".73 Sein bewußtes, logisch-rationales Herstellen der Offenheit zwischen den Positionen in einem Gedicht kann man als 'magisch' bezeichnen.74 Trakl war wohl ein Sprachmagier, der die faszinierende Wirkung 'dunkler' Dichtung zielsicher angestrebt hat. Das Magische an der Person Trakls wie in seinem Werk ist schon zu seinen Lebzeiten erkannt worden: „Trakl hält magisch mystisch die unzusammengehörigsten scheinbar heterogensten Elemente zusammen: in den Gedichten die einzelnen Momente, im Leben die Menschen, den 'Brenner'kreis", „Trakl Zauberer wie Wagner".75 Er gestattete keinen Einblick in seine poetische Werkstatt, wies mit keinem Wort auf seine 'Steinbrüche' hin, sondern umgab sich mit einer Aura des Geheimnisvollen. Seit er die Faszination Pickers und anderer Mitglieder des Brenner-Kieises erfuhr, sah er im Dichten die größte Chance auf Anerkennung und bald schon den einzigen Ausweg aus seinem ständig scheiternden Leben. Anfangs sah sich Trakl auf dem Weg zu einem 'poete maudit', zu einem Dichter also, der in seiner Genialität von der Gesellschaft verkannt und ausgeschlossen wird und seinerseits bürgerliche Werte verachtet - wie es dem großen 'Vorbild' Trakls, Rimbaud, zugeschrieben wird. Aber immer mehr näherte sich Trakl seinem anderen 'Vorbild' an, Hölderlin, dem Seher und umnachteten Opfer, einem 'poeta vates'. Wir wissen, wie das geendet hat: Kurz vor Trakls Selbstmord in der Psychiatrischen Abteilung des Garnisonsspitals in Krakau notiert ein Arzt des Feldspitals 7/14, daß Trakl in Zivil seinen Beruf als Apotheker nicht ausübe, sondern (offenbar nach eigener Angabe) „dichte" - 'dichte' unter Anführungszeichen.

73

74

75

Felix Brunner: Bericht über den Nachlaß Georg Trakls. In: Monatsschrift für Kultur und Politik 2, 1937, H. 2, S. 128-136, hier S. 128. Vgl. Hans-Georg Kempen Georg Trakls Entwürfe. Aspekte zu ihrem Verständnis. Tübingen 1970 (Studien zur dt. Lit. 19), S. 209. Rock 1966, vgl. Anm. 24, S. 230, Tagebuchnotiz zum 18. Jan. 1913; Forschungsinstitut „BrennerArchiv" der Universität Innsbruck, Nachlaß Karl Rock (unveröff.), Tagebuchnotiz zum 4. März 1913.

Sigurd Paul Scheichl

Quellen von Satiren Am Beispiel von Karl Kraus

Ein sterbender Soldat schreiend Hauptmann, hol her das Standgericht! Ich sterb 'für keinen Kaiser nicht! Hauptmann, du bist des Kaisers Wicht! Bin tot ich, salutier ' ich nicht! Wenn ich bei meinem Herren wohn ', ist unter mir des Kaisers Thron,

So stellt den Tod vors Standgericht! Ich sterb ', doch für den Kaiser nicht!

Diese hochpathetischen Verse1 klagen am Beginn von Karl Kraus' Letzter Nacht, dem Epilog zu den Letzten Tagen der Menschheit, das tragische Schicksal vieler Soldaten im Ersten Weltkrieg an; eine weitere 'Quelle' als das generelle Wissen des Satirikers über diesen wird man nicht suchen wollen. Aber manchmal findet einer, der nicht sucht, das, was er nicht sucht, jedoch gerne findet. In einer Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien über den Ersten Weltkrieg war 1 994 eine Postkarte mit dem Titel Der Traum des sterbenden Soldaten, nach einem Aquarell von H. Marussig, zu sehen, die einen auf dem Boden liegenden Soldaten darstellt, dem ein als Geist gezeichneter guter alter Kaiser liebevoll - einen Orden an die Brust heftet,2 während im Hintergrund andere Soldaten mit wehender Fahne angreifen. Offensichtlich ist diese zum üblichen patriotischen Kitsch der Zeit gehörende Karte 'Bezugstext' - auf die Terminologie komme ich am Ende des Aufsatzes zu sprechen - und Anlaß für das Gedicht gewesen. 1

2

Karl Kraus: Schriften. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Bd. 10: Die letzten Tage der Menschheit. Frankfurt a. M. 1986 (suhrkamp taschenbuch. 1320), S. 731. „So ist der Mensch..." 80 Jahre Erster Weltkrieg. 195. Sonderausstellung. Historisches Museum der Stadt Wien. [Katalog.] Hrsg. von Gunter Düriegl [u. a.]. Wien 1994, S. 69, mit Abbildung.

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Sigurd Paul Scheich!

Man versteht die Letzte Nacht nicht gerade anders, wenn man die - vielen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, zumindest denen aus Österreich, mit großer Wahrscheinlichkeit vertraute - Bildquelle kennt. Allerdings wird durch den Fund Kraus' satirische Arbeitsweise deutlicher, denn der Bezug dieser Verse auf eine Vorlage läßt erkennen, daß die Verspassagen des Epilogs der Zitiertechnik der gesamten Tragödie näher stehen, als man angesichts ihrer stärkeren Stilisierung zunächst meinen möchte. Die Verknüpfung sowohl mit den 'Erscheinungen' der vorhergehenden Szene V/55, der letzten vor dem Epilog, wie mit den an das Gedicht anschließenden Passagen der Letzten Nacht erscheint enger, zumal die nach dem Sterbenden Soldaten sprechende Weibliche Gasmaske3 noch deutlicher als Bildzitat (genauer: als Anspielung auf ein Bild) markiert ist, da der Aktausgabe - der Erstausgabe der Tragödie - ein Bild von Frauen mit Gasmasken beigefügt war.4 Das ist nicht unwesentlich, und die Postkarte muß in einem Kommentar zu einer Studienausgabe5 von Kraus' Kriegsdrama vermerkt werden. Abdrucken würde ich sie allenfalls, um den patriotisch-heldischen Ungeist der Zeit - im Wortsinn - vor Augen zu führen; ihre Wiederveröffentlichung als Bezugstext für die zitierten Verse wäre nicht zwingend notwendig. Damit bin ich bei den allgemeinen Gesichtspunkten, auf die ich von diesem Beispiel aus kommen will. Der eine: Das Finden von Bezugstexten ist oft Glückssache, insbesondere, aber nicht nur bei Texten, in die viel Aktualität eingegangen ist; denn manche Bezugstexte kann man schon deshalb nicht suchen, weil man ihr Vorhandensein einfach nicht ahnt. Der Kommentator muß stets offene Augen für solche Funde - und Glück - haben; vieles ist vom Zufall abhängig. Das mag trivial sein, sollte aber doch in Erinnerung gerufen werden; die Möglichkeiten systematischen Suchens darf man nicht überschätzen. Der andere, wichtigere Gesichtspunkt, der an diesem Beispiel erkennbar wird, ist der, daß Quelle nicht gleich Quelle ist. Ein Bezugstext kann einen Text in so hohem Ausmaß konstituieren, daß der edierte Text ohne seine Kenntnis einfach nicht verständlich ist. Der Extremfall einer solchen Beziehung zwischen Text und Bezugstext ist wohl die Parodie. Ein Bezugstext wie die Postkarte mit dem 'Sterbenden Soldaten' ist wahrscheinlich das andere Extrem: Es ist aufschlußreich, von ihr zu wissen, aber man braucht sie nicht unbedingt gesehen zu haben, um den Text zu verstehen. Aus diesem unterschiedlichen Status der 'Quellen' ergeben sich Konsequenzen für die Entscheidung, ob sie in Kommentaren abzudrucken, ob sie bloß zu erwähnen sind oder ob man allenfalls bei Platzmangel sogar auf ihre Erwähnung verzichten kann. Ich werde mich im folgenden ganz auf das Werk von Karl Kraus konzentrieren, bei dem sich dieses Problem der Kenntnis von Bezugstexten auf ganz besondere Weise 3 4 5

Kraus, Letzte Tage, vgl. Anm. l, S. 731 f. Vgl. die Abbildung im Anhang der in Anm. l zitierten Ausgabe, S. 793. Als eine solche kann man Christian Wagenknechts Ausgabe der Schriften von Kraus (vgl. Anm. 1) trotz ihren Ansätzen zu einer kritischen Ausgabe wohl bezeichnen.

Quellen von Satiren

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stellt - allerdings sind die in Hinblick auf ihn angestellten Überlegungen verallgemeinerbar auf Texte mit besonders engem Bezug zur Aktualität, zumal auf satirische Texte aller Art, die sich ja häufig auf vorausgehende Texte beziehen und deren Sprachverhalten kritisieren. Es wird wenige Fälle in der deutschen Literatur geben, in denen der Bezug zu anderen Texten in so hohem Ausmaß werkkonstituierend ist wie bei Kraus. Es ist bekannt, daß die wichtigste Verfahrensweise seiner Satire, die sich vorwiegend gegen die Presse richtet, das (kommentierte oder unkommentierte) Zitieren aus Zeitungen ist. So gut wie jeder Text der Fackel (und damit auch die meisten Szenen der Letzten Tage der Menschheit) geht von Zeitungsartikeln aus, die übrigens fast immer auffindbar sind; oft stehen bei Kraus selbst explizite und implizite Hinweise auf den Erscheinungsort des jeweiligen Bezugstexts. Fehlen solche, ist es zwar fast immer möglich, aber nicht immer ganz einfach, zu ermitteln, in welcher Zeitung nun der genaue Bezugstext einer bestimmten Satire steht. Dazu gleich ein Beispiel: In der Szene 1/23 der Letzten Tage der Menschheit treten Ludwig Ganghofer und Wilhelm II. auf. Bezugstext scheint der Anfang eines (unter anderem) in der Neuen Freien Presse am 8. Juli 1915 gedruckten Feuilletons von Ganghofer zu sein;6 diese Vermutung wurde sofort durch Eckart Früh, den souveränen Kenner aller von Kraus zitierten Bezugstexte, korrigiert: Kraus hat nicht nur die Neue Freie Presse, sondern auch das Neue Wiener Tagblatt, ebenfalls vom 8. Juli 1915, benützt.7 Es ist im übrigen - außer für Detailanalysen der Arbeitsweise des Satirikers - auch ziemlich gleichgültig, in welcher Zeitung der von Kraus herausgegriffene Bezugstext steht, ob ein Faktum aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, das Kraus der von ihm ausdrücklich genannten Arbeiter-Zeitung entnommen hat, zuerst in dieser enthalten war oder ob sie ihrerseits den Artikel eines anderen Blatts nachgedruckt hat.8 Um beim Ganghofer-Beispiel zu bleiben: Der Witz von Kraus' Satire wirkt auch heute noch, aber sie hat ein Element des Unglaubwürdigen, denn Stil wie Inhalte der Presse haben sich wesentlich verändert; das Ganghofer-Feuilleton wäre in heutigen Zeitungen undenkbar. Manches, was authentisch ist, wirkt bei Kraus - heute - überzeichnet. Will man durch einen Kommentar „den Kultur- und Bildungshorizont des Autors beziehungsweise des zeitgenössischen Lesers rekonstruieren",9 den heutigen Leser zum „'Zeitgenossen' des Autors",10 damit Ziel und Verfahrensweise der Satire nachvollziehbar machen, muß man diese Authentizität herausarbeiten, muß die durch den zeitlichen 6 7 8

9

10

Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Ludwig Ganghofer. In: Kraus-Heft 4, 1977, S. 3f. Vgl. Eckart Früh: Hinweis 21. Ludwig Ganghofer. In: Kraus-Heft 6/7, 1978, S. 24f. Vgl. Eckart Früh: Die Arbeiter-Zeitung als Quelle der Letzten Tage der Menschheit. In: Karl Kraus in neuer Sicht. Hrsg. von Sigurd Paul Scheichl und Edward Timms. München 1986, S. 209-234. Daß Frühs kenntnisreicher und gründlicher Aufsatz für ein Verständnis von Kraus' politischer Entwicklung höchst aufschlußreich ist, sei ausdrücklich gesagt. Gunter Martens: Kommentar - Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: editio 7, 1993, S. 36-50, hier: S. 40. Winfried Woesler: Zu den Aufgaben des heutigen Kommentars. In: editio 7, 1993, S. 18-35, hier: S. 20.

280

Sigurd Paul Scheichl

Abstand bedingte 'sekundäre Dunkelheit' des Textes aufhellen,11 muß der heutigen Kraus-Leserin die Chance geben, wenigstens exemplarisch Bezugstexte von Krausschen Satiren kennenzulernen. Daß Kenntnis von Bezugstexten notwendig ist, um dem Satiriker Kraus zu glauben, war auch Regisseuren der Letzten Tage der Menschheit bewußt; sowohl Lindtberg 1964 als auch Hollmann 1980 haben auf je verschiedene Weise, z. B. über Projektionen oder über die Programmhefte, Originaltexte aus der Neuen Freien Presse in ihre Inszenierungen einbezogen. Wenn schon Praktiker des Umgangs mit Literatur solche Konsequenzen aus der Natur des Werkes von Kraus ziehen, muß ein Kommentator um so mehr das Material für einen solchen Umgang mit der Satire von Kraus bereitstellen. Schon bei Kraus selbst steht als Topos immer wieder, daß vieles erfunden wirke, was nur abgeschrieben, zitiert sei; nicht der Satiriker übertreibe, sondern die Realität. Am bekanntesten ist wohl die Stelle aus dem Vorwort des Kriegsdramas: Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.^

Die 'Schalek' - die Figur in den Letzten Tagen der Menschheit — beispielsweise ist in der Tat weniger arg als die Journalistin und Kriegsberichterstatterin Alice Schalek (1874-1956). Um diesen Realitätsbezug der Satire zu glauben, muß man einen der blutrünstigen Schalek-Artikel gelesen haben.13 Die Absicht, die Authentizität der eigenen Satire zu unterstreichen, erklärt wohl auch, warum Kraus so oft Hinweise auf den Erscheinungsort der Bezugstexte für seine Arbeiten gibt. Zudem ist die Verfahrensweise des Satirikers besser zu erkennen, wenn man die Kriterien seines Auswählens beachtet. Manchmal modifiziert die Lektüre eines Bezugstexts auch das inhaltliche Verständnis und läßt, wie das einleitende Beispiel gezeigt haben sollte, Strukturen des Kraus-Textes besser erkennen. Im Rahmen des geplanten Kommentars zu den Schriften von Karl Kraus, der selbständig erscheinen soll, werden also in exemplarischen Fällen Bezugstexte abzudrucken sein und abgedruckt werden.14 Solche Abdrucke haben zwei Funktionen: Einerseits sollen sie zeigen, worauf einzelne Texte Kraus' konkret zielen. Die abzudruckenden Artikel, gewiß oft durch Zusammenfassungen der erwähnten Ereignisse oder durch einen bibliografischen Nachweis für den Forscher ersetzbar, haben direkt kommentierende Funktion, so etwa die Gerichtssaalberichte, die vielen Polemiken in Sittlichkeit und Kriminalität zugrunde liegen. Ein unter diesem Aspekt aufgenommener Text ist 1! 12 13

14

Vgl. Martens 1993, vgl. Anm. 9, S. 39f., in Anschluß an Manfred Fuhrmann. Kraus, Letzte Tage, vgl. Anm. l, S. 9. Vgl. z. B. Alice Schalek: Kriegsbilder aus Tirol. An der Dolomitenfront. (Neue Freie Presse, 8. 9. 1915). In: Kraus-Heft 6/7, 1978, S. 14-22. Aus Gründen der Vereinfachung spreche ich hier nur von Kraus' wichtigster 'Quelle', den Zeitungen; selbstverständlich gibt es bei ihm, allerdings in weit geringerer Zahl, Bezugstexte auch außerhalb der Presse, etwa heute so gut wie nicht mehr rekonstruierbare mündliche Bezugstexte.

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weitgehend der Kommentar. Zusätzlich läßt ein solcher Abdruck von Bezugstexten nachvollziehen, wie der Satiriker mit wörtlichen Zitaten arbeitet, was er aus den Bezugstexten auswählt, was er durch Sperrdruck hervorhebt, usw. Die erwähnten Ganghofer-Feuilletons hätten im Kommentar diese Funktion. Aber gerade sie hätten nicht nur diese Funktion, denn an sich ist es völlig gleichgültig, wann Ganghofer Kaiser Wilhelm II. getroffen und was er wo über diese Begegnung veröffentlicht hat. Viel wichtiger ist, wie er darüber schreibt, wie er den Kaiser heroisiert und wie er dem Krieg eine pseudo-humorvolle Note gibt. Diese Verfahrensweisen sind aber zeittypisch und überindividuell, sind nicht nur bei Ganghofer, sondern auch bei anderen festzustellen. Insofern repräsentieren diese Feuilletons den für uns unglaubhaft gewordenen Stil der Zeitungen der Jahrhundertwende, machen sozusagen den intertextuellen Bezug im allgemeinen erkennbar. Denn Quelle für Kraus ist im Grunde nicht so sehr der einzelne Bezugstext, sondern die deutschsprachige, speziell die Wiener Presse in ihrer Gesamtheit. Die Satire zielt auch zumeist nicht auf den einzelnen Repräsentanten dieser Presse - Ganghofer, Schalek oder andere - , sondern auf die Zeitungen als Ganzes. Es kann sehr wohl Zifferer, ein Feuilletonist der Neuen Freien Presse, zitiert und eigentlich Benedikt, der Chefredakteur des Blattes, gemeint sein. Die Kenntnis vieler Bezugstexte würde Einblick in die von der Kraus'sehen Satire getroffene Welt gewähren. Eigentlich könnte einer Ausgabe von Kraus - als Kommentar und statt eines solchen - das Faksimile einiger Nummern von Wiener Zeitungen beigegeben werden, durchaus auch solcher Ausgaben, auf die sich Kraus mit keiner Zeile bezieht. Damit wäre obendrein der Verwechslung zwischen Stoff und satirischer Intention vorgebeugt. Der utopische Charakter dieses Vorschlags ist mir bewußt... Aber seine Verwirklichung würde die andere Funktion des Abdrucks von Bezugstexten in einem Kommentar zu den Schriften von Karl Kraus optimal erfüllen: Diese 'Quellen' könnten der Leserin eine uns fremd gewordene Sprach weit vergegenwärtigen. Aus praktischen Gründen wird es notwendig sein, die Auswahl der abzudruckenden Bezugstexte so zu treffen, daß die aufgenommenen Ausschnitte aus Zeitungen beide Funktionen in einem erfüllen. Für fast alle satirischen Texte der Fackel ist es möglich, einen Bezugstext (meistens: Bezugstexte) aufzufinden, fast durchwegs in Zeitungen. Auch die Polemiken von Sittlichkeit und Kriminalität beruhen durchwegs auf Prozeßberichten in den Zeitungen; Analysen in juristischen Fachblättern oder gar Prozeßakten mögen zwar die für den Kommentar wichtige Ermittlung der Fakten gestatten; diese sind aber kaum je Bezugstext für Kraus gewesen.15 Angesichts des Umfangs von Kraus' Werk ist es selbstverständlich illusorisch, auch nur eine Liste aller Bezugstexte anzulegen, geschweige denn sie alle abzudrucken. Das 15

Harald Stockhammer, der in Innsbruck an einer juristischen Diplomarbeit über Kraus' Kritik am österreichischen Strafrecht arbeitet, hat zahlreiche Darstellungen der von Kraus behandelten Prozesse in juristischer Spezialliteratur aufgespürt.

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gilt nicht nur für die Fackel, sondern auch fur die Auswahlbände, und sogar, wie gleich zu zeigen sein wird, für viele Einzeltexte. Wie die beiden Funktionen des Abdrucks von Bezugstexten erfüllt werden können, möchte ich am Beispiel der Fahrenden Sänger16 vorführen, zu denen ich unabhängig von dem geplanten Kommentar oder im Vorgriff darauf in der Zeitschrift Kraus-Hefte eine Vorlage herausgegeben habe.17 Diese Satire habe ich gewählt, weil sie gerade kein 'großes Thema' behandelt, über das man besonders umfassende faktische Informationen benötigen würde. Es reicht aus zu wissen, was der Wiener Männergesangverein, eine im Wiener Bildungsbürgertum hochangesehene und musikalisch wohl wirklich bedeutende Vereinigung, gewesen ist, daß er im Frühling 1907 eine Konzertreise in die Vereinigten Staaten unternommen und daß er den Atlantik selbstverständlich mit einem Schiff überquert hat. Zwar stellt Kraus einen Bezug zwischen den Berichten über die Reise des Wiener Chors in die U.S.A. und den gleichzeitigen ersten Reichsratswahlen nach der Einführung des Allgemeinen Wahlrechts in Österreich her (14. Mai 1907) - „Österreichs politische Repräsentanz wird auf sein Schicksal weniger Einfluß haben, als ein Leichenkutscher auf die Unsterblichkeit der Seele."(S. 121) - , aber wichtiger als diese Kontrastierung ist ihm der Hohn auf eine sich in uninteressanten Details verlierende Berichterstattung der Wiener liberalen Zeitungen über die Schiffsreise des Chors. Die Satire erschien zuerst am 22. Mai 1907 in Kraus' Zeitschrift Die Fackel (Nr. 226, S. 1-11) und wurde dann - überarbeitet - in den dritten Band von Kraus' Ausgewählten Schriften, Die chinesische Mauer (1910), aufgenommen, übrigens als ältester Text in diesem Buch.18 Der geplante Kommentar bezieht sich auf die Fassung in den Schriften, die von Kraus nicht nur Jahre nach dem Erscheinen des Facfe/-Textes, sondern vor allem auch in Hinblick auf ein späteres und zum Teil auch räumlich fernes19 Publikum zusammengestellt worden ist. Der Horizont der Leserinnen der Fackel, denen die jeweils aktuellen, zumeist nur wenige Wochen, manchmal nur Tage vor der Fac£e/-Nummer in den Zeitungen erschienen Texte20 noch geläufig waren, war ein anderer als der jener, die die Sammelbände lasen. Kraus rechnete geradezu damit, daß diesen die Bezugstexte aus den Zeitungen nicht mehr vertraut waren - wohl aber die Art, in der die Zeitungen damals geschrieben haben; den seitherigen Wandel im Stil der Presse (der aber die Aktualisierbarkeit von Kraus' Satire keineswegs hemmt) hat Kraus sich nicht vorstellen 16

17 18 19

20

Alle Zitate ohne weitere Angabe nach: Karl Kraus: Fahrende Sänger. In: KK: Schriften. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Bd. 2: Die chinesische Mauer. Frankfurt a. M. 1987 (suhrkamp taschenbuch. 1312), S. 112-121. „Fahrende Sänger". Hrsg. von Sigurd Paul Scheichl. In: Kraus-Heft 62, 1992, S. 1-9. Vgl. den Anhang von Christian Wagenknecht zur Chinesischen Mauer, vgl. Anm. 16, S. 317 Die Auswahlbände von Kraus sind von 1909 bis 1920 in einem Münchener und einem Leipziger Verlag erschienen. In die am 22. Mai 1907 erschienenen Fahrenden Sänger ist noch ein Artikel vom 17. Mai eingearbeitet!

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können. Der Kommentar, der sich auf die vom Autor überarbeiteten und dabei in der Regel bis zu einem gewissen Grad entaktualisierten Schriften bezieht, braucht weniger ins Detail zu gehen als ein Kommentar zur Fackel, der wahrscheinlich immer Desiderat bleiben wird. Wie die Zeitungen geschrieben haben, das muß freilich auch die Leserin der Schriften wissen, damit die Kraus'sehe Satire im Sinne der bisherigen Ausführungen glaubwürdig bleibt. Zunächst waren die Bezugstexte zu ermitteln.21 Es sind erstaunlich viele und vor allem auch erstaunlich lange; die Wiener liberalen Zeitungen müssen mit einem enormen Interesse ihrer Leserinnen an der Amerikareise der angesehenen Persönlichkeiten aus dem eigenen Milieu gerechnet haben. In der Neuen Freien Presse erschien am 6. 5. 1907 (Abendblatt, S. lOf.) ein dreieinhalb Spalten langer Artikel Die Ankunft des Männergesangvereines in Newyork. (Kabeltelegramm der „Neuen Freien Presse".);22 am 7. 5. (Morgenblatt, S. 9) eine kurze Meldung Der Wiener Männergesangverein in Newyork und am selben Tag (Abendblatt, S. 4) relativ kurz Der Wiener Männergesangverein in Washington; weitere kurze Meldungen stehen in dieser Zeitung am 8. 5. (Morgenblatt, S. 8f.), 10. 5. (Morgenblatt, S. 8f.) und 11. 5. (Morgenblatt S. 8f.; Abendblatt, S. 2); in einem mehr als vierspaltigen Bericht Der Wiener Männergesangverein in Milwaukee am 16. 5. (Morgenblatt, S. 4f.) wird, anders als der Titel erwarten läßt, hauptsächlich wieder über die Schiffsreise berichtet, ein Bericht, der am 17. 5. (Morgenblatt, S. 8f.) in mehr als zwei Spalten fortgesetzt wird. Das Neue Wiener Tagblatt berichtet am 5. 5., 6. 5. (sechsspaltig!), 7. 5. bis zum 16. und 17. 5. Die Zeit, das dritte bedeutende liberale Tagblatt, enthält längere Artikel (insgesamt sechs) unter anderem am 5., 6. und 12. Mai. Man müßte alle Berichte kennen, wollte man die Arbeitsweise Kraus' genau darstellen. Doch kann es nicht Aufgabe eines Kommentars sein, alle Materialien für eine solche wissenschaftliche Untersuchung bereitzustellen, und es ist auch keineswegs erforderlich, bei jeder einzelnen Stelle der Satire die Herkunft aus dem jeweiligen Bezugstext nachzuweisen. Ein Abdruck aller Bezugstexte ist - für diesen wie für die meisten Texte von Kraus - schon wegen ihres Umfangs illusorisch. Ein einziger langer Artikel der Neuen Freien Presse, wie der vom 16. Mai,23 nimmt in einem normalen Buchformat bereits acht Seiten ein. Wie also auswählen? Wichtiger als die Kenntnis eines bestimmten Bezugstexts ist die des Texttyps, der durch Kraus' Satire getroffen wird. Daher sollte in einem Idealkommentar einer der längeren Berichte zu diesem 'Ereignis' stehen, wobei ich dazu 21

22

23

Dabei war mir mit großem Engagement Robert Huez als Mitarbeiter des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich finanzierten Projekts „Kommentar zu den Schriften von Karl Kraus" (Mitarbeiterin: Dr. Ulrike Lang) behilflich, in dessen Rahmen auch dieser Beitrag entstanden ist. Aus diesem Artikel stammt z. B. die von Kraus (S. 117) herausgegriffene Werbung für die Firma Jensen & Schwidemoch. Er ist 1992 in den Kraus-Heften wiederveröffentlicht worden, vgl. Anm. 17.

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neige, im Kommentar zu den Fahrenden Sängern nicht den bereits in den Kraus-Heflen wiedergedruckten Bericht, sondern, wenn überhaupt, einen anderen aufzunehmen denn ein wichtiges Kriterium für die Entscheidung, einen bestimmten Bezugstext abzudrucken, ist seine Zugänglichkeit; die Kraus-Hefie stehen aber sicherlich in mehr Bibliotheken als Wiener Zeitungen des Jahrhundertbeginns. Analog dazu ist einer der Gründe, warum ich die eingangs erwähnte Karte im Kommentar eher nicht wieder veröffentlichen werde, ihre Zugänglichkeit durch die Abbildung in einem neuen Ausstellungskatalog. Die Zugänglichkeit allein ist freilich kaum ein taugliches Auswahlkriterium, da bei der derzeitigen Kopiersituation Zeitungstexte ohne Neudruck außerhalb Wiens auf jeden Fall faktisch unzugänglich sind. Die neue Nestroy-Ausgabe, der viel Platz zur Verfügung steht, kann aus der Seltenheit der Vorlagen für Nestroys Stücke die Konsequenz ziehen, Vorlagen gelegentlich zur Gänze abzudrucken.24 Das ist bei Kraus wegen der großen Zahl und der Länge der Bezugstexte unmöglich. Einem Kommentar zu Kraus kommt aber zugute, daß aus Gründen, die ich im weiteren noch darlegen werde, die Bezugstexte zu einer Satire austauschbar mit denen zu anderen Werken von Kraus sind. Nicht in dem Sinn, daß sich viele seiner Texte auf die gleichen Vorlagen bezögen, sondern in dem, daß sie immer wieder auf einige wenige Texttypen zielen. Kennt man die stimmungsgesättigten und detailüberfrachteten Berichte über die Reise des Wiener Männergesangvereins, kann man sich auch vorstellen, wie dieselben oder vergleichbare Journalisten über den Balkankrieg berichtet haben.25 Insofern ist die Auswahl der in einen Kommentar zu Kraus aufzunehmenden Bezugstexte bis zu einem gewissen Grad vom Zufall und von der persönlichen Vorliebe für bestimmte Texte des Satirikers abhängig. Das Kabeltelegramm Der Wiener Männergesangverein in Milwaukee ist so zwar Bezugstext nur zu einer Satire von Kraus, repräsentiert aber die Quelle für viele. Wie soll nun der ausgewählte Text dargeboten werden? Ideal, aber nicht machbar wäre sicher die Faksimilierung. Durch sie würde zum Beispiel sichtbar werden, daß Kraus in seiner Zeitschrift und in seinen Büchern bewußt die Antiqua wählt, während sonst fast überall noch die Fraktur gebräuchlich war. Kraus geht gelegentlich auch auf typografische Details ein. Aber eine solche Faksimilierung, die auch ungeschickte Umbrüche und andere von Kraus als Zeichen für den lockeren Umgang der Presse mit dem Gedanken angeprangerte Mängel der Zeitungen sowie das Zusammenspiel von Text und Annoncen erkennen ließe, ist aus Kostengründen wohl nicht einmal exemplarisch möglich.

24

25

Vgl. z. B. Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Stücke 23/1. Unverhofft. Hrsg. von Jürgen Hein. Wien 1994, S. 275-308. Vgl. auch den in Anm. 33 zitierten Band. Vgl. Karl Kraus: Das ist der Krieg - C'est la guerre - Das ist die Zeitung. In: KK: Schriften. Hrsg. von Christian Wagenknecht. Bd. 4: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. M. 1989 (suhrkamp taschenbuch. 1314), S. 359-388.

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Auf jeden Fall sind die in den Zeitungsartikeln fast immer zu findenden Fehler zu belassen - zu wichtig war für Kraus der Druckfehler als Symptom für die sprachliche Unachtsamkeit der Presse. Auf das 'sie' wird man dabei aus praktischen Gründen kaum verzichten können, obwohl es stört. Da Kraus neben der Typo- auch immer wieder die Orthografie thematisiert, verbietet sich bei ihm auch deren Normalisierung (die mir sonst bei Abdrucken von Bezugstexten im Rahmen eines Kommentars durchaus möglich und sinnvoll erscheint). Die Übereinstimmungen zwischen Text und Bezugstext möchte ich nicht verzeichnen, um die Leserin nicht zu gängeln; sie soll nicht eine schnelle Auswahl aus dem Bezugstext der Satire übernehmen, sondern wie eine Zeitgenossin den ganzen Text kennen, da auch die Satire auf diesen zielt und nicht nur auf die wörtlich übernommenen Einzelheiten. Weder die Leser der Fackel noch die der Ausgewählten Schriften waren in der Lage, die Satire mit dem jeweiligen Bezugstext zu vergleichen und systematisch Kraus' Eingriffe oder Auslassungen festzustellen. Die Untersuchung dieser Übereinstimmungen und Abweichungen ist Sache einer Interpretation und nicht eines Kommentars. Ich darf das etwas aufuhrlicher konkretisieren. In der Neuen Freien Presse vom 16. Mai 1907 hieß es:26 Ein Sonntag auf hoher See verbindet seelischer als jeder andere Moment mit der Heimat. Er löst Gedanken aus, die ganz dem Privatleben gelten, den Erinnerungen des Ruhetages in der Familie, dessen Stunden in Bildern über die ungeheure wolkengraue Wand ziehen, die über dem Meeresspiegel vor unseren Blicken in öde Leere sich erhebt. Erst diese von der Phantasie herbeigezauberten Bilder geben der Szenerie wieder Leben. In dem weiten Kreise, den das Auge aus dem Mittelpunkte überblickt, ein einziges Gebilde von Menschenhand, ein auf dem wogenden tückischen Elemente schwankendes Schiff, das winzige Stück festen Boden zwischen dem Leben von Hunderten und den unerforschten Tiefen des Ozeans! - Doch bisher kamen wir gar nicht zum Bewußtsein einer Gefahr, wir scherzen, singen, spielen, weil wir nach Hunderten in gleicher Lage zählen. Heute aber fühlt sich so mancher vereinsamt, denn er fühlt zum erstenmal die Feme von seinen Lieben, denen der Tag gehört. Alles um ihn ist fremd. Er blickt gegen das graue All, und da ziehen sie vorbei, die Stunden des Familienlebens am Sonntage. [...] Keine anheimelnde Stimme der Gattin, keine hellen Kinderstimmen, kein Lachen und Jubeln, dafür das ernste Rauschen der duchschnittenen Fluten, ein unaufhörliches Stampfen der Maschine, ein dumpfes Rollen der Schraubenachse. Am Ende des Mitteldecks ordnen sich die Sänger, vor ihnen an der Brüstung ersetzt ein Rohrlehnstuhl die Kanzel. Gegenüber am Achterdeck sammelt sich die Reisegesellschaft ohne Rücksicht der Konfession. Heute scheint ein gleiches Bedürfnis alle zu einen, Katholiken, Juden, Protestanten - sie stehen entblößten Hauptes nebeneinander, den Blick zeitweilig nach aufwärts richtend, in den Dom der Welt. - [...] Nach der ersten Strophe der Deutschen Messe besteigt Vereinsmitglied Pfarrer H a i n e r die Kanzel. Er muß sich auf eine kurze Predigt beschränken [...]. Und als wollte der Himmel selbst segnend seine Weihe spenden, ergoß sich ein Sprühregen über uns, über die Sänger, deren herrlicher Chor über die Wogen strich, ungehindert ausschwingend ins Weite, um gegen den Horizont zu verklingen. „Der Friede sei mit euch!" - wie gerne hört man heute diesen Wunsch in Akkorden, hoffend, auch das Meer werde ihn vernehmen. Und Friede zieht wirklich durch die Seele. 26

„Fahrende Sänger", vgl. Anm. 17, S. 4f.

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Sigurd Paul Scheichl Die Hoffnung eilt dem Schiff voraus an das noch ferne Ziel, und alles stimmt in Gedanken in den Schlußchor ein: „Segne, Herr, mich und die Meinen!" Damit war der Pietät der schuldige Tribut gezollt, und Fröhlichkeit gewann wieder die Oberhand. [...]

Kraus hat diese Passage benützt (S. 120): Doch neben dem Vergnügen an der Aufnahme und Widergabe des täglichen Brotes soll auf einem Dampfer die Andacht, die dafür dankt, nicht fehlen, und eine Sonntagspredigt, der die Reisegesellschaft „ohne Rücksicht der Konfession" beiwohnen darf, versetzt die anwesenden Schmücke in gerührte Stimmung. Aber wenn „Friede" durch solche Seelen zieht, wird die Luft nicht besser. Ja man sehnt sich nach den verschlagenen Winden des Humors zurück, wenn einmal die Vertreter der Wiener Presse den Zusammenhang mit dem Weltganzen zu ahnen beginnen, wenn Rezensenten, die nicht wissen, wo Gott wohnt, ihn loben, als ob er der Chormeister selber wäre. [...] Und Gott? Und was ist mit dem Weltganzen? Gott über die Welt, beinah hätten wir vergessen: „In dem weiten Kreise, den das Auge aus dem Mittelpunkte überblickt, ein einziges Gebilde von Menschenhand, ein auf dem wogenden tückischen Elemente schwankendes Schiff, das winzige Stück festen Bodens zwischen dem Leben von Hunderten und den unerforschten Tiefen des Ozeans!" Ein wahres Glück, daß wenigstens die Menukarte erforscht ist und man mit einiger Sicherheit nach Wien berichten kann, daß es heut Rebhendeln gibt...

Wer immer die beiden Passagen miteinander vergleicht, wird erkennen, daß es ziemlich gleichgültig ist, was Kraus wörtlich übernimmt, worauf er nur anspielt und was er ausläßt - wie etwa den eigenwilligen Komparativ: „Ein Sonntag auf hoher See verbindet seelischer als jeder andere Moment mit der Heimat." Wichtig ist, daß man die Berechtigung von Kraus' Satire erkennt, daß man ihm die Behauptung glaubt, „das begleitende Schmocktum habe jeden Rülps auf dieser Banausenfahrt verewigt" (S. 121). Deshalb ist es auch keineswegs notwendig, im Kommentar die Herkunft aller als wörtliche Übernahmen gekennzeichneten Stellen genau nachzuweisen. „ Man ist zu nichts aufgelegt. Viele machen es wie Herr Acker l, legen sich nach dem Frühstück in die Bordstühle und schlafen weiter. " Man wird sich den Namen Ackert merken müssen.

(S. 115)

Der Satz, an den Kraus hier seine Pointe anschließt, scheint nicht in der Neuen Freien Presse zu stehen, die ich genau durchgesehen habe; aber er könnte dort stehen, und für die Leserin der Fahrenden Sänger ist es ganz irrelevant, im Kommentar den Artikel des Neuen Wiener Tagblatts oder der Zeit angegeben zu finden, in dem Herr Ackerl der Nachwelt überliefert wird - so irrelevant wie Ackerls Lebensdaten oder seine Funktion im Männergesangverein, wären sie denn zu ermitteln. Zweifellos ist der Bezugstext, unfreiwillig, als Parodie seiner selbst, noch witziger als die Satire - freilich unter anderem deshalb, weil wir, wenn wir ihn lesen, mindestens indirekt, durch die Schule von Karl Kraus gegangen sind, der ja auch nicht gerade witzlos ist:

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Und es dürfte wohl zum erstenmal der Fall sein, daß jene Herren und Damen, die auf einer Seefahrt ihren Mageninhalt entleeren mußten, in einer Zeitung genannt, wie in einer Liste repräsentativer Persönlichkeiten „u. a. " angeführt werden, „u. a. " war zwar immer ein Brechlaut; aber es scheint vielleicht doch des Guten zu viel getan, wenn auch solche Leistungen der Nachwelt übergeben werden. [...] Wörtlich wird dann, im Tone der Verherrlichung eines Bahnbrechers, gemeldet: „Der erste Seekranke war Herr Sild schon in den ersten Tagen der Reise und laboriert seither noch immer daran. " Folgt wirklich und wahrhaftig die Aufzählung der „Leidensgenossen leichteren Genres", eine Serie speiender Notabilitäten, kotzender Kommerzialräte, vomierender Hoflieferanten.^. 118)27

Aus der Wichtigkeit des Texttyps, die größer ist als die Wichtigkeit der Kenntnis der Auswahl aus dem Bezugstext, ergibt sich, daß Bezugstexte in der Regel als ganze abgedruckt werden sollten, ohne Auslassungen. Das gilt selbstverständlich nicht für die gelegentlich notwendigen Zitate von Einzelstellen, die in einem Kommentar für das Verständnis eines Kraus-Textes gegeben werden müssen. Der Bezugstext ist also bei Kraus der Kommentar. Das könnte auch für andere neuere Autorinnen (insbesondere satirische Autorinnen) gelten. Alles Entscheidende über Anlaß und Ziel der Satire erfährt man aus dem Zeitungstext. Wollte man streng logisch vorgehen, müßte man übrigens den Bezugstext und nicht so sehr den Text von Kraus kommentieren, abgesehen von einzelnen vom Bezugstext unabhängigen Anspielungen, wie denen auf das Allgemeine Wahlrecht, oder im Bezugstext nicht vorkommenden erklärungsbedürftigen Wörtern, wie dem Namen Arion aus der griechischen Mythologie (S. 116) oder dem Austriazismus 'Rebhendeln' (S. 120). Fast alles Wichtige, der Wiener Männergesangverein, das Schwechater Bier (bei Kraus S. 114), das Tarockspiel (S. 113), die Schrammein (S. 116) usw., steht im Zeitungstext. Aus praktischen Gründen werde ich sicher nicht so vorgehen, sondern den Kommentar zu den Fahrenden Sängern wie zu anderen Satiren so aufbauen, daß auf eine allgemeine Situierung des Texts allenfalls der Abdruck eines Bezugstexts folgt, an den sich ein dem Kraus'sehen Text folgender Einzelstellenkommentar anschließt. Die Benützbarkeit hat Vorrang vor der Logik. In diesen Überlegungen ist kaum von 'Quelle', sondern zumeist von 'Bezugstext'28 die Rede gewesen. Ich halte diesen Begriff im Falle Kraus für präziser, zumal unter den 27

28

Vgl. ebda, S. 5. Die Namen Süds und der anderen Seekranken sind in der Neuen Freien Presse (16. 5. 1907, Abendblatt, S. 4) gesperrt. Einer Fußnote, aber nicht einer Erwähnung im Kommentar ist es würdig, daß in der Zeitung von „Leidensgenossen leichteren Grades", nicht „Genres" die Rede ist. Auch in der Fackel Nr. 226, S. 8, steht schon „Genres". Es handelt sich dabei ganz ohne Zweifel um ein Beispiel für den lockeren Umgang Kraus' mit den Vorlagen aus der Zeitung, also um einen 'Textfehler' - oder um einen 'Sachirrtum'? -, aber gerade weil die Stelle diesen lockeren Umgang mit dem Zeitungstext dokumentiert, scheint mir hier eine Emendation ausgeschlossen. Vgl. zum Problem Winfried Woesler: Entstehung und Emendation von Textfehlem. In: editio 5, 1991, S. 5475; Waltraud Hagen: Textfehler oder Sachintum? Ebda, S. 76-81. Den Begriff 'Bezugstext' statt des von mir in meinem Grazer Referat verwendeten 'Prätext' hat Gunter Martens in der Diskussion des Referats vorgeschlagen; seine Diskussionsbeiträge und die

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Editoren über den Begriff 'Quelle' ohnehin nicht gerade Einigkeit besteht. Kraus' 'Quelle' ist nur in seltenen Fällen ein einzelner Text - das wäre etwa der Fall bei seiner Werfelparodie Literatur oder Man wird doch da sehn -, sondern die Gesamtheit der Zeitungen einer bestimmten Epoche, ihr Stil, ihre Art der detaillierten Berichterstattung. Aus dieser 'Quelle' wählt er aus; daß sie in ihrer Gesamtheit in keiner Ausgabe veröffentlicht werden kann, braucht nicht näher begründet zu werden. (Ich glaube allerdings, daß eine seriöse Kraus-Forschung nicht auf das Surfen in dieser Quelle verzichten, daß man nicht genug Wiener Zeitungen der Epoche lesen kann, wenn man Kraus verstehen will. Das ist jedoch ein Problem des Kommentators, nicht eine Aufgabe des Kommentars.) Der - wenig reflektierte - enge Quellenbegriff, den z. B. Wolfgang Kayser vertritt,29 hilft bei Kraus nicht weiter; der Satiriker kam nicht durch Zeitungsartikel zu seinem Stoff, sondern sein Stoff waren die Zeitungen. Brauchbarer für diesen Autor ist die Definition von Wolfgang Babilas: „Eine Quelle ist die von einem Autor bewußt oder unbewußt punktuell aktualisierte praktische und theoretische materia-, Gedanken- und Formen-Tradition."30 Ich würde diese Tradition allerdings auf Artefakte, zumal Texte oder allenfalls noch Sprachgewohnheiten31, einschränken und beispielsweise biografische Erfahrungen ausschließen, um den Begriff nicht uferlos werden zu lassen; Sidonie Nädherny war für Kraus keine 'Quelle'. Der Satiriker bezieht sich auf ein „ganzes Denk- und Vorstellungssystem",32 das selbstverständlich in einem Kommentar nur punktuell vorgeführt werden kann. 'Quelle' ist im Grunde auch das, was Kraus ausläßt; das läßt sich freilich nicht darstellen. Selbst bei Nestroy, auf dessen Vorlagen der Kaysersche 'Quellen'-Begriff im großen und ganzen zutrifft, muß der Begriff 'Quelle' weiter gefaßt werden, kann sich nicht auf das von Nestroy bearbeitete Stück beschränken. Yates hat daraus in seiner Ausgabe von Einen Jux will er sich machen die Konsequenz gezogen, neben der Vorlage auch einen Aufsatz über das damalige Modewort 'klassisch' abzudrucken,33 der zeigt, auf welchen Diskurs sich der Satiriker Nestroy bezieht, wenn er seine Figur Melchior ständig „Das is classisch" sagen läßt. Ob Nestroy die von Yates entdeckte Glosse zu diesem Wort gekannt hat oder nicht, ist dabei völlig irrelevant; sie dient als

29 30

31

32 33

von Hans Zeller und Burghard Dedner sowie andere Referate der Grazer Tagung haben mich zu einigen einschneidenden Veränderungen angeregt - wofür ich sehr dankbar bin. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. 15. Aufl. Bern 1971, S. 56-58. Wolfgang Babilas: Tradition und Interpretation. Gedanken zur philologischen Methode. München 1961 (Langue et parole. 1), S. 28 Andreas Thomasberger hat mich in Graz auf den für die Behandlung solcher 'Sprachgewohnheiten' als 'Quellen' und überhaupt für das Kommentieren von 'Anspielungen' sehr nützlichen Begriff der 'kulturellen Kommunikationseinheit' hingewiesen; vgl. Frithjof Rodi: Anspielungen. Zur Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten. In: Poetica 7, 1975, S. 115-134. Babilas 1961, vgl. Anm. 30, S. 31. Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Stücke 18/1. Einen Jux will er sich machen. Hrsg. von W. E. Yates. Wien 1991, S. 112-115.

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„Belegtext"34 für einen bestimmten Sprachgebrauch, der die 'Quelle' in dem oben angedeuteten weiten Sinn ist. Für meine Arbeit an einem Kraus-Kommentar scheint mir der 'Quelle'-Begriff Babilas' brauchbar, der im Grunde den gesamten zeitgenössischen Diskurs meint. Zugang zu dieser 'Quelle' finde ich durch Belegtexte, die Kraus gekannt haben kann, aber nicht unbedingt gekannt haben muß. Diese Belegtexte halte ich in diesem Fall für so wichtig, daß ich mir vorstellen könnte, einige von ihnen am Beginn eines jeden Bandkommentars ganz unabhängig davon abzudrucken, ob Kraus sie verwertet hat oder nicht; dagegen sprechen nur Platzgründe. Was Kraus aus dem 'Denk- und Vorstellungssystem' im einzelnen auswählt, um es zum Motiv seiner Satire zu machen, bezeichnet man, um Mißverständnisse zu vermeiden, wohl besser als 'Bezugstexte' denn als 'Quellen'. Die Kenntnis der Bezugstexte ist für das Verständnis der jeweiligen Texte, denen sie zugrunde liegen, durchaus relevant, aber zumeist nicht unabdinglich (sieht man von der Notwendigkeit einer gewissen faktischen Information ab, die auch ohne Abdruck des Bezugstexts, oft aufgrund von Informationen anderen Ursprungs, gegeben werden kann). Neben den Bezugstexten gibt es in selteneren Fällen auch bei Kraus Vorlagen und stoffliche Anregungen im Sinne des traditonellen Begriffs von 'Quelle'. Diese Überlegungen zur Terminologie erheben nicht den Anspruch eines Beitrags zur Diskussion um den Begriff 'Quelle', die bislang kaum geführt worden ist.35 Diese Vorüberlegungen zu einem Kraus-Kommentar sollen mir Klarheit über den Status der in diesen aufzunehmenden Texte verschaffen; wenn sie auch für andere, zumal satirische Texte Gültigkeit haben, soll es mir recht sein. Der Abdruck von (ausgewählten) Bezugstexten in einem Kraus-Kommentar rechtfertigt sich dadurch, daß sie den Zugang zur Gesamt-Quelle wenigstens andeutungsweise eröffnen, gleichzeitig auch Belegtexte sind. Ja, der Abdruck solcher Texte ist in einem Kraus-Kommentar unabdinglich, denn damit gewinnt - und das ist eine ganz wesentliche Aufgabe eines solchen Kommentars - Kraus' Satire für die Nachgeborenen ihre Authentizität zurück... Die 'Schalek', den 'Ganghofer' der Letzten Tage der Menschheit, den patriotischen Kitsch des Sterbenden Soldaten hat es wirklich gegeben, und, so unglaubwürdig es ist, die Fahrenden [und nicht nur fahrenden] Sänger auch.

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35

Diesen Begriff übernehme ich von Burghard Dedner: Quellendokumentation und Kommentar zu Büchners Geschichtsdrama Dawfon 's Tod. In: editio 7, 1993, S. 194-210, hier S. 199f. Vgl. die terminologischen Bemühungen Dedners ebda, besonders S. 196f.

Jens Stuben

Zur Edition der von Johannes Schlaf und Arno Holz gemeinsam verfaßten Werke und ihrer Vorlagen Meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Karl Konrad Polheim, zum 70. Geburtstag

I. Die Notwendigkeit einer historisch-kritischen Edition der Gemeinschaftswerke Holz' und Schlafs Die Prosawerke, die als früheste Zeugnisse eines 'konsequenten Naturalismus' in die Geschichte der deutschen Literatur eingingen, waren - zwischen den beiden Verfassern später erbittert umstrittene - Gemeinschaftsleistungen. Diese Arbeiten, Papa Hamlet und andere Erzählungen sowie das Drama Die Familie Selicke, sind bisher nicht kritisch ediert worden, ja nicht einmal in der wissenschaftlichen Ausgabe von Arno Holz' Werken1 zu finden. Immerhin ist die Produktionsgemeinschaft der beiden Dioskuren der naturalistischen Literatur verhältnismäßig gründlich erforscht; hervorzuheben sind die Untersuchungen von Helmut Scheuer,2 Gerhard Schulz,3 Heinz-Georg Brands4 und Dieter Kafitz.5 Sie alle stützten sich auf umfangreiches Quellenmaterial, dennoch wurden nicht sämtliche erhaltenen Dokumente ausgewertet. Besonders die Arbeitsmanuskripte

Von denjenigen Werken des Dichters, die aus der Centenarausgabe (Amo Holz: Werke. Hrsg. von Wilhelm Emrich und Anita Holz. 7 Bände. Neuwied, Berlin-Spandau 1961-1964) ausgeschlossen blieben, vermisse man die Gemeinschaftsarbeiten „besonders", so G. Wunberg in einem kritischen Forschungsbericht, denn ohne sie könne „Holz kaum historisch richtig präsentiert werden". Gotthart Wunberg in Zusammenarbeit mit Rainer Funke: Deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts (18301895). Erster Bericht: 1960-1975. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1980 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe C: Forschungsberichte. 1), S. 143. Vgl. Helmut Scheuer: Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (18831896). Eine biographische Studie. München 1971, bes. S. 99-152. Vgl. Gerhard Schulz: Amo Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens. München 1974, bes. S. 40-64. Vgl. Heinz-Georg Brands: Theorie und Stil des sogenannten 'Konsequenten Naturalismus' von Amo Holz und Johannes Schlaf. Kritische Analyse der Forschungsergebnisse und Versuch einer Neubestimmung. Bonn 1978 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. 277), bes. S. 232-279. Vgl. Dieter Kafitz: Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitärer Denkformen. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur. 120), bes. S. 39-65.

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und Reinschriften in Holz' Nachlaß in der Staatsbibliothek zu Berlin (Preußischer Kulturbesitz)6 sind kaum näher betrachtet worden. Für alle gemeinsam geschriebenen Werke findet man vollständige oder wenigstens nahezu vollständige Manuskripte. Erstmals eines davon untersucht und zur Interpretation, und zwar des Dramas Die Familie Selicke, herangezogen zu haben, ist das Verdienst von Peter Sprengel.7 Er gelangte durch die Sonderung des Schlafschen und des Holzschen Anteils an der überarbeiteten Reinschrift zu wesentlichen, die bisherige Deutung dieses Werkes korrigierenden Einsichten, wie ja Interpretation und Edition stets aufeinander wirken.8 Und er vermochte an diesem Beispiel die Leistungen Holz' und Schlafs, ihren jeweiligen Beitrag zur Eigenart ihres Dramas, differenzierter zu beschreiben. Aber noch hat man bei weitem nicht allen Aufwand betrieben, den eine historischkritische Edition der Werke aus der Gemeinschaftsproduktion Schlaf/Holz aufbieten müßte. So birgt dieses für die Literatur der Moderne so wichtige Kapitel ihrer Geschichte für den Philologen noch Geheimnisse. Nicht nur, daß die Chronologie der Jahre der Zusammenarbeit (1887 bis 1892) weitgehend ungeklärt ist und daß neben den bekannten gemeinsamen Büchern des Autorengespanns, Papa Hamlet,9 Die Familie Selicke,10 Neue Gleise11 und Der geschundne Pegasus12, noch ein weiterer Titel durch die Bibliographien geistert - in einigen Autorenlexika ist auch Schlafs Roman Junge Leute (1890) irrtümlich als Gemeinschaftswerk verzeichnet -; nein, darüber hinaus sind es die erhaltenen Manuskripte, die für Editoren und Interpreten allerlei Fragen aufwerfen, wenn sie sie im Lichte der von den Autoren selbst und der Forschung bisher kontrovers dargestellten Entstehungsgeschichte der Werke betrachten.

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Sämtliche im folgenden erwähnten Handschriften Holz' und Schlafs befinden sich im Holz-Nachlaß (Nr. 14, 15) in der Staatsbibliothek, Berlin, Potsdamer Straße. Ich danke dem Leiter der Handschriftenabteilung dieser Institution, Herrn Dr. Brandis, sowie den Mitarbeiter(inne)n für ihre freundliche Unterstützung. 7 Vgl. Peter Sprengel: Holz & Co. Die Zusammenarbeit von Arno Holz mit Johannes Schlaf und Oskar Jerschke - oder: Die Grenzen der Freiheit. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, H. 121: Arno Holz. München 1994, S. 20-32, bes. S. 24-26. 8 Vgl. Karl Konrad Polheim: Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretation. Bern [u.a.] 1992, Vorwort, S. 6. 9 Vgl. Bjarne P[eter] Holmsen [= Amo Holz und Johannes Schlaf]: Papa Hamlet [Sammlung]. Uebersetzt und mit einer Einleitung versehen von Dr. Bruno Franzius. Leipzig 1889. - Inhalt: Einleitung des Uebersetzers, Papa Hamlet, Der erste Schultag, Ein Tod. 10 Vgl. Arno Holz / Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen. Berlin 1890. (2. Aufl. ebda 1890; 3. und 4. Aufl. ebda 1892.) '' Vgl. Neue Gleise. Gemeinsames von Arno Holz und Johannes Schlaf. In drei Theilen und einem Bande. Berlin 1892. - Inhalt: I. Die papieme Passion [Sammlung]: Vorwort, Die papierne Passion, Krumme Windgasse 20, Die kleine Emmi, Ein Abschied; II. Papa Hamlet [Sammlung]: Vorwort [zu Die Familie Selicke, 1./2. Aufl.], Einleitung des Uebersetzers, Papa Hamlet, Der erste Schultag, Ein Tod; III. Die Familie Selicke: Vorwort [zu Die Familie Selicke, 374. Aufl.], Erster Aufzug, Zweiter Aufzug, Dritter Aufzug, Zum Ausgang. 12 Vgl. Der geschundne Pegasus. Eine Mirlitoniade in Versen von Arno Holz und 100 Bildern von Johannes Schlaf. Berlin 1892.

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Vor allem die Tatsache, daß jeder der beiden Autoren später dem anderen seine Leistung abgestritten und dafür die eigene herausgestellt hat, fordert dazu auf, der Textgeschichte auf die Spur zu kommen, was von geradezu kriminalistischem Reiz ist. Nach Abwägung aller Argumente sowie einer - einstweilen vorläufigen - Sichtung und Würdigung der Textzeugen läßt sich behaupten, daß Holz mit seiner Aussage recht hatte, als er, noch vor dem Streit mit Schlaf, feststellte: „[...] ich meine, diese [unsere] beiden Verdienste hielten sich so ziemlich die Wage! Du hättest die Neuen Gleise nie ohne mich in die Welt gesetzt und ich nie ohne Dich. [...] Unsere Funktionen waren nicht die selben, aber sie waren gleich wichtig."™ Man wird also, soviel scheint sicher, zu dem Ergebnis kommen, beider Beitrag liege bei etwa 50 Prozent. Dies ist keineswegs trivial, nachdem man bisher fast ausnahmslos Holz das Hauptverdienst zusprach und Schlaf nur als Stofflieferanten und als Adepten des Theoretikers und Formkünstlers Holz gelten ließ.14 Einer einläßlichen Untersuchung aufgrund des gesamten vorliegenden Materials bleibt es vorbehalten, jene Hypothese - soweit möglich - zu verifizieren. Doch lassen sich die Arbeitsanteile der beiden Autoren überhaupt eindeutig voneinander scheiden? Man hat dies mit einigem Recht für unmöglich erklärt,15 damit aber auch - so Fritz Martini - für „belanglos".16 Das kann wissenschaftlich nicht befriedigen. Nicht nur für die Editionswissenschaft mit ihrem Interesse an der Genese zumal so epochaler Werke, sondern auch unter stil- und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist es keineswegs einerlei, ob man differenziertere Einblicke in die Koproduktion Holz' und Schlafs zu gewinnen vermag oder nicht. Tatsächlich läßt sich der Wust der Schriftzüge und Korrekturen in den gemeinsam beschriebenen Manuskripten entwirren; die Handschriften der beiden Schreiber können 13

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Das Werk von Amo Holz. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer. Bd. 10: Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten grundlegenden Dokumente. Berlin 1925 [im folgenden zitiert als W 10]. Abschnitt II: Evolution des Dramas, darin: „Johannes Schlaf, ein notgedrungenes Kapitel", S. 306-465, hier S. 307f. (Zitat aus einem Brief an Schlaf). Bereits 1904 schrieb Reno Schickele: „Holz wurde bis heute so ziemlich allgemein als für die Neuen Gleise verantwortlich bezeichnet und danach eingeschätzt, Schlaf bloss so en passant als 'Mitverfasser' erwähnt. Dann ging es in der Darstellung weiter: Holz ... Holz ... Von Schlaf weiter keine Rede mehr." (Reno Schickele: Persönlich. In: Das neue Magazin 73, H. 7, 13.8.1904, S. 204). Ähnlich kann man es immer wieder lesen. Zuletzt meinte Brands 1978, vgl. Anm. 4, allerdings ohne die Handschriften hinzuzuziehen, daß „der Streit um die Vorrangstellung zugunsten Holz['] entschieden worden" sei (S. 280). Dagegen hat Kafitz 1992, vgl. Anm. 5, den Anteil Schlafs gebührend gewürdigt (S. 42f., 237). So bereits - vor der Auseinandersetzung mit Schlaf- Holz selbst: Neue Gleise 1892, vgl. Anm. 11, S. 92f., und W 10, S. 391: „Ich weiß zu gut: Dinge, wie derartige Zusammenarbeiten, sind zu kompliziert, um sie später auseinanderzuwirren." Diese berechtigte Vorsicht hinderte ihn aber nicht, gegen den Mitautor das quantitative Verhältnis ihrer beider Handschriften auf den gemeinsam beschriebenen Manuskriptblättern als ,,unwiderleglich[en]" (W 10, S. 464) Beweis für die Richtigkeit seiner Darstellung der Zusammenarbeit ins Feld zu führen (vgl. Anm. 17). Sprengel 1994, vgl. Anm. 7, spricht mit Recht von der grundsätzlich „gebotenen Skepsis" gegenüber der „Möglichkeit einer Aufrechnung von Arbeitsanteilen aufgrund von Handschriftenbefunden" (S. 24). Fritz Martini: Nachwort. In: Arno Holz und Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen. Stuttgart 1966 (Reclams Universal-Bibliothek. 8987), S. 67-85, hier S. 68.

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unterschieden und zugeordnet werden. Darm jedoch verwirrt sich alles wieder, denn man stellt Überraschendes fest: Nur drei der Manuskripte weisen nennenswerte Partien der Hand von Arno Holz auf. Es sind die Entwürfe zu den Erzählungen Papa Hamlet und Ein Abschied sowie die korrigierte Reinschrift des Dramas Die Familie Selicke. Aber Holz' quantitativer Anteil ist nicht groß - auch wenn er, um Schlafs Leistung herabzusetzen, das Gegenteil behauptet hat.17 Er beträgt bei keinem der drei Manuskripte mehr als etwa ein Viertel. Und nur in einem Fall, Papa Hamlet, stammen nicht nur korrigierte Passagen, sondern bereits Teile der Grundschicht von Holz.18 Einige Niederschriften sind fast gänzlich von Schlafs Hand verfaßt und weisen nur wenige Spuren einer Überarbeitung durch Holz auf, darunter die der Erzählung Die kleine Emmi. Auch dies überrascht, denn beide Autoren haben - bei allen Differenzen übereinstimmend mitgeteilt, daß Holz an diesem ersten Produkt ihrer Zusammenarbeit einen entscheidenden Anteil habe.19 Vor allem in den Manuskripten der Erzählungen Ein Tod und Krumme Windgasse 20 verlieren sich die graphischen Zeichen einer Holzschen Mitarbeit. Selbst der Text, den Holz in die Schlafsche Grundschicht eingearbeitet hat, stammt, wie es scheint, nicht in jedem Fall von ihm. Der Entwurf der Studie Die papierne Passion ist sogar ausschließlich von Schlaf geschrieben. Sollte etwa Johannes Schlaf, der immer erst an zweiter Stelle (und manchmal gar nicht) Genannte, der Produktivere gewesen sein? Hatte nicht, von Holz unbestritten, Schlaf fast alle Stoffe eingebracht und sich auch der Ausarbeitung, wie Holz bekannte, mit größerer Intensität gewidmet? Und wenn sich dann nur wenige Passagen von Holz' Hand finden - worin besteht dessen Beitrag überhaupt? So einfach aber liegen die Dinge nicht. Gerade das einzige Stück, das zweifelsfrei Holz allein beigesteuert hat, Der erste Schultag20 (ursprünglich ein Abschnitt aus dem Fragment eines Erinnerungsromans Goldene Zeiten), liegt ebenfalls in der Handschrift von Schlaf vor und weist nur eine sehr geringe Anzahl von Korrekturen von Holz' Hand auf. Holz hat also diktiert. Das gilt auch für andere Texte und wurde von Schlaf nicht bestritten. Umgekehrt hat Holz zugestanden, daß Schlaf auch völlig selbständig gearbeitet hat. Entscheidend (wenngleich nicht mehr feststellbar) ist, wieweit - was ebenfalls beide berichten - die Entwürfe vor oder während der Niederschrift durchgesprochen wurden. Und ferner: Hat Schlaf die stilistischen Vorgaben seiner Arbeit mitgeprägt, und wie groß ist seine Beteiligung an der Ausformung dessen, was er inhaltlich beitrug?

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Vgl. Holz' Beschreibung der Manuskripte von Papa Hamlet (W 10, S. 396) und Die Familie Selicke (W 10, S. 451, 464); vgl. dazu Sprengel 1994, vgl. Anm. 7, S. 24. Vgl. Ingeborg Stolzenberg: Der Nachlaß des Dichters Arno Holz in der Staatsbibliothek. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 13, 1976, S. 259-263, hier S. 259, dazu die Abbildung einer Seite aus dem Manuskript von Papa Hamlet (Anfang von Abschnitt II), S. 261. Vgl. Holz, W 10, S. 324, 334; Johannes Schlaf: Noch einmal „Arno Holz und ich". Berlin [1902], S. 7-12. Vgl. Holz, W 10, S. 346, 394; Schlaf 1902, vgl. Anm. 19, S. 13.

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Solchen Fragen läßt sich überhaupt nur dann nachgehen, wenn die einander widersprechenden, auch in sich widersprüchlichen Angaben der Autoren mit dem graphischen Befund verglichen werden können. Das erhaltene Textmaterial einschließlich der handschriftlichen Überlieferungsträger ist darum komplett in die Edition einzubeziehen. Sie muß auch die Texte umfassen, die unmittelbar vor und neben der gemeinsamen Arbeit entstanden sind, aber mit ihr in Zusammenhang stehen. Dies trifft zu auf unveröffentlichte Entwürfe wie Holz' Romanfragmente Illusionen und Berliner Zigeuner,,21 womit er bis zur Zusammenarbeit mit dem Freund beschäftigt war,22 und Schlafs Studie Olga, vor allem aber auf die von Schlaf allein verfaßten Vorlagen zu den beiden Hauptwerken des 'konsequenten Naturalismus', Papa Hamlet und Die Familie Selicke. Die Analyse des Produktionsprozesses, besonders des Verhältnisses jener Skizzen zu den Manuskripten beider Werke, kann helfen, das literarhistorisch Neue, das die deutsche Variante des Naturalismus (den sogenannten Sekundenstil) als literarische 'Revolution' konstituierte, sichtbar zu machen.

II. Die Vorlagen zu Papa Hamlet und Die Familie Selicke Die Rede ist von den novellistischen Studien Ein Dachstubenidyll und - schon zur Dramenform tendierend - Die papierne Passion und Eine Mainacht. Diese drei kurzen Erzählungen waren Vorlagen für die genannten wichtigsten, weil künstlerisch fortgeschrittensten Werke des Holz/Schlafschen Naturalismus. Sie stellen, ex post betrachtet, deren Vorstufen dar. Aber sie wurden nicht als Vorstudien im Hinblick auf eine spätere Ausarbeitung geschaffen, sondern sind selbständige, eigenwertige poetische Texte, mehr als bloße Entwürfe, und sie sind von den Werken, denen sie zur Grundlage dienten, so weit verschieden, daß sich von Fassungen kaum sprechen läßt. Man könnte sagen, daß sie von den Autoren als 'Quellen' für ihre eigenen späteren Werke benutzt wurden - würde der Bedeutungsumfang dieses Terminus damit nicht allzu weit ausgedehnt. Der Begriff 'Quelle' ist also hier zu vermeiden. Er kann durch einen der Begriffe ersetzt werden, die Schlaf selbst gebrauchte, indem er von der Mainacht als von dem „Grundstock"23 oder der „Urform"24 des späteren Dramas sprach.

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Vgl. W 10, S. 342, sowie Dorothea Neumeister: Barock und modern. Zur Arno-Holz-Ausstellung der Berliner Staatsbibliothek. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Frankfurter Ausgabe) 35, Nr. 60, 27.7.1979, Beilage: Aus dem Antiquariat, Nr. 7, S. A253-A255, hier S. A254. Dazu meinte seinerzeit bereits Schlaf: „Es wird [...] doch mal etwa von nöten sein: [...] dass Arno Holz etwa, damit man endlich einmal einen wirklichen und tatsächlichen Begriff von seinem damaligen 'neuen Stil' bekommt, seine beiden verunglückten Romane [Goldene Zeiten und Illusionen] einem Kollegium von Sachverständigen vorlegen würde." (Johannes Schlaf: Kritik und Pamphlet. In: Das neue Magazin 73, H. 10, 3.9.1904, S. 288f, hier S. 289.) Schlaf 1902, vgl. Anm. 19, S. 14; Johannes Schlaf: Noch ein Indizienbeweis. In: Das neue Magazin 73, H. 7, 13.8.1904, S. 200-204, hier S. 200; von Holz zitiert: W 10, S. 393. - Holz verwandte fiir Eine Mainacht den Begriff „Skizze" (W 10, S. 398). Schlaf 1904, vgl. Anm. 23, S. 201 f.

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Die Skizze Ein Dachstubenidyll (ursprünglich uch ein Lebenslauf)25, in Motiv und Erzählhaltung die Vorstufe zu Papa Hamlet, ist nur im Druck, allein unter Schlafs Namen, überliefert.26 Diese Veröffentlichung in einer Literaturzeitschrift erfolgte, nachdem das Manuskript „ein paar Jahre auf der Redaktion [...] gelegen" hatte,27 ein Jahr nach dem Erscheinen von Papa Hamlet.2* Daß Schlaf die Skizze nicht zurückzog, spricht dafür, daß er sie als eigenständiges Werk ansah, das seinen Wert behielt, nachdem es als 'Grundstock' der späteren Erzählung ausgedient hatte. Von Eine Mainacht, der Vorstufe vor allem des zweiten Aktes der Familie Selicke mit besonders vielen wörtlichen Übernahmen, existieren ein Entwurf mit Korrekturen und eine Reinschrift, beides ausschließlich von Schlafs Hand; Eine Mainacht blieb ungedruckt. Von der Papiernen Passion, einer Vorstufe des ersten Aktes jenes Dramas, ist ein korrigierter Entwurf, ebenfalls ohne jede Spur einer Beteiligung Holz', erhalten. Er trägt bereits den endgültigen Titel, der von Holz stammt;29 daneben gibt es zwei vom Entwurf abweichende Drucke unter beider Namen. Der zweite dieser Drucke befindet sich in dem gemeinsamen Sammelband Neue Gleise.30 Daß also die Studie zusammen mit dem Drama Die Familie Selicke31 in ein und demselben Band nochmals veröffentlicht wurde, ist ein Indiz dafür, daß die Autoren jene 'Urform' des ersten Aktes als eigenständiges Werk auffaßten. Die Entwurfsfassung der Papiernen Passion ist schon auf den Dialog hin konzipiert, Inquit-Formeln fehlen; sie zeigt aber noch das epische Präteritum. Die Papierne Passion stand somit ursprünglich auf derselben Entwicklungsstufe im Übergang von der Novellen- zur Dramenform wie Eine Mainacht, ja sie kann, Schlafs Erinnerungen entsprechend, durchaus vor der Mainacht niedergeschrieben sein (was von der Forschung, die die Handschriften nicht berücksichtigt hat, bezweifelt wurde).32 Erst in der Druckfassung der Papiernen Passion ist der Weg zum Einakter weiter beschritten, indem dort der Erzählertext im historischen Präsens fast zu Regiebemerkungen zusammengeschrumpft ist. Unterdessen hatten die Autoren die Entwurfsfassung der Papiernen Passion für das Drama Die Familie Selicke sozusagen als 'Quelle' ausgeschöpft, nämlich einzelne Motive und Figuren übernommen. 25 26

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So, laut Holz (W 10, S. 395), im Manuskript. Vgl. Ein Dachstubenidyll. Novellistische Skizze von Johannes Schlaf (Berlin). In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst, 1890, 2. Quartal, H. 5, Mai, S. 637-651. - Schlaf sprach von dieser Vorstudie später als von einer „ersten Fassung" der „Novelle" (Schlaf 1902, vgl. Anm. 19, S. 5; Johannes Schlaf: Mentale Suggestion. Ein letztes Wort in meiner Streitsache mit Arno Holz. Stuttgart [1905], S. 8). - Holz gebrauchte für Ein Dachstubenidyll die Begriffe „Novellenunterlage" und „Urmanuskript" (W 10, S. 348, 394). Johannes Schlaf: Der Indizienbeweis. In: Das neue Magazin 73, H. 6, 6.8.1904, S. 174-180, hier S. 178. Vgl. Anm. 9. Vgl. Schlaf 1905, vgl. Anm. 26, S. 13. Vgl. Die papierne Passion. In: Neue Gleise, vgl. Anm. 11, S. 7-35. - Erstdruck: Die papieme Passion. (Olle Kopelke.) Eine Berliner Studie. Von Arno Holz und Johannes Schlaf. In: Freie Bühne für modernes Leben l, H. 9,2.4.1890, S. 274-288. Vgl. Anm. 11. Vgl. Scheuer 1971, vgl. Anm. 2, S. 145.

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Die Texte aller drei Vorlagen liegen in neueren Drucken vor. Eine Mainacht wurde im Rahmen einer Dissertation publiziert.33 Ein Wiederabdruck des Dachstubenidylls ist leicht zugänglich im Anhang zur Reclam-Ausgabe von Papa Hamlet, besorgt von Fritz Martini.34 Die papierne Passion wurde zweimal wieder abgedruckt: in Walther Killys Anthologie Die deutsche Literatur^ und in dem Reclam-Band Prosa des Naturalismus von Gerhard Schulz.36 Alle diese Editionen verzichten auf Lesarten. Die Orthographie in den Wiederabdrucken ist modernisiert.

III. Der letztlich gemeinsame Ursprung der Schlafschen Vorlagen Stofflich hängen die drei Studien Schlafs zusammen. Sie berühren sich inhaltlich auch mit den (nicht überlieferten) Skizzen zu Kapiteln eines Romans, die Schlaf in die gemeinsame Arbeit einbrachte und denen, so der Autor, Erlebnisse aus seiner Studentenzeit in Halle zugrunde lagen.37 Die daraus entstandenen Erzählungen Die kleine Emmi, Krumme Windgasse 20 (dieser Titel stammt von Holz)38 und Ein Abschied- alle in den Neuen Gleisen enthalten - sind durch das Personal und das Milieu verbunden. Ebenso gibt es Querverbindungen zwischen den Werken, denen die drei Studien als 'Grundstock' dienten: der Erzählung Papa Hamlet und dem Drama Die Familie Selicke. Die Vorstufen dieser beiden Werke sind nämlich letztlich aus einem Ursprung hervorgegangen. Ihre gemeinsame Keimzelle liegt offensichtlich in der Erfahrungswelt des Studenten Schlaf als Untermieter bei Berliner Familien. Der Autor hat selbst mitgeteilt, daß er, bevor er zu Holz nach Niederschönhausen zog, „bei der aus den Neuen Gleisen sattsam bekannten 'Mutter Abendrothen' in Pension" logierte;39 dort schrieb er Ein Dachstubenidyll;w dort bekam er nach eigenem Zeugnis die Anregung 33

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Vgl. Siegwart Berthold: Der sogenannte 'konsequente Naturalismus' von Amo Holz und Johannes Schlaf. Diss. Bonn 1967; Eine Mainacht, Abdruck der Reinschrift: ebda, S. 185-215; Teilabdruck des Entwurfs: ebda, S. 215-226. Vgl. Ein Dachstubenidyll. Novellistische Skizze von Johannes Schlaf. In: Arno Holz und Johannes Schlaf: Papa Hamlet - Ein Tod. Im Anhang: Ein Dachstubenidyll von Johannes Schlaf. Mit einem Nachwort von Fritz Martini. Stuttgart 1963 (Universal-Bibliothek. 8853/54), S. 83-102. Vgl. Arno Holz und Johannes Schlaf: Die papieme Passion. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von Walther Killy. Bd. 7: 20. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse 1880-1933. Hrsg. von W. K. München 1967, S. 132-152. Vgl. Amo Holz und Johannes Schlaf: Die papierne Passion (Olle Kopelke). Eine Berliner Studie. In: Prosa des Naturalismus. Hrsg. von Gerhard Schulz. Stuttgart 1973 (Universal-Bibliothek. 9471), S. 97-122. Vgl. Schlaf 1902, vgl. Anm. 19, S. 6f; Schlaf 1905, vgl. Anm. 26, S. l If. Schlaf 1905, vgl. Anm. 26, S. 12. Johannes Schlaf: Die Freie Bühne und die Entstehung des naturalistischen Dramas. In: Der Greif. Cotta'sche Monatsschrift l, H. 5-7, Febr.-April 1914, S. 403-413, 481-489, 38-49, hier S. 487. Von seinem zweiten Berliner Semester an, dem Sommersemester 1886, wohnte Schlaf in einem „Mansardenzimmer" in der Sophienstraße nahe dem Hackeschen Markt (Schlaf 1902, vgl. Anm. 19, S. 5). Vgl. Schlaf 1902, vgl. Anm. 19, S. 5; Schlaf 1914, vgl. Anm. 39, S. 489.

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zur Papiernen Passion.*1 Davor hatte Schlaf ein Zimmer bei einem Buchhalter und dessen großer Familie42 - ein Buchhalter ist die männliche Hauptfigur sowohl in Schlafs 1886 entstandenem Roman Nicht die Rechte als auch in der Familie Selicke.^ Der Schauplatz der drei Berliner Milieustudien und der beiden daraus entstandenen Werke ist stets eine Wohnung im oberen Stockwerk eines Mietshauses. Ähnlich ist auch die Konfiguration: Im Mittelpunkt steht die resolute Zimmerwirtin. Sie heißt im Dachstubenidyll Frau Wachtel, mit Vornamen Aurora, und - gleichsam spiegelbildlich - Mutter Abendroth'n in der Papiernen Passion. Nicht nur diese Namen, sondern auch das Äußere der Figuren verweist auf deren Verwandtschaft, ebenso deren Verhalten: Die Wirtin beklagt tränenreich den frühen Tod ihrer tugendhaften Lieblingstochter. Diese ist namenlos im Dachstubenidyll und in Papa Hamlet, heißt Mariechen in der Papiernen Passion und im Entwurf der Mainacht, schließlich Linchen in der Reinschrift der Mainacht und in der Familie Selicke. Worte der Mutter Abendroth'n über ihre himmlische Tochter, aus der Handschrift der Papiernen Passion getilgt, tauchen in Papa Hamlet ähnlich wieder auf: „Sie war ein Engel."44 Es gibt also außer den Beziehungen zwischen den Vorlagen und den jeweils aus ihnen entstandenen Werken auch intertextuelle Bezüge über Kreuz. Die Untermieter der Wirtin sind ein schmächtiger, sensibler Bücherwurm (der Kandidat im Dachstubenidyll, der Student Haase in der Papiernen Passion, der Theologiekandidat Wendt in der Familie Selicke) und als Kontrastfigur ein bohemehafter Draufgänger (Müller-Königsberg im Dachstubenidyll, Nissen in Papa Hamlet, Röder in der Papiernen Passion), außerdem in der Papiernen Passion ein 'Fräulein', im Dachstubenidyll und in Papa Hamlet ein Schauspielerehepaar. Und da ist schließlich der Hausfreund Eduard Kopelke, ein Berliner Original. Holz machte den Vorschlag, die Gestalt des „ollen Kopelke" aus der Papiernen Passion in das Drama zu übernehmen,45 wo sie dann ihren Vornamen an die Hauptfigur Eduard Selicke abgab.

IV. Zum Verfahren der Edition Diese Hinweise auf die Beziehungen zwischen den Vorlagen Ein Dachstubenidyll, Die papierne Passion und Eine Mainacht und den aus ihnen hervorgegangenen Werken mögen genügen. Es geht hier nicht um ein interpretierendes Nachzeichnen der Textgeschichte, sondern um editorische Aspekte: Wie sind die handschriftlich und gedruckt

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Schlaf 1905, vgl. Anm. 26, S. 13; Schlaf 1914, vgl. Anm. 39, S. 39. In seinem ersten Berliner Semester, 1885/86, wohnte Schlaf in der Gartenstraße nahe dem Stettiner Bahnhof mit der Familie Tür an Tür (Schlaf 1914, vgl. Anm. 39, S. 484,487). BezUge zwischen dem Roman und dem Drama erblickt Kafitz 1992, vgl. Anm. 5, S. 34. Papa Hamlet 1889, vgl. Anm. 9, S. 61. Vgl. Schlaf 1914, vgl. Anm. 39, S. 43.

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vorliegenden Textzeugen einschließlich der Vorlagen sinnvoll in die Edition einzelner Werke von Arno Holz, die ich vorbereite,46 einzufügen? Der kritische Text der Drucke, sowohl der Vorlagen wie der daraus entstandenen Werke, soll mit einem lemmatisierten Lesartenapparat versehen werden. Textgrundlage bei mehreren Überlieferungsträgern ist jeweils der ästhetisch beste Text. Auszüge aus den Vorlagen werden zusätzlich mitsamt den entsprechenden Passagen der aus ihnen hervorgegangenen Werke, möglichst synoptisch, dargeboten.47 Soweit ein übersichtliches Textbild gewahrt bleibt, können diejenigen Stellen, die in die späteren Werke wörtlich übernommen sind, graphisch hervorgehoben werden. Alle Handschriften werden in Form eines dynamischen (genetischen) Textes mit integralem Apparat präsentiert, das heißt, sämtliche Lesarten erscheinen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bezugstext. Sie sind also in den fortlaufenden Text integriert und als Varianten durch diakritische Zeichen kenntlich gemacht. Gewählt wird das Zeichensystem, das Karl Konrad Polheim entwickelt und vielfach, vor allem bei Prosatexten, angewandt hat.48 Mit Hilfe der spitzen und der geschweiften Klammer, einfach oder verdoppelt oder miteinander kombiniert, lassen sich alle Vorgänge des Entstehungsprozesses darstellen. Hinzufügungen, sekundäre Hinzufügungen (also Hinzufügungen innerhalb von Hinzufügungen), primäre, sekundäre, tertiäre Tilgungen durch Streichung oder Überschreiben, Tilgungen innerhalb von Hinzufügungen, getilgte Hinzufugungen, Umstellungen usw. können auf diese Weise unmittelbar aus der Textedition abgelesen werden. Von der Hand Arno Holz' Geschriebenes - wie erwähnt, handelt es sich vornehmlich um Hinzufügungen und Streichungen - wird durch Fettdruck gekennzeichnet. Anschaulich wiedergegeben wird also die Genese der Texte, soweit sie aus den meist stark korrigierten Handschriften erkennbar ist. Nicht immer ist die relative Chronologie einzelner Änderungen exakt zu bestimmen. Deshalb wird nicht mehr als der Befund dokumentiert, aus dem der Benutzer der Edition selbst seine Schlüsse ziehen kann.

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Vgl. Jens Stuben: Arno Holz - Edition und Interpretation ausgewählter Werke. In: Deutsche Literatur und Sprache im östlichen Europa. Tagung über Forschungen und Forschungsvorhaben. Universität Leipzig 24.11.-26.11.1994. Hrsg. von Carola L. Gottzmann. Leipzig [1995], S. 72-77. Eine synoptische Gegenüberstellung von Auszügen aus Ein Dachstubenidyll und Papa Hamlet bereits bei Werner Bleicker: Formen des Gesprächs im epischen Prosawerk Gerhart Hauptmanns. Diss.Mainzl962, S. 57-61. Vgl. Karl Polheim t und Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des Taugenichts. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. 2 Bände. Tübingen 1989, Bd. 2, S. 277; Karl Konrad Polheim: Interpretation und Textgenese. Eichendorffs Gedichte Götterdämmerung. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 2), S. 124-141; erweiterter Wiederabdruck in: Polheim 1992, vgl. Anm. 8, S. 23-48, bes. S. 23, Anm. 3; Karl Konrad Polheim: Die Tagebücher der Marie von Ebner-Eschenbach und ihre Edition. In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.-5. März 1994, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 1995 (Beihefte zu editio. 7), S. 119-122, hier S. 122, Anm. 3.

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Die Erzählung Papa Hamlet, darauf sei abschließend hingewiesen, hat bekanntlich noch eine weitere, ganz andere Quelle - eine Quelle im eigentlichen Sinne des Begriffs. Es war Arno Holz' Idee, die zahllosen Zitate aus Schlegel/Tiecks Hamlet-Übersetzung in den Text einzuflechten.49 Im Entwurf findet man sogar noch einige Zitate mehr als im Druck. Diese Quellenbezüge im einzelnen nachzuweisen, ist eine Aufgabe des Kommentars beziehungsweise der Interpretation.

49

Schlaf 1905, vgl. Anm. 26, S. 8; Schlaf 1914, vgl. Anm. 39, S. 41.

Andreas Thomas berger

Edition als Grundlage intertextueller Aufmerksamkeit Beispiele aus der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe

Daß literarische Texte mit Anspielungen arbeiten, ist allgemein bekannt. Ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit dafür, wie sie dies tun, mag allerdings dazu fuhren, epochenspezifische Signaturen beschreibbar werden zu lassen. So kann für die Literatur um 1900 gelten, daß verschiedene Prätexte1 negativ angespielt werden. Die Radikalität, mit der dies geschieht, zeigt sich darin, daß die Voraussetzungen implizit ins Bewußtsein gerufen werden, um dann die mit ihnen verbundenen Erwartungen variieren, modifizieren und enttäuschen zu können. Der Text arbeitet also nur in dem Maß affirmativ mit dem Angespielten, in dem er dessen Assoziation negativ nutzt, um sich in seiner Spezifik als Werk zu konstituieren. Die angespielten Prätexte sind dabei nicht auf den Bereich von Literatur und Kunst einzuschränken, sondern können allgemein als „kulturelle Kommunikationseinheiten"2 bezeichnet werden. Mit ihrer Einlösung kann der Text aufgrund ihrer selbstverständlichen Bekanntheit rechnen, wenn anders er nicht eine Selektion des Rezipientenkreises durch die Exklusivität der Anspielung vornimmt. Der Text stellt somit ein negatives Schema dessen dar, was an Bedeutung mit ihm angespielt wird; oder, mit Hofmannsthals Worten aus einem Vortrag von 1905 gesagt, „in jedem Gedichte [spielen] auch die Dinge mit [...], die nicht in ihm vorkommen, indem sie rings um das Ganze ihre Schatten legen (Shakespeares Könige und grosse Herren)"3. Deshalb kann es dem Anspruch einer historisch-kritischen Textedition nicht genügen, nur den Text und seine werkimmanenten Vorstufen zu bieten, sondern sie müßte sich um die Rekonstruktion des Angespielten bemühen, wenn sie die Grundlagen erarbeiten und darbieten wollte, von denen aus das Werk als Ganzes interpretierbar würde - mit Hofmannsthals Bild formuliert: Sie müßte der Dinge habhaft werden, die „rings um das Ganze ihre Schatten legen". Daß diese Forderung Probleme mit sich bringt, liegt auf der Hand: wie sollte auch nur der Anspruch erhoben werden können, Der Begriff Prätext' wird im Sinne der Diskussion über Intertextualität als 'vorausgegangener Text' benutzt. Vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 35), S. 11-20. Frithjof Rodi: Anspielungen. Zur Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten. In: Poetica VII, 1975, Heft 2, S. 115-134, hier S. 120. Hugo von Hofrnannsthal: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I, 1891-1913. Hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979, S. 37.

302

Andreas Thomas berger

alles das zu rekonstruieren, was ein Text anspielt? Will die Edition Grundlagen bieten, die Verhältnisse, in denen ein Text sich bewegt, in die Aufmerksamkeit zu rücken, muß sie wohl bescheidener vorgehen. Nicht die komplizierte Anspielung, zu deren Annahme es einer Reihe von interpretatorischen Argumenten bedarf, wird dokumentiert werden können. Das Gebiet der Edition werden die Verhältnisse sein, die sich positiv belegen lassen: das Zitat, die Bearbeitung, die Nachdichtung oder die Übersetzung. Der Verlust an interpretatorischer Komplexität, der mit der Reduktion auf nachweisbare Prätexte verbunden ist, wird bei entsprechender Überlieferungslage aufgewogen durch die Chance, den Weg der sprachlichen Gestaltung vom Prätext zum Text nachzeichnen zu können. Mit den Einsichten, die mittels der Übereinstimmungen und Differenzen zu gewinnen sind, kann die Bedeutung des Textes, gerade mit Einbezug seines Verhältnisses zum Prätext, konkreter, d. h. sprachlich begründet erarbeitet werden. An einigen Beispielen aus Hofmannsthals lyrischem Werk möchte ich nun Probleme nennen, die die Texte mit sich bringen, wenn ihr Prätextbezug editorisch dargestellt werden soll. Ich unterscheide hier nach der Konkretheit des Bezugs die 'Anlehnung' von der 'Bearbeitung' und der 'Nachdichtung'. Alle diese Verhältnisse treten in Hofmannsthals Werk in auffallender Dichte seit dem Jahr 1899 auf, aus dem auch die Beispiele hauptsächlich gewählt sind. So übernimmt der Autor in das im Juli 1899 geschriebene Gedicht Großmutter und Enkel4 eine Reihe von Elementen aus Goethes An den Mond: das Metrum, die Reimform, Reimpaare und einige prägnante Wendungen. Die Geschichte des Hofmannsthalschen Textes zeigt, daß es gerade diese Wendungen waren, die für die autorisierte Ausgabe der Gesammelten Gedichte (1907) geändert wurden. Die Kritische Ausgabe weist auf diese Bezüge und ihre Entwicklung im Text hin, ohne dieses Verhältnis und die Entwicklung allerdings zu deuten. Neben dem komplexen, über Jahre zu keinem Abschluß gelangten Versuch, ein „Analogon zu dem köstlichen leicht-schweren Element hervorzubringen, woraus Miltons Allegro und Penseroso gemacht sind"5, sei hier auch die Anlehnung an einen Text mit der Überschrift Vox et praeterea nihil6 genannt, die Hofmannsthal im Juli 1912 vornahm. Hier wird deutlich, daß die historische Gestalt und der Kontext des Prätextes von Bedeutung sind, denn Hofmannsthal hätte diesen Text wahrscheinlich nie wahrgenommen und zum Ausgangspunkt eines eigenen Textes gemacht, wenn er nicht irrtümlich Keats zugeschrieben gewesen wäre. Es ist somit hier Aufgabe der Edition, den Prätext zu dokumentieren unter Hinweis auf das produktive Mißverständnis, das zum Bezug auf ihn führte, wie auch unter Darstellung des später geklärten Sachverhalts.

4

5 6

Hugo von Hofrnannsthal: Sämtliche Werke I. Gedichte l. Hrsg. v. Eugene Weber. Frankfurt a. M. 1984, S. 91 f. (Weiterhin wird die Kritische Ausgabe zitiert: SW römische Band-, arabische Seitenund Zeilenziffer.) SW II464, 7-9. S WII 183 und 476-478.

Edition als Grundlage intertextueller Aufmerksamkeit

303

Ein weitaus engeres Verhältnis zwischen Texten und Prätexten liegt mit Hofmannsthals 'Bearbeitungen' von Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn1 vor. Diese entstanden wieder im Sommer 1899, und zwar in größter räumlicher Nähe zum Prätext: Hofmannsthal hat einige von ihnen in sein Wunderhorn-Exemplar hineingeschrieben. Dem entspricht die textliche Nähe: Hofmannsthals Verse variieren die Wunderhorn-Verse zum Teil nur geringfügig. Hier bietet die Edition den Prätext jeweils vollständig und damit die Grundlage, das Verhältnis zwischen ihm und dem Text untersuchen zu können. Der komplexeste und zugleich am konkretesten nachvollziehbare Fall liegt mit der 'Nachdichtung' vor. Hofmannsthal hat zwischen 1899 und 1912 Gedichte von Browning, Coleridge und Keats8 zur Grundlage von Versen genommen, die zunächst den Versuch einer Übersetzung darstellen, im Lauf der Textgeschichte aber immer deutlicher die Problematik der Übersetzbarkeit zeigen. Hier kann die Edition nicht nur den singulären Prätext wiedergeben, sondern mit den Varianten der Textfassungen auch den Weg darstellen, den der Text nimmt. Auf dieser Grundlage sind dem Interpreten minutiöse Einblicke in die sprachliche Arbeit möglich, die es erlauben, Erkenntnisse zu erarbeiten, die den Text auch im Verhältnis zu seinen Prätexten begreifen lassen.9 Gegenüber diesen gut darstellbaren, auf einen Prätext bezogenen Verhältnissen bietet das Problem der Gattungsreferenz der Edition größere Schwierigkeiten. Welche Norm sollte die Edition nennen, um die Abweichung von ihr zeigen zu können? Es muß wohl dem Interpreten überlassen bleiben, beispielsweise die dreizeiligen Strophen, in denen ein Gedicht wie Weltgeheimnis10 geschrieben ist, in Relation zu Terzinen zu setzen. Dann wäre die Frage zu erörtern, welche Bedeutung der Unverbundenheit der Strophen bei Hofmannsthal zukommt gegenüber der durch die Gattungsreferenz nahegelegten Kontinuität.11 Editorisch scheint mir eine solche Referenz nicht darstellbar, allenfalls mit einem Hinweis nennbar. Demgegenüber möchte ich mit meinem Hauptbeispiel eine Reihe von Möglichkeiten für die Edition, das Verhältnis von Text und Prätext darzustellen, erörtern. Es handelt sich um die Fragmente einer freien Bearbeitung von Das Leben ein Traum, die zuerst 1910 in einer Tageszeitung, dann, in verbesserter Fassung, 1918 in einer Auswahlausgabe erschienen. Mit der ersten Veröffentlichung stellte der Autor den Text der Fragmente in einen Bezug zum Prätext, wenn er in einer „Vorbemerkung" schrieb: „Die 7

SW I 94, 382f.; Das Wort I 95, 386f.; Kindergebet I 96, 389f.; II 145, 432f; II 145, 432f. 8 Browning: SW I 99, 397f; Coleridge: Verwandlung I 103, 41 If.; Aufschrift für eine Standuhr II 159, 450f.; Keats: [Keats Fragment] II 184, 476f.; ps. Keats: Vox et praeterea nihil II 183, 476f. 9 Vgl. das Kapitel „Zeit und Vergänglichkeit" in: Andreas Thomasberger: Verwandlungen in Hofmannsthals Lyrik. Zur sprachlichen Bedeutung von Genese und Gestalt. Tübingen 1994 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. 70), S. 219-231. 10 SW 143. 1 ' Vgl. meine Interpretation in: Thomasberger 1994, vgl. Anm. 9, S. 157-172.

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Andreas Thomasberger

Wiederaufnahme der Calderonschen Tragödie im Burgtheater gibt den Anlaß, diese Fragmente an den Tag zu bringen."12 Der Prätext wird als notwendiger Bestandteil der bedeutungskonstituierenden Momente des Werkes vorausgesetzt und einbezogen; darauf deutet schon der Titel und der Untertitel, mehr aber noch die Vorbemerkung hin, die im Weiteren auf das Verhältnis der Fragmente zu der „Calderonschen Tragödie" eingeht: Es war der Versuch gemacht, alle Nebenfiguren, die bei Calderon in einem ziemlich losen Zusammenhang stehen, untereinander und mit dem Schicksal Sigismunds eng zu verknüpfen und dem ganzen einen starken pragmatischen Zusammenhang zu geben.13

Dies führte dazu, in den Fragmenten alle Nebenfiguren wegzulassen, das Geschehen um Sigismund zu zentrieren und insbesondere jeden Wechsel des Schauplatzes zu vermeiden. Während bei Calderon die Szene zwischen dem Platz vor dem turmartigen Gefängnis Sigismunds und den Räumen des Königsschlosses wechselt, spielen die Fragmente Hofmannsthals ausschließlich vor dem Turm. Der entscheidende Aufenthalt der Hauptfigur am Hof wird nicht vorgeführt, so daß für die Rezipienten wie für Sigismund die Frage, ob er diesen Aufenthalt geträumt habe oder sich an etwas Reales erinnere, nicht durch einen realen Szenenwechsel geklärt ist. Diese Aussparung der Mitte des Stückes gelingt den Fragmenten allerdings nur, weil sie die Spannung nutzen, die zwischen dem in ihnen gestalteten Geschehen, das überwiegend ein Gesprächsgeschehen ist, und dem aus dem Calderonschen Stück bekannten Handlungsverlauf liegt. Sie erreichen damit eine konsequente Konzentration auf „Sigismunds symbolisches Geschick" als dem „Hauptthema"14, immer im Bewußtsein des Prätextes, der den Horizont für die derart pointierte Thematik abgibt. Ganz äußerlich betrachtet reduziert Hofmannsthal den Umfang des ersten Aktes um mehr als zwei Drittel der Verse, der 2. Akt wird von etwa 1280 Versen auf 76 gekürzt und von dem letzten Akt bleibt nur ein Viertel des Umfangs übrig. Bestünde das Überlieferte nur aus dem Text der Fragmente, wäre also eine Edition vorstellbar, die dem Text der „Calderonschen Tragödie", so wie er im Burgtheater inszeniert wurde, den Text der Fragmente gegenüberstellte. Das Weggelassene, das Übereinstimmende und das Hinzugekommene könnten durch eine solche synoptische Darstellung sichtbar und der Interpretation angeboten werden. So einfach ist aber die Überlieferungslage des Hofmannsthalschen Textes nicht. Die Leser im Mai 1910 konnte bereits irritiert haben, daß ihnen Fragmente aus dem ersten, zweiten und aus dem vierten Aufzug vorgelegt wurden. Das ihnen bekannte Stück Calderons hatte aber nur drei Akte. Diese Unstimmigkeit erklärt sich, wenn der Bezug Hofmannsthals auf eine Fassung erkennbar wird, die ich als 'internen Prätext'15 bezeichnen möchte. Hofmannsthal hatte bereits im Herbst 1901 das Calderonsche 12 13 14

15

SW XV 165, 8f. SW XV 165, 9-12. S W XV 165, 16f. Die Formulierung 'interner Prätext' soll nur im Rahmen des Konzepts der Intertextualität gelten. Im Zusammenhang des editorischen Textbegriffs gilt der Terminus 'Fassung'.

Edition als Grundlage intertextueller Aufmerksamkeit

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Schauspiel für eine Aufführung bearbeitet, die allerdings nicht zustande kam. Diese Fassung weist durchaus die später gestrichenen 'Nebenfiguren' auf und insbesondere auch den Schauplatz des Schlosses. Hofmannsthal hat bei seiner Bearbeitung die Akteinteilung so verändert, daß den Geschehnissen am Königshof eigens ein dritter Akt gewidmet ist und die Gespräche nach der Rückkehr in das Gefängnis im nun neuen 4. Akt stattfinden. Seine Fragmente einer freien Bearbeitung konnten sich somit auf die eigene Bearbeitung von 1901 beziehen, die Akte l, 2 und 4 konzentriert gestalten und den 3. Akt weglassen, um damit die radikale Einheit des Ortes zu erreichen und das entscheidende Geschehen in der prekären Schwebe von Erinnerung oder Einbildung zu halten. Wir hätten somit den Bezug von drei Texten bzw. Fassungen aufeinander: den Prätext Calderons, und zwar in der von Goethe angeregten Übersetzung durch Johann Diederich Gries (Hofmannsthal benutzte die dritte Ausgabe von 1862), aber auch mit Hinzuziehung des spanischen Textes, die umfangreiche Bearbeitung aus dem Jahr 1901 und schließlich die 1910 veröffentlichten Fragmente. Die Geschichte des Hofmannsthalschen Textes ließe sich demnach womöglich darstellen, indem man die Gries'sehe Calderonübersetzung, die vieraktige Bearbeitung und die Fragmente nebeneinander setzte und derart die Möglichkeit eines synoptischen Vergleichs eröffnete. Doch auch damit wäre die Geschichte des überlieferten Textes nicht vollständig dargestellt. Zwischen 1902 und 1904 notierte Hofmannsthal eine Vielzahl von Gedanken und Bildern zu den einzelnen Akten: Insgesamt lassen sich 60 Notizen unterscheiden. In ihnen wird die Auseinandersetzung mit dem Text weitergeführt und werden Vorstellungen der künftigen Gestaltung entworfen, die teilweise weit über die Fragmente hinaus- und kontinuierlich in die Arbeit an den Fassungen des Dramas Der Turm übergehen. Diese Notizen sind also Bestandteil der Textgeschichte und dürfen nicht von der editorischen Darstellung übergangen werden. Der vorliegende Band der Kritischen Ausgabe, Dramen 13, bietet die Texte, seinen Editionsprinzipien gemäß, getrennt in einen edierten Text und Varianten. Da der edierte Text „grundsätzlich in der Gestalt geboten werden soll, die er bei Abschluß des genetischen Prozesses erreicht hat"16, wurde zu seiner Grundlage der Druck aus dem Jahr 1918 gewählt, der gegenüber der Veröffentlichung von 1910 noch „Einfügungen, Streichungen und Korrekturen" aufnahm, die der Autor in seinem „Handexemplar" vorgenommen hatte; mit dieser Fassung „ist die Genese des Fragments" abgeschlossen17; ihr gegenüber, als dem edierten Text, erscheinen die Bearbeitung von 1901 und die Notizen von 1902-1904 als Varianten. Der Prätext, die Calderon-Übersetzung von Gries, wird in den „Erläuterungen" mit der Bearbeitung verglichen, teilweise unter Hinweis auf Abweichungen, teilweise mittels längerer Zitate aus der Übersetzung. Es bleibt am Schluß die Frage nach Modellen der editorischen Darbietung, die der Aufmerksamkeit auf die intertextuellen Verhältnisse angemessen entgegenkämen. Gegenüber einer Trennung von einerseits ediertem Text und andererseits Hinweisen auf den 16 17

SW XV 342, Editionsprinzipien, Grundsätze des Textteils. SW XV 176, 24-26.

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Andreas Thomasberger

Prätext in den „Erläuterungen" scheint eine synoptisch erfaßbare Nebeneinanderstellung von Vorlage und Bearbeitung sich anzubieten, gilt doch für dieses Verhältnis, daß ,,[e]ine solche Bearbeitung [...] methodisch nur nachvollzogen und der Intentionswandel nur dann ganz verständlich werden [kann], wenn die Konfrontation beider Texte einen Vergleich möglich macht"18. Weist die Textgeschichte allerdings eine größere Anzahl von Fassungen, über Prätext und Bearbeitung hinaus, auf, dann wird der Rahmen des synoptisch Darstellbaren überschritten, und dieses Modell muß erweitert werden. So ließe sich für das beschriebene Beispiel des Textes von Das Leben ein Traum die Konfrontation der Griesschen Calderon-Übersetzung mit Hofmannsthals Bearbeitung von 1901 denken, danach die Notizen aus den Jahren 1902-1904 und schließlich der Text der Fragmente einer freien Bearbeitung, so wie er der Öffentlichkeit vorgelegt wurde. Damit würden der Prätextbezug, aber auch die Textentwicklung und die Eigenständigkeit der Fassungen sichtbar; mit Hofmannsthals Vorrede gesagt: „Dies alles sollte sich gleichsam symphonisch zusammenschließen"19, und zwar in den einzelnen Fassungen vor dem Horizont des Ganzen, und das bedeutet zugleich, daß das Angespielte nicht gegenständlich neben dem Text liegend, sondern als „um das Ganze [seine] Schatten [legend]", mit Bezug auf den Text, aber von ihm nicht ausgesprochen, erkennbar würde. Wenigstens als regulative Forderung an Modelle der editorischen Darstellung dieses Verhältnisses von Konstitution und Differenz möchte ich abschließend daran erinnern, daß der textliche Bezug nicht nur als einer zwischen Dingen, sondern als die Bewegung der Sprache zwischen Frage und Antwort begriffen werden sollte.

18

19

Klaus Gerlach: Zu Problemen der Edition von Bearbeitungen und Übersetzungen. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 106. SWXV165, 15f.

Elinor Waldmann

Probleme der Quellendokumentation bei Frank Wedekinds Bismarck

I.

Die Klärung des Verhältnisses von Text und Quellen ist die zentrale Voraussetzung für die formale und inhaltliche Interpretation von Frank Wedekinds Bismarck^ Dies scheint umso mehr geboten, als eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Drama noch aussteht. Wedekinds Bismarck entstand, unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs, zwischen August 1914 und Oktober 1915. In acht Bildern zeichnet der Autor Bismarcks Diplomatie der Jahre 1863 bis 1866 nach, in denen Preußen mit Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland kämpfte. Die Technik der Montage, die sich in Wedekinds früheren Stücken bereits nachweisen läßt, wird in Bismarck zum dominanten dramatischen Gestaltungsprinzip. Das Drama konstituiert sich fast gänzlich aus unterschiedlich bearbeiteten Versatzstücken der populären Bismarck-Literatur: aus historiographischen Werken, Memoiren und Briefveröffentlichungen von Zeitzeugen. Die historische Faktentreue des Dramas wurde von der zeitgenössischen Kritik negativ vermerkt. Bisweilen erkannten Rezensenten auch Rekurse Wedekinds auf bekannte Quellen. Paradigmatisch hierfür ist die ironische Bemerkung Siegfried Jacobsohns von 1916, Wedekind habe „aus Bismarcks Gedanken und Erinnerungen ein historisches Drama exzerpiert"2. Der Untertitel des Dramas, „Historisches Schauspiel in fünf Akten", erzeugte bei den zeitgenössischen Rezipienten einen Erwartungshorizont, der sich am klassischen historischen Schauspiel orientierte. Wie Brian Barton in seinem geschichtlichen Abriß zum dokumentarischen Theater 1987 hervorhebt, galt die faktische Genauigkeit der Darstellung nicht als Kriterium für das traditionelle Geschichtsdrama. Hingegen wurden „Verfälschungen historischer Tatsachen, die in vielen historischen Dramen der

1 2

Vgl. Frank Wedekind: Bismarck. Historisches Schauspiel in fünf Akten. München 1916. [Siegfried Jacobsohn, ohne Titel] in: Die Schaubühne 12, 1916, Bd.l, S. 168.

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Elinor Waldmann

Klassik zu finden sind [...] nicht nur toleriert, sondern [...] wegen des dadurch offenbarten 'Schöpfungsgeistes' des Dichters bewundert"3. Gemessen an dem zum Vorbild erhobenen historischen Schauspiel der Deutschen Klassik, konnte das produktionsästhetische Verfahren Wedekinds keine Würdigung erfahren. Im Gegenteil - es bestärkte die Kritiker in ihrem Urteil, die Schaffenskraft des Autors habe im Alter nachgelassen. Die neuere Forschung perpetuiert die weitgehend pejorative zeitgenössische Einschätzung des Bismarck. Das historische Schauspiel wird als deutsch-nationales Zugeständnis und affirmativer Beitrag Wedekinds zum 100. Geburtsjahr Bismarcks gedeutet. Eine formale Analyse des Dramas steht bislang aus. Ungeklärt ist etwa, in welcher Weise sich Bismarck vom traditionellen Geschichtsdrama abhebt und inwieweit es als Vorläufer des Dokumentartheaters gelten kann. Das Montage-Verfahren macht Wedekinds historisches Schauspiel zu einem Sonderfall der Editionsphilologie. Die Quellenkenntnis ist hier notwendige Voraussetzung zur Erschließung des Dramas. Die Edition des Bismarck im Rahmen der Darmstädter Kritischen Studienausgabe von Wedekinds Gesamtwerk wird in ihrem Kommentar der Bedeutung der Quellen für das Drama Rechnung tragen. Da die Quellen zu Bismarck heute nicht mehr allgemein bekannt und mitunter schwer zugänglich sind, werden sie im „Bericht" vorgestellt und in der „Quellendokumentation" ausführlich in ihrem Bezug zum Text präsentiert. Durch diese Zweiteilung und die „Erläuterungen" wird die Grundlage für die inhaltliche und die formale Erschließung des Werkes geschaffen.

II.

Der „Bericht" gibt Auskunft über die Quellenlage. Er stellt die Quellen systematisch vor und beschreibt sie. Die Beschreibung der Quellen orientiert sich an ihrer qualitativen und quantitativen Verarbeitung im Dramentext: Es wird zu klären sein, ob der Autor der Quelle Zitate, Stoffe, Motive, Figuren und Namen entnahm und in welchem Umfang er sie nutzte. Es werden auch Termini zu definieren sein, die den Nutzungsoder Bearbeitungsgrad der Quelle beschreiben. Darüber hinaus erhält der Leser im „Bericht" Informationen über die Textsorte, über den Autor und die Entstehungszeit der Quelle. Dabei wird auch zu fragen sein, warum Wedekind manche Veröffentlichungen studierte, diese aber nicht als Quellen nutzte. Die Quellenlage, einige zentrale Quellen und Beispiele ihrer Nutzung seien im folgenden kurz vorgestellt:

Brian Barton: Das Dokumentartheater. Stuttgart 1987, S. 23.

Probleme der Quellendokumentation

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Die Quellen zu Bismarck sind vom Autor weitgehend bezeugt.4 In seinen Agenden von 1914 und 1915 nennt Wedekind 16 von ihm verwendete Werke, die um mindestens fünf weitere Titel zu ergänzen sind, wie die bisherige Textanalyse nahelegt. Die Quellen besitzen historiographischen und autobiographischen Charakter.5 Sie beleuchten aus diversen politischen Perspektiven Bismarcks Diplomatie. Der Dramentext weist verschiedene Formen der Quellennutzung auf. So finden sich Szenen, die aus kaum bearbeiteten wörtlichen Übernahmen bestehen, ebenso wie Dialogpassagen, die aus unterschiedlichen Quellen montiert wurden. Darüber hinaus nutzte Wedekind einige der Quellen auch als stoffliche Vorlage für die freie Bearbeitung. Von quantitativ nachgeordneter Bedeutung sind die fiktiven Anteile des Dramas. Heinrich von Sybels umfangreiche Darstellung, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm L, ist die wichtigste Quelle zu Bismarck. Das Werk erschien zwischen 1889 und 1894 und war von Bismarck initiiert worden.6 Sybel erhielt dadurch Zugang zu außergewöhnlich umfangreichem, z. T. geheimem Archivmaterial, das er in seiner Darstellung ausbreitet. In der Folge diente Die Begründung des Deutschen Reiches auch anderen historiographischen Darstellungen als Quelle. Ausdrücklich als österreichische Gegendarstellung zu Sybels Werk deklarierte Heinrich Friedjung seine Publikation über die Vorgänge zwischen 1859 und 1866: Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland, erstmals veröffentlicht 1896.7 Während Wedekind aus Friedjung nur vereinzelte Sätze zitiert, reicht die Nutzung von Sybels Werk von der stofflichen Vorlage bis zur wörtlichen Übernahme längerer Textpassagen. Deutlichstes Beispiel für die nahezu unbearbeitete wörtliche Übernahme ist die erste Szene des vierten Aktes in Bismarck, die Wedekind Sybels Publikation (Bd. 4, S. 4144) entnimmt. Abgesehen von wenigen stilistischen Eingriffen folgt der Autor bis in seine Regieanweisungen der Quelle:

Vgl. Wedekinds Agenden von 1914-1915. Stadtbibliothek München, Nachlaß Frank Wedekind, L 3511. Nach der Terminologie Burghard Dedners handelt es sich um Quellen im engeren Sinne. Vgl. Burghard Dedner: Quellendokumentation und Kommentar zu Büchners Geschichtsdrama Danton 's Tod. Versuch einer sachlichen Klärung und begrifflichen Vereinfachung. In: editio 7, 1993, S. 198f. Vgl. Heinrich von Sybel: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm 1. 3. Aufl. der Volksausgabe. München, Berlin 1913. Heinrich Friedjung: Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859-1866. 5. Aufl. Stuttgart, Berlin 1901.

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Elinor Waldmann TEXT (F. W., Bismarck, S. 75)

Bismarck (unterbrechend): Da zeigt sich schon, •wie falsch man in Wien die Lage auf auffaßt. Oesterreich macht uns Vorwürfe, während wir Oesterreich Konzessionen machen. Karolyi: Konzessionen? Nicht daß ich wüßte. Bismarck: 1st es nicht schon eine Konzession von uns, daß wir überhaupt über eine Veränderung des bestehenden gemeinsamen Besitzes unterhandeln? Der gemeinsame Besitz der Herzogtümer ist für uns besser als alles, was uns Oesterreich statt dessen geboten hat. [...]

QUELLE (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 4, S. 41) Bismarck unterbrach ihn sofort. Es zeige dies, wie falsch man in Wien die Lage auffasse. Österreich mache uns Vorwürfe, während wir Concessionen machten. Concessionen? fragte Karolyi. Wieso? Es sei ja schon eine Concession, erläuterte Bismarck, daß wir überhaupt über eine Veränderung des Status quo unterhandelten, der für uns besser sei, als Alles, was uns Österreich bisher angeboten habe.

Die Szene ist typisch für Wedekinds dramatisches Verfahren. Der Autor bevorzugt dialogisch vorgeformte Quellenpassagen, die einen hohen Grad an Authentizität besitzen und einen geringen Bearbeitungsgrad zulassen. Daß Wedekind sich bewußt für das dokumentarische Gestaltungsprinzip entschied, zeigt eine im Drama veröffentlichte Anmerkung zu dieser Szene, mit der sich Wedekind an Kenner der einschlägigen Bismarck-Literatur wendet: „Selbstverständlich durfte dieser im Wortlaut überlieferte Dialog in diesen Szenen nicht fehlen. Die vorgenommenen Aenderungen entsprangen dem Wunsch, die Auffassung der Sachlage zu erleichtem."8 Der geringe Bearbeitungsgrad, zu dem sich Wedekind durch diese Bemerkung explizit bekennt, ist Beleg für die nachgerade antipodische Haltung Wedekinds zum klassischen historischen Drama. Anders geht Wedekind in der zweiten Szene des ersten Bildes von Bismarck vor. Er greift hier inhaltlich auf das zweite Kapitel des dritten Bandes von Sybels historiographischem Werk zurück, bearbeitet die Szene jedoch wesentlich freier. Die wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Text und Quelle sind gering.

TEXT

QUELLE

(F. W., Bismarck, S. 17-19) Bismarck: Nun, was sagen Sie zum Pariser Monarchenkongreß? Karolyi: Genau dasselbe, was die Königin Viktoria darüber geäußert haben soll: Ein impertinenter Streich!

Wedekind 1916, vgl. Anm. l, S. 74.

Die Rede ist impertinent, rief Königin Viktoria von England. Der Streich ist doch zu stark, sagte Kaiser Alexander von Rußland. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 106 f.)

Probleme der Quellendokumentation

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Bismarck: Den Europa lediglich Eurem Frankfurter Fürstentag zu danken hat. Ihr habt in Napoleon das Bedürfnis wachgerufen, sich einmal von weißgekleideten Selbstherrschern umgeben zu sehen.

Dennoch kam Bismarck nicht ganz aus dem Herzen das Wort: die österreichischen Minister hätten in Frankfurt nur durchgesetzt, daß ihr Kaiser von „weißgekleideten Fürsten" empfangen wurde. (Graf von Roon, Denkwürdigkeiten. Breslau 1897, Bd. 2, S. 66)

Eine Zusammenkunft sämtlicher Souveräne Europas in Paris unter dem Vorsitz Louis Napoleons. Dagegen nimmt sich Euer Frankfurter Fürstentag wie ein Kinderspielzeug aus. Wie denkt Seine Majestät der Kaiser über die uns angesonnene Wallfahrt nach Paris?

Das war die Ankündigung eines Schauspiels, neben welchem der Frankfurter Fürstentag sich wie der Däumling neben dem Oger ausgenommen hätte. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 106)

Karolyi: Wir hoffen, daß sich die Großmächte Europas endlich einmal einmütig gegen den kriegslüsternen Revolutionshelden zusammentun. Uebrigens wartet Graf Rechberg schon seit vierzehn Tagen auf eine bundesfreundliche Auskunft von Euch, die Oesterreich und Preußen ein gleichmäßiges Vorgehen ermöglicht.

[...] sondern ließ unverkennbar bei ihrem Urheber [Louis Napoleon] stets neue kriegerische Überraschungen voraussetzen. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 106) [...] und fort und fort drängte Rechberg in Berlin um bundesfreundliche Auskunft und Abrede über möglichst gleichmäßiges Vorgehen. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 117)

Bismarck: Wäre es nicht Oesterreichs europäischer Stellung würdig, mit seiner Ablehnung den anderen voranzugehen? Karolyi: Den Gefallen können wir England nicht tun.

Unter den Großmächten aber wäre jede bereit gewesen, den ändern die mißliche Ehre der Zurückweisung zu überlassen. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 107)

Bismarck: Sie wissen doch so gut wie ich, daß sich die Spitze von Napoleons Monarchenkongreß ganz speziell gegen Oesterreich richtet.

Und in dieser Lage sah man plötzlich die Spitze des französischen Degens auf die eigene [österr.] Brust gerichtet. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 109)

Wie das Beispiel belegt, bearbeitet Wedekind hier die Quellen frei. In dem fiktiven Dialog zwischen dem österreichischen Gesandten Karolyi und Bismarck deuten neben thematischen Übereinstimmungen nur noch vereinzelte und stark bearbeitete Versatzstücke auf die Quelle hin. Die Anlehnung an eine Textstelle aus den Denkwürdigkeiten des preußischen Kriegsministers von Roon legt die Vermutung nahe, daß für die genannte Textstelle auch weitere Quellen in Frage kommen könnten. Dies zu verifizieren, steht noch aus. Unter den autobiographischen Quellen sind Bismarcks Gedanken und Erinnerungen9 hervorzuheben. Diese entstanden in der Zeit nach Bismarcks Entlassung und basieren auf stenographischen Protokollen von Gesprächen Bismarcks mit seinem engen Vertrauten Lothar Bucher, dessen Arbeit als Herausgeber von Moritz Busch zu Ende Otto Fürst Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. 2 Bände. Berlin 1905.

312

Elinor Waldmann

geführt wurde. Bucher systematisierte die Gesprächsmitschriften thematisch und nahm die Einteilung in Kapitel vor. Diese Vorlage wurde von Bismarck vielfach überarbeitet. Die Erstausgabe der Gedanken und Erinnerungen erschien 1898 und wurde in zahlreichen Auflagen - auch als sogenannte Volksausgabe - verlegt. Eine Vielzahl der bekannten 'heroice dicta' entnimmt Wedekind den Gedanken und Erinnerungen. Neben verschiedenen Veröffentlichungen Bismarcks rekurriert Wedekind auch auf die Memoiren jener Persönlichkeiten, die als Zeitzeugen über das politische Geschehen berichten konnten und an den diplomatischen Verhandlungen Bismarcks direkt beteiligt waren. Als solche sind vor allem der preußische Kriegsminister von Roon10, der sächsische Diplomat Karl Friedrich Graf von Vitzthum11, der Repräsentant des Deutschen Bundestags, Ferdinand Graf von Beust12, Ernst II. Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha13 und der Korrespondent der Pariser Zeitung Le Siede, Joseph Vilbort14, zu nennen. Auch die autobiographischen Schriften stützen sich auf z. T. privates Archivmaterial, wie Sammlungen von Korrespondenzen und Tagebüchern, aus denen die Verfasser ausführlich zitieren. Nur selten übernimmt Wedekind aus den Memoiren der Zeitzeugen - Bismarck ausgenommen - längere Textpassagen. Bereits in diesem frühen Stadium der Quellenforschung wird Wedekinds Arbeitstechnik deutlich. Zwar läßt sich, was die Montagetechnik betrifft, Wedekinds Affinität zu modernen Dokumentarstücken feststellen. Aber im Gegensatz zu diesen rekurriert Wedekind auf die geschlossene Dramenform. In diese Struktur montiert er Versatzstücke unterschiedlicher Quellen, ohne daß die Nahtstellen als Brüche offenkundig würden. Ohne Kenntnis der Quellen liest sich Bismarck wie ein traditionelles historisches Drama.

III. Es erschien zunächst naheliegend, in der Quellendokumentation das Drama nochmals abzudrucken und ihm die korrespondierenden Stellen aus den Quellen direkt gegenüberzustellen. Hiervon wurde Abstand genommen, erwies sich doch bereits der Begriff 'Quellendokumentation' als problematisch. Der Terminus wirft die Frage nach dem konkreten Gegenstand der Dokumentation auf. Sind die Quellen an sich dokumentationswürdig oder sind nicht vielmehr die philologischen Differenzen von Text und Quellen von forscherischem Interesse. Diskussionen führten zu dem Resultat, keine Quellendokumentation anzustreben, sondern eine Übersicht über die Beziehung von Text und Quellen zu geben. In dieser Übersicht soll der Leser über die Abfolge der 10 11 12 13 14

Albrecht Graf von Roon: Denkwürdigkeiten. 2 Bände. Berlin 1905. Karl Friedrich Graf von Vitzthum: London, Gastein, Sadowa 1864-66. Leipzig 1889. Ferdinand Graf von Beust: Aus drei Vierteljahrhunderten. 2 Bände. Stuttgart 1887. Ernst II. Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha: Aus meinem Leben. 2 Bände. Berlin 1889. Joseph Vilbort: Das Werk des Herrn von Bismarck. Berlin 1870.

Probleme der Quellendokumentation

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montierten Quellen, vor allem aber über Wedekinds Bearbeitung der Quelle informiert werden. Die Übersicht orientiert sich am Dramentext. Vergleichbar dem Variantenverzeichnis sollen alle Textstellen anzitiert werden, die im philologischen Sinne auf eine Quelle rekurrieren: Seiten- und Zeilenangaben verweisen den Leser auf die Position der Textstelle im edierten Dramentext. Im Anschluß daran wird die entsprechende Quellenpassage wiedergegeben. Im oben zitierten Beispiel aus Bismarck (1/2) hat die Quellenübersicht etwa folgende Form: Genau dasselbe, was [...] impertinenter Streich! , (Seiten- und Zeilenverweis auf Text) Die Rede ist impertinent, rief Königin Viktoria von England. Der Streich ist doch zu stark, sagte Kaiser Alexander von Rußland. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 106 f.) weißgekleidete Selbstherrscher xxx, xx Dennoch kam Bismarck nicht ganz aus dem Herzen das Wort: die österreichischen Minister hätten in Frankfurt nur durchgesetzt, daß ihr Kaiser von „weißgekleideten Fürsten" empfangen wurde. (Graf von Roon, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 66) Uebrigens wartet Graf Rechberg [...] ermöglicht, xxx, xx [...] und fort und fort drängte Rechberg in Berlin um bundesfreundliche Auskunft und Abrede über möglichst gleichmäßiges Vorgehen. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 117) die Spitze [...] gegen Österreich richtet xxx, xx Und in dieser Lage sah man plötzlich die Spitze des französischen Degens auf die eigene Brust gerichtet. (Sybel, Begründung des Dt. Reiches, Bd. 3, S. 109)

Quellen, aus denen Wedekind Stoffe, Motive, Personenkonstellationen übernahm, werden nicht noch einmal aufgeführt, sie sind im Bericht beschrieben. Diskutiert wurde die Frage, ob auch Quellen im Wortlaut erfaßt werden sollen, die Wedekind wörtlich oder ohne nennenswerte Eingriffe zitierte. Wie das erste Beispiel dokumentiert, würde ein Abdruck der Quelle bestätigen, was der Herausgeber im Bericht bereits vermerkte. Um das Montageverfahren Wedekinds zu beleuchten, erscheint es ausreichend, sich in der Übersicht darauf zu beschränken, Anfang und Ende der wörtlichen Übernahme zu zitieren und auf den geringen Bearbeitungsgrad und die Quelle zu verweisen. Gleichwohl nimmt der Editor durch sein Auswahlverfahren, durch seine Beurteilung, worin eine nennenswerte beziehungsweise darstellungswürdige philologische Differenz besteht, eine Präjudizierung vor, die zu hinterfragen ist. Da die Edition das Ziel verfolgt, dem Benutzer der Ausgabe alle Informationen bereitzustellen, die ihm ein selbständiges Urteil über Wedekinds Arbeitstechnik ermöglichen, werden ihm auch die kaum bearbeiteten Quellen zur Verfügung gestellt.

Claus Zittel

Von den Dichtern Quellenforschung versus Intertextualitätskonzepte, dargestellt anhand eines Kapitels aus Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra

I.

Weit mehr noch als in seinen anderen Schriften hat Nietzsche in Also sprach Zarathustra in Form von zahllosen Zitaten, Anspielungen und Parodien sich auf die literarische und philosophische Tradition bezogen, sein Hauptwerk als ein Mosaik fremder und eigener Textsegmente komponiert und dieses Verfahren im Text selber thematisiert. Für jedwede Deutung des Zarathustra erheben sich somit unweigerlich Fragen nach dem Status derjenigen Werk-Passagen, die über ihren ersten Textsinn hinaus in direkter oder indirekter Weise mit vorangegangen Texten in Beziehung stehen, und nach der Art ihrer jeweiligen Bezugnahme. Zu deren Klärung bedürfte es jedoch zuallererst der Applikation beziehungsweise Entwicklung eines deskriptiven Apparates, welcher in der Lage sein müßte, die besondere Faktur und das Kornpositionskalkül des ZarathustraTextes sichtbar zu machen. Es wird daher zu überlegen sein, ob sich hierfür die gebräuchlichen Verfahren eignen oder ob die Vorschläge, welche seitens der anwendungsorientierten Intertextualitätstheorie gemacht wurden, zu textadäquateren Resultaten zu führen vermögen. Nach deren Kategorien - 'Autoreflexivität', 'Dialogizität', 'Kommunikativität' und 'Intentionalität' - muß Also sprach Zarathustra aufgrund seiner hohen Komplexität und Verweisungsdichte eine 'maximale Intensität'1 zuerkannt werden. Diese Intertextualitätskonzepte erlauben die Beschreibung und Skalierung einer Vielzahl an 'systemreferentiellen' und 'einzeltextuellen' Beziehungsformen auf Prätexte, die von der traditionellen Quellenforschung nicht in den Blick genommen werden (können) und stellen für diese damit eine Aufforderung dar, das eigene Selbstverständnis neu zu überdenken. Denn nun wird die traditionelle Quellenforschung genötigt, zu begründen, weshalb sie Textbeziehungen, die durch offene Zitate angezeigt sind, bevorzugt. Da im Rahmen der KGW-Edition seit einiger Zeit der Nachbericht zum Zarathustra2 vorliegt, bietet sich dieses Werk Nietzsches als Testfall Vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 26ff. Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe (KGW). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Abt. VI, Bd. 4: Marie-Luise Haase: Nachbericht zum ersten Band der sechsten Abteilung: Also sprach Zarathustra. Berlin und New York 1991.

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Claus Ziltel

zur Überprüfung der Grenzen und Leistungsfähigkeit traditioneller und moderner Beschreibungsweisen an. Diese Überprüfung soll im folgenden zunächst theoretisch vorbereitet und dann praktisch vor allem anhand des Kapitels Von den Dichtern sowie mit Hilfe weiterer charakteristischer Stellen aus dem Zarathustra exemplarisch durchgerührt werden, wobei nicht die pragmatische Machbarkeit, sondern die Brauchbarkeit für die Textinterpretation die Wertungsperspektive bestimmen wird. Entsprechend wird mein zentrales Anliegen sein, zu zeigen, daß nur, wenn sich Interpretation und Deskription wechselseitig bestimmen, sich von der Sache her begründete Kriterien für die Identifikation und Edition von 'Quellen' festlegen lassen.

II.

Um mit dem Naheliegendsten zu beginnen, seien zunächst Nietzsches eigene Direktiven für den Umgang mit seinen Texten angeführt: Man muß, um die abgekürzeste Sprache zu verstehen, die je ein Philosoph gesprochen hat, - noch dazu die formelärmste, die lebendste, die am meisten künstlerischste — sich der umgekehrten Prozedur bedienen als sonst philosophische Litteratur nöthig macht. Diese muss man condensieren, [...] - mich muss man verdünnen, flüssig machen, anwässern. [...] Ich bin kurz: meine Leser selber müssen lang -werden, umfänglich werden, um Alles herauf und zusammen zu holen, was von mir gedacht, und von mir hinterdacht worden ist. Es giebt andererseits Voraussetzungen, um hier zu 'verstehn', denen nur die Seltensten gewachsen sind: man muss ein Problem, an die richtige Stelle zu setzen wissen, will sagen in den Zusammenhang mit den zugehörigen Problemen - und dazu muß man die Winkel, die schwierigeren Gegenden ganzer Wissenschaften und vor allem der Philosophie selbst topographisch gegenwärtig haben [...}?

Nietzsche wünscht sich daher für seine Bücher „nur vollkommene Leser und Philologen", welche bereit sind, die „Kunst gut zu lesen" zu erlernen, „das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen [...]."4 Angesichts dieser maximalen Forderungen Nietzsches gerät eine Quellenedition unweigerlich in die Defensive. Montinari postulierte jedoch noch, daß die Erschließung bisher unbekannter 'Quellen' für das Werk Nietzsches sich in zweifacher Richtung zu bewegen habe: „[...] Einmal vom Extratext, von Nietzsches Lektüre (im Nachlaß belegt) bis zum Text Also sprach Zarathustra, dann aber vom Text (Zarathustra) zum Extratext [...], d. h. zu Zeugen des historischen Zusammenhangs, in dem Nietzsches Denken und Werk gelebt haben. Wir werden daran erinnert," so Montinari weiter, „daß sich in Nietzsche eine vielfache philosophische und literarische Tradition exemplarisch

3

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Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 14. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. Berlin und New York 1980, S. 484 (Vs. zu: Ecce Homo, 'Warum ich so gute Bücher schreibe' 3). KSA 3, S. 17 (Morgenröthe Vorr. 5).

Von den Dichtern

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und eigentümlich verdichtet."5 Deshalb kam er zur Auffassung, „daß der Apparat für die Dichtungen (und für den Zarathustra) reichhaltiger sein muß als derjenige der Aphorismen und Fragmente."6 In ihrem Vorwort berufen sich die Herausgeber des Nachberichts zur ZarathustraEdition der KGW auf die eben zitierte Einsicht Montinaris, schränken aber zugleich aus pragmatischen Erwägungen die Aufgaben der Editionsarbeit ein.7 Montinaris Projekt könnte nicht in so extensiver Weise, wie er es sich gewünscht hätte, verwirklicht werden. Da in Also sprach Zarathustra, „oft in einer einzigen Zeile, europäisches Bildungsgut aus verschiedenen Bereichen zusammengeflossen" sei, „wodurch vielerlei Assoziationen hervorgerufen werden", müsse auf „eine Kommentierung, die sich nur auf Anklänge stützt, [...] in einer Kritischen Gesamtausgabe verzichtet werden."8 In Marie-Luise Haases Vorbemerkung zum Kritischen Apparat werden entsprechend die Richtlinien für die 'Erläuterungen' wie folgt formuliert: „Die Erläuterungen haben philologisch historischen Charakter; sie verstehen sich nicht als Kommentar. Nachgewiesen werden eindeutig erkennbare Zitate, Exzerpte, Reminiszenzen."9 Die crux dieser Maxime besteht darin, daß die 'eindeutige Erkennbarkeit' im Vorsatz auf philologisch historische Nachweisbarkeit festgelegt wird. Im folgenden möchte ich versuchen darzulegen, welche Konsequenzen eine derartige Beschränkung in Nietzsches Fall nach sich zieht.

III. Wenn ein Text sich explizit über sein Verhältnis zu anderen Texten konstituiert, und dies hat man mit der Anerkennung einer 'eigentümlichen Verdichtung' traditioneller Motive in Nietzsches Falle zugestanden, dann hat sich seine Analyse idealiter sowohl 5

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Mazzino Montinari: Zum Verhältnis Lektüre - Nachlaß - Werk bei Nietzsche. In: editio l, 1987, S. 249. Vgl. auch ders.: Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Nietzsche heute. Hrsg. von S. Bauschinger, S. L. Cocalis und S. Lennox. Bern 1988, S. 138. Mazzino Montinari, zit. nach: Giuliano Campioni: Die Kunst gut zu lesen - M. Montinari und das Handwerk des Philologen. In: Nietzsche-Studien 18, 1989, S. LX. Vgl. Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi: Vorwort, KGW VI 4, S. VII. Ebda, S. VIII. Dies bedeutet eine Reduktion gegenüber Montinaris Kommentar in der Kritischen Studienausgabe (KSA 14), der sich des öfteren erlaubt, Vermutungen anzustellen. Aufgrund seiner Vorläufigkeit kann der KSA-Kommentar die Beschränkungen des Nachberichts aber nicht kompensieren. KGW VI 4, S. 7. Andernorts begründet die Editorin ihre Kriterien ausführlicher: „Die Nachweise der sich allenthalben einstellenden Assoziationen, Konnotationen und 'Anklänge', die uns durch literarische Vorbilder eingegeben werden, müssen Forschungsarbeiten vorbehalten bleiben, in denen sie argumentativ diskutiert und gedeutet werden können. Allein der Versuch, in Also sprach Zarathustra die 'Anklänge' an die Bibel nachweisen zu wollen, wäre ein uferloses Unterfangen." MarieLuise Haase: Zarathustra auf den Spuren des Empedokles und eines gewissen Herrn Bootty. Ein Beitrag zur Quellenforschung. In: Centaurengeburten. Hrsg. von T. Borsche, F. Gerratana und A. Venturelli. Berlin 1994, S. 504.

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Claus Z/He/

auf die Summe seiner Einzelverweise zu richten, als auch auf die Relationen der Bezüge untereinander. Der Sinn des Textes liegt nicht einfach als Inhalt vor, sondern konstituiert sich allererst im Widerspiel von intertextuellen Verweisungsstrukturen und ihren jeweils manifesten Kristallisationen. Die Interpretation des im Sinne Nietzsches 'idealen Lesers' wird deshalb immer das Resultat unterschiedlichster Beziehungsoperationen sein. Hier setzt die Intertextualitätstheorie an, in deren Analyse-Fokus gerade das Zusammenspiel der intertextuellen Verfahren und deren Funktion bei der Integration der verschiedenen intertextuellen Bezüge gerückt ist. Die Quellenforschung widmet sich im Vergleich dazu nur einem Teilbereich möglicher Verweisungsarten und hat somit zu rechtfertigen, weshalb sie nur einen bestimmten Relationstyp favorisiert. Sie muß sich daher fragen lassen, ob die Kriterien zureichend sind, nach denen sie einzelne Prätexte auszeichnet und in den Rang einer 'Quelle' erhebt. Dabei hat sie sich folgenden Texteigentümlichkeiten zu stellen: - Aufgrund der starken Umarbeitung beziehungsweise durch Nietzsches Verbergungsstrategien sind die meisten der Prätexte schwer zu erkennen. - Der offene Zitatverweis ist zugunsten anders markierter Verweisverfahren stark in den Hintergrund gedrängt. - Deshalb ist die bloße Nennung eines Quellentatbestands unerheblich im Vergleich zu einer Untersuchung der Art und Weise, wie ein Prätext in das Werk integriert wird, denn erst eine solche Analyse vermag entscheidende Einblicke in das poetische Verfahren des Textes selber zu eröffnen. Nietzsches Zitate sind keine Spolien.10 Eine solche Auffassung hat Nietzsche im Zarathustra-Kapitel, welches den bezeichnenden Titel Vom Lande der Bildung trägt, konterkariert: Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern! [...] ihr Buntgesprenkelten! [...] Alle Zeiten schwätzen wider einander in euren Geistern.''

Nietzsche bescheidet sich gerade nicht mit bunter Vielfältigkeit, sein Anspruch geht weit über das bloß arbiträre Ansammeln von Bildungsgut hinaus, wie er in einem wenig

10

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Zu solchen werden sie aber durch die sich selbst beschränkende Art der Quellenpräsentation der KG W gemacht. Vgl. dazu auch Albrecht Schöne: Faust. Kommentare. Frankfurt a. M. 1994, S. 141: „Die Vorstellung, man könne einer Dichtung habhaft werden, wenn man nur all ihre 'Quellen' ausmache und sie damit auf die Bestandteile zurückführe, aus denen sie zusammengesetzt wurde, ist in der Literaturwissenschaft längst obsolet geworden." KSA 4, S. 153f. Daher ist keine glückliche Wahl getroffen, wenn man sich auf dieses Zitat beruft, um den Charakter der intertextuellen Verfahrensweisen im Zarathustra vorzufuhren. Vgl. Wolfram Groddeck: Vom Gesicht und Rätsel. Zarathustras physiognomische Metamorphosen, in: Physiognomie und Pathognomie. Festschrift für Karl Pestalozzi. Hrsg. von W. Groddeck und Ulrich Stadier. Berlin 1994, S. 321. Diese für meine Zwecke wichtige terminologische Korrektur soll aber in keiner Weise den Wert der ebenso scharfsinnigen wie verblüffenden Auslegung Groddecks schmälern, die mit dem überzeugenden Aufweis, daß diese Ztf-Rede dem Goldenen Schnitt gemäß aufgebaut ist, ein weiteres Feld an deutungsrelevanten intertextuellen Bezügen eröffnet.

Von den Dichtern

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später folgenden Kapitel, das wiederum bezeichnend mit Von der Erlösung überschrieben ist, erklärt: Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Rälhsel und grauser Zufall [...] Die Vergangnen zu erlösen und alles 'Es war' umzuschaffen in ein 'So wollte ich es!' - das hiesse mir erst Erlösung.12

Die anwendungsorientierten Intertextualitätstheorien haben sich bemüht, dynamische Kategorien zu entwickeln, welche eine Qualifizierung der diversen Verweisungsformen ermöglichen sollen, mit deren Hilfe dann gerade auch die starke Umformung von Prätexten als besonders valent aufgewiesen werden kann. Dabei zeigt sich unter anderem, daß die intertextuelle Verweisung intensiver wird, wenn sie sich dialogisch zum Prätext verhält. Jetzt wird die Abweichung entscheidend, durch welche sich der Text in ein signifikantes Kontrast- und Spannungsverhältnis zu seinem Prätext setzt. Die bloße Übereinstimmung, wie z.B. bei einem reinen Bildungszitat, erreicht dagegen in der Regel nur eine schwache Intensität. Formale Übereinstimmung ist aber das Kriterium der Quellenforschung, weshalb zu befürchten steht, daß somit gilt: Je intensiver intertextuell, d.h. relevanter ein Verweis auf einen Prätext ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß er als Quellenbezug im Nachbericht dokumentiert wird. Darüber hinaus sind meist Bezüge auf diejenigen Texte, zu denen eine große Nähe besteht, so offenkundig, daß sie teils nicht markiert zu werden brauchen, teils gar zu verschleiern versucht werden. Nietzsche setzt, wie er in der oben zitierten Leseanweisung klarstellte, das Wissen um die zugehörigen Bezüge voraus. Für den 'Unwissenden' hält er seine 'Quellen' gerade absichtsvoll verborgen. Die Suche nach einem 'eindeutigen Ursprung' wird so zu einem riskanten Unterfangen. Ohnehin widerstreitet das Gewinnenwollen eines sicheren, letzten Ausgangspunktes, die Sicherung der 'Quellen', Nietzsches philosophischen Intentionen, da er sich die Erschütterung scheinbarer Gewißheiten zum Ziel gemacht hat, wodurch es sich folglich auch verbietet, an irgendeiner Stelle bei der Suche innezuhalten: Schreibt man nicht gerade Bücher, „um zu verbergen, was man bei sich birgt?" fragt Nietzsche und auch, ob bei einem Philosophen nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse - eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder 'Begründung'.

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K.SA 4. S. 179. Auch diese Rede über die produktive Aneignung von „Bruchstücken" führt zugleich die Einlösung ihrer Forderung vor. Man vergleiche ebda: „Wahrlich meine Freunde, ich wandle unter den Menschen wie unter den Bruchstücken und Gliedmaassen von Menschen! Dies ist meinem Auge das Fürchterliche, dass ich den Menschen zertrümmert finde und zerstreuet wie über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin. Und flüchtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals: es findet immer das Gleiche: Bruchstücke und Gliedmaassen und grause Zufälle - aber keine Menschen" - mit „Es ist ein hartes Wort und dennoch sag' ichs, weil es die Wahrheit: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst Du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen?" (Hölderlin, Hyperion; nachgewiesen in: K.GW VI 4, S. 894).

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Claus Zittet Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie [...] Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort ist auch eine Maske.13

IV.

Das positivistische Eindeutigkeitskriterium der traditionellen Quellendokumentation läßt sich jedoch auch formal überschreiten. Dieses erscheint angesichts der von sehen der anwendungsorientierten Intertextualitätstheorien aufgewiesenen Möglichkeiten zur deskriptiven Erfassung pointierter Bezüge auf Prätexte,14 insbesondere auch systemreferentieller Art, inzwischen weniger als pragmatisch plausibles Verfahren, denn als massiver Ausschluß von Sinn konstituierenden Beziehungskonstellationen. Wie bereits erwähnt, ergibt sich durch die Festlegung auf formale Eindeutigkeit de facto eine Hierarchisierung der unterschiedlichsten Beziehungsformen zugunsten der positivistisch fixierbaren, wie der des offenen Zitats beziehungsweise der wörtlichen Übereinstimmung mit Stellen aus anderen Texten. Es ist jedoch entschieden zu bezweifeln, ob z. B. der Erkenntniswert des Nachweises einer im Nachbericht so prominent gemachten Quelle wie den Märchen aus tausend und einer Nacht15 den einer systemreferentiellen Analyse, welche aufzeigt, daß hier Bilder und Motive der Märchenwelt suggestiv eingesetzt werden, übersteigt. Ist dies nicht der Fall, so wären auch andere offenkundige Referenzen auf die Gattung 'Märchen' zu berücksichtigen. Ohne Zweifel ist es ungleich bedeutsamer beispielsweise zu bemerken, daß im Nachtwandlerlied überraschend ein Erzähler auftaucht und den Leser plötzlich im Märchenton anspricht.16 Folglich ist das offene Zitieren nur eine Variante derjenigen intertextuellen Verfahren, die pointierte und damit beschreibbare Bezüge zu Referenztexten herstellen, und eine, welche insgesamt betrachtet, quantitativ nur gering ins Gewicht fallt. Die Menge der Prätexte übersteigt um ein Vielfaches die Menge der sogenannten 'Quellen'. Aus der Summe der Prätexte werden von den KGW-Editoren einige unter Absehung von Sinnkriterien ausgewählt und zu Quellen erklärt. Eine Auswahl unter den Bezugstexten zu treffen, bedeutet jedoch immer die Vielfalt der Bezüge, welche der Zarafhustra zu erkennen aufgibt, zu reduzieren. Darauf wäre stets zu reflektieren. Denn indem man ausgewählte Kontextbezüge stabilisiert, interpretiert man bereits.17 13 14

15 16

17

KSA 5, S. 234 (Jenseits von Gut und Böse 289). Vgl. Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität 1985, vgl. Anm. 1,5.31-47. Vgl. KGW VI 4, S. 898 f. und S. 924. Vgl. KSA 4, S. 396. Somit wird hier nicht ftlr einen von vornherein utopischen Totalkommentar plädiert - dieser ist außer als regulative Idee gar nicht zu wünschen, da in ihm jeder Einzelbezug im Meer unzähliger Bezüge untergehen würde -, sondern für das Formulieren von Sinnkriterien, welche auch zu einer drastischen Reduktion der Anzahl zu nennender 'Quellen' führen könnten. Da man in jedem Falle durch Auswählen interpretiert, ist eine nach Sinnkriterien begründete, auf die Beziehungsvielfalt reflektierende Selektion einer bewußtlos-formalistischen vorzuziehen.

Kow den Dichtern

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Die Quelle-Einfluß-Metaphorik suggeriert zudem das Vorliegen eines kausalgenetisch verengten Abhängigkeitsverhältnisses, was in Nietzsches Fall gänzlich widersinnig ist. Grundsätzlich ist dazu zu bemerken, daß es keine 'Quellen an sich' gibt. Indem ein Text auf bestimmte andere Texte verweist, macht er sie zu seinen Prätexten. Nur eine Untersuchung, welche die von Montinari geforderte zweite Bewegungsrichtung vom Text zum Prätext einschlägt, zielt auf alle vom Text selbst vorgenommenen Verweise und Verweisungsarten und damit auf alle Spielarten von Intertextualität. Nur sie könnte aufzeigen, auf welche besondere Weise dieser Text sich auf andere Texte hin überschreitet und damit ermöglicht zu ermitteln, welche die in ihm relevanten, von ihm selbst privilegierten Vergegenwärtigungsmodi sind. Um die Kritikpunkte an der Quellenforschung in einer knappen Form zu wiederholen: Durch die Beschränkung auf eine Sonderform des Verweisens, die vom Text weder qualitativ noch quantitativ ausgezeichnet ist, werden primär unerhebliche Quellenreferenzen fixiert, damit in das Sinngefüge des Textes rezeptionslenkend eingegriffen und zudem eine fragwürdige Ideologie vermittelt. Die schärfste Kritik an einer solchen hexis des Editors stammt von Montinari selber: Zwei Formen der niaiserie academique werden von mir bekämpft: 1. Die niaiserie der sogenannten Philologen, welche ihre Arbeit als eine Auflösung des Textes betreiben, indem sie sich damit zufrieden geben, die sogenannten Quellen zu suchen und zu sammeln und so den Blick für das Ganze einer geistigen Erscheinung verlieren: z. B. Nietzsche. 2. die niaiserie der Philosophen, die einen reduzierten, ihren Nietzsche lieben und sich nie veranlasst sehen zu fragen: was meint er wenn er von decadence spricht? [...] Die historische Arbeit ohne philosophisches Verständnis ist blind, das philosophische Denken ohne historischen Inhalt ist leer.18

V.

Ich gehe nun dazu über, die angesprochenen Problempunkte anhand des ZarathustraKapitels Von den Dichtern weiter zu veranschaulichen. „Seit ich den Leib besser kenne, - sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger - ist mir der Geist mir noch gleichsam Geist; und alles das „ Unvergängliche" - das ist auch nur ein Gleichniss. " „So hörte ich dich schon einmal sagen, antwortete der Junger; und damals fügtest du hinzu: „aber die Dichter lügen zuviel. " Warum sagtest du doch, dass die Dichter zuviel lügen? " „ Warum? sagte Zarathustra. Du fragst -warum? Ich gehöre nicht zu Denen, welche man nach ihrem Warumfragen darf. Ist denn mein Erleben von Gestern? Das ist lange her, dass ich die Gründe meiner Meinungen erlebte. Müsste ich nicht ein Fass sein von Gedächtnis^, wenn ich auch meine Gründe bei mir haben wollte? Schon zuviel ist mir 's, meine Meinungen selber zu behalten; und mancher Vogel fliegt davon.

18

Montinari zit. bei Campioni 1989, vgl. Anm. 6, S. LXV.

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Claus Zittel Und mitunter finde ich auch ein zugeflogenes Thier in meinem Taubenschlage, das mir fremd ist, und das zittert, wenn ich meine Hand darauf lege. Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die Dichter zuviel lügen? - Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.^

Die negativen Folgen der von Montinari inkriminierten Trennung von Philologie und Exegese treten hier deutlich zutage: Der philologisch auffalligste Bezugstext ist der chorus mysticus des Faust II. Dieser wird innerhalb dieses Kapitels vollständig zitiert, und dies wird auch neben anderen Hinweisen im Nachbericht dokumentiert.20 Nicht genannt aber wird die sachlich entscheidende Referenz und diese zielt auf den Topos philosophischer Dichterkritik, der am exemplarischsten und wirkmächtigsten von Platon in der Politeia geprägt wurde. Daß dieser Text als Prätext anzusehen ist, kann einzig mit der Plausibilität der durch ihn eröffneten Interpretation der Zarathustra-R.ede begründet werden. Auch wenn man es nicht formal philologisch 'beweisen' kann, wird durch die Interpretation eindeutig, daß der Prätext aus den Büchern 2 und 10 der Politeia besteht.21 Der Vorwurf Platons an die Dichter, daß sie nur Abbilder von Abbildern und damit eine defizitäre Scheinwelt konstituieren, wird hier, und (nur) das ist der Schlüssel zum Verständnis der Rede, gegen Platon selbst gerichtet. Auch die Philosophen, Zarathustra eingeschlossen, seien lügende Dichter. Gerade der Ort des Unvergänglichen und ewig Wahren, von dem aus Platon seine Kritik begründete, sei „Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss."22 Damit soll nicht 'eine bislang unbekannte Quelle' ins Spiel gebracht werden, sondern gezeigt werden, daß interpretatorische Evidenz und philologische 'Beweisbarkeit' hier nicht zusammenfallen, mit der den Sinn des Editionsgeschäfts ins Absurde kehrenden Folge, daß der wichtigste Referenztext nicht im Apparat aufgenommen werden kann, obgleich er jedem, „der ein Problem an die rechte Stelle zu rücken weiß", offenkundig und unverzichtbar ist. Auf welche Weise Nietzsche Platon kritisiert, wird deutlich, wenn man die Differenz von Zarathustras Eingangsworten zu einem weiteren Bezugstext betrachtet. In An Goethe23 spottet Nietzsche: „Das Unvergängliche ist nur dein Gleichnis." Im 19 20

21

22 23

KSA4, S. 163. Vgl. KGW VI 4, S. 890. Weitere wichtige Hinweise, die der Nachbericht gibt, beziehen sich auf Parallelstellen in den Reden Auf den glückseligen Inseln und v. a. Der Zauberer. (Ein Fehler unterlief, nebenbei angemerkt, beim Hinweis auf „WS 188" -gemeint sein soll offenbar: VM 188.) Die Auseinandersetzung mit Platons Dichterkritik ist bei Nietzsche in allen seinen Werkphasen eine Grundkonstante: man vgl. z. B. KSA 7, S. 74: „Platons Feindseligkeit gegen die Kunst ist etwas sehr Bedeutendes. Seine Lehrtendenz, der Weg zum Wahren durch das Wissen, hat keinen größeren Feind als den schönen Schein." - KSA 9, S. 176: „Der Hauptvorwurf Plato's geht nicht gegen die Sophisten sondern gegen die Dichter [...] Jetzt könnte man den Vorwurf wiederholen, aber umgekehrt. Die Philosophen befriedigen den Stolz der Jünglinge, wie die Dichter - sie bringen sie ab von der Wissenschaft." - und das ganze Kap. Wie die 'wahre' Weh endlich zur Fabel wurde, KSA 6, (Götzen-Dämmerung), S. 80f. Dies sind für eine Interpretation unverzichtbare Kommentarstellen Nietzsches selber, auf die man sich wenigstens einen Hinweis im Nachbericht der KGW wünschte. KSA 4, S. 164. KSA 3, S. 639.

Von den Dichtern

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Zarathustra fuhrt er das Goethe-Zitat in bezeichnender Abwandlung an: „Das Unvergängliche - das ist auch nur ein Gleichnis". Mit den Worten „auch nur" ist ausgedrückt, daß nun alles Gleichnis ist, woraus folgt, daß auch Platons Ideenreich eine bloße Fabelwelt ist. Auf diese Weise wird der Platonismus nicht einfach umgekehrt und das Vergängliche zum Wahren erklärt, sondern mit dem Aufweis der Gleichnishaftigkeit jedweder Rede wird das ontologische Paradigma verlassen. Daher konnte Rainer Warning24 intertextualitätstheoretische Reflexionen unter Berufung auf diese Zarathu5/ra-Rede vortragen und dabei zeigen, daß Intertextualität immer schon den Dualismus von Wesen und Erscheinung aufgekündigt hat. Bezogen wird sich nicht mehr auf Sein, sondern auf Literatur, d.h. auf Schein. Dies ist auch der tiefere Sinn der vielen Zitate im Zarathustra-Text, die stets gegenwärtig halten, daß nur mehr ein Bezug auf den Schein möglich ist, da die Einheit verbürgende Instanz - Gott - 'tot' ist; daher das Zerfallen der Tradition in Bruchstücke. Im Lichte dieser Einsicht wird auch Nietzsches Zitierweise plausibel: Der chorus mysticus wird nicht integral zitiert, sondern in seine Bestandteile zerlegt und im Redetext wieder eingebaut. Von der Aura der 'unvergänglichen' Dichterworte bleibt nichts übrig. Im Gegenteil: Durch deren Zerlegen und Umschaffen werden sie gleichsam wieder dem Fluß des Werdens anheimgegeben. Nietzsche läßt Zarathustra erklären, oft nicht mehr zu wissen, woher er sein Material erhalten hat, mehr noch: Dieser bestreitet die Relevanz der Frage nach dem 'Woher' und spricht von „Vögeln", die ihm von irgendwo zugeflogen seien. Nur als flüchtige Skizze kann ich hier entwerfen, wie die Intensivierung der intertextuellen Verweisungen im Text zunimmt. Dafür seien als Beispiele die Bezüge, welche allein die Überschrift Von den Dichtern (der Paratext) u. a. eröffnet, genannt: 1. Zarathustra spricht über Dichter; 2. Zarathustra handelt von bestimmten Dichtern, aufweiche die offenkundigen Zitate hinweisen und 3. über sein Verhältnis zu ihnen. 4. wird damit die Tradition philosophischer Rede über Dichtung aufgerufen, durch die Bestimmung des Dichters als Lügner die Tradition der Dichtungskritik. 5. nimmt Zarathustra mit seiner Aussage, er selber sei ein Dichter, Bezug auf den Topos des Dichters als Philosophen,25 und mit dem Zusatz "ein lügender" auf selbstreflexive Argumentationsformen, wie etwa das Kreterparadox. 6. problematisiert diese Selbstbezichtigung über den Text hinaus auch das ästhetischphilosophische Selbstverständnis des Philosophen Nietzsche und verweist somit auf die Texte, in welchen Nietzsche seine Poetik im speziellen darlegt, sowie auf seine Einschätzungen des Zarathustra als Dichtung.

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25

Rainer Warning: Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire. In: Kolloquium Kunst und Philosophie 2, 1982, S. I68ff. (bietet die bislang beste Zarathustra-lnterpretation). Vgl. E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. München (10. Aufl.) 1984, S. 21 Off.

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Claus Zittel

7. ist damit grundsätzlich auf seine sprachphilosophischen Gedanken verwiesen, gemäß derer jede sprachliche Äußerung sowie ihre weiteren sekundären Logifizierungen, wie sie etwa in den Wissenschaften vorgenommen werden, als Dichtungen, d. h. als Fiktionen, anzusehen sind. Ein Durchgang durch diese Rede hat sich mindestens diese Bezüge zu vergegenwärtigen und diese nun experimentierend in wechselnde Konstellationen zu bringen. Dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Erwähnen möchte ich indes, daß auch die scheinbar sicheren Hinweise trügerisch sind. Bei dem Ausruf „Ach es giebt so viele Dinge zwischen Himmel und Erden von denen sich nur die Dichter Etwas haben träumen lassen"26 - ist unschwer als Prätext der Hamlet zu erkennen, welcher ja auch in einer Rede über die Dichter durchaus seinen Platz hat. Doch sind die zitierten Hamletverse zugleich auch das Motto von Nietzsches Lieblingsdrama, dem Manfred, womit die für Nietzsche bedeutsame Konstellation Goethe-Byron, genauer Manfred-Faust aufgerufen ist.27 Erst mit dieser Konstellation verdichten sich die Bezüge auf Nietzsches Schlüsselwort 'Übermensch', welches wenig später fällt. „Wahrlich immer zieht es uns hinan - nämlich zum Reich der Wolken: auf diese setzen wir unsre bunten Bälge und heissen sie dann Götter und Übermenschen",28 denn zum einen findet sich die Bezeichnung 'Übermensch', ironisch gebraucht, auch in der Erdgeistszene des Faust l („Welch erbärmlich Grauen / Fasst Übermenschen dich"), zum ändern hatte Nietzsche in einem frühen Text Byrons Manfred zum Übermenschen erklärt.29 Man könnte nun der Ansicht sein, der Platon-Bezug läge so nah, daß er gar nicht erst genannt werden müßte und daß deshalb der Schaden, welcher durch dieses Versäumnis entstehe, gering sei. Demgegenüber muß man nicht einmal auf den zunehmenden Verlust an Bildungshintergrund heutiger und zukünftiger Leser hinweisen, ein Blick in die Sekundärliteratur zu diesem Kapitel reicht aus, um zu sehen, daß selbst dieser offenkundige Bezug in den allermeisten Fällen übersehen oder übergangen wurde.30 Auch sollte gerade ein augenfälliges Beispiel die absurden Folgen der Richtlinien für Quellendokumentation offenkundig machen. Wenn die Referenz auf Platons Dichterkritik bereits dem interessierten Laien auffallen kann, so gelingt dies beim nächsten Beispiel nicht ganz so leicht.31 Mit dem Platon26 27

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30

31

KSA4, S. 164,Z.26f. Vgl. z. B. KSA 2, S. 183 (Menschliches, Allzumenschliches 1 2 2 ] ) und KSA 3, S. 444 (Die Fröhliche Wissenschaft 86). KSA 4, S. 164, Z. 30f. Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften. Bd. 2. Hrsg. von H.-J. Mette und K. Schlechta. München 1994, S. 10 und S. 14. Stellvertretend für viele vgl. R. Duhamel: Nietzsches Zarathustra. Mystiker des Nihilismus: eine Interpretation von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra - Ein Buch für Alle und Keinen. Würzburg 1991, S. 43 oder als neuestes Rezeptionsdokument R. Schmidt und C. Spreckelsen: Nietzsche ftir Anfänger. Also sprach Zarathustra. München 1995, S. 89-99. Offenbar ist diese Platon-Referenz Vertretern der deutschsprachigen Nietzsche-Rezeption nicht gegenwärtig; sie wird auch vom Nachbericht nicht angeführt. Ausgewiesen gefunden habe ich sie nur bei Laurence Lampert: Nietzsches Teaching. An Interpretation of Thus spoke Zarathustra. New Haven and London 1986, S. 127.

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325

Bezug im Sinn ist jedoch die Aufmerksamkeitsschwelle gesenkt, um auch die folgende, oben bereits genannte Stelle ihrem Prätext zuzuordnen: Und mitunter finde ich auch ein zugeflogenes Thier in meinem Taubenschlage, das mir fremd ist, und das zittert, wenn ich meine Hand darauf 'lege.32

Die Taube, die man mit der Hand greift, war für Nietzsche gewiß ein leicht erkennbarer Hinweis auf den Theaitet33 in welchem die Seele mit einem Taubenschlag verglichen wird, aus dem man sich die Erkenntnisse wie Tauben beliebig herausgreifen, d. h. aktualisieren könne, womit sich ein Intertext ergibt, der sofort Sinn macht.

VI. Ist die Vielfalt der Bezüge einmal aufgewiesen, wird sie ihrerseits kommentarbedürftig. So verweist zum einen die Verweisungsdichte selber auf Nietzsches eigene Überlegungen zum barocken Stil in der Literatur,34 zum ändern liegt damit möglicherweise eine 'Systemreferenz' zu denjenigen Dichtungen der Tradition vor, an welchen Nietzsche seine Überlegungen zur Zitatfülle, zur allegorischen Darstellungsweise als Kennzeichen spätzeitlicher Literatur exemplifiziert: zu Sterne und zum Faust II.35 Auf diese Weise erhalten die Faust //-Bezüge im Zarathustra eine weitere thematische Sinndimension. Zudem ist es plausibel anzunehmen, daß die Schlußstrophe des Faust II nicht nur wegen ihrer Erlösungsthematik zum Prätext wurde, sondern auch aufgrund ihres selbstreflexiven Charakters, denn die Verse: „Das Unzulängliche / Hier wird's Ereignis" lassen sich auch als Kommentar zum Bühnengeschehen verstehen.36 Ohne Frage ist die Klärung dieser Bezüge aufgrund ihrer exemplarischen Bedeutung innerhalb von Nietzsches eigener Poetik von weit größerer Relevanz als die bloße Nennung eines Einzel Verweises. Daraus erhebt sich für die Quellenedition die Forderung, daß der Referenztext soweit zu kommentieren ist, bis derartige Strukturbezüge sichtbar werden. Selbst die Zitierweise kann ihrerseits eine markante Systemreferenz darstellen. Das Umschafrungsprogramm verweist auf Vorgänger, die eine ähnlich souveräne Haltung gegenüber der Tradition an den Tag legten. So urteilte Goethe über Byron [!], mit Blick auf den Faust [!]: „Gehört nicht alles, was die Vor- und Mitwelt geleistet ihm de iure 32

KSA4, S.163.

33

Platon: Theaitetos, St. 197a-200d.

34

KSA 2, S. 180f. (Menschliches, Allzumenschliches I, 221); KSA 2, S. 424f. (Menschliches, Allzumenschliches II. Vermischte Meinungen und Sprüche 113). Vgl. KSA 11, S. 520: Zweites Buch. Flüchtig-Skeptisch-mephistophelisch. 'Von der Einverleibung der Erfahrungen'. Vgl. Heinz Schlaffer: Faust zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1981, S. 164; Albrecht Schöne: „Das Unzulängliche / Hier wird's Ereignis" (Faust 12106f.). In: Sprachwissenschaft 19, 1994,8.231-234.

35

36

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an? Warum soll er sich scheuen Blumen zu finden, wo er sie findet? Nur durch Aneignung fremder Schätze entsteht ein Großes."37 Sogar die Unentscheidbarkeit muß kein Anlaß sein, um für einen diffusen Relativismus zu plädieren, sondern kann als eine pointierte Systemreferenz gelesen werden, wie Nietzsche am Beispiel Sternes selbst nahelegt: Sterne ist der grosse Meister der Zweideutigkeit [...] Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt [...] seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse [...] So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe, liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. [...] Seltsam und belehrend ist es, wie ein so grosser Schriftsteller •wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sterne 's gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig - und das eben ist acht Sternischer Überhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques lefataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodirt? — man kann es nicht völlig herausbekommen, - und vielleicht hat gerade diess sein Autor gewollt?*

Wenn dies auch die Absicht des Autors Nietzsche war, wäre eine wie immer geartete Beschränkung auf eindeutige Bezüge nicht mehr nur eine Entstellung des gegebenen intertextuellen Verhältnisses, sondern gar dessen Verkehrung ins Gegenteil.

VII. Ein weiteres Problemfeld eröffnet bei Nietzsche die nähere Untersuchung der 'intratextuellen' Beziehungen. Dies gehört deshalb zur Quellenfrage hinzu, da aus der Sicht der Intertextualitätstheorie gerade auch das Verhältnis von Selbstzitat und Fremdzitat ein wichtiger Faktor bei der intertextuellen Konstitution des Textes ist. Für den Zarathustra ist dies von zentraler Bedeutung, da der von ihm am häufigsten zitierte Text der Zarathustra selber ist. Im Fortgang der Handlung werden ihm die zurückliegenden Teile, gleichsam historisch, ihrerseits zum 'Quellenfundus'. Mit diesem wird dann nicht anders als mit den Extratexten verfahren: Es werden Einzelelemente herausgeklaubt und in einem permanenten Umschaffen weiter verarbeitet. Dies bringt viele Schwierigkeiten mit sich, von denen ich zwei hervorheben möchte: 1. wird die Grenze des Zitatbegriffs verwischt, denn es bildet sich durch dieses Umschaffen fremder und eigener Texte bei Nietzsche eine starke „autortypische" Bildsprache aus, und damit ein dichter 'autointertextueller' Verweisungsraum, in welchem das einfache Zitieren zurücktritt, oder anders formuliert: alles zum Zitat wird. Somit wäre eine „autoradäquate Interpretation" nur möglich, „wenn der Leser zugleich die besondere Motiv-Verwendung"39 in diesem wie auch in allen anderen 37

Goethes Gespräche. Hrsg. von Flodoard Freiherr von Biedermann und Wolfgang Herwig. Zürich 1971, Bd. III l, Nr. 5564, S. 742. Vgl. dazu Schöne 1994, Anm. 10, S. 12 ff. Es ist verblüffend, festzustellen, wie exakt Schönes Ausführungen zum Faust sich auf den Zarathustra applizieren lassen.

38

KSA2, S. 425. Susanne Holthius: Intertextualität. Tübingen 1993, S. 253 (am Beispiel Trakls).

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Texten des Autors mitberücksichtigt. Dies ist angesichts der Textmenge und Motivfülle bei Nietzsche ein gigantisches Unterfangen und selbst innerhalb des Zarathustra aufgrund der ständigen Wiederholung beziehungsweise Variation der einzelnen Motive eine nicht abschließbare Arbeit. Indes wäre im Kritischen Apparat zumindest 'virtuell' der Konstellationsreichtum anzudeuten und als Aufgabe für den Leser vorzulegen. 2. ergibt sich das Problem der formalen Abgrenzung von Zitat und Wiederholung. Der Nachbericht erteilt in dieser Frage einen knappen Bescheid: „In den Erläuterungen des Zö-Apparates beschränken sich die internen Verweise überwiegend auf wörtliche Zitate und kompositorische Bezüge."40 Doch was ist ein wörtliches Zitat? Der Nachbericht versteht darunter primär Parallelstellen. Wie definiert man die Differenz zur wörtlichen Wiederholung, z. B. der ständigen Schlußformel (oder innerhalb der Rede Von der Erlösung das fünfmalige Auftauchen des Wortes „Bruchstück")? Und was ist mit der bloßen Nennung von Parallelstellen gewonnen? Offenbar sind die Editoren des Nachberichts der Ansicht, die Parallelstellen erläuterten sich von selbst.41 Doch hat diese Praxis, da sie den Text vorstrukturiert, verheerende Folgen für die spätere Lektüre. Wie das Beispiel der Parallele von An Goethe und dem Beginn der Rede Von den Dichtern zeigte, handelt es sich nie um eine bloße Wiederkehr des Gleichen, sondern es geht stets um Variationen, Kontrastphänomene, Analogie-Kontrafakturen, die meist auf die Erkenntnis ihrer Ungleichheit abzielen und die auf diese Weise einer Grundintention von Nietzsches Philosophie, der Kritik an Gleichsetzungen aller Art, dienstbar werden. Daher kann auch kein einheitlicher Formbegriff, etwa ein Gattungsmuster für den Zarathustra in Anschlag gebracht werden. Als Negation der traditionellen Gattungskonventionen angelegt, baut er seine Struktur gleichsam von unten, vom Material her, auf. Was aus der traditionellen Formperspektive sich als Desintegration ausnimmt, entpuppt sich als ein aus textorganisierenden Einzelelementen hergestelltes bewegliches Geflecht unterschiedlichster Relationen.42 Es finden sich z. B. Entsprechungen zwischen verschiedenen dramatischen Personen: zwischen Zarathustra und dem Possenreißer, Zarathustra und dem Zauberer, 40 41

42

KGWVI4, S. 7. Zum Problem der Parallelstellen wie auch überhaupt zum Verhältnis von Deskription und Interpretation sei verwiesen auf die luziden Explikationen von Andreas Thomasberger: Über die Erläuterungen zu Hofmannsthals Lyrik. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio. 5), S. 12ff. Damit gilt für den Text, was Nietzsche über die Welt insgesamt aussagt: Sie „existiert nicht als Welt 'an sich' sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat unter Umständen von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht" (KSA 13, S. 271). Es gibt kein Wesen an sich: „die Relationen constituieren erst Wesen" (KSA 13, S. 303). Nietzsche denkt diese Relationswelt agonal, d. h. als Kampf der verschiedenen Interpretationen untereinander, wobei „das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat" (ebda, S. 271). Nietzsches Relationswelt ist daher strikt von den an Wittgensteins Sprachspielkonzeption anknüpfenden Vorstellungen eines „pluralen Diskursuniversums" zu unterscheiden, in welchem ein freies Spiel aller möglichen Kombinationen erlaubt wäre. Dies ist hier herauszustellen, da die Verfechter einer universalen Intertextualitätstheorie die bloße Pluralität von Diskursen postulieren und sich dabei gerne auf Nietzsche berufen.

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Zarathustra und dem 'hässlichsten Menschen' oder Wiederholungen von Situationen, Konstellationen und Handlungsverläufen. Darüber hinaus gibt es eine unüberschaubare Zahl an kleineren verbindenden Elementen: wiederholend variierte Grundgedanken, Begriffe und Metaphern, auch Metren und Bilder, Leitmotive, formelhaft wiederkehrende Redeweisen und Redensarten, die sich kunstvoll zu einem Netz verknüpfen, welches enger und weiter auseinanderliegende Textteile locker verbindet. Jede Hervorhebung bestimmter Verweise geht stets einher mit einer Verdunklung anderer Bezüge und stellt daher einen massiven Eingriff in die komplexe Sinnkonstitution des Textes dar. Besonders nachteilig wirken sich daher editorische Privilegierungen einzelner Bezüge aus, denn sie stiften mit dem Siegel wissenschaftlicher Objektivität versehene fiktionale Prägnanzen. Sie bedürften deshalb einer eingehenden Rechtfertigung, in welcher auch Grund und Grad der vorgenommenen Reduktion offengelegt werden. Der KGWNachbericht kann angesichts der Fülle an Parallelen allemal nur eine Auswahl präsentieren, die somit den Editoren als relevanter galt als andere, welche, formal betrachtet, genauso möglich gewesen wären. Dann aber müssen die Editoren sich darauf verpflichten lassen, ihre Selektionskriterien transparent zu machen, d. h. die jeweiligen Stellenangaben, da sie weder neutral noch objektivierbar sind, inhaltlich zu begründen. Pragmatische Zwänge, die zur Selektion unter den formal parallelen Stellen nötigen, liefern keinen hinreichenden Legitimationsgrund für eine unausgewiesene Bevorzugung bestimmter Bezüge. Insbesondere in einem mit hohem Autoritätsgrad ausgestatteten Nachbericht einer Kritischen Gesamtausgabe dürften subjektive Präferenzen der Editoren nicht die Ausgangslage für die zukünftige Forschung vorstrukturieren, ohne daß dies zugleich kenntlich gemacht wird. Der Leser des Nachberichts kann sich zwar gelegentlich erschließen, etwa wenn die Wendung „Was liegt an mir" im Text selber als Sprichwort Zarathustras hervorgehoben wird,43 weshalb die Editoren gerade sie aufnahmen. Doch warum daraus keine allgemeine Richtlinie machen, metatextuell ausgezeichnete Passagen zu bevorzugen? Dies ist besser, als auf die Parallelstellen zu verzichten, da dies einer weiteren Selbstentmündigung des Editors gleichkäme.

VIII. Verweise auf im Sinne der Intertextualitätstheorie nicht literarische Bezugspunkte ('außerliterarische Intertextualität') finden sich im Zarathustra-Nachbencht sehr selten, - um so mehr verblüffen die gegebenen: So wird der Ausspruch Zarathustras: „Diese Rosenkranz-Krone, ich selber setzte mir diese Krone auf - als 'eindeutige' „Anspielung auf die Selbstkrönung Napoleons 1804"44 gewertet. Selbst mit viel gutem Willen läßt sich nicht erahnen, welchen Sinn eine solche Anspielung an jener Stelle haben soll. Liest man, um nur eine Möglichkeit anzudeuten, „Rosenkranz-Krone" als Kontamina43

44

KGW VI4, S. 940. KGW VI 4, S. 933 (Erläuterung zu KSA 4, S. 366).

yon den Dichtern

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tion von 'Rosenkranz' und 'Dornenkrone', was, da Nietzsche sehr häufig von diesem Stilmittel Gebrauch macht und der Bibelbezug allgegenwärtig ist, nicht allzu fern liegt, ergeben sich ganz zwanglos intensiv intertextuelle Relationen, welche Zarathustras tragikomische Christus-Märtyrer-Rolle in Szene setzen. Auch ist es eine mindestens ebenso gewisse 'Tatsache' wie die Selbstkrönung Napoleons, daß das Sich-selbst-Bekrönen mit einem Rosenkranz eines der am häufigsten verwendeten Leitmotive45 der Anakreontik ist. So dichtete z. B. Gleim über Anakreon: „Er krönt sein Haupt mit Rosen"46. Da dieser Anakreon stets von „Wein und Liebe" singt und zudem die Rose in der Anakreontik als Bacchusblume gilt, bekommt die blasphemische Selbstinszenierung Zarathustras als Christus auch noch einen dionysischen Einschlag.

IX.

Alle angesprochenen Probleme summieren und potenzieren sich dort, wo gerade Raum für eine argumentierende Darstellung von Nietzsches Umgang mit seinen Quellen wäre, in den Einzelstudien zur Quellenforschung. Hier herrscht zumeist ungebrochen die Quelle-Einfluß-Metaphorik mit allen oben kritisierten Folgen vor, der Text wird aufs Bekannte zurückgeführt, in die Tradition integriert, die Irritationen des Textes in Sicherheiten, d. h. letzte Ursprungsgewißheiten überführt. Dazu bedient man sich eines zweifelhaften, aber verbreiteten Verfahrens: Aus der kunstvollen Verzahnung der Selbstzitate und Fremdzitate wird jeweils ein Glied herausgelöst, mit anderen, ebenso aus ihrem kompositorischen Zusammenhang gelösten Gliedern zu einer künstlichen Kette zusammengefügt, die dann die 'Spur' Hölderlins, Emersons oder Goethes genannt und damit gleichsam zur Fessel für jede spätere Interpretation gemacht wird. Hierbei wäre jedoch zunächst darzulegen, warum z. B. das Goethe-Zitat in Von den Dichtern eher mit anderen Goethe-Zitaten zu korrelieren ist, als mit den diversen Fremdzitaten seiner nächsten Umgebung. Das häufige Verharren der 'Einflußforscher' bei der bloßen Deskription führt sie zumeist dann in Verlegenheit, wenn sie angeben wollen, was mit der gefundenen Quelle anzufangen sei. So wird beispielsweise versichert, ein Fund (z. B. der Justinus-KemerFund in Von grossen Ereignissen) gebe dem Geschehen (am Vulkan) eine neue Wendung;47 worin diese bestehen soll, bleibt Geheimnis. 45

46

47

Referenzen auf 'Leitmotive' können nicht eindeutig einer bestimmten 'Quelle' zugeordnet werden; der Nachbericht schließt sie grundsätzlich aus. Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Gedichte. Hrsg. von Jürgen Stenzel. Stuttgart 1969, S. 3. - Es ist gar keine Frage, daß Nietzsche mit diesem Motiv vertraut war, das sich z. B. auch in Goethes Wanderers Sturmlied findet (weitere Belege bei Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1. Darmstadt 1985, S. 235, Anm. 129). Haase 1994, vgl. Anm. 9, S. 504. Man prüfe auch Vivetta Vivarelli: Empedokles und Zarathustra. In: Nietzsche-Studien 18, (1989), S. 509 ff., und viele mehr. Es versteht sich von selbst, daß ich die Leistungen der KGW-Editoren sowie der Quellenstudien nicht bestreite. Ihre 'Quellenfunde' ermög-

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Besonders schlimm steht es etwa um Nietzsches Verhältnis zu Emerson, bei welchem durch viele philologische Studien das Bild eines starken Einflusses konstruiert werden konnte, da man es verabsäumte, den großen sachlichen Gegensatz beider Philosophien hierbei auch nur als Problem zu sehen.

X.

Wenn ein Text bei seiner Entstehung sich nicht nur einfach in ein Diskursuniversum integriert, sondern darüber hinaus aus dem Fundus der Tradition bestimmte Texte auswählt, um sie zu seinen privilegierten Dialogpartnern zu machen, gerät der Theoretiker der universalen Intertextualität, bringt er andere Gesprächspartner ins Spiel, in einen Legitimationszwang sachlicher Art. Denn auf diese Weise wird der Unterschied zwischen expliziten und generellen Bezügen getilgt, aus einer organisierten Rede ein leeres Verweisungsspiel causa sui gemacht, was einer Entqualifizierung des Textes gleichkommt. Wird durch die Verfahren der traditionellen Quellendokumentation dem Text mit Gewalt ein entstellendes, grob-strukturiertes Antlitz verpaßt, so verliert die Physiognomie48 des Textes durch die Operationen der universalen Intertextualitätstheorien ihre Konturen. Damit ist der Erkenntniswert einer Untersuchung verschenkt, welche sich der besonderen Art der Bezugnahme widmet und über das bloße Bezogensein hinaus auch den 'Beziehungsgrund' zu ermitteln sucht. Auffällig sind daher die nicht von ungefähr verbreiteten räumlichen Metaphern, mit welchen Vertreter einer universalen Intertextualitätstheorie die Beziehungen zwischen Texten beschreiben: „Echokammer"49, „Gedächtnisraum", „Speicher", „Container", „Intertextdeponie" etc.50, welche nur äußere Relationen51 akzidentellen, zufälligen Charakters anzuzeigen vermögen. Entsprechend soll es dann zu „Zusammenstößen" zwischen Texten, und dabei zu „semantischen Explosionen"52 kommen. Eine derartige Lektüre hätte zu zeigen, was bei solchen

48

49 50 51

52

liehen ja erst, bei Nietzsche ein Intertext-Problem zu sehen. Sie werden hier nur exemplarisch hinsichtlich meiner Fragestellung diskutiert. Dieser von Groddeck auf den Zarathustra angewendete Terminus - er attestiert ihm zu Recht eine „'moderne' Physiognomie" -, ist dazu in der Lage, sehr schön die 'deiktische' Funktion der Textgestalt zu veranschaulichen. Groddeck 1994, vgl. Anm. 11 , S. 321. Roland Barthes: Über mich selbst. München 1978, S. 81. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt a. M. 1990, S. 37, 121 u. 36. Zum Terminus 'äußere Relation', welcher eine Beziehung bezeichnet, die ihre Relata in ihrem Sosein unangetastet läßt, wie etwa die Relation zwischen einem Tisch und der auf ihm stehenden Tasse, und diese somit mehr trennt, als eint, vgl. Julius Schaaf: Beziehung und Beziehungsloses. In: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer. Hrsg. von D. Henrich und H. Wagner, Frankfurt a. M. 1966, S. 277-289; Dieter Leisegang: Die drei Potenzen der Relation. Frankfurt a. M. 1969. Lachmann 1990, vgl. Anm. 50, S. 57. - In den Texten Lachmanns findet sich das größte Sammelsurium von Gedächtnismetaphern, welche allesamt nach dem Modell des Computerspeichers geartet sind und dann der 'lebendigen' Textwelt zugeschrieben werden. Ein in der Philosophiegeschichte klassischer Mißbrauch. Nach Nietzsche hingegen ist das Gedächtnis aktiv und immanent dynamisch.

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solchen „Kontaktbeziehungen"53 zwischen Texten außer dem ewig gleichen Ereignis einer semantischen Explosion gewonnen ist. Die anwendungsorientierte Intertextualitätstheorie sieht sich in Nietzsches Fall vor der besonderen Schwierigkeit, daß allein die pointierten Bezüge so zahlreich sind, daß sie nicht mehr neutral objektivierbar und operationalisierbar sind. Die unüberschaubare Menge der Bezüge und Bezugsarten bringt mit sich, daß das Arbeiten mit einem ebenfalls nur formal ausdifferenzierten Deskriptionsapparat, wie er am eindrucksvollsten von Genette54 entworfen wurde, in die Ratlosigkeit führt, welche kategoriale Variante nun jeweils anzuwenden sei. Auch hier kann nur ein interpretierender, urteilender Leser einen stets von seinen subjektiven Fähigkeiten und Zielsetzungen abhängigen Intertext herstellen, und es wäre zu wünschen, daß ein solcher Leser, der damit Nietzsches erklärten Leseanweisungen folgte, auch zugleich Nietzsche-Editor wäre. Dies muß auch noch Montinaris Intention gewesen sein: Die neue Edition verspricht nicht Sicherheit, sondern soll ein echtes Maß an Unsicherheit erzeugen, die Aufmerksamkeit dafür wachhalten, daß der gebotene Text die Wirklichkeit eines lebenden Textes nur unvollkommen abbildet. Der Benutzer erhält den Text nicht zu festem Besitz ausgeliefert, sondern als Aufgabe, an deren Lösung er in jedem Augenblick mitzuwirken hat.55

53 54 55

Es leistet eine ständige Uminterpretation, ein Zurechtfälschen der eigenen und kulturellen Vergangenheit, womit er auch das Geschehen zwischen Texten 'höheren Rangs' adäquat beschreiben kann. Ebda. Vgl. Ge"rard Genette: Palimpseste. Frankfurt a. M. 1993. Bei Campioni 1989, vgl. Anm. 6, S. LXV. Montinari zitiert Karl Stackmann.

Monika Albrecht

Eine Quelle zu der Erzählung Gier und ihre Dokumentation in der kritischen Edition von Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt

Im Goldmann/Rottwitz-Roman fragt die Figur Malina einen jungen Kollegen auf der Frankfurter Buchmesse: „Brauchen Sie Stoff?" (KA l, 368.)' Diese Frage, woher der Schriftsteller sein Material bezieht, welches er wählt und warum, begleitet in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt vor allem diese Schriftstellerfigur, das alter ego der weiblichen Ich-Figur in dem Roman Malina, die am Ende die Geschichten des Ich überantwortet bekommt und allein zurückbleibt. Der Schriftsteller Malina übernimmt jedoch nicht nur das literarische Erbe der Ich-Figur, er ist auch derjenige, der Geschichten sammelt, der wie Iwan Karamasoff in Dostojewskis Roman „aus Zeitungen, Büchern, Broschüren oder einerlei woraus eine gewisse Art von Geschichten" aufhebt,2 nämlich „Geschichten mit letalem Ausgang". (KA l, 388.) Malinas Interesse an Geschichten mit tödlichem Ende begründet sich auf der Handlungsebene aus dem Tod seiner Schwester; als Aspekt der autobiographischen Ebene verweist es auf den Plan des Erzählprojekts mit dem programmatischen Titel Todesarten, an dem Ingeborg Bachmann seit den frühen 60er Jahren schrieb. Das Projekt war als „eine einzige große Studie aller möglichen Todesarten"3 angelegt, in der die Gewaltstrukturen der modernen Gesellschaft im Zentrum stehen, oder, wie sie es 1972 nach der Veröffentlichung des Simultan-Bandes formuliert, es ging ihr darum, zu beschreiben, „was neben uns jeden Tag passiert, wie Menschen, auf welche Weise sie ermordet werden von den anderen", denn, so kennzeichnet sie die Erzählintention und zugleich die immanente Poetik der „Todesarten, das muß man zuerst einmal beschreiben, damit man überhaupt versteht, warum es zu den großen Morden" - gemeint sind Kriege und andere Verbrechen der Weltgeschichte -, „warum es zu den großen Morden kommen kann". (Gul, 116.) Die Fragment gebliebene Erzählung Gier war - gemäß der Absprache mit dem Verleger Siegfried Unseld - als Ingeborg Bachmanns nächste Publikation nach dem Roman Malina (1971) und dem Erzählband Simultan vom Herbst 1972 geplant, der dann Ingeborg Bachmann: Todesarten-Projekt. Kritische Ausgabe. Unter der Leitung von Robert Pichl hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Gotische. München, Zürich 1995, Bd. l, S. 368 (im folgenden zitiert als KA mit Angabe von Band und Seitenzahl). Vgl. Monika Albrecht: „Die andere Seite". Zur Bedeutung von Werk und Person Max Frischs in Ingeborg Bachmanns Todesarten. Würzburg 1989, S. 307. Vgl. Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. München 1983, S. 66 (im folgenden zitiert als Gul mit Angabe der Seitenzahl).

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tatsächlich die letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten der Autorin bleiben sollte. Der Verlagsprospekt Neue Bücher, 1. Halbjahr 1973 verspricht die Erzählung über ein „Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang" (KA 4, 505) für den Mai als Neuerscheinung in der Reihe Bibliothek Suhrkamp - voreilig, wie sich dann herausstellen sollte, denn die Autorin hat den Text trotz mehrfachen Drängens des Verlegers nicht abgeschlossen. Bei ihrem Tod im Oktober 1973 hinterließ sie im wesentlichen das bereits 1970 entstandene Entwurfsmaterial, das in der kritischen Ausgabe in seiner dreistufigen Entstehungsfolge ediert und im Zusammenhang mit der Darbietung von Quellenzeugnissen kommentierend dargestellt wird. Anders als im Fall der subtilen psychischen Morde der übrigen Todesarten-Texte, die nach außen als Selbstmord oder Selbstzerstörung erscheinen, geht es in dem Erzählfragment Gier um einen tatsächlichen Mord, einen Doppelmord, für den der Täter auch juristisch hätte haftbar gemacht werden können, wenn er sich nicht jedem gesetzlichen Zugriff durch seinen Selbstmord unmittelbar nach der Tat entzogen hätte. Während in den Fragmenten der Erzählung Gier der erste 'wirkliche' Mord im Rahmen der Todesarten beschrieben wird, geistert jedoch noch ein anderer Mord, ein 'perfekter Mord', als bloße Gerüchtgeschichte durch die späten Todesarten-Texte, der Mord an der Schwester der zentralen Malina-Figur. Beide Mordgeschichten hat Ingeborg Bachmann in ihren Grundzügen nicht selbst erfunden, sondern der aktuellen Medienberichterstattung entnommen. Mit der Niederschrift der Erzählung Gier hat Ingeborg Bachmann während eines Aufenthalts in ihrer Heimatstadt Klagenfurt im Sommer 1970 begonnen. In einem Brief vom 12. August an den damaligen Leiter des Piper-Verlags schreibt sie, daß sie in diesen Sommerferien in Kärnten das Milieu gefunden habe, das sie „schon lange darstellen wollte, das der wirklich 'Reichen', die in diesem Land ihre großen Jagden und Jagdhäuser haben." (KA 4, 606.) Zu diesem Zeitpunkt war die geplante Erzählung zwar gemäß ihrer Einbettung in die Todesarten-Thematik offenkundig bereits auf ein katastrophales Ende hin angelegt zwei tödlich verunglückte frühere Ehefrauen sind durch ihre Hinterlassenschaften quasi als düstere Vorzeichen in dem Jagdhaus präsent -, das Motiv des 'wirklichen' Mordes geht jedoch auf einen Fund zurück, der Ingeborg Bachmann bei der weiteren Arbeit an ihrem Text quasi zugefallen ist: Ende August des Jahres 1970 sind in Rom eine Frau und ihr Liebhaber von dem Ehemann der Frau erschossen worden, der sich daraufhin selbst getötet hat. Der Fall war wochenlang in den italienischen Medien Gegenstand von Sensationsberichten. Dem Hinweis folgend, daß der „tatsächliche Vorfall [...] aus der römischen cronaca nera des Jahres 1970" stammt,4 konnte dieser Fall ermittelt werden. Die Entdeckung der Quelle im Rahmen der Editionsvorbereitung erleichterte in der Folge die exaktere Datierung der Entwurfskomplexe und bestätigte zugleich den bereits erarbeiteten textkritischen Befund. Das überlieferte Material gliedert sich in drei Textstufen, deren Vgl. Ingeborg Bachmann. Werke. 4 Bände. Hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. 2. Aufl. München, Zürich 1982 [1978], Bd. 4, S. 411.

Eine Quelle zu der Erzählung Gier

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Entstehungsfolge auch aufgrund immanenter Indizien eindeutig bestimmbar ist. Der erste Komplex (Textstufe I) mit der Überschrift Ein reiches Mädchen besteht aus fünf fortlaufenden Typoskriptblättern, die sich auf das Leben der Hauptfigur Elisabeth Mihailovics in dem Kärntner Jagdhaus konzentrieren, die zunächst als Hauslehrerin des „reichen Mädchens" angestellt ist, der Tochter des Millionärs mit dem sprechenden Namen Geldern - die Assoziationen 'Geld' oder 'gelten' liegen nahe -, und die dann die dritte Ehefrau des Hausherren wird. Der zweite Entwurfskomplex (Textstufe II), ein Neuansatz mit dem Titel Das Geldern Bier besteht aus nur einem Typoskript, in dem es weniger - wie die Überschrift suggeriert - um die Grundlage des Reichtums, die Bierbrauerei, geht, als vielmehr zunächst um den Besuch der Protagonisten in Ferlach bei Herstellern von Jagdgewehren. Ingeborg Bachmann berichtete in ihrem Brief an den Verlagsleiter im Zusammenhang mit ihrer neuen Erzählung, daß sie selbst Recherchen dieser Art während ihrer Kärntner Ferien unternommen hat. Die Zwischenstellung dieses Entwurfs zwischen dem ersten längeren Ansatz und dem dritten, nach dem römischen Mordfall geschriebenen Entwurfskomplex ist bereits durch den früheren Namen 'Geldern' in der Überschrift indiziert, denn der Text bringt in seinem weiteren Verlauf den Namen 'Rapatz' hervor. Das ist jener bis zur Verlagsankündigung vom Frühjahr 1973 gültige Name der Hauptfiguren, den Ingeborg Bachmann schon bei ihrem Aufenthalt in Kärnten und offenbar auf einem der Erkundungsgänge findet (KA 4, 504) - die Angabe „Privatweg, Waldgut Rapatz", ob real oder fiktiv, befindet sich auf einem Nachlaßblatt mit handschriftlichen Notizen über das ländliche Kärnten. Der dritte, umfangreichste Entwurfskomplex (Textstufe III) besteht aus insgesamt vierzehn, zum Teil fortlaufenden Typoskriptblättern und ist eindeutig nach der Kenntnisnahme des römischen Mordfalls entstanden, also nach Ingeborg Bachmanns Rückkehr nach Rom und nicht vor Anfang September. Der reale Fall, wie ihn die Presse berichtete, spielte sich am Abend des 31. August 1970 in einer Wohnung in der Via Puccini ab, nicht allzu weit entfernt von Ingeborg Bachmanns eigener Wohnung in der Via Bocca di Leone. Die Presse sprach zunächst von einem Eifersuchtsdrama: Ein vermögender italienischer Adliger erschoß seine Frau, ein ehemaliges Mannequin, und deren Liebhaber, einen Studenten, der gemäß der damals gebräuchlichen Terminologie meist als Gammler oder Hippie bezeichnet wird, und richtete anschließend das Gewehr gegen sich selbst. Was den Fall zu einem Medien -Ereignis machte, das wochenlang das Interesse ganz Italiens zu wecken und wachzuhalten imstande war, wie eine Zeitung rückblickend resümiert,5 war der Umstand, daß es Journalisten gelungen war, offenkundig schon in der Mordnacht einiges von den trüben Hintergründen der Bluttat ans Licht zu zerren und es dem Metier entsprechend auszuweiden. Bereits die Morgenausgaben des ersten September wußten zu berichten, daß es sich bei dem Mörder um einen Mann mit voyeuristischen Neigungen gehandelt hat, der seiner Frau nicht nur jahrelang bezahlte Liebhaber zugeführt und deren Zusammensein photographiert hatte - der ermordete Student war einer davon -, sondern wahrscheinlich auch selbst an dieser besonderen Freizeitgestaltung teilgenommen hatte. Vgl. II Giornale d'Italia, 10. 9. 1970.

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Ingeborg Bachmann war in Rom, als die Medien über diesen skandalösen Fall berichteten. Die Anzahl und die Vielschichtigkeit der Parallelen zwischen der realen Bluttat und dem fiktiven Geschehen in dem dritten großen Entwurfskomplex der Erzählung Gier lassen zudem keinen Zweifel darüber zu, daß die Autorin den Mordfall auch eingehend zur Kenntnis genommen hat, denn das davor geschriebene Entwurfsmaterial wird nunmehr in starker Anlehnung an diesen realen Fall weiterentwickelt. In dem dritten und umfangreichsten Entwurfskomplex übernimmt sie nicht nur das Motiv des Doppelmordes mit anschließendem Selbstmord, sondern auch andere Aspekte des von der Polizei rekonstruierten Falls und seiner Vorgeschichte. Was Ingeborg Bachmann zunächst an den Berichten fasziniert haben dürfte, wird der verblüffende Zufall gewesen sein. Ein wohlhabender Mann, eine Frau aus eher kleinen Verhältnissen, eine halb erwachsene Tochter, die die Stiefmutter nicht akzeptieren will, Hausangestellte, deren Hauptaufgabe darin zu bestehen scheint, nichts von den wahren Verhältnissen nach außen dringen zu lassen - diese Figurenkonstellation hatte Ingeborg Bachmann in den Kärntner Ferien entworfen und dann in Presseberichten zu dem Mordfall wiedergefunden. Wenn sie in der Folge das Blutbad als tragischen Ausgang ihrer Geschichte adaptierte, dann stand bei der weiteren Ausgestaltung ihrer Erzählung die Frage, wie es zu einer solchen Tat kommen kann, im Mittelpunkt ihres Interesse. In der Erzählung Drei Wege zum See, in der der Mordfall Rapatz als Zeitungsmeldung auftaucht, kommentiert die Hauptfigur die Presseberichte: „[...] unsere brave Gendarmerie wird nie herausfinden, was da wirklich los war, denn es stimmt alles nicht, was die sich in ihren beschränkten Hirnen zusammenreimen, da stimmt überhaupt nichts." (KA 4, 452.) Tatsächlich werden die Motive in den Berichten über den römischen Mord bis zuletzt widersprüchlich dargestellt und bleiben im Grunde unbegreiflich. In dem von Ingeborg Bachmann gebilligten und korrigierten Ankündigungstext des Verlags zu der Erzählung Gier ist dagegen von einem „angeblichen Eifersuchtsdrama" die Rede, dessen wahren Hergang die Erzählung enthüllen sollte. (KA 4, 505.) Ein Beispiel soll exemplarisch zeigen, wie Ingeborg Bachmann die Quelle verändert und unter dem Vorzeichen der Todesarten-Thematik in das bereits vorhandene Material einarbeitet. Den Ermittlungen der Polizei zufolge hat die Ermordete in dem realen Fall sich den besonderen Wünschen ihres Ehemanns lange Zeit gefügt, sich dann aber in den Studenten verliebt, was der Ehemann und spätere Mörder nicht dulden wollte. Bei Ingeborg Bachmann steht die Forderung des Mannes an die Frau, mit einem anderen zu schlafen und ihn selbst durch anschließende detaillierte Berichte quasi daran teilhaben zu lassen, als einmaliger Fall am Ende der Geschichte einer Persönlichkeitszerstörung, bei der die Protagonistin sich auf ein ihr völlig fremdes Leben einläßt, dabei alles Eigene aufgibt und mehr und mehr zu einer willenlosen Marionette wird. Die Frau geht schließlich, ohne mehr als oberflächliche Sympathie für den aufgezwungenen Partner zu empfinden, zunächst auf die Forderung ein. Anstelle der vom Ehemann geforderten intimen Beziehung kommt es jedoch zu einer wortlosen, fast magischen Begegnung, in der jeder der beiden auf seine Weise begreift, daß er nur eine Figur in dem besitzergreifenden Spiel um die Macht über Menschen ist: „[...] sie standen nur da, aneinandergepreßt wie Verurteilten, die man nackt vor Jahrhunderten an einen Pfahl gebunden

Eine Quelle zu der Erzählung Gier

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hatte, um sie zu verbrennen." (KA 4, 501.) Es ist dies ein Beispiel, bei dem Ingeborg Bachmann sich bei der Bearbeitung des Stoffes am weitesten von dem tatsächlichen Fall entfernt, um unmittelbar danach mit der Beschreibung des Mordes wieder zur engen Anlehnung an die Quelle zurückzukehren. Ein Hinweis der Autorin, daß der reale Fall ihr als Quelle nicht zuletzt für den tödlichen Ausgang der Erzählung Gier gedient hat, liegt derzeit nicht vor, das heißt, weder in öffentlichen Äußerungen noch in der Verlagskorrespondenz oder den derzeit bekannten privaten Briefen erwähnt sie den römischen Mordfall. Die tatsächliche Quelle war entsprechend bislang nicht zu ermitteln, wobei allerdings davon auszugehen ist, daß es mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht nur eine einzige Zeitung gewesen ist. Das Interesse der Autorin an dem Fall war eindeutig so groß, daß sie auf der Suche nach weiteren Details möglicherweise mehrere Zeitungen dazu gelesen hat - zumindest legt eine nicht in die Druckfassung der von ihr selbst so genannten ,,imaginärer[n] Autobiographie" (Gul, 73) Malina eingegangene Passage, in der die Ich-Figur von einer Mordgeschichte in der Zeitung fasziniert ist, eine solche Überlegung nahe. Dort heißt es: „Es ist ein besonderer Fall, ich muß noch andere Zeitungen kaufen." (KA 3.2, 713.) In der Erzählung Drei Wege zum See sucht sich die Hauptfigur die Details des Mordfalls Rapatz ebenfalls aus mehreren Zeitungen zusammen. (KA 4, 449-452.) Ingeborg Bachmann wird außerdem wahrscheinlich nicht nur den einen oder anderen Bericht in Rundfunk und Fernsehen zu Kenntnis genommen, sondern vielleicht auch andere mündliche Quellen gehört haben, wie sie bei einem solchen zum Stadtgespräch werdenden Fall in vielfältiger Weise denkbar sind. Der besondere Charakter der Quelle erforderte also zunächst grundsätzliche Entscheidungen im Hinblick auf die Sammlung des potentiellen Quellenmaterials für die kritische Ausgabe. Während die Forschung im Idealfall bestrebt ist, alles erreichbare Quellenmaterial einzubeziehen, stellte sich in diesem besonderen Fall die Frage, wieviel Material eine kritische Ausgabe für die Forschung zur Verfügung stellen soll und kann. Dabei war nicht zuletzt der geschätzte Umfang des potentiellen Quellenmaterials zu berücksichtigen. Allein die im Rahmen der Editionsvorbereitung herangezogene Quelle, die Berichterstattung der Tageszeitung // Giornale d'Italia über einen Zeitraum von mehreren Wochen, würde in gedruckter Form bereits ein Vielfaches der fragmentarischen Erzählung ausmachen, deren dritte, für die Quellendarbietung relevante Fassung einschließlich der kritischen Apparate im Druck knapp zwanzig Seiten umfaßt. Die Artikel schon dieser einen Zeitung bieten jedoch nach den ersten Tagen der Berichterstattung immer weniger neue Details und reproduzieren stattdessen im wesentlichen das Bekannte mit anderen Worten. Die vollständige Dokumentation allein dieser nach praktischen Maßgaben gewählten Quelle stünde also bereits in keinem Verhältnis zu ihrem Aussagewert. Weiterhin war die wechselseitige Beeinflussung der Medien zu berücksichtigen - Zeitungen schreiben voneinander ab, andere Medien berufen sich auf Pressemeldungen usw. -, so daß die Berichterstattung einer geeigneten Zeitung über einen längeren Zeitraum im Hinblick auf alle Fakten des Falls durchaus als adäquate Manifestation der Quelle gelten kann. Da einerseits eine konkrete Quelle nicht belegt ist, andererseits generell alle in Frage kommenden Medien des entsprechenden

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Zeitraums als weitere mögliche Quelle gelten können, war in diesem Fall das Quellenmaterial aus erreichbaren Informationen zu sammeln und zu rekonstruieren. Auch im Fall des anderen Mordes in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Pro)ekl, in dem des vorher erwähnten 'perfekten Mordes' an Malinas Schwester, ist die tatsächliche Quelle nicht bekannt. Die Agenturmeldung über den durch einen Hai verursachten tödlichen Badeunfall der österreichischen Schriftstellerin Helga Pohl im Jahr 1963 war jedoch angesichts des geringen Bekanntheitsgrades der Verunglückten lediglich Anlaß für kurze Berichte in den Zeitungen. Diese beschränken sich im wesentlichen auf die Tatsache, daß die Frau von einem Boot aus geschwommen und dann von einem Hai ins Meer hinausgezogen worden ist. Ingeborg Bachmann übernimmt dieses Motiv mit einer entscheidenden Änderung: Bei ihr ist außer der Verunglückten nur eine weitere Person in dem Boot, so daß ein 'perfekter Mord' vorzuliegen scheint: Es gibt keine Leiche und keine Zeugen. Dieser Mord begleitet im Todesarten-Projekt von 1966 an als Leitmotiv die Gerüchtgeschichten um Malinas Schwester. Die kritische Edition teilt in diesem Fall im Sachkommentar zum ersten Auftauchen des Motivs dieses 'perfekten Mordes' exemplarisch einen kurzen Zeitungsartikel mit, der die genannten Fakten enthält, und verweist bei allen strukturgenetisch späteren Motiv-Variationen mittels ihres Querverweissystems auf diese erste Quellenmitteilung. Während bei einer solchen begrenzbaren Übernahme kurzer Zeitungsmeldungen eine textstellenbezogene Quellendarbietung im Sachkommentar möglich ist, konnte diese im Fall des römischen Doppelmordes gemäß des Umfangs und der Vielschichtigkeit der Motivübernahmen in der Erzählung Gier nur in der erläuterten Form des textkritischen Kommentars erfolgen. Das verfügbare Zeitungsmaterial wurde dabei auf einen vertretbaren Umfang reduziert und nach thematischen Schwerpunkten geordnet. Diese pragmatische Auswahl ist jedoch insofern vorläufig, als geplant ist, darüber hinaus zumindest das bei der Editionsvorbereitung verwendete Quellenmaterial vollständig in die in Vorbereitung befindliche Edition auf dem Datenträger CD-ROM aufzunehmen, der unter anderem auch die vollständige Transkription aller in die kritische Ausgabe eingegangenen Texte enthalten soll. Obgleich es nicht die Aufgabe eines textkritischen Kommentars sein kann, die Fragen von Übereinstimmungen beziehungsweise Abweichungen zwischen Text und Quelle interpretierend darzustellen, waren diese Fragen angesichts der notwendig gewordenen Auswahl des Quellenmaterials als Auswahlkriterien zu berücksichtigen, die Fragen, was hat Ingeborg Bachmann an dem Fall interessiert, was nicht, oder noch weiter gefaßt, da die tatsächliche Quelle in diesem Fall nicht bekannt war: Was hätte sie betrachtet vor dem Horizont des gesamten Prosaprojekts Todesarten -, was hätte sie noch interessieren können und was liegt so weit abseits, daß es aus der Auswahl herausfallen konnte. Letzteres betraf, da Ingeborg Bachmann den Schauplatz Kärnten und die österreichische Personenkonstellation nicht veränderte, zum Beispiel die italienischen Besonderheiten des tatsächlichen Mordfalls wie etwa die Beschreibungen der römischen Örtlichkeiten oder die Beerdigung des Ehepaars, die in den Fragmenten von Ingeborg Bachmanns Erzählung nicht auftaucht. Das ausgewählte Quellenmaterial wurde unter thematischen Schwerpunkten zusammengefaßt, die dem Vergleich mit den

Eine Quelle zu der Erzählung Gier

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entsprechenden Motiven bei Ingeborg Bachmann dienen. Ein erster Komplex von Zeitungszitaten ist den Berichten unmittelbar nach der Mordnacht entnommen und stellt die Konstellation des realen Falls - den Mörder und seine Opfer - und den Tathergang vor. Die von den Journalisten aufgedeckte Vorgeschichte des Mordfalls und Details zu den Haupt- und Nebenfiguren bilden weitere Zitatkomplexe. Aufgrund des zentralen Interesses der Autorin an den Motiven für das Blutbad gilt die umfangreichste Auswahl von Zeitungszitaten den Nachforschungen der Polizei, die die Gründe für den Mord zu ermitteln versuchte, und nicht zuletzt den zahlreichen Mutmaßungen der Journalisten und der Fachleute. Mit dieser Auswahl ist im Kommentar der kritischen Edition eine Vergleichsbasis für die Forschung bereitgestellt, die dieser die Möglichkeit eröffnet, die Bezüge zwischen Text und Quelle im einzelnen zu analysieren.

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Am Anfang steht die Lektüre Intertextualität als Kommentierungsproblem Das Beispiel Hans Henny Jahnn

I. „Man muß es schätzen, wenn ein Mann heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein" sagte Walter. „Das gibt es nicht mehr" meinte Ulrich. „Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehn. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit."1

Walters Traum, etwas 'Ganzes' darzustellen, scheint dem Traum jenes Mannes zu ähneln, der im Zentrum der folgenden Ausführungen steht: Hans Henny Jahnn. Ulrich hingegen beschreibt eine ernüchternde Erfahrung, die heute fast jeder denkende Mensch teilt: Unsere Gesellschaft ist in ausdifferenzierte Systeme zerfallen - genauso der Bereich des Wissens. Überall stoßen wir auf Spezialgebiete, die nur noch von Experten beherrscht werden können. Wir bewegen uns in relativ unabhängigen, ihren Eigengesetzlichkeiten gehorchenden Diskursen. Kommentieren, Übersetzen wird nötiger denn je, denn von einer traditionellen 'Allgemeinbildung' kann immer weniger die Rede sein. Der Versuch, ein 'Ganzes' zu denken, scheint heute von vornherein zum Scheitern verurteilt und anachronistisch zu sein. Jahnn aber hat ihn gewagt, und hierin ist er ganz dem traditionellen Denken der Neuzeit verpflichtet. Zugleich lehnt er sich allerdings gegen die grundlegende, cartesianische Vorstellung vom denkenden Menschen auf, der seinen Körper genauso beherrscht wie seine Umwelt, die er sich zum Objekt macht. Jede Konstituierung des Subjekts, die auf Abstraktion beruht, scheint Jahnn zerstörerisch zu sein. „Ich fühle, also bin ich", könnte man in seinem Sinne formulieren. Das Einheitsstiftende ist nicht in der Reduktion auf vergleichbare Eigenschaften zu suchen, sondern in der Unterschiedlichkeit einzigartiger Körper, die Teil einer Schöpfung sind, der 'harmonikale', heilige Gesetze innewohnen, die sinnlich ergründet werden können. Für Jahnn sind die christliche Vertröstung auf ein Jenseits und der naturwissenschaftliche Rationalismus genauso Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I. Hrsg. von Adolf Frisö. Reinbek 1987, S. 217.

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obsolet wie der marxistische Materialismus. Das Subjekt muß aus der Vorherrschaft des Intellekts herausgelöst werden, um seinen Geist und seine Empfindungen, das, was Jahnn 'Konstitution' nennt, frei entfalten zu können. In einem Brief an Ernst Kreuder erklärt Jahnn: Die [...] Seele muss ernährt, in Einklang mit sich selbst und der Umwelt gebracht werden, sonst tönt sie nicht oder misstönt. Es ist gut, wenn man oft und lange allein ist; aber es ist nicht gut, wenn man einsam ist. Die Einsamkeit führt zur Lebens- und Schaffensuntauglichkeit, bestenfalls zur Philosophie, der die sinnliche Komponente, das Abgetastete fehlt. Ich denke zuweilen, dass die Absage an den Tastsinn, die ja unter unseren Himmelsstrichen die kristliche Religion kennzeichnet, die Wurzel vieler Plagen ist und die brutale Form sadistischer Akte geradezu züchtet. Denn es gibt ja keine echte Liebe, weder zu Menschen, zu Tieren, zu Bäumen, zum ändern und zum gleichen Geschlecht, die nicht nach der zärtlichen Berührung verlangte. Selbst die Engel „ringen" und wirken durch Berührung und üben so den Beischlaf des Geistes.2

Sein Lebenswerk steht ganz im Zeichen der Suche nach dem sinnlich erfahrbaren Allgemeingültigen, Wahren. Den Zerfallserscheinungen der auf flüchtigen Gewißheiten fußenden europäischen Zivilisation setzt Jahnn das Lob der Schöpfung entgegen, die für ihn nicht Werk Gottes, sondern Gott selbst ist. Dem destruktiven Prinzip, dem Fürchterlichen, das er überall entdeckt, will er sich durch ein alles umfassendes Mitleid und durch eine konstruktive schöpferische Phantasie widersetzen. Dieser tiefreligiöse Impuls motiviert sein gesamtes Schaffen; wenn Jahnn den Sinn seines Werks in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens auch immer öfter bestreitet. In den großen Fragmenten, die er hinterließ, vereinen sich Erfolg und Versagen. Die Romanprojekte Perrudja und Fluß ohne Ufer bleiben unabgeschlossen. Die in jahrelanger Arbeit entworfenen Tempel werden nicht erbaut. Seine Glaubensgemeinde wird schon bald nach ihrer Gründung wieder aufgelöst. Die verschiedenen Schaffensbereiche überschneiden sich für Jahnn in der Chiffre 'Ugrino'. 1946 faßt er in einem Brief zusammen, was dieses Phantasiewort zwanzig Jahre zuvor für ihn bedeutete: Es wurden im Geistigen wirklich die Mittel über den Zweck gestellt und damit eine unsichtbare Revolution im Verhalten des Menschen zu seinen Zielen angedeutet. Wie weit das jemals verstanden wurde und wie weit ich es ehemals formulieren konnte, ist dabei gleichgültig.3

Der Wunsch nach einer universalen Idee scheint die Wurzel für Jahnns Größe und für sein Scheitern zu sein. Der kommentierende Herausgeber seiner Schriften findet sich gleichsam an diesen Ursprung zurückgeworfen und steht vor dem Dilemma, den Leser einerseits mit einer kaum überschaubaren Materialfulle aus unterschiedlichsten Wissensgebieten konfrontieren zu müssen - und andererseits dessen Aufmerksamkeit auf den GesamtzusammenHans Henny Jahnn und Ernst Kreuder: Der Briefwechsel 1948-1959. Hrsg. von Jan Bürger. Mainz 1995, S. 17. Hans Henny Jahnn: [Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe.] Briefe I-II. Hrsg. von Ulrich Bitz, Jan Bürger, Sandra Hiemer und Sebastian Schulin. Bd. 2. Hamburg 1994, S. 432. (Im folgenden: Briefe I bzw. II.)

Intertextualität als Kommentieningsproblem

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hang zu lenken, ohne den ein Verständnis der einzelnen Werke oft erschwert wird. Die Zwickmühle oder die Gezeichneten oder H. H. Jahnn der Schriftsteller contra H. H. Jahnn, Orgelbauwissenschqftler von Hans Henny Jahnn dem Dritten* überschreibt Jahnn 1928 ein dramatisches Fragment. Und in eben dieser 'Zwickmühle' glaubt sich zwangsläufig jeder zu befinden, der den Versuch unternimmt, eine gültige Aussage über Jahnns Schaffen zu machen, das zugleich hochkomplex und von wenigen Themen beherrscht, zugleich in die unterschiedlichsten Wissensbereiche zersplittert und doch aus einem Guß ist.

II. Walter ist im Grunde zu grob, zu unselbständig und ungeschickt. [...] Er hat einfach Angst vor mir. Seine Bewunderung ist eine panische. Er übersieht mich nicht, wie man einen hohen Berg nicht übersieht. Jeder neue Anstieg ist ihm erstaunlich und schwer zugleich [...]5

Hier ist selbstverständlich ein anderer 'Walter' gemeint als in den eingangs zitierten Worten. Dieses Zitat stammt nicht aus der Feder Robert Musils; es handelt sich um eine Äußerung Jahnns über seinen Freund und Förderer, den berühmten Schweizer Literarhistoriker Walter Muschg. Ob die Unverschämtheit gegenüber dem wohl ersten Jahnn-Forscher berechtigt ist, bleibe dahingestellt. Zweifelsohne hingegen kann das Zitat als Hinweis auf eine Gefahr gelesen werden, der sich jeder Kommentar stellen sollte: seine erhellende Wirkung kann leicht durch den unfreiwilligen Nebeneffekt zunichte gemacht werden, daß in den Erläuterungen die Komplexität eines Kunstwerkes zu stark reduziert wird. Oft läßt sich beobachten, daß Wissenschaftler ihren Gegenstand gleichsam auf ihr eigenes Niveau herunterziehen, weil sie nicht damit rechnen, dem Künstler, dessen Werk sie bearbeiten, unterlegen zu sein, oder über Einzelproblemen den entscheidenden Blick für den Gesamtzusammenhang verlieren. „Man zerlegt den Elephanten, aber man sieht ihn nicht" - mit diesen Worten antwortete Oskar Loerke 1921 auf Julius Babs Verriß von Jahnns Erstling Pastor Ephraim Magnus.6 Die Arbeit an einem Stellenkommentar ist ihrer Natur nach sezierend, und hierin liegt die Stärke und zugleich die Schwäche dieser literaturwissenschaftlichen Schreibweise. Sie erfüllt ihren Zweck erst dann, wenn es dem Leser gelingt, die bloßgelegten Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen, wenn sie also das Verstehen (und jedes Verstehen ist Interpretation) fördert. Im

4

5 6

Hans Henny Jahnn: [Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe.] Dramen I. Hrsg. von Ulrich Bitz. Hamburg 1988, S. 851-860. Briefe I, S. 1083. Zitiert nach: Hans Henny Jahnn: [Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe.] Fluß ohne Ufer III. Hrsg. von Uwe Schweikert und Ulrich Bitz. Hamburg 1986, S. 855. (Im folgenden: Fluß ohne Ufer III.)

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Gegensatz dazu erzeugen Stellenkommentare bei poetischen Texten in der Praxis nur zu oft Hilf- und Ratlosigkeit. Ursache dieser Verständnishemmung kann nicht nur jenes Gefühl des „Ausgeliefertseins gegenüber den erdrückenden Kenntnissen"7 des Kommentators sein, das Gunter Martens in seinem grundlegenden Beitrag Kommentar - Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? herausarbeitet, sondern auch jene 'zerlegende' Vorgehensweise, die dem Einzelstellenkommentar seiner Natur nach eigen ist. Bevor ich auf diese Problematik zurückkomme, möchte ich einen kurzen Einblick in die Beschaffenheit von Jahnns Werken und die daraus entstehenden Aufgaben und Schwierigkeiten für die Kommentierung geben. Schlägt man den umfangreichen Kommentarteil des von Ulrich Bitz bearbeiteten ersten Bandes der Dramen Jahnns,8 der wohl der wichtigste Schritt zur Erschließung dieses Autors seit den frühen Arbeiten von Walter Muschg und Hans Wolffheim ist, an einer beliebigen Stelle auf, wird deutlich, daß die Verwendung von 'Quellen' für Jahnn wie für fast alle bedeutenden Autoren unseres Jahrhunderts eine außerordentlich große Rolle spielt. Obgleich er sich in seinen Selbstdarstellungen gerne als 'Wenigleser' stilisierte,9 sind seine Arbeiten von zahllosen intertextuellen Bezügen geprägt. Unter Intertextualität verstehe ich in Anlehnung an Umberto Eco das Phänomen, daß in einem Text andere, früher geschriebene Texte nachklingen.10 An vielen Stellen führt der Nachweis der von Jahnn verwendeten 'Quellen' an die Grenze dessen, was im Rahmen des Kommentars einer Studienausgabe allein schon aus praktischen Erwägungen geleistet werden kann. Hiermit stoße ich zu der Kernfrage meiner Ausführungen vor: Wie können 'Quellen' beziehungsweise 'Intertexte' in einer Studienausgabe angemessen präsentiert werden? An einem Beispiel aus der Romantrilogie Fluß ohne Ufer läßt sich die Problematik veranschaulichen. Am Anfang des zweiten Teiles der Niederschrift des Gustav Anlas Hörn findet sich eine längere Partie, in der der Ich-Erzähler seine Weltanschauung, die sich weitgehend mit der Jahnns deckt, in Anbetracht einer Libelle entwickelt, die vor seinen Augen von einigen Ameisen getötet wird. Je genauer der Erzähler diesen grausamen Vorgang beobachtet und je tiefer er über die Weltwahrnehmung der Insekten, über ihr nicht oder nur wenig ausgeprägtes Schmerzempfinden und die maschinelle Logik ihres Tagewerks nachdenkt, desto mehr gerät ihm die Beschreibung der Tiere zu einer Beschreibung des modernen Menschen. Ein für Jahnn typisches Vorgehen: aus der differenzierten Wahrnehmung der Natur werden Gedanken entwickelt, die vorgeben, wahr zu sein. 7

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Gunter Martens: Kommentar - Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers. In: editio 7, 1993, S. 38. Hans Henny Jahnn: [Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe.] Dramen I. Hrsg. von Ulrich Bitz. Hamburg 1988. Vgl. folgende Äußerung Jahnns: „Meine große Gabe aber ist, daß ich wenig gelesen habe, mich durch Gelesenes habe wenig beirren lassen - und mit unsagbarer Gelduld und schrecklicher Sehnsucht, einen Sinn zu finden, beobachte. Meine Werke sind, so verstanden, alle etwas Naturwissenschaftliches - und voller Moral." (Briefe II, S. 296.) Vgl. Umberto Eco: Streit der Interpretationen. Konstanz 1987, S. 53.

Intertextualität als Kommentierungsproblem

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Sicherlich, die Ameisen haben nicht eine überlegte Tat begangen. Sie handelten aus Gier und Instinkt. Ihre Schuld war nicht plötzlich. Sie war als Nichtschuld immer in ihnen. [...] - Es ist ein einziges Entsetzen, ohne Sinn, ohne Moral. - Sofern es wirklich ist. Die große Gleichgültigkeit schaut auf den schlimmen Ablauf'[...] Die Harmonie ist unerfüllt, das läßt sich nicht leugnen. Es ist wie es ist, und es ist fürchterlich. Das Gebet ist leicht. Die Wahrheit, die sich zeigt, ist schwer. Das Wirkliche muß die Wahrheit sein, denn im Unwirklichen ist sie nicht.''

„Bei Jahnn hören wir - paradox ausgedrückt -", heißt es in Karlheinz Deschners 1957 veröffentlichter Streitschrift Kitsch, Konvention und Kunst, „weniger die Sprache eines Autors als die Sprache der Elemente. Er beschreibt, aber wenn er beschreibt, ist es so, als spräche die Natur selbst."12 Und noch heute, fast vier Jahrzehnte später, wird Jahnn vor allem für seine grandiosen Naturschilderungen gelobt. Er scheint eine außerordentlich genaue Beobachtungsgabe besessen zu haben, die sich zum Beispiel an seiner Sicht auf die Welt der Insekten beweist. Wer käme da auf die Idee, daß an der erwähnten Textstelle nicht nur die wichtigsten weltanschaulichen Gedankenstränge der Trilogie enggeführt, sondern auch mehrere Intertexte miteinander verwoben werden? Diese Dimension des Textes wird schlagartig sichtbar, wenn man einen Brief Jahnns hinzuzieht, den er am 22. Dezember 1942 an Ludwig Voß schrieb. Dieser wahrscheinlich einige Zeit vor der erwähnten Romanpassage entstandene Brief bringt nicht nur die selbe Skepsis an der Harmonie der Schöpfung zum Ausdruck, sondern legt auch einige literarische Anspielungen bloß. So hat Jahnn den beschriebenen Insekten nicht etwa in seinem Garten aufgelauert - die Lektüre ersetzt die Beobachtung. In dem Brief beruft er sich auf den Insektenforscher Jean-Henri Fabre. Auch für die Feststellung über die „große Gleichgültigkeit", die „auf den schlimmen Ablauf schaut, nennt Jahnn seinem Freund eine Quelle: den Roman Schwarze Weide von Horst Lange.13 „[...] - und auf einmal wurde mir klar," lautet die Stelle aus Langes heute fast vollständig vergessenem Roman, auf die sich Jahnn bezieht, „daß alles, was Natur genannt wird, eine einzige Gleichgültigkeit darstellt, bar jeder Empfindung, unfähig, Mitleid zu haben, Gutes und Böses zu tun f...]".14 - Es ist nur ein kleiner Schritt von diesen Gedanken zu Jahnns berühmtem „Es ist wie es ist". Doch nicht genug der Anspielungen: Zu den auffälligsten Charakterisika von Langes erstmals 1937 veröffentlichtem Roman gehören seine außerordentlich präzisen Naturbeobachtungen, die in der deutschsprachigen Prosa dieser Zeit wohl nur mit denen Jahnns verglichen werden können. Und schon auf den ersten Seiten der Schwarzen Weide findet sich die Beschreibung einer Spinne, die unweigerlich an Jahnns Libelle erinnert.15 Eine vergleichbar eindringliche Beschreibung von gefräßigen Larven gelingt

1

'

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13 14 15

Hans Henny Jahnn: [Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe.] Fluß ohne Ufer II. Hrsg. von Uwe Schweikert. Hamburg 1986, S. 9f. Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift. München 1957, S. 101. Vgl. Briefe!!, S. 113. Horst Lange: Schwarze Weide. Frankfurt a. M. 1981, S. 160. Ebda, S. 8f.

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Lange auch in seinem 1940 publizierten Roman Ulanenpatrouille, den Jahnn ebenfalls kannte.16 Der intertextuelle Befund der Textstelle wird dadurch noch komplexer, daß einerseits auch Lange möglicherweise die Arbeiten Fabres benutzte und sich andererseits Jahnns Wissen über den französischen Insektenforscher vermutlich auf Sekundärquellen beschränkte, da er dessen Namen in dem Brief falsch schreibt. Eine dieser möglichen Quellen sind Andre Gides sokratische Dialoge Corydon, die Jahnn schon bald nach Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe rezensierte, und in denen sich Gide an zahlreichen Stellen auf Fabre beruft. Eine andere ist der erste Band von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Anders als Jahnn in Fluß ohne Ufer scheut sich Proust nicht, Fabre als Quelle für genau jenes Beispiel einer Schlupfwespe zu nennen, das auch Jahnn in seinem Brief an Ludwig Voß ausführlich wiedergibt.17 Schließlich sollte man sich auch die Heuschrecken aus der Offenbarung des Johannes in Erinnerung rufen und nicht vergessen, daß Naturbeobachtungen bereits in Jahnns frühesten Schriften eine entscheidende Rolle spielen und dort ebenfalls nicht ohne Vorbilder auskommen; man denke nur an seine intensive Beschäftigung mit den anatomischen Arbeiten von Leonardo da Vinci und Georg Büchner. Diese beiden Autoren wiederum haben großen Einfluß auf die Entwicklung des 'Ugrino'-Gedankens. Das Beispiel führt vor, wie komplex sich das Phänomen der Intertextualität in einem kaum zwei Druckseiten umfassenden Textausschnitt gestalten kann; zugleich markiert es die Grenze dessen, was im Stellenkommentar einer Studienausgabe geleistet werden kann. Denn welchem Leser hilft ein bloßer Hinweis auf Textstellen aus mehreren Schriften Jahnns und auf die zum Teil ausgesprochen schwer zugänglichen Werke von wenigstens sechs verschiedenen Autoren? Ulrich Bitz versucht diesem Sachverhalt in seinem Kommentar zu Jahnns Dramen gerecht zu werden, indem er dem Leser ausführliche Zitate aus den angespielten Texten bietet. Doch ein solches Vorgehen würde bei unserem Beispiel den Stellenkommentar ad absurdum führen, weil neben der Partie aus der recherche zumindest der zweite Dialog aus Corydon und weite Passagen des 16 17

Vgl. Horst Lange: Ulanenpatrouille. München 1986, S. 82f. Jahnn schreibt an Ludwig Voß: „Ein Franzose, ich glaube Le Febre heißt er, hat nachgewiesen [...], daß eine Art Schlupfwespe folgende intelligente Brutpflege betreibt: Das Weibchen legt Eier, um hinterher zu sterben. An und für sich schon höchst merkwürdig. Ehe es stirbt, sucht es einige Insekten, z. B. Spinnen, zerreißt mit einem Stich, so genau gezielt, daß kein Chirurg es nachmachen könnte, das Bewegungsnervensystem, ohne irgendwelche anderen Nerven zu zerstören. Das Opfer lebt also weiter, filhlt weiter, hat Atmung, Blutumlauf, seinen geistigen Bestand, nur bewegt es sich nicht, ist also präpariert wie ein Vivisektor eine Maus oder ein Kaninchen lahmt, nur daß diese Lähmung nicht einem Gift, sondern einer Operation, der Zerreißung der Nerven, folgt." (Briefe II, S. 112.) - Bei Proust heißt es: „Und wie jener von Fabre beobachtete Hymenopteros, die Schlupfwespe, die, damit ihre Jungen nach ihrem Tod frisches Fleisch zur Verfügung haben, ihre Grausamkeit durch anatomisches Wissen unterbaut und gefangenen Rüsselkäfern und Spinnen mit staunenswerter Kenntnis und Geschicklichkeit das Nervenzentrum durchbohrt, von dem die Bewegung der Beine abhängt, jedoch die übrigen Körperfunktionen nicht beeinflußt werden, so daß das gelähmte Insekt, neben dem sie ihre Eier ablegt, für die ausschlüpfenden Larven eine gefügige, wehrlose, zu Flucht und Widerstand unfähige, aber jeglichen Hautgouts entbehrende Beute abgibt [...]" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit l. Unterwegs zu Swann. Übersetzt von Eva Rechel-Martens, revidiert von Luzius Keller. Frankfurt a. M. 1994, S. 182.)

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umfangreichen ersten Buches der Schwarzen Weide zitiert werden müßten. Ein solcher Aufwand ließe sich auch nicht durch die kaum zu bestreitende Feststellung rechtfertigen, daß der behandelte Textausschnitt sowohl für Fluß ohne Ufer als auch für Jahnns Gesamtwerk von zentraler Bedeutung ist. Eine eingehende literaturwissenschaftliche Untersuchung wäre nötig. Vor zehn Jahren wiesen die beiden Herausgeber von Fluß ohne Ufer lediglich auf den damals noch unveröffentlichten Brief an Ludwig Voß hin und erläuterten die in ihm genannten Namen.18 Weder die zentrale und erhellende Bedeutung von Horst Lange für Jahnns Natur-Diskurs, in dem der auch in der Schwarzen Weide auftauchende Begriff 'Mitleid' so wichtig ist, wird so dem Leser vermittelt - noch die Verquickung der Themen Natur und Homosexualität, die sich durch die parallele Lektüre von Corydon offenbart.19

III. Bei dem Beispiel aus Fluß ohne Ufer handelt es sich sicherlich um einen extremen, keineswegs aber um einen außergewöhnlichen Fall. An ihm verdeutlicht sich nicht nur die umfangmäßige Grenze des Kommentierbaren, sondern auch die erhellende Wirkung, die durch die Lektüre der Intertexte erzielt werden kann. Es ist außerordentlich hilfreich, das „Gedächtnis der Literatur" (Renate Lachmann) zu aktivieren. Die Antwort auf die Frage, wie man eine solche 'Sinnkomplexion'20 in einer Studienausgabe angemessen darstellen kann, wird durch diesen positiven Befund keineswegs leichter; zumal die von Manfred Fuhrmann für die Kommentargestaltung vorgeschlagene hilfreiche Differenzierung zwischen 'sekundärer' und 'primärer Dunkelheit' von Texten durch das Phänomen der Intertextualität gewissermaßen unterlaufen wird: Einerseits könnten viele der Intertexte einem zeitgenössischen Publikum durchaus präsent gewesen sein. Ihr Nachweis dient also ganz der Aufhellung jener 'sekundären Dunkelheit', die durch den historischen Wandel des Kultur- und Bildungshorizontes entstanden ist. Andererseits bedeutet die Verknüpfung zweier Texte immer auch Interpretation und dient damit der Aufhellung der vom Autor beabsichtigten 'primären Dunkelheit', deren Kommentierung, wie Martens in dem bereits erwähnten Aufsatz gezeigt hat, äußerst problematisch sein kann. Renate Lachmann hat vorgeführt, daß der fremde Text im Text immer ein Text über den Text ist. Aus dieser Erkenntnis folgt, daß ein intertextuelles 18 19

20

Vgl. Fluß ohne Ufer III, S. 861-863. Zur Rechtfertigung der Herausgeber sei darauf hingeweisen, daß das Wissen über Jahnn 1986 noch sehr viel weniger umfassend war. Zum Begriff der 'Sinnkomplexion' siehe Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990. Zusammenfassend hierzu: Wolfram Groddek: „Und das Wort hab' ich vergessen". Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine. In: Kommentarformen und Kommentierungsverfahren. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio. 5), S. 1-10.

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Jan Bürger

Kommentierungsverfahren grundsätzlich unabschließbar ist - ganz abgesehen von den Schwierigkeiten der Aufdeckung und Auswahl der Intertexte, die präsentiert werden sollen. Zitate sind eben Zikaden, wie Ossip Mandelstam zutreffend feststellt, die die Eigenschaft haben, nicht verstummen zu können. Es bleibt für den Editionsphilologen nur die Möglichkeit, bewußt eine künstliche Grenze zu ziehen. Während der Arbeit an der Jahnn-Ausgabe haben wir immer wieder einen Ort vermißt, an dem die unterschiedlichen Diskurse und Lektüren, in denen sich der Autor bewegt, zentral vemetzt werden können. Wir haben uns deshalb entschlossen, der Ausgabe ein kommentiertes, integriertes Namen-, Orts-, Werk- und Schlagwortregister beizugeben. Die Idee, ein kommentiertes Register in eine Werkausgabe einzugliedern, ist keineswegs neu, wenn sie auch bis heute fast ausschließlich Beispiele in Ausgaben theologischer und wissenschaftlicher Schriftsteller findet. Manfred Fuhrmann fragte 1985 anläßlich der Eröffnung der Bibliothek deutscher Klassiker: A propos Darstellungsformen der Literaturwissenschaft: warum gibt es noch kein 'Handlexikon für die klassische deutsche Literatur'? [...] wäre es nicht angezeigt, daß die Germanistik jetzt auch in dieser Hinsicht - wie beim Edieren und Kommentieren - in die Fußstapfen der älteren Schwesterdisziplinen tritt? Ein solches Projekt ist gewiß mühsam, aber auch lohnend [...] - ein gut Teil der Einzelerläuterungen, die jetzt die Anmerkungsapparate der Klassiker-Ausgaben belasten, würde hierdurch entbehrlich.21

Was sich Fuhrmann für das Großprojekt 'Deutsche Klassiker' herbeisehnt, könnte in ähnlicher, kleinerer Form auch für viele Editionen moderner Autoren eine praktikable Lösung sein. Für das Jahnn-Register planen wir derzeit einen Umfang von etwa 2000 Stichworten. Verzeichnet und kommentiert werden alle in der Ausgabe auftauchenden Namen (auch fiktive, religiöse, mythologische etc.), Orte und Werke. Hinzu kommen Grundbegriffe, Motive und Gedankenfiguren, die für Jahnn von zentraler Bedeutung sind (z. B. „Gebärde", „Rhythmus", „Harmonik", „Sakrale Mathematik", „Verwesung", „Humanismus"). In Form von kurzen, erläuternden Artikeln und Verweisen werden die Schlagworte für den Leser anschaulich dargestellt. Das Register sollte möglichst auch als Diskette erscheinen. Gegenüber einem Buch besitzt diese Publikationsform gerade für ein Nachschlagewerk den Vorteil größerer Flexibilität: Das Werk kann schnell und kostengünstig korrigiert und erweitert werden - vergleichbar mit den 'updates' von Computerprogrammen.22 Schon das recht kleine und nicht kommentierte Sachregister von Dorothea Schäfer und Erich Trunz in der Hamburger Goethe-Ausgabe erweist sich für den Benutzer als außerordentlich hilfreich.23 Und in zahlreichen Briefausgaben - so auch in den beiden Jahnn-Briefbänden - haben sich kommentierte Namen- und Werkregister bewährt. 21

22

23

Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker? In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröfmungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg. von Gottfried Honnefelder. Frankfurt a. M. 1985, S. 57. Hierdurch würde auch die Tragweite der unvermeidbaren Subjektivität, die Bestandteil jeder editorischen Bemühung ist, entschärft werden. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. [Hamburger Ausgabe in 14 Bänden.] Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 14. München 81989, S. 721-787.

Intertextualität als Kommentierungsproblem

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Wichtiger noch als die von Fuhrmann genannten Vorteile von kommentierten Registern scheint mir für unseren Fall ein weiterer zu sein, der sich aus meinen vorhergehenden Ausführungen ergibt: Erstens habe ich die Gefahr der sezierenden Vorgehensweise des Stellenkommentars herausgestellt, die immer dann entsteht, wenn die Rekonstruktion des komplexen Zusammenhangs durch den Leser nicht geleistet werden kann. Zweitens habe ich die editorischen Schwierigkeiten umrissen, die aus dem Phänomen der Intertextualität erwachsen. Ein kommentiertes Register bietet Lösungsansätze für beide Problembereiche. Zum einen können mit ihm komplexe intertextuelle Verflechtungen übersichtlich - wenn auch nicht erschöpfend - dargestellt werden (unter dem Schlagwort 'Libelle' findet sich der Hinweis auf die Begriffe 'Insekten' und 'Natur', dort wiederum der Hinweis auf Fabre, Gide, Lange, Proust usw.). Zum anderen hat das Register gewissermaßen eine dem Stellenkommentar entgegengesetzte Wirkungsweise. Wo der Stellenkommentar zerlegt und Komplexität reduziert, hilft das kommentierte Register beim Zusammenfügen; es führt größere Zusammenhänge vor und hilft dem Benutzer, ein Gespür für diese zu entwickeln. Bei Jahnn, dem es um ein 'Ganzes' geht, für den es typisch ist, daß einzelne Motive in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder auftauchen, und dessen Werken zudem, wie er es selbst ausgedrückt, allen „etwas Naturwissenschaftliches" anhaftet, drängt sich die Idee eines solches Registers geradezu auf. Hier leisten zentral gesammelte Erläuterungen, die vom Leser frei auf die unterschiedlichen Arbeiten des Autors bezogen werden können, oft mehr als über die einzelnen Bände verstreute Anmerkungen. Für uns hat sich die Notwendigkeit eines Registers, das den Umgang mit den rund 13.000 Druckseiten der Jahnn-Ausgabe erleichtert, erst während der Arbeit an den einzelnen Bänden herausgestellt. Wie bei vielen Ausgaben hat auch die Jahnn-Ausgabe über die Jahre hinweg von Band zu Band konzeptionelle Änderungen und Verbesserungen erfahren. Vielleicht kann mein Beitrag dazu anregen, kommentierte Register in die Planung zukünftiger Ausgaben von vornherein miteinzubeziehen.

Arno Rußegger

Schichtungen und Schaltungen Zu Nachlaß-Projekten des Robert Musil Instituts der Universität Klagenfurt

Der Einstieg des Robert Musil Instituts der Universität Klagenfurt, eines speziellen Literaturforschungszentums und Kärntner Literaturarchivs, in die Editionswissenschaft erfolgte im Zuge der Bearbeitung des äußerst umfangreichen schriftstellerischen Nachlasses Robert Musils, die im Rahmen einer internationalen Kooperation mit bundesdeutschen Kolleginnen der Universitäten Trier beziehungsweise München (jeweils unter der Leitung von Prof. Karl Eibl) durchgeführt worden ist. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden im Jahre 1992 in Form einer CD-ROM vorgelegt, aufweicher die Transkriptionen von 11.686 Manuskriptseiten gespeichert sind und deren Daten mit Hilfe zweier Textretrieval-Programme (PEP bzw. WCView/WordCruncher) verwaltet werden können. Ich möchte im folgenden nicht noch einmal das in Klagenfurt konzipierte Programm PEP in seiner Funktionsweise vorstellen, denn dergleichen wurde bereits mehrmals auf internationalen Symposien in ganz praktischer Weise getan.1 Außerdem hat die CDROM mittlerweile weltweit Käufer gefunden, so daß eine gewisse Kenntnis von PEP (zumindest unter Fachleuten) vorausgesetzt werden darf. Die Gelegenheit scheint mir aber günstig, auf einige grundsätzliche editions- und schreibtheoretische sowie poetologische Überlegungen einzugehen, die meiner Erfahrung und Meinung nach mit der Herausgabe von Gesamtnachlässen zusammenhängen. Vorwegnehmend gesagt, geht es dabei um eine verstärkte wissenschaftliche Beschäftigung mit den Bedingungen des Textproduzierens als solchen, was eine Konzentration nicht nur, wie üblich, auf das vermeintliche Endprodukt des Schreibens - das heißt auf die letzte, mehr oder weniger gereinigte Fassung eines Textes - nötig macht, sondern in erster Linie auch auf den kreativen Prozeß des Schreibens.2 Der Versuch, all So zum Beispiel in Wien, Rom, Brunn, Ljubljana, Düsseldorf und Weimar. Eine ausführliche schriftliche Darstellung von PEP hat Walter Fanta unter dem Titel: Die Computer-Edition des MusilNachlasses. Baustein einer Epochendatenbank der Moderne. In: editio 8, 1994, S. 127-157 verfaßt. Dieser Aufsatz ist mit einem ausfuhrlichen graphischen Anhang versehen. - Darüber hinaus siehe auch Herbert Groiss, Amo Rußegger: Literatur am Computer. Die CD-Edition Robert-MusilNachlaß. In: Informatik Forum. Fachzeitschrit für Informatik 6, 1992, Heft 4, S. 189-193. Vgl. im folgenden Thomas Jechle: Kommunikatives Schreiben. Prozeß und Entwicklung aus der Sicht kognitiver Schreibforschung. Tübingen 1992.

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Arno Rußegger

jene Aktivitäten und kognitiven Vorgänge zu rekonstruieren, die an der Entstehung eines Texts beteiligt sind, geht über die Identifizierung jener Formen von Schreiben hinaus, die (scheinbar) zwangsläufig zu einem linear zusammenhängenden Text fuhren, und verändert unversehens die Haltung beziehungsweise die Perspektive von Editoren, die fortan Bereiche wie Sozial- und Entwicklungspsychologie, Linguistik, Kommunikationswissenschaft oder (künstliche) Intelligenzforschung interdisziplinär bedenken und miteinander kombinieren müssen. Ausgehend vom Musil-Nachlaß werde ich deshalb auch in aller Kürze das derzeit laufende Nachlaß-Projekt des Musil-Instituts vorstellen, nämlich die Vorbereitung einer kritischen Neu-Edition der Werke der aus Kärnten stammenden Dichterin Christine Lavant (1915-1973). Trotz einer ganz unterschiedlichen Materiallage wird ersichtlich werden, daß man dort bemerkenswerterweise mit durchaus vergleichbaren Problemen und editorischen Notwendigkeiten konfrontiert ist. Nicht nur in inhaltlicher Hinsicht (was vor allem die Planungen und wechselnden Gewichtungen des Romans Der Mann ohne Eigenschaften betrifft) weist der Nachlaß Robert Musils eine ausgesprochen komplizierte Struktur auf. Das auch formal verwirrende Erscheinungsbild vieler Manuskriptseiten resultiert unmittelbar aus der Arbeitsweise Musils, der in einem mehrschichtigen Vorgang parallel zueinander eine Vielfalt verschiedenster Textstufen produzierte: Skizzen, Schmierblätter, Notizen, Entwürfe, Exzerpte, Abschriften, Reinschriften. Unabhängig vom Wortlaut des Romans, der (ab dem zweiten Buch) sogar über das Stadium der Druckfahnen hinaus (!) einer Vielzahl grundsätzlicher Überarbeitungen und Korrekturen ausgesetzt blieb, ergab sich die jeweilige Funktion der Manuskripte erst sowohl aus ihrem diachronen als auch synchronen Zusammenspiel. Zu den interessantesten, vor der CD-Edition unpublizierten (und der MusilForschung daher kaum zugänglichen) Nachlaßteilen gehören vor allem solche Manuskriptblätter, deren Seitenaufbau keinerlei Geschlossenheit mehr aufweist. Inkohärenter Textaufbau ist das augenscheinlichste Charakteristikum jener von Musil - nicht von ungefähr! - als 'Schmierblätter' bezeichneten Notizen. Große Konvolute solcher inkohärenten Notizen liegen beispielsweise in den Nachlaßmappen V/3, V/4 und V/5; allein in V/5 befinden sich etwa 200 Korrekturblätter ausschließlich zu den Kapitelentwürfen 47 bis 52, jenen in mehreren Varianten überlieferten 'Druckfahnenkapiteln', die darüber hinaus noch in korrigierter Reinschrift vorliegen, an der Musil bis zu seinem Todestag am 15. 4. 1942 gearbeitet hat. Wir wissen über Musils Arbeitsweise, daß er Entwurfskizzen und Notizen auf nebeneinander bereitliegendem Papier angelegt und vorangetrieben hat. Die Impulsivität sprachlicher Imaginationen, wie sie die Schmierblätter zeigen, sowie die pedantische Konstruktion zusammenhängender Syntagmen während der Ab- beziehungsweise Reinschrift(en) ergeben - miteinander kombiniert - einen ersten Gesamteindruck Musilscher Schreibtechnik. Auf den Schmierblättem fand Musil in experimenteller Form zu seinen Formulierungen. Sprachliche Bruchstücke, die anscheinend unvermittelt und assoziativ entstanden, verteilte er zunächst willkürlich über das meist großformatige

Schichtungen und Schaltungen

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Blatt: (kurze) Sätze, Satzfragmente, Satzgliedergruppen, Einzelworte und Kolonnen von Varianten zu einzelnen Verben, zu Substantiven und Adjektiven, zu manchmal wie beiläufig hingesetzten näheren adverbialen Bestimmungen; dann die Neukombinationen von Sprachelementen, bis gewisse Blockbildungen erkennbar werden, aber auch deren immer wieder aufs neue in Angriff genommene Auflösung durch Streichungen, Einfügungen und Umstellungen. Die potenzierte Fragmentarität und sprachspielerische Kombinatorik der Schmierblätter stellt ohne Zweifel die größte Hürde bei der editorischen Aufbereitung des Nachlaßmaterials wie bei der Lektüre dar. Bemerkenswert ist aber, wie sehr es Musil sogar auf höheren Textstufen bei seiner stilistischen Feinarbeit auf äußerste Exaktheit ankam, was die syntaktische Zuordenbarkeit von Korrekturpartien anbelangt. Ungeachtet des großen Aufwands, den er sich dabei selbst auferlegte, ließ er niemals davon ab, Zusammengehöriges auch im Zuge der mannigfachen nachträglichen Eingriffe und Manipulationen entsprechend zu markieren. So erhielten viele Manuskripte Musils infolge des in methodisch-spontaner Weise vonstatten gehenden Produktionsvorgangs, in den sie oft über Jahre hinweg eingebunden waren, einen geradezu ins Piktographische gehenden Anstrich. Denn in Verbindung mit Platzhalterzeichen, die entweder aus dem Inventar konventioneller Setzerzeichen stammen oder dem jeweils konkreten Schriftspiegel entsprechen und phantasievoll gestaltet sein können, kam ein gutes Dutzend bunter Stifte zum Einsatz. Die optische Vernetzung der Texte, von der hier die Rede ist, trifft nicht einmal bloß auf Einzelseiten zu, wo eine Überschaubarkeit bei der Transkription relativ leicht herzustellen ist. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Verweisapparats - bestehend aus Ziffern, Chiffren, Kürzeln, Überschriften und deren Kombinationen - strebte Musil ein flexibles Referenzsystem an, das sein gesamtes Arbeitsmaterial zum Zwecke organisatorischer Transparenz durchdringen sollte. Es gibt kaum ein Blatt, dem vom Dichter - gemäß seinen wechselnden Imaginationen des 'Ganzen' des Romans - nicht wiederholt unterschiedliche Stellungen innerhalb der jeweils größeren Funktionszusammenhänge zugewiesen wurden. Alles ist Teil eines unabgeschlossenen beziehungsweise unabschließbaren Prozesses. Sämtliche Notizen sind jedenfalls als integraler Bestandteil zu den Kapitelentwürfen anzusehen und dürfen dem wissenschaftlich Interessierten keinesfalls vorenthalten werden; hat sie doch Musil über den vorläufigen Abschluß eines Entwurfs hinaus aufbewahrt und bei späteren Korrekturdurchgängen - sogar noch an den Reinschriften - mit herangezogen und an ihnen Ergänzungen vorgenommen. Der Nachlaß hat demnach selbst Werk-Charakter.3 „Der faktische Grundsatz der Literatur ist Wiederholung"4, stellte Musil einmal fest und greift damit einen Gedanken aus verschiedenen Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften auf,5 wo dieser „karrikiert angewendet" worden sei. Dann fährt er fort:

3

4 5

Zur Notwendigkeit der Behandlung des Nachlasses als 'eigenes Werk' Musils siehe auch Adolf Frisi: Ein aktueller Rückblick. In: Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frise. Reinbek 1992, S. 9-14, bes. S. 13. Robert Musil: Tagebücher. 2 Bände. Hrsg. von Adolf Friso. Reinbek 1976; hier Bd. I, S. 913. Vgl. ebda, Bd. II, S. 682, Anm. 33.

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Arno Rußegger Aber eine Wiederholung liegt schon im Gebrauch der Sprachwendungen u. im Sprachgeist. Es ist also eine Grenze zu ziehen. Offenbar sagt man auch unendlich seltener Neues, als man etwas neu gestaltet.6

Schreiben wird für Musil im wesentlichen zum Um-Schreiben ohne Ende: „Anstelle der Beschreibung tritt die Umschreibung. Die Rundherumschreibung. Was sich heraushebt ist ein etwas verwischtes Bild eines Eingehüllten."7 Der schriftstellerische Prozeß lief nach einem komplexen Rückkoppelungsprinzip ab, was zur Folge hatte, daß im Laufe der Zeit dem Selbstgeschriebenen quasi der Stellenwert einer 'Quelle' zukam, mit welcher - rein schreibtechnisch betrachtet - ganz gleich verfahren wurde wie mit fremdem, aus Musils reicher Lektüre stammendem Textmaterial. Im Extremfall sah es Musil doch tatsächlich für nötig an, sogar Teile des publizierten ersten Buchs des Mann ohne Eigenschaften für die weitere Arbeit zu exzerpieren ... Auf diese Weise kam ein vielschichtiges Gewebe von sprachlichen Bezügen zustande; Musil liebte paradoxe, alogische Wendungen, schrieb immer wieder Partien sogar von Reinschriften um, konzipierte ganze Kapitel beziehungsweise Kapitelgruppen neu, tauschte dabei Namen und Zuordnungen scheinbar willkürlich aus (so verwendete er frühe Entwürfe der Figur Meingasts später für Lindner, und umgekehrt) und variierte die vorläufigen Ergebnisse immer wieder aufs neue. Bis zu zwanzig verschiedene Fassungen eines Texts sind im Nachlaß erhalten, die nicht ohne weiteres in eine chronologische Abfolge gebracht werden können, sondern gleichzeitig gewachsen sind. Kohärenz und Inkohärenz als dialektische Prinzipien der Texterzeugung bilden gemeinsam bei Musil ein produktionsästhetisches Gegengewicht zur herkömmlichen Vorstellung des Dichtens als Ergebnis inspirierender Musenküsse. Der Nachlaß belegt eindrucksvoll, wie sehr es Musil darum ging, methodisch und in letzter Konsequenz sämtliche Elemente des permanent anwachsenden Textpools assoziativ miteinander zu verknüpfen (bzw. zumindest für Verknüpfungen offen zu halten) und mit der Akribie des Mathematikers, der er war, mnemotechnisch zu verwalten. In vielerlei Hinsicht könnte das Sprachmosaik des Nachlasses als eine Art mentaler Antizipation moderner PC-Hypertextsysteme beschrieben werden, wenngleich freilich nicht der Technik, sondern nur der Logik nach, da Musil dem Papier als informationstragendem Medium verhaftet blieb beziehungsweise bleiben mußte. Es ist höchst interessant zu studieren, wo und wie sozusagen Text-'Knoten' angelegt werden, das heißt hypertext-ähnliche Einheiten, die einen bestimmten Inhalt besitzen oder repräsentieren; wie Musil den Text zerlegt und Inhaltsportionen auf derartige Knoten verteilt; welche Ebda, S. 682; vgl. auch Regina Schaunig-Baltz-Balzberg: Musils Rezept: Organisation. Zur Klagenfurter Nachlaß-Forschung unter Karl Dinklage. In: Robert Musils 'Kakanien' - Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag. Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1986. Hrsg. von Josef Strutz. München 1987 (Musil-Studien. 15), S. 16-26; die Autorin zitiert Musil unter Hinweis auf das Nachlaßmanuskript 7/11/108, wo er schreibt, er arbeite an „etwas Neuem, das nichts Neues ist", weshalb sie „Musils Leistung nicht so sehr in neuen Erkenntnissen, sondern vor allem in einer neuen Methode der Wirklichkeits- und Erkenntnisverarbeitung, -Verwertung, -modifizierung und -handhabbarmachung" sieht (ebda, S. 17). Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frise. 2. Aufl. Reinbek 1981; hier Bd. 8, S. 1300.

Schichtungen und Schaltungen

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Einheiten von Informationen, des Poetischen, Narrativen, Reflexiven, Dramaturgischen, und ähnlichem er im Hinblick auch auf ergonomische Überlegungen schafft, damit die semantische Potentialität des entstehenden Werks gesteigert wird; welche 'Links' zwischen den einzelnen Informationsbereichen erkennbar sind und welche Abbildungsverhältnisse bei der Auswahl, Erfassung, Sammlung, Ordnung, kurz: bei der Verschriftlichung von Ideen, Ereignissen und historischem Quellenmaterial zum Tragen kommen. Aus heutiger Sicht ist es angebracht, im Falle Musils von einer allmählichen Verfertigung der Idee beim Schreiben8 zu sprechen: „[...] die Entscheidung, was ich glaube, fällt beim Schreiben. Ich glaube vorher manches zu glauben, aber im Augenblick der Darstellung wird es mir unmöglich"9, gestand er sich ein. Da sich unmittelbare Reaktionen auf Geschehnisse sogar in den sogenannten 'Tagebüchern' Musils nur selten finden, läßt sich die Genese des Romans auch nicht einfach von außen her, aus irgendwelchen biographischen beziehungsweise zeithistorischen Gegebenheiten ableiten. Musils Interesse orientierte sich nicht direkt am historischen Geschehen10, sondern war auf 'Ideographisches'11 gerichtet, womit er ein poetisches Gegengewicht zur gewöhnlichen, gewohnten Realitätserfassung bezeichnete. Indem „Teile der Wirklichkeit [...] abgebildet und zu einem eigenen Ganzen gefügt"12 wurden, versuchte er sie ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit zu entkleiden und in ihrer Erfundenheit, als etwas 'geistig Typisches', deutlich zu machen; das „Gespenstische des Geschehens"13 trat dann als das eigentlich realistischste Moment der 'Wirklichkeit' hervor. Dieses 'Ideographische' war für Musil eine Art 'Bilder-Schrift der Ideen'; über den Umweg der schriftlichen Erfassung von Gedanken und Bewußtseinsinhalten kam für ihn eine geistige Bewegung in Gang, in der (kollektive wie individuelle) Perspektiven auf die Welt durchgespielt und gegeneinander gestellt werden konnten. Der Inhalt einzelner Worte läßt sich in diesem Schreib- und Schriftkosmos nicht mehr begrifflich abstrahieren oder paraphrasieren: Er hängt ausschließlich von der jeweiligen Kontextuierung ab, die permanent montagehaften Manipulationen offensteht. Literatur funktioniert als verbales Versuchsfeld, in dem changierende EntwurfKonstellationen durch das formale Gegeneinander von Wiederholungen und Differenzen Bedeutungen erzeugen, die nicht im vorhinein festgelegt, sondern im nachhinein 8

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Vgl., über Kleist hinaus, Hermann Burger: Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Frankfurt a. Main 1986. Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Adolf Frise. Reinbek 1955, S. 450. „Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht." Musil 1981, vgl. Anm. 7, Bd. 7, S. 939. Vgl. ebda, Bd. 8, S, 1130: „Der wesentliche Sachwert wird vernachlässigt, neben dem Biographischen fehlt das bewußt Ideographische [...] Jedes menschliche Werk besteht aus Elementen, die auch in unzähligen anderen Verbindungen vorkommen, und indem man es so versteht, löst es sich in die fließenden Reihen der Seele auf, welche von Anbeginn bis heute laufen, und wird eine Auslegung des Lebens." Musil 1976, vgl. Anm. 4, S. 488. Musil 1981, vgl. Anm. 7, Bd. 8, S. 939.

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zeichenhaft evident werden. So werden Produktions- und Rezeptionshaltungen aktiviert, die der üblichen Sequentialität von Denk- und Erzählabläufen entgegenwirken. Deshalb können auf den Mann ohne Eigenschaften als Fragment gebliebenes Werk die herkömmlichen ästhetischen Kategorien wie Inspiration, Originalität, Geschlossenheit, Autonomie des Kunstwerks, Überpersönlichkeit der dichterischen Aussage und ähnliches nicht mehr ohne weiteres beziehungsweise nicht im traditionellen Sinn angewendet werden. Der Roman ist ein Beleg für die Konsequenzen, die aus den Veränderungen des künstlerischen Selbstverständnisses und der modernen (oder postmodernen, historistischen?) künstlerischen Praxis zu ziehen sind. Statt einer hierarchisch gegliederten Syntax auf der Grundlage einer geordneten (oder wenigstens ordenbaren) Chronologie folgen bildhafte Anordnungen von Gedanken dem Nebeneinander fluktuierender Relationen.14 Die von Musil propagierte ästhetische „Erkenntnis des Dichters"15 verläuft in einem Hin und Her zwischen ganzheitlichen Vorstellungen auf der einen Seite und Teilansichten und etappenhaften Ordnungsprozessen auf der anderen Seite ein Wechselspiel, in dem das 'Ganze' zunächst schattenhaft, dann symbolisch immer klarer (eben 'ideographisch') konturiert, wenngleich auch nicht vollends ausformuliert wird. Im Rückblick erscheint es uns berechtigt zu sein, gerade in der Art der hier kurz beschriebenen Transformationsprozesse, die allesamt und jeder für sich wahre Kettenreaktionen von weiteren Konstellationsänderungen bestimmter Textpartien auslösten, einen mitentscheidenden Faktor dafür zu erblicken, daß Musil mit der Ausführung des Mann ohne Eigenschaften mit der Zeit nicht mehr zurande - buchstäblich: zu einem Rand, zu einem Ende - kam. Das bis heute umrätselte, viel beschworene 'Scheitern' des Romans weist - nach dem Befund der nachgelassenen Manuskripte - viel eindringlicher eine produktionsästhetische Komponente auf als eine gedanklich-inhaltliche. Die bisherigen Darlegungen sollten genügen, um klar zu machen, warum eine Buchpublikation des Musilschen Nachlasses nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen war. Die 'andere Logik', nach der der Nachlaß gefugt ist, erfordert bei seiner Reproduktion ein anderes Medium, das sowohl eine sequentielle Lesart eines Fließtextes erlaubt, als auch nicht-lineare Verknüpfungen von Worten, Sätzen, Motivkomplexen, Kapitelteilen, Kapiteln, Kapitelgruppen und ähnlichem ermöglicht und auf diese Weise dem riesigen, offenen Textkorpus, das als komplexes System sprachlicher 'Schichtungen und Schaltungen' angelegt ist, gerechter wird. 14

15

Vgl. Friedbert Aspetsberger: Geräumige Abstraktionen, benutzte Materialien. Zum Beginn des Zweiten Buches von Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Klagenfurter Beiträge 1993 zur Musil-Forschung. Beiträge zum internationalen Robert-Musil-Symposium Rom 1992. Hrsg. von Walter Fanta und Arno Rußegger. Klagenfurt 1993, S. 47-73; hier S. 63: „Die gegenseitige Durchdringung der Bilder ist das Thema der Sätze Musils, die Gestaltung durch Beziehungen und Bewegungen, daß es bis in die Zwischenräume der Zeilen wie gepreßtes Metall dasteht (2,574) [...] So werden viele, gleichsam alle Bedeutungen präsent und aktuell gehalten. Diese Dichte dient- [...] - zur Darstellung der Gleichzeitigkeit aller Bedeutungen, z. B. der Identität von Tod und Leben, [...] Es ist immer alles auch anders bzw. sein Gegenteil." Vgl. Musil 1981, vgl. Anm.7, Bd. 8, S. 1025ff.: Skizze der Erkenntnis des Dichters aus dem Jahre 1918.

Schichtungen und Schaltungen

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Abschließend noch kurz einige Bemerkungen zum Nachlaß von Christine Lavant (1915-1973). In ihren symbol- und metaphernreichen Texten (Gedichten und Prosa)16 verbinden sich Selbstaussage und artistisches Kalkül, psychologische Analyse und aporetische Diagnose der retardierten 'transzendentalen Obdachlosigkeit' (um Georg Lukäcs' Diktum zu gebrauchen) der österreichischen Regionalliteratur der fünfziger Jahre.17 Dieses biographische und zugleich gesellschaftliche Spannungsfeld kommt auf sehr direkte Weise zur Sprache; es strukturiert aber in vielfachen Brechungen auch die semantischen Gegensätze der höchst komplexen Dichtungen, die je nach Erkenntnisinteresse eine breite Palette selektiver Lektüren erlauben: vom erbaulichen Sonntagszitat bis hin zur ideologiekritischen Auseinandersetzung mit Religion und geschlechtsspezifischen Rollenzwängen oder zu einer ganz persönlich aufzufassenden, nachgerade intimen Darstellung einer zunächst erfüllten, letztlich jedoch scheiternden Liebesbeziehung zu einem Mann. Der vom Land Kärnten 1994 angekaufte Nachlaß besteht aus verschiedenen Textformen, und zwar Typoskripten, Durchschlägen von Typoskripten und natürlich Handschriften, wobei sich auf den Typoskripten und Durchschlägen gelegentlich auch handschriftliche Korrekturen finden. In einzelnen Fällen liegen von einem Text ein Typoskript und ein Durchschlag vor, in anderen Fällen entweder nur das eine oder das andere; von einigen veröffentlichten Texten wurde hingegen bislang weder ein Typoskript noch ein Durchschlag aufgefunden. Obwohl sich einige unveröffentlichte Manuskripte (vor allem Briefe, wahrscheinlich jedoch auch das eine oder andere Prosastück und Gedicht) noch in auswärtigen Archiven18 oder in privater Hand befinden, wird es im großen und ganzen nicht allzu häufig der Fall sein, daß ein Nachlaß eine derartige Vollständigkeit und Geschlossenheit aufweist wie derjenige Christine Lavants. Der vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung bewilligte Projektantrag sieht für die ersten beiden Jahre der Bearbeitung die Archivierung, Vervollständigung / Sammlung, Transkription und Katalogisierung/Dokumentation des Nachlasses vor sowie Vorarbeiten zur Neu-Edition und Kommentierung der Texte in einer kritischen Ausgabe. 16

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Obwohl Christine Lavant neben ihrer Lyrik ein mindestens ebenso umfangreiches Werk in Prosa veröffentlicht hat, gilt sie in der kulturellen Öffentlichkeit noch immer fast ausschließlich als Lyrikerin. Parallel zu den Lyrikbänden erschienen jedoch in der Zeit der intensivsten literarischen Produktion innerhalb von gut einem Jahrzehnt zwischen Ende der vierziger und Anfang der sechziger Jahre - auch zahlreiche Prosatexte: Erzählungen aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, wie Das Kind (1948), Das Krüglein (1949), Die Rosenkugel (1956), oder aus der Welt von sozialen und kulturellen Außenseitern und Frauen, wie die Erzählungen des Bandes Baruscha (1952) oder die realistischeren Geschichten des von Jeannie Ebner noch zu Lebzeiten der Dichterin herausgegebenen Bandes Nell (1969). Vgl. Die Bilderschrift Christine Lavants. Studien zur Lyrik, Prosa, Rezeption und Übersetzung. Hrsg. von Amo Rußegger und Johann Strutz. Salzburg, Wien 1995 (Beiträge des 1. Internationalen Christine Lavant Symposions in Wolfsberg), S. 9ff. Erst unlängst tauchte im Literaturarchiv Marbach beispielsweise ein Gedicht auf, das bislang unveröffentlicht und unbekannt ist.

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Die Erstellung der Rohtranskriptionen wurde bereits abgeschlossen, so daß insgesamt 3012 Seiten - davon 2578 Typoskripte (493 Seiten Prosa, 2085 Seiten Lyrik) und 434 Manuskripte (141 Seiten Prosa, 293 Seiten Lyrik) - elektronisch erfaßt sind und derzeit einer Korrektur und Kollationierung unterzogen werden. Trotz der großen Anzahl an Typoskripten erwies sich die Transkription als zeitaufwendig und schwierig. Die Typoskripte selbst sind in den seltensten Fällen 'Reinschriften'; sie wurden meist (von der Autorin selbst beziehungsweise von Dritten) korrigiert (teils handschriftlich, teils maschinschriftlich), wobei uns die Analyse der unterschiedlichen Beschriftungsschichten nicht selten vor große Probleme stellte. Die Manuskripte schließlich bedurften einer besonders mühevollen Einarbeitungsphase in das Lavantsche Schriftbild, das von einer Mischung aus Kurrentschrift und Stenographie geprägt ist. Offenbar mehr noch als bei anderen Schriftstellerinnen schlugen sich bei Christine Lavant Zustände geistiger Erregung, Momente der Depression oder Medikamentenkonsum auf die Schrift, was den Transkribenten mit einer großen Zahl (vorerst einmal) praktisch unleserlicher Zeichen konfrontiert. Während dieser ersten Projektphase und des 1. Internationalen Christine Lavant Symposions in Wolfsberg19 trat ein weiteres Defizit der bisherigen Lavant-Forschung zutage, dessen Behebung mittlerweile in Erweiterung der ursprünglichen Projektziele zum Gegenstand unserer Recherchen gemacht worden ist: nämlich die Rekonstruktion der Biographie der Dichterin, welche bislang eher auf Mythenbildungen und nach wissenschaftlichen Kriterien ungenügenden Darstellungen im Stile von Ingeborg Teuffenbachs Buch über Lavant20 beruhte. Die Auswertung von neuem Quellenmaterial sowie von Interviews mit Zeitzeugen wird eine Revision sowohl des Fremdbildes als auch des Selbstverständnisses Christine Lavants ermöglichen. Das gesamte Editionsvorhaben besteht aus folgenden Teilen: I Buch-Edition Zielfunktion: allgemeiner Gebrauch, Leserfreundlichkeit Inhalt: Lesetexte, Anhang mit Sacherläuterungen und Verweisen auf die kritischen Textfassungen, die auf einer CD-ROM bereitgestellt werden I/l Lyrik-Sammlungen 1/2 Lyrik-Einzelveröffentlichungen außerhalb der Sammlungen 1/3 Bisher unveröffentlichte Gedichte / Entwürfe aus dem Nachlaß 1/4 Prosa 1/5 Bisher unveröffentlichte Prosa / Entwürfe / Fragmente aus dem Nachlaß 1/6 Biographischer Essay Dokumentarischer Teil: Transkription einzelner Interviews, Bildquellen, Urkunden und ähnliches Bibliographie 19 20

Vgl. Bilderschrift 1995, vgl. Anm. 17. Ingeborg Teuffenbach: Christine Lavant - „Gerufen nach dem Fluß". Zeugnis einer Freundschaft. Mit einem Nachwort von Manon Andreas-Grisebach. Zürich 21994.

Schichtungen und Schaltungen

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II CD-ROM (+ Programm-Diskette) Zielfunktion: wissenschaftlicher Gebrauch Inhalt: Vollständiger Text mit kritischem Apparat (nach dem Muster der MusilTranskription; das heißt: Kodierungssystem mit einem bestimmten Repertoire diakritischer Zeichen für Streichungen, Einfügungen, Ergänzungen, Varianten usw.); eventuell Faksimiles von Handschriften und Skizzen, Zeichnungen der Dichterin; eine neue Version von PEP mitsamt philologischem Kommentar (= 'Seitendokumentation'), der möglichst hypertext-mäßig mit den Texten verknüpft werden kann. Was die Briefe Lavants betrifft, die ursprünglich ebenfalls in die geplante Gesamt-Edition hätten aufgenommen werden sollen, weil wir irrigerweise von einer relativ geringen Anzahl unbekannter Briefpartner ausgegangen sind, muß nunmehr festgestellt werden, daß sich die Korrespondenzen als ausgesprochen umfangreich herausgestellt haben und deshalb eine selbständige Publikation erfordern, die aus arbeitstechnischen und nicht zuletzt auch rechtlichen Gründen im laufenden Projekt nicht unterzubringen ist. Unterzieht man im Falle Christine Lavants den Prozeß des Textproduzierens einer genaueren Betrachtung, so kann man nicht umhin, auch bei ihr klar zu differenzierende Aktivitäten des Planens, der einzelsprachlichen Realisierung und (zumindest in einem gewissen Maß) des Durchsehens / Korrigierens / Überarbeitens festzustellen. Die Vorstellung von einem 'Naturtalent', das naiv und ohne weitere Reflexion an die selbstgestellte Aufgabe herangegangen sei, um durch die Verschriftlichung von Phantasiegebilden und Visionen Ordnung in ihrem Kopf zu schaffen, greift ohne Zweifel zu kurz. Aus dem Studium des Nachlasses geht allerdings deutlich hervor, wie sehr Lavant in konkreten, die Sinne mehr als den Intellekt fordernden Bildern gedacht hat, die ihr viel mehr bedeutet haben als begriffliches Denken. Von Geburt an halbblind und halbtaub, haderte sie zeit ihres Lebens mit dem optischen und akustischen Dämmerzustand, in den für sie die Umwelt mehr und mehr versank. Daher ging es ihr selbst vor allem um den Vorgang der Bilder-Beschreibung, ganz aus ihrem Inneren heraus, und nicht so sehr um das Produkt, das fertige Wortgefüge - und das umso mehr, als keine, und sei es die gelungenste Formulierung ihrer Meinung nach dem zu beschreibenden Bild gerecht werden konnte. Der Vorgang des Schreibens hingegen war ihr psychische Hilfe und ein (aus ihrer Sicht allerdings müßiger) Versuch, ihren Zuständen der Angst und Depression entgegenzuwirken. Denn nur in der Poesie war es ihr möglich, alle Sinne gleichermaßen zu aktivieren. So baute sie ihre berühmten Komposita und Neologismen, indem sie Farben, Klänge, Gerüche, Materielles und Geistiges, Lebendiges und Totes, Diesseitiges und Jenseitiges ineinander venvob zu einer 'ganzheitlichen' Wahrnehmung der Welt. In ihrer Bilder-Welt war Christine Lavant per Du mit sämtlichen Phänomenen des Lebens, sie sprach die Sprache der Dinge, der Tiere und der Pflanzen ebenso wie etwa diejenige der Düfte. Für die Öffentlichkeit war im Grunde nichts davon bestimmt; überspitzt gesagt, schrieb sie überhaupt nur für eine einzige Person, den Maler Werner Berg. Das zu bedenken, hat

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Arno Rußegger

Auswirkungen auf die spezifische Kommunikationssituation, die sich in den Gedichten spiegelt und für Außenstehende als Form des Hermetismus erscheint. Indem Lavant die Verständnisbedürfnisse der Leserschaft bewußt weitgehend ignorierte, konnte sie sich um so intensiver auf das Generieren von Inhalten und deren sprachliche Realisierung konzentrieren. Dabei erprobte und perfektionierte sie bestimmte Strategien, um Assoziationen aus Vorstellungsbildem, persönlichen Topoi, Phrasen oder Redewendungen, die womöglich bloß lokale Relevanz in der Heimat Lavants besitzen, Liedern oder anderen volkskundlichen Bereichen zu entwickeln und zu variieren, so daß der poetischen Verfahrenstechnik der Lavant schließlich gewisse Züge experimenteller Dichtkunst anhaften, deren charakteristische Merkmale (Kombinatorik, Chiasmen, montageartige Klitterungen, Reihungen u.a.) die Forschung an konkreten Textbeispielen zu erörtern haben wird. Da darüber hinaus auch noch komplexe Fragen der Zyklenbildung mit den hier nur angerissenen Aspekten der Rekurs!vität des Schreibprozesses zusammenhängen, ist es vollends klar, daß - wie schon bei Musil - auch im Falle Christine Lavants wissenschaftliche Maßgaben sequentieller Sprachfügungen, von denen im allgemeinen Werkeditionen geleitet werden, ihrem tatsächlichen Verhalten als Schriftstellerin nicht gerecht werden. Daher möchte ich diesen aktuellen Forschungsbericht mit einer Bekräftigung meines Plädoyers für PC-Editionen beenden, da nur diese mit automatischen, zur Ergründung des Schreibprozesses unerläßlichen Servicefunktionen, wie 'Volltextsuche', 'QuerbeetLesen', 'Indices', oder mit umfangreichen Bildmaterialien, wie Faksimiles von Handschriften, Skizzen, Aufbauplänen und ähnlichem, ausgestattet werden können, um andere Strukturprinzipien als Kausalität und Chronologie zum Ausdruck zu bringen.

Thomas F. Schneider

Das Genre bestimmt die Quelle Anmerkungen zum Einfluß der Publikation und Rezeption auf die Entstehung und Quellenlage von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928/29)1

Die Rezeptionsforschung der letzten Jahre, insbesondere im Rahmen der theoretischen und methodischen Überlegungen und der konkreten Forschungsergebnisse der Empirischen Literaturwissenschaft,2 hat die These erhärtet, daß die Zuordnung eines Rezeptionsobjektes zu einem bestimmten Genre die Rezeption leitet, wenn nicht präformiert. Die in Felduntersuchungen vor allem an visuellen Medien gewonnenen Erkenntnisse lassen sich auch auf literarische Texte im weitesten Sinne übertragen: Die vorab getroffene Zuordnung zu einem Genre bestimmt den Rahmen mit, innerhalb dessen und in dessen Kategorien und Konventionen, die diesem Rahmen eingeschrieben sind, sich Rezeptionen ereignen können. Die Genrezuordnung bestimmt nicht nur den Verlauf und die Struktur der Rezeption des entsprechenden Objektes, sondern impliziert retrospektiv auch die 'Entstehung' und damit die potentiellen 'Quellen' eines Textes. Die Art und Weise der 'Entstehung' eines literarischen Textes ist dem Rahmen, der durch die Genrezuordnung konstituiert wird, inhärent; mit dem Genre wird eine vorgegebene, nur bedingt variable Entstehungsgeschichte des Textes impliziert, unabhängig von der tatsächlichen 'Entstehungsgeschichte' und damit den vom Autor gegebenenfalls verwendeten Quellen, wie sie editionswissenschaftlich ermittelt werden können. Unter dem Begriff 'Quelle' werden hier und im folgenden jene literarischen oder nicht-literarischen Texte sowie biographische oder andere Ereignisse sowie Berichte über diese Ereignisse verstanden, die der Autor bei der 'Produktion' des zu edierenden Textes verwendete.

Der Autor arbeitet zur Zeit an einem Projekt zu Entstehung, Publikation und Rezeption von Im Westen nichts Neues, das eine detaillierte Darstellung der Überlieferungslage, der erhaltenen Überlieferungsträger, der Entstehungsgeschichte, Publikation, Vermarktung und Rezeption des Textes (im Zeitraum 1928-1930) beinhaltet. Der hier zur Verfügung stehende Raum gestattet es nicht, die Ergebnisse der Untersuchungen zur Entstehung, zu den Quellen und zu den Selbstaussagen des Autors zu den genannten Themen in extenso darzustellen. An diesem work in progress Interessierte mögen sich daher bitte direkt an den Verfasser wenden. Genannt seien hier als zwei Beispiele von vielen: Helmut Hauptmeier: Typology or classification? Some presuppositions of genre theories. In: SPIEL 6, 1987, Heft 2, S. 207-225; Siegfried J. Schmidt: Towards a constructivist theory of media genre. In: Poetics 16, 1987, No. 5, S. 371-395; weitere Publikationen erschienen im Rahmen des Siegener Projektes Literarisches Textverstehen als konventionsgesteuerter Prozeß (bis 1988).

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Thomas F. Schneider

Anhand des Beispiels von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928/29) soll versucht werden, einerseits die oben skizzierten Prozesse zu verdeutlichen, andererseits die Konsequenzen für die Darstellung der 'Entstehung' und der Relationen zwischen 'Quelle', 'Text' und 'Edition' auch im Kontext des Stichwortes 'Intertextualität' hervorzuheben. 'Intertextualität' kann dabei sowohl als Abhängigkeit oder Beeinflussung eines Textes durch einen oder mehrere andere Texte verstanden werden als auch als Einbindung oder Zuschreibung eines Textes zu einem Genre, einer Gattung oder einer anders formal oder inhaltlich abgegrenzten Gruppe von Texten. Im folgenden verstehe ich 'Intertextualität' im Sinne der zweiten Definition. Für das Genre 'Kriegsliteratur' zum Ersten Weltkrieg während dieses Krieges und in der Weimarer Republik (1914-1933) kann im oben angedeuteten Sinne ein Rahmen definiert werden, der die Rezeption, respektive die Erwartungshaltungen potentieller Rezipienten bei der Konfrontation mit einem Text dieses Genres präformiert.3 In welchem (historischen) Zeitraum dieser Rahmen und die ihm inhärenten Kategorien entwickelt wurden oder aus welchem Anlaß, bedarf noch detaillierter Forschungsarbeit, festzuhalten bleibt jedoch, daß zumindest für den Zeitpunkt der Niederschrift und der Publikation von Im Westen nichts Neues (Ende der 20er Jahre4) für das Genre 'Kriegsliteratur' das Kriterium 'Wahrheit' das in der Rezeption dominierende ist.5 Innerhalb des Genres sind weitere Unterscheidungen möglich, so z. B. in 'Offiziersmemoiren' oder 'Fronterinnerungen', die jeweils andere Kategorien oder Varianten der für das gesamte Genre gültigen Kategorien und Kriterien implizieren. Im vorliegenden Fall wurde (und wird) Im Westen nichts Neues dem Genre 'Frontbuch' oder 'Fronterinnerungen' zugerechnet. Das Kriterium 'Wahrheit', das zwar nicht eindeutig in der Rezeption definiert wird, aber sowohl mit Faktizität als auch mit Authentizität auf einer faktischen und einer atmosphärischen Darstellungsebene gleichgesetzt werden kann, besitzt eine übergeordnete Bedeutung, dem die anderen (Bewertungs-)Kriterien zu- und untergeordnet werden. Heuristisch lassen sich folgende Kategorien bestimmen, die ein Text des Genres 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' aufweisen muß, um innerhalb des vom Genre vorgegebenen Rahmens rezipiert und schließlich bewertet werden zu können. Es sei an dieser Stelle hinzugefügt, daß Abweichungen von den vorgegebenen Kategorien des Genres negative Bewertungen nach sich ziehen. Ein Text des Genres 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' muß/soll demnach folgende Kriterien erfüllen: - Er muß von einem Kriegsteilnehmer/Frontsoldaten verfaßt sein; Einige Ansätze habe ich versucht zu formulieren in: Thomas F. Schneider: Endlich die „Wahrheit" über den Krieg. Zu deutscher Kriegsliteratur. In: Text + Kritik, 1994, Heft 124 („Literaten und Krieg"), S. 38-51. Niederschrift der endgültigen Fassung in der zweiten Hälfte 1927; Vorabdruck in der „Vossischen Zeitung" (Berlin), 10.11. - 09.12.1928; Buchausgabe Berlin: Propyläen-Verlag, 1929 (29.01.). Siehe u. a. Michael Gollbach: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre. Kronberg/Taunus 1978, S. 275-360; Matthias Prangel: Das Geschäft mit der Wahrheit. Zu einer zentralen Kategorie der Rezeption von Kriegsromanen der Weimarer Republik. In: Ideologie und Literatur(Wissenschaft). Hrsg. von Jos Hoogeveen und Hans Würzner. Amsterdam 1986, S. 47-78.

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-

er muß autobiographische Elemente zumindest beinhalten, wenn nicht ausschließlich inhaltlich autobiographisch bestimmt sein; - die im Text geschilderten Ereignisse müssen faktisch 'wahr' oder zumindest im Vergleich zu anderen 'Fronterfahrungen' möglich sein; - literarische Gestaltungsmittel, die die 'Unmittelbarkeit' zwischen Kriegserlebnis und (autobiographischer) Gestaltung im Sinne von 'Nicht-Wahrheit' verfälschen würden, dürfen nicht oder nur 'unterstützend' verwendet werden; - der Text darf keine expliziten politischen Aussagen beinhalten. Die Genrekonvention versteht den Krieg, speziell den Ersten Weltkrieg, als unpolitisches Ereignis; das Fronterlebnis, soll es in einem mimetischen Sinne abgebildet werden, ist unpolitisch. Erst die politischen Ereignisse und Bewertungen nach Ende des Krieges haben eine politische Stellungnahme für oder gegen den Krieg allgemein und den Ersten Weltkrieg im besonderen herausgefordert. Der Krieg wurde - so die Auffassung der zeitgenössischen Rezipienten - im nachhinein für aktuelle politische Ziele instrumentalisiert. Zusammengefaßt: Die Erwartungshaltung bei der Rezeption eines Textes des Genres 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' ist auf einen autobiographischen, unpolitischen, ahistorischen, 'naturalistischen' und nicht-literarischen Text ausgerichtet. Diese Konventionen erfordern ein spezielles Autorbild (Kriegsteilnehmer/Frontsoldat, Nicht-Schriftsteller) und eine entsprechende Quellenlage. Ein Text, der dem in Frage stehenden Genre zugeordnet wurde, kann sich nicht auf 'Quellen' im editionswissenschaftlichen Sinne beziehen - mit Ausnahme von Aufzeichnungen oder Tagebüchern „aus dem Felde".6 Der Bezug auf andere literarische Werke oder andere Texte des Genres (im Sinne von 'Vorlagen') würde der Forderung nach Authentizität zuwiderlaufen, da dann nicht-eigene Erfahrungen vom Autor mitverarbeitet worden wären. Wie aus der Forschung zur Überlieferungslage zu Im Westen nichts Neues mittlerweile bekannt, plante Remarque zunächst einen autobiographisch motivierten Text, der den Genrekonventionen entsprochen hätte (aber über einige Pläne und vier Seiten erhaltenes Manuskript nicht hinausgekommen ist).7 Der Text, den Remarque Anfang 1928 als Typoskript zunächst dem S. Fischer Verlag und nach dessen ablehnendem Bescheid dem Ullstein-Konzern vorlegte, war mit 'Roman' untertitelt und erfüllte, sowohl was die Biographie des Autors als auch die Struktur und Inhalte des Textes selbst betraf, keine der oben angegeben Kategorien des Genres 'Kriegsliteratur': Die ursprüngliche Autorintention scheint vor allem auf eine Beschreibung der Folgen des Krieges ausgerichtet gewesen zu sein und erst in zweiter Linie auf eine Beschreibung des Krieges Beispiele für einen 'angeblichen' Rekurs von Texten auf Kriegstagebücher sind Ernst Jüngers In Stahlgewittern (zuerst 1921, mehrfach überarbeitet) und Ludwig Renns [d. i. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau] Krieg (1928). Siehe zur Überlieferungslage und Entstehung von Im Westen nichts Neues meine Beiträge: Thomas Schneider: „Es ist ein Buch ohne Tendenz" - Im Westen nichts Neues: Autor- und Textsystem im Rahmen eines {Constitutions- und Wirkungsmodells für Literatur. In: Krieg und Literatur/War and Literature I, 1989, No. l, S. 23-39; Thomas F. Schneider: Prolegomena zur Darstellung der 'Entstehung' und 'Rezeption' von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. In: Krieg und Literatur/ War and Literature IV, 1992, No. 8, S. 85-100.

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selbst.8 Der Ullstein-Konzern entschied sich jedoch vor allem aus verkaufsstrategischen Überlegungen heraus, den Text dem Genre 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' zuzuordnen. Nach Begutachtung durch Konzernmitarbeiter, die selbst ehemalige Kriegsteilnehmer und damit im Sinne der Genrekonvention hierzu legitimiert waren, wurde Remarque im August 1928 aufgefordert, an seinem Text Änderungen vorzunehmen, mit denen vor allem die politischen, explizit pazifistischen Aussagen relativiert werden sollten. Zudem entwarf der Konzern eine Marketingstrategie, die den Text explizit dem Genre 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' zuordnete und dem Autor ein entsprechendes Image zuwies: Der Protagonist des ehemaligen 'Romans', Paul Bäumer, wurde identisch gesetzt mit dem Verfasser dieser angeblichen 'Kriegserinnerungen', Erich Maria Remarque - inklusive einiger bewußter Fehlinformationen zur Biographie des Autors.9 Die Strategie des Konzerns, den Text dem Genre 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' zuzuschreiben, ging in der Rezeption auf. Von 435 erhaltenen Rezeptionszeugnissen aus dem Zeitraum November 1928 (Beginn des Vorabdrucks in der Vossischen Zeitung) bis Dezember 1930 (deutsche Premiere der US-amerikanischen Verfilmung) beschäftigen sich 188 Dokumente (43,22%) explizit mit der Frage, welchen Gegenstand der Text behandelt. Von diesen 188 wird in 179 (95,21%) die Meinung vertreten, der Text beschreibe den Gegenstand 'Krieg', lediglich in 6 Dokumenten (3,19%) werden auch Nachkriegsaspekte beobachtet, und in 3 Dokumenten (1,6%) wird noch die ursprüngliche Intention des Autors erkannt, ein Buch über die Nachkriegssituation zu schreiben. Ebenso gelang es dem Konzern, den Text aus einem literarischen Kontext weitgehend zu lösen und ihn in einen dokumentarischen Kontext zu integrieren. In 208 Dokumenten (von 435; 47,82%) werden Aussagen über die Literarizität des Textes getroffen. Immerhin wird in 102 Dokumenten (49,03%) die Meinung vertreten, der Text sei dokumentarisch oder explizit nicht-literarisch. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle, daß in über 75% der Dokumente die Ansicht vertreten wird, die dokumentarische Darstellung des Krieges sei die einzig akzeptable.10 Selbstverständlich konnten sowohl der Text als auch die Biographie des Autors die Zuordnung des 'Romans' zum Genre 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' auf die Dauer nicht bestätigen. Insbesondere die Kritiker des Textes aus dem politisch rechten bis ultra-rechten Spektrum wiesen immer wieder auf Detailfehler hin oder publizierten Artikel, in denen genüßlich auf die literarische Tätigkeit Remarques vor Im Westen nichts Neues hingewiesen wurde. Die Vorgaben, die durch die Zuordnung zum Genre wirksam geworden waren, wurden jedoch auch in diesen Kritiken nicht in Frage 8

9

10

Vgl. das Typoskript im Nachlaß Remarques: Remarque-Collection, Fales Library, New York University, R-C 1.6/002. Vgl. J. E.: Nichts Neues im Westen. In: Vossische Zeitung, 08.11.1928, S. 1. - Zum gesamten Marketingkonzept siehe Angelika Howind: Ein Antikriegsroman als Bestseller. Die Vermarktung von Im Westen nichts Neues 1928 bis 1930. In: Erich Maria Remarque 1898-1970. Hrsg. von Tilman Westphalen. Bramsche 1988, S. 55-64. Erste Ergebnisse einer quantitativen Inhaltsanalyse der erhaltenen Rezeptionszeugnisse teile ich mit in: Thomas F. Schneider: Die Meute hinter Remarque. Zur Diskussion um Im Westen nichts Neues 1928-1930. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik I, 1995, S. 143-170.

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gestellt, vielmehr arbeiteten sich die Rezensenten an der Frage ab, ob der Text Im Westen nichts Neues nun die Genrekonventionen erfülle oder nicht. Die Neuausgabe von Im Westen nichts Neues nach dem Zweiten Weltkrieg trägt den Untertitel „Roman"." Der Text wurde damit 1959 einem anderen Genre zugewiesen, in dem andere Kategorien und Konventionen wirksam werden, die die heutige Rezeption des Textes weltweit bestimmen. Mit dem Text untrennbar verknüpft bleibt jedoch weiterhin das Diktum, es handle sich um einen 'Kriegsroman', der ein weitgehend authentisches und pazifistisch gefärbtes Bild des Ersten Weltkrieges auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen des Autors gibt. Die Darstellung der Entstehung und damit der Quellen des Textes Im Westen nichts Neues muß der oben beschriebenen Genrezuordnung und der damit implizierten Struktur der Rezeption des Textes Rechnung tragen. Die Informationen zur Entstehung und zu den Quellen stammen jedoch entweder vom Autor selbst oder von direkt an der Publikation Beteiligten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sämtliche Aussagen erst nach der Publikation und damit nach dem Erfolg des Romans getätigt wurden, die Folgen der Publikation sich auf die Informationspolitik zur Entstehung und Publikation auswirkten und diese sich in dem von der Genrezuordnung gesetzten Rahmen bewegte. Die Überlieferungslage zu Im Westen nichts Neues zeigt eine intensive, durch mehrere Niederschriften, Neukonzeptionen und inhaltliche Änderungen bis hin zur Buchausgabe dokumentierte Beschäftigung des Autors und des Verlages mit der Gestaltung des Textes.12 In auffälligem Widerspruch hierzu stehen die erhaltenen Aussagen des Autors und, wie erwähnt, des Verlages zur Entstehung, d. h. zum technischen Vorgang der Niederschrift, zu den Quellen und zur Intention des Autors, mit denen die Publikation des Textes 1928 angekündigt wurde beziehungsweise die erst nach der Publikation des Textes erfolgten. Es ist aufgrund der Materiallage nicht entscheidbar, welche Version der Entstehung des Textes oder seiner Quellen den 'Tatsachen' (wenn man davon noch reden kann) entspricht. Aus den Selbstaussagen des Autors aus dem Zeitraum 1929 bis 1968 und teilweise aus Berichten Dritter können insgesamt mindestens acht voneinander abweichende Versionen zur Entstehung und zu den Quellen des Textes gewonnen und periodisiert werden.13 Der Autor Remarque präferierte weitgehend bis zu den letzten Interviews der 60er Jahre die bereits für die Weimarer Republik gültige Entstehungs-Version, die nach dem Zweiten Weltkrieg schon untrennbar mit dem Text selbst verknüpft war:

1

'

12

13

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Roman. Köln, Berlin 1959. Dieser bereits bei Schneider 1989, vgl. Anm. 7, vertretene Befund bestätigt sich durch ein jetzt aufgetauchtes, bislang unbekanntes Manuskript zu Im Westen nichts Neues, das dem Typoskript als Reinschrift unmittelbar vorausging. Siehe die Informationen in: Sotheby's: Important Printed and Manuscript Music and Continental Manuscripts [Katalog zur Auktion am 1. 12. 1995]. London 1995,8.31-34. Der Autor ist gerne bereit, Interessierten die detaillierte Analyse der bekannten Selbstaussagen Remarques zur Entstehung von Im Westen nichts Neues zur Verfügung zu stellen.

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Schwerpunkt dieser Version ist die Betonung des autobiographischen Gehalts des Textes, um den die weiteren Informationen gruppiert werden. Die Intention des Autors bei Im Westen nichts Neues ist demnach keine öffentliche, sondern eine private Aufarbeitung des Kriegserlebnisses, das als Ursache der Depressionen des Autors Ende 1927/ Anfang 1928 in einer Selbstanalyse identifiziert werden konnte. Die daraus vom Autor gefolgerte Beschreibung der Kriegs-Geschehnisse hatte sozusagen kathartische Wirkung. Die Authentizität des im Text Beschriebenen wird durch diese Motivation der Niederschrift sichergestellt, unterstützt durch die Klassifizierung des Textes durch den Verlag, der ihn als „kein Tagebuch", sondern als „gestaltetes Leben",14 beschreibt; d. h. in diesem Kontext: Nicht die bloßen Vorgänge werden dargestellt, sondern sie werden im Sinne einer persönlichen Bewältigung interpretiert. Weiterer Schwerpunkt der Version ist die Tendenzlosigkeit des Textes, die als 'unpolitisch' zu klassifizieren ist und bereits durch den autobiographischen Gehalt angedeutet wird. Dadurch daß der Verlag zum Autor mit „kein Schriftsteller von Beruf'15 informiert, wird auch die Nicht-Literarizität des Textes behauptet. Die 'Authentizität' ergibt sich wesentlich durch den Faktor 'autobiographischer Gehalt' und das Fehlen von Korrekturen und einer literarischen Gestaltung bei der Niederschrift. Dieses behauptete Fehlen von Korrekturen als Indiz für das Fehlen von literarischer Gestaltung wird zum einen durch die Angabe eines kurzen Zeitraums für die Niederschrift (6 Wochen, abends nach Büroschluß), andererseits in einem Fall sogar durch den augenscheinlichen Beleg eines Manuskriptes ohne Überarbeitungsspuren zum zentralen Punkt der Aussagen zur 'Entstehung' - neben der Intention der Überwindung der Depressionen durch die Niederschrift -, aus dem wiederum die substantiell zentralen Kategorien 'autobiographischer Gehalt' und 'Tendenzlosigkeit' gefolgert werden können. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Publikation von Im Westen nichts Neues (ab September 1929) werden teilweise neue Aspekte in diese 'Entstehungs'-Version eingebracht. Die Frage nach literarischen Vorbildern oder literarischen Einflüssen, die von Remarque in Interviews positiv mit der Angabe von Beispielen beantwortet wird, widerspricht den Kategorien 'autobiographischer Gehalt' und 'Tendenzlosigkeit' zumindest teilweise. Zu berücksichtigen ist hier, daß Remarques umfangreiches schriftstellerisches Werk vor Im Westen nichts Neues inzwischen in der Rezeptionsdiskussion nachgewiesen und 'aufgedeckt' worden war, der Autor demnach nicht mehr als „kein Schriftsteller von Beruf bezeichnet werden konnte. Die Frage nach den literarischen Einflüssen war somit virulent, allerdings beantwortet der Autor die Frage nicht im Sinne von 'Quellen', sondern als Information über seine persönliche Kenntnis anderer Beispiele des Genres; die Version der Überwindung der Depressionen durch die Beschreibung des Kriegserlebnisses wird weitgehend beibehalten, ebenso die Angabe des Zeitraums von 6 Wochen sowie die Niederschrift ohne Korrekturen.16 14 15 16

Vgl.J. E. 1928, vgl. Anm. 9. Ebda. Diese Version der 'Entstehung' von Im Westen nichts Neues wird auch heute noch, insbesondere in der Literaturwissenschaft, als die gültige erachtet und als Grundlage für die Interpretation des Textes verwendet. So noch bei Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Stuttgart 1986;

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Die wenigen alternativen Entstehungs-Versionen innerhalb des vierzigjährigen Zeitraums 1928-1968 hatten (wie in einer detaillierten Analyse nachzuweisen wäre) keinerlei Einfluß auf die enge Verknüpfung des Textes mit dieser letztendlich dominanten Entstehungs-Version.17 Dennoch sollte durch diese kurze Analyse deutlich geworden sein, wie präformierend selbst für Informationen zur Entstehung eines Textes die Zuordnung zu einem Genre wird, der sich selbst der Autor, natürlich auch unter ökonomischen Gesichtspunkten, kaum entziehen kann. Aus diesem Befund ergibt sich ein komplexer Zusammenhang zwischen dem Genre 'Kriegsliteratur/Fronterinnerungen' und dem Einzelbeispiel Im Westen nichts Neues. Einerseits steht der Text im Rezeptions-Kontext eines (allein für den Zeitraum 1914-1933) ca. 3 bis 5 Tausend Titel zählenden Genres 'Kriegsliteratur' und dessen Rezeptions-Kategorien und Konventionen. Andererseits ist er ein literarischer Text wie jeder andere, für den unter editionswissenschaftlichen Gesichtspunkten Quellen identifiziert und beschrieben werden können. Für die editionswissenschaftliche Darstellung der 'Entstehung' des Textes und seiner Quellen ergeben sich unter verschiedenen Gesichtspunkten jeweils spezifische Fragestellungen und Probleme: Der Text wird auch heute noch, trotz der mittlerweile erfolgten Zuordnung zum 'richtigen' Genre 'Roman', innerhalb der Kategorien und Konventionen der 'Kriegsliteratur', die selbstverständlich zeitlich abhängig sind und sich verändert haben, rezipiert. Die zur Publikation entworfene, um nicht zu sagen erfundene Entstehungsversion ist untrennbar mit dem Text selbst und auch mit dem Autor verknüpft, sie ist Teil des Textes geworden, ohne den eine Rezeption kaum möglich scheint. Aufgabe der Editionswissenschaft und dementsprechend einer Kommentierung des Textes ist es (jedoch), die - sofern überhaupt ermittelbar - 'richtige' Entstehungsvariante inklusive der Quellen zu präsentieren oder zumindest auf eine mögliche Entstehungsvariante hinzuweisen. Ein Verständnis der Diskussion um Im Westen nichts Neues Ende der zwanziger Jahre, die vor allem ein Politikum war, für den heutigen Leser ergibt sich jedoch nur durch eine Einbindung des Textes auch in die damaligen, als historisch zu verstehenden Genrekonventionen, obwohl damit die ursprüngliche Autorintention, eben keinen pazifistischen 'Erlebnisbericht' zu verfassen, in gewisser Hinsicht erneut 'verletzt' wird. Vielleicht ist es zu pointiert formuliert, wenn aufgrund

17

Richard A. Firda: Erich Maria Remarque. A thematic analysis of his novels. Bern [u. a.] 1989; Harley U. Taylor: Erich Maria Remarque. A literary and film biography. Bern [u. a.] 1990; Hans Wagener: Understanding Erich Maria Remarque. Columbia, SC 1991. Die Geschichte der Tradierung dieser Version in der Literaturwissenschaft und ihrer Auswirkung auf die Darstellung und Interpretation von nicht nur Im Westen nichts Neues, sondern der gesamten demokratischen Kriegsliteratur der Weimarer Republik wäre eine eigene, gesonderte Analyse wert. Es sei an dieser Stelle daraufhingewiesen, daß die Frankfurter Zeitung Ludwig Renns/Vieth von Golßenaus Krieg ebenfalls mit biographisch falschen Angaben in einem 'tendenzlosen' Licht für den dortigen Vorabdruck erscheinen ließ (Frankfurter Zeitung, 16. 9. 1928, S. 1-2). Allerdings, und diese hypothetische Bemerkung sei erlaubt, vermittelt die Verkürzung des Entstehungs-Zeitraums von 6 Wochen auf 5 bzw. 4 Wochen nach dem Zweiten Weltkrieg den Eindruck, als habe der Autor die 'gültige' Version letztendlich ironisieren wollen.

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der Analyse davon gesprochen werden kann, daß der Ullstein-Konzern rückwirkend (und mit Zustimmung des Autors) sowohl einen 'neuen' Text als auch einen 'neuen' Autor geschaffen hat. Diesem 'neuen' Text und diesem 'neuen' Autor stehen nunmehr (editionswissenschaftliche) Erkenntnisse gegenüber, die den Roman als Produkt eines Zusammenwirkens sowohl (letztendlich rudimentär für den Text wirksam gemachter) autobiographischer Kriegserlebnisse als auch eines Extraktes aus und einer Verfügbarmachung von Standards des Genres 'Kriegsliteratur' in Verbindung mit einer wohlkalkulierten, auf Wirkung, Spannung und Effekt zielenden Konstruktion des Textes insgesamt definieren.18 Die Frage nach der Entstehung und den Quellen von Im Westen nichts Neues hat es somit einerseits mit der Legende um die 'Entstehung' des Textes zu tun, wobei die Legende dem Text überhaupt erst die für das Genre notwendige Authentizität und damit Glaubwürdigkeit zuweist, und andererseits mit den 'Fakten', die aus der Überlieferungslage gefolgert (aber aufgrund fehlender Dokumente nicht bewiesen) werden können, wobei diese 'Fakten' diese Authentizität und Glaubwürdigkeit wieder erschüttern. Die Frage nach der Entstehung von Im Westen nichts Neues wird somit selbst zu einem Politikum. Sie hat anscheinend nur die Alternative, sich entweder innerhalb der Genrekategorien und -konventionen zu bewegen, was notwendigerweise zu einem negativen Urteil über den Text oder zumindest den vorgegebenen Anspruch fuhren muß, da dieser nicht für dieses Genre konzipiert gewesen ist. Oder aber sie hat sich dem Text als einem 'literarischen' zuzuwenden und tritt damit eventuell zwar als Erfüllungsgehilfe der ursprünglichen Autorintention auf, ignoriert aber den Rahmen der Rezeption des Textes seit nunmehr fast 70 Jahren. Da die Genrekategorien und -konventionen auch heute noch, wenn auch in abgeschwächter Form, wirksam sind, steht der Editor vor der Aufgabe, die 'Wahrheit' über die Entstehung und die Quellen des Textes zu vermitteln, damit aber dessen mit der Entstehungs-Legende untrennbar verknüpfte pazifistische Aussage in gewisser Hinsicht zu torpedieren. Mit der 'Wahrheit' würde der Editor letztlich erneut einen 'neuen' Text und einen 'neuen' Autor präsentieren und ihn seiner Wirksamkeit womöglich berauben. Die Konsequenz für den Editor von - vielleicht nicht nur - Im Westen nichts Neues liegt in der Einbeziehung der von den Distributoren des Textes entworfenen Marketingstrategie in die Darstellung der 'Entstehung' des Textes, die die Zuordnung zu einem Genre, in diesem Falle der 'Kriegsliteratur', einschließt. Zu den 'traditionellen' Faktoren der Entstehung eines Textes wie Quellen, Intertextualität oder persönliche Erfahrungen des Autors treten zumindest für das Beispiel Im Westen nichts Neues neue Faktoren hinzu, die sich aus dem Kontext der Publikation und damit den Kategorien und Konventionen des Genres ergeben, dem der Text vom Autor und/oder von Dritten zugeordnet wird. Ohne die Darstellung dieser zusätzlichen und möglicherweise nicht vom Autor selbst zu verantwortenden Faktoren sind sowohl die zeitgenössische Rezeption des Textes als auch seine letztendlich publizierte und autorisierte Gestalt nicht verständlich. 18

Dazu ausführlich Schneider 1989, vgl. Anm. 7.

Personen- und Werkregister (erstellt von Michael Kern und Karin Kranich-Hofbauer)

Das Register erfaßt alle im Text genannten Personen - Autoren und Wissenschaftler. Nicht berücksichtigt sind Figuren literarischer Texte. Die Werke sind den Autoren zugeordnet, hinzu kommt ein Eintrag unter dem ersten Adjektiv oder dem Substantivum regens mit einem Rückverweis auf den Autor; anonyme Werke bzw. Werke ohne Autorangabe stehen ebenfalls unter dem ersten Adjektiv oder dem Substantivum regens selbständig als Haupteintrag. Werkeinträge erscheinen kursiv. Referenziert wird die Seitenzahl, ausführliche Behandlungen erscheinen fett, Verweise auf eine Fußnote stehen nach der Seitenzahl kleiner und hochgestellt.

Abendländisches Lied-> Trakl G. Zu Abend mein Herz -» Trakl G. Abendmuse -» Trakl G. Abendspiegel ->· Trakl G. Ein Abschied -> Holz, -> Schlaf AbuTammam 248,252

- Hamasa 248, 252 Acosta, Jose" de 144 Adam, Alexandre 245 - Histoire d'Espagne, depuis la decouverte qui en ete faite par les Pheniciens jusqu 'ä la mort de Charles III 245

Adelung, Johann Christoph 88 Adimari, Angiolo 177 An Adolph Selmnitz -> Novalis

Aeneis -> Vergil Hl. Afra 265 Afra -> Trakl G. Agrippina -> Heinrich von Beeck Aguilar, Alonzo de 250 Albrecht, Wolfgang 16 Alexander der Große 111 Alfonso de Cordova, Graf von Aquilar ->· Aguilar Alle patschten in die Hände -> Brentano Cl. Hl. Anna, Mutter der hl. Maria 10218 Altes Testament 3, 13, 100 -Dan2 40

-l Kon 24 13 Amann, Jürg 255 Ames, Werner ,22 Aminta —> Tasso Ammer, K. L. -> Klammer Amphitryon 38 -> Giraudoux Anakreon 329

Angely, Louis 224, 233 - Zwölf Mädchen in Uniform 233 Anleitung zur Kenntniß der allgemeinen Weltund Völker-Geschichte für Studirende -»

Beck Ansichten vom Niederrhein -»Forster G. Anthologie auf das Jahr 1782 -> Schiller Antike -> Rimbaud Die Anverwandten -» Nestroy Apollonius von Tyrus 41 Les appartements a louer 233 Arago, Etienne 224, 229 - Les Memoires du Diable 229 Arbeiter -> Rimbaud

Ariosto, Ludovico 13 Aristoteles 5 Arnim, Achim von 205, 213 23 ,217 - Des Knaben Wunderhorn 217

- Die Kronenwächter 217 Amim, Bettina von 213 23 ,257,261 Asher, John A. 88 Aspasia -> Cats

Aston, Louise 236 Atalanta -> Gottsched Atta Troll ->· Heine Auch ein Lebenslauf-* Ein Dachstubenidyll Auf einem Grabstein -> Trakl G.

Augustinus, Aurelius 212 Bab, Julius 343 Babilas, Wolfgang 288, 289 Bachmann, Ingeborg 333-339 - Drei Wege zum See 336, 337

- Gier 333-339 -Malina 333,337

370

-Simultan 333 - Todesarten-Projekt 333-339 Balduineen -> Balduin von Luxemburg Balduin von Luxemburg, Erzbischof von Trier 53, 5722, 59, 60 Balduineen 51-61 Balzac, Honoro de 236 Barton, Brian 307 Baruscha -> Lavant Baude, Louis 9 -L'ours 9 Baudelaire, Charles 255,256,259,261,263 - Die Blumen des Bösen 259 Bayard, Jean-Fran9ois-Alfred 224 Beck, Christian Daniel 246 - Anleitung zur Kenntniß der allgemeinen Welt- und Völker-Geschichte für Studirende 246 Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I, -*> Sybel Bell, Clair Hayden 82 Benedikt, Moriz 281 Berg, Werner 359 Le berger extravagant -» Corneille Bergerie -» Monchrestien Bergmann, Michael 138 - Poetische Schatzkammer 138 Berliner Evangelistar 37 Berliner Fragment 26 Berliner Zigeuner —> Holz Bruder Berthold 110 - Rechtssumme \ 10 Kaplan Berthold 112 - Gesta Ludowici 112 Beituch, Friedrich Justin 247 - Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur 247 Beulwitz, Caroline von 1979 Beust, Ferdinand Graf von 312 Bibel 15, 37, 43, 4323, 75, 100, 101, 106, 135, 209,214,255,263,272,329 Bismarck, Otto von 307-312 - Gedanken und Erinnerungen 307, 311,312 Bismarck -> Wedekind Bitterlich, Victor 263 Bitz, Ulrich 344,346 4 Bleicker, Werner 299^47 29 Bloh, Ute von 105 Die Blumen des Bösen -> Baudelaire Blumenlese aus morgenländischen Dichtern Herder Boas, Eduard 20l 19 Boccaccio, Giovanni 82 - De claris mulieribus 82

Personen- und Werkregister Bodmer, Johann Jakob 4425 Böhm, Wilhelm 259, 2599 Böhme, Jacob 218 BOGS der Uhrmacher -» Brentano Cl., -» Görres Bohn, Thomas 6l" Bonaventura, Schwester der Caterina von Siena 174 Bonaventure 232 Boner, Ulrich 4425 - Der Edelstein 4425 Borghigiani 17737 - Cronica annalistica 176 Bosch, Bernhard 20l 222 Boyer, Claude 197 114 Brands, Heinz-Georg 291,293' Brandstetter, Gabriele 204,218 Brecht, Bertolt 4,17 Bredero, Gerbrand Adriaenszoon 152, 153 Breitinger, Johann Jakob 4425 Brentano, Christian 203, 2031, 219 Brentano, Clemens 203-221 - A lie patschten in die Hände 214 - BOGS der Uhrmacher 217 - Chronica des fahrenden Schülers 212 - Gepriesen sei der Glaubensheld 213 - Gesammelte Schriften 208, 213 - Herr Gott, dich will ich preisen 208, 215 - Ich bin durch die Wüste gezogen 217, 218 - Des Knaben Wunderhorn 217 - Märchen vom Rhein 212 - Nun soll ich in die Fremde ziehen 218 - O war' ich dieser Welt doch los 210, 211, 214 -O wie so oft 217 - Aus einem geplünderten Postfelleisen 221 - Romanzen vom Rosenkranz 216, 217 - Warum er mich verlassen 208, 215,218 - Zueignung 204-208, 215, 218,219, 219W Briefe über Inquisitionsgericht und Ketzerverfolgung in der römischen Kirche —> Cramer Browning, Robert 303 Bruno von Teutleben 111 Bry, Theodor de 144 Buch der Lieder -» Heine Bucher, Lothar 311,312 Buchner, August 154, 15425, 155 Büchlein der ewigen Wahrheit -» Seuse Büchner, Georg 17, 240, 265, 346 - Dantons Tod 240 - Lenz 265 Bunting, Heinrich 76, 765 Busching, Anton Friederich 246, 250

Personen- und Werkregister - Magazin für die neue Historie und Geographie 246, 250 Burgard, Friedhelm 6l 33 Busch, Moritz 311 Buschbeck, Erhard 260,264 Byron, George Gordon Lord 324, 325 -Manfred 324 Hl. Caecilia 4 Caesarius von Heisterbach 32 Calderon de la Barca, Pedro 304, 305, 306 - Das Leben ein Traum 303, 306 Campistron, Jean Galbert de 14 Canet, Louis 17l 5 Cardauns, Hermann 205, 208, 21 P44 Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens —> Wassermann Caterina von Siena 170f, 1715, 172, 173, 175177, 17737 - Libra della divina dottrina 173 Catharinus, Ambrosius 17216 Cats, Jacob 153 -Aspasia 153 Cerquiglini, Bernard 23, 30,31 Cervantes Saavedra, Miguel de 239 Chretien de Troyes 109 Die Christenheit oder Europa -> Novalis Christherre-Chronik 37, 3910 £•50 Christian IV., König von Dänemark 165"" Christus -+ Jesus Chronica —> Franck Chronica des fahrenden Schülers -> Brentano Cl. Hl. Clemens 212 Clemens VII., Papst 172 Clio -» Homburg Cloris en Philida -> Krul Codex Bodmer 72 61 Coleridge, Samuel Taylor 303 Congreve, William 197 Cook, James 187 Coppenhagen, Isaak 248 Cormeau, Christoph 24, 31 Corneille, Thomas 15l 9 ü - Le berger extravagant 151 Corpus des notes marginales de Voltaire 185 Corydon -> Gide Cosmographie universelle —> Thevet Coster, Samuel 152, 153 Courcy, F. de 224 Cramer, Heinrich Matthias August 246, 250 - Briefe über Inquisitionsgericht und Ketzerverfolgung in der römischen Kirche 246 Crisp, Henry Samuel 14

371 Cronica annalistica -» Borghigiani Cronica Thuringorum (sog. Pistoriana) 112 Ein Dachstubenidyll -> Holz, -> Schlaf Däubler, Theodor 257, 263, 264,272 -Nordlicht 263 -Pan 263 Dallago, Carl 258, 263 Dantons Tod -» Büchner Daphnis und Chrysilla -> Scher H.-H. A Day well spent 229 De claris mulieribus -> Boccaccio Dedner, Burghard 17, 240,28828, 28934,28935, 3095 - Die verschiedenen Textsorten der Quellen und deren unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten 17 Denk es, o Seele ->· Mörike Denkwürdigkeiten -» Roon Deschner, Karlheinz 345 - Kitsch, Konvention und Kunst 345 Der Deutsche Orden 37,40 Deutscher Dädalus —» Treuer Deutschland. Ein Wintermärchen -» Heine Diana -> Krul Dichtkunst -> Verlaine Dickens, Charles 224 Diepenbrock, Melchior 204 - Geistlicher Blumenstrauß 204,208,215 Dietrich von Apolda 112, 113 - Vita der heiligen Elisabeth \ 12 Dingelstedt, Franz 229 Disciple de Pantagruel -> Navigation du Compaignon a la Bouteille Domack, Ottilie 12 Dombay, Franz von 246,251 - Geschichte der Mauretanischen Könige 246 Dar Domfest von 1848 -» Weerth Brixner Dommesnerbuch -> Feichter V. Dommesner-Urbar -> Feichter V. Don Gayseros —> Fouquo Doppier, Alfred 274 Dorat, Claude Joseph 14 Dostojewski, Fjodor 333 Dousa,Janus 15425 Drei Wege zum See -» Bachmann Drey getreten heidnischen \veiber -» Hager Droste-Hülshoff, Anette von 12,15, 17, 18 - Das Geistliche Jahr 15 Dschami, Maulana Nur ad-Din Abd ar-Rahman 248, 252 Dürrenmatt, Friedrich 6 - Der Verdacht 6

372 Dumanoir, Philipp-Franc.ois-Pinel 224 Dumas, Alexandre 224,236 Dupeuty, Charles Desire" 224 Dupin, Henri 224 Duvert, Fre"de>ic Auguste 224 Ebner, Jeannie 35716 Ebulhaßan Aly Ben Abdallah, Ben Ebi Zeraa 246 - Geschichte der Mauretanischen Könige 246 Meister Eckhart 9l19 Eccardiana -> Historia Landgraviis Thuringiae Eccle, John 197 Eco, Umberto 22,22', 23,344 Eichendorff, Joseph Freiherr von 6, 26756 - Das zerbrochene Ringlein 26756 Ecker, Hans-Peter 169 Eibl,Karl 351 Einem, Herbert von 180 Eisenbahnheiraten -> Nestroy Elis -> Trakl G. Hl. Elisabeth, Gemahlin Ludwigs IV. von Thüringen 112-121 Emerson, Ralph Waldo 329,330 Emilia Galotti -> Lessing Emmerick, Anna Katharina 204 Die kleine Emmi -» Holz, -> Schlaf Engelbert von Falkenburg, Erzbischof von Köln 125-127 Engels, Friedrich 17,236 ,26 2 Enikel,Jans 117 ' ,26 -Weltchronik Die Entfuhrung aus dem Serail -» Mozart d'Epagny, Jean Baptiste 224 Erec -> Hartmann von Aue Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha 312 Es ist alles Eitel -» Gryphius Esterle, Max von 257 124 Eusum, Anna van Evangelienbuch -» Matthias Beheim Exempel, wie man sich der armen an nemen sol -> Hager Fabre, Jean-Henri 345, 346, 349 Fabricius, Vincentius 154, 15425, 155 Fahrende Sänger -> Kraus, Karl Die Familie Selicke -» Holz, -> Schlaf Die verhängnisvolle Faschingsnacht -> Nestroy Der Faßbinder -» Hafther Faust 1-^ Goethe Faust H -» Goethe Fawtier, Robert 17533, 17535

Personen- und Werkregister Feichter, Cristan 64,646 Feichter, Veit 63-72 - Brixner Dommesnerbuch 63, 65, 65", 6672 - Dommesner-Urbar 63, 65, 67, 68, 71 - Urbar-Hefl 65 Feilchenfeldt, Konrad 218 Fendri, Mounir 24815 Ferber, Johann Jakob 181,182,184 Feßler, Ignaz Aurelius 244-246 - Die alten und die neuen Spanier 244, 245 - Völkerspiegel 246 Festa allegorica Minerva 199 Ficker, Ludwig von 256, 257, 261-263, 263"*, 264, 272,275 Finck, Adrien 26756, 274 Findler, Holland 141, 142 Flach, Willy 85 - Georg Spalatin als Geschichtschreiber 85 Flochier, Esprit 246 - Histoire du Cardinal Ximenes 246 Fiele, William 174 - Sermo in reverentiam beatae Katherinae de Senis 174 Florian von der Fleschen 141-147 Die Flucht der Zeit -» Hensel Fluß ohne Ufer -> Jahnn Förtsch, Johann Philipp 197 Forster, Georg 187-193 - Ansichten vom Niederrhein 187-193 Forster, Therese 188,190 Fouquö, Friedrich de la Motte 247, 248 - Don Gayseros 247 - Der Zauberring 247 Fragmente —» Novalis Fragmente einer Bearbeitung ->· Hofmannsthal Franck, Sebastian 76, 778, 82, 83 - Chronica 76, 82 Freiheit in Krähwinkel -> Nestroy Fried, Erich 7 Friedjung, Heinrich 309 - Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 309 Friedl, Gerhard 19813 Friedrich II., König von Preußen 12 Friedrich der Freidige, Landgraf von Thüringen 116 Fröhliche Mahle -> Heine Der Frohsinn -> Klopstock Früh, Eckart 279 Füllner, Bernd 236, 239 Fuhrmann, Manfred 347-349 Fundler -»· Findler

Personen- und Werkregister Gärtner, Kurt 92,97, 11827, 1231 Ganghofer, Ludwig 279,281 Gaßner, Hans 17216 - Höchst wunderbarliches Leben ... 17216 Gaspard Hauser chante -> Verlaine Geburt -> Trakl G. Gedanken und Erinnerungen -> Bismarck Gedichte -> Heine Geistliche Lieder ->· Gerhardt Geistlicher Blumenstrauß -> Diepenbrock Geistlicher Rosengarten 172, 17317 Der böse Geist Lumpazivagabundus -> Nestroy Geliert, Christian Fürchtegott 14 Genette, Gorard 143,331 George, Stefan 259, 268 Gepriesen sei der Glaubensheld —> Brentano Cl. Gerhardt, Paul 272 — Geistliche Lieder 272 Der guote Gerhart -> Rudolf von Ems Gesammelte Gedichte (1907) -> Hofmannsthal Gesammelte Schriften -> Brentano Cl. Geschichte der Mauretanischen Könige -> Ebulhaßan, -> Dombay Geschichte des Gran Tacano. Oder Leben und Thaten des Erzschalks -» Gomez de Quevedo Der Gesellschafter 221,245 Gesta Ludowici -> Kaplan Berthold Der Gewitterabend -» Trakl G. Gide, Andrö 346, 349 -Corydon 346,347 Gille, Ph. 224 Giraudoux, Jean 10 - Amphitryon 38 10 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 329 Görres, Johann Joseph von 217 - BOGS der Uhrmacher 217 An Goethe -» Nietzsche Goethe, Johann Wolfgang von 16,179-185, 187, 188, 248, 261, 302, 305, 323-325, 329, 32940, 348 -Faust l 324, 325, 32637 -FaustU 322, 325, 32637 - Italiänische Reise 179, 180 -An den Mond 302 - Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans 249 -Reise-Tagebuch 1786 179-185 - Tagebücher 16 - Wanderers Sturmlied 329** - West-östlicher Divan 248 Die Göttliche Komödie 177 Goldene Zeiten -» Holz Gomez de Quevedo, Francisco 247

373 - Geschichte des Gran Tacano. Oder Leben und Thaten des Erzschalks 247 Gottsched, Johann Christoph 1504 -Atalanta ISO4 Auf einem Grabstein -> Trakl G. Granida —> Hooft Grandville, Jean Ignace 9 Gregor XI., Papst 171 Gregorius -> Hartmann von Aue Gries, Johann Diederich 305, 306 Grimm, Reinhold 273 Grimmeishausen, Hans Jakob Christoffel von 4,13 - Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status 13 Grodek -> Trakl G. Groddeck, Wolfram 31811, 33048 Grois, Louis 230 Großmutter und Enkel -> Hofmannsthal Grotos,Luigi 155 - // Pentimento Amoroso 1553' Grupe, Walter 239 Gryphius, Andreas 137-139,272 - Es ist alles Eitel 272 - Leo Armenius 137-139 Guarini, Giovanni Battista 15l 9 -PastorFido 15l9 Gümbel, Albert 6513 Gutenberg, Johannes 107 Gutzkow, Karl 236 Gutenbergbibel 106 Haase, Marie-Luise 317 Hacquet, Balthasar 181, 182, 184 - Physikalisch-Politische Reise aus den Dinarischen durch die Julischen, Carnischen, Rhätischen in die Norischen Alpen, im Jahre 1781 und 1783 unternommen 181 Die Hälfte des Lebens -» Trakl G. Händel, Georg Friedrich 197 Die Haideschenke -> Lenau Häuptling Abendwind -> Nestroy Haffner, Carl 233 - Der Faßbinder 233 Hagen, Gottfried 123-132 - Reimchronik der Stadt Köln 123-132 Hager, Georg 73-84 - Drey getrewen heidnischen weiber 81 -83 - Exempel, wie man sich der armen an nemen sol 80-81 —jphis er Henck sich vor lieb 78-80 Hamasa -» Abu Tammam Hamlet -> Shakespeare Hariot, Thomas 144

374 Harsdörffer, Georg Philipp 138 - Poetischer Trichter 138 Hartmann, Anton Theodor 248,249, 252 - Medschnun und Leila. Ein persischer Liebesroman von Dschami 248, 252 - Die hellstrahlenden Plejaden am arabischen poetischen Himmel, oder die sieben am Tempel zu Mekka aufgehangenen arabischen Gedichte 248,249 Hartmann von Aue 109 -Erec 109 -Iwein 109 — Gregor ius \ 09 Hatzfeld, Sophie Gräfin von 239 Hauser, Kaspar 267 Haupt, Moriz 37 Ein gebildeter Hausknecht -> Kaiisch Hebbel, Friedrich 10,224,231 -Judith 10,231 Hedion, Kaspar 80 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12 Heidelberger Handschrift Cpg 341 61 Große Heidelberger Liederhandschrift 25 Kleine Heidelberger Liederhandschrift 24 Heilige Schrift -> Bibel Heimliches Geld, heimliche Liebe ->· Nestroy Heine, Heinrich 9, 12, 14, 236-239, 243-253, 272 -Almansor 243-253 -Atta Troll 9, 14,236-238 - Buch der Lieder 243 - Deutschland. Ein Wintermärchen 272 - Fröhliche Mahle 248,249,252 -Gedichte 243 - Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo 243, 247 - William Ratcliff 243, 253 Keinen, Hubert 30 Heinrich, Karl Borromäus 262 Heinrich VII., röm.-dt. Ks. 53 Heinrich, Pfalzgraf bei Rhein 541! Heinrich von Beeck 127,128,132 -Agrippina 127-130, 132 Heinrich von Ofterdingen -> Novalis Heinsius, Daniel 152, 15212 Helian -> Trakl G. Hensel, Luise 203-221 - Die Flucht der Zeit 207, 215 - Hinweg von hier! Hinauf zu dir! 210 -Lieder 205,207-210 - Müde bin ich, geh' zur Ruh 214, 219W -Stilles Gotteslob 205,219" - Vertrauen 208,209 Herberstein, Sigismund von 144

Personen- und Werkregister - Moscovia 144 Herder, Johann Gottfried 245, 247,249 - Blumenlese aus morgenländischen Dichtern 245, 249 - Stimmen der Völker in Liedern 245, 247 - Volkslieder 247 Hermann L, Landgraf von Thüringen 115 Herodot 755 Herr Gott, dich will ich preisen -» Brentano, Cl. Heyne, Christian Gottlob 189 Hinüber Herüber -> Nestroy Hinweg von hier! Hinauf zu dir! -> Hensel Histoire chevaleresque des Maures de Grenade, precedee de quelques reflexions sur les Musulmans d'Espagne, avec des Notes historiques et litteraires -> Sani Histoire d'Espagne, depuis la decouverte qui en tefaitepar les Pheniciens jusqu 'a la mort de Charles III -> Adam Histoire du Cardinal Ximenes -» Ftechier Historia de landgraviis Thuringiae (sog. Eccardiana) 112, 113, 115-117 Historia de las guerras civiles des Grenada -> Hita Historia scholastica 98 Historisch-kritische Nachrichten von Italien —» Volkmann Hita, Gines Pe"rez de 243, 246, 247, 250 - Historia de las guerras civiles des Grenada 246, 247 Höchst wunderbarliches Leben ... -> Gaßner Hölderlin, Friedrich 255,257-259,2599,261263, 265-268, 274, 275, 329 -DerMensch 266 -Patmos 267 - Unsterblichkeit der Seele 259* Höllenangst -> Nestroy Höss, Irmgard 85 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 37 Hofmannsthal, Hugo von 301-306 - Fragmente einer freien Bearbeitung 303306 - Gesammelte Gedichte (1907) 302 - Großmutter und Enkel 302 -Der Turm 305 - Weltgeheimnis 303 Hofmeister, Wernfried 64 Hohenheim, Franziska Reichsgräfin von 198, 199,200 Hollmann, Hans 280 Holtei, Karl von 224 Holtus, Günter 6l33, 123'

Personen- und Werkregister ΗοΙζ,Απιο 291-300 -EinAbschied 294,297 - Berliner Zigeuner 295 - Ein Dachstubenidyll 295, 296, 29626, 297, 298, 29947 - Die kleine Emmi 294, 297 - Die Familie Selicke 291, 292, 294'7, 294298 - Goldene Zeiten 294, 29522 - Illusionen 295, 29522 - Krumme Windgasse 20 294, 297 - Eine Mainacht 295, 29523, 296-298 - Neue Gleise 292, 293, 296, 297 - Papa Hamlet 291, 292, 29417, 294-298, 29947, 300 - Diepapierne Passion 294-298 - Der geschundne Pegasus 292 - Der erste Schultag 294 Homburg, Ernst Christian 150, 155,15528, 163 - Dulcimunda 150 - Schimpff- vnd Ernsthaffte Clio 155 Homer 3 -llias 3 - Odyssee 3, 7

Hondorff, Andreas 755, 76, 778, 7812, 80-83 - Promptuarium Exemplorum 755, 76, 80, 82 Hooft, Pieter Comeliszoon 152,161 -Granida 153 Huez, Robert 28321 Hymnen an die Nacht -» Novalis El iardin deflores curiosas —> Torquemada Ich bin durch die W ste gezogen -> Brentano Cl.

llias -» Homer Illich, Ivan 107 - Im Weinberg des Textes 108 illuminations -> Rimbaud Illusionen -> Holz Immermann, Karl 243 Auf den gl ckseligen Inseln -> Nietzsche Irenaromachia -> Rist Itali nische Reise -> Goethe Iwein —> Hartmann von Aue Jacobi, Johann Georg 187, 191 Jacobsohn, Siegfried 307 Jahnn, Hans Henny 341-349 - Flu ohne Ufer 342, 344, 346, 347 - Niederschrift des Gustav Anias H rn 344 - Pastor Ephraim Magnus 343 -Perrudja 342 Das Geistliche Jahr -> Droste Der Jahrmarkt -> Schiller

375 Jesus 3,42,47, 10218, 175,206,207,209 Johann, Erzbischof von Trier 5415 Joachimi-Dege, Marie 2599 Hl. Joachim, Gemahl der hl. Anna 10218 Johannes, Apostel 346 - Offenbarung 346 Johannesevangelium 42 -Iol,24 399 -Io3,17 44 -Ιο5,17 42 -Io6,52 45 20 -Io9,4 42 ,20 - Ιο 10. l 42' -Ιο 13,23 44

19916

Jomelli, Niccol 35

Jordan, E. 175 jphis er Henck sich vor lieb -> Hager

Judith -> Hebbel Judith und Holofernes -> Nestroy Junge Leute —> Schlaf Einen Jux will er sich machen -» Nestroy Kabale und Liebe -» Schiller Kafitz, Dieter 291, 293H Kafka, Franz 9 - Tageb cher 9 Kaiser, Bruno 239 Kaiisch, David 233 - Ein gebildeter Hausknecht 233 Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland -> Friedjung Karl V., r m.-dt. Ks. 65 " Karl der Gro e, r m.-dt. Ks. 86 Karl Eugen, Herzog von W rttemberg 198, 199 Kaspar Hauser Lied -> Trakl G. Kautzsch, Rudolf 99 Kayser, Wolfgang 288 Keats, John 302, 303 Keller, Gottfried 6 Kemper, Hans-Georg 270, 271 Kierkegaard, Seren 258 Killy, Walther 297 - Die deutsche Literatur 297 Das Kind -> Lavant Kindeslallen -» Herr Gott, dich will ich preisen Die Kindheit Jesu —> Konrad von Fu esbrunnen Kitsch, Konvention und Kunst -> Deschner Klammer, Karl [Pseud.: K. L. Ammer] 259, 262 Kleist, Heinrich von 6, 188 - Der zerbrochene Krug 6 Klettenhammer, Sieglinde 265

376 Klopstock, Friedrich Gottlieb 272 - Der Frohsinn 272 Das Kloster -> Matthisson Klosterneuburger Evangelienwerk 40 Kluge, Gerhard 20l 19 Des Knaben Wunderhorn -> Arnim, A. v., -» Brentano CI. de Kock, Paul 224 Köditz von Salfeld, Friedrich 109-121 - Das Leben des heiligen Ludwig 109-121 Koelhoffsche Chronik 128-132 König Ödipus -* Sophokles Kommentar - Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers -» Martens Konrad von Fußesbrunnen 92 - Die Kindheit Jesu 92 Konrad von Hochstaden, Erzbischof von Köln 125, 126, 129 Kopiar der Grafen von Kleve 526 Kraft, Herbert 134, 195 Kranich-Hofbauer, Karin 52 Kraus, Carl von 34, 195' Kraus, Karl 224, 2243, 234, 258,277-289 -DieFackel 279, 281-283,285, 28727 - Fahrende Sänger 282, 28220,284, 286, 287, 289 - Literatur oder Man wird doch da sehn 288 - Die chinesische Mauer 282,28218 - Sittlichkeit und Kriminalität 280, 281 - Die letzten Tage der Menschheit 277,279, 280, 289 Kreuder, Ernst 342 Die Kronenwächter -» Brentano Cl. Das Kruglein -» Lavant Der zerbrochene Krug -> Kleist Krul, Jan Harmens 149-167 - Chris en Philida 149-167 -Diana 152, 159 Krumme Windgasse 20 -> Holz, -» Schlaf Kühnel, Jürgen 22,23,30 - Der offene Text 22 Kühn, Hugo 97, 107 - Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur 97 Kupelwieser, Josef 233 Lachmann, Karl 247, 34 Lachmann, Renate 330,347 La Motte, Antoine Houdard de 197 Lang, Ulrike 28321 Lange, Horst 345-347, 349 -Schwarze Weide 345, 347 - Ulanenpatrouille 346 Langewiesche, Dieter 235

Personen- und Werkregister Laßberg, Joseph (Maria Christoph) Freiherr von 12,18 Lassalle, Ferdinand 239 Laube, Heinrich 236,253 Lauber, Diebold 97-108 Laura's Quelle -> Matthisson Lauremberg, Johann 165, 16550 Lauzanne, Auguste Theodore 224 Lavant, Christine 352, 357, 35716, 358-360 -Baruscha 35716 -DasKind 35716 -DasKrüglein 35716 -Nell 35716 - Die Rosenkugel 35716 Das Leben des heiligen Ludwig -> Köditz von Salfeld Das Leben ein Traum -» Calderon de la Barca Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski -» Weerth Legenda Maior (Vita Catherinae Senensis) -»· Raimund von Capua Lenau, Nikolaus 272 - Die Haideschenke 272 Lengefeld, Charlotte von 1979 Lenz -» Büchner Leonardo da Vinci 346 Leo Armenius —> Gryphius Lory, Jean de 144 Lessing, Gotthold Ephraim 5, 10, 14 - Emilia Galotti 5,14 - Miss Sara Sampson 10 Libra della divina dottrina -» Caterina von Siena Lichnowski, Felix Fürst von 236, 237, 2379, 238, 239,240,23922,242 - Erinnerungen aus den Jahren 1837, 1838 und 1839 237,240 ,26 Liebertz-Grün, Ursula 117' Liebesgeschichten und Heiratssachen -> Nestroy Lied auf den Wassern zu singen -> Stolberg Lieder -> Hensel Liliencron, Detlev von 261 Lindtberg, Leopold 280 Lipsius, Justus 160, 161, 163, 164, 166 -Politico 164 Die deutsche Literatur -» Killy Literatur oder Man wird doch da sehn -» Kraus K. Litzmann, Berthold 259,259' Livius Andronicus, Lucius 12-14,76 - Ab urbe condita 12 Le Livre -» Mallarme" Loerke, Oskar 343

Personen- und Werkregister Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab -» Nestroy Lorenczuk, Andreas 216 Losse, Rudolf 53 Louvet de Couvray, Jean Baptiste 239 Luckas, Emil 264 - Drei Stufen der Erotik 264 Hl. Ludwig (Ludwig IV., Landgraf von Thüringen) 212 Ludwig IV., Landgraf von Thüringen 111-117 Ludwig XIII., König von Frankreich 1506 Lukäcs, Georg 357 Lukasevangelium -Lc4,2 42 -Lc6,37 45 26 -Lc 11,51 45 - Lc 16,12 399 -Lc 18,38 41 -Lc 18,39 41 Lukian 144 — Vera Historia 144 Lund, Zacharias 15425, 155, 15531 - Schäferische Komödie der Dieromene 15531 Luther, Martin 4,38,213 Das Mädl aus der Vorstadt -> Nestroy Märchen aus tausend und einer Nacht 320 Märchen vom Rhein -> Brentano Cl. Maeterlinck, Maurice 255, 259, 263 Magasin theatral 232 Magazin für die neue H ist or ie und Geographie -> Büsching Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur -*· Bertuch Magdalena Sybille von Sachsen, Gattin König Christians IV. von Dänemark 16550 Mahrenberger Psalter 37 Eine Mainacht -> Holz, -> Schlaf Mairet, Jean 150, 1506, 15l9, 163 -Sylvie 150, 1507, 15l 9 Malina -> Bachmann Mallarmo, Stephane 22, 30 - Le Livre 22, 30 Malss, Karl 233 Mandelstam, Ossip 348 Manfred -» Byron Der Mann ohne Eigenschaften -> Musil Hl. Maria 10218 Marienleben -» Bruder Philipp Markusevangelium -Mc 11,31 43 -Mc 11,32 43 -Mc 12,40 399

377 -Mc 15,34 209 Martens, Gunter 28728, 344, 347 - Kommentar - Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers 344 Martin Chuzzlewif 229 Martini, Fritz 293, 297 Marussig, H. 277 Marx, Karl 17,238 Masson, Michel 224 Matthäusevangelium 4323 -MtI7,4 399 26 -Mtl7,5 45 29 -Mi 21 46 -Mt21,15 4526 -Mt21,17 46 -Mt22,18 42' -Mi22,37 421 -Mi23,14 399 -Mt 23,15 47 -Mt 23,19 47 -Mt23,24 47 -Mt23,25 44 -Mt23,26 47 -Mt23,30 47 -Mt24,15 41 26 -Mt24,38 45 -Mt 24,41 399 -Mt25,2 399 -Mt26,10 4220 -Mt27,46 209 Matthias Beheim 37, 38 - Evangelienbuch 37, 38 Matthisson, Friedrich von 269 - Das Kloster 269 - Laura 's Quelle 269 Die chinesische Mauer -> Kraus K. Maurer, Friedrich 34, 38 Medea —> Seneca Medschnun und Leila 248 Medschnun und Leila. Ein persischer Liebesroman von Dschami —» Hartmann A. Th. An die Melancholie —> Trakl G. Les Memoires du Diable -> Arago, -> Vermond Der Mensch -> Hölderlin Menschheit -> Trakl G. Meschendörfer, Adolf 263 Mesdames de la Halle -» Offenbach Messerschmid, Georg Friedrich 142 Metamorphosen —» Ovidius Naso Methlagl, Walter 26449, 271, 274 Meyerbeer, Giacomo 224 Michel, Robert 265 - Vom Podvelez 265

378

Personen- und Werkregister

Michelangelo Buonarotti 264 In Milch und Öde -> Trakl G. Milton, John 302 Des Minnesangs Frühling 34 Miracoli di Caterina 174, 17424, 175-178 Miss Sara Sampson —> Lessing Moallakat 248, 249, 252 Möser, Justus 12 - Patriotische Phantasien 12 Mörike, Eduard 261,272 - Denk es, o Seele 272 - Mozart auf der Reise nach Prag 272 Mötsch, Johannes 54-56,58 Mohr, Wolfgang 109 Monchrestien, Antoine de 15l 9 - Berger ie 151 An den Mond -> Goethe Montiano Luyando, Agustin de 14 Montinari, Mazzino 316, 317, 3178, 321, 331 Montmorency, Henri II. de 1506 Morayzela, Sultanin von Grenada -> Schlegel A.W. Morgenlied -> Trakl G. Morhof, Daniel Georg 153 - Unterricht von der Teutschen Sprache 153 Morsius, Joachim 15527 Moscovia -> Herberstein Mozart, Wolfgang Amadeus 1989 - Die Entführung aus dem Serail 1989 Mozart auf der Reise nach Prag -> Mörike Müde bin ich, geh' zur Ruh -> Hensel Müller, Klaus-Detlef 17 - Bertolt Brechts 'Tage der Kommune'. Zu Problemen einer quellenkundlichen Edition 17 Muschg, Walter 343, 344 Musil, Robert 343, 351-360 - Der Mann ohne Eigenschaften 352-354, 356 Les Mysteres de Paris -> Sues g

Nachtlied 111 -»Trakl G. Nachtwandlerlied -> Nietzsche Nädhemy, Sidonie 288 Napoleon Bonaparte 329 Navigation du Compaignon ä la Bouteille -» Rabelais Neidhart (von Reuenthal) 33 Nell -> Lavant Neroccio di Landi 178 Nestroy, Johann 10,223-234,284,288 - Die Anverwandten 224, 229 - Eisenbahnheiraten 224, 229, 232 - Die verhängnisvolle Faschingsnacht 224

- Freiheit in Krähwinkel 232 -Frühere Verhältnisse 224, 233 - Der böse Geist Lumpazivagabundus 224 - Häuptling Abendwind 224 - Heimliches Geld, heimliche Liebe 224 - Hinüber Herüber 224 -Höllenangst 224,232,233 - Judith und Holofernes 224 - Einen Jux will er sich machen 224, 229, 233,288 -Liebesgeschichten und Heiratssachen 224, 229, 232 - Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab 224 - Das Mädl aus der Vorstadt 224, 229 - Die Papiere des Teufels 224, 229, 233 - Robert der Teuxel 224 -NurRuhe! 229 - Der Schützling 228 - Der Talisman 224, 229, 232, 233 - Tannhäuser 224 - Der gutmütige Teufel 226 -Theaterg'schichten 224,233 -Der Unbedeutende 224, 232, 233 - Unverhofft 224, 226 - Eine Wohnung ist zu vermieten 224, 233 - Der Zerrissene 224, 229, 232, 233 - Die dramatischen Zimmerherren 226 Neue Gleise -» Holz, -> Schlaf Neue Rheinische Zeitung 235, 237, 2379, 238, 238 U ,239, 241 Neues Testament 100 Neugebauer, Hugo 263 Neumann, Robert 4 Nibelungenlied 34 Nicht die Rechte -> Schlaf Nietzsche, Friedrich 258, 26023, 265, 271, 272, 315-331 - Also sprach Zarathustra 26023, 271,315331 -An Goethe 322,327 - Auf den glückseligen Inseln 322 -Nachtwandlerlied 320 -DerZauberer 32220 Nordlicht ->· Däubler Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans -> Goethe Novalis 213, 21327, 214, 217, 218, 259, 264, 270,271 - An Adolph Selmnitz 218 - Die Christenheit oder Europa 213, 21327 -Fragmente 259 - Heinrich von Ofterdingen 270 - Hymnen an die Nacht 264

Personen- und Werkregister An Novalis -> Trakl G. Nun soll ich in die Fremde ziehen Cl. Nur Ruhe! -> Nestroy

379

Brentano

O das Wohnen -> Trakl G. Odyssee -> Homer Oestreich, Gerhard 160 Offenbach, Jacques 224, 230, 233 - Mesdames de la Halle 230 - Orpheus in der Unterwelt 233 Offenbarung -> Johannes, Apostel Olga -> Schlaf Opitz, Martin 15212 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von 259 d'Orteans, Gaston ISO6 Orpheus in der Unterwelt -» Offenbach Otto I. der Große, röm.-dt. Ks. 86 L Ours —> Baude Ovidius Naso, Publius 76, 771C, 79, 80, 84, 200, 20017, 20018 - Metamorphosen 79, 200, 20017,200'* O war' ich dieser Welt doch los -> Brentano Cl. O wie so oft -> Brentano Cl. Oxenford, John 224 Fächer, Gallus 646 Pampiere Wereld^ Scher H.-H. Pan -» Däubler Papa Hamlet ->· Holz, -> Schlaf Die Papiere des Teufels -»· Nestroy Die papierne Passion -> Holz, -> Schlaf Pastor Ephraim Magnus -» Jahnn Pastor Fido -» Guarini Parzival 34,35, 10l 17 , 105, 106 Patmos -> Hölderlin Patrician and Parvenu 229 Patriotische Phantasien ->· Möser Patze, Hans 11726 Patzke, Johann Samuel 14 - Virginia 14 St. Pauler Evangelienreimwerk 37- 49 Der geschundne Pegasus -> Holz, -> Schlaf Peitsch, Helmut 1905 // Pentimento -> Grotos Perrudja ->Jahnn Perseus -> Rist Pfeffel, Gottlieb Konrad 14 Bruder Philipp 97-108 -Marienleben 97-108 Philobiblon -> Ricardus de Bury Physikalisch-Politische Reise aus den Dinarischen durch die Julischen, Carnischen, Rhä-

tischen in die N arischen Alpen, im Jahre 1781 und 1783 unternommen -> Hacquet

Piccolomini, Enea Silvio de' -> Pius II. Pilling, Claudia 1951 Pirgstaller, Urban 6923 Pistoriana -> Cronica Thuringorum Pius II., Papst 172 Platon 322,322 2I ,323, 324, 32431 -Politeia 322 - Theaitetos 325 Die hellstrahlenden Plejaden am arabischen poetischen Himmel, oder die sieben am Tempel zu Mekka aufgehangenen arabischen Gedichte -> Hartmann A. Th. Plinius Secundus, Gaius 76

Pluer, Pastor 246 - Ursprung und Absichten der Inquisition, besonders der spanischen 246 Plutarch 76 Vom Podvelez-* Michel Poetischer Trichter -» Harsdörffer Poetische Schatzkammer —> Bergmann

Pohl, Helga 338 Pohl, Emil 224 Polheim, Karl Konrad 291,299 Politeia -> Platon Pomey, Francois 139 Poole, John 224 Aus einem geplünderten Postfelleisen —> Brentano Cl. Der Preiß der Tugend -> Schiller Preisendanz, Wolfgang 269,270 Processo Castellano \ 72 Promptuarium Exemplorum -» Hondorff Prosa des Naturalismus —> Schulz Proust, Marcel 346, 34617, 349 - A la recherche du temps perdu 346 Psalm l -> Trakl G. Pütz, Peter 19l 6 Rabelais, Francois 144 - Navigation du Compaignon a la Bouteille 144, 146 Radings, Hindrick I54 18 Raimund von Capua 169-178 - Legenda Maior (Vita Catherinae Senensis) 169-178

Raleigh, Walter 144 - 26 Schiffahrten des Levinus Hulsius 144 Rapp, Andrea 61" Raupach, Hermann Friedrich 197 A la recherche du temps perdu -> Proust Rechtssumme -» Bruder Berthold Reimchronik der Stadt Köln -> Hagen

380 Reinhardsbrunner Chronik 112,113 Reise-Tagebuch 1786 -> Goethe Relovius, Paulus 155, 15526 Remarque, Erich Maria 361-368 - Im Westen nichts Neues 361-368 Renn, Ludwig [Pseud.: Arnold Friedrich Vieth von Gloßenau] 36716 -Krieg 36716 Ricardus de Bury 32 -Philobiblon 32 Richelieu, Armand Jean du Plessis 1506 Richter, Paul 56 Riese, Walther 261 Rimbaud, Arthur 255-263, 268, 273-275 -Antike 263 - Arbeiter 263 -Illuminations 257 - Das trunkene Schiff 259 - Ein Sommer in der Hölle 261, 262 Das zerbrochene Ringlein -> Eichendorff Ringseis, Johann Nepomuk 203, 2032, 221 Rist, Johann 165, 16550 - Irenaromachia 16550 -Perseus 16550 Robert der Teuxel -» Nestroy Roch, Rudolf 212 Rodenburgh, Theodore 152,161 Rock, Karl 257,260,261,265,272 Rommel, Otto 229 Romanzen vom Rosenkranz -» Brentano Cl. Roon, Albrecht Graf von 311,312 - Denkwürdigkeiten 311 Rosenberger, Ruth 6l 33 Die Rosenkugel ->· Lavant Rothe, Johannes 109-121 - Thüringische Landeschronik 16, 109-121 Rothenbücher, Thomas 6l 33 Rousseau, Johann Baptist 244 Rudolf von Ems 85-96,98 - Der guote Gerhart 85-96 -Weltchronik 90,98, 107 Rudolf von Rotenburg 33 Hl. Rudolph 212 Rücke«, Friedrich 248 Runge, Philipp Otto 217, 21738, 220 Saadi 249 Sachs, Hans 73, 74, 76, 765, 7710, 79, 80, 82 Sachsenspiegel 104 Salome -*· Wilde Sani, Alexandre Marie 247 - Histoire chevaleresque des Maures de Grenade, precedee de quelques reflexions

Personen- und Werkregister sur les Musulmans d'Espagne, avec des Notes historiques et litteraires 247 Sand, George 236 Saphir, Moritz Gottlieb 2267, 229 Scenes de la vieprivee etpolitique des animaux 9 Schäfer, Dorothea 348 Schäferische Komödie der Dieromene —> Lund Vom Schafedieb -> Scher H.-H. Schalek, Alice 280-281 Scheichl, Sigurd Paul 17 Scher, Hermann-Heinrich 149-167 - Daphnis und Chrysilla 149-167 - Pampiere Wereld 15635 - Vom Schafedieb 153,165 Scher, Johann Friedrich 15421 20 Scherius Frisia Jeverensis, Gerhard Scheuer, Helmut 291 Schickele Reno 293'" Schier, Rudolf D. 265,274 Das trunkene Schiff'-> Rimbaud 26 Schiffahrten des Levinus Hulsius -> Raleigh Schiller, Friedrich 5, 195-202 -Anthologie auf das Jahr 1782 196, 197, 198,200,201,20l 22 - Der Jahrmarkt 198 - Kabale und Liebe 5 - Der Preiß der Tugend \ 98 -Semele 195-202 Schinkel, Karl Friedrich 203 Schlaf, Johannes 291-300 -EinAbschied 294,297 - Ein Dachstubenidyll 295, 296, 29626, 297, 298,29947 - Die kleine Emmi 294, 297 - Die Familie Selicke 291, 292, 294n, 294298

- Junge Leute 292 - Krumme Windgasse 20 294, 297 - Eine Mainacht 295, 29523, 296-298 - Neue Gleise 292, 293, 296, 297 - Nicht die Rechte 298 - Olga 295 - Papa Hamlet 291, 292, 29417, 294-298, 29947, 300 - Die papierne Passion 294-298 - Der geschundne Pegasus 292 - Ein Tod 294 Schlegel, August Wilhelm 243, 247, 300 - Morayzela, Sultanin von Grenada 247 Schlegel, Friedrich 149, 213, 217 Schmidel, Ulrich 144 Schmidt, Erich 18l' 3 Schmidt, Hans-Walter 216, 217

Personen- und Werkregister Schneider, Karin 875 Schönbach, Anton E. 37, 38 Schöne, Albrecht 326" Scholz, Wenzel 227 22 Schubart, Christian Friedrich Daniel 201, 201 Der Schützling -» Nestroy Der erste Schultag —» Holz Schultz, Hartwig 213 Schulz, Gerhard 291,297 - Prosa des Naturalismus 297 Schwab, Gustav 2599 Schwarze Weide -> Lange Schwieger, Jacob 153 Scott, Walter 243 Scribe, Eugene 224 Sendtner, Anna Barbara 213 Seneca, Lucius Annaeus 10 - Medea 10 Sermo in reverentiam beatae Katherinae de Senis -> Flete Sethe, Christian 247 Seuse, Heinrich 32 - Büchlein der ewigen Wahrheit 33 Shakespeare, William 6, 149, 245 - Hamlet 300, 324 Simultan -» Bachmann Sittlichkeit und Kriminalität -> Kraus K. Sieg-Manns, Anna 15418 Simplicianischer Zweyköpffiger Ratio Status -> Grimmeishausen Ein Sommer in der Hölle -> Rimbaud Sömmerring, Samuel Thomas 193 Sophokles 6 - König Ödipus 6 Soulie", Fr6d6ric 224, 229 Der Sozialdemokrat 236 Spalatin, Georg 85, 86, 92 Die alten und die neuen Spanier -» Feßler Speculum historiale 98 Spee, Friedrich 204, 207, 219 - Trulznachtigall 204-206, 208, 215,219, 21944 Sponheim, Loretta Gräfin von 59 Sprengel, Peter 292 Springer, M irjam 1951 Stackmann, Karl 30 Staden, Hans 144 in ein altes Stammbuch -» Trakl G. Starkenbergischer Rotulus 52 Steer, Georg HO 7 Stein, Charlotte von 18320, 184, 188, 1884 Steinmann, Friedrich 244, 245, 249 Sterne, Laurence 325, 326 Stilles Gotteslob -> Hensel

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Stimmen der Volker in Liedern -> Herder Stockhammer, Harald 281 J5 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 213,269 - Lied auf den Wassern zu singen 269 Drei Stufen der Erotik -» Luckas Sue, Eugene 235 - Les Mysteres de Paris 235 Sühneurkunde von Thurandt 55 Supplement zur Legenda Major 193 Sybel, Heinrich von 309,310 - Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. 309 Sylvie —» Mairet Die letzten Tage der Menschheit -> Kraus K. Der Talisman -> Nestroy Tannhäuser -> Nestroy Tasso, Torquato 151, 15l 8 -Aminta 151, 15l 8 Tagebücher -> Goethe, -> Kafka Tagebuch der Italianischen Reise für Frau von Stein —> Reise-Tagebuch 1786 Die drei Teiche von Hellbrunn -> Trakl G. Telemann, Georg Philipp 197 Der gutmütige Teufel -» Nestroy Tesar, Ludwig Erik 258 Teuffenbach, Ingeborg 358 Der offene Text —> Kühnel Theaitetos -> Platon Theaterg 'schichten —» Nestroy Thelen, Christian 4423 Theokrit 151 Thevet, Andro 144, 146 - Cosmographie universelle 144, 146 Thielen, Joachim 5929 Thomasberger, Andreas 28831 Thüringische Landeschronik —» Rothe Tieck, Ludwig 149,300 Ein Tod-^ Schlaf Torquemada, Antonio de 144 - El iardin deflores curiosas Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo -> Heine Trakl, Fritz 257 Trakl, Georg 255-275 - Abendländisches Lied 265 - Zu Abend mein Herz 272 Abendmuse 269 -Abendspiegel 265 -Afra 265 -Elis 269 -Geburt 270, 27 - Der Gewitterabend 272

382 -Aufeinem Grabstein 273 - Grodek 269 - Die Hälfte des Lebens 2599 -Helian 255-275 - Kaspar Hauser Lied 255-275 - Wo an schwarzen Mauern 266,273 - An die Melancholie 271 -Menschheit 273 -In Milch und Öde... 272 - Morgenlied 2599 - Nachtlied III 256 - An Novalis -> Auf einem Grabstein - Psalm I 263, 272, 273 - In ein altes Stammbuch 271 - Die drei Teiche von Hellbrunn 272 - Traum und Umnachtung 265 - Verwandlung 273 - Ein Winterabend 265 - O das Wohnen 273 Trakl, Hermine 259 Traum und Umnachtung -> Trakl G. Treuer, Gotthilf 138 - Deutscher Dädalus 138 Trunz, Erich 348 Trutznachtigall -» Spee Der Turm -> Hofmannsthal Ulanenpatrouille —> Lange Der Unbedeutende -> Nestroy Unseld, Siegfried 333 Unsterblichkeit der Seele -> Hölderlin Unterricht von der Teutschen Sprache -» Morhof Unverhofft -> Nestroy Urban VI., Papst 171 Urbar-Heft -> Feichter V. Ursprung und Absichten der Inquisition, besonders der spanischen -» Pluer Valerius Maximus, 82-84 - Facta et dicta memorabilia 82 Valser, Hans 646 Varin, Charles 224 Vamhagen von Ense, Karl August 236 Vaßen, Florian 239 Vera Historia -» Lukian Der Verdacht -> Dürrenmatt Vergilius Maro, Publius 3 - Aeneis 3 Frühere Verhältnisse -» Nestroy Verlaine, Paul 255, 257-259, 261, 262, 266, 26756, 274 - Dichtkunst 259 - Gaspard Hauser chante 267

Personen- und Werkregister Vermond, Paul 224, 229 - Les Memoires du Diable 229 Vertrauen -> Hensel Verwandlung —> Trakl G.

Viau, Thoophile de 150, 1507

Vieth von Gloßenau, Arnold Friedrich -> Renn Vilbort, Joseph 312 Hl. Vinzenz von Paul 213, 213 24 ,214 Virginia -» Patzke Vita Catherinae Senensis -> Legenda Maior Vita der heiligen Elisabeth -> Dietrich von Apolda Vita Ludowici 109-121 Vitzthum, Karl Friedrich Graf von 312 Völkerspiegel -> Feßler Vogt, Michael 2379 Volkmann, Johann J akob 16,181-185 - Historisch-kritische Nachrichten von Italien 16, 181-185 Volkslieder -> Herder Volks-Romanzen 247 Vollmer, Hans 98 Voß, Ludwig 345, 346, 34617, 347 Vulgata 46, 98 Wachinger, Burghard 109 Wagenknecht, Christian 282'"

Wagner, Richard 224, 275 Wallpach, Arthur von 272 Walther von der Vogelweide 23, 32-35, 4219 - Ton 35 24-30 - Ton 101 33 -WvdV,20(L. 43,9) 237 - WvdV, 25 (L 48,12) 237 - WvdV, 29 (L 52.23) 247 - WvdV, 30 (L 53,25) 247, 33 - WvdV, 40 (L. 64,13) 247 -WvdV, 44 (L 69,1) 247 -WvdV, 84 (L 112,35) 247 -WvdV, 86 (L 114,23) 247 - WvdV, 104 (KLD 62. Vif) 247 Walther von Mezze 247 Wanderers Sturmlied —> Goethe Warning, Rainer 323 Warum er mich verlassen -> Brentano Cl. Wassermann, Jakob 267, 268 - Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens 267 Wedekind, Frank 307-313 -Bismarck 307-313 Weerth, Georg 235-242 - Das Domfest von 1848 241 - Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski 235-242

Personen- und Werkregister Weigelt, Sylvia 16 Weingartner Liederhandschrift 25 Weininger, Otto 258 Weisflog, Karl 224 Weltchronik -» Enikel, -» Rudolf von Ems Welter, Disiroe 5l 3 Weltgeheimnis -> Hofmannsthal Wenzelsbibel 39, 10219, 106, 107 Werfel, Franz 288 Wemer, Michael 11316 Wessenberg, Ignaz Heinrich (Karl) Freiherr von 12 Westfälischer Merkur 18 West-östlicher Divan -> Goethe Widukind von Corvey 853 Wilde, Oscar 10 -Salome 10 Wilhelm II., deutscher Kaiser 281 Wilhelm von Manderscheid 60 William Ratcliff-* Heine Ein Winterabend-+ Trakl G. Wittgenstein, Ludwig 255, 32742 Wo an schwarzen Mauern... -» Trakl G. Eine Wohnung zu vermieten -> Nestroy Wolff, Ludwig 109 Wolffheim, Hans 344 Wolfsgruber, Karl 647 Würzburger Liederhandschrift 26 Wunberg, Gotthart 291' Des Knaben Wunderhorn -t Brentano Cl. Ximenes, Francisco, Erzbischof von Toledo 246,250,251 Yates, W. E. 228, 23020, 234, 288 Zainer, Johannes 103,106 Also sprach Zarathustra -» Nietzsche Der Zauberer -> Nietzsche Der Zauberring —» Fouqui Zeller, Hans 28828 Zenge, Wilhelmine von 188 Der Zerrissene —> Nestroy

Zifferer, Paul 281 Die dramatischen Zimmerherren —» Nestroy Zueignung -> Brentano Cl. Zweig, Stefan 259,262 Zwölf Mädchen in Uniform -*· Angely

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger Dr. Monika ALBRECHT, Wolbecker Str. 93, D - 48155 Münster Dr. phil. habil. Wolfgang ALBRECHT, Stiftung Weimarer Klassik, D-99423 Weimar PD Dr. Thomas BEIN, Zedernweg 191, D-53757 St. Augustin Dr. Ralf Georg BOGNER, Ruprecht-Karls-Universität, Forschungsstelle Johann Gerhard, Karlstraße 16, D-69117 Heidelberg Mag. Andreas BRANDTNER, Esteplatz 3/14, A-1030 Wien Jan BÜRGER M. A., Universität Hamburg, „Arbeitsstelle Hans Henny Jahnn" am Literaturwissenschaftlichen Seminar, Grindelberg 75, D-20144 Hamburg Dr. Christiane CAEMMERER, Spilstraße 2a, D-14195 Berlin Johannes FOURNIER, St. Anna-Str. 9, D-54295 Trier Univ.-Prof. Dr. Kurt GÄRTNER, Universität Trier, FB II - Germanistik, Ältere deutsche Philologie, D-54286 Trier Kristina HASENPFLUG M.A., Freies Deutsches Hochstift, Großer Hirschgraben 23, D-60311 Frankfurt am Main Univ.-Prof. Dr. Jürgen KEIN, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik, Philippistraße 17, D-48149 Münster Mag. Andrea HOFMEISTER, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Germanistik, Universitätsplatz 3, A-8010 Graz Jörg JUNGMAYR, Freie Universität Berlin, FB Germanistik, Forschungstelle für Mittlere Deutsche Literatur, Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin Mag. Michael KERN, Hauptplatz 58, A-8410 Wildon Dr. Brigitte LEUSCHNER, Zeesener Weg 25, D-12589 Berlin Dr. Franzjosef PENSEL, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Prenzlauer Promenade 149-152, D-13189 Berlin

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Verzeichnis der Beiträger/innen

Prof. Dr. Bodo PLACHTA, Alter Milchhof 5, D-48145 Münster Dr. Andrea RAPP, Universität Trier, FB II - Germanistik, Ältere deutsche Philologie, D-54286 Trier Dr. Elke RICHTER, Stiftung Weimarer Klassik / Goethe- und Schiller-Archiv, Postfach 2012, D-99401 Weimar Mag. Dr. Arno RUSZEGGER, Universität Klagenfurt, Institut für Germanistik, Universitätsstraße 65-67, A-9020 Klagenfurt Univ.-Doz. Dr. Eberhard SAUERMANN, Universität Innsbruck, Forschungsinstitut „Brenner-Archiv", Innrain 52, A-6020 Innsbruck Univ.-Prof. Mag. Dr. Sigurd Paul SCHEICHL, Universität Innsbruck, Institut für Germanistik. Innrain 52, A-6020 Innsbruck Dr. Thomas F. SCHNEIDER, Universität Osnabrück, Erich Maria Remarque-Archiv / Forschungsstelle Krieg und Literatur, Alte Münze 16, D-49069 Osnabrück Dr. Jens STUBEN, Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte, Wissenschaftsbereich Literatur und Sprache, Johann-Justus-Weg 147a, D-26127 Oldenburg PD Dr. Andreas THOMASBERGER, Drosselweg 12, D-65812 Bad Soden Dr. Gert VONHOFF, Sölder Straße 42, D-59439 Holzwickede Elinor WALDMANN, Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind, Haardtring 100, D-64295 Darmstadt Desiree WELTER, Prümtalstr. 13, D-54646 Bettingen Dr. Sylvia WEIGELT, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für germanistische Literaturwissenschaft, D-07740 Jena Univ.-Prof. Dr. Winfried WOESLER, Universität Osnabrück, Neuer Graben 40, D-49069 Osnabrück Claus ZITTEL M.A., Bornheimer Landstraße 18, D-60316 Frankfurt am Main