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German Pages 200 Year 2002
B E I H E F T E
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editio Herausgegeben von WINFRIED WOESLER Band 16
Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr Bilanz und Perspektiven Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 26. bis 27. August 1999
Herausgegeben von Jochen Golz
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr - Bilanz und Perspektiven : Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition, 26. - 27. August 1999 / hrsg. von Jochen Golz. - Tübingen : Niemeyer, 2001 (Beihefte zu Editio ; Bd. 16) ISBN 3-484-29516-3
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Jochen Golz Vorwort des Herausgebers
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Paul Raabe Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren
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Dorothea Kühn Probleme mit der Leopoldina-Ausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft
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Hans Rudolf Vaget Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Zur S ituation der Faust-Philologie im Jubiläumsj ahr 1999
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Karl Richter unter Mitwirkung von Herbert Wender Vorüberlegungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Gedichten
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Harald Fricke Literaturtheorie und gelbe Zettel. Zur Neuedition von Goethes Spruchprosa
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Siegfried Seifert Was kann die Goethe-Bibliographie für die Goethe-Edition leisten?
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Gerhard Schmid Die Inventarisierung des Goethe-Nachlasses im Goethe- und Schiller-Archiv. Eine Zwischenbilanz
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Silke Henke Das Goethe-Inventar als archivisches Findhilfsmittel und Quelle der Goethe-Philologie. Ergebnisse und Nutzungsmöglichkeiten
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Manfred Kaltes Die Regestausgabe der Briefe an Goethe. Geschichte - Aufgaben - Stand
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Edith Zehm Überlieferung und Textherstellung. Textprobleme im zweiten Band der Edition von Goethes Tagebüchern
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Elke Richter Zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Goethes Briefen
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Georg Kurscheidt Überlegungen zur Kommentierung von Briefen mit Beispielen aus Goethes Briefen
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Irmtraut Schmid Goethes Amtliche Schriften in der Bibliothek deutscher Klassiker
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Volker Wahl Goethes amtliche Schriften als Editionsaufgabe des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar
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Vorwort des Herausgebers
Im Jahre 1999 wurde in aller Welt Goethes 250. Geburtstag begangen. Dieses Jubiläumsdatum gab Anlaß, im Rahmen eines Kolloquiums an der Stiftung Weimarer Klassik eine kritische Bilanz der Bemühungen der Goethe-Philologie in den letzten Jahrzehnten zu versuchen und zugleich Arbeitsperspektiven für die Zukunft zu entwerfen. Die Weimarer oder Sophien-Ausgabe, erschienen zwischen 1887 und 1919 in 143 Bänden, stellt bis heute die einzige wissenschaftliche Gesamtausgabe von Goethes Werken dar. Gleichwohl war sie, was Anlage und editorisches Methodenbewußtsein anbelangt, von Anfang an nicht unumstritten, so daß Forderungen nach einer Revision dieser monumentalen Edition nicht verstummen wollten. Es war kein Zufall, daß solche Forderungen 1940 in die Entscheidung der Akademie der Naturforscher Leopoldina mündeten, Goethes Schriften zur Naturwissenschaft neu herauszugeben. Während diese Ausgabe seither stetig vorangekommen ist und ihr Abschluß in absehbarer Zeit zu erwarten steht, ist die Erneuerung der ersten Abteilung der Weimarer Ausgabe, wie sie bei der Konstituierung der Akademie-Ausgabe von Goethes Werken unter der Herausgeberschaft von Ernst Grumach 1949 beabsichtigt war, der Kulturpolitik der DDR zum Opfer gefallen; die Ausgabe mußte 1968 eingestellt werden. Vorher schon hatten belletristische Verlage Studienausgaben von Goethes Werken auf den Markt gebracht. Ehrgeizigere Ziele setzten sich jene Ausgaben, die in den 80er Jahren im Münchner Hanser-Verlag und im Deutschen Klassiker Verlag in Frankfurt konzipiert wurden. In beiden Fällen sollte sich eine kritische Textrevision mit substantiellen Kommentaren renommierter Goethe-Forscher verbinden. Heute, da beide Ausgaben vollständig vorliegen, kann gesagt werden, daß im Hinblick auf die kommentierende Erschließung der Texte unzweifelhaft eine Summe der Forschung gezogen worden ist, daß die kritische Revision der Texte indes nur im Ausnahmefall den Ansprüchen moderner historisch-kritischer Editionen gerecht werden kann. Auf dem Felde der Goethe-Edition ist immer noch nicht weniges neu zu bestellen. Entsprechend waren bei der Konzeption unseres Kolloquiums drei Gesichtspunkte zu bedenken: l. eine Standortbeschreibung der Goethe-Philologie heute, die historische Aspekte nicht ausklammern durfte, 2. eine Orientierung über die wissenschaftliche Erschließung des Goethe-Nachlasses im Goethe- und Schiller-Archiv und 3., damit unmittelbar verbunden, die Entfaltung eines Spektrums von Aufgaben der künftigen Goethe-Edition. So bedeutsam sich auch die jüngsten Leistungen der Goethe-Edition im Lichte der Kritik darstellen, so ist gleichwohl bewußt zu machen, daß erst die detaillierte wissenschaftliche Erschließung des Goethe-Nachlasses, wie sie im Goethe- und SchillerArchiv mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorgenommen wird, die Voraussetzung schafft für eine grundlegende Erneuerung der Weimarer Aus-
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Vorwort
gäbe. Zu diesem umfassenden archivischen Erschließungsprojekt gehört im weiteren Sinne auch die Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe, die für alle Bereiche kulturgeschichtlicher Forschung zur Weimarer Klassik ein unerläßliches Auskunftsmittel darstellt. Ein weiteres Archivprojekt, das Repertorium sämtlicher Goethe-Briefe, war nur im Ergebnis weltweiter Recherchen zu realisieren, wie sie in der ersten Projektphase an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel unter Paul Raabes Leitung durchgeführt worden waren. Inzwischen ist dieses Repertorium im Internet zugänglich und stellt eine notwendige Voraussetzung für eine neue historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Goethe-Briefe dar, die zu den künftigen Arbeitsaufgaben des Goethe- und Schiller-Archivs gehört. Dieses umfassende Editionsvorhaben wird sich der wissenschaftlichen Ausgabe von Goethes Tagebüchern hinzugesellen, von der inzwischen zwei Text- und zwei Kommentarbände vorliegen. Es wird der gemeinsamen Anstrengungen von Universitätsgermanistik und Archiven bedürfen, die Erneuerung der ersten Abteilung der Weimarer Ausgabe in Angriff zu nehmen. Wenn es gelänge, in den nächsten Jahren Goethes Gedichte und den Faust in gültigen kritischen Editionen vorzustellen, wäre ein großer Schritt nach vorn getan. Daß Forschungen zur klassischen Politik- und Kulturgeschichte von einer vollständigen Edition von Goethes amtlichen Schriften großen Gewinn zögen, sei abrundend hinzugefügt. Auch diesem Projekt ist baldige Fortsetzung zu wünschen. Aus meinen gleichermaßen bilanzierenden wie perspektivierenden Anmerkungen soll erkennbar werden, welche Absichten die Organisatoren des Kolloquiums - Regine Otto, Manfred Koltes und mich - geleitet haben und wie unsere Intentionen sich im Spektrum der Vorträge wiederfinden lassen. Allen Autoren ist für die Bereitwilligkeit zu danken, mit der sie uns ihre Manuskripte zum Druck zur Verfügung gestellt haben. Daß die Drucklegung länger als vorauszusehen gedauert hat, war auch der Notwendigkeit geschuldet, dem Verlag eine druckfertige Vorlage zur Verfügung zu stellen. Für diese aufwendige Arbeit danke ich meinen Kollegen Gabriela Krätzschel, Andreas Schirmer und Reiner Schlichting. Winfried Woesler, dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, sei besonders für sein Einverständnis gedankt, die Beiträge in den Beiheften zu editio zu publizieren. Zu danken ist zudem der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition insgesamt, Winfried Woesler ebenso wie Gunter Martens, H.T.M. van Vliet, Bodo Plachta und Hans Zeller, die teils als Moderatoren, teils als kritische Diskussionspartner das Kolloquium begleitet haben. Dank sei abschließend der Stiftung Weimarer Klassik als Tagungsveranstalter und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gesagt, die ihre oft bewährte Hilfsbereitschaft gegenüber Projekten der Goethe-Philologie auch durch die Finanzierung unseres Kolloquiums unter Beweis gestellt hat. Weimar, im April 2001
Jochen Golz
Paul Raabe
Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren
Am Vorabend von Goethes 250. Geburtstag und zugleich im Ausklang des 20. Jahrhunderts über Probleme der Goethephilologie, d.h. über die Themen zur Herausgabe der Goetheschen Schriften in einem Kolloquium zu diskutieren gibt mir eine willkommene Gelegenheit, eine Lanze für die vielgeschmähte Weimarer Goethe-Ausgabe zu brechen und damit an eine Sternstunde der Wissenschaft zu erinnern, die zur eigentlichen Geburtsstunde der neueren deutschen Literaturwissenschaft geworden ist. Denn: die Erforschung der nachmittelalterlichen deutschen Dichtung erlebte ihren denkwürdigen und nachhaltigen Aufschwung in den Sommermonaten des Jahres 1885, nachdem das Testament des am 15. April des gleichen Jahres verstorbenen letzten Enkels Goethes eröffnet worden war. Walther von Goethe hatte eine „letztwillige Verfügung" hinterlassen, in der er bekanntlich Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach „zur Erbin des v. Goetheschen Familienarchivs" ernannt hatte. Dieses umfaßte nach den Worten des Enkels „die großväterlichen von Goetheschen Schriftstücke, Akten u.s.w., femer das Privatarchiv meines Großvaters wissenschaftlichen, poetischen, litterarischen, administrativen und familiären Werthes, soweit sie sich in dem gedachten Archive vorfinden".1 Mit wachsendem Unmut und zunehmendem Unverständnis hatten Gelehrte der Zeit, die sich seit Goethes 100. Geburtstag immer mehr mit Leben und Werk des Dichters beschäftigten, auf diesen Augenblick gewartet, an dem endlich der Zugang zu Goethes Nachlaß und so zu den handschriftlichen Quellen möglich wurde. Im Grund hatten die Enkel Goethes zu Recht lange gezögert: sie mögen vielleicht instinktiv gespürt haben, daß die Zeit noch nicht reif, die Distanz zu Goethes Tod noch nicht groß genug gewesen sei. Zwar hatten inzwischen Forscher wie Adolf Scholl und Heinrich Düntzer, Gustav von Loeper und Franz Thomas Bratranek Texte und vor allem Briefe Goethes herausgegeben. Doch erst mit Michael Bernays Untersuchung Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes (1866), Friedrich Zarnckes Abhandlungen und vor allem mit Wilhelm Scherers bahnbrechendem Aufsatz zur Goethephilologie (1877) war der Boden für eine Textkritik bereitet, die in der Herausgabe der Werke Johann Gottfried Herders durch Bernhard Suphan seit 1877 und der Werke Gotthold Ephraim Lessings seit 1886 erste Früchte trug. In unserem Zusammenhang ist vor allem an die sog. Hempelsche Ausgabe der Werke Goethes zu erinnern, die im Verlag von Gustav Hempel in Berlin zwischen 1868 und 1879 erschien, nachdem die Urheberrechte 1867 erloschen waren. Diese „nach den vorzüglichsten Quellen revidierte Ausgabe" war ein unmittelbarer Vorgänger der seit 1887 erscheiZitiert nach WA I l, S. XHIf.
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PaulRaabe
nenden Weimarer Goethe-Ausgabe. Ihre Mitarbeiter findet man hier mit Ausnahme des viel gescholtenen Heinrich Düntzer: so Woldemar Frh. von Biedermann, Salomon Kalischer, Gustav von Loeper, Friedrich Strehlke. Nach Abschluß der Hempelschen Ausgabe erschien seit 1880 das von dem Berliner Literaturhistoriker Ludwig Geiger herausgegebene Goethe-Jahrbuch, das sich zur Aufgabe setzte, „ein Repertorium der Goethe-Literatur zu werden, welches das bisher sehr zerstreute und nicht leicht zugängliche Material dem Gebildeten in einer leicht zugänglichen Sammlung vereinigt darbieten und welches alle diejenigen, welche der Erforschung, Erklärung und Verbreitung von Goethe's Werken ihre Thätigkeit widmen, zu einer gemeinsamen Arbeit verbinden soll".2 Die grünen Bände, bis 1913 erschienen und durch mehrere Register penibel erschlossen,3 wurden ein Forum der aufblühenden positivistischen Goetheforschung, vor allem ein Sammelbecken für die Mitteilung ungedruckter Quellen zu Goethes Leben und Werk und der neuerschienenen Goetheliteratur. Trotz der permanenten Kritik Erich Schmidts an der Arbeit des ungeliebten jüdischen Privatgelehrten ist das Geigersche Goethe-Jahrbuch noch heute jedem Goetheforscher ein unentbehrliches Nachschlagewerk. Das gilt übrigens auch zur Beurteilung der Bände der Weimarer GoetheAusgabe, denn Ludwig Geiger stellte den Raum für die seit 1888 erschienenen Rechenschaftsberichte der Redaktoren und Herausgeber der WA zur Verfügung.4 Es wird nicht meine Aufgabe sein können, die Geschichte der Weimarer GoetheAusgabe an dieser Stelle darzustellen, die, soweit ich sehe, noch nicht geschrieben worden ist. Wohl aber möchte ich an die Entstehung dieser umfangreichsten Edition eines deutschen Autors erinnern, ehe ich auf ihre Größe und ihre Grenzen, aber auch ihre Unverzichtbarkeit bis heute eingehe. Die Enkel Goethes überließen den Nachlaß der regierenden Großherzogin sicherlich in Erinnerung an die freundschaftliche Verehrung, die Goethe seinerzeit Herzogin Louise und ihrer Schwiegertochter, Maria Pawlowna, entgegengebracht hatte. Diese war eine Tante von Großherzogin Sophie, d.h. ihre Mutter Anna Pawlowna war eine Schwester der von Goethe hochgeschätzten russischen Großfürstin. Es war nicht zu erwarten, daß die in den Niederlanden geborene und aufgewachsene Oranierin eine Goethe-Leserin war. Ihre Liebe galt vor allem der Malerei und der Musik. Doch als 1864 die Shakespeare-Gesellschaft in Weimar gegründet wurde, übernahm sie das Protektorat dieser ersten großen literarisch-wissenschaftlichen Gesellschaft. So läßt sich nachvollziehen, daß die Fürstin die Schenkung der Papiere des bedeutendsten deutschen Autors vom ersten Tag an als Verpflichtung und Aufgabe verstand. Ihrer Tatkraft ist es zu verdanken, daß bereits am 20. und 21. Juni 1885 die Gründungsversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar unter ihrer Schirmherrschaft stattfand, die seither das wichtigste Forum der Goetheforschung darstellt.
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Goethe-Jahrbuch l (1880), S. II. Goethe-Jahrbuch. Hrsg. von Ludwig Geiger. Bd. 1-30. Mit Register I-X, XI-XX, XXI-XXX. Frankfurt am Main 1880-1913. Berichte der Redactoren und Herausgeber. In: Goethe-Jahrbuch 9 (1888)-33 (1912). Vgl. Hans Pyritz: Goethe-Bibliographie. Heidelberg 1955, Nr. 640.
Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren
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Die Großherzogin hatte bereits wenige Tage nach der Testamentseröffnung das unter Goethes Augen angelegte Archiv seiner Schriften in das Schloß bringen lassen. Sie selbst vertiefte sich in die Lektüre der Papiere. Bekanntlich ließ sie Anstößiges sekretieren, das erst nach ihrem Tode veröffentlicht wurde. Doch wichtiger war es, daß sie schon im Mai 1885 Kontakt zu einem Vertrauensmann am Berliner Hof aufnahm, zu dem die Weimarer ja in enger verwandtschaftlicher Beziehung standen. Der Geheimrat Gustav von Loeper war nicht nur ein hochverdienter Jurist im Ministerium Wilhelms I., sondern zugleich ein angesehener Goetheforscher, der zwar von den Professoren als „ein Vertreter jenes unzünftigen, aber durchgebildeten Dilettantismus reiner, hoher Art"5 betrachtet wurde, aber dem man wissenschaftliche Kompetenz und Verdienst nicht absprechen konnte. Er war es wohl, der Großherzogin Sophie sofort überzeugte oder in ihrer Vorstellung bestärkte, daß in wissenschaftlicher Hinsicht zweierlei zu tun sei: eine kritische Gesamtausgabe der Werke Goethes auf der Grundlage des Nachlasses herauszugeben und eine Goethe-Biographie in mehreren Bänden vorzubereiten. Gustav von Loeper stand in Berlin mit dem dortigen Professor für deutsche Literatur, dem aus Wien stammenden, damals 42jährigen Wilhelm Scherer in Verbindung, den er sofort für die Pläne der Großherzogin gewann. In dem Briefwechsel zwischen Scherer und seinem Schüler Erich Schmidt ist Scherers Brief vom 21. Mai 1885 überliefert, der also vier Wochen nach der Öffnung des Testaments geschrieben wurde und der die fatale Eile belegt, die dem Unternehmen nicht guttun sollte. Darin heißt es: Lieber Freund, das Folgende bitte ich Sie, vorläufig noch als streng vertrauliche Mitteilung anzusehen. Sie geschieht mit Vorwissen des Herrn von Loeper. Herr von Loeper ist der Vertrauensmann der Großherzogin. Am 24. Juni, (Geburtstag des Großherzogs) soll eine Goethe-Gesellschaft mit dem Sitz in Weimar gestiftet werden. Ein alter Plan des Großherzogs! Das Archiv wird unter Herrn von Loepers Leitung geordnet. Die Großherzogin wünscht, daß eine Biographie Goethes von mehreren geschrieben werde. Es wird versucht werden, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Es soll ferner eine neue kritische Ausgabe Goethes unter vollständiger Benutzung des Archivs veranstaltet werden. (Ein Corpus der Briefe soll später in Angriff genommen werden.) Die Großherzogin wird, so denken wir uns, ein Redaktionscomite für die Ausgabe ernennen: Herr von Loeper an der Spitze, welcher ihr als 2. und 3. Mitglied mich und Sie vorzuschlagen gedenkt. Aufgabe des Redaktionscomite: Feststellung der Anordnung, Grundsätze für die Edition bis ins einzelne, d.h. also die Instruktion für die Mitarbeiter. Auf Grund dieser Instruktion werden von uns die Mitarbeiter gewählt - viele, jeder für ein oder zwei Bände (8° Format der Ausgabe letzter Hand, also ca. 50 Bände), damit die Ausbeutung des Archivs nach dieser Seite hin und die Mitteilung dessen, was es zur Textherstellung enthält, möglichst rasch vor sich gehe. - Die Mitglieder des Redaktionscomites verteilen unter sich die Bände, also in drei Massen. Jeder bestimmt für seine Masse die Mitarbeiter (doch in Übereinstimmung mit den ändern zwei Collegen). Die von den Mitarbeitern ausgearbeiteten, druckfertig gemachten Bände gehen durch die Hände des betreffenden Redaktionsmitgliedes entweder an Herrn von Loeper zur Superrevision oder direkt an die Druckerei. Das müssen wir erst
Erich Schmidt: Gustav von Loeper. In: Schmidt: Charakteristiken. 2. Reihe. Berlin 1901, S. 207-211, hier S. 207.
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Paul Raabe
noch feststellen. Die Controlle, welche das Redaktionsmitglied übt, erstreckt sich im wesentlichen auf Innehaltung der Grundsätze, die für alle bindend sind. Die Mitarbeiter und eigentlichen Herausgeber werden etwa bogenweise honoriert; die Redakteure für den Band, den sie controllieren und fertig abliefern. Die Mitarbeiter haben das Goethe-Archiv in Weimar zu benutzen, sollen aber Diäten von der Großherzogin bekommen. Ich habe mir gedacht, daß Ihnen recht viel Bände zur Controlle überwiesen werden könnten und daß Sie außerdem noch direkte Mitarbeit (Herausgabe) übernehmen. Nun kommt aber der Hauptpunkt, den ich für wesentlich halte. Ich habe es wieder gesehen und in langer Discussion bestätigt gefunden, daß Loeper für meine im Goethejahrbuch entwickelten Grundsätze der Anordnung, die Sie, wie Sie zwar nicht öffentlich sagen, aber mir schrieben, teilen - nicht zu gewinnen ist. Ich war auf diesen Fall innerlich lange vorbereitet und hatte auch meinen Entschluß gefaßt, den ich gestern Abend ausführte: er ist, wie gesagt, der Vertrauensmann der Großherzogin, welche souverän verfügt; er hat die ganze Sache in der Hand. Ich habe ihm freiwillig erklärt: „In Fällen, über die wir uns nicht einigen können, füge ich mich Ihrer Entscheidung, unter der Bedingung, daß Sie vor der Öffentlichkeit die Verantwortung tragen."6
Ein Jahr später, im Juni 1886 gaben die drei Redaktoren Gustav von Loeper, Wilhelm Scherer und Erich Schmidt den modifizierten Plan der Ausgabe bekannt, die nunmehr in 4 Abteilungen die Werke in 50 Bänden, die naturwissenschaftlichen Schriften in 10 Bänden, die Tagebücher und die Briefe in einer noch nicht abzuschätzenden Zahl von Bänden umfassen sollte. Sie baten um Mitteilung von Handschriften Goethes im öffentlichen und privaten Besitz und sandten die Grundsätze für die Weimarische Ausgabe von Goethes Werken1 an die mehr als 60 namhaften Gelehrten, die man im In- und Ausland zur Mitwirkung gewonnen hatte. Daß ein Jahr später - 1887 - bereits fünf Bände im Verlag von Hermann Böhlau in Weimar erschienen - der von Gustav von Loeper edierte erste Gedichtband, Erich Schmidts Faust I, der erste Band der Tagebücher und zwei Briefbände -, kann man als bewundernswerte Leistung loben, wie es Friedrich Jancke tat, oder als übereilte Fehlleistung tadeln, wie es der ungeliebte Heinrich Düntzer darstellte. Die Weimarer Ausgabe war ein Auftragswerk, „herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen". So steht es auf allen Titelblättern der 143 Bände. Sie wird zu Recht als Sophien-Ausgabe bezeichnet, denn die Fürstin begleitete das Werk mit ernster Strenge. Sie sah als Herrscherin ihre Redaktoren als Befehlsempfanger an, ohne sich allerdings in die wissenschaftlichen Belange einzumischen. Diese autoritäre Gebärde ist uns fremd geworden. Die Sophien-Ausgabe war ein Werk fürstlicher Macht. Doch für die Überlieferung dichterischer Werke hatte das auch Vorteile: die Großherzogin nahm die Papiere Schillers aus den Händen der Schillerschen Erben entgegen und erweiterte so das im Schloß untergebrachte Goethe-Archiv schon 1889 zu einem Goethe- und Schiller-Archiv, für das sie hoch über der Um das Gebäude errichten ließ, das 1896 6 7
Wilhelm Scherer und Erich Schmidt. Briefwechsel. Hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert. Berlin 1963, S. 202f. Grundsätze für die Weimarische Ausgabe von Goethes Werken. Abgedruckt in: Supplement zur Weimarer Ausgabe im Deutschen Taschenbuch Verlag. München 1987.
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eingeweiht wurde. Dadurch schuf sie den Goetheforschern, zuerst den Mitarbeitern der Goethe-Ausgabe Arbeitsplätze. Die Goetheforschung erhielt ihr Zentrum, das der Großherzogin von Anfang an am Herzen lag. Sie starb ein Jahr später, 1897 - eine Förderin, wenngleich keine Mäzenin der Wissenschaft zur Erforschung von Goethes Leben und Werk. Für die damals noch junge neuere deutsche Literaturwissenschaft aber war diese Institutionalisierung der Goetheforschung ein folgenreiches Ereignis: zum ersten Mal wirkten bekannte Gelehrte in so großer Zahl an einem Ort außerhalb der Universitäten an einem editorischen Gemeinschaftswerk zusammen und schufen im Laufe weniger Jahrzehnte eine wissenschaftliche Ausgabe, die es zuvor und später in diesem Umfang nicht wieder gegeben hat. Bernhard Suphan, der seit 1887 Direktor des Goethe-Archivs war - wir kommen auf ihn noch zurück -, gab nach dem Tode der Großherzogin auf der 12. Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft am 9. Oktober 1897 ihre Verfügungen über das Goethe- und Schiller-Archiv öffentlich bekannt. Er hatte zu der fürstlichen Dame als bürgerlicher Gelehrter, der lange Jahre im Schuldienst tätig gewesen war, in einem vertrauensvollen Arbeitsverhältnis gestanden. Er führte aus: Die hohe Frau ist die erste Arbeiterin in Ihrem Archiv gewesen. Sie hat über den Bestand des „Goethe'schen Vermächtnisses" selbst zuerst Musterung gehalten, und Spuren dieser Thätigkeit finden sich auf gar manchem handschriftlichen Stücke: Vermerke und Aufschriften, die uns beweisen, wie ernst und genau Sie es mit der Durchsicht genommen hat. Sie pflegte von wichtigeren neuen Funden, auch von solchen Stücken, die zur Veröffentlichung gewählt waren, zuerst Kenntnis zu nehmen, und bis zu den Zeiten, wo Ihr Schonung zur Pflicht gemacht war, hat Sie an dieser Gewohnheit festgehalten. So hat Sie den Schatz erworben, der in Ihre Hand gelegt war. Was die Fürstin geleistet hat im Sinne einer Gegengabe (nicht anders faßte Sie es auf) für ein großes Vertrauen, ist aller Welt vor Augen. Die Goetheausgabe und das Haus des Archivs, jedes in seiner Art ein Denkmal Ihres fürstlichen Waltens. Der 28. Juni, der Tag der Archivweihe, ist Ihr ein Lebensfesttag gewesen; er bezeichnete, wie Sie sagte, eine Epoche für Sie. Sie fühlte sich gehoben und gekräftigt durch das Gelingen und durch die Bestimmung der Besten, von da aus noch eine gute Wegstrecke weiter zu schreiten. Es war anders bestimmt. Jetzt erscheint es als eine Fügung, daß Sie nicht von uns gegangen ist, ohne Ihre jüngste Stiftung, die ganz im nationalen Gedanken wurzelt, zu vollenden und zu sichern. Sie war es gewohnt, Nahes und Fernes zu bedenken, und so reicht die Fürsorge für ihre Stiftung in ferne Zeit.8
Fügen wir aus aktuellem Anlaß einige der Sätze der Urkunde bei, mit der die Großherzogin das Archiv als Fideicommiß begründete: Es ist Mein Wille, für den Fall Meines Ablebens nicht allein für die Vollendung der GoetheAusgabe und der beabsichtigten Goethe-Biographie, sondern nach Möglichkeit auch dafür Sorge getragen zu haben, daß die in Meinem Besitz befindlichen Schätze der nationalen Literatur der gelehrten Forschung nutzbringend erschlossen und Weimar erhalten bleiben, damit dieses, seiner großen Vergangenheit entsprechend, auch ferner ein geistiger
Bernhard Suphan: Großherzogin Sophie von Sachsen und Ihre Verfugungen über das Goethe- und Schiller-Archiv. In: Deutsche Rundschau 93 (1897), S. 301-303, hier S. 305.
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Mittelpunkt Deutschlands bleibe. Ich habe deshalb beschlossen, ein dem Großherzoglichen Hause Sachsen als unveräußerliches Eigenthum angehöriges Familien-Fideicommiß unter dem Namen „Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar" zu begründen.9
Die Vollendung der Goethe-Ausgabe hat die Fürstin nicht erlebt. Als sie am 23. März 1897 starb, lagen allerdings bereits 78 Bände, also mehr als die Hälfte des gesamten Werkes, vor. Sie waren in einem Zeitraum von zehn Jahren erschienen. Die verläßliche Stütze des Unternehmens war Prof. Bernhard Suphan, er trug seit Ostern 1887 die Hauptverantwortung, denn nachdem Wilhelm Scherer am 6. August 1886 unerwartet gestorben war, wurde Erich Schmidt, der inzwischen als Direktor des Goethe-Archivs in Weimar wirkte, zu Scherers Nachfolger auf den Lehrstuhl nach Berlin berufen. Die Großherzogin mußte ihn ziehen lassen, wenngleich sie grollte, daß der Posten des Direktors des Goethe-Archivs „n'est pas une position de seconde ordre en Allemagne".10 Erich Schmidt, der mit Gustav von Loeper im Redaktionskomitee verblieb, empfahl der Großherzogin den als Professor am Friedrichswerder Gymnasium Berlin wirkenden Bernhard Suphan als Nachfolger, der sich durch die seit 1877 erscheinende 33bändige kritische Ausgabe der Werke Herders einen vorzüglichen Ruf als Editor erworben hatte. Dem Redaktionskomitee der Sophien-Ausgabe gehörten bei Erscheinen der ersten Bände 1887 neben Gustav von Loeper und Erich Schmidt der neue Mann in Weimar, Bernhard Suphan, der Berliner Kunsthistoriker und Goetheforscher Herman Grimm als Ersatz für Wilhelm Scherer und schließlich als Generalkorrektor der in Graz als Literaturhistoriker wirkende Bernhard Seuffert an. Loeper starb schon 1891. So gab es anfangs immer wieder personelle Veränderungen und sicher auch Engpässe. Das von Anfang an vorgesehene Prinzip, viele Wissenschaftler an der Bearbeitung einzelner Werke, Tagebuch- und Briefbände zu beteiligen und sie zur strengen Einhaltung vorgegebener Termine zu verpflichten, ermöglichte es, daß die Weimarer Ausgabe nicht ins Stocken geriet, sondern daß zwischen 1887 und 1907, also innerhalb von zwei Jahrzehnten, im Schnitt sechs Bände pro Jahr publiziert wurden. Die Geschichte der Weimarer Ausgabe ist eine Geschichte ihrer Bearbeiter und Redaktoren. Viele bekannte Gelehrte zeichneten für die einzelnen Werke Goethes: beispielsweise Konrad Burdach für den West-östlichen Divan, Otto Harnack für die Schriften zur Kunst, Jakob Baechthold für Dichtung und Wahrheit, Woldemar von Biedermann gab die Tag- und Jahreshefte heraus, Eduard von der Hellen zahlreiche Briefbände usw. Große Verdienste erwarb sich Carl Schüddekopf mit der Herausgabe vieler Briefbände. Max Hecker, der seit 1901 im Goethe- und Schiller-Archiv tätig war, gab die Schriften zur Literatur heraus und zeichnete wie Wolfgang von Oettingen für die detaillierten Registerbände. Von früh an war Julius Wähle aus Österreich als Redaktor beteiligt, der mehr als vierzig Jahre im Archiv wirkte und als Jude 1932 das braune Weimar als alter Mann verließ.
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Ebenda. Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 3 (1923), S. 252.
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Die Arbeit im Archiv war entsagungsvoll. Hätten die wichtigsten Mitarbeiter nicht nebenher andere Arbeiten geleistet, so wäre man zeitweilig wohl in Melancholie verfallen. So schreibt beispielsweise Carl Schüddekopf, dem nach 16 Jahren 1913 gekündigt wurde und der ein paar Jahre später in großer Verzweiflung starb: Wer über 16 Jahre lang wie ich ,kritische Lesarten' zu einer Goetheausgabe gemacht hat, die außer dem Verfertiger nur der Setzer und Korrektor, kaum der Redakteur, im Zusammenhang gelesen, wenige stichprobenweise geprüft haben - und auch dies nur, um einen gelegentlichen Fehler aufzumutzen oder sonst eine hämische Aberkennung anbringen zu können - der weiß, was es heißt, unfruchtbare Arbeit tun.11
Bernhard Suphan nahm sich, als 1911 sein Entlassungsgesuch wortlos und ohne Dank genehmigt worden war, das Leben. Jutta Hecker hat die grausige Geschichte beschrieben.12 Deshalb sind die gern zitierten süffisanten Sätze von Hermann Bahr peinlich, wenn man die traurige Existenz der Redaktoren in Weimar näher kennt: [...] wie man bisher Philosoph, Arzt oder Jurist geworden war, wurde man jetzt Goethephilolog, es ließ sich auf Goethe fortan eine Existenz gründen. Und eigentlich begann damit noch mehr: eine neue Menschenart. Diese jungen Germanisten saßen im Archiv zu Weimar über Goethes Schriften, Frühling kam und ging, es ward wieder Herbst, Nietzsche sank in Geistesnacht, der alte Kaiser starb, ihm folgte der Sohn, folgte der Enkel auf den Thron, Bismarck ging, Bismarck starb, Deutschland schwoll, stark und reich und neu, dem Deutschen ward enge, Volk zog aus, übers Meer, in die Welt, Deutschland wurde kühn und laut, ein neues Geschlecht wuchs auf, Krieg brach aus, aber jene saßen noch immer tagaus, tagein dort im Archiv zu Weimar über Goethes Schriften.13
Die Geschichte der Weimarer Ausgabe ist auch eine Geschichte menschlicher Tragödien, die entsagungsvolle Kärrnerarbeit hat Lebensläufe geknickt. Wenn man über diese Ausgabe spricht, sollte man die Schicksale erwähnen. Die Bedeutung der Weimarer Goethe-Ausgabe beruht auf der fast vollständigen Erschließung von Goethes schriftlichem Nachlaß. Das gilt nicht nur für die Tagebücher und die in Konzepten mitgeteilten Briefe in den Briefbänden für die Zeit von 1807 an, sondern auch für die Edition von Schemata, Entwürfen, Paralipomena und Skizzen zu einzelnen Werken und Texten in den Apparaten der Ausgabe. Hier wurde Jahr für Jahr neues unbekanntes Quellenmaterial zu Tage gefördert, und das machte die Herausgabe der Weimarer Ausgabe zu einem faszinierenden Ereignis. Daß Erich Schmidt den „Urfaust" entdeckte und Harry Maync schließlich noch Wilhelm Meisters theatralische Sendung im Rahmen der Weimarer Ausgabe veröffentlichen konnte, waren ohnehin Höhepunkte einer entdeckungsfreudigen Goethephilologie. Da die Weimarer Ausgabe wegen ihrer Textgestaltung harscher Kritik ausgesetzt ist, sollte man diese bleibenden Verdienste zunächst einmal hervorheben.
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' Carl Schüddekopf zum Gedächtnis. Weimar 1918. Jutta Hecker: Bernhard Suphan. Eine biographische Skizze. In: Goethe-Jahrbuch 98 (1981), S. 225-237. 13 Hermann Bahr: Goethebild. In: Preußische Jahrbücher 185 (1921), S. 46-72. Hier zitiert nach Karl Robert Mandelkow (Anm. 27), S. 212. 12
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In dem Vorbericht zum l. Band der I. Abteilung hat Bernhard Suphan das Prinzip der Vollständigkeit als ersten Gesichtspunkt der Weimarer Ausgabe betont: Es soll sich in dieser Ausgabe das Ganze von Goethes litterarischem Wirken nebst Allem, was uns als Kundgebung seines persönlichen Wesens hinterlassen ist, in der Reinheit und Vollständigkeit darstellen, die jetzt erst, seitdem sein Nachlaß der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich geworden, erreichbar ist. Man sieht also ab von allen rein amtlichen Actenstücken, die in ihrer durch äußerliche Zwecke bedingten Form und Art sich von dem bezeichneten Umfang ausschließen; ebenso von den reichlich vorhandenen Auszügen und Übersichten, die zum Zwecke der „Annalen" angefertigt und für diese aufgebraucht sind. Auch den Aufbau der Ausgabe erläutert Suphan: Die Masse des Aufzunehmenden gliedert sich in vier Abtheilungen: Werke (im engeren Sinne), naturwissenschaftliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Die naturwissenschaftlichen Arbeiten als besondere Abtheilung zu geben entspricht Goethes eigener Auffassung, nach welcher sie als Supplement zu den Werken behandelt werden sollten.14 Was dem Ansehen der Ausgabe allerdings schon früh geschadet hat, ist die Problematik der Textgrundlage. Im Juni 1886 hatten sich die Redaktoren bereits festgelegt. „Dem Text der ersten und zweiten Abtheilung liegen zu Grunde die letzten unter Goethes Augen besorgten Drucke. Dies ist für einen großen Theil der Werke die Octavausgabe letzter Hand, Band 1-40. Sonst die Einzeldrucke, oder, wo solche fehlen, wie z.B. beim ersten ,Götz', die Handschriften." So heißt es in § 8 der „Grundsätze".15 Hier wurden zwei Entscheidungen getroffen: die Ausgabe letzter Hand wurde den Texten zugrunde gelegt, und die Oktavausgabe - nicht die Taschenausgabe - wurde dazu in erster Linie herangezogen. Suphan erläuterte diese weitreichende Entscheidung ebenfalls in dem erwähnten Vorbericht als zweiten Grundsatz: [...] bei Allem, was Gestalt und Erscheinung der Ausgabe im Großen wie im Einzelnen betrifft, soll befolgt werden, was uns als Goethes selbstwillige Verfügung bekannt ist. [...] Für den Druck der Werke hat er selbst die Norm gegeben in der Ausgabe letzter Hand. Sie ist sein Vermächtniß, er selbst hat sie so betrachtet, als den Abschluß seiner Lebensarbeit. Er hat mit größter Umsicht, mit einer Sorgfalt wie bei keiner früheren, sich um die Reinheit und Vollkommenheit dieser Ausgabe selbst bemüht, und die Beweise seiner thätigen Theilnahme haben wir in Händen in dem vollständigen Briefwechsel mit K. Göttling, dem er die Arbeit der Durchsicht und Berichtigung des Druckmanuscripts anvertraut hatte, und mit dem Factor der Cottaschen Officin W. Reichel. Wir können seinen eigenen Antheil verfolgen, zunächst an den einzelnen Bänden der Taschenausgabe (C1), dann ebenmäßig an der auf Grund derselben in erneuter Durchsicht hergestellten Octavausgabe, der letztwilligen Tertrecension (C).16 An dieser Haltung gegenüber dem letzten Willen Goethes entzündete sich schon früh die Kritik. Bereits Heinrich Düntzer, der wegen seiner Nörgeleien und seiner Rechthaberei pauschal abqualifiziert wurde, legte die Hand in die Wunde. 14
WAI i, s. xvnif.
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Grundsätze (Anm. 7). WAI l, S. XlXf.
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Trotz aller aufgewanten mühe ist die ausgäbe anfangs eine übereilte gewesen; es fehlte zum teil noch an den notwendigen Vorstudien, an kritischer Schulung, an reife des Urteils und jener Sauberkeit, die aus beherschung des Stoffes und einfach klaren, stetig festgehaltenen grundsätzen fliesst. Weder bei aufstellung dieser grundsätze, noch bei ihrer anwendung lag ein deutliches bild von dem zustande unserer Überlieferung vor, wie es nur aus genauester Verfolgung ihrer geschichte durch alle vom dichter selbst veranstalteten drucke zu gewinnen ist. Freilich wird jeder dem grundsatz der redaktion beistimmen, man dürfe nicht ohne not von der ausgäbe lezter hand abgehen; aber die entscheidung, wo eine solche not eintrete, hängt wesentlich von der einsieht in die entstehung unserer Überlieferung ab.17
Man stellte bei näherer Untersuchung fest, daß nicht die Oktavausgabe, sondern die Taschenausgabe den letzten Willen Goethes dokumentierte. Doch abgesehen von diesem Mangel, der den Lesartenapparat zu den Werken in der I. Abteilung der WA betrifft, wurde darüber hinaus seitens der Philologen angezweifelt, ob die Redaktoren überhaupt sinnvoll gehandelt hätten, als sie die Ausgabe letzter Hand als Goethes Vermächtnis betrachteten, als den „Abschluß seiner Lebensarbeit". Keinem Testamentsvollstrecker würde es in den Sinn kommen, sich über den letzten Willen eines Verstorbenen hinwegzusetzen. Größe und Grenzen der Weimarer Ausgabe bestehen in der Respektierung dieses Goetheschen Vermächtnisses. Der Leser der Ausgabe muß wissen, daß er Goethes Werke in den letzten Fassungen vor sich hat, daß sie vielfach von den Erstausgaben und den überlieferten Handschriften abweichen, daß er es mit den von dem alten, auf sein Werk zurückschauenden Goethe angestrebten Texten zu tun hat. Da er sich der mühsamen Revisionsarbeit nicht mehr selbst unterziehen konnte, glaubte er in dem Jenaer Philologen Karl Wilhelm Göttling den „geistreichen und im kritischen Fache geübten Mann"18 gefunden zu haben, denn ihm lag daran, daß seine Ausgabe letzter Hand „aufmerksam revidirt und corrigirt" werden würde. Es ist längst bekannt, daß auch Göttling seine Grenzen hatte, daß in Orthographie und Interpunktion keine Perfektion vorlag. So wird man die Texte in der WA selbstverständlich nicht kanonisieren und für sakrosankt erklären können. Generationen von Goethephilologen haben sich immer wieder mit den Texten beschäftigt und sind in vielen Einzelheiten zu anderen Ergebnissen gekommen. Der Goethetext in den Händen des Lesers ist das eine, in den Händen des Gelehrten ein anderes. Die Germanisten benötigen zum Verständnis eines Goetheschen Textes die Erstdrucke und Erstausgaben, um ihn so in seiner Entstehungszeit zu verstehen. Das ist Aufgabe einer ständig im Fluß befindlichen Philologie. Hier können Meinungen und Urteile, wie man aus vielen Kontroversen weiß, aufeinander prallen. Aber menschliche Erkenntnis stößt auch bei Philologen an Grenzen, die ein endgültiges Urteil verbieten. Was die Weimarer Ausgabe betrifft, so hat man bei Beurteilung der Texte auch zu bedenken, daß sich die Prinzipien über mehr als zwei Jahrhunderte auch wandelten und daß es sehr gute und weniger gute Bandbearbeiter gab. So sind auch die Apparate zu den Textbänden nicht einheitlich. Ausführlich wird die Überlieferungsgeschichte mitgeteilt, zahlreich sind die in den Apparat verwiesenen Entwürfe und Paralipomena. 17 18
Zeitschrift für deutsche Philologie 23 (1891), S. 295. An Göttling, 10. Januar 1825; WA IV 39, S. 76.
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Meist ist die Lektüre dieser Apparate gewinnbringend. Sie restlos für wertlos zu halten und als „Mottenkiste"19 abzutun wird dem Philologenfleiß nicht gerecht, der in den Apparatbänden der WA auf Schritt und Tritt zu greifen ist. Die Redaktoren der Weimarer Ausgabe beabsichtigten, Goethes Werke in der Ausgabe letzter Hand auf Grund des handschriftlichen und gedruckten Materials in Anordnung, Aufbau und Textgestalt für die Gegenwart neu herauszubringen. Sie verwiesen den dafür notwendigen Apparat in den Anhang und wählten dafür eine kleinere Antiquatype. An eine Kommentierung war deshalb nicht gedacht. Der Benutzer wird das bedauern. Doch der Verzicht auf Anmerkungen ermöglichte im wesentlichen das zügige Erscheinen der Bände. Außerdem stand die aus den Quellen des Goetheschen Archivs arbeitende Forschung erst an einem Neuanfang. Der Zugang zu den an Goethe gerichteten Briefen und zu seinen amtlichen und persönlichen Lebenszeugnissen löste zugleich mit dem Erscheinen der Weimarer Ausgabe eine Flut von Editionen, Darstellungen und Untersuchungen zu Goethes Leben und Werk aus. Das hervorragendste Beispiel dieser Quellenarbeit sind die seit 1885 erscheinenden Schriften der Goethe-Gesellschaft, in denen vor allem auch Mitarbeiter der Sophien-Ausgabe Texte, Briefe, Aufzeichnungen Goethes und seines Lebenskreises publizierten und kommentierten. Man erinnere nur an die Edition der Xenien (1896) durch Erich Schmidt und Bernhard Suphan oder der Maximen und Reflexionen durch Max Hecker (1907) oder an die noch immer unentbehrlichen Briefbände Goethe und die Romantik (hrsg. von Carl Schüddekopf und Oskar Walzel, 1898/99), Goethe und Lavater (hrsg. von Heinrich Funk, 1901), Goethe und Österreich (hrsg. von August Sauer, 1902-1904). Angesichts dieser Entwicklung einer im wesentlichen positivistischen Goetheforschung wurde die laufende bibliographische Berichterstattung immer unentbehrlicher, der sich Ludwig Geiger in seinem Goethe-Jahrbuch20 von Anfang an widmete. Noch verläßlicher ist diese Berichterstattung in den von Julius Elias und anderen herausgegebenen Jahresberichten filr neuere deutsche Literaturgeschichte für die Zeit von 1890-1915.21 Die gesamte Ernte der Goetheliteratur von Goethes Lebzeiten bis zur Vollendung der Weimarer Ausgabe aber fuhr dann der im Ersten Weltkrieg gefallene Breslauer Schulmann Karl Kipka ein in Karl Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, in der dritten Auflage in drei Bänden 1910 bis 1916 mit 1900 Seiten22, ein unwiederholbares Meisterwerk, das durch ein ausgetüfteltes Register hervorragend erschlossen ist. Im übrigen wurde das Werk für die Zeit von 1912 bis 1950 durch Carl Diesch23 fortgesetzt, und daran schließt sich Siegfried Seiferts im Jahr 2000 erschienene Goethe-Bibliographie von 1950 bis 199824 an. 19 20 21 22 23 24
Ernst Grumach: Probleme der Goethe-Ausgabe. In: Das Institut für deutsche Sprache und Literatur. Berlin 1954, S. 47. Vgl.Anm. 3. Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte. Hrsg. von Julius Elias. Bd. 1-26. Stuttgart (ab Bd. 6: Berlin) 1892-1919. Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. 3. Aufl. Bd. 4, Abt. II-IV [Goethe]. Bearb. von Karl Kipka. Dresden 1910-1913. Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. 3. Aufl. Bd. 4, Abt. V. Bearb. von Carl Diesch und Paul Schlager. Goethe 1912-1950. Berlin 1956-1960. Siegfried Seifert: Goethe-Bibliographie 1950-1990. Bd. 1-3. München 2000.
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Mit diesem Exkurs haben wir uns nur scheinbar von unseren Themen entfernt, denn die bibliographischen Zugänge zur Spezialliteratur können streckenweise als Ersatz für die fehlende Kommentierung in der Weimarer Ausgabe verstanden werden, indem man über den Umweg der Sekundärliteratur zur Kommentierung einer Text-, Tagebuchoder Briefstelle gelangt. Außerdem ist die Weimarer Ausgabe durch Max Hecker und Hans Gerhard Graf unter Mitwirkung von Wolfgang von Oettingen in den Abteilungen der Werke, Tagebücher und Briefe in umfassenden Namens- und Werkregistern erschlossen worden, die weit über landläufige alphabetische Erschließungsformen hinausgehen. Sie sind in der Tat „ein wissenschaftliches Repertorium über Goethes Werke [...], das sein Material in größtmöglicher Vollständigkeit ohne jede Seitenabsicht nur praktischer Zwecke versammelt", wie Max Hecker schreibt.25 Durch Namens-Titelverweisungen unter Einschluß der in den Apparaten enthaltenen Texte Goethes lassen sich alle Parallelstellen und Bezüge innerhalb des Goetheschen Werkes zwar zeitraubend wohl, aber umfassend ermitteln. Die durch Nachträge, Zusätze und Berichtigungen im Laufe der Entstehungszeit unübersichtlich gewordene Edition des Goetheschen Lebenswerkes wird so durch Register, die ca. 3500 Seiten umfassen, auf eine im großen und ganzen verläßliche Weise erschlossen und zugleich abgeschlossen. Die Weimarer Goethe-Ausgabe war ein Auftragswerk der Weimarer Großherzogin Sophie. Das monumentalste und extensivste editorische Unternehmen der Germanistik war ein Kind seiner Zeit, Ausdruck eines ins Unermeßliche strebenden, von nationaler Überheblichkeit geprägten kaiserlichen Zeitalters, das die unselige Formel „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" erfand und den Deutschen einhämmerte. Durch die Reparationszahlungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 war Deutschland reich geworden. Die Wirtschaft blühte, das Industriezeitalter veränderte die sozialen und kulturellen Strukturen. Monumentale Bauwerke und wilhelminische bürgerliche Architektur - heute wieder liebevoll herausgeputzt - veränderten die Städte und wurden zu Denkmälern einer Gründerzeit, in der die verhängnisvollen Wurzeln für die Kriege, Revolutionen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts liegen. Um 1880 war die Welt für die Deutschen in Ordnung. Sie liebten den Kaiser und bewunderten Bismarck als Reichsgründer, sie waren fasziniert von dem preußischen Berlin und seiner Machtentfaltung. Sie suchten nach kultureller Identifikation und fanden sie in Johann Wolfgang Goethe, den sie zu einem Olympier hochstilisierten, zum Heros der Deutschen erhoben und zum Dichterfürsten erkoren in einer Zeit, in der die Bürger gläubig zu ihrem weltlichen Fürsten aufblickten. Daß dies möglich wurde und zu einer verhängnisvollen, kritiklosen Goetheverehrung führte, hing entscheidend mit der Konstellation der deutschen Universitäten zusammen. Der aufkommende Nationalismus förderte die Wissenschaft von der deutschen Sprache und Dichtung. Vor allem war es der Österreicher Wilhelm Scherer, der in der Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden der Begründer einer Goethephilologie wurde, die voraussetzungslos Goethe zum Gegenstand positivistischer Forschung machte. 25
WA 154, S. VI.
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So war der Boden für eine neue Goetheausgabe bereitet, als 1885 das Testament von Goethes Enkel geöffnet wurde. Die ungeheure Wirkung, die von diesem Ereignis ausging, läßt sich nur durch den Goethekult erklären, der in dieser Zeit zu blühen begann. Wie sehr die in diesem Jahr ins Leben gerufene Weimarer Goetheausgabe aus dem Geist des Wilhelminismus und dem Pathos einer Goetheverherrlichung entstanden ist, zeigt die Vorrede im ersten Band der Ausgabe, verfaßt von dem Berliner Kunsthistoriker Herman Grimm, den man als Reichsstatthalter Goethes nach 1871 bezeichnet hat. Rufen wir uns einige Sätze in Erinnerung: Die Werke Goethes gehören zu den kostbarsten Besitztümern des deutschen Volkes. Was Homer für Griechenland, Dante für Italien, Shakspeare für die Länder bedeutet, in denen englisch gesprochen wird, das ist Goethe für alle die, welche wohnen, „soweit die deutsche Zunge klingt". Wären Homer und Dante nicht gewesen, so würde die Geschichte ihrer Völker nicht den Anblick glänzender Schönheit bieten, der sie umgiebt. Zukünftigen Geschlechtem werden aus Shakspeares und Goethes Dichtungen unsere Zeiten von ähnlichem Glänze überstrahlt einmal entgegentreten. Ein Vorgefühl, dem wir vertrauen, sagt uns, daß dem so sein werde.
Solche pathetischen Sätze, die von einer heiligen Prophetic getragen sind, nehmen sich allerdings fremd aus in einer wissenschaftlichen Ausgabe, die in Aufbau und Gestaltung kaum nüchterner gedacht werden kann: ohne Nennung der Herausgeber, ohne Vorreden, mit hölzernen Einführungen zu den angefügten Lesarten. Nachdem Herman Grimm die neue Ausgabe in ihrer Zielsetzung kurz charakterisiert hat, kommt er am Ende auf den Erziehungswert der Goetheausgabe zu sprechen, mit der er eine ganze Lehrergeneration ansprach: Allgemeinem Gefühle nach wird der neueren deutschen Litteratur der ihr gebührende Antheil an der Erziehung unseres Volkes nicht mehr lange versagt bleiben. Die diesem Gebiete des Wissens sich zuwendende Arbeit wird dann zu höherer Wichtigkeit aufsteigen. Als Dichter und Schriftsteller wird Goethe einen Rang bei uns einnehmen wie er ihn zuvor nicht inne hatte. Aber auch als Mensch wird er nun erst so erscheinen wie er war. Bisher wußten nur Wenige von ihm, die sich aus dem gesammten Umfange seines Thuns und Wirkens diese Kennmiß mit Mühe holten. In Zukunft wird Jeder nun leicht wissen können, wie einer der größten Männer Deutschlands von Tage zu Tage gelebt hat. Die neue Ausgabe seiner Werke wird als das Merkmal eines geistigen Umschwunges gelten, von dem heute nur als etwas Zukünftigem die Rede sein kann, von dem die Zukunft aber als von etwas Vollbrachtem sprechen wird.26
In diesem Sinne wurde die Weimarer Goetheausgabe von Anfang an auf den Sockel gehoben. Man kann der umsichtigen Darstellung der Goetherezeption im Kaiserreich von Karl Robert Mandelkow nur vorbehaltlos zustimmen: Das neue Reich hat sein gründerzeitliches Pathos auch auf sein geistiges Erbe, allem voran Goethe, übertragen. Die erst jetzt einsetzende monumentale Philologisierung Goethes ist von der gleichen gründerzeitlichen Energie und dem gleichen expansiven Optimismus getragen,
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WA I I , S. XI.
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denen die Nation ihren wirtschaftlichen Aufstieg und ihre politisch-militärische Macht verdankt. Der Besitzergreifung Goethes durch die Philologie verdanken wir die wissenschaftlichen Fundamente, auf denen auch heute noch unser gesichertes Wissen um den Dichter ruht, sie hat jedoch zugleich eine dynamisch-lebenspraktische Rezeption Goethes vielfach verhindert, indem sie den Zugang zu ihm und seinem Werk an die Kandare philologischer Gelehrsamkeit legte.27
Die Sophien-Ausgabe ist in ihrer Einzigartigkeit nur unter den Gegebenheiten und Bedingungen ihrer Entstehungsjahre zu verstehen. Sie ist das größte Denkmal der Gründerzeit für einen Dichter, an dessen Errichtung eine ganze Generation von Germanisten mitgewirkt hat. Sie ist „bis heute die inhaltlich vollständigste Standardedition Goethes geblieben und noch immer unersetzt".28 Meine Studentengeneration in Hamburg, zu der übrigens auch der zitierte Mandelkow gehört, ist nicht nur mit der Weimarer Ausgabe aufgewachsen, sondern kann sich auch als Generation der Ururenkel begreifen. Unsere Lehrer Hans Pyritz und Ulrich Pretzel vertraten nach dem letzten Krieg das Erbe der Berliner Germanistik, deren Ahnenfolge über Julius Petersen, Gustav Röthe, Erich Schmidt zu Wilhelm Scherer zurückführte, von dessen Witwe, die erst 1939 gestorben ist, Pretzel beispielsweise liebevoll verehrend schwärmen konnte. Die erste Weimarer Ausgabe, die ich vor 50 Jahren benutzte, war das Exemplar der Landesbibliothek Oldenburg: eine Oktavausgabe mit braunen Halbledereinbänden, deren Brüchigkeit allerdings braune Abreibespuren an den Händen hinterließ. Etwas besser war das Exemplar des literaturwissenschaftlichen Seminars der Universität Hamburg für den Redaktionsassistenten einer Goethe-Bibliographie zu benutzen, ebenfalls in den Originalbänden. Friedrich Zarncke hob die typographische Gestaltung 1887 hervor: „Die äußere Herstellung verdient alles Lob: schönes, kräftiges, weißes, surrogatfreies Papier, klare scharfe Typen, anständiger, breiter Rand, ein gutes Format von mittlerer Größe."29 Das schönste Exemplar gehörte meinem Lehrer Hans Pyritz, in dessen Diensten ich damals bereits stand: ein in dunkles Halbleder gebundenes, handliches Exemplar mit vergoldeter Rückenprägung, der Stolz meines schwierigen Chefs, in dem wir oft nachschlagen durften. Leider ist das herrliche Stück verschollen. Als ich in den 80er Jahren mit der Berliner Kriminalpolizei in die Wohnungen der Neffen und Nichten von Pyritz eindrang, um die Pyritz-Bibliothek sicherzustellen, die die Witwe der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel testamentarisch zugesprochen hatte, entdeckten wir zwar die uns verheimlichten Bücher. Doch die Weimarer Ausgabe war verschwunden. Habent sua fata libelli! Auch das 143bändige Unternehmen, dessen letzter Registerband am 31. Oktober 1919 abgeschlossen war, hatte sein Schicksal. Die Ausgabe, die vor achtzig Jahren vollendet wurde, ist heute trotz aller kritischen Einwände gegen die Textgrundlage keineswegs überholt, wie man doch wegen der philologischen Rückständigkeit annehmen sollte, sondern sie hat eine ungeahnte Aktualität durch Neuausgaben erhalten, wie sie
27 28 29
Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1. München 1980, S. 204f. Ebenda. Friedrich Zarncke: Kleine Schriften. Bd. 1: Goetheschriften. Leipzig 1897, S. 215f.
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keinem anderen editorischen Werk widerfahren sind und wie man sie auch wegen der germanistischen Textforschung geradezu für paradox halten sollte. Die Weimarer Goetheausgabe hat, was in der Geschichte der neuen deutschen Literaturwissenschaft höchst ungewöhnlich ist, trotz ihres Umfangs von 62 000 Textseiten drei Neuausgaben erfahren: die japanische Lizenzausgabe in den 70er Jahren, die zum 100jährigen Jubiläum der WA im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienene Taschenbuchausgabe, der 1990 noch drei Nachtragsbände zur 4. Abteilung folgten, und die bibliophil in Halbleder mit Goldschnitt ausgestattete limitierte und numerierte Faksimile-Edition des Metzler Verlags. Das erstaunlichste Phänomen ist der Erfolg der Taschenbuchausgabe, die wir dem Mut und der Risikobereitschaft des damaligen Verlagschefs Heinz Friedrich zu verdanken haben, der ein großer Goetheverehrer ist. Die Edition, in Taschenbuchformat in 6 000 Exemplaren verkauft, hat die Weimarer Ausgabe populär gemacht, trotz der längst aus der Mode gekommenen Frakturschrift und trotz der Einführungsrede von Dieter Borchmeyer, Sophiens Reise von Weimar nach München, in der noch einmal alle Sünden der Weimarer Ausgabe ausführlich dargestellt worden waren.30 Daß darüber hinaus die Weimarer Ausgabe von der Firma Chadwick-Healey in Cambridge seit wenigen Jahren auf CD-Rom verfügbar gemacht worden ist, macht die Auseinandersetzung um die Ausgabe noch dringlicher, da der elektronische Zugang zu dem Text und vor allem zu jedem gedruckten Wort der 143 Bände mit Einschluß der Lesarten, der Biedermannschen Gespräche und auch meiner drei Briefnachtragsbände31 jedem Goetheforscher willkommen ist. Daß das Unternehmen solide und verläßlich gestaltet wurde, ist nicht zuletzt der Mitwirkung von Werner Keller und Nicholas Boyle zu verdanken. Ehe ich aus den kommerziellen Gegebenheiten die Konsequenzen für die Goetheforschung heute ziehen möchte, kehre ich zur Kritik an der Weimarer Ausgabe und zu den Bemühungen um ihre Erneuerung zurück und rufe die Fakten kurz in Erinnerung. Schon Max Morris, der Berliner Arzt und passionierte Goetheforscher (1859 bis 1918), stellte 1909 bis 1912 die Werke des jungen Goethe durch die 5bändige Neubearbeitung der Edition von Michael Bernays von 1875 auf eine neue Textgrundlage und erschloß das Frühwerk auf Grund der Erstdrucke und der Handschriften, die ihm, selbst Mitarbeiter der Weimarer Ausgabe, das Goethe- und Schiller-Archiv zur Verfügung stellte. Die dritte Neubearbeitung von Hanna Fischer-Lamberg (1963-1974)32 steht schon im Zusammenhang mit dem Generalangriff von Ernst Grumach (1902 bis 1967), Professor an der Humboldt-Universität, der in der Nachkriegszeit die Weimarer Ausgabe in drei Aufsätzen33 einer ebenso gründlichen wie vernichtenden Kritik unter-
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Dieter Borchmeyer: Sophiens Reise von Weimar nach München. München 1987; wiederabgedr. in: Goethe-Jahrbuch 106 (1989), S. 230-239. WA. Nachträge und Register zur IV. Abteilung. Hrsg. von Paul Raabe. 3 Bde. München 1990. Der junge Goethe. Neue Ausgabe. Hrsg. von Max Morris. Bd. 1-6. Leipzig 1909-1912; neu bearb. Ausgabe. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. 1-5 und Register. Berlin 1963-1974. Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe-Jahrbuch N.F. 12 (1950), S. 60-88; Grumach: Aufgaben und Probleme der modernen Goetheedition. In: Wissenschaftliche Annalen l (1952), S. 3-11; Grumach: Probleme der Goethe-Ausgabe (Anm. 19), S. 39-51.
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zog, indem er die Entscheidung der Redaktoren, die Ausgabe letzter Hand zugrunde zu legen, verwarf und so die I. Abteilung der Weimarer Ausgabe auf eine neue Grundlage der frühen Fassungen stellen wollte. Seine Akademie-Ausgabe der Werke Goethes, die sich die entwicklungsgeschichtliche Apparatgestaltung Friedrich Beissners zum Vorbild nahm, blieb mit ihren, wenn ich recht gezählt habe, 25 Bänden bedauerlicherweise ein Torso. Nur wenige Werke wie Wilhelm Meisters theatralische Sendung, die Epen, Die Wahlverwandtschaften, Dichtung und Wahrheit und die Erzählungen liegen komplett mit Überlieferungen, Varianten und Paralipomena vor. Dagegen wurde die II. Abteilung der Weimarer Ausgabe, die Naturwissenschaftlichen Schriften, durch eine vollständige, mit Erläuterungen versehene Ausgabe, herausgegeben im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, in textlicher Hinsicht ersetzt. Das Lebenswerk von Dorothea Kühn, deren Leistung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, wird bald mit den zahlreichen Apparatbänden abgeschlossen sein. Inzwischen hat das Goethe- und Schiller-Archiv die Verantwortung für die Weimarer Ausgabe zurückgeholt. Die III. Abteilung, die Tagebücher, wird durch eine kommentierte Neuedition im Laufe der Zeit ersetzt werden. Das soll auch für die IV. Abteilung gelten, für die Briefe, die nach zehnjähriger Vorarbeit nunmehr in einer textlich neu bearbeiteten, durch Nachträge und Neufunde komplettierten kommentierten Neuausgabe vom Goethe- und Schiller-Archiv herausgegeben werden. Für die Kommentierung der Werke Goethes ist ohnehin seit Jahrzehnten viel geleistet worden. Bereits Eduard von der Hellen, selbst verdienter Mitarbeiter der Weimarer Ausgabe, machte dazu um die Jahrhundertwende mit seiner 40bändigen Jubiläumsausgabe der Sämtlichen Werke Goethes (1902—1912) in Verbindung mit den namhaftesten Goetheforschern seiner Zeit einen Neuanfang nach der Öffnung des Goetheschen Nachlasses. Die großen, zu Recht gerühmten Nachkriegsausgaben, die von Erich Trunz herausgegebene Hamburger, die im Aufbau Verlag erschienene Berliner, die im Hanser Verlag gerade abgeschlossene Münchner und die ebenfalls vollendete Frankfurter Ausgabe des Deutschen Klassiker-Verlags haben die Ergebnisse der kritischen Goetheforschung des 20. Jahrhunderts in die Kommentierung, aber auch teilweise in die Textgestaltung eingebracht. So hat der Wissenschaftler und auch der Laie, der sich heute mit Goethe beschäftigt, einen leichten und immer ertragreichen Zugang zu Goethes Werken und auch in einer Auswahl zu Tagebüchern und Briefen. Nie hat man sich über Goethes Schriften so vorzüglich informieren können wie heute, wenn man die erwähnten Ausgaben nebeneinander benutzt und zu Rate zieht. Dennoch haben wir festgestellt, daß die gute alte Weimarer Goetheausgabe bis heute nach 100 Jahren nicht nur ersetzt worden ist, sondern auf eine Weise benutzbar gemacht wurde, wie dies nur in einem kapitalistischen Zeitalter vor allem auch der Mikroelektronik möglich sein kann. Man setzt sich über die Kritik der Wissenschaft, wie sie in diesem Fall seitens der Goethephilologie früh einsetzte, souverän hinweg und schafft Tatsachen, die der Unkundige lebhaft begrüßt. Man hat in einer solchen Situation den Benutzer, den Goethefreund und den Goetheforscher aufzuklären über Größe und Grenzen der Weimarer Goetheausgabe,
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die als ein Vermächtnis des alten Goethe nicht die Erwartungen erfüllen kann, die eine moderne differenzierte Forschung voraussetzt. Die Aufgabe fällt auf das Goethe- und Schiller-Archiv als Arbeitsstätte der Weimarer Ausgabe und als Aufbewahrungsort des Goetheschen Nachlasses zurück. Weimar ist der traditionsreiche Ort der Goetheforschung und wird es im neuen Jahrhundert mehr noch als heute werden. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat die Behinderung der Goetheforschung aus der Zeit zwischen 1945 und 1989 beseitigt, unter der die Wissenschaftler hüben und drüben gelitten haben. Erst seit 1990 ist eine unbeschränkte Zusammenarbeit wieder möglich, auf die die Goetheforscher angewiesen sind. Heute können wir das Goethe- und Schiller-Archiv wieder als die Zentralstelle der Goetheforschung verstehen, die man ihr im Kreise der Großherzogin Sophie zugedacht hatte. Die Zeit ist reif für eine dezentrale Konzentration der Arbeiten an der Goethe-Edition. Die Arbeitsmöglichkeiten haben sich in einer Informationsgesellschaft beträchtlich verbessert. Der Zugriff zu Goethes Werken auf CD-Rom wird eines Tages noch leichter sein, wenn die Daten im Internet aufrufbar sein werden. Für eine solche Präsenz wird eine Reihe juristischer und kommerzieller Fragen vorher gelöst werden müssen. Inzwischen aber sollte das Internet durch das Goethe- und SchillerArchiv genutzt werden. Als erstes ist ja vorgesehen, das Repertorium aller GoetheBriefe, das im Laufe der letzten zehn Jahre auf Grund meiner Briefnachtragsbände zuerst in Wolfenbüttel, dann seit 1994 im Goethe- und Schiller-Archiv bearbeitet worden ist, über das Internet zugänglich zu machen. Es ist selbstverständlich, daß neue Funde, Ergänzungen und Korrekturen laufend nachgetragen werden. Bis die geplante Neuedition der Goethe-Briefe einmal abgeschlossen sein kann, wird das Repertorium im Internet dem Benutzer unentbehrlich sein. Im gleichen Sinne wünschte man sich auch ein Verzeichnis aller an Goethe gerichteten Briefe, bis die Regestausgabe eines Tages abgeschlossen sein wird. Neben diesem Goethe-Briefregister sollte für das Internet ein Repertorium der Goetheschen Werke erstellt werden. Damit ist ein bibliographisches Hilfsmittel gemeint, das die bisherigen Resultate der Goethephilologie sichtet. Nach dem Hinweis auf Band und Seite der Weimarer Ausgabe sollten zu einem Goetheschen Text alle seither erschienenen Editionen aufgeführt werden, die bessere Texte enthalten. Für manche Goetheschen Werke gibt es nach dem Erscheinen der Weimarer Ausgabe maßgebliche neue Editionen; auf sie muß der Benutzer verwiesen werden, damit er sich nicht auf den Text der Weimarer Ausgabe allein berufen kann. Ein solches Repertorium könnte eine Gemeinschaftsaufgabe der vielen Goetheforscher sein, die sich mit der Edition einzelner Werke Goethes beschäftigt haben und die Qualität einer Edition am besten beurteilen können. Die Federführung dieses Repertoriums sollte beim Goethe- und Schiller-Archiv liegen, das außerdem die Inventare des Goetheschen Nachlasses bearbeitet und so den Handschriftennachweis Goethescher Texte führt. Solange nicht Werk für Werk der I. Abteilung durch eine modernen Ansprüchen gerecht werdende Neuedition ersetzt werden kann, wird ein solches Repertorium als bibliographisches Hilfsmittel gute Dienste leisten. Denn - und das ist das Resümee auch nach hundert Jahren ist die Weimarer Goethe-Ausgabe unverzichtbar. Der Markt hat für ihre Präsenz in Buchform oder als CD-Rom gesorgt. Die Wissenschaft wird
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damit noch mehrere Jahrzehnte leben müssen. Aber das Goethe- und Schiller-Archiv sollte als Zentralstelle der Goethe-Editionen die Funktion einer Leitstelle, einer Clearingstelle übernehmen. Als Erben und Verwalter der Weimarer Ausgabe werden seine Mitarbeiter nach hundert Jahren den Anfangen verpflichtet bleiben müssen. In diesem Sinne gehört dem Goethe- und Schiller-Archiv die Zukunft.
Dorothea Kühn
Probleme mit der Leopoldina-Ausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft
Im Anschluß an die Ausführungen von Paul Raabe über die Weimarer Sophienausgabe von Goethes Werken (WA) möchte ich kurz darauf eingehen, wie die zweite, die naturwissenschaftliche Abteilung der WA beschaffen ist und warum sie als besonders unzulänglich angesehen werden muß. So sehr es nämlich zu begrüßen ist, daß man die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes - wie schon nach seinen eigenen Anweisungen in die Nachlaßbände der Ausgabe letzter Hand seiner Werke - auch in diese Werkedition einbezogen hat, so schwierig war dieses Unternehmen. Schon nach dem Erscheinen der ersten 12 Bände der naturwissenschaftlichen Schriften in der WA, also nach 1896, stellte sich die Kritik ein; und auch durch einen Nachtragsband von 1904 wurde die Situation nicht wesentlich verbessert. Wolfhard Raub hat das im Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft von 1965 zusammenfassend vor allem im Hinblick auf die editorische Arbeit von Rudolf Steiner, der als Hauptredakteur zeichnete, dargestellt.1 Kritisiert wurde vor allem an drei Punkten: 1. stand die Auswahl dessen zur Debatte, was in WA von Goethes Schriften angeboten wurde. Die von Goethe selbst schon veröffentlichten Texte waren nicht deutlich von bis dahin Unveröffentlichtem unterschieden, und Rudolf Steiner hatte auf Goethes Vorarbeiten wie Notizen, Schemata, Entwürfe, Buchauszüge bis auf wenige Beispiele verzichtet. Bernhard Suphan versuchte das durch Nachträge im 13. Band der zweiten Abteilung der WA auszugleichen. Das gelang aber nicht so recht, weil sich durch die fehlende naturwissenschaftliche Sachkenntnis dieses Bearbeiters Verständnis- und Lesefehler ergaben. 2. kritisierte man die Anordnung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in der WA. Sie sind dort nach Fachgebieten aufgeteilt, deren Grenzen aber nicht überall beachtet wurden. Innerhalb der Fachgebiete wurde eine Anordnung angestrebt, durch die Goethes geistige Intentionen sichtbar werden sollten. Das hatte der Willkür der Editoren reichlich Spielraum gelassen und zu Fehldeutungen geführt. Der 3. kritische Punkt betraf die Bearbeitung der Texte. Hier mußten auseinandergerissene Zusammenhänge, fehlerhafte Lesungen und vor allem die fehlende oder falsche Beschreibung der Textgrundlagen und die an vielen Stellen falsche oder fehlende Aufnahme von Lesarten moniert werden.
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Wolfhard Raub: Steiners Edition der „Naturwissenschaftlichen Schriften" in der Weimarer Ausgabe der Werke Goethes. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft NF 27 (1965), S. 152-174.
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In der Auswahl möglichste Vollständigkeit, in der Anordnung ein konsequentes Konzept und in der Textbearbeitung die gebotene Sorgfalt - das wären aber die wesentlichen Kriterien, an denen die Edition zu messen gewesen wäre. Bei der WA blieb deshalb die zweite, die naturwissenschaftliche Abteilung unbefriedigend. Wobei ich sogleich hinzusetzen möchte, daß zu dieser Edition in der kurzen Zeit von 13 Jahren wichtige Arbeit geleistet worden ist. Die Mitarbeiter hatten sich mit einer großen Menge von schwierigem Quellen- und Nachlaßmaterial auseinanderzusetzen. Sie haben mit der Ausgabe trotz allem eine Basis geschaffen, auf die jeder spätere Bearbeiter dankbar Bezug nehmen kann. Es ist ja immer leichter, Fehler zu finden als die Sache besser zu machen. Denn natürlich bilden die Auswahl, die Anordnung und die Textkritik auch die Probleme aller weiteren Editionen. Wenn ich hier in dieser Hinsicht über die Schicksale der Leopoldina-Ausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft (LA) berichten möchte, so kann ich daraufhinweisen, daß ihre nun mehr als 50 Jahre währende Geschichte schon öfter dargestellt worden ist; zuletzt von mir 1992 in den historischen Akten der Leopoldina.2 Ich habe dort daraufhingewiesen, daß dieser Ausgabe, die von Karl Lothar Wolf, Wilhelm Troll und Günther Schmid begründet wurde, ein weitumfassender, aber im einzelnen nicht präzisierter Entwurf zugrunde lag. Diese Naturforscher vereinbarten mit dem damaligen Präsidenten der Leopoldina, der Deutschen Akademie der Naturforscher in Halle/ Saale, Emil Abderhalden, und mit dem Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger in Weimar, damals unter der Leitung von Leiva Petersen, eine Edition, die zeigen sollte, daß Goethes Naturforschung ein weitaus größerer Anteil an seinem Leben und seinem Gesamtwerk zukomme, als man es bis in die Zeit der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts angenommen hatte; weiterhin, daß die Bestimmung von Goethes Standort in der Wissenschaft seiner Zeit wichtig sei zur Erschließung der Wissenschaftsgeschichte, und schließlich, daß Goethes naturwissenschaftliche Methode im Vergleich mit den jeweils zeitgemäßen Ansichten und Einsichten das je und je gegenwärtige Denken klären könne. Sie konnten sich dabei auf Goethe berufen, der 1825 an den LeopoldinaPräsidenten Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck geschrieben hatte, es sei ein in der Geschichte der Wissenschaften oft wiederkehrendes Phänomen, daß die Ergebnisse einzelner Bemühungen erst durch die Nachwelt geeinigt und ins Ganze gebracht und so die wahre Idee erst hergestellt werden könne.3 Solche Einsichten sollten in dieser Ausgabe in einem Kommentarteil erarbeitet und vorgelegt werden. Es war klar, daß man diese wissenschaftlichen Schriften aus einer Epoche, deren Anschauungen auf ganz anderen Vorstellungen und Denkformen beruhten, als es die heutigen sind, nicht noch einmal (wie in WA) ohne Erläuterungen edieren könne. Allein Terminologie und Nomenklatur verlangen das, aber auch der Forschungsstand und die Meinungen einer so entfernten Zeit. Das heißt, daß der Leser in die wissenschaftliche Situation dieser Zeit eingeführt und immer wieder über ihre Einzelheiten
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Dorothea Kühn: „Erfahrung, Betrachtung, Folgerung durch Lebensereignisse verbunden". Zur Geschichte der Leopoldina-Ausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft. In: Acta historica Leopoldina 20 (1992), S. 11-20. Goethe an C.G.D. Nees von Esenbeck, Entwurf von Anfang Dezember 1825. In: WA IV 40, S. 412f.
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aufgeklärt werden muß, um schließlich mitdenken und dann auch beurteilen zu können, was ihm an Texten vorgelegt wird. Die Anordnung der Texte selbst stellte man sich nach Sachgebieten und innerhalb dieser Sachgebiete nach chronologischen Gesichtspunkten vor, also nach der Reihenfolge ihrer Entstehung, um der Entwicklung von Goethes Ansichten folgen zu können. Das waren Wünsche und Hoffnungen, zunächst übrigens noch unter der Voraussetzung, daß man in der WA das Standardwerk der Goetheedition habe, dessen Texte benutzt werden und an das die Herausgabe des Kommentars sich anschließen könne. Unter dieser Voraussetzung hatte der leider schon 1949 verstorbene Günther Schmid zwei Bände mit Goethes Schriften zur Mineralogie und Geologie herausgegeben. Es gibt darin einiges, was in der WA als „präparatorische Materialien" ausgeschieden worden war, jedoch hatte er in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren nicht überall Zugang zum Quellenmaterial und hat vor allem Goethes Nachlaß nur teilweise einsehen können, so daß aus dieser Quelle wieder manches ausgeschlossen blieb. Zur Unterstützung der chronologischen Ordnung in den Bänden ergänzte er Goethes Studien durch einschlägige Bezeugungen aus Tagebüchern, Briefen und aus dem dichterischen Werk, die eigentlich in den Textbänden nichts zu suchen haben. Zu den vorgesehenen Erläuterungen in inhaltlicher oder textkritischer Hinsicht aber ist er nicht mehr gekommen. Als nach Günther Schmids Tod ein neuer Anlauf zur Weiterführung der Ausgabe genommen werden sollte, kam Rupprecht Matthaei mit schon für eine andere Ausgabe erarbeitetem Material zur Edition von Goethes Farbenlehre hinzu. Er brachte einen dritten Textband heraus, in dem optische Studien, die Goethe bis 1810 unternommen hatte, veröffentlicht wurden. Hier geht es zwar einigermaßen chronologisch zu, aber es wurde ebenfalls eine Auswahl aus Tagebüchern, Briefwechseln und sonstigem Material beigegeben, die die Textfolge erheblich stört. In mehreren großen Besprechungen der drei Textbände wurde von den Rezensenten anerkannt, daß hier zum ersten Mal ein Zugang zur Kenntnisnahme der Entwicklung der Goetheschen Forschungen eröffnet worden sei. Aber von der Goethe-Philologie wurde auf die editorische Problematik der Bände hingewiesen. Und von hierher ergaben sich in den fünfziger Jahren Kontakte zu den damals erscheinenden Goethe-Editionen, der Akademie-Ausgabe von Goethes Werken unter der Leitung von Ernst Grumach und der Ausgabe von Goethes amtlichen Schriften unter der Leitung von Willy Flach. Um die drei Ausgaben nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung aneinander anzugleichen, sondern auch in ihrem Inhalt, und um ihre gemeinsame Benutzung zu erleichtern, wurden Editionsprinzipien erarbeitet, die gewährleisten sollten, daß sich die Ausgabe der Schriften zur Naturwissenschaft, der man nun den Namen LeopoldinaAusgabe gab, einer historisch-kritischen Edition annäherte. Das Präsidium der Leopoldinischen Naturforscher davon zu überzeugen, daß dies ein richtiger Weg sei, war nicht leicht. Die vom damaligen Präsidenten gewünschte Modernisierung der Orthographie in Goethes Texten konnte nicht vermieden werden. Wenigstens konnten die Editoren aber die Erhaltung der Goetheschen Interpunktion durchsetzen.4 Ernst Grumach und Karl Lothar Wolf: Zu den Akademie-Ausgaben von Goethes Werken. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft NF 20 (1958), S. 309f. - Korrespondenz mit dem Präsidenten Otto Schlüter im Archiv der Leopoldina.
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Unter diesen Voraussetzungen konnte die Arbeit an den Textbänden der LA fortgesetzt werden. Die Texte sollten nach den nun festgelegten Editionsprinzipien „der letzten von Goethe noch schaffend gestalteten Form eines Werkes" entsprechen. Das war ein folgenreicher Beschluß. Goethe selbst hatte 1817 bis 1824 eine von der Goethe-Philologie wenig beachtete Schriftenreihe mit dem Titel Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie in zwei parallel laufenden Folgen von je sechs Heften Zur Naturwissenschaft und Zur Morphologie herausgegeben, in denen er seine älteren Studien, schon Gedrucktes, wie die Monographie über die Metamorphose der Pflanzen, und Unveröffentlichtes, wie den Aufsatz über die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen, gesammelt und sie ergänzt hatte durch neuere Arbeiten, auch durch autobiographische Rückblicke, Maximen und Gedichte, weiterhin durch Beiträge von jüngeren, ihm befreundeten Naturforschern, denen er wiederum Begleitworte beigab. Die Hefte der beiden Reihen sind durch einen erläuternden Untertitel gekennzeichnet, den Goethe formuliert als Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden. Dieses späte editorische Werk Goethes wurde nun nach den Editionsgrundsätzen der Ausgabe als Textgrundlage für viele der Arbeiten Goethes maßgeblich, da er ihnen hier jene letzte schaffend gestaltete Form gegeben hatte. In der Ausgabe letzter Hand erschienen sie erst nach Goethes Tod in den postumen Nachtragsbänden, bearbeitet von Riemer und Eckermann. Darüber hinaus war das Ganze als Werk Goethes nicht auflösbar und konnte nicht, wie in den bisherigen Ausgaben, in seine Einzelteile zerlegt werden. Die gesamten Hefte mußten ihren Platz in der LA finden. Neben Goethes großem Werk Zur Farbenlehre, das in den Bänden 4 bis 7 der Textabteilung mit seinem didaktischen, polemischen, historischen und Tafel-Teil vorliegt, hatten also die Hefte Zur Naturwissenschaft und Zur Morphologie den zweiten Brennpunkt der Ausgabe zu bilden. Sie erschienen als Band 8 und 9 der Textabteilung. Probleme, die sich aus dieser Entscheidung ergaben, liegen auf der Hand. Diese beiden Bände durchbrechen sowohl die fachliche als auch die chronologische Ordnung der Texte. Das mußte hingenommen werden, und es wurden nun die von Goethe nicht in seinen Heftreihen gebrachten Studien - besonders also alles, was nach ihrem Abschluß, nach 1824 noch erschienen war - in den beiden letzten Textbänden, den Bänden 10 und 11, chronologisch geordnet vorgelegt. Mit dem Erscheinen des 11. Bandes war 1970 die Textabteilung der LA abgeschlossen. Inzwischen waren schon intensive Arbeiten an dem nun zugänglichen Material aus Goethes Nachlaß erfolgt. Die Handschriften, die im Goethe- und Schiller-Archiv, geordnet nur nach ihrer Veröffentlichung oder der eben nicht erfolgten Veröffentlichung in der WA, vorlagen, für die es aber keinen Katalog gab, waren von mir in Listen aufgenommen und, soweit sie noch nicht im Druck zugänglich waren, in Regesten oder Abschriften festgehalten worden. Die naturwissenschaftlichen Zeichnungen aus Goethes Nachlaß wurden von Matthaei und mir gesichtet und für das von Gerhard Femmel herausgegebene Corpus der Goethezeichnungen beschrieben.5 Corpus der Goethezeichnungen. Hrsg. von Gerhard Femmel. - Naturwissenschaftliche Bände VA und VB, Leipzig 1963 und 1967.
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Auf Grund dieser Arbeiten stellten wir fest, daß man zur Kommentierung der naturwissenschaftlichen Texte Goethes all dieses Material, die Notizen, Buchauszüge, Tabellen und Textentwürfe wie auch die Skizzen innerhalb der Ausgabe zur Verfügung haben müsse. Weiterhin auch Goethes einschlägige Äußerungen in Tagebüchern, Briefen, Gesprächen und dazu die entsprechenden Bezeugungen seiner Mitarbeiter, Partner und Kritiker, soweit er selbst darauf Bezug nimmt. Dies alles wurde dem Kommentar zugeschlagen, der neben der Abteilung der Texte eine zweite Abteilung von Ergänzungsbänden mit Materialien, Zeugnissen und dann den Erläuterungen bildet, zu denen die Textüberlieferung, die Lesarten zu den Texten und Einzelanmerkungen hinzukommen. 1970, als die Textbände fertig wurden, lagen auch schon zwei Ergänzungsbände vor. Sie sind nach dem ursprünglichen Konzept fachbezogen und gegliedert in Materialien, Zeugnisse und Erläuterungen, die die Texte in ihrer Entstehungsfolge begleiten. Dadurch weicht ihre innere Ordnung von der Folge der Stücke in den Textbänden mit der von Goethe gegebenen Mischung in seinen naturwissenschaftlichen und morphologischen Heften ab.6 Im einzelnen haben die Ergänzungsbände den folgenden Inhalt: Die Materialien, chronologisch geordnet, in der ursprünglichen Orthographie und Interpunktion der Vorlagen, geben möglichst getreu diese Vorlagen wieder. Sie bieten einen ersten Zugang zur Vorbereitungs- und Entstehungsgeschichte der Texte. Jedes Stück ist durch Überlieferungsbeschreibung, Lesarten und Anmerkungen erschlossen und den Texten zugeordnet. Goethe nennt die Annäherung an ein Werk in den Phasen seines Werdens bekanntlich „im Entstehen aufhaschen" und mißt dem einen hohen Erkenntnis wert zu. Solche Einblicke gewähren die Materialien an vielen Stellen. Die Zeugnisse geben dann mit der eigenen und fremden Reflektion und mit den Dokumenten zur Arbeit eine weitere Möglichkeit, sich im Umfeld der Goetheschen Studien zu orientieren. Es zeigt sich, daß sich die Äußerungen einerseits im Zusammenhang mit der gesamten Wissenschaftsgeschichte erweitern und entwickeln, andererseits aber zu festen Positionen führen, denen Goethe neue Erkenntnisse zuordnet und die er als Methode seiner naturwissenschaftlichen Forschungen ausbildet. Das geschieht in der ständigen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Anschauungen, so daß die Zeugnisse den Gesichtskreis, der sich in den Materialien aufgetan hat, noch wesentlich erweitern, zumal auch sie mit den notwendigen Anmerkungen und Hinweisen begleitet sind. Auf dieses Szenarium können die Texterläuterungen zurückgreifen. Sie gehen in jedem Sachgebiet dann ebenfalls nach der chronologischen Folge in der Entstehungszeit der Texte vor. Wenn zu größeren Zeitabschnitten von Goethes Studien Übergreifendes zu sagen ist, wie etwa zur Entstehung der naturwissenschaftlich-morphologischen Heftreihen, oder wenn aus wichtigen Forschungsphasen, wie zur Zeit der italienischen Reise Goethes, keine Texte, sondern nur Materialien und Zeugnisse überlie-
Aus den Bänden LA 1-3 gibt es in LA I 8 und LA I 11 Textwiederholungen, die in den Erläuterungsbänden berücksichtigt und geklärt werden.
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feit sind, kann ein Erläuterungsabschnitt eingeschoben werden, der einen Überblick bietet und der die Materialien und Zeugnisse auswertet und von daher Goethes Studien beleuchtet. Ein größerer Arbeitskomplex, wie Goethes Beschäftigung mit den „entoptischen Farben", kann zusammenfassend erläutert werden. Auch Übersichten über komplexe Arbeitsgebiete, wie etwa Goethes geologisch-mineralogische Studien, können die Erläuterungen zu den einzelnen Texten ergänzen. Jeder Erläuterungsband hat auf diese Weise durchgehende Erläuterungsteile, die optisch durch größeren Druck von den textkritischen Teilen und den Einzelanmerkungen abgesetzt sind, so daß der Leser, der sich über den Werdegang von Goethes Arbeiten orientieren will, nur diese größer gedruckten Partien beachten muß. Wir haben dieses Verfahren inzwischen an zehn Ergänzungsbänden erprobt und nähern uns damit dem Ende der zweiten Abteilung der LA. In den Einleitungen zu diesen Bänden wird auf die jeweiligen Benutzungsmöglichkeiten hingewiesen. Und doch ist nicht zu verkennen, daß es schwierig ist, sich in der Ausgabe zurechtzufinden und ihre Inhalte zu weiteren Forschungen heranzuziehen. Wir bemerken jedenfalls, daß die LA auch in der Fachwelt wenig bekannt ist und benutzt wird und daß die in ihr vorgelegten Forschungsergebnisse nur selten in die weitere Literatur eingehen. Wir wurden ja gerade im Jahr 1999 mit Goethe-Literatur überschüttet, an der wir das ablesen konnten. Das liegt gewiß daran, daß Goethes Schriften zur Naturwissenschaft ihre Stelle zwischen den Disziplinen haben. Er selbst vermerkt schon, daß sich seine Zeitgenossen nicht mit diesen Forschungen des Dichters einverstanden erklären wollten. Heute fehlt dem Naturwissenschaftler das Verständnis für Goethes zwischen Naturforschung, Philosophie und Dichtung angesiedelte Studien. Und dem Literaturwissenschaftler sind Goethes ja auch speziell naturwissenschaftliche Interessen fremd. Aber auch die beschriebenen Unstimmigkeiten, die durch die lange Entstehungszeit der LA aufgekommen sind, tragen dazu bei, daß hier eine gewisse Scheu vor dem Hindernislauf bei ihrer Benutzung besteht. Herausgeber und Mitarbeiter der LA, heute sind das Wolf von Engelhardt und ich, Gisela Nickel und Thomas Nickol, stellen Überlegungen an, wie man diese Hindernisse leichter überwindbar machen könnte. Es gibt zwei noch offene Stellen innerhalb der Edition, an denen das geschehen könnte. Einmal müssen ihr - und das war von vornherein geplant - unkomplizierte und auskunftsreiche Inhaltsverzeichnisse und Register gegeben werden. Sie sollen in einer dritten Abteilung der Ausgabe die Text- und Ergänzungsbände, also die Inhalte der ersten beiden Abteilungen, erschließen. Die Ergänzungsbände enthalten bereits jeweils fachbezogene Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie Namenregister mit knappen biographischen Angaben, in die auch Werktitel und Orte einbezogen sind. Sie beziehen sich aber nur auf Goethes Texte, die Materialien und Zeugnisse, nicht auf die Erläuterungsteile. Diese Verzeichnisse sollen für die Registerbände erweitert und zusammengeführt werden. Hier müssen auch Sachwörter, vor allem die Namen von Gesteinen und Mineralien, von Pflanzen und Tieren und deren Organen und Fachwörter aus allen Gebieten von Goethes naturwissenschaftlicher Tätigkeit aufgenommen und erschlossen werden. Abgrenzungen sind hier schwierig, vor allem wird auch die Frage nach der zeitgenössischen und der heutigen Identifizierung der naturwissenschaftlichen Gegenstände die üblichen Probleme aufwerfen.
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In den Registerbänden müssen natürlich auch übersichtliche Inhaltsregister mit Titeln und Incipits zu finden sein, vielleicht auch Konkordanzen zu anderen Editionen. Eine Diskussion darüber in kompetentem Kreis wäre erwünscht. Eine zweite Möglichkeit, in die Benutzung der LA einzuführen, bietet der erste Band der zweiten Abteilung, der bisher noch unbearbeitet ist. Er soll ohnehin die Ergänzungen und Erläuterungen zu den fächerübergreifenden naturwissenschaftlichen Studien Goethes enthalten und in dieses Gesamtwerk einfuhren, das Goethe der Naturforschung gewidmet und immer als Einheit angesehen hat. Hier kann man sich einmal eine Art von intelligenter Gebrauchsanleitung für die Ausgabe vorstellen mit der Darstellung von Inhalten und Zielen der Edition. Zum anderen sollte eine Chronologie mit Parallelen zu Goethes Leben und Werk und mit entsprechenden Verweisungen auf die einschlägigen Stellen in der gesamten Ausgabe gezielte Recherchen ermöglichen. Wie weit so etwas auch mit der Hilfe von begleitenden Hilfsmitteln aus dem Gebiet elektronischer Medien - Stichworte: Datenbank, Internet - möglich wäre, ist zu prüfen. An eine CD-ROM der gesamten Ausgabe ist schon gedacht worden. Aber damit kommen wir in das neue Jahrtausend. Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft - Leopoldina-Ausgabe Abt. Bd. I l I 2 I 3 I 4 I 5 I 6 I 7 I 8 I 9 I 10 I 11
II II II II
l 2 3 4
II 5A II 5B II
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Inhalt Zur Geologie und Mineralogie bis 1810 Zur Geologie und Mineralogie 1812-1832 Zur Optik und Farbenlehre bis 1808 Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil 1808/1810 Zur Farbenlehre. Polemischer Teil 1810 Zur Farbenlehre. Historischer Teil 1810 Zur Farbenlehre. Tafeln 1810 Hefte zur Naturwissenschaft 1817-1824 Hefte zur Morphologie 1817-1824 Studien zur Morphologie bis 1832 Studien zur Naturwissenschaft bis 1832
Bearbeiter Jahr G. Schmid 1947 G. Schmid 1949 R. Matthaei 1951 R. Matthaei 1955 R. Matthaei 1958 D. Kühn 1957 R. Matthaei 1957 D. Kühn 1962 D. Kühn 1954 D. Kühn 1964 D. Kühn/ W. v. Engelhardt 1970
Zur Naturwissenschaft. Allgemeines Zur Naturwissenschaft. Naturlehre, Meteorologie G. Nickel in Vorbereit. Zur Optik und Farbenlehre bis 1808 R. Matthaei 1961 Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil und Tafeln R. Matthaei/ D. Kühn 1973 Zur Farbenlehre. Polemischer Teil H.Zehe 1992 Zur Farbenlehre 1810 bis 1832 T. Nickol/ H. Zehe in Vorbereit. Zur Farbenlehre. Historischer Teil D. Kühn/ K.L.Wolf 1959
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II
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Zur Geologie und Mineralogie bis 1805
II 8A
Zur Geologie und Mineralogie 1806-1820
II
8B
Zur Geologie und Mineralogie 1821-1832
II II II II
9A 9B 10A l OB
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Zur Morphologie bis 1795 Zur Morphologie 1796-1815 Zur Morphologie 1816-1824 Zur Morphologie 1825-1832
W.v. Engelhardt/ D. Kühn 1989 W.v. Engelhardt/ D. Kühn 1997 W.v. Engelhardt/ D. Kühn 1999 D. Kühn 1977 D. Kühn 1986 D. Kühn 1994 D. Kühn in Vorbereit.
Register und Verzeichnisse
Die Bände I 1,14,17 und I 9 liegen in unveränderten Nachdrucken vor.
Hans Rudolf Vaget Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen.
Zur Situation der Faust-Philologie im Jubiläumsjahr 1999 Nie, so scheint es, hat die Goethe-Philologie so stark Konjunktur gehabt wie im Jubiläumsjahr 1999. Offenbar verfahrt die deutsche Goethe-Industrie nach dem Motto des Schauspieldirektors im Faust: „Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen" (V. 97).' Allein von Faust liegen nicht weniger als drei neue, opulent ausgestattete und in ihrer Art vorzügliche Studienausgaben vor, die ich der Einfachheit halber nach dem Ort ihrer Herkunft bezeichne: 1. Die Frankfurter Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, deren Faust-Band von Albrecht Schöne besorgt wurde.2 2. Die Faust-Edition der Münchner Ausgabe des Carl Hanser Verlags, für die, ihrer chronologischen Darbietungsform entsprechend, mehrere Herausgeber verantwortlich zeichnen.3 3. Die Stuttgarter Ausgabe des Reclam Verlags, die das Werk Ulrich Gaiers ist.4 Drei wissenschaftlich anspruchsvolle Faust-Ausgaben also, die um die Aufmerksamkeit der Leser und das Vertrauen der Benutzer konkurrieren! Diese Situation gewinnt dadurch einen weiteren Reiz, daß von der FA inzwischen, nach nur fünf Jahren, eine vierte Auflage vorliegt, die eine revidierte Ausgabe darstellt. Ich werde darauf zurückkommen. Nun handelt es sich bei Goethes Faust, wie sattsam bekannt, um einen ganz besondren Text. Das hat seine Gründe. Dieses Werk gilt immer noch, draußen in der Welt nicht weniger als im deutschen Sprachbereich, als das Flaggschiff der deutschen Literatur. Dies mag aus bestimmter Sicht bedauerlich erscheinen, doch ändert es nichts an der festen Verquickung des spezifisch Deutschen, wie immer man es fassen mag, mit dem Faust-Mythos in den Köpfen der Menschen. Eine solche Verquickung existiert nicht von ungefähr; schließlich wurde der Faust-Mythos in deutschen Landen ersonnen, von deutschen Dichtern weitergesponnen und von deutschen Intellektuellen zum Emblem des „deutschen Wesens" erhoben. So ist dem Werk Goethes, kraft sei-
Zitiert wird nach der 1999 vorgelegten vierten, überarbeiteten Auflage von Bd. 7/1 der Frankfurter Ausgabe (siehe Anm. 2). Die vierte Auflage bietet nun auch ein willkommenes Personen- und Sachregister zum Kommentar-Band. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Bd. 7/1: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne; Bd. 7/2: Kommentare von A. Schöne, Frankfurt am Main 1994 (künftig: FA). Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. München 1985ff. (künftig: MA). Johann Wolfgang Goethe: Faust. 3 Bde. Hrsg. von Ulrich Gaier. Stuttgart 1999 (künftig: SA).
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Hans Rudolf Vaget
ner Sprachmächtigkeit und seiner die Epoche summierenden und reflektierenden Konzeption, eine außerordentliche Rolle in der deutschen Mentalitätsgeschichte zugewachsen. Schon vor der Reichsgründung 1871 wurde ihm der Status eines Identität stiftenden Kulturguts zuerkannt - eine Sonderstellung, die sich erstaunlicherweise über mehrere historische Umbrüche hinweg bis zum Ende der DDR erhielt. Wenn nun aber ein Text vor so viele unterschiedliche Karren gespannt werden konnte und eine derart gewichtige Rolle gespielt hat,5 so erwächst daraus für jeden kritischen, geschichtsbewußten Herausgeber eine besondere Aufgabe, und zwar im Bereich des Kommentars nicht weniger als bei der Textkonstitution. Es sollte nicht nur darum gehen, Textverderbnisse zu beseitigen, sondern auch darum, bei der Texterhellung im Kommentar jeglicher ideologischer Indienstnahme entgegenzuwirken.6 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welchen Sinn und welche Funktion eine Faust-Edition heute haben kann, mit besonderem Nachdruck. Konkreter gesagt: Inwieweit sollte eine Edition des Faust die beiden historischen Veränderungen reflektieren, die vermutlich mehr als alle anderen unsere Perspektive auf diesen von Geschichte geradezu überwucherten Text bestimmen: das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit und die Neukonstitution Deutschlands als Nationalstaat zu einem Zeitpunkt, zu dem die Begriffe Nation und Nationalkultur ihren Nimbus weitgehend eingebüßt haben. Von diesem zentralen Text der deutschen Kulturgeschichte gibt es, unerachtet allen Philologenfleißes, keinen einwandfreien, unter editionswissenschaftlichen Experten konsensfähigen Text. Albrecht Schöne selbst bezeichnet diesen Tatbestand als „nationale Schande".7 Er läßt keinen Zweifel daran, daß ein solcher Text erst in einer historisch-kritischen Ausgabe zu erarbeiten sei. Seine Kritiker8 würden ihm in diesem Punkt sicher zustimmen, allerdings mit dem Unterton des Vorwurfs, daß gerade er eine besonders günstige Gelegenheit versäumt habe, die angemahnte historisch-kritische Ausgabe in Angriff zu nehmen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, die vor allem von Ernst Grumach befördert wurde und die heute nicht länger strittig ist, daß nämlich der Text der Weimarer Ausgabe keineswegs die Autorität besitzt, die ihm lange Zeit zuerkannt wurde. Schon vor einem halben Jahrhundert hatte Grumach einen ernüchternden Befund ausgesprochen: „Der Glaube, daß die kritische Arbeit für Goethe getan ist und daß wir im Text der Sophienausgabe den Goethetext vor uns haben, hält sich mit so erstaunlicher Hartnäckigkeit, daß selbst von Fachgenossen wiederholt die Frage gestellt worden ist, ob eine neue kritische Ausgabe notwendig ist."9 Grumach hat diese Frage emphatisch bejaht und Vgl. dazu die Standardwerke von Hans Sehweite: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962; Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1:1773-1918. München 1980, Bd. II: 1919-1982. München 1989; Deborah Victor-Engländer: Faust in der DDR. Frankfurt am Main 1987. Zu einigen besonders gravierenden Versuchen der politischen Instrumentalisierung in der DDR und im Dritten Reich vgl. Hans Rudolf Vaget: The GDR Faust: A Literary Autopsy. In: Oxford German Studies 24 (1995), S. 145-174. FA 7/2, S. 80. In erster Linie Peter Michelsen: Diplomatik als Editionsprinzip. Zur Textgestalt des „Faust" anhand der Ausgabe Albrecht Schönes. In: Merkur 557, August 1995, S. 695-706; Rudolf Kassel: Philologische Bemerkungen zu einer neuen „Faust"-Ausgabe. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 375-381. Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe-Jahrbuch NF 12 (1950), S. 60-88, 60.
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damit begründet, daß die Weimarer Ausgabe geradezu hastig und ohne gründliche Vorarbeit in Angriff genommen worden sei, vor allem aber, daß die Entscheidung für die Oktavausgabe letzter Hand (C) als Leittext philologisch nicht zu verantworten sei. Diese Ausgabe trage „häufig genug den Stempel der Improvisation". Am schwersten wog jedoch der Vorwurf, das „Verfahren" der Weimarer Ausgabe entspringe einer „grundsätzlichen Verkennung der Aufgabe, die dem kritischen Editor gestellt ist".10 Diese philologisch defizitäre Situation" hat in den letzten fünf Jahren drei Editionen auf den Plan gerufen, die alle mit dem Anspruch auftreten, wenn schon nicht den endgültigen, so doch einen beträchtlich gereinigten Text zu bieten. Wie zu erwarten, stimmen die drei Ausgaben in der Textgestalt mitnichten überein. Welche Überraschung der Benutzer dabei erleben kann, mag vorab das folgende amüsante Detail belegen. Es betrifft das Alter Helenas - eine zugegebenermaßen heikle Frage: Wie alt war sie, als sie zuerst von Theseus erhascht und geraubt wurde (V. 8850)? Die Frankfurter Ausgabe meint: „ein dreizehnjährig schlankes Reh". Die Münchner Ausgabe dekretiert: „ein zehenjährig schlankes Reh". Die Stuttgarter Ausgabe mochte da wohl nicht hintanbleiben und offeriert uns „ein siebenjährig schlankes Reh". Was der Autorwille gewesen sein mag, wissen die Götter. Daß es „mit mythologischer Frau [...] ganz eigen" bestellt sei, wird ja im Text selbst mit schöner Selbstironie erklärt. Aber man kommt doch nicht umhin, sich zu fragen, ob deswegen die Philologen Chirons Auskunft : „Der Dichter bringt sie, wie er's braucht zur Schau" (V. 7429), als Freibrief für ihre Bestimmung von Helenas Alter nehmen dürfen? Die Situation der Faust-Philologie im Jubiläumsjahr ist somit eher einem Editionsdschungel zu vergleichen, in dem nicht nur der arglose Literaturfreund, sondern auch die Experten keinen rechten Durchblick mehr haben. Soviel wird sich jedoch sagen lassen: Die Hamburger Ausgabe ist aus ihrer lange dominanten Stellung unter den Studienausgaben des Faust wohl endgültig verdrängt. Damit scheint sich der Wunsch Thomas Saines, des Herausgebers des Goethe Yearbook, endlich erfüllen zu wollen. Wenn er nur für einen Tag der liebe Gott sein könnte, so Saine, würde er die Welt neu erschaffen - eine Welt, in der es die Hamburger Ausgabe nicht gibt.12 Die folgenden Anmerkungen beschränken sich auf einige charakteristische Aspekte der Textkonstitution und der Texterschließung, die in diesem Rahmen jedoch nicht systematisch, sondern lediglich stichprobenweise gemustert werden können. Zunächst zum Textbestand. Das reichhaltigste Angebot von Goethes verschiedenen Faust-Texien hat die Münchner Ausgabe zu bieten. Allerdings ist dabei in Kauf zu nehmen, daß die Fassungen von 1776,1790,1808 und 1832 auf vier Bände verteilt sind.
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Ebenda, S. 84, 86. ' Defizitär auch in dem Sinne, als die Akademie-Ausgabe (künftig: AA): Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von Ernst Grumach. Berlin 1953ff., nicht zu Ende geführt wurde. Zu „Faust" liegen drei Bände vor. Goethe: Faust. 1. Urfaust, Faust. Ein Fragment, bearbeitet von Ernst Grumach. Berlin 1954; 2. Faust. Der Tragödie erster Teil, bearbeitet von Ernst Grumach und Inge Jensen. Berlin 1958; Ergänzungsband 3: Urfaust, Faust. Ein Fragment, Faust. Der Tragödie erster Teil, Paralleldruck, bearbeitet von Ernst Grumach und Inge Jensen. Berlin 1958. 12 Thomas P. Saine: Rezension von Deirdre Vincent: Werther's Goethe and the Game of Literary Creativity. Toronto 1992. In: Goethe Yearbook VII (1994), S. 247-252, 248. 1
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Die Frankfurter Ausgabe läßt das Fragment von 1790 aus und bietet statt dessen ein anderes Fragment, Walpurgisnacht betitelt, das Schöne aus Paralipomena und einem Zahmen Xenion komponiert hat und das er als „Vorschlag des Herausgebers für eine Bühnenfassung der Walpurgisnacht"13 verstanden wissen will. Auf den Text von 1790 habe er deshalb verzichtet, weil er „in hinreichend zuverlässigen späteren Drucken" vorliege und weil er „eigentlich nur in entstehungsgeschichtlicher und biographischer Hinsicht von Interesse" sei.14 Andere Editoren, Ernst Grumach etwa oder Werner Keller, sind in diesem Punkte ganz anderer Ansicht; sie halten in ihren Ausgaben das Fragment von 1790 sowohl aus textgeschichtlichen als auch aus historischen Gründen für unentbehrlich.15 Der Faust-Text von 1790 stellt sehr wohl eine eigene, von früheren und späteren Stadien zu unterscheidende Fassung dar, die für das Verständnis des Goetheschen Faust-Projekts im Ganzen unverzichtbar bleibt. Entscheidend ist jedoch das Argument, daß von diesem Faust die erste mächtige Wirkung ausging und diese Fassung, im Gegensatz zu Schönes Walpurgisnacht-Ergänzung, einen von Goethe autorisierten Text darstellt. Eine gewisse Inkonsequenz - vielleicht auch ein Zeichen schlechten Gewissens - liegt zudem darin, daß die Frankfurter Ausgabe vor der Szene „Nacht" jenen bekannten Stich von Julius Heinrich Lips nach Rembrandt setzt, der einer unzuverlässigen Überlieferung zufolge Faust darstellen soll. Dieser Stich gehört aber editionsgeschichtlich zu dem Faw^-Fragment von 1790, also jenem Text, der von dieser Edition ausgeschlossen wurde.16 Bezeichnenderweise hat Goethe dieses Bildnis später nicht mehr mit seinem Faust assoziiert sehen wollen. Auch die Stuttgarter Ausgabe verzichtet auf den Faust von 1790, verzeichnet jedoch dessen Varianten zu Faust I. Bei Gaier, der 1989 einen aufwendigen Kommentar zum sogenannten „Urfaust" vorlegte, erscheint nun dieser Text unter dem Titel Faust in früherer Fassung. Er folgt hier Schöne, der dafür plädierte, den Titel „Urfaust" aufzugeben,17 weil er irreführend sei. Das Göchhausensche Manuskript, das sein Entdecker Erich Schmidt für den Faust in „ursprünglicher Gestalt" hielt, erfüllt, wie wir heute wissen, diesen Anspruch keineswegs. Alle drei Ausgaben bieten reichlich Material zur Entstehung. Die sogenannten Paralipomena, die zum Verständnis der Genese unentbehrlich sind, liegen jetzt in einer neuen kritischen Ausgabe von Anne Bohnenkamp vor.18 Sie wurden in den laufenden
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FA 7/1, S. 737 FA7/2, S. 67. Zu Grumach siehe Anm. II; J. W. von Goethe: Urfaust/ Faust. Ein Fragment/ Faust I. Ein Paralleldruck. 2 Bde. Hrsg. von Werner Keller. Frankfurt am Main 1985. In der vierten Auflage findet sich dazu, nach den Angaben zu der Abbildung des zweifelhaften FaustStichs, die folgende Erklärung: „Der Herausgeber der vorliegenden Ausgabe hat das dem Text des Fragment-Drucks von 1790 voranstehende Kupfer hier trotzdem reproduzieren lassen: er mochte dem Benutzer diesen wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Stich nicht vorenthalten und vertraut darauf, daß ,die Einbildungskraft des Lesers' von diesem einen Bild nicht gegängelt und eingeschränkt wird" (FA 7/2, S. 206). Freilich wäre hier zu betonen, daß gerade unter dem Gesichtspunkt der Wirkungsgeschichte der Text des „Fragments" von größerer Bedeutung war als die besagte Illustration und daß somit der Ausschluß des „Fragments" von der FA nur desto unverständlicher erscheint. FA7/2, S. 828. Anne Bohnenkamp: „...das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend". Die Paralipomena zu Goethes „Faust". Frankfurt am Main und Leipzig 1994.
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Kommentar der Münchner Ausgabe eingefügt; die Frankfurter Ausgabe druckt das ganze Corpus der Paralipomena nach Bohnenkamp; die Stuttgarter Ausgabe begnügt sich mit einer Auswahl. Damit komme ich zur Gretchen-Frage jeder neuen Faust-Edition: ,Nun sag', wie hast du's mit der Konstitution'? Will sagen: der Textkonstitution. Im Reclam Verlag hat man sich bei Faust I, wie billig, für eine vorsichtige, konservative Lösung entschieden: man folgt dem Beispiel der Frankfurter Ausgabe. Das heißt, es wurde die Taschenausgabe letzter Hand als Druckvorlage gewählt - also C1. Dieser Druck stellt den vom Autor am sorgfältigsten durchgesehenen, wenn auch keineswegs einwandfreien Text dar. Die Münchner Ausgabe geht einen anderen Weg und legt den von Ernst Grumach besorgten Text der Akademie-Ausgabe zugrunde; dieser stützt sich auf den Druck von 1808, bietet aber kritisch erarbeitete Verbesserungen. Auch bei Faust II gehen die drei Editionen getrennte Wege. Die Stuttgarter Ausgabe stützt sich für die zu Lebzeiten gedruckten Teile auf die Taschenausgabe letzter Hand, ansonsten auf die für den späteren Druck bestimmte Reinschrift H der gesamten Textmasse von Faust II. Die Frankfurter Ausgabe hingegen hält sich durchgängig an die Reinschrift mit der Begründung, daß sie „gegenüber den vorangegangenen Teildrucken den letztautorisierten [...] Text" biete.19 In diesem Bemühen um einen möglichst weitgehend autorisierten Text ist nun die Münchner Ausgabe einen Schritt weitergegangen. Uvo Kölscher, der für diesen Text verantwortliche Herausgeber, hat über H hinausgehend die neu aufgefundene Druckvorlage zu dem Druck des ersten Akts von 1828 herangezogen, eine von Goethe korrigierte Handschrift (CoDv). Die daraus resultierenden Differenzen im Faust-Text erstrecken sich überwiegend auf den Bereich der Interpunktion. Die aber muß ich hier aus Zeitgründen außer Betracht lassen, wiewohl gerade das Kapitel der „Commatisirung"20 für die Eigenart des Goetheschen Textes eine vorrangige Bedeutung hat.21 In diesem Zusammenhang erregte die Frankfurter Ausgabe das größte Aufsehen mit der Rückgängigmachung der Elision im finalen Chorus Mysticus: „Hier ist es getan". Schöne bietet seine ganze Eloquenz auf, um die metrische Unregelmäßigkeit vor den beiden änigmatischen Schlußzeilen des Werkes als die authentischere, weil in der Reinschrift bezeugte Lesart plausibel zu machen. Da ist vom „großen Versmeister unserer Sprache" die Rede und von der „großen rhythmischen Sensibilität"22, die sich hier manifestiere. Die Münchner Ausgabe und die Stuttgarter Ausgabe sind Schöne darin denn auch gefolgt. Angesichts der sonstigen Inkonsequenzen der Reinschrift ist aber eine Inkonsequenz des Schreibers an dieser Stelle nicht völlig auszuschließen. Im übrigen aber ist daran zu erinnern, daß man, wie Schöne selbst bemerkt, nie ganz sicher sein kann, „wie das Geschriebene und Gedruckte seinerzeit tatsächlich ausgesprochen worden ist oder ausgesprochen werden sollte".23 Mit anderen Worten, „ist
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FA7/2, S. 90. Brief an Karl Wilhelm Göttling, 10. Januar 1825. In: WA IV 39, S. 76. Vgl. dazu die besonders luzide Darstellung der Probleme bei A. Schöne (FA 7/2, S. 108-115). Ebenda, S. 816. Ebenda, S. 98.
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es" mag sehr wohl „ist's" ausgesprochen worden und auch so gemeint gewesen sein. Das hieße dann aber: Viel Lärm um nichts! Weit bedeutender scheint mir eine andere Emendation der Frankfurter Ausgabe: die Ergänzung der Szene „Grablegung" um neun Verse. Am Ende der Szene, nach Mephistopheles' Zeilen: „Die hohe Seele, die sich mir verpfändet/Die haben sie mir pfiffig weggepascht", kommen die „himmlischen Wetterbuben" (V. 11767) noch einmal zu Wort: „Liebe, die gnädige,/Hegende, tätige,/Gnade, die liebende/Schonung verübende/ Schweben uns von/Fielen der Bande/Irdischer Flor,/Wolkengewande/Tragt ihn empor". Wie schon Erich Schmidt vermutete,24 sind diese abschließenden Verse des Engelschores, die in dem Paralipomenon 203 überliefert sind, durch ein Versehen des Schreibers und Goethes nicht in die Reinschrift gelangt, wohin sie aber offensichtlich gehören. Die Stuttgarter Ausgabe übernimmt diese Ergänzung; die Münchner Ausgabe aber weigert sich, Schöne Gefolgschaft zu leisten. Hölscher-Lohmeyer findet es unwahrscheinlich, daß Goethe der Fehler entgangen sein könnte, und meint, daß durch die Einfügung der neun Zeilen ein „unsinniger Anschluß"25 zu der abschließenden Rede des Mephistopheles entstehe. Dem wäre jedoch entgegenzuhalten, daß Goethe, wie Grumach gezeigt hat, manche grobe Versehen unterlaufen sind; und was den angeblich unsinnigen Anschluß betrifft, so wäre zu bemerken, daß es sich hier nicht um ein Konversationsstück handelt, in dem die Wechselreden präzise gefügt zu sein hätten. Inzwischen hat sich aber die Situation weiter kompliziert. Wie anfangs erwähnt, hat Schöne in der vierten Auflage seiner Edition den Text einer nochmaligen Revision unterzogen. Das hatte für beide Teile des Faust Konsequenzen: „Für Faust I wurde [...] nicht mehr (wie in der 1. bis 3. Auflage) Goethes Taschenausgabe letzter Hand von 1828 zugrunde gelegt, sondern deren Setzervorlage". Dadurch konnten „einige eigenmächtige Eingriffe und Druckfehler der Cottaschen Setzerei" - leider wird nicht angegeben, wieviele und welche - „ausgemerzt werden".26 Diese Druckvorlage ist offenbar erst kürzlich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ans Licht gekommen. Faust II betreffend erfahren wir nun, daß eine Reihe von Fehlern - wieder wird verschwiegen, wieviele und welche - berichtigt wurden, und zwar aufgrund einer erneuten kritischen Durchsicht der Reinschrift H, die Martin Ehrenzeller vorgenommen hat; Ehrenzeller war anfänglich an der Vorbereitung von Faust II für die Münchner Ausgabe beteiligt. Das heißt nun aber, daß die vierte Auflage einen beträchtlich revidierten und korrigierten Text bietet! Der Jubel in den Feuilletons der Gazetten, als diese Ausgabe zuerst erschien, über den endlich authentischen Text27 kam also entschieden zu früh. Wer 24 25 26
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WA 115/2, S. 245. MA18/1, S. 1140. FA 7/2, S. 1137. Vgl. dazu Gustav Seibt: Goethes Faust in Albrecht Schönes sensationeller Edition. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.1994; Peter Schünemann: „Hauptgeschäft. Arbeit am Faust". Albrecht Schönes kommentierte Edition der Faust-Dichtungen. In: Neue Zürcher Zeitung, 17. 10. 1994; Rolf Michaelis: Goethe - eine Zumutung. Neuer Blick auf Faust: Anderthalb Jahrhunderte nach dem Tod des Dichters endlich der vollständige, von Selbstzensur und Herausgeber-Willkür befreite Dramentext. In: Die Zeit, 4. 11.1994; Jörg Drews: Dämonische Erfahrung auf jeder Seite. Anmerkungen zu einer aufregenden Neuausgabe von Goethes Faust. In: Süddeutsche Zeitung, 5./6. 11. 1994; Ernst Osterkamp: Unbedingte Tätigkeit macht zuletzt bankerott. Lebendiger nie: Goethes Dichtung gewinnt in Albrecht Schönes Edition und Kommentar ihre historische Gestalt zurück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literaturbeilage, 13. 12.1994.
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aber in dem Glauben, den denkbar besten Text zu bekommen, die beiden schönen Bände des Deutschen Klassiker Verlags erstand, hat Pech gehabt. Er darf jetzt noch einmal in die Tasche greifen; immerhin wird die revidierte Faust-Ausgabe zu einem Sonderpreis angeboten. Die Faust-Edition Schönes von 1994 rief eine lebhafte Fachdiskussion hervor,28 die der Münchner und der Stuttgarter Ausgabe zugute gekommen ist; beide nehmen darauf Bezug. Peter Michelsen unterzog den Text der Frankfurter Ausgabe einer kritischen Prüfung, die ein negatives Gesamturteil erbrachte. Dabei erneuerte er die Forderung Ernst Grumachs, alle relevanten Textzeugen zu berücksichtigen, um daraus den besten Text zu ermitteln, anstatt auf die diplomatische Wiedergabe eines privilegierten Überlieferungsträgers zu setzen. Michelsens Kritik läuft im Grunde auf den Ruf nach einer historisch-kritischen Ausgabe des Faust hinaus. Die eigentliche Zielscheibe seiner Kritik - sie trägt den bezeichnenden Titel „Diplomatik als Editionsprinzip" - ist jedoch die Orthodoxie von dem einen, allein seligmachenden Textzeugen. Michelsens Kritik zielt letztlich auf Siegfried Scheibe, den er als Urheber dieser neuen, nach seiner Überzeugung falschen Lehre namhaft macht. Durch die Blume gibt er zu verstehen, daß er dieses Prinzip der heutigen Editionswissenschaft für zu autoritätsgläubig hält, für eigentlich unkritisch - ein kleines, aber wohl untrügliches Indiz dafür, daß in diesem scheinbar unpolitischen, rein philologischen Streit das Erbe der deutschen Zweistaatlichkeit leise mitschwingt. In der Folge entspann sich zwischen Michelsen und Schöne eine leicht altfränkisch anmutende Polemik, in der die beiden Kontrahenten mit grimmigem Vergnügen begannen, vergiftete Pfeile aufeinander abzuschießen. Michelsen argumentiert, daß durch die Bevorzugung der Reinschrift alte, von früheren Herausgebern längst beseitigte „Fehler und Entstellungen" wieder zu unverdienten Ehren kämen, wie zum Beispiel in Vers 4965. Dort, in der Thronsaal-Szene - Faust spricht als Astrologe, Mephistoprieles bläst ihm ein -, heißt es der Frankfurter Ausgabe zufolge: „Ja! Wenn zu Sol sich Jupiter gesellt,/Zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt". So steht es in der Reinschrift, der zu folgen Schöne sich verpflichtet fühlt. In der Ausgabe letzter Hand steht jedoch „wenn zu Sol sich Luna fein gesellt" - eine Änderung, die vermutlich von Goethe stammt. Dies stimmt auch mit der überlieferten Alchemisten-Lehre überein, was Michelsen unter Berufung auf eine einschlägige, neuere Studie zu belegen weiß. Die Version Sol und Jupiter sei deshalb „schlicht unsinnig".29 In der vierten Auflage seines Kommentars repliziert Schöne, daß „entgegen den apodiktischen Behauptungen von Michelsen" die Konjunktion von Sol und Jupiter mitnichten unsinnig sei, wozu er auf eine Stelle in Agrippa von Nettesheims De occulta philosophia verweist, die zudem in Goethes Bibliothek nachgewiesen ist. Was Michelsens Kritik insgesamt betrifft, so beruhe sie auf „zweifelhaften Ermessensurteilen"; seine Forderungen an einen neuen Faust-Text würden bedeuten, „der Ermessenswillkür des 28
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Vgl. dazu P. Michelsen und R. Kassel (Anm. 8) sowie Vaget: Albrecht Schönes „Faust": Philologie, Exegese, Historic. In: Goethe Yearbook VIII (1996), S. 272-287; Gerwin Marahrens: Albrecht Schönes „Fausf'-Ausgabe. Eine Rezension. In: Goethe-Jahrbuch 114 (1997), S. 285-301. Peter Michelsen: Der Rat des Narren. Die Staatsratsszene in Goethes „Faust II". In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1996, S. 84-129,119.
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Editors Tür und Tor zu öffnen" und somit einem sogenannten Mischtext das Wort zu reden.30 Dem aber hält Michelsen entgegen, daß das diplomatische Editionsprinzip den Namen kritisch nicht verdiene. Dazu verweist er auf Erich Schmidt, der einmal knapp und bündig erklärte, er könne „im bloßen Herunterdrucken einer einzelnen Handschrift oder Ausgabe kein kritisches Verfahren sehen".31 In einer neuerlichen Replik bekräftigt Michelsen seine Lesart der Verse 4965 f. und bezeichnet die Version der Reinschrift als unhaltbar.32 An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, Thomas Mann zu zitieren, der im Doktor Faustus eine ähnlich ergebnislose, wiewohl aufschlußreiche Diskussion mit den Worten abbricht: „Hier kann ich nur ,Und so weiter' sagen.. ,"33 Übrigens drucken sowohl die Münchner Ausgabe als auch die Stuttgarter Ausgabe: „Ja! Wenn zu Sol sich Luna fein gesellt" - also die von Michelsen favorisierte Fassung. Eine letzte Anmerkung zu diesem Streit zweier hochverdienter und grundgelehrter Goethe-Experten: sie reden offensichtlich in entscheidenden Punkten aneinander vorbei. Michelsen zieht Schöne für etwas zur Rechenschaft, was dieser gar nicht zu leisten beabsichtigte - eine historisch-kritische Ausgabe des Faust. Deren Notwendigkeit wird aber von Schöne keineswegs bestritten. Schöne seinerseits verteidigt seinen editorischen Grundsatz des einen Textzeugen, wiewohl er sich zu zahlreichen Eingriffen in die Reinschrift genötigt sah, so daß von einer strikt diplomatischen Edition nicht mehr gut die Rede sein kann. Der augenfälligste Eingriff ist wohl jene Ergänzung des Engelschors um neun Zeilen; dieser wie auch seine anderen Eingriffe sind wohl begründet. Schließlich ist daran zu erinnern, daß die famose Reinschrift so rein gar nicht ist. Sie stammt von den Schreibern John und Schuchardt und weist Korrekturen nicht nur von Goethes Hand, sondern auch von Eckermann, Riemer und Göttling auf. Mit anderen Worten: die Reinschrift selbst taugt wenig zum Fetisch. Dies bedeutet aber: Schöne und Michelsen sind sich in der Praxis näher, als ihre theoretische Voreingenommenheit ihnen zu konzedieren erlaubt. Zum Abschluß möchte ich wenigstens einen kurzen, vergleichenden Blick auf den Kommentarteil der drei Ausgaben werfen. Die Zeiten, da Friedrich Beißner den Grundsatz vertrat, daß alles, was nicht zur Textwiedergabe gehört, im Grunde eine überflüssige „Zutat" sei, „die schnell veraltet", liegen weit hinter uns.34 Heute herrscht unter Editoren wohl Einigkeit darüber, daß der Kommentator in höherem Maße noch als der Textkritiker „Mittler des Autors und eigentlicher Sachwalter des literarischen Erbes" sei. So bestimmte Hans-Gert Roioff in seinem grundsätzlichen Aufsatz Zur Geschichte des editorischen Kommentars die verantwortungsvolle Rolle des Kom-
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Albrecht Schöne: Entgegnung auf Rudolf Kassels „Philologische Bemerkungen zu einer neuen ,Faust'Ausgabe". In: Goethe-Jahrbuch 114 (1997), S. 303-312, 310f. Michelsen (Anm. 29), S. 87. Peter Michelsen: Richtigstellung. In: Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 285. Thomas Mann: Gesammelte Werke. Bd. 6, S. 167. Friedrich Beißner: Vorbemerkungen des Herausgebers. In: Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. von F. Beißner und Adolf Beck. Stuttgart 1943-1985. Bd. I, 2 (1943), S. 321.
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mentators.35 Vermutlich würden alle drei Faust-Editoren diesem Satz zustimmen. Um so erstaunlicher ist, wie weit die drei Kommentare divergieren. Das beginnt schon bei der Anlage und der relativen Länge des Kommentars. Das Verhältnis von Kommentarumfang zu Textumfang beläuft sich, wenn man lediglich die jeweiligen Seitenzahlen heranzieht, in der Frankfurter Ausgabe auf etwa 2,5, in der Münchner Ausgabe auf 2,8, in der Reclam Ausgabe hingegen auf 4,1. Gaier fällt also aus der Reihe, was auf eine unterschiedliche Zielsetzung schließen läßt. Vereinfacht gesagt: während Hölscher-Lohmeyer und Schöne an der Vorstellung einer mehr oder weniger „richtigen", den Text begleitenden Auslegung festhalten, geht Gaier von der ,,multiple[n] Lesbarkeit" des Faust-Textes aus.36 Dies hat zur Folge, daß er einem sehr dichten „Akt-, Szenen- und Zeilenkommentar", der einen über tausendseitigen Band füllt, einen weiteren Band anfügt, in dem er verschiedene „Lesarten" des Werkes vorführt eine religiöse, eine naturphilosophische, magische, geschichtliche, soziologische, ökonomische, anthropologische und schließlich noch eine poetische. Es handelt sich dabei um deutende Durchgänge jeweils durch das ganze Werk. Eine Masse von Text also, die als eine Serie von thematisch geordneten Abhandlungen zu kennzeichnen ist, mit denen Gaier nach meinem Dafürhalten die üblichen Schicklichkeitsgrenzen des Kommentierens überschritten hat. Unwillkürlich kommt einem hier das Bild vom „intellektuellen Stabhochsprung der Kommentatoren" in den Sinn, mit dem Roioff solche exegetischen Anstrengungen charakterisiert hat.37 Es ist offensichtlich, Gaier möchte einen „neuartigen Kommentar"38 vorlegen, der sich nicht damit begnügt, Quellen und sogenannte Einflüsse zu erklären; vielmehr geht es ihm vorrangig um die Erhellung von Phänomenen wie Intertextualität und Parodie. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, daß es sich bei Goethes Faust um „einen Text über viele [andere] Texte" handelt und daß der „poetische Text" keineswegs nach Eindeutigkeit strebt.39 Damit bezieht Gaier eine Position an dem einen Ende des Spektrums möglicher Kommentierungsweisen, an dessen anderem Ende Schöne erklärt, ein Kommentar dürfe „sich nicht dem haltlosen Relativismus modischer Theorien" verschreiben; ein solcher Relativismus würde letztlich „allen Erklärungsversuchen die Bedingung ihrer Möglichkeit" entziehen, „indem er jede beliebige Lesart gleichberechtigt gelten oder den Wortlaut einer Dichtung so weit aufgehen läßt im ,intertextuellen Diskurs', daß eine ins Grenzenlose expandierende Fülle diffuser Bedeutungen ihn bis zur Unentzifferbarkeit destabilisiert".40 Diesem allen postmodernen Tendenzen abholden Credo setzt nun Gaier, nicht weniger programmatisch, entgegen, daß es das „gröbste und bornierteste Mißverständnis" sei, die „flächendeckende" Kommentierung gerade bei einem Text wie Faust, „dessen Autor die Poesie ,kommandiert' hat", zu verunglimpfen.41
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Hans-Gert Roioff: Zur Geschichte des editorischen Kommentars. In: editio 7 (1993), S. 1-17. SA II, S. 14. Roioff (Anm. 35), S. 16. SAH, S. 11. Ebenda, S. 13. FA 7/2, S. 144f. SAH, S. 15.
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Betrachten wir nun das, wie ersichtlich, kontroverse Problem des Kommentierens aus einem anderen Blickwinkel. Was darf als Mindestanforderung gelten, die an jede Art von Kommentar zu stellen ist? Wenn es das Ziel ist - ich zitiere noch einmal Roioff -, „die Phänomene literarischer Überlieferung jeweils immer wieder neu erfahrbar zu machen"42, so ist dem Kriterium der Sprache eine vorrangige Bedeutung zuzumessen. Ein Kommentar, der seine Aufgabe erfüllt, ist sachlich, hält sich an verifizierbare Informationen, ist luzide und leserfreundlich. Diese Bedingung wird am weitestgehenden von Schöne erfüllt. Seine Erläuterungen sind unverkrampft im Ton und richten sich an einen weltläufigen Leser von heute. Hier wird Mephistopheles unverblümt als „schwul" bezeichnet, die Grablegung gar als „eine haarsträubende Homosexualitätsposse". In der „Kaiserlichen Pfalz" ist die Menge, dem heutigen Sprachgebrauch entsprechend, „politikverdrossen", und Professor Wagner ist im Sinne der heutigen Wissenschaftsnomenklatur ein „Biochemiker". Diese und zahlreiche ähnliche Aktualisierungen sind zu begrüßen. Auch bei Gaier ist das Bemühen zu spüren, dem Leser entgegenzukommen. So bei der Formulierung seiner Maximen für das Geschäft des Kommentierens: „Sei bereit, dich von diesem Text immer wieder neu überraschen zu lassen" oder „Der Kommentar dient vielen verschiedenen Benutzern".43 Dieser löbliche Vorsatz wird im Stellenkommentar befolgt, in den sogenannten Lesarten scheint er aber weitgehend vergessen worden zu sein. Dort wird über weite Strecken eine literaturwissenschaftliche Ausgepichtheit vorausgesetzt, die allenfalls bei germanistischen Doktoranden anzutreffen ist. In der Münchner Ausgabe ist der Kommentar auf mehrere Herausgeber verteilt: den frühen Faust kommentiert Gerhard Sauder, das Fragment Hartmut Reinhardt und den Ersten Teil Victor Lange. Der Kommentar zum Zweiten Teil stammt von Dorothea Hölscher-Lohmeyer. Er zeichnet sich durch eine gewisse Privilegierung von Goethes naturwissenschaftlichen Vorstellungen aus sowie durch die Eleganz der Formulierungen. Freilich tut sich Hölscher-Lohmeyer mit der Aktualisierung des Historischgewordenen schwerer als ihre beiden Kollegen. Das mag damit zusammenhängen, daß die Betonung der Naturwissenschaften dazu verführt, die daraus für die Texterhellung gewonnenen Grundbegriffe in einem uns fremd gewordenen Vokabular zu beschreiben. Ein repräsentatives Beispiel: „Organismus ist für Goethe das biologische Muster eines Gesamt von Kräften, die auf ein herrschendes Zentrum bezogen sind, welches sich in diese als in seine Funktionen entfaltet".44 Ob damit, wie beabsichtigt, für das Verständnis der Personenkonstellationen im Faust etwas gewonnen ist, muß wohl bezweifelt werden. Nur scheinbar belanglos ist der Umstand, daß in der Münchner Ausgabe Text und Kommentar integraler Bestandteil ein und desselben Bandes sind, während sie in der Frankfurter Ausgabe auf zwei und in der Stuttgarter Ausgabe gar auf drei Bände verteilt wurden. Angesichts des zweifellos rascheren Alterns von Kommentaren mag sich eine solche Trennung als Vorteil erweisen. Das Beispiel der Frankfurter Ausgabe ist
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Roioff (Anm. 35), S. 15. SA II, S. 13f. MA18/1, S. 550.
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dafür instruktiv. Schönes Kommentar in der vierten Auflage weist gegenüber den früheren Auflagen, wie schon im Textteil, eine beträchtliche Anzahl von Berichtigungen und Ergänzungen auf. Jeder Kommentator kennt die Versuchung, der Assoziationslust freien Lauf zu lassen und dem Leser möglichst viele Lichter aufzustecken. In der Szene „Abend" zum Beispiel verlangt eine Szenenanweisung, daß Margarete „mit einer Lampe" auftritt. Für dieses Requisit lassen sich eine Reihe von Gründen denken. Victor Lange ignoriert dieses Detail. Ulrich Gaier meint etwas mysteriös: „Ihre Lampe beleuchtet [...] einen Selbstbestimmungsprozess."45 Schöne jedoch will es genau wissen: Margarete komme von einem gewissen Örtchen, welches sich nicht nur bei einfachen Leuten außerhalb des Hauses befunden habe; im übrigen sei dies als ein Zeichen der arglosen Natürlichkeit zu werten, die für sie charakteristisch sei. Ein Fall von editorischem „overkill", wie mir scheint. In der Auflage von 1999, in Reaktion auf bestimmte Rezensionen, korrigiert sich Schöne mit sympathischer Umstandslosigkeit und konzediert, seine frühere Erläuterung sei „unbedacht" und „abwegig" gewesen; Margarete komme wohl von einem „Abendschwatz" mit ihrer Nachbarin. Gewichtiger scheint mir eine Selbstkorrektur im vierten Akt; sie betrifft Sardanapal (V. 10176). In der ersten Auflage verwies Schöne auf Aristoteles, der hier einschlägiger sei als die gleichnamige Tragödie Byrons. Darin folgte er Hölscher-Lohmeyer46, die in ihrem Kommentar zu Faust II mit merkwürdiger Bestimmtheit versichert, der hier „übliche Hinweis" auf Byron sei „unergiebig". Gaier widerspricht und entfaltet in seinem Kommentar ein ganzes intertextuelles Netz, durch das Goethes Werk mit Byron vielfach verflochten sei. In der vierten Auflage seines Kommentars nun verweist Schöne, wiederum Kritik an seiner früheren Erläuterung aufnehmend,47 auf Byron und die weite Verbreitung der Sardanapal-Thematik im Frankreich der zwanziger Jahre. Fausts Ausruf: „Schlecht und modern! Sardanapal!" bekommt dadurch einen viel einleuchtenderen Sinn. Dies bringt mich zu einem Manko genereller Art, das bei allen drei Kommentatoren zu konstatieren ist: die Vernachlässigung des zeitgeschichtlichen Kontexts. Die Tatsache, daß die Partien des letzten Arbeitsstadiums, also vor allem der vierte Akt, im Kontext der Juli-Revolution von 1830 neukonzipiert wurden, wird in keinem der vorliegenden Kommentare adäquat bedacht. Dabei ist keinewegs strittig - die mitgeteilten Zeugnisse zur Entstehung belegen es -, daß Goethe unmittelbar nach der JuliRevolution den bis dahin gültigen Plan für die verbleibenden Partien, wie er in Paralipomenon 63 überliefert ist, änderte. Die Ereignisse von 1830 forderten von ihm die „größte Denkübung, die ihm am Schlüsse seines Lebens habe werden können".48 Diese „Denkübung" ist in die zuletzt entstandenen Partien eingegangen, wo mit großer, eigentlich unerwarteter Prägnanz von Revolution und Restauration gehandelt wird, von Kaiser und Gegenkaiser, von dem Nexus von Landbesitz und Herrschaft und von 45 46 47 48
SAH, S. 350f. Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Faust und die Welt. Der zweite Teil der Dichtung. Eine Anleitung zum Lesen des Textes. München 1975. Vaget (Anm. 28), S. 280; vgl. auch Peter A. Bloom/H.R. Vaget: „Sardanapal!" - The French Connection: Unraveling Faust II, 10176. In: Goethe Yearbook VII (1994), S. 252-270. Goethes Gespräche. 2. Teil. Hrsg. von Wolfgang Pfeifer-Belli. Zürich 1950, S. 718.
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Saint-Simonistischen Utopien. In diese vermeintlichen Niederungen der Zeitgeschichte aber will sich keiner der Kommentatoren begeben, weil es ihnen um vermeintlich Höheres geht. Ein Indiz dafür ist das Ungleichgewicht zwischen dem Raum, der in den Erläuterungen den fernliegenden antiken, biblischen und weltliterarischen Beziehungen gewidmet ist, und dem, der den näherliegenden zeitgeschichtlichen Kontext für die Faust-Lektüre zu aktivieren versucht. Doch auch hier unterscheiden sich unsere drei Ausgaben merklich, wie an einem anderen, aufschlußreichen Beispiel deutlich wird: dem Fall der Kindsmörderin Anna Katharina Höhn, die 1783 in Weimar hingerichtet wurde. Das Votum des Faust-Dichters im Geheimen Consilium gab den Ausschlag zu ihrer Verurteilung. Das Entsetzen darüber hat am einläßlichsten Sigrid Damm artikuliert.49 Die Frage scheint berechtigt, ob Goethes Votum für die Exekution der Kindsmörderin in irgendeiner Weise relevant ist für eine Lektüre des Faust heute. In der Stuttgarter Ausgabe und der Münchner Ausgabe wird dieses Problem ignoriert. Schöne hingegen widmet ihm einen längeren Kommentar50, in dem die juristischen und historischen Implikationen des Falls ausgeleuchtet werden. Kein Zweifel, daß dadurch die Margarete-Handlung beträchtlich problematisiert und so auch für den Leser von heute „neu erfahrbar" gemacht wird. Für Hölscher-Lohmeyer ist der Faust des Zweiten Teils kein individueller Charakter mehr, sondern „der Mensch von seiner entelecheischen Natur her gefaßt".51 Damit erübrigt sich also die Reflexion auf die Zeitgeschichte, wie überhaupt auf das individuell ideologische und moralische Profil Fausts. Und da sie dazu neigt, Goethes Faust nicht als etwas Gemachtes, sondern als etwas Gewachsenes zu betrachten, fällt die Tatsache, daß die zuletzt entstandenen Partien nach der Juli-Revolution neu konzipiert wurden, für sie einfach nicht ins Gewicht. Ulrich Gaiers verschwenderischer Kommentar, der zu allem Denkbaren etwas zu sagen weiß, bleibt gerade dort stumm, wo man am ehesten Aufschluß über zeitgeschichtliche Bezüge erwarten würde: in seiner geschichtlichen und ökonomischen Lektüre des Textes. Gleichwohl lohnt es sich in jedem Fall, Gaier zu konsultieren; sein Kommentar ist immer für eine Überraschung gut, d.h. eine unvermutete literarische Parallele zu Skakespeare, Rousseau, Byron, den mittelalterlichen Legendendramen und vieles andere mehr. Und wie bereits gezeigt, ist auch Albrecht Schöne nur widerstrebend bereit, Zeitgeschichte im Schlußteil des Faust in Erwägung zu ziehen; aber er als einziger der drei Kommentatoren tut es wenigstens ansatzweise. Schöne und Gaier sind, grosso modo, dem Lager der im Sinne Wilhelm Böhmes52 anti-perfektibilistischen Faust-Oeuter zuzurechnen. Fausts Utopie vom freien Volk auf freiem Grund ist für Gaier nichts als eine Selbsttäuschung, die im Lichte seines Wegs zum Weltbeherrscher ganz einfach absurd erscheint.53 Schöne seinerseits nimmt 49 50 51
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Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Frankfurt a. M. 1999, S. 81-97; vgl. auch W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar. München 1999, S. 7-12. FA 7/2, S. 196-201. MA 18/1, S. 1097. Wilhelm Böhme: Faust der Nichtfaustische. Halle/Saale 1933. SA III, S. 453.
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allen Lesern, die sich an Fausts finaler Parole berauschen wollen, den Wind aus den Segeln, indem er auf die Deutsche Encyclopädie von 1785 verweist und damit eine viel bescheidenere Deutung jener Zeilen vorschlägt, nämlich im Sinne einer Siedlergemeinschaft von sogenannten „Freysassen", den „alten Deichbauern an der Nordseeküste" vergleichbar.54 Kein Vorschein irgendeiner rosaroten Zukunft! Hölscher-Lohmeyer hält jegliche moralische oder ideologische Kritik an Faust für verfehlt, weil dieser nicht als verantwortungsvolles Individuum, sondern als Gattungswesen gefaßt sei. Demzufolge handle der fünfte Akt von der ,,existenzielle[n] Verschuldung der großen tätigen Lebenskraft, die in ihrer ihr aufgetragenen vollkommenen Verwirklichung sich fremde Welten zu eigen macht".55 Heißt das nicht: Der Fortschritt hat seine eigene Logik und Dynamik jenseits von Gut und Böse? So hält sie, unerachtet des anti-utopischen Zeitgeistes, an einer positiven Deutung der Rede vom freien Volk fest. Fausts letzte Worte sind ihr der „Entwurf einer sich exemplarisch bildenden menschlichen Gesellschaft, die als tätige auf selbstgeschaffener Erde, unter der ständigen allgemeinen Bedrohung des Elements, notwendig zu einem Gesamtindividuum zusammenwächst".56 Was unter einem Gesamtindividuum zu verstehen sei, bleibt unklar. Keine Unklarheit herrscht hingegen über den im Grunde traditionell affirmativen, perfektibilistischen Geist dieser Deutung. Angesichts der hier herausgearbeiteten konzeptionellen Vorentscheidungen wäre es unrealistisch, in den Kommentaren von Hölscher-Lohmeyer und Gaier eine Reflexion auf den historischen Ort ihrer eigenen Fawsi-Deutungen zu erwarten. Die Frage, was eine Edition dieses Werkes am Ende dieses Jahrhunderts mit dem Gang der deutschen Geschichte zu tun haben könnte, ob und wie in einem Kommentar zu Faust das in der Wirkungsgeschichte Goethes so markante Stadium der Zwei Staatlichkeit einzubringen wäre, bleibt nicht nur unbeantwortet, sondern auch ungestellt. Bei Schöne hingegen, der bei aller Leidenschaft für das rein Philologische sich letztlich als moralisch motiviert erweist, finden sich Ansätze dazu. Er hat ein ausgeprägtes Bewußtsein davon, daß die Benutzer seiner Edition eine „von ihren gemeinsamen Lasten beschwerte Erbengemeinschaft der deutschen Länder"57 darstellen, und er betrachtet es durchaus als seine Aufgabe, einen Faust für das einundzwanzigste Jahrhundert wenigstens in Umrissen kenntlich zu machen. Unverkennbar ist sein Bemühen, den Leser zu einer sowohl philologisch als auch historisch begründeten Nüchternheit im Umgang mit Faust anzuhalten. Dazu ist es vor allem nötig, Goethes problematische Figur dem großen Sog der perfektibilistischen Deutungstradition zu entrücken, vor allem aber die Droge Utopie wenn nicht ganz aus dem Verkehr zu ziehen, so doch drastisch zu rationieren. Im übrigen aber möchte er das sogenannte Nationalgedicht der Deutschen von seinen schwarz-weiß-roten, braunen und roten Übermalungen befreien, auf daß darunter das Goethesche Original, herrlich wie am ersten Tag, hervortrete, um seine segensreiche nationalpädagogische Wirkung zu entfalten. Diese
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FA 7/2, S. 748. MA 18/1, S. 1098. Ebenda, S. 1130. FA7/2, S. 41.
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besteht in der Erkenntnis, daß Goethes Faust zu den „ihr verbliebenen gemeinsamen Gütern " gehört, „welche die Erben nicht entzweien, sondern sie untereinander verbinden könnten".58 Faust mithin als eine Identität stiftende Kraft, die bewirken soll, daß zusammenwächst, was zusammengehört. Schöne - so viel ist klar - will als Kommentator nicht bloß Anmerkungen verfassen; er begreift sich als Entsorger und Restaurateur und auch ein wenig als Souffleur, der den Akteuren auf den Bühnen des kulturellen Lebens die richtigen Stichworte liefern will. Freilich stellt sich hier die Frage, ob das Modell von dem Goetheschen Original einerseits und seinen späteren Übermalungen andererseits für derart weitgesteckte Aufgaben taugt. Müßten jene Übermalungen, deren Gründe erst zu eruieren wären, nicht selbst Gegenstand der kommentierenden Reflexion sein? Nur so wäre ein Verständnis jener Fragen zu gewinnen, die durch das Schönesche Modell eher zu- als aufgedeckt werden: Stellt die Faust-Orthodoxie der DDR eine neue Übermalung dar oder wurden lediglich ältere Umfärbungspraktiken fortgeschrieben? War die den Fortschritt affirmierende sozialistische Deutung von Goethes Faust wirklich auf die DDR beschränkt, oder stieß sie auch anderswo auf Zustimmung - in der alten BRD zum Beispiel? Und wenn die fortschrittsoptimistische Exegese nicht auf den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden begrenzt war, so fragt sich, welche älteren Traditionen der Stilisierung und Pro domo-Auslegungen dabei zum Tragen kamen. Der Verdacht, daß Schöne der DDR anlasten möchte, was auf das Konto der ganzen deutschen Geschichte geht, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Ich bin am Ende meiner Analyse. Als Fazit ergeben sich zwei Desiderata: 1. Wir brauchen eine historisch-kritische Ausgabe zumindest des Goetheschen Faust gerade jetzt, da durch die drei vorliegenden Editionen der unbefriedigende Stand der Faust-Philologie mit schöner, nicht zu bagatellisierender Deutlichkeit manifest geworden ist. 2. Zu wünschen wäre eine knappere, schlankere Kommentierung, die sich durch eine neue Sachlichkeit auszeichnet - eine strengere intellektuelle Disziplin sowie ein klareres Bewußtsein von dem historischen Ort jeder Auseinandersetzung mit Goethes Faust.
58
Ebenda.
Karl Richter unter Mitwirkung von Herbert Wender" Vorüberlegungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Gedichten
Eine größere Einheitlichkeit der Vorstellung von den Aufgaben historisch-kritischer Ausgaben zu erreichen muß sicher zu den Bestrebungen heutiger Editionswissenschaft gehören. Uneingeschränkt werden sich diese Vorstellungen freilich nie normieren lassen. Dies nicht nur, weil der Spielraum unterschiedlicher Forschungstendenzen zum Fortgang der Wissenschaft gehört, sondern auch, weil das literarische Werk von Autor zu Autor mit unterschiedlichen Bedingungen konfrontiert. Ulfert Ricklefs betont in einem soeben erschienenen Beitrag beides: Die Editionswissenschaft habe bisher zu wenig „die Systematik historisch-kritischer Ausgaben zum Gegenstand editionstheoretischer Überlegungen und Kontroversen gemacht".1 Aber der Verfasser hebt mit Nachdruck auch hervor, „daß jeder Autor, jede Text- und Überlieferungslage, die je vorliegende Art der immanenten Poetik und der sachlichen, ästhetischen und historischen bzw. epochalen Referentialität der Texte spezifische und individuelle Lösungen erfordert".2 Nur um diese spezifischen und individuellen Bedingungen einer historisch-kritischen Ausgabe der Gedichte Goethes ist es den folgenden Überlegungen zu tun. Sie zielen nicht darauf ab, dieses Gedichtwerk der vorgefaßten Idee einer historisch-kritischen Ausgabe zu unterwerfen, sondern eher umgekehrt darauf, zu prüfen, welche Konsequenzen sich aus der Eigenart dieses Werks für die Ausprägung einer solchen Ausgabe ergeben. Die Betrachtungen betreffen dabei in besonderer Weise das Verhältnis von handschriftlicher und gedruckter Überlieferung, aber auch in hohem Maße Kontexte, die eine historisch-kritische Ausgabe abzubilden hätte. Für die Weimarer Ausgabe und die ihrem Text weithin folgenden Ausgaben, wie vor allem die Cotta-Ausgabe 1949-1969, die Artemis-Gedenkausgabe und die Berliner Ausgabe, löste der Rückgang auf die Ausgabe letzter Hand gleich mehrere Probleme der Präsentation der Gedichte. Für die zu Lebzeiten publizierten Gedichte Goethes hatte man damit eine einheitliche Textgrundlage. Man bot die Gedichte in einer von Goethe autorisierten Anordnung. Verwarf man die Praxis einer nachträglichen Einfügung von Gedichten in die von Goethe verfügten Abteilungen, mit der schon die sog.
1 2
Die Teile I-III verantwortet K. Richter, Teil IV H. Wender. Nicht weiter erläuterte Band- und Seitenangaben im Kontext der Ausführungen und in den Anmerkungen beziehen sich auf die Ausgabe J. W. Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe). Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. 21 Bände in 33 Teilbänden. München 1985-1998. Ulfert Ricklefs: Zur Systematik historisch-kritischer Ausgaben. In: editio 13 (1999), S. 1-22; S. 1. Ebenda.
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Karl Richter/Herbert Wender
Quartausgabe (1836-1837) begonnen hatte, so ergab sich eine logische Zweiteilung: Die nachgelassenen Gedichte wurden dem Textbestand der Ausgabe letzter Hand als eigenes Textkorpus nachgestellt. In seinen Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe? die die Fragment gebliebene Akademie-Ausgabe entscheidend fundierten, unterzog Ernst Grumach die Ausgabe letzter Hand als Textgrundlage einer grundsätzlichen Kritik. Er machte auf ihre nur eingeschränkte Autorisation aufmerksam, sofern Goethe Göttling die Überarbeitung weithin unkontrolliert überließ, auf die Gefahr einer damit verbundenen „Überfremdung",4 und zeigte dies vorwiegend an den Eingriffen in Goethes ursprüngliche Interpunktion. Wir mögen heute gelassener urteilen: das Recht des Lesers verteidigen, die Gedichte mindestens auch in der von Goethe zuletzt veröffentlichten Gestalt kennenzulernen, vielleicht sogar entdecken, daß die Eingriffe in weiten Teilen der Lyrik eher geringfügig sind. Doch eine Reihe grundsätzlicher Vorbehalte bleibt, auch über das Argument der eingeschränkten Autorisation hinaus: - Es gibt Kontinuitäten im Schaffen Goethes, aber auch einen tiefgreifenden Wandel vom jungen zum klassischen und dann zum alten Goethe. Der Wandel der Orientierung ist für die Textgestalt der Gedichte in der Reihe der von Goethe betreuten Editionen nicht folgenlos geblieben. Besonders groß ist deshalb der gewisse editorische Widerspruch, den jungen Goethe in Gestalt der Altersedition darzubieten. Doch analoge Diskrepanzen gelten, wenn auch entsprechend verringert, ebenso für spätere Phasen der Produktion. - Ein weiterer Aspekt hängt aufs engste damit zusammen. Goethe hat zahlreiche Gedichte mehrfach überarbeitet. Es gibt in solchen Fällen nicht den Text, sondern nur die Folge seiner Fassungen. Zumal die Textgestalt, die dem Zeitpunkt der Entstehung und ersten Wirkung am nächsten kommt, scheint uns heute mindestens so bedeutsam wie der Text in der Ausgabe letzter Hand. - In einem weiteren Punkt ist der wissenschaftliche Ertrag der Weimarer Ausgabe geradezu paradox. Sie macht erstmals differenziertere Angaben über die reiche handschriftliche Überlieferung. Für den Edierten Text selbst bleibt diese (weitgehend) folgenlos. In all diesen Punkten ging die Ausgabe Der junge Goethe, wie sie bereits 1875 von Salomon Hirzel und Michael Bernays konzipiert und erstmals realisiert, von Max Morris 1909 bis 1912 und von Hanna Fischer-Lamberg dann in den 70er Jahren noch einmal neu überarbeitet wurde, einen anderen Weg als die Weimarer Ausgabe. Sie bietet das Werk des jungen Goethe nach frühen Textzeugen. Sie präsentiert gerade die Gedichte nicht selten in mehreren Fassungen. Und von Ausgabe zu Ausgabe kann sie in größerem Umfang die Handschriften heranziehen. Vielleicht kann man die Aufgabe einer historisch-kritischen Ausgabe der Gedichte Goethes zunächst so beschreiben: das, was hier begonnen wurde, weiterzuführen und auf das Gesamtwerk der Gedichte auszudehnen. Und doch erweist sich diese Aufgabe genau besehen für das spätere Gedichtwerk als wesentlich komplizierter. Die Ausgabe Der junge Goethe bietet das Werk des 3 4
Ernst Grumach: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe NF 12 (1950), S. 60-88. Ebenda, S. 73.
Vorüberlegungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Gedichten
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vorweimarischen Goethe in chronologischer Anordnung, gegliedert nach kurzen Zeitabschnitten. Sie hat dabei keine Schwierigkeiten, die vergleichsweise kleinen Gedichtgruppen, die es schon in diesem Frühwerk gibt, dem chronologischen Schema zu integrieren (also das Liederbuch Annette, die Oden an meinen Freund, die Lieder mit Melodien [...] und die Neuen Lieder). Elisabeth Reitmeyer zeigt, wie Goethe selbst in der so bedeutsamen Sammlung der Vermischten Gedichte von 1789 Komposition und Chronologie - trotz mancher Freiheiten - noch zur Deckung zu bringen sucht.5 Aber sie zeigt auch, daß in allen späteren Sammlungen von der „Wahrung einer gewissen Chronologie" nicht mehr die Rede sein kann.6 Für den heutigen Editor liegt genau darin ein ganz zentrales Problem. Das einzelne Gedicht steht in unterschiedlichen Kontexten, die sich zugleich als Prinzipien der editorischen Anordnung anbieten. Es ist geprägt durch den biographisch-geschichtlichen Kontext, den Ort seiner Entstehung. Es steht andererseits im literarischen Kontext von immer größeren Sammlungen, die sich über die chronologische Folge hinwegsetzen. Beide Kontexte haben ihre eigene editorische Verbindlichkeit. Wie aber soll sich der Editor entscheiden, wenn sie sich, anders als im Fall des Jungen Goethe, nicht mehr zwanglos miteinander verbinden lassen? Das skizzierte Problem macht Fragen der Anordnung zum notwendigen Ausgangspunkt weiterer Vorschläge.
I. Fragen der Anordnung Betrachten wir zunächst die Möglichkeiten der Anordnung, die wir überhaupt haben, um gleichzeitig zu prüfen, was jeweils dafür, was dagegen spricht. In zweifacher Hinsicht legt das Gedichtwerk selbst eine chronologische Anordnung nahe. Zum einen spricht dafür ein erweiterter Begriff von , Gelegenheitsdichtung', wie ihn Goethe mehrfach für seine Gedichte insgesamt zur Geltung gebracht hat, so z.B. gegenüber Eckermann am 18. September 1823: „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden" (Bd. 19, S. 44).7 Goethe verankert die Gedichte damit in einem je eigenen biographisch-geschichtlichen Kontext. Er bringt diese Verankerung zum anderen auch so zum Ausdruck, daß er einen nicht geringen Teil der Reinschriften datiert. Die chronologische Anordnung ist eine der genuinen Möglichkeiten historisch-kritischer Ausgaben. Zu ihren Vorteilen gehört im Falle Goethes besonders auch die Dokumentation des literarischen Wandels, weiter die Möglichkeit, die zu Lebzeiten publizierten und die postum edierten Gedichte zusammenzuführen; zu ihren Problemen u.a. die Unsicherheit vieler Datierungen und dann vor allem die Auflösung der von Goethe
5 6 7
Elisabeth Reitmeyer: Studien zum Problem der Gedichtsammlung mit eingehender Untersuchung der Gedichtsammlungen Goethes und Tiecks. Bern und Leipzig 1935, bes. S. 49-51. Ebenda, S. 51. Vgl. ähnlich Bd. 13.1, S. 509 (Über Goethes Harzreise im Winter): „Was von meinen Arbeiten durchaus, und so auch von den kleineren Gedichten gilt, ist, daß sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmittelbaren Anschauen irgend eines Gegenstandes verfaßt worden, deshalb sie sich nicht gleichen, darin jedoch übereinkommen, daß bei besondern äußeren, oft gewöhnlichen Umständen, ein Allgemeines, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte."
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Karl Richter/Herbert Wender
in den Editionen komponierten Sammlungen. (Zum eigenen Problem der Zyklen, die auch innerhalb der chronologischen Folge nicht aufzulösen sind, später.) Goethe selbst hat sich in der Ankündigung der Ausgabe, die 1815 bei Cotta zu erscheinen begann (B), klar für dieses kompositorische Ganze und gegen die chronologische Anordnung entschieden. Er tut es im Bewußtsein des gegebenen Konflikts und in Jahren, in denen er auf verschiedenen Wegen gerade auch die biographisch-geschichtliche Folge seines Werkes immer wieder betont.8 In mehreren Beiträgen Über die Anordnung Goethescher Schriften hat Wilhelm Scherer in besonderer Weise gerade für die von Goethe veranstalteten Gedichtausgaben die Bewußtheit der Komposition gezeigt.9 Er belegt Goethes Bemühungen um ein „Ganzes", über das sich der Editor nicht hinwegsetzen dürfe.10 Elisabeth Reitmeyer, Karl Eibl und Regine Otto haben solche Einsichten seither weiter differenziert,11 allerdings auch gezeigt, wie weit Goethe die Struktur des erstellten Ganzen in der Abfolge der Ausgaben immer wieder umbildet. Der Ausgabe der Gedichte in S (Göschen 1789; auf der Grundlage der Sammelhandschriften H3 und H4) wird immer wieder eine besondere Kunstbewußtheit der Komposition nachgesagt. N (Unger 1792-1800) enthält das seither Entstandene und führt gleichzeitig Rubriken ein, deren Gefüge Goethe in den folgenden Ausgaben zwar noch erweitert und um neue Gedichte ergänzt, im übrigen aber beibehält. Die Ausgabe A (Cotta 1806-1810; Gedichte Bd. l, 1806) führt die Bestände von S und N zusammen. Mit den ersten beiden Bänden von B (1815) ist für die bis 1814/15 entstandenen Gedichte eine Anordnung erreicht, die so im wesentlichen auch in die Ausgabe letzter Hand (C'~3) übernommen wird, die dann ihrerseits in den Bänden 3 und 4 nur mehr das neu Entstandene hinzufügt. Die Struktur der Sammlungen unterliegt in der Folge dieser Ausgaben einem historischen Wandel, der sich in vielem zu unserer literaturwissenschaftlichen Periodenbildung in Beziehung setzen läßt: Faßt S die Gedichtproduktion an der Schwelle zur Klassik zusammen, so nimmt sich A wie eine Bilanz nach dem Ende der klassischen Periode aus, B als Zusammenfassung an markanter Stelle vor dem Beginn der Divan-Jahre, die Ausgabe letzter Hand als Summe des gesamten Schaffens aus der Perspektive der letzten Jahre. Aber natürlich kompliziert der mehrfache Wandel zugleich die editorische Abbildung der Sammlungsstrukturen, sofern man sich nicht auf den letzten Stand zurückzieht. Und doch sind die Sammlungen der Gedichte von der Göschen-Ausgabe (S) bis zur Ausgabe letzter Hand ein Faktum 8
In seinen Ausführungen „Über die neue Ausgabe der Goethe'sehen Werke" verwirft Goethe die chronologische Anordnung zwar, weil eine überzeugende „Zusammenstellung nach Jahren und Epochen keineswegs zu leisten sei" (Bd. 11.2, S. 210-213; S. 212). Immerhin teilt er ersatzweise dem Leser, der den Schriftsteller in der stufenweisen „Entwicklung seiner geistigen Bildung zu entdecken bemüht ist", die „Summarische Jahresfolge Goethescher Schriften" mit (Bd. 11.2, S. 249-255; S. 249). 9 Wilhelm Scherer: Über die Anordnung Goethescher Schriften. In: Goethe-Jahrbuch 3 (1882), S. 159-173; 4 (1883), S. 51-78; 5 (1884), S. 257-287. 10 Ebenda u.a. Goethe-Jahrbuch 5 (1884), S. 258. 1 ' Reitmeyer (Anm. 5). - Karl Eibl: Consensus. Eine Denkfigur des 18. Jahrhunderts als Kompositionsprinzip Goethescher Gedichtsammlungen. In: Literarhistorische Begegnungen. Festschrift für Bernhard König. Hrsg. von Andreas Kablitz und Ulrich Schulz-Buschhaus. Tübingen 1993, S. 29—41. - Regine Otto: Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789-1827. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. l: Gedichte. Hrsg. von Regine Otto und Bernd Witte. Stuttgart und Weimar 1996, S. 18-31.
Vorüberlegungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Gedichten
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von ausgeprägter literaturwissenschaftlicher wie editorischer Relevanz. Bereits Reitmeyer versteht die vom Autor vorgenommene Gruppierung der Gedichte zur Sammlung als „schöpferischen Akt".12 Eine solche Auffassung läßt sich auch auf einen erweiterten Werkbegriff weiterdenken: Nicht nur die einzelnen Gedichte, sondern auch die übergreifenden Gedichtarrangements erscheinen je anders als ,Werke', die editorisch darzustellen sind. Daß das freilich zunehmende chronologische Verwerfungen einschließt, wurde gesagt. Nun gäbe es - etwa nach dem Muster der von Erich Trunz herausgegebenen Hamburger Ausgabe - zweifellos auch die Möglichkeit einer literaturwissenschaftlichen Gruppierung, die einerseits nach geschichtlichen Perioden auffächert, andererseits teils in Anlehnung an von Goethe gebildete Gruppen, teils unabhängig davon - nach inhaltlichen oder formalen Gesichtspunkten weiter untergliedert. Ein solches Verfahren scheint sich anzubieten, geschichtliche und strukturelle Reihenbildungen in Grenzen auszusöhnen. Für Auswahlausgaben wie die Hamburger Ausgabe erweist es sich ohne Zweifel als erfolgreich und berechtigt. Für historisch-kritische Ausgaben dagegen ist es unbrauchbar, weil es auf weiten Strecken die historisch vorgegebenen Ordnungsmöglichkeiten sei es der konsequenten Chronologie, sei es der Sammlungen, durch die kompositorische Leistung des Herausgebers ersetzt. Bleibt also die Alternative von Chronologie und autorisierter Sammlung, aber mit ihr auch das Faktum ihres Widerstreits. Die jüngsten beiden Studienausgaben der Werke Goethes haben auf eigene Weise für das damit angedeutete Problem sensibilisiert. Sie zeigen den Preis, der mit der jeweiligen Entscheidung verbunden war. Die Münchner Ausgabe hat sich für die chronologische Anordnung der Gedichte entschieden, dabei freilich Zyklen und verwandte Gruppierungen nicht angetastet. Daß sie die Sammlungen als Ganzes nicht abbilden konnte, war die schmerzliche Folge. Karl Eibl in der Frankfurter Ausgabe hat bei der Darbietung des Frühwerks keine Schwierigkeiten, Chronologie und die aus dieser Zeit vorliegenden kleineren Sammlungen in Einklang zu bringen; er spricht teilweise sogar explizit von der geschichtlichen Folge unterschiedlicher „Gelegenheiten".13 Danach werden die in den Ausgaben vorliegenden .Ensembles' zum Prinzip der Anordnung: S und N (A wird übersprungen, weil sie zusammenfassend), B, schließlich die über B hinausgehenden Bände 3 und 4 der Ausgabe letzter Hand; Nachlaßgedichte werden als ,Nachlesen' angefügt. Opfert die Münchner Ausgabe die Struktur der Sammlungen (weitgehend) dem chronologischen Prinzip, so die Frankfurter Ausgabe viel an chronologischer Ordnung der Dokumentation der ,Ensembles'. Beide Ausgaben belegen auf je andere Weise die Wirksamkeit der komplementären Orientierungen von geschichtlicher Ordnung und Sammlungsstruktur. Beide zeigen aber auch die Schwierigkeit, sie zu verbinden. Doch könnte das Neue einer weiteren und anspruchsvolleren Ausgabe nicht gerade darin liegen, daß sie doch versucht, beidem Rechnung zu tragen? Jedenfalls plädiere ich hier für eine Ausgabe, die sich der eingangs umschriebenen Doppelforderung
12 13
Reitmeyer (Anm. 5), S. 1; ähnlich Regine Otto (Anm. 11), S. 18. Vgl. u.a. J. W. Goethe: Gedichte 1756-1799. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt am Main 1987 (Frankfurter Ausgabe I. Abt., Bd. 1), S. 730-734.
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Karl Richter/Herbert Wender
stellt: geschichtliche Ordnung und Erhalt der Sammlungen. Der innere Widerstreit beider Prinzipien läßt sich dabei nur so lösen, daß die Gedichte in zwei Reihen ediert werden. Zwei Varianten des Vorgehens sind dabei vorstellbar. Die chronologische Reihe der Gedichte (einschließlich der Zyklen) und die zu Lebzeiten edierten Sammlungen könnten in klar voneinander abgetrennten Folgen geboten werden. Im Sinne einer gewissen Vermittlung wäre aber auch denkbar, der chronologischen ,Hauptreihe' die edierten Sammlungen an zeitrichtiger Stelle einzufügen und als Supplementbände der Bandfolge zu integrieren. Das Nebeneinander bietet dabei die Chance, sowohl die handschriftliche als auch die gedruckte Überlieferung zur Geltung zu bringen. Der Apparat hätte die Aufgabe, in möglichst übersichtlicher Berichtform die editorischen Kommentare zu allen gebotenen Fassungen zu bündeln und die Varianz dieser Fassungen transparent zu machen. Die Vorstellung von dem einen Edierten Text freilich hätte man aufzugeben. Aber man hätte ein Arbeitsinstrument, das den sich abzeichnenden Bedürfnissen der Goetheforschung besser entspricht und das geeignet erscheint, weitere Forschungen auch von sich aus anzuregen.
II. Allgemeines zur Textgrundlage Die von Goethe autorisierten Editionen sind für den Editor eine wichtige Gegebenheit. Doch der beträchtliche Bestand an Handschriften, der sich erhalten hat, ist es mindestens ebenso. Der vorgeschlagene Modus der Anordnung würde, wie angedeutet, geradezu herausfordern, der chronologischen Reihe, soweit es sich machen läßt, handschriftliche Überlieferungsträger zugrunde zu legen. Die Ausgabe Der junge Goethe zeigt bereits, wie viel auf diesem Wege gewonnen wird. Für die Darstellung des ersten Weimarer Jahrzehnts käme den Sammelhandschriften H2, H3 und H4 zentrale Bedeutung zu, etc.14 Nur auf einen Beispielbereich möchte ich etwas näher eingehen, den ich aus eigener Anschauung besonders genau kenne: die lyrische Produktion der D/va«-Jahre von etwa Mitte 1814 bis 1819 (um deren textliche Darstellung in der Münchner Ausgabe sich Martin Ehrenzeller, Sabine Müller und Herbert Wender besonders verdient gemacht haben). Wir haben dabei den Divan einmal als Zyklus geboten (Bd. 11.1.2), seine Gedichte zum anderen - möglichst in früheren Fassungen - der chronologisch geordneten lyrischen Produktion dieser Jahre eingefügt (in Band 11.1.1). Es geht um rund 500 Gedichte und Gedichtfragmente. Die Betrachtung der D/v Bestand Arnim-Brentano, 03/446 Bl 5-6
AN SCHWAGER KRONOS (Spude dich, Kronos!...) WA 12,65-66
Abschrift F. Schlosser von Vers 39-116 WA: - —» Bestand Arnim-Brentano, 03/447 Bl 5-6
Frühere Fassung vgl. WA I 2, 309: Reinschrift egh unter dem Titel An Schwager Kronos in der Postchaise den 10. Oktober 1774 WA: H2 in Gedichtsammlung für Ch. v. Stein(?) -» 25/W 18 Bl 7
Druck von B Bd 2, 1815; Korrektur egh(?) = Druckvorlage zu C1 Bd 2,1827 WA: - -» 30/394 S 63-67 SEEFAitiRT (Lange Tag' und Nächte...) WA 12,72-73
Spätere Fassung WA I 2, 65-66: Reinschrift egh, Korrektur Herder = Vorstufe für Druckvorlage zu S Bd 8, 1789 WA: H4 -» 25/W 2 S 102-104 Druck von B Bd 2,1815 = Druckvorlage zu C1 Bd 2, 1827 WA: - -» 30/394 S 61-62 Vertonung von F. Schubert, Druck 32/119; in 32/120
in
WANDRERS STURMUED (Wen du nicht verlassest, Genius ...) WA 12,67-71 Reinschrift egh WA: H2 in Gedichtsammlung für Ch. v. Stein(?) -» 25/W 18 Bl 2-4 Abschrift L. v. Goechhausen von Vers 1-38 unter dem Titel Wanderers Sturmlied WA: Gö in Sammlung L. v. Goechhausens aus Gedichten und anderen Werken vor allem von Goethe (»Liederbuch«) -» Bestand L. v. Goechhausen, 24/11,6,2 Bl 23-24 Abschrift L. v. Goechhausen von Vers 1-38 unter dem Titel Wanderers Sturmlied WA: Gö in Sammlung L. v. Goechhausens aus literarischen Werken verschiedener Verfasser -» Bestand L. v. Goechhausen, 24/1,2 Bl 613-614
Reinschrift egh mit dem Inzipit Tag lang Nächte lang..., 11. 9. 1776 WA: H2 in Gedichtsammlung für Ch. v. Stein(?) -» 25/W 18 Bl 10-11 Abschrift L. v. Goechhausen von Vers 1-21 und 27-46 ohne Titel mit dem rnzipit Tage lang - Nächte lang... WA: in Sammlung L. v. Goechhausens aus Gedichten und anderen Werken vor allem von Goethe (»Liederbuch«) —» Bestand L. v. Goechhausen, 24/11,6,2 Bl 26-27 Reinschrift egh = Vorstufe für Druckvorlage zu S Bd 8, 1789 WA: H4 -» 25/W 2 S 105-107 Druck von B Bd 2,1815 = Druckvorlage zu C1 Bd 2, 1827 WA: - -> 30/394 S 68-69 ADLER UND TAUBE (Ein Adlersjüngling hob die Flügel...) WA 12, 74-75 Druck unter dem Titel Der Adler und die Taube mit dem Inzipit: Ein Adlerjüngling hob die Flügel... in Handexemplar Goethes von h3 Bd 4, 1779; vgl. WA I l, 368 -» 30/389 S 251-253
Anhang 3: Inventarseite aus dem Werkverzeichnis mit Beschreibung der Überlieferung zu dem Gedicht Wandrers Sturmlied im Goethe- und Schiller-Archiv
Manfred Koltes
Die Regestausgabe der Briefe an Goethe. Geschichte - Aufgaben - Stand Mit dem Abschluß der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken im Jahre 1919 standen der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit in einer bis dahin nicht gekannten Vollständigkeit die literarischen und naturwissenschaftlichen Werke Goethes, die Tagebuchaufzeichnungen und die von Goethe verfaßten Briefe für eine eingehende Beschäftigung zur Verfügung. Wenngleich insbesondere die „biographischen" Abteilungen der Weimarer Ausgabe, die Briefe Goethes und die Tagebuchaufzeichnungen, aus heutiger Sicht nur noch bedingt den Anforderungen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung genügen und eine Neubearbeitung daher sinnvoll erscheint,1 so blieb doch eine wichtige Quelle in der Weimarer Ausgabe von vornherein nahezu völlig unberücksichtigt: die an Goethe gerichteten Briefe. Bis heute liegt keine komplette Ausgabe der bei Goethe eingegangenen Briefe vor, obwohl deren Bedeutung für das Verständnis von Werk und Wirken Goethes zu allen Zeiten unumstritten war. Dabei wären die Voraussetzungen für die Erarbeitung einer fünften Abteilung der Weimarer Ausgabe in Weimar keineswegs schlecht gewesen, befinden sich doch mehr als 90% der an Goethe gerichteten Briefe in den Beständen des Weimarer Goethe- und Schiller-Archivs. Die Gründe für die unterbliebene Fortsetzung der Weimarer Ausgabe sind vielfältig. Tatsache aber ist es, daß für lange Zeit lediglich die Briefwechsel Goethes mit prominenten Zeitgenossen in den allgemein bekannten Einzelausgaben publiziert wurden. Es dauerte bis in die sechziger Jahre, bis das Unternehmen einer Publikation der kompletten Quellengruppe erneut ins Auge gefaßt wurde. Grundlage dafür waren die Arbeiten zur Neuerschließung des gesamten Goethe-Bestandes im Goethe- und SchillerArchiv unter Karl-Heinz Hahns Leitung. Dabei spielte die Tatsache, daß die ursprüngliche Ordnung von Goethes Privatregistratur in großen Teilen erhalten oder zumindest weitgehend rekonstruierbar war, eine nicht unwesentliche Rolle.2 Die Briefe, die Goethes beiden großen Autodafes zum Opfer gefallen waren, blieben selbstverständlich weitgehend unersetzbar. Gegen eine Veröffentlichung, die sich an den Vorgaben der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe orientierte, sprach letztlich aber die zu erwartende Masse der vorhandenen Briefe. Bei einer seinerzeit geschätzten Zahl von 19 000 erhaltenen An-Briefen, heute gehen wir von mehr als 20 000 Briefen aus, hätte selbst eine sparsamst annotierte Ausgabe im Stil vergleichbarer Briefeditionen bereits einen Umfang Auf die geplanten oder bereits begonnenen Ausgaben braucht an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden, da die Projekte einer Neuherausgabe der Tagebücher (vgl. S. 113-122) und der Briefe Goethes (S. 123-166) im Rahmen des Kolloquiums selbst zu Wort kommen. Vgl. Karl-Heinz Hahn: Einleitung. In: Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Hrsg. von KarlHeinz Hahn. Bd. 1. Weimar 1980, S. 9-32, hier S. 18.
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Manfred Kaltes
von etwa 80 Bänden (50 Text- und 30 Kommentarbänden) angenommen, damals wie heute Grund genug zu zögern. Die Entscheidung, alle an Goethe gerichteten Briefe im Zuge ihrer archivischen Erschließung in Regestform zu veröffentlichen, trägt nicht zuletzt dieser Tatsache Rechnung. Eine wesentliche Grundlage für diesen Beschluß war die Überzeugung, daß die zu erarbeitende Ausgabe nur dann sinnvoll eine Lücke in der Goethe-Forschung schließen konnte, wenn ausnahmslos alle verfügbaren Briefe berücksichtigt würden. Die Publikationsform als Regest stellt dabei einen Rückgriff, wenngleich in deutlich modifizierter Form, auf ein in der historischen Forschung seit langem geläufiges und bewährtes Verfahren dar, mit dem in erster Linie mediävistische Quellenbestände publiziert werden. Dort werden mit Hilfe des Regests hauptsächlich Inhalte von Urkunden in protokollarischer Form beschrieben, so daß sie sich ohne Hinzuziehen weiterer Hilfsmittel durch den Leser jederzeit inhaltlich rekonstruieren lassen. Der wesentliche Inhalt solcher, allein durch ihren Charakter als rechtsverbindliche Ausführungen bereits weitestgehend normierter Schriftstücke läßt sich auf diese Weise unter Einbezug aller im Schriftstück vorkommenden Namen, Orte und Daten in knapper Form wiedergeben.3 Für die Publikation der an Goethe gerichteten Briefe wurde dieses Verfahren verändert und ein eigenes, ebenfalls dreigliedriges Regestsystem entwickelt. Im sogenannten Regestkopf werden die Angaben zu Briefschreiber, Briefdatum, dem Entstehungsort des Briefes, der Lagerungsstätte des regestierten Briefes, zu eventuell existierenden Drucken, Teildrucken bzw. publizierten inhaltlichen Zusammenfassungen der Briefe, zu möglichen Bezugs- oder Antwortbriefen Goethes sowie zu Besonderheiten der Vorlage und Erwähnungen einer Beschäftigung mit diesem Brief in Goethes Tagebuch vermerkt. Der Regestkopf bietet somit formalisiert die wesentlichen Angaben für eine Einordnung des Briefes in die Goethesche Gesamtkorrespondenz und weist den Aufbewahrungsort der Handschrift nach.4 Der zweite Teil des Regests dient der inhaltlichen Erschließung, dem Referat aller wesentlichen Themen, der Fakten und der Daten des Briefes. Dazu ist es erforderlich, alle dem Leser nicht unmittelbar aus dem Inhalt des Briefes erschließbaren, meist im Brief nur indirekt signalisierten Themen zu erläutern. Hierzu gehören vornehmlich Informationen, die sich „ohne weitläufige Nachforschungen aus der ohnehin zu erarbeitenden umfassenden Kenntnis der Beziehungen Goethes zu dem jeweiligen Briefpartner ergeben" oder „um Anspielungen auf Tatsachen der allgemeinen Kunst-, Literatur-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte",5 sofern sie sich mit Hilfe wissenschaftlicher Nachschlagewerke ermitteln lassen. Im dritten Teil des Regests, dem Regestfuß, werden Informationen zu Anlagen und Beilagen des regestierten Briefes übermittelt, wobei unter Anlagen Schriftstücke nichtbrieflichen Charakters verstanden werden, während Beilagen eigenständige Briefe sind, die demzufolge mit einem eigenen Regest in der Ausgabe vertreten sind. Die Regestbände erscheinen seit 1980. Mit dem Erscheinen des sechsten Bandes der Ausgabe sind mehr als 10 000 Briefe publiziert, weitere etwa 10 000 Briefe werden für den Zeitraum bis 1832 erwartet. Der Umfang der einzelnen, chronologisch ge3 4 5
Vgl. hierzu ebenda, S. 25-28. Dies gilt auch für Handschriften, die sich nicht im Goethe- und Schiller-Archiv befinden. Hahn, Einleitung (Anm. 2), S. 27.
Die Regestausgabe der Briefe an Goethe
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gliederten Regestbände beträgt zwischen 1500 und 1850 Regesten; die entsprechenden Bezugs- und Antwortbriefe Goethes stammen dabei in der Regel aus jeweils vier bis fünf Bänden der Weimarer Ausgabe. An diesem Punkt ist aber festzustellen, daß eine vollständige Verzahnung der Regestausgabe mit der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe nicht möglich ist. Die Statistik für die Bände l bis 6 belegt, daß etwa 40% der An-Briefe in keinem Bezug zu einem Brief Goethes stehen. Den knapp 1400 Adressaten von Goethes Briefen stehen etwa 3500 Absender von Briefen an Goethe gegenüber. Ziel der Regestausgabe ist es, einen bislang noch nicht systematisch erschlossenen Teil des Goethe-Nachlasses erstmals vollständig zu erschließen und sämtliche an Goethe gerichteten, im Text teilweise oder vollständig rekonstruierbaren Briefe zu publizieren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, darauf zu verweisen, daß etwa 70 % der bislang in den ersten sechs Bänden der Regestausgabe publizierten Briefe aus dem Bestand 28 „Goethe - Eingegangene Briefe" im Goethe- und Schiller-Archiv stammen, etwa 25 % der Briefe aus anderen Abteilungen des Goethe-Nachlasses,6 weitere 4 % haben einen Lagerungsort außerhalb des Goethe- und Schiller-Archivs, und nur etwa l % aller regestierten Briefe liegen nicht im Original vor.7 Durch die Möglichkeiten, die Ordnung der Daten bei unverändertem Datenbestand beliebig zu verändern und neue Ordnungskriterien zugrunde zu legen,8 erfüllt die Datenbank der Regestausgabe für den Bereich der eingegangenen Briefe zugleich die Funktion eines Goethe-Inventars. Hierzu müssen lediglich, je nach Anfrageinteresse, die Signaturen oder die Absender zum Ordnungskriterium gewählt werden. Der Datenbestand wird dann nach einem anderen Ordnungskriterium präsentiert und eine neue Sichtweise auf die Daten erzeugt, die Datenbank selbst bleibt unverändert. Das Erscheinen des fünften Bandes der Regestausgabe stellte in verschiedener Hinsicht für das Unternehmen eine Zäsur dar. Neben personellen Veränderungen bot sich auch angesichts der veränderten technischen Möglichkeiten die Gelegenheit, Zwischenbilanz zu ziehen, das bisher Geleistete zu bewerten und das weitere Vorgehen zu überdenken. Das erste, allgemein sichtbare Resultat dieser Überlegungen war der „Ergänzungsband 1-5", der, Anregungen der Benutzer aufgreifend, die bislang regestierten Briefe durch zusätzliche Register erschließt. Neben dem Briefschreiberverzeichnis und dem Register der erwähnten Personen enthält der Band ein Register der Entstehungsorte der Briefe sowie ein Register der in den Regesten vorkommenden oder zur Erläuterung herangezogenen Goethe- bzw. allgemeinen Literaturwerke. An den spezifischen Benutzerwünschen ist klar ersichtlich, daß die Erschließung der an Goethe gerichteten Briefe zunehmend sowohl durch die Regesten als auch durch die Register erfolgen muß. Hintergrund dieser Forderungen ist zweifelsohne auch die Tatsache, daß die in
Von Goethe selbst gebildete „Sachakten" enthalten oft den kompletten Briefwechsel zu einer bestimmten Thematik, so daß sich hier die Briefkonzepte Goethes und die Originalbriefe der Partner versammelt finden. In der Regel handelt es sich hierbei um Briefe, deren Aufbewahrungsort heute nicht mehr nachzuweisen ist, die aber in der Vergangenheit über Auktionen angeboten wurden und deren Inhalt aus den Textabdrucken in den Katalogen zumindest teilweise rekonstruierbar ist. Den gedruckten Regestbänden liegt bekanntlich eine streng chronologische Ordnung der Briefe nach ihrem Entstehungsdatum zugrunde.
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den An-Briefen angesprochenen Themen so vielfaltig sind, daß sie nicht nur für den Goethe-Forscher zu einem wichtigen Quellenbestand werden. Zu einem vorläufigen Abschluß der Überlegungen und zur äußeren Umgestaltung der Regestausgabe führte der sechste Band, ab dem die Regestausgabe in zwei separaten Teilbänden erscheint, dem Regestteil, der in gewohnter Form die Regesten zu den eingegangenen Briefen enthält, und einem gesonderten Registerteil. Statt der beiden getrennten Personenverzeichnisse enthält dieser Band nun ein kumuliertes Personenregister, in dem sowohl die Briefschreiber als auch die in den Briefen direkt oder indirekt erwähnten Personen aufgeführt werden. Dabei wurde versucht, sämtliche Personen durch die Hinzufügung von biographischen Daten zu individualisieren. Neben dem Wunsch, einen verbesserten Benutzerservice zu bieten und die Informationen, die im Zuge der Regestierung ohnehin erarbeitet wurden, auch allgemein zu präsentieren, war es gleichzeitig auch die Einsicht, daß mit wachsender Datenmenge ein solcher Schritt unumgänglich ist. Zunehmende Namensdopplungen zwingen dazu, die Personendaten eindeutiger zu präsentieren, als dies bei einer bloßen Namensnennung möglich wäre.9 Nur am Rande sei hier erwähnt, daß diese Einsicht auch die großen Normdatenbanken, z.B. die von der Deutschen Bibliothek initiierte und betreute Personennamendatei (PND), eingeholt hat und auch dort, wenn möglich, der reinen Namensansetzung biographische Angaben beigefügt werden. Neben diesen Überlegungen, die zu äußerlich unmittelbar erkennbaren Veränderungen führten, fand auch innerhalb der Regestausgabe eine Bestandsaufnahme statt, die die Methode des Regestierens selbst zum Gegenstand hatte. Unstreitig war, daß sich das Verfahren, allen Zweiflern zum Trotz, generell bewährt hatte,10 daß gleichzeitig aber eine Präzisierung der Regestgrundsätze sinnvoll erschien. Ziel der Bearbeitungsgrundsätze ist der Versuch, die Wiedergabe der zu regestierenden Briefe methodisch zu fixieren, zum einen, um dem Bearbeiter die notwendige Sicherheit im Umgang mit dem Quellenmaterial zu geben, zum anderen aber auch um dem Benutzer einen Schlüssel an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe er die vorgefundene Information leichter bewerten kann. Aus diesem Grund wurden in eingehenden Diskussionen der Bearbeiter die bis dahin geltenden Bearbeitungsgrundsätze präzisiert und in dieser Form schriftlich fixiert. In verkürzter Form liegen diese Regestgrundsätze nun auch der Öffentlichkeit zur Einsichtnahme vor.11 Durch die Veröffentlichung der Grundsätze wurde gleichzeitig der Wunsch der Bearbeiter, eine größere Transparenz des Verfahrens zum Nutzen der Leser zu schaffen, in die Tat umgesetzt.
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Bislang wurden in den ersten sechs Bänden der Regestausgabe die Angaben zu mehr als 7500 unterschiedlichen Personen der Goethezeit erfaßt, darunter viele, deren Identität erstmals durch die Arbeiten an der Ausgabe ermittelt werden konnte. 10 Hiervon zeugen nicht zuletzt die zahlreichen weiteren Editionsprojekte, die seit dem Erscheinen des ersten Bandes ins Leben gerufen wurden und die sich methodisch entweder direkt oder indirekt auf die „Briefe an Goethe" berufen. 1 ' Arbeitsgrundsätze für die Gesamtausgabe der Briefe an Goethe in Regestform. In: Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitsgrundsätze des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar. Hrsg. von Gerhard Schmid. München u. a. 1996, S. 185-255. Der gleiche Text ist auch in elektronischer Form abrufbar unter http://www.weimar-klassik.de/download/Bestandserschliessung.pdf.
Die Regestausgabe der Briefe an Goethe
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Weitgehend unbemerkt für die Benutzer der Ausgabe vollzog sich ein technischer Umbruch. Waren die ersten fünf Bände noch in traditioneller Art gesetzt und gedruckt worden, so erfolgte die Manuskripterstellung beim „Ergänzungsband" erstmals vollkommen elektronisch, wobei selbst das Layout des Bandes durch die Mitarbeiter der Ausgabe erstellt wurde. Ein derartiges Vorgehen ist aber nur dann sinnvoll und wirtschaftlich, wenn die zum Satz des Bandes notwendigen Daten gleichzeitig für die Unterstützung der Regestarbeit in geeigneter elektronischer Form gehalten werden können.12 Dies bedeutet konkret, daß die Herstellung eines gedruckten Bandes nur eine von mehreren Formen der Datenverwertung ist. Die strukturierte, auf inhaltlichen Kriterien beruhende Codierung, wie sie im Falle der Regestdaten zur Anwendung kommt, erfüllt ohne Einschränkung die Anforderungen für ein künftiges cross media publishing. Es ist heute vielfach selbstverständlich geworden, daß Bestandsinformationen, wie die in der Regestausgabe erfaßten, auch über das Internet abrufbar gemacht werden. Gleichzeitig sind viele Verlage dazu übergegangen, neben ihren Print-Medien auch CDs als Ergänzung oder bereits als eigenständige Publikationen anzubieten. Insbesondere Werke mit einem starken Referenz- oder Nachschlagecharakter, wie dies auch für die Regestausgabe zutrifft, sind hiervon betroffen. Die künftige Zielsetzung für die Regestausgabe mußte sich daher auch an diesen Veränderungen und Forderungen von außen orientieren, wobei bemerkt werden muß, daß die wesentlichen Entscheidungen zu einem Zeitpunkt getroffen wurden, als diese Entwicklung erst in Ansätzen absehbar war.13 Da aber nach wie vor nicht vorauszusehen ist, wie die technischen Voraussetzungen sich entwickeln und welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen werden, bleibt als sichere Entscheidung in solchen Situationen nur die Festlegung auf ein offenes System zur Datenhaltung. Die Austauschbarkeit der Regestdaten wurde im Rahmen des EU-Archiverschließungsprojekts MALVINE nachgewiesen.14 Die Bearbeiter der Regestausgabe entschieden sich zur Verwaltung der Daten für das Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen (TUSTEP).15 Für die Datenhaltung wurde eine strukturierte Textdatei zu Grunde gelegt, die flexibler auf die Besonderheiten der Texte angepaßt werden konnte, als dies bei einem vorgefertigten Datenmodell der Fall gewesen wäre. Dieses System, das auch bei vergleichbaren Projekten zum Einsatz kommt,16 hat sich langfristig als erfolgreich erwiesen. Dabei bewährte sich besonders die plattformunabhängige Datenhaltung. Obwohl in der Zwischenzeit, tech12
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Im Rahmen der allgemeinen Bewertung der IT-Maßnahmen der Stiftung Weimarer Klassik wurde das IT-Konzept der Regestausgabe und dessen Umsetzung nach dem IT-Wibe-Verfahren geprüft und in seiner Wirtschaftlichkeit bestätigt. Vgl. auch Manfred Koltes: Elektronische Datenverarbeitung und Briefregesten. Überlegungen zur Einführung der EDV in einem laufenden Editionsprojekt. In: Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Hrsg. von Lothar Bluhm und Andreas Meier. Würzburg 1993, S. 155-163. Eine nähere Beschreibung dieses Projekts findet sich unter http://www.malvine.org/ oder im Internetangebot der Staatsbibliothek zu Berlin http://www.sbb.spk-berlin.de/deutsch/projekte/dienstleistung.htmlffmalvine. Eine Kurzbeschreibung des Leistungsumfangs von TUSTEP ist abrufbar unter http://www.uni-tuebingen.de/zdv/zrlinfo/tustep-des.html. Dort findet sich auch der Verweis auf andere Editionsuntemehmen, bei denen TUSTEP zum Einsatz kommt. Vgl. Pedro Gonzalez: Computerization of the Archive General de Indias. Strategies and Results. Hrsg. vom Council on Library and Information Resources, Washington und der European Commission on Preservation and Access. Amsterdam 1999.
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nisch bedingt, ein dreifacher Wechsel der Betriebssysteme (MS-DOS/VMS, Linux, Windows NT) erfolgt ist, können die digitalisierten Daten der Regestausgabe weiterhin uneingeschränkt genutzt werden. Damit erfüllt die Regestausgabe auch die Voraussetzungen für eine Langzeitarchivierung der Daten, wie sie unter anderem von der Text Encoding Initiative für geisteswissenschaftliche Textcorpora gefordert wird.17 Der Regestausgabe liegt seit dem sechsten Band die beschriebene strukturierte Textdatenbank zugrunde. Da die Herstellung der ersten fünf Bände noch im Bleisatz erfolgte, standen für diese Bände keine elektronischen Daten zur Verfügung. Diese mußten erst durch Einscannen der gedruckten Bände und aufwendiges Nachcodieren gewonnen werden. Inzwischen stehen aber auch diese Daten als strukturierte Textdatei bereit und erfüllen die oben erwähnten Bedingungen für eine Datenbank. Die theoretischen Ausführungen sollen im weiteren Verlauf an einem konkreten Beispiel illustriert werden. Die Bearbeitung der Regesten erfolgt jeweils bandweise. Im praktischen Ablauf der Regesterarbeitung wird zunächst für jeden zu regestierenden Brief im betreffenden Band eine eigene Mappe (Dossier) angelegt, die alle für den Brief einschlägigen Informationen aufnimmt. Dazu gehören neben der Karteikarte (Abb. 1), mit der die wesentlichen Lagerungsinformationen verwaltet werden, eine Kopie der Handschrift, gegebenenfalls die Transkription oder eine Kopie des Drucks. Im Verlauf der Arbeiten am Regest füllt sich diese Mappe mit weiteren erarbeiteten Informationen zum Brief. Während der Bearbeitungsphase bleibt die einmal vergebene Mappennummer die wichtigste Information zur Ordnung des Briefes im Band und für die Zuordnung der Registerinformationen. Aufgrund der gesammelten Informationen zum Brief wird das Regest nach den Regeln der Regestgrundsätze erarbeitet. Zu diesen Arbeiten gehört neben der Formulierung des Regesttexts gegebenenfalls auch die Suche nach Schriftstücken, die dem Brief ursprünglich beigelegen haben, sich jetzt aber an anderer Stelle im Archiv befinden. Es soll an dieser Stelle ausdrücklich daraufhingewiesen werden, daß die Erarbeitung des Regests natürlich nach wie vor die wichtigste Arbeitsstufe ist, auch wenn die hier vorgenommene Beschreibung des technischen Umfelds einen anderen Eindruck vermitteln mag. In diesem Bereich spielt sich die wissenschaftliche Arbeit an der Regestausgabe ab. Nach der Erstellung des Regesttexts wird dieser in den Computer übertragen und abgespeichert. Die Vorstellung, Daten intensiv zu codieren, assoziiert beim Leser in der Regel das Bild eines abstrakten Formelgebildes, das bei der täglichen Arbeit als strangulierendes Korsett die eigene aufgabenbezogene Kreativität diszipliniert. Daß dem nicht so sein muß, verdeutlicht die Vorgehensweise der Regestausgabe. Die zur Verwendung kommenden Codieranweisungen sind inhaltlich an den Bedürfnissen der Erschließungsarbeit ausgerichtet und erfüllen erst in zweiter Linie die für die technische Bearbeitung erforderlichen Kriterien. Rein formal sind sie den „Spitzklammermakros" von SGML, XML und HTML angeglichen.
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Vgl. zu dieser Problematik auch Fotis Jannidis: Wider das Altern elektronischer Texte: philologische Textauszeichnung mit TEL In: editio 11 (1997), S. 152-177.
Die Regestausgabe der Briefe an Goethe
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Bei der Erfassung der Daten kommen dieselben Kennungen oder Codierungen bei der Beschreibung und Klassifizierung der Informationen zum Einsatz, wie sie im Regest gefordert sind. Für den Regestkopf sind dies: , , , , , , , , , , , , {}, St. Bl. Kop.: , , ; für den Regesttext: , darin gegebenenfalls geschachtelt; ; für den Regestfuß: , , . In der Reihenfolge von oben nach unten stehen die Kennungen für die Regestnummer, die natürlich bis zur Fertigstellung des letzten Regests im Band unbesetzt bleibt, die Nummer der Mappe, in der der zu regestierende Brief und alle ihn betreffenden Informationen bis zum Abschluß der Arbeiten aufbewahrt werden, den Namen des Briefautors, das Datum des Briefes, den Absendeort, die Signatur, die Angabe zum Druck, den Bezugs- bzw. Antwortbrief18 Goethes, für Tagebuchvermerke Goethes sowie für Bemerkungen zur Vorlage für das Regest. Schließlich werden der Regesttext selbst sowie Anlagen und/oder Beilagen codiert.19 Die Codierungen bestehen jeweils paarig aus einer eindeutigen Anfangs- und einer Endekennung, in unserem Fall einer mnemotechnischen Abkürzung des Inhalts, in spitze Klammern eingeschlossen.20 Die Eingabe der oben aufgeführten Codierungen wird durch ein Tastaturmakro erleichtert, das dem Bearbeiter eine eigene Eingabemaske zur Verfügung stellt. Die verwendete Form der Codierung erlaubt es den Bearbeitern, beliebig viel Text zwischen die jeweilige Anfangs- und Endekennung zu schreiben, Einschränkungen sind lediglich sachlicher Art (in bezug auf die Regestgrundsätze) und nicht technisch bedingt. Gleichzeitig erlaubt diese Form der Codierung es aber auch, keine Informationen zwischen einem Codepaar einzugeben, was je nach Art der Information nach den Regestgrundsätzen zulässig ist oder nicht. Für diese Abprüfung wurde ein einfacher Parser21 entwickelt, der die formale Gültigkeit der eingegebenen Daten gemäß den Regestregeln abprüft. Dieser Parser erzeugt schließlich zusätzlich einen Ausdruck des bearbeiteten Regests, indem die inhaltlichen Codierungen der Regestausgabe nun in die von TUSTEP vorgesehenen Steuerzeichen für den formalen Umbruch und die Textgestaltung umgewandelt werden. Dabei wird gleichzeitig überprüft, ob die inhaltlichen Codierungen vollständig vorhanden sind und in einer für die Regestausgabe vorgeschriebenen Form behandelt wurden. Bei den Pflichtangaben im Regestkopf wird überprüft, ob entsprechende Angaben gemacht wurden; fehlen sie, erfolgt eine expli18
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Bezugsbriefe Goethes sind Briefe Goethes, die den regestierten Brief ausgelöst haben, Antwortbriefe Goethes wurden durch den regestierten Brief ausgelöst. Die Identifizierung der Goethe-Briefe erfolgt in der Regel nach der Weimarer Ausgabe. Die Angaben zu „Incipit", Umfang, Mitgeschicktem und sonstigen Texten auf der Handschrift werden zusätzlich erfaßt, für die Regestausgabe aber nicht ausgewertet. An den eigentlichen Text schließen sich die Registereinträge an, die je nach Registerart codiert sind: *erp (für erwähnte Personen; *awr (für allgemeines Werkregister) und *gwr (für Goethe-Werkregister). Parser sind Programme, die Daten auf formale Gültigkeit abprüfen. Dabei wird rein mechanisch die Einhaltung von Regeln geprüft, die entweder vom Benutzer selbst definiert sind oder durch anerkannte Standards festgelegt werden.
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zite Fehlermeldung im Ausdruck. Codierungen, die nicht benötigt wurden und die generell fehlen dürfen, werden dagegen für den Ausdruck unterdrückt. Wichtig im Hinblick auf die künftige Datenbank ist es, zugleich sicherzustellen, daß keine doppelten Datensätze in die Hauptdatei eingehen, da dies die Datenintegrität verletzen würde. Auch dies wird im Rahmen des Programmlaufs abgeprüft. Am Beispiel eines Briefes des Leipziger Kunsthändlers Johann Gottlob Stimmel, von dem Goethe u.a. orientalische Manuskripte für die Weimarer Bibliothek erwarb, soll hier die Arbeitsweise der Regestausgabe erläutert werden. Dieser Brief ist als Nummer 912 im sechsten Band der Regestausgabe abgedruckt. Grundlage für die Bearbeitung des Briefes ist die Karteikarte, auf der die archivalische Aufbewahrungseinheit des Briefes (GSA 33/1139), die laufende Nummer innerhalb der Korrespondenz mit Goethe (9b),22 der Name des Briefschreibers, das Datum des Briefes (18. Februar 1814) sowie der Absendeort angegeben sind. Zusätzlich findet sich auf der Karte der Hinweis, daß der Brief im Schreckenbachschen Autographenverzeichnis23 unter der Nummer 1633 geführt wird.
Abbildung 1: Karteikarte mit Bestandsinformationen
Diese Karteikarte wird zusammen mit einer Kopie der Handschrift (Abb. 2) in die Regestmappe (Nummer 2304) aufgenommen. Da der vorliegende Brief bislang nicht publiziert worden ist, wird der Mappe darüber hinaus ein Ausdruck der Transkription beigelegt.24 Diese Transkription wurde zuvor in einem eigenen Arbeitsgang erstellt. Auf dieser Grundlage beginnt die Regestierung mit der Ermittlung der Angaben für den Regestkopf.
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Die b-Nummer resultiert aus der Tatsache, daß dieser Brief erst nach der Erstellung der Korrespondenzreihung ermittelt wurde. Hans-Joachim Schreckenbach: Goethes Autographensammlung. Katalog. (Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft). Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Weimar 1961. Diese Transkriptionen sollen künftig in geeigneter Form auch den Benutzern zugänglich gemacht werden, wenngleich es sich dabei nicht um editorisch aufbereitete Texte handelt.
Die Regestausgabe der Briefe an Goethe
Metroes
Abbildung 2: Brief Johann Gottlob Stimmeis an Goethe vom 18. Februar 1814 (GSA, 33/1139)
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Der Brief an Goethe ist datiert (18. Februar 1814) und wurde vom Briefschreiber mit einem Absendeort versehen. Da das Datum des Briefes in der Regestausgabe eine „referierte Angabe" ist, wird die Plausibilität des Datums überprüft. Dies führt insbesondere bei Briefen aus der Zeit nach einem Jahreswechsel zu „Korrekturen", wenn die Briefschreiber aus Gewohnheit noch die alte Jahreszahl auf dem Brief vermerken. Da im vorliegenden Fall die angegebenen Informationen plausibel und durch den Hinweis in Goethes Tagebuch abgesichert sind, können diese Angaben unverändert übernommen werden. Die im Brief erwähnten Handschriften sind in Goethes Autographensammlung eingegangen und im Katalog von Schreckenbach nachgewiesen. Bei der Übertragung des Regesttexts in die Datei werden die registerrelevanten Informationen im Anschluß an den Regesttext explizit angeführt; in diesem Fall die Namen der vier im Brief erwähnten Personen. Damit wird sichergestellt, daß diese Informationen bis zur Erstellung des endgültigen Registers mit dem Regest, d.h. konkret mit der Mappennummer, verbunden bleiben. So ist es auch möglich, jederzeit während der Bandbearbeitung Rohregister zu erstellen, die einerseits als Arbeitshilfe für die weiteren Regestierungsarbeiten, andererseits aber auch als Überprüfungshilfe für eine gleichförmige Ansetzung der Lemmata verwendet werden können.
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