134 107 4MB
German Pages [754] Year 2008
Alexander von Pechmann
Autonomie und Autorität Studien zur Genese des europäischen Denkens
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997222
.
B
Alexander von Pechmann Autonomie und Autorität
ALBER PHILOSOPHIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Zu diesem Buch: Die Frage nach der Identität Europas ist heute nicht nur von politischer Bedeutung, sondern zunehmend auch von kulturellem Interesse. Dieses Buch untersucht, wie sich im Abendland eine spezifische Gestalt des Wissens formiert hat. Dies geschieht zunächst anhand des Begriffs der Autonomie, nach der in Griechenland die Wissenschaften in Absetzung vom Mythos als eine selbsttätig-durchsichtige Veranstaltung konzipiert wurden; sowie anhand des Begriffs der Autorität, nach der in römischer Tradition Wissen an die auctoritas von Personen gebunden war. Auf diesem griechisch-römischen Hintergrund werden dann die Theologie Augustins, die maßgebend für das Denken im Mittelalter war, die Neubegründung der Wissenschaften durch Descartes am Beginn der Neuzeit sowie die Philosophie Kants als Repräsentantin des modernen Denkens rekonstruiert. Die Arbeit versteht sich als epistemologischer Beitrag zur Diskussion um den Charakter des europäisch-westlichen Denkens. Der Autor: Alexander von Pechmann, PD Dr., geb. 1950, Privatdozent für Philosophie an der Universität München; Studium der Philosophie, Volkswirtschaft, Politikwissenschaft und Soziologie an den Univ. Regensburg und München, 1981 Promotion, 2006 Habilitation und Venia legendi. Seit 1981 Dozent für Philosophie und politische Bildung an Volkshochschulen, Referent im Rahmen der Lehrerfortbildung in Bayern, Mitherausgeber des Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie. Buchpublikationen: Die Kategorie des Maßes in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ (1980), Magie, Matriarchat und Marienkult. Frauen und Religion (1989), Politische Theorie. Quellen- und Arbeitsbuch für den Sekundarbereich II (1989 ff.), F. W. J. Schelling. Das Tagebuch 1848 (mit H. J. Sandkühler, M. Schraven, 1990), Der global verstrickte Mensch. Neues Handeln aus anthropozentrischer Verantwortung (mit O. Schwarz, 1995).
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Alexander von Pechmann
Autonomie und Autorität Studien zur Genese des europäischen Denkens
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2008 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48302-2
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Vorwort
Anlässe, Europas Identität zu suchen, gab es in der jüngeren Geschichte dieses Kontinents reichlich. Die Umwälzung des europäischen Staatensystems durch die französische Revolution hatte die romantische Hoffnung auf die Erneuerung vergangener Christianitas ebenso geboren, wie sie die Idee Europas als des Hortes der Vernunft und des Ortes des zu sich gekommenen Geistes hervorbrachte. Die Zeit des imperialistischen Aufbruchs der europäischen Nationen am Ende des 19. Jahrhunderts ließ die Vision eines neuen, kraftvollen und machtbewussten Europas im Kampf um die Weltherrschaft entstehen, die Friedrich Nietzsche so beredt und wirkungsvoll in Szene gesetzt hat. Doch die gewaltsamen Ausbrüche dieses Kontinents endeten in einer bis dahin unvorstellbaren Barbarei, und die Träume von der künftigen Größe Europas wichen jäh dem Bewusstsein der Krise, der geistigen Spaltungen dieses Kontinents. Europa erschien nun mehr nicht als der Ort des Geistes, sondern einer entgrenzten und geistlosen technischen Vernunft, die in ihrem Zerstörungs- und Vernichtungswerk sich selbst feierte. Nach den zwei großen ›Bürgerkriegen‹ des 20. Jahrhunderts blieb Europa zwar ein politisch und ideologisch gespaltener Kontinent. Doch erst jetzt begann der eigentliche Siegeszug des europäischen Denkens: unter den Ideen der ›Freiheit‹ in der Ersten und des ›Sozialismus‹ in der Zweiten Welt, die sich beide ihrer Herkunft aus den Werten und Normen der europäischen Tradition versicherten, wurden die Gesellschaften der anderen Völker politisch und kulturell umgestaltet. An die Stelle vormaliger christlicher Missionsschulen und englischer und französischer Offizierskasinos traten jetzt die Tankstellennetze der amerikanischen Ölkonzerne und die sowjetischen Elektrizitäts- und Stahlwerke, die von der Größe und Macht des europäischen Geistes kündeten. Große Teile des asiatischen Kontinents wurden nach den Lehren von Marx und Engels modernisiert und Japan stieg als Teil des freien Westens zu einem Zentrum der Hochtechnologie auf. Indien wandelte sich zu einer parlamentarischen Demokratie und in Afrika setzte der konfliktreiche Prozess A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
5
Vorwort
der Staaten- und Nationenbildung ein. Am Ende des Jahrhunderts hatte die europäische Kultur die Welt erobert. Doch gerade der globale Erfolg europäischer Rationalität wurde in dieser Zeit zum Problem. Die Idee der Inkompatibilität dieses Denk- und Handlungsmusters mit den Lebensbedingungen der menschlichen Gattung drang unwiderstehlich ins Bewusstsein. Sie kreierte nicht nur neue Begriffe wie »ökologische Katastrophe« und »Nachhaltigkeit«, die diese Unverträglichkeit ausdrückten; sie forderte auch ein grundlegendes »Umdenken«, das der »Club of Rome« so exemplarisch wie eindringlich anmahnte. Am Beginn des neuen Jahrtausends schließlich mehren sich die Zeichen, dass die globale Krise der Ökologie mit einer Krise der Ökumene zusammenwächst. Der crash des Welthandelszentrums könnte vom clash der großen Kulturen künden. Er deutet auf Grenzen des europäischen Denkens hin. Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund kann sich die Suche nach der Identität Europas nicht mehr auf das politische Problem der europäischen Selbstfindung beschränken. Sie muss sich auch als Frage nach der Verfasstheit eines Denkens verstehen, das mit dem Anspruch angetreten war, die Probleme des Menschen wie der Menschheit zu lösen, das nun aber durch seine unübersehbaren Erfolge selbst zum Problem geworden ist. »Die Aufklärungsbewegung«, so skizzierte H.-G. Gadamer im Rückblick diesen Weg, »die in der griechischen Antike einsetzte und dann mit dem 17. Jahrhundert zur bestimmenden Realität wurde, betreibt mit unausweichlicher Folgerichtigkeit die Umarbeitung der Natur in eine technische Produktionsstätte. Was daraus werden wird, weiß niemand.« 1 Dieser Unausweichlichkeit trägt auch die heutige Philosophie Rechnung. Das heroische Zeitalter der großen Systeme und Gesten, in denen das europäische Denken zum Bewusstsein seiner ihm eigenen Größe und seiner historischen Mission gekommen war, ist vorbei. Ob der europäische Geist sich in den Strukturen der modernen Wissenschaften zeigt oder in der Tradition und Lebenswelt europäischer Kultur; ob er sich in der rationalen Gestaltung des Gegebenen äußert oder aber in der besinnenden, kritischen und selbstkritischen Reflexion aufs Gegebene – diese Grundsatzdiskussionen sind Vergangenheit. Die Philosophie ist nach all diesen Kämpfen ums Ganze müde und zum akademischen Fachbetrieb geworden: ihr Geist ist 1
6
H.-G. Gadamer 1993, 69 f.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Vorwort
vergraben in die Sichtung, Vergleichung und Vertiefung der Text gewordenen Stimmen aus ihrer Geschichte oder zeigt sich bemüht, unzeitgemäßen Ballast abzuwerfen, um die philosophischen Problem- und Themenlagen gegenüber den globalen und technischen Entwicklungen anschlussfähig zu halten. So ist im nachheroischen Zeitalter die Philosophie bescheiden geworden, und alles erscheint möglich; über ihre Themen entscheiden weitgehend externe Problemlagen und der internationale Markt. Die Philosophie ist heute, wie der amerikanische Philosoph N. Rescher berichtet, »eine Angelegenheit von Moden und Trends, die von gewichtigen Kundenkreisen ausgelöst werden, die ihrer eigenen Wege gehen, ohne von Individuen geführt zu werden, die die Agenda kontrollieren.« 2 Sie ist vom Gestalter ihrer Sache zu deren Verwalter geworden. Manch kritischer Geist wendet sich ab und sucht außenseiterisch den Sinn in der Sorge um sich selbst oder in der Kommunion mit dem Kosmos und der Natur. »Europa« jedenfalls scheint nicht mehr der Ort lebendigen und selbstbestimmten Philosophierens zu sein. Die vorliegende Studie ist von diesen Entwicklungen nicht unbetroffen geblieben. Sie beansprucht nicht, gewisse klassisch gewordene Grundlegungen der Philosophie historisch oder systematisch zu rekonstruieren. Sie will nicht mehr zum besseren Verständnis dessen beitragen, was die Autoren gedacht haben, um so vielleicht besser zu verstehen, wer ›wir‹, als Europäer, sind. Angesichts der genannten Problemlage muss dieser Wunsch als unangemessen selbstgenügsam oder selbstgefällig erscheinen. Die Arbeit lässt sich aber auch nicht einreihen in Unternehmungen einer Kritik, die das, was das Identische und Bestimmende des europäischen Denkens wäre, als irrig zurückweist, die solch Identisches als bloßes Ideologem dekonstruiert oder nach verschütteten Quellen dieser Tradition gräbt. Das Anliegen der Studie ist ein anderes: sie versucht den Blick von außen. Sie will den Grundmustern des europäischen Denkens in ihrem status nascendi nachgehen; sie will nachvollziehen, wie es geschah, dass gewisse Gedanken sich so verfestigt haben und so prägend wurden, dass sie in epistemischer Hinsicht zu ›Wahrheiten‹ wurden. Sie möchte diejenigen Strukturen aufsuchen, die dem europäischen Denken nicht nur seine Identität, sondern auch die Dynamik implantiert haben, die mit dem Erfolg dieser Denkweise das Konflikt- und Gefahren-
2
N. Rescher 1995, 786. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
7
Vorwort
potential hervorgebracht hat, mit dem die Menschheit heute konfrontiert ist. In methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Arbeit nicht auf die Untersuchung gewisser Autoren oder Ideen zielt, um die Vielschichtigkeit ihrer Werke oder die Herkunft und Wirkung der Begriffe zu erschließen beziehungsweise sie in ihre – wie immer geartete – Fragwürdigkeit zu zerlegen. Sie verfährt also weder hermeneutisch noch kritisch. Ich bezeichne die verwendete Methode als »epistemologische Rekonstruktion«, weil nachvollzogen werden soll, wie überhaupt gewisse Gedanken bzw. Sätze den Status von »Wissen« erhalten haben und zu bestimmenden Prinzipien oder Grundsätzen des Denkens wurden. Es geht daher weder um Personen, die gewisse Gedanken hatten, noch um Ideen, die von gewissen Personen gedacht wurden, sondern darum, wie gewisse Gedanken oder Sätze in epistemischer Hinsicht verbindlich für das Denken wurden. Anhand ausgewählter Sätze und Denkmuster soll nachvollzogen werden, wie sie für das Welt- und Selbstverständnis der europäischen Kultur bestimmend und prägend wurden. Zur Rekonstruktion des europäischen Denkens werden zunächst zwei Anfänge herausgearbeitet: die griechische Philosophie, soweit sie einen neuen und eigentümlichen Diskurs über das, was ›wahr‹ ist, etabliert hat; sowie das römische Denken, soweit dieser Diskurs durch die römische Tradition seine feste und verbindliche Struktur erhalten hat. – Die Rekonstruktion der griechischen Philosophie geschieht unter dem Leitbegriff der Autonomie; sie vollzieht den Anfang der Philosophie mit Thales bis zur Konstituierung zweier Wissenssysteme nach, deren eines von Demokrit, deren anderes von Platon konzipiert wurde. Die These ist, dass die griechische Philosophie epistemologisch an die Stelle der heteronomen Struktur der Erzählung den Satz zum Repräsentanten von Wissen erhoben hat. – Dem römischen Denken wird in der Arbeit so weit nachgegangen, als es sich unter dem Leitbegriff der Autorität rekonstruieren lässt. In diesem Denken, so die Annahme, besitzt Wissen weder die narrative Struktur der Erzählung noch die Transparenz des Satzes, sondern wird im Rekurs auf Personen begründet. Hierzu wird der Begriff »Autorität« im römisch-lateinischen Sinn der auctoritas als Urheberschaft verstanden, in Bezug auf die das Wissen den Status institutionalisierter Verbindlichkeit erhält. Die anschließenden Teile der Arbeit gehen der Frage nach, wie diese beiden epistemologischen Muster, Wissen qua Autonomie bzw. 8
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Vorwort
qua Autorität zu begründen, verbunden wurden. Dies geschieht zuerst anhand der Trinitätslehre Augustins, von der wir annehmen, dass sie für das Abendland bzw. den lateinisch sprechenden Westen – im Unterschied zum griechischen Osten – maßgebend wurde. Diese Trinitätslehre wird unter der Fragestellung rekonstruiert, wie Augustin, gemäß der Formel »una essentia – tres personae«, das Selbstbezügliche des einen Gottes mit der personalen Bezüglichkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist ›zusammendenkt‹. Bei Descartes, dem Begründer des neuzeitlichen europäischen Denkens, treten die beiden Elemente auseinander: während Descartes das Autonomieprinzip an das »Ich denke« bindet, gilt ihm Gott als die Autorität, welche den epistemischen Status des Denkens als eines wahren Urteilens gewährleistet. Dieser neu konzipierte Zusammenhang der beiden Prinzipien wird anhand der zwei Grundsätze Descartes’: »cogito, ergo sum« und »deus est« nachvollzogen. Die Philosophie Kants schließlich deuten wir als Epistemologie des modernen europäischen Denkens. Im Zentrum unserer Rekonstruktion steht Kants Grundsatz der Trennung von Theorie und Praxis, von Naturwissenschaft und Moral. Diese Trennung, so das Ergebnis, gewinnt ihren Sinn in der Überzeugung von der Berufung des Menschen, die Herrschaft der Vernunft auf Erden wirklich zu machen. Im Vornherein seien die methodischen Schwierigkeiten der Untersuchung genannt. Das Hauptproblem ist zweifellos in der Frage enthalten: Wie kann das europäische Denken einer Rekonstruktion unterzogen werden, die nicht ihrerseits diesem Denken verpflichtet wäre? Muss ein solches Verfahren nicht Standards verwenden, deren Geltungsanspruch doch durch dies Verfahren untersucht werden soll? Der Einleitungsteil versammelt Elemente, die diesem Problem Rechnung tragen. Unsere Methode einer »epistemologischen Rekonstruktion« zwingt, sich jedes eigenen, sei es zustimmenden oder ablehnenden, Urteils über ihren Gegenstand zu enthalten. Sie will sich damit sowohl dem demütigen als auch dem hochmütigen Gestus widersetzen, in den untersuchten Sätzen ›Wahrheiten‹ wiederzufinden bzw. ›Falschheiten‹ aufzudecken; sie soll nur beschreibend nachvollziehen, wie sie – im Europäischen – zu Wahrheiten wurden. Dem Anspruch einer solch distanzierenden Einstellung jedoch auch in concreto zu folgen, hat sich als mühevoller erwiesen als anfangs gedacht. Schließlich bringt es der Umfang des Themas mit sich, ausA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
9
Vorwort
zuwählen. Dies macht Vorentscheidungen erforderlich und zwingt zur Vereinfachung. Es birgt die Gefahr, Gesichtspunkte, Argumente und Diskussionslagen in ihrer Relevanz zu übersehen. Insofern stellt die vorliegende Studie den Versuch dar, die Grundmuster des europäischen Denkens aus der Perspektive der Distanz exemplarisch zu rekonstruieren. Um den gedanklichen Fortgang nicht zu unterbrechen, sind Kontroversen, Anmerkungen, Belege und Zitate in zum Teil umfangreiche Fußnoten gesetzt. – Aus technischen Gründen habe ich in den griechischen Zitaten auf die diakritischen Zeichen verzichtet. Die Arbeit wurde im Sommer 2006 von der Fakultät Philosophie der Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Neben Dieter Henrich, der mich am Beginn der Arbeit ungewollt auf diese Fährte gesetzt hat, gilt mein Dank meiner Familie: meinen Eltern, meiner Frau und meinen beiden Kindern für die Unterstützung und Geduld, die sie viele Jahre aufgebracht haben.
10
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Inhaltsverzeichnis
Einleitung I. A.
B.
II. A. B.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Europäisches Denken und Philosophie . . Selbstthematisierungen der Philosophie . 1. Der affirmative Diskurs . . . . . . . . 2. Der kritische Diskurs . . . . . . . . . 3. Der distanzierende Diskurs . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . . a. Th. W. Adornos Kritik der Aufklärung .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
B.
C.
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
45 47 51 52 55 56
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
60 60 61 61 62 63 65 66 68 72 73 77 78
21 25 25 26 27 28 b. M. Heideggers Kritik der abendländischen Ontologie 33 c. Vergleich und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Rekonstruktion der Philosophie als Epistemologie . . . . 41
Elemente zu einer Theorie des Wissens Wissen als »epistemische Tätigkeit« . . Der Begriff: »epistemisches Gesetz« . . 1. Gesetz und Satz . . . . . . . . . . . 2. Zur Dialektik von Gesetz und Satz . 3. Das »epistemische Gesetz« . . . . .
III. Das Vorhaben A.
21
. . . . . .
Der Autonomiebegriff . . . . . . . . . . . . . 1. Die drei Dimensionen des Autonomiebegriffs a. empirische Regel . . . . . . . . . . . . . b. politische Systemeigenschaft . . . . . . c. moralisch-praktischer Begriff . . . . . . 2. Die performative Struktur von Autonomie . Der Autoritätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Eltern-Kind-Verhältnis . . . . . . . . . 2. Das Autoritätsverhältnis . . . . . . . . . . a. als personales Verhältnis . . . . . . . . . b. als Kommunikationsverhältnis . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
11
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Das griechische »Projekt Autonomie« . . . . . . .
83
Thales: Der »Satz vom Wasser« . . . . . . . . . . . . . Das Problem des Anfangs der Philosophie . . . . . . . . 1. Die Frage nach der Arch . . . . . . . . . . . . . . .
83 83 85
I. A.
B.
C.
II. A. B.
C.
2. Der Anfang der Philosophie: die »Arch-Frage« oder der »Satz vom Wasser«? . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Thales selbst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz . 1. Der Satz: Repräsentant von Wissen . . . . . . . . . 2. Die epistemologische Begründung des Satzes . . . . 3. Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz Die »Nachfolger« und das Problem der Dauer . . . . . 1. Kritik und Setzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das »unaufhörliche Entstehen« als Bedingung von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Prüfung der Grundsätze . . . . . . . . . . . . .
. 102 . 104
Parmenides: Der »Satz vom Seienden« . . . . . . . . . Kritik der »ersten Grundsätze« . . . . . . . . . . . . . . 1. Die »ersten Grundsätze« als etera . . . . . . . . . . 2. Die Heteronomie des »Wissens der Sterblichen« . . . Der »Satz vom Seienden« . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das autonome Subjekt: die Göttin . . . . . . . . . . . a. Qea: die »mitteilende Göttin« . . . . . . . . . . . b. Dikh: Die Göttin der »gerechten Gewalt« . . . . . c. Eine »Göttin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107 108 110 113 115 116 117 118 120 2. Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz 123 a. Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Code . 123 b. »Das Denken« als Repräsentation von Wissen . . 124 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
III. Heraklit: Der »Satz vom Logos« . . . A. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . 1. Die aporetische Situation . . . . . 2. Chronologische Voraussetzungen . 3. Systematische Verortung . . . . . B. Der »Satz vom Logos« . . . . . . . .
. . . . . . 1. Der epistemische Grundsatz: »Eines ist alles« .
12
. 88 . 90 . 93 . 93 . 95 . 97 . 100 . 101
ALBER PHILOSOPHIE
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
130 130 130 132 134 137 139
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Inhaltsverzeichnis
C.
2. Die drei Funktionen des Logos . . . a. Die epistemische Regel: »Einheit Entgegengesetzter« . . . . . . . b. Die epistemische Kraft . . . . . . c. Die Erkenntnis . . . . . . . . . . Der »Logos selbst« . . . . . . . . . . . 1. Das Absolute als epistemischer Grund 2. Die Idee der Autonomie . . . . . . .
IV. Die Antinomie des Logos-Wissens A.
. . . . . . . . . 141 . . . .
. . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . . . . . . . . 160
Demokrit: Die »Notwendigkeit von allem« als Grundsatz des Logos-Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Satz von »den Atomen und dem Leeren« . . . . . a. »atoma kai kenon«: das »dritte Reich« zwischen Denken und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . b. Die metaphysische Grundlegung des Erfahrungswissens . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Der Raum als Einheit des »Vollen und Leeren« . . b. Die »reine Anschauung« . . . . . . . . . . . . .
2. Der Satz von der Notwendigkeit . . . . . . . . . . . a. Die Ursache der Bewegung . . . . . . . . . . . . b. Die Gesetzmäßigkeit des Geschehens . . . . . . . a. Das Gesetz der Gleichheit . . . . . . . . . . . . b. Anhang: der »Wirbel« (dino@) . . . . . . . . . .
B.
142 145 150 154 155 157
162 163 164 167 169 171 177 178 182 185 188
Platon: Die »gute Ordnung« als Grundsatz des LogosWissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Die Schau der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a. Die »zweite Fahrt« . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a. Die Seele als »Spiegel« der Ideen . . . . . . . . . 194 b. Die Seele als Ort der logoi . . . . . . . . . . . . 197 b. Die kritische Prüfung der Ideen . . . . . . . . . . 201 2. Das noetische Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 a. Das diskursive Denken: »die Differenz« als Gesetz des menschlichen Denkens . . . . . . . . . . . . 207 b. Die Vereinigung der Seele mit dem Nous . . . . . 212 c. Das noetische Denken . . . . . . . . . . . . . . . 215 a. Die zwei Gattungen des Seienden: pera@ und apeiria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Zahl als dritte Gattung des Seienden . . . . . g. Das Noetische als vierte Gattung des Seienden . .
216 221 224 A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
13
Inhaltsverzeichnis
3. Die Erfahrungswelt als Abbild der »guten Ordnung« . 229 a. Die epistemologische Grundlegung . . . . . . . . 231 a. Die absolute Differenz von Seiendem und Werdendem . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Ursache des Gewordenen . . . . . . . g. Der Demiurg als Urheber der Weltordnung d. Die Gewissheit und die Wahrscheinlichkeit
. . . . b. Der erste Anfang: die »Gewalt des Guten« . a. Der Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Anfangshandlung . . . . . . . . . . .
C.
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
231 232 233 237 239 239 241 g. Die Unterwerfung der Sinnlichkeit unter das Denken 247 c. Der zweite Anfang: die »besonnene Überredung« . 248 a. Die Anagkh als vernunftlos wirkende Ursache . . 250 b. Das Zusammenwirken der zwei Ursachen . . . . . 253 g. Das Geheimnis der Überredung . . . . . . . . . 255 Der Antagonismus der epistemologischen Modelle . . . 259 Das Ende des »Projekts Autonomie« . . . . . . . . . . . 263
Teil II: Die römische Autorität . . . . . . . . . . . . . . . 267 I. A. B. C.
Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas« . . . . . . . . . 268 Die zivilrechtliche »Auctoritas mancipationis« . . . . . . 268 Die staatsrechtliche »Auctoritas senatus« . . . . . . . . 270 Die individuelle »Auctoritas patris« . . . . . . . . . . . 272 . . . . . .
II.
Auctoritas: Macht durch Anerkennung
A.
Erklärungsmuster von »Auctoritas« . . . 1. Autorität als »soziale Ansehensmacht« 2. Autorität als »geistige Macht« . . . . Zur Etymologie von »Auctoritas« . . . .
B.
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
274 276 276 278 280
III. Die Auctoritas maiorum . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 A. Die Quellenlage und ihre Interpretation . . . . . . . . . 283 B. Die Maiores als »Gründer und Erbauer Roms« . . . . . . 285 1. Die Gründung Roms als Konstitutionsakt von auctoritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Die Maiores als Gründer der »Res Romana« . . . . . 290 a. Die Freiwilligkeit der Anerkennung . . . . . . . . 292 14
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Inhaltsverzeichnis
C.
3. Die Maiores als epistemische Autorität . . . . . . . . a. Die Sapientia maiorum . . . . . . . . . . . . . . b. Die Gründung Roms: »ad naturam accommodare« . Die Wissensorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rom als epistemisches Zentrum . . . . . . . . . . . . 2. Zeit als Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Res Romana als »heilige Sache« . . . . . . . . .
IV. Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum . . . . . . . . . . . . A. Der Erwerb von Auctoritas . . . . . . . . . B. Die Funktion der Stellvertretung . . . . . . C. Die Auctoritas als »Mehrung« . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
293 294 299 305 307 309 311
315 316 318 322
Teil III: Der dreieinige Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Einleitung I. A. B. C.
II. A. B. C.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem Die Glaubensgewissheit . . . . . . . . . . . . . Die Glaubensregel . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Trinität . . . . . . . . . . . . . 1. Die Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Homousie-Formel . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
329 329 332 335 337 340 342
Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum . 348 Auctoritas apostolorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Auctoritas episcopalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Auctoritas patris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
III. Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes A.
. . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
Auctoritas und Ratio als Kräfte der Erkenntnis . . . . . 1. Die gestufte Erkenntnis: Credere, ut intelligere . . . 2. Auctoritas und Ratio als Bedingungen des Glaubens 3. Autonomie des Menschen oder Autorität Gottes . .
355 357 358 365 370
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
15
Inhaltsverzeichnis
B.
Der dreieinige Gott: Una essentia – Tres personae . 1. Una essentia – Tres personae . . . . . . . . . . a. »Una essentia« . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zum Begriff: »Persona« . . . . . . . . . . . c. »Tres personae« . . . . . . . . . . . . . . . d. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . 2. Die Beziehungen von Vater und Sohn . . . . . . a. Die Vater-Sohn-Relation . . . . . . . . . . b. Das personale Verhältnis von Vater und Sohn
. . . . . . . . . a. Augustins Kritik des Begriffs der »Person« . . b. Die Person: Einheit von Sein und Haben . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . g. Das untrennbare Zusammen von Vater und Sohn . d. Vater und Sohn als Personen . . . . . . . . . . .
379 382 383 384 390 392 395 395 398 400 403 406 409 c. Das Vater-Sohn-Verhältnis als Autoritätsverhältnis 412 3. Der Heilige Geist: die »gemeinsame Sache« von Vater und Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 a. Der Geist als »Geschenk von Vater und Sohn« . . 416 b. Der Heilige Geist: »die Liebe« . . . . . . . . . . . 422 a. zum Begriff der Liebe . . . . . . . . . . . . . . 423 b. Die Liebe als die gemeinsame Sache von Vater und Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C.
16
c. Die Liebe als die Eine Sache . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wissen als das »Wort Gottes« . . . . . . . . . . . . 1. Der dreieinige Gott als epistemologisches Subjekt . . a. Augustins Lösung der epistemologischen Aporie . b. Die Unterordnung des Wissens unter den Glauben 2. Das Sprechen des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Einheit des Sprechers mit seinem Wort . . . . b. Die Wahrheit des Wortes . . . . . . . . . . . . . 3. Autonomie des Wissens – Autorität der Person . . . . a. Der Handlungscharakter des Wortes . . . . . . . b. Zur Differenz des Wortes Gottes und der menschlichen Sprache . . . . . . . . . . . . . . .
ALBER PHILOSOPHIE
425 429 432 434 434 435 438 440 441 444 446 447 449
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Inhaltsverzeichnis
Teil IV: Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften 453 Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
I.
Die epistemische Regel: »Das Klare ist das Wahre« . . . 457
II.
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum« »Cogito, ergo sum« als empirischer Satz . »Cogito, ergo sum« als apriorischer Satz . 1. Die spekulative Identität . . . . . . . 2. Die logische Implikation . . . . . . . . 3. Die Äquivalenzbeziehung . . . . . . . a. »Ich denke« . . . . . . . . . . . . b. »Ich bin ein denkendes Ding« . . . c. Die klare Einsicht . . . . . . . . . Die Apperzeption . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
463 465 471 472 474 475 479 482 483 490
III. Der zweite Grundsatz: »Gott existiert« . . . A. Der aitiologische Gottesbeweis . . . . . . . . 1. Der Begriff der Ursache . . . . . . . . . . 2. Die Idee der vollkommenen Substanz . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
493 496 497 503 508 512 512 513 514 515
. . . .
. . . .
. . . .
517 520 520 521
A. B.
C.
B.
. . . . . . . . . .
3. Der Schluss: »das vollkommene Wesen existiert« Die Wahrheitsbedingung des Gottesbeweises . . . 1. Die logische Form des Schlusses . . . . . . . . . 2. Die epistemische Regel . . . . . . . . . . . . . 3. Das absolute Wesen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Existenz des guten Gottes . . . . . . . . . .
IV. Das personale Verhältnis von Ich und Gott A. Ich und Gott als zwei Personen . . . . . . . 1. Das Ich als Person . . . . . . . . . . . . 2. Gott als Person . . . . . . . . . . . . . B.
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
3. Die Differenz der Personen: Das Durch-sich-Existieren Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anerkennung Gottes als Bedingung des wahren Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das »Atheisten-Argument« . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wahrheit und der Irrtum . . . . . . . . . . . . . 3. Die »wahre Gottesliebe« . . . . . . . . . . . . . . .
522 525 526 528 531 A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
17
Inhaltsverzeichnis
C.
Die Autorität Gottes . . . . . . . . . . . . 1. Die zwei Arten der Existenz Gottes . . . 2. Die »paradoxe Vernunft« . . . . . . . . a. Die Indifferenz in Gott . . . . . . . b. Das Unbegreifliche des Begreiflichen 3. Die »Auctoritas Dei« . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
V.
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes« . . Das »Zeichen Gottes« . . . . . . . . . . . . . . . Die drei Funktionen der epistemischen Regel . . 1. Die restriktive Funktion . . . . . . . . . . . . 2. Die legitimierende Funktion . . . . . . . . . 3. Die praktische Funktion . . . . . . . . . . . . Das Motiv der »neuen Wissenschaft« . . . . . . 1. Die Weisheit als das höchste Gut . . . . . . . 2. Das Wohl des Menschen als das oberste Gut .
. . . . . . . . .
A. B.
C.
D.
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
532 534 535 536 537 539
. . . . . . . . . 3. Das höchste Gut: »Der feste Wille, recht zu tun« . Die neue Wissenschaft als Gottesdienst . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
541 542 544 544 545 547 548 548 550 552 555
Teil V: Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 a. Zum Begriff der »Moderne« . . . . . . . . . . . . 561 b. Kants Trennung der »epistemischen Gebiete« . . . 562 c. Über den Zweck des modernen Denkens . . . . . 567
Einleitung
I.
Die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft: Natur und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 A. Die Verschiedenheit der Gesetzgebungen . . . . . . . . 569 B. Die richterliche und die menschliche Vernunft . . . . . . 572
II. A. B.
18
Kants »epistemologische Anthropologie« . . . . . . . . 574 Die »Natur des Menschen« . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Das gute Prinzip: die »sittliche Ordnung« in der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 1. Die Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit durch das Vernunftgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Inhaltsverzeichnis
2. Die Unbegreiflichkeit der »sittlichen Ordnung« 3. Das Autoritätsverhältnis . . . . . . . . . . . a. Der Mensch als »relative Person« . . . . . b. Gott als »absolute Person« . . . . . . . . . c. Das Heilige und die Geheimnisse . . . . .
. . . . a. Das Geheimnis der Berufung . . . . . . . . d. Die Moralität als Religion . . . . . . . . . .
C.
. . . . . . .
. . . . . . .
Das böse Prinzip: Die Umkehrung der sittlichen Ordnung 1. Die »verkehrte Ordnung«: die sinnliche Bedingtheit des Vernunftgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die »verderbte Natur« des Menschen . . . . . . . b. Die »böse Tat« als Ursache der verderbten Natur . 2. Die Autonomie des Menschen: Das »Losreißen vom Guten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die »böse Tat« als Grund der menschlichen Erkenntnisart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Der Antagonismus der zwei Prinzipien A. B. C.
. . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
Die Geschichte als Ort des Kampfes der Prinzipien . . . Die Herrschaft des Bösen als »Reich der Finsternis« . . Der öffentliche Kampf des guten und des bösen Prinzips 1. Der Religionswahn . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der »Streit der Parteien« . . . . . . . . . . . . . .
583 585 586 587 588 590 595 597 597 601 604 607 612 614 615 619 622 627 630
IV. Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse . . . . 634 A. Die Gegenwart als »Revolution in der Gesinnung« . . . 635 B. Die Verfassung der »neuen Öffentlichkeit« . . . . . . . 637 1. Die Öffentlichkeit als »ethisches gemeines Wesen« . . 638
C.
2. Der Grundsatz der Bescheidenheit oder der problematische Vernunftgebrauch . . . . . . . 3. Die neue Öffentlichkeit als »ethische Republik« a. Das Modell der Familie . . . . . . . . . . . b. Das Modell der »epistemischen Republik« . Der Verstand als die »epistemische Kraft« des guten Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Verstand als »Typus« der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die transzendentale Apperzeption . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
640 642 642 645
. . . 651 . . . 653 . . . 655
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
19
Inhaltsverzeichnis
3. Die Grundsätze der modernen Naturwissenschaft als Regeln des Verstandesgebrauchs . . . . . . . . . . . 658
V.
Die Verwirklichung des Guten . . . . . . . . . . . . . . 660
A.
Die Urteilskraft als das »Verbindungsmittel« zwischen Verstand und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Natur als Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Über den praktisch-moralischen Grund, die Natur technisch zu beurteilen . . . . . . . . . . . . . . b. Die Natur als evolutionäres System . . . . . . . . 2. Die Kultur als letzter Zweck der Natur . . . . . . . . a. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt . . . . b. Der Zwang zum Recht . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorsehung als Prinzip der Zusammenstimmung von Moral und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ende des Kampfs des Menschen um sich selbst . . a. Der »ewige Frieden« als ethisches Rechtssystem . b. Der »technische Verstand« und die »Natur als Geschöpf« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit des Guten – Das Ende der Geschichte .
B.
C.
662 664 666 669 673 677 681 684 686 690 691 695 700
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 A. B. C.
»Die Vernunft« als der epistemische Code des europäischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Die Begriffe »Autonomie« und »Autorität« . . . . . . . 706 Resultate und Perspektiven der Untersuchung . . . . . . 710
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
20
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Einleitung
I.
Europäisches Denken und Philosophie
Das europäische Denken scheint kein originäres Thema der Philosophie zu sein. Mit ihm befassen sich die Kultur- und Geschichtswissenschaften. Die Philosophie hingegen hat es mit dem Denken selbst zu tun, mit Begriffen und Sätzen, die sie hinsichtlich ihres epistemischen Gehalts, ihrer Bedeutung und Wahrheit, untersucht. Insofern könnte allenfalls der Begriff des europäischen Denkens zum Gegenstand philosophischer Untersuchung werden. Andererseits ist es die selbstverständliche Praxis der Philosophen, die Behandlung ihrer Gegenstände mit Personen zu verbinden. Was Begriffe und Sätze bedeuten, lässt sich offensichtlich nicht von den Personen trennen, die sie gedacht und formuliert haben, so dass die Untersuchung dessen, wie und was diese Denker gedacht haben, warum sie so gedacht haben, wie sie gedacht haben, ob und wie ihre Gedanken auf andere Denker gewirkt haben, und worin sie übereinstimmen bzw. sich unterscheiden, selbst philosophische Praxis ist. Auf diese Untersuchungen stützen sich die Einteilungen der Philosophie nach dem Kriterium der Zeit in Epochen (z. B. antikes – mittelalterliches – neuzeitliches Denken), nach der Methode in Denkweisen (z. B. analytisches – dialektisches – mystisches Denken) und nach den Inhalten in Richtungen (z. B. idealistisches – materialistisches Denken). Diese Einteilungen spezifizieren und konkretisieren das Thema der Philosophie. 1 So legitim es also im Rahmen der Philosophie ist, ihr Thema anhand der Zeit, der Methode oder der Inhalte zu strukturieren, so äußerlich und fremd muss die Einteilung anhand des Raumes erscheinen. Würden wir daher den Begriff »Europa« im Sinne der Geographie gebrauchen, um nach ihm das europäische Denken von anderen Arten des Denkens, etwa dem asiatischen oder dem afrikaniDiese Spezifizierungen können ihrerseits wieder spezifiziert werden. Vgl. Geldsetzer 1968.
1
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
21
Einleitung
schen, abzugrenzen, so wären wir wieder am Ausgangspunkt: unter diesem Aspekt ist es kein originäres Thema der Philosophie, sondern der Kulturwissenschaft. Der Begriff »europäisches Denken« kann daher offenbar nur dann ein Thema der Philosophie sein, wenn er keinen bestimmten Gegenstand bezeichnet, sondern wenn durch ihn die Philosophie sich selbst, ihre eigene Praxis, thematisiert. In diesem Fall aber dient der Begriff »Europa« nicht der Einteilung des Denkens in Arten, sondern der Kennzeichnung eines Identischen in aller Philosophie. Er bezeichnet gleichsam den Ort, an dem – über alle zeitlichen, methodischen und inhaltlichen Differenzen hinweg – die »Philosophie« genannte Veranstaltung statt hat. Was aber kann »europäisches Denken« in diesem Sinne bedeuten? Zunächst einmal kann der Ausdruck zur Feststellung eines empirischen Sachverhalts gebraucht werden. Er bezeichnet die Signifikanz der Häufigkeit, mit der die Philosophie Denker thematisiert, die dem Erdteil »Europa« zugehören. Unter diesem Gesichtspunkt dient er der Feststellung, dass die Philosophie in ihrer Gesamtheit signifikant häufig Denker dieses Erdteils thematisiert. Auch wenn eine Definition der Philosophie als eines Unternehmens, das solche Denker thematisiert, nicht den Tatsachen entspricht, da sie sich keineswegs nur auf europäische Denker bezieht, so scheint doch die Häufigkeit, mit der sie solche Denker auswählt, nicht nur zufällig zu sein, sondern auf einen inneren Zusammenhang von Philosophie und Europa zu verweisen. 2 Anders verhält es sich, wenn der Ausdruck »europäisches Denken« in einem normativ-kritischen Sinne gebraucht wird. In diesem Fall wird er kritisch auf eine herrschende Praxis der Philosophen bzw. eine Praxis der herrschenden Philosophie bezogen, die zur Auswahl und Behandlung ihrer Gegenstände ›einseitig‹ – und damit ›unangemessen‹ – auf Denker rekurriert, die Europäer sind bzw. waren. Hier Diese Signifikanz zeigt auch die Geschichtswissenschaft. So schreibt der Historiker M. Henningsen in seinem Aufsatz »Vom Anspruch und Elend des europäischen Universalismus« über das Fach: »Die eurozentrischen Schwerpunkte … lassen sich … in der Organisation des Geschichtsstudiums an deutschen und europäischen Universitäten nachweisen. Geschichte ist für Europäer noch immer, was die Denker vorgedacht haben. Die Geschichte, die als alte, mittlere und neue gelehrt wird, ist europäisch. Über die Zivilisationsprozesse der anderen werden unter Ausschluss einer größeren studentischen Öffentlichkeit – und vor allem auch der zukünftigen Lehrer – jeweils nur Ethnologen, Ägyptologen, Sinologen, Japanologen, Indologen, Islamisten, Afrikanisten, Amerikanisten und andere Exoten informiert. Historiker leben und denken fürs Abendland.« (Henningsen 1983, 897)
2
22
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
dient der Ausdruck zur Charakterisierung der Begrenztheit bzw. der Anmaßung der herrschenden Philosophie und fällt mit der Kritik an ihrem »Eurozentrismus« zusammen. 3 – Dieser kritische Gebrauch des Ausdrucks macht jedoch nur Sinn, wenn zwischen der ›herrschenden Praxis‹ und dem ›Eigentlichen‹ der Philosophie unterschieden werden kann. Der normative Gehalt dieser Kritik macht es daher zum einen erforderlich, zumindest plausibel zu machen, was die Philosophie – unabhängig von der herrschenden Praxis als europäischem Denken – denn sei. Es bedarf dazu eines ›inter-‹, oder ›transkontinentalen‹ Begriffs der Philosophie, um anhand dessen die herrschende Praxis, überwiegend europäische Denker zu thematisieren, als ›unangemessen‹ und insofern als ein bloß »europäisches Denken« beurteilen zu können. Diese Kritik steht jedoch in der Gefahr, einen Begriff von Philosophie zu bilden, der entweder zu unbestimmt 4 oder in seinem Gehalt doch wiederum nur aus der europäischen Praxis gewonnen ist. – Darüber hinaus ist diese Kritik gezwungen, zur Erklärung der ›eurozentristischen‹ Praxis der Philosophie Ursachen oder Motive anzunehmen, die selbst nicht philosophischer Natur sind und daher außerhalb der Philosophie liegen. Denn ob man eine Beschränktheit der europäischen Kultur, das Dominanzstreben der Europäer oder auch die ökonomische Expansion Europas zur Erklärung der herrschenden Praxis der Philosophie annimmt, – in jedem Fall entspringt diese Annahme nicht der Philosophie selbst, sondern gründet auf gewissen Theorien über die europäische Kultur. – Dieser normativ-kritische Gebrauch des Ausdrucks »europäisches Denken« hat also das Missliche, dass der Kritiker für sich selbst einen ›angemessenen‹ Begriff von Philosophie in Anspruch nehmen, der herrschenden Praxis jedoch Beweggründe unterstellen muss, die nicht der Philoso-
Vgl. Mall 1989; auch: Kimmerle 1991. Der indische Philosoph K. Bhattacharya bezeichnet einen solchen abstrakt-unbestimmten Philosophiebegriff als einen »›wurzellosen‹ Universalismus« (671). Dieser entfremde die jeweilige Kultur von ihrer eigenen Ideenwelt, so dass »Bräuche und Institutionen, die mit Jahrhunderte alten Geisteshaltungen verknüpft sind, … (im Namen der Vernunft) als bedeutungslos und tot beiseite geschoben (werden)« (669), und führe dazu, dass sie »ohne Vergleich und Wettstreit durch neue Ideen und Gefühle ersetzt werden, die eine fremde Kultur repräsentieren, welche wie ein Gespenst von einem Besitz ergreift.« (665) Diesen Vorgang nennt Bhattacharya eine »Hybridisierung unserer Ideen«, die »in dem seltsamen Mischmasch von Landessprache und Englisch deutlich (wird), in dem unsere Gebildeten miteinander sprechen.« (Bhattacharya 1999, 665–672, 668)
3 4
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
23
Einleitung
phie selbst entstammen und daher auch keine Themen der Philosophie sind. Die dritte Bedeutung des Ausdrucks »europäisches Denken«, die auch dieser Arbeit zugrunde liegt, bezieht sich auf die Philosophie selbst. Sie enthält das Urteil, dass die Philosophie, indem sie ihre Themen durch die Auswahl von europäischen Denkern thematisiert, selbst »europäisch denkt«. In diesem Bedeutungsrahmen bezeichnet der Begriff »Europa« kein Attribut der Denker, die die Philosophie vorzugsweise thematisiert, und nennt auch nicht das Kriterium, nach dem die herrschende Philosophie auswählt, sondern benennt den Ort, in dem die Philosophie über die räumliche und zeitliche Distanz hinweg ihre Identität hat. »Die Philosophie denkt europäisch« heißt in diesem Sinne, dass sie, indem sie europäische Denker thematisiert, selbst so denkt, wie die von ihr thematisierten Denker denken bzw. gedacht haben. »Europa« stiftet in diesem Sinne eine räumliche und zeitliche Kontinuität zwischen den Denkern, die die Philosophie thematisiert, und ihrer eigenen Praxis. Indem sie die Gedanken dieser Denker – über die Unterschiede hinweg – zu ihren eigenen Gedanken macht, expliziert die Philosophie, was sie ist: europäisches Denken. 5 Der Begriff »Europa« drückt hier also eine spezifische Identität der Philosophie aus. – Dieser Gebrauch des Ausdrucks »europäisches Denken« zur Bezeichnung des Identischen der Philosophie erlaubt eine immanente Erklärung sowohl für die zunächst nur empirische Tatsache, dass die Philosophie signifikant häufig europäische Denker thematisiert, als auch für ihre ›Vorliebe‹ für solche Denker; denn es ist die Philosophie selbst, die sich darin auslegt. 6 In dieser letzten Bedeutung ist nun in der Tat das europäische Denken kein Gegenstand der Philosophie, weder als ein möglicher Gegenstand der Untersuchung noch als ein Gegenstand der Kritik. Das Urteil: »die Philosophie denkt europäisch« drückt vielmehr eine Diese Selbstbeziehung hat W. Benjamin treffend als Programm formuliert: »… es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, als sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen.« (Benjamin 1972, 290) Was aber ist das Verbindende, das den Zusammenhang der Zeiten überhaupt ermöglicht? Wir nehmen an: der Ort »Europa«. 6 In diesem Bedeutungsrahmen erscheint es nicht mehr als notwendig, dass die Philosophen selbst Europäer sind. Denn wenn die Philosophie sich in der Herstellung einer »europäischen Tradition« als das definiert, was sie ist, dann denkt auch ein Nicht-Europäer – als Philosoph – europäisch. – Zu den damit verbundenen Konstitutionsproblemen am Beispiel der »afrikanischen Philosophie« siehe: Okere 1983; Serequeberhan 1994. 5
24
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
bestimmte Art ihrer Selbstthematisierung, der Reflexion der Philosophie auf ihre Praxis, aus.
A. Selbstthematisierungen der Philosophie Um diese Art der Selbstthematisierung der Philosophie näher zu bestimmen und damit auch die Perspektive der vorliegenden Arbeit zu kennzeichnen, sollen drei Typen unterschieden werden, nach denen dieser selbstreferenzielle Diskurs der Philosophie statthaben kann: der affirmative, der kritische und der distanzierende Diskurs. 1.
Der affirmative Diskurs
Der affirmative Diskurs gründet auf der Annahme, dass die Philosophie in der Bezugnahme auf europäische Denker zu dem geworden ist, was sie ist, hinsichtlich ihrer Gegenstände wie der Art ihrer Erkenntnis. Diese Art der Selbstthematisierung der Philosophie hat G. W. F. Hegel in wohl vollendeter Gestalt durchgeführt. In ihr wird die zeitliche Reihe verschiedener europäischer Denker, angefangen von Thales bis zu Hegel, als der geschichtliche Prozess der Selbstunterscheidung und -bestimmung des Geistes interpretiert, dessen Ort Europa ist, und in Bezug auf den die Philosophie weiß, was sie ist: Philosophie als das europäische Denken, welches zugleich ein nicht-europäisches Denken aus der Philosophie ausschließt. 7 – Neben dieser Form der Selbstbeziehung lässt sich die affirmative Bezugnahme auf das europäische Denken auch in der Form des bloß zeitlichen Nacheinanders oder des räumlichen Nebeneinanders darstellen, so dass im verstehenden Nachvollzug der Originalität der Denker und der Vielfalt der Gedanken die Philosophie ihre eigene Originalität und Vielfältigkeit erfährt. 8 Dementsprechend beginnt Hegel seine Darstellung der Geschichte der Philosophie: »Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewusstseins auf, das natürliche Bewusstsein in sich unter und damit der Geist in sich nieder. Im Glanze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft. … So sind wir im Okzident auf dem Boden der eigentlichen Philosophie.« (Hegel 1971, Bd. 18, 121) 8 Exemplarisch hierfür ist F. Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie von 7
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
25
Einleitung
2.
Der kritische Diskurs
Eine andere Art der Selbstthematisierung ist der kritische Diskurs. Hier vollzieht sich die Bezugnahme der Philosophie auf das europäische Denken in der Form der »Lager-« oder »Parteienbildung«. Hier steht Philosophie gegen Philosophie 9 . Nach gewissen Kriterien wird eine bestimmte Art zu denken zum Maßstab der philosophischen Praxis erhoben und andere Denkweisen aus dem, was das ›Eigentliche‹ der Philosophie sei, ausgeschlossen. Diese Lagerbildungen können sich nach Maßgabe der Zeit vollziehen, so dass etwa der je gegenwärtige Diskurs zum Maßstab dessen erhoben wird, woran die Philosophie ihr Thema hat und die Relevanz des vergangenen Denkens beurteilt wird; beziehungsweise umgekehrt das vergangene Denken als Maßstab des Philosophierens gilt, an dem das aktuelle Denken sich als Philosophie zu bewähren habe. Die Parteienbildungen können aber auch nach Maßgabe der Methode oder der Inhalte vollzogen werden, so dass, über die Zeiten und Räume hinweg, gewisse Grundsätze zu Prinzipien der Philosophie erklärt, andere ausgeschlossen und ihnen widersprechende als Anatheme bekämpft werden. Nach dieser Art der Selbstthematisierung weiß die Philosophie sich in der Beziehung auf das europäische Denken nicht als die eine Philosophie, in der die Verschiedenheit des Gedachten aufgehoben wäre, sondern vollzieht sich als ein beständiger kritischer Diskurs. Hier sind nicht Affirmation und Versöhnung, sondern die Kritik und der Kampf – zwischen Gegenwart und Tradition, zwischen Aufklärung und Metaphysik, zwischen Materialismus und Idealismus – die Muster, in denen die Philosophie sich als europäisches Denken thematisiert. 10 Thales bis auf die Gegenwart. Hier, schreibt L. Geldsetzer über das Werk, interessiert »gar nicht mehr so sehr all das, was in früheren Erörterungen über Gliederung, Periodik, System-, Problem-, Begriffsgeschichte etc. erörtert worden war. Philosophiegeschichte wird faktisch … zur Bestandsaufnahme dessen, was die Philosophie geleistet hat. Sie wird zu einer Dogmatik und Kanonik des philosophischen Denkens – und wer nicht aufgenommen wurde, der läuft bis heute Gefahr, von der philosophiegeschichtlichen Forschung übersehen zu werden.« (Geldsetzer 1968, 104; auch 179 f.) 9 Vgl. ebd., 115. 10 Hier soll nur angemerkt werden, dass diese Art der Selbstthematisierung die Bezugnahme auf nicht-europäische Denker nicht ausschließt. Exemplarisch lässt sich dies an Karl Jaspers’ Werk »Die großen Philosophen« nachvollziehen. Statt wie Hegel die Vernunft mit dem europäischen Denken zu identifizieren, geht Jaspers von der Idee der einen Vernunft aus, die in allem walte. Er nennt dies den »philosophischen Glauben«.
26
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
3.
Der distanzierende Diskurs
Die dritte Art der Selbstthematisierung möchte ich den »distanzierenden Diskurs« nennen. Dieser begreift »Europa« weder als den Ort der Identität und Versöhnung des Geistes mit sich noch als den Ort des Streits und des Kampfes der Philosophie mit sich, sondern unterzieht die Philosophie als europäisches Denken der Kritik. Diese distanzierende Thematisierung der Philosophie bezieht einen Standort nicht nur jenseits des europäischen Denkens, das sie zum Gegenstand hat, sondern auch jenseits der Philosophie, weil sie in der Philosophie selbst das europäische Denken erkennt. Wie aber lässt sich dieser Standort jenseits der Philosophie benennen? Und welcher Art kann dasjenige Denken sein, das die Philosophie als europäisches Denken identifiziert? Die Problemstellungen einer solchen Art distanzierender Selbstthematisierung der Philosophie möchte ich zunächst anhand von zwei Kritiken der Philosophie explizieren. Die eine lässt sich unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung« zusammenfassen und ist insbesondere von Th. W. Adorno vorgetragen worden; die andere hat sich in M. Heideggers »Seinsdenken« artikuliert. Die Übernahme dieser Idee erlaubt es ihm, wie übrigens auch schon G. W. Leibniz in seinem »Discours sur la Théologie des Chinois«, die bisherige Konzentration der Philosophie auf europäische Denker der Kritik zu unterziehen und eine »Welt-Philosophie« zu konzipieren, die auch nicht-europäische Denker umfasst. Doch wenngleich Jaspers von diesen Denkern sagt, dass sie »einem gemeinsamen Reich an(gehören), in dem sie sich begegnen« (Jaspers 1983, 28), so zeigt nicht nur die Art der Darstellung, sondern schon seine Auswahl der so genannten »maßgebenden Menschen« das spezifisch europäische Interesse an diesen Menschen. So stellt Jaspers selbst die Frage, warum er vier auswählt: Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus: »Es gibt andere, an die zu denken wäre: Abraham, Moses, Elias, – Zarathustra, – Jesaias, Jeremias, – Mohammed, – Laotse, Pythagoras. Aber keiner erreicht durch Umfang und durch Zeitdauer die historische Wirkung jener vier. Der einzige, der historisch einen vergleichbaren Umfang an Wirkung hatte, Mohammed, ist an Tiefe des Wesens nicht zu vergleichen.« (ebd., 198) Fragen wir nun aber, was bedeutet: »Tiefe des Wesens«, so erfahren wir weniger über diese Menschen als über Jaspers’ Sicht auf die Problemlage des europäischen Denkens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: auf das »Unbehagen« an der Zivilisation durch die ›Verunwesentlichung‹ des Denkens. Dieser internen Kritik wegen greift Jaspers auf die fernöstlichen Denker, Buddha und Konfuzius, aus, um in deren Tiefe und Größe Antworten auf die Krise Europas zu finden. Damit aber entspringt die Bezugnahme auf sie nicht jenem »gemeinsamen Reich …, in dem sie sich begegnen«, sondern internen Problemlagen und steht, nicht zuletzt durch die Auswahl der »maßgebenden Menschen«, im Dienst des innereuropäischen Diskurses. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
27
Einleitung
a.
Th. W. Adornos Kritik der Aufklärung
Die Selbstthematisierung der Philosophie, die Th. W. Adorno vornimmt, macht sowohl den Ursprung als auch die Bestimmtheit des europäischen Denkens selbst sichtbar. Adorno ist, so scheint uns, der erste Philosoph, der, zusammen mit M. Horkheimer, unter dem Eindruck der moralischen Katastrophe Europas dieses Denken als solches – nicht nur diese oder jene Ausprägung – zum Gegenstand der Kritik und damit überhaupt zum Thema gemacht hat. Adornos Problem ist nicht, ob die Philosophie aufgrund einer angenommenen ›Vernünftigkeit der Wirklichkeit‹ überflüssig zu werden drohe, sondern dass sie angesichts einer jeden Anspruch der Vernunft niederschlagenden Wirklichkeit sich »dem Problem der Liquidation der Philosophie selber gegenüber« sieht. Adorno macht die Frage unabweisbar, ob »Philosophie … überhaupt aktuell sei«; ob »noch eine Angemessenheit zwischen den philosophischen Fragen und der Möglichkeit ihrer Beantwortung« (Adorno 1973, Bd. 1, 331) besteht. 11 Das Ergebnis von Adornos kritischer Untersuchung ist bekannt: das europäische Denken sei im Kern Aufklärung, und diese über sich unaufgeklärtes Herrschaftsdenken. Es stehe im Bann der »Identität«, durch die es das Andere seiner selbst negiert, sich gleichmacht und zum bloßen Moment des Systems herabsetzt. 12 Was anders wäre, wird gleichgemacht: »Indem das Erste der Philosophie immer schon alles enthalten soll, beschlagnahmt der Geist, was ihm nicht gleicht, macht gleich, zum Besitz. Er inventarisiert es; nichts darf durch die Maschen schlüpfen, das Prinzip muss Vollständigkeit verbürgen. Die Zählbarkeit des Befassten wird zum Axiom. Verfügbarkeit stiftet das In diesem Kontext der Selbstthematisierung ist »Auschwitz« zentral. Auch die vorhergehende Kritik der Philosophie durch L. Feuerbach, A. Schopenhauer, S. Kierkegaard oder F. Nietzsche erscheint als radikal. Aber ihre Kritik diente der Erneuerung der Philosophie. Sie sollte durch die Wiederaufnahme verdrängter oder verschütteter Ursprünge die Philosophie reformieren, und bewegte sich so in der Tradition. Erst im Angesicht von Auschwitz, angesichts einer jeden Anspruch der Vernunft niederschlagenden Wirklichkeit, richtete sich der Blick auf das »europäische Denken« als solches. – Es ist aber auch einsichtig, dass »nach Auschwitz«, d. h. mit der ›Normalisierung‹ der Verhältnisse und der Historisierung des Grauens, das ›zeitgemäße Denken‹ wieder in die Bahnen der Tradition zurückgelenkt und das Traditionssprengende dieser Selbstthematisierung seinerseits historisiert wurde. Es macht diesbezüglich offenbar einen großen Unterschied, ob Auschwitz – wie für Adorno – das Grauen ist oder – wie für Generationen danach – das Grauen war. 12 »Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell. Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten.« (Adorno 1973, Bd. 3, 24). 11
28
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
Bündnis der Philosophie und Mathematik, das dauert, seitdem Platon das eleatische wie das heraklitische Erbe mit dem der Pythagoreer verschmolz.« 13 Indem aber dieses Denken das Anderssein als Möglichkeit negiert und vernichtet, sei es dem Mythos gleich. So wie das mythische Denken die Furcht vor dem Anderen durch die wiederholende Mimesis zähmen will, so bewältigt die Aufklärung diese Furcht durch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens: »Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung alles Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber.« (Adorno 1973, Bd. 3, 28) Die bloße Vorstellung des »Draußen« sei die »eigentliche Quelle der Angst« (ebd., 33). Daher seien die Vergötzung der Identität durch die Philosophie und die Vernichtung des Anderen in den faschistischen Vernichtungslagern einander nichts Fremdes, sondern Kehrseiten ein und derselben Denkens: »Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation.« (ebd., 29) Belassen wir es bei diesem knappen Referat der Kritik und fragen nach dem Ort, von dem aus Adorno das europäische Denken der Kritik unterzieht. Adorno selbst bezeichnet diesen Ort als den der Kritischen Theorie oder, bestimmter, als den der Negativen Dialektik, der »angesichts des Unsäglichen, was geschah und weiter geschehen kann, allein zu verantworten wäre« (Adorno 1999, 482). Hatte das dialektische Denken bislang im Bann der Identität das Andere, das Nicht-Identische, in die spekulative Einheit des Absoluten, in die absolute Einheit, ›aufgehoben‹ und es so zum bloßen Moment des im Anderen zu sich kommenden Einen Denkens herabgesetzt, sei es die Aufgabe der Negativen Dialektik, die Identität selbst als die »Urform von Ideologie« (Adorno 1973, Bd. 6, 151) aufzuzeigen. Sie sei kritisch, weil sie – jenseits des Ganzen – das Ganze in seiner Unwahrheit denkt und in solchem Ganzen das Bestehende an dessen eigenem Maß des Scheins und des Unwahren überführt. Ihr Ort ist daher das Nicht-Identische, das nicht auf- und eingeht ins System; der Ort der Verweigerung, von dem aus über das Ganze gesagt werden kann: das Ganze ist das Unwahre und das Ungerechte. »Die Kraft solchen Widerstandes ist das einzige Maß von Philosophie heute.« (Adorno 1999, 488) Verstehen wir Adornos Konzept der Negativen Dialektik als 13
Siehe: Adorno 1973, Bd. 5, 17. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
29
Einleitung
eine Antwort auf unsere Frage nach einem Denken jenseits der Philosophie, welches diese als europäisches Denken denkt, so scheint der Ort dieses Denkens in der bloßen Negation zu verharren. Denn von ihm aus kann das Denken sich nicht mehr positiv bestimmen und sich auch nicht – dialektisch – in die Negation der Negation überführen, weil unter den bestehenden Verhältnissen sich alle positiven Bestimmungen nur wieder ins Negative, ins Unwahre verkehrten, und solches Denken »nur der trostlosen Kette der Philosophien eine neue hinzu(fügte)« 14 . Zwar muss um der Unwahrheit des Ganzen willen dieses Denken an der Idee des Wahren festhalten, das es gleichwohl nicht mehr zu bestimmen vermag. Eine allein verantwortbare kritische Theorie dürfe daher »nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja müsste den Gedanken daran sich verbieten, um ihn nicht zu verraten, und doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmarkten lassen. Dieser Widerspruch ist ihr Element. Es bestimmt sie als negative.« (ebd., 482) Solches Denken kann daher nur die Idee vom Wahren wach halten, das nicht aufgeht in Seiendem; es ist gleichsam der Platzhalter des Wahren, der den Utopien eines anderen, unbeschädigten Lebens Raum und Asyl gewährt. 15 Weil es sich seine Funktionslosigkeit und Ohnmacht eingesteht, »erhascht Ebd., 484. – Zu diesem Verzicht aufs ›Positive‹ siehe auch die Vorrede zur »Dialektik der Aufklärung«: »Hatten wir auch seit vielen Jahren bemerkt, dass im modernen Wissenschaftsbetrieb die großen Erfindungen mit wachsendem Zerfall theoretischer Bildung bezahlt werden, so glaubten wir immerhin, dem Betrieb so weit folgen zu dürfen, dass sich unsere Leistung vornehmlich auf Kritik oder Fortführung fachlicher Lehren beschränkte. Sie sollten sich wenigstens thematisch an die traditionellen Disziplinen halten, an Soziologie, Psychologie und Erkenntnistheorie. Die Fragmente, die wir vereinigt haben, zeigen jedoch, dass wir jenes Vertrauen aufgeben mussten … die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten.« (Adorno 1973, Bd. 3, 11) 15 Adorno hat gleichwohl in der »Ästhetischen Theorie« und den »Minima Moralia« Anstöße zu einem anderen Denken gegeben, zu einer »Utopie der Erkenntnis«, wie es programmatisch in der »Negativen Dialektik« heißt, »das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen«, die er freilich sogleich zurücknimmt: »Ein solcher Begriff von Dialektik weckt Zweifel an seiner Möglichkeit.« (Adorno 1973, Bd. 6, 21). Mehr als utopische Bilder von Kindheit (vgl. etwa: Amorbach. In: Adorno 1973, Bd. 10/1, 302–309) oder die Utopie vollkommener Lust – »Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte.« (Adorno 1991, 94) – konnten und sollten daraus nicht werden. Sprach Adorno 1931 noch zuversichtlich von der »Aktualität der Philosophie«, der er einen kritischen Zugriff auf die Wirklichkeit zutraut, die in Spuren und Trümmern die Hoffnung auf Wahrheit und Gerechtigkeit 14
30
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
(es) vielleicht einen Blick in jene Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären.« 16 Der Ort, den Adorno verantwortbarem Denken zuweist, ist in der Tat jenseits der Philosophie, weil es sich sowohl den Gedanken des Absoluten als auch den eines Positiven verbietet, und ist insofern ein anderes Denken 17 . Aber es bleibt in seiner Negativität doch eigentümlich aporetisch. Denn als kritische Theorie distanziert es sich zwar vom europäischen Denken als Aufklärung, die es im Banne der Identität die Liquidation des Nicht-Identischen und Anders-Möglichen betreiben sieht. Aber es kann sich von ihr doch nicht verabschieden, weil es aus der Konfrontation mit diesem Denken den Begriff des Nicht-Identischen gewinnt, und weil es im Anschluss an die Tradition der Aufklärung an der für es konstitutiven Idee der Autonomie des Denkens sowie an dem emphatischen Begriff von Wahrheit und Gerechtigkeit festhält, um ihn als unaufgebbar der mythisch verkehrten Wirklichkeit als Möglichkeit eines Andersseins entgegenzuhalten. Es flieht vor demjenigen Denken, von dem es gleichwohl nicht lassen kann und zehrt. 18 Von diesem Ort aus erscheint gewährt, gibt Adorno mit der »Negativen Dialektik« diese Hoffnung auf. – Siehe auch: Habermas 1981, Bd. 1, 499, Anm. 16 Adorno 1999, 488. – J. Habermas hat dazu bemerkt, dass die Einsicht in die Funktionslosigkeit und Ohnmacht dieses Denkens mit Absicht geschah: »Absichtlich regrediert das philosophische Denken, im Schatten einer Philosophie, die sich überlebt hat, zur Gebärde.« (Habermas 1981, Bd. 1, 516) Wir betrachten es allerdings als ein Missverstehen, wenn Habermas als den Grund dieser Regression und einer »sich hinter die Linien des diskursiven Denkens aufs ›Eingedenken der Natur‹ zurückziehen(den)« (ebd.) Philosophie die »Erschöpfung des Paradigmas der Bewusstseinsphilosophie« (518) anführt, das dem Programm der frühen Kritischen Theorie zugrunde gelegen habe. Das Argument, das jedenfalls Adorno selbst anführt, ist das offenkundige Grauen einer sich selbst zerstörenden Aufklärung, die verantwortbarem Denken jeglichen positiven Inhalt nimmt, das sich gleichwohl damit nicht abfindet. – Es bedurfte offenbar einer ›Generation nach Adorno‹, der die Unmittelbarkeit des Grauens entrückt war, um die Kritische Theorie wieder auf »die Linien des diskursiven Denkens« zurückzuführen. 17 H. Schnädelbach berichtet, »dass Adorno sein Leben lang eigentlich nur einen Gedanken gedacht hat – nämlich den Gedanken ›das Ganze ist das Unwahre‹ – und dieser Gedanke war immer präsent; alles, was im Detail diskutiert wurde, war immer bezogen auf das große Zentralthema des Denkens von Adorno … : es hatte fast etwas von Philosophie-Verhinderung.« (Schnädelbach 1991, 57 f.) 18 In ihrem Aufsatz »Wozu noch Adorno?« beschreibt B. Merker dieses Verhältnis der Kritischen Theorie zum Kritisierten: »Die Haltung des kritischen Theoretikers gleicht dem Versuch einer Flucht mit der Hinwendung des Blicks zu dem Schrecklichen, wovor er zu fliehen versucht. Sie gleicht nicht einem Streben Hin-zu-einem-Ziel mit der Hinwendung des Blicks zum Erstrebten. Der Flüchtende kennt nur das einzige Ziel des A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
31
Einleitung
daher über das europäische Denken »die Identität« wie ein unseliger Fluch verhängt zu sein, der es in die Dialektik rastloser Selbstzerstörung treibt, das aber dennoch auch immer wieder die Idee des Heilen, des Andersseins als Möglichkeit hervorbringt. 19 Solches Denken bewegt sich deshalb in dem Widerspruch, dass es um seines eigenen Ortes der Kritik willen die Möglichkeit des Andersseins als unmöglich denunzieren, gleichwohl an ihr als Möglichkeit festhalten muss. Es bricht mit der Aufklärung, die es als mythisches Denken denunziert, und bricht nicht mit der Aufklärung, an der es um dieser willen festhält. 20 So einschneidend uns daher der von Adorno vollzogene Weg-von-Hier, nicht das Wohin, das unbestimmt und offen im Rücken bleibt. Das hat Konsequenzen für die Praxis, die kritische Theorie ist. Sie hat keinen dem Bestehenden externen Maßstab der Kritik und will ihn auch nicht haben. Sie fürchtet, dass die verkehrten Verhältnisse alles Positive in sein Gegenteil verkehren. Daher sucht sie einen dem Kritisierten internen Maßstab der Kritik. Daher ist sie ›immanente Kritik‹.« (Merker 1999, 492.) 19 Am Ende der »Negativen Dialektik« beschreibt Adorno das Negative dieser Dialektik: »Sie fasst mit den Mitteln von Logik deren Zwangscharakter, hoffend, dass er weiche. Denn jener Zwang ist selber der mythische Schein, die erzwungene Identität. Das Absolute jedoch, wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre das Nichtidentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging. … Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, dass sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung.« (Adorno 1973 ff., Bd. 6, 398) 20 In seiner Arbeit »Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie« hat M. Knoll (2002) es unternommen, auf die ethische Dimension der Philosophie Adornos hinzuweisen, die er in einer hedonistischen Utopie begründet sieht. Adorno begreife »im Anschluss an Aristippos von Kyrene, den Begründer der hedonistischen Schule, die körperliche Lust als das Gute und das Ziel und die Unlust und das Leiden als das unbedingte Übel. Seine hedonistische Ethik ist utopisch, weil für ihn in der falschen Gesellschaft wahre somatische Lust und damit das Glück nicht verwirklicht werden kann und anstelle der Lust ihr Gegensatz – das Leiden – vorherrscht … Gerechtigkeit lässt sich für ihn nur durch die Lust, die aus ihr hervorgeht, begründen und Ungerechtigkeit nur durch das Leiden, das sie erzeugt, kritisieren.« (20) Das »Andere«, auf das Adornos Kritik ziele, sei daher nicht, wie M. Horkheimer meinte, Gott, sondern die Negation des physischen Leidens bzw. positiv: die somatische Lust. – Gesetzt, diese Interpretation von Adornos Erster Philosophie ist richtig, so stellen sich angesichts dieser positiven Utopie des Heilen unentwirrbare Fragen, auf die weder Adorno noch Knoll recht antworten: 1. Nimmt man mit Aristipp an, dass das Gute die körperliche Lust ist, dann muss man annehmen, dass dieses Gute auch für den Menschen das Gute ist. Nun ist es nach Adorno aber unmöglich geworden, solch ethische Prinzipien positiv zu bestimmen, weil Philosophie, »angesichts des Unsäglichen, was geschah und weiter geschehen kann … nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken« dürfe (Adorno 1999, 14). Was also einmal positiv die Idee einer Wahrheit enthält, die standhielte, kann zum anderen nur noch negativ als Ausdruck des Unwahren verstanden werden. Wie aber lässt sich beides, die Erhebung und die Entschlagung von Prinzipien, widerspruchsfrei denken? – 2. Wenn
32
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
Akt auch erscheint, im Angesicht der Katastrophe das europäische Denken als solches zum Gegenstand der Kritik zu erheben und dadurch einen Ort jenseits der Philosophie zu gewinnen, so wenig kann uns freilich das aus dieser Art der Distanzierung gewonnene Urteil auf Dauer überzeugen, europäisches Denken sei wesentlich Identitätsdenken und dieses selbst mythisches Denken. b.
M. Heideggers Kritik der abendländischen Ontologie
In anderer, aber vergleichbarer Weise hat M. Heidegger eine solche distanzierende Selbstthematisierung der Philosophie vorgenommen, besser: vorgeführt. Er ging zunächst zwar darauf aus, die Philosophie zu erweitern und zu ergänzen, indem er den Anspruch der traditionellen Ontologie auf die Erkenntnis des Seins der Kritik unterzog und in einer Fundamentalontologie verschiedene Weisen des Daseins analysierte; aber er hat dann die Frage nach dem Sein so weit radikalisiert, dass er dasjenige Denken, das nottue, nicht mehr »Philosophie« nennen konnte, sondern es bloß mehr als »Denken« bezeichnete. »Ein Denken, das weder Metaphysik noch Wissenschaft sein kann.« 21 Verstehen wir die Daseinsanalyse, die Heidegger zunächst in »Sein und Zeit« vorgenommen hat, zugleich als Kritik des europäischen Denkens, so zielte diese zunächst nur auf dessen unvollständige und eingeschränkte Auslegung des Seienden als eines »Vorhandenen«, »Gegenständlichen«. Die Anbindung des Denkens an »das Reden über …« und die Erhöhung der Mathematik und der Logik zur alleinigen Art des »richtigen Denkens« durch und seit Platon und Aristoteles habe andere Weisen des Seinsverstehens verstellt. 22 Jenes Denken sei ein bloß technisches; ein »Verfügbarmachen des Seienden«, dem die Welt und der Mensch zum Ding, zum Objekt der Machenschaften und der Berechnungen wird. Diesem gegendas höchste Gute die körperliche Lust ist, dann will diese Lust, wie Adorno »nach Nietzsches erleuchtetem Wort« sagt, »Ewigkeit« (Adorno 1973, Bd. 6, 364). Dieses Wollen führt jedoch die Idee einer Unvergänglichkeit des Wesens bei sich, für das die körperliche Lust das höchste Gute ist. Wie aber kann Somatisches so gedacht werden, dass ihm Unvergänglichkeit zukommt? »Adorno«, konstatiert J. Früchtl, »vermeidet eine Antwort darauf.« (Früchtl 1986, 106) 21 Heidegger 1969, 66. 22 »Wir sehen den Abfall vom Anfang bei Plato und Aristoteles, …« (M. Heidegger, Europa und die deutsche Philosophie. In: Gander 1993, 37). A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
33
Einleitung
ständlich-technischen Denken setzt Heidegger das »wesentliche« oder »eigentliche« Seinsverständnis entgegen, dem es um das Dasein selbst geht, und das er in »Sein und Zeit« als das In-der-Welt-sein und als die Jemeinigkeit auslegt. – Sehen wir nun hier nur auf die historische Verortung dieser Neukonzeption von Philosophie als Fundamentalontologie, so versteht Heidegger seine systematisch angelegte Analyse offenbar als Wiedererinnerung und -aufnahme einer verschütteten, in der philosophischen Tradition seit Platon und Aristoteles vergessenen ursprünglichen Art, das Sein zu denken. Im Anfang der Philosophie habe das Denken, so Heidegger, seine Quelle nicht »in der Betrachtung der Gegenständlichkeit des Seienden«, sondern in einer ursprünglichen »Erfahrung der Wahrheit des Seins« (Heidegger 1992, 48) gefunden. Demnach hat, so müssen wir daraus schließen, die gegenwärtige Philosophie es als die Aufgabe, sich, angesichts der herrschenden Tradition, wieder des Ursprungs der Philosophie zu besinnen: des anfänglich Griechischen, in welchem »das ursprüngliche, wenngleich vorontologische Verständnis der Wahrheit lebendig war« (Heidegger 1957, 225), und wo im Wort logo@ das Verhältnis von Sein und Sagen auf ursprüngliche Weise zur Sprache gelangt war (Heidegger 1959, 185). Somit sieht Heidegger es der heutigen Philosophie aufgegeben, »das griechisch Gedachte noch griechischer zu denken« (ebd., 134). – Wäre dieses restaurative Verständnis tatsächlich der Kern von Heideggers Thematisierung der Philosophie, so wäre sie – nach unseren Begriffen – kritisch, aber nicht distanzierend. Sie würde eine gewisse Art des europäischen Denkens, das »gegenständlich-technische«, das seit der Antike die Ontologie beherrscht habe, mittels einer anderen, bloß vergessenen Art, dem »anfänglichen Seinsdenken«, der Kritik unterziehen. Aber das Denken käme aus dem Umkreis der europäischen Tradition nicht hinaus, – und es passte die bissige Bemerkung K. Löwiths: »Das seinsgeschichtliche Denken beschränkt sich auf die frühe und späte Geschichte des Abendlandes, als habe das universale Sein für den Okzident eine Vorliebe« (Löwith 1960, 175). Aber dieser Restaurationsgedanke widerspricht zumindest dem Begriff vom Denken, den der ›spätere Heidegger‹ hat. Denn nach ihm ist das Denken des Seins nichts ›Gemachtes‹ oder ›zu Machendes‹, sondern ein »Ereignis des Seins« (Heidegger 1992, 48), das dieses selbst zuschickt: »Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zweifaches. Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Den34
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
ken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört. Als das hörend dem Sein Gehörende ist das Denken, was es nach seiner Wesensherkunft ist.« (Heidegger 1949, 7) Solcher Begriff vom Denken aber ist unvereinbar mit dem Gedanken des Wieder-holens einer geschichtlichen Art des Denkens. Heidegger setzt denn jetzt auch der seinsgeschichtlichen Situation der Gegenwart die Situation des anfänglich Griechischen ausdrücklich entgegen: »Das Seiende wird [hier] nicht seiend dadurch, dass der Mensch es anschaut im Sinne gar des Vorstellens … Vielmehr ist der Mensch der vom Seienden Angeschaute, von dem Sichöffnenden auf das Anwesen bei ihm Versammelte. Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen und von seinem Zwiespalt gezeichnet sein: das ist das Wesen des Menschen in der großen griechischen Zeit« (Heidegger 1963, 83 f.). Während das Griechische also in seinem Zwiespalt zugleich vom Seienden getragen war und aus diesem Getragensein redete, sei die seinsgeschichtliche Grundsituation der Gegenwart die Abwesenheit des Seins. Daher gilt Heidegger das gegenständlich-technische Denken jetzt nicht mehr als eine bloß defiziente Ontologie, sondern als die seinsgeschichtliche Situation, in der sich der Wille zur Macht, die Macht der Subjektivität – sinnlos-rasend – entfaltet und das Sein, verbergend, dem Menschen das Nichts zuschickt. 23 Sehen wir in dieser Seinsverlassenheit den Grundzug, den Heidegger der gegenwärtigen Situation zuschreibt, dann ist es ausgeschlossen, das anfängliche Denken wieder-holen zu können. Denn das Ende dieses Un-Fugs und die Einkehr des Menschen in die »Wahrheit des Seins« kann nicht als ein Machen, sondern nur als ein Ereignis gedacht werden, das das Sein unverfügbar selbst zuschickt, indem es sich entbirgt. Vom Denken aber, das dieses denkt, sagt Heidegger, dass es »weder theoretisch noch praktisch (ist). Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung. Dieses Denken ist, insofern es ist, das Andenken an das Sein und nichts außerdem … Solches H. Kuhn kann daher Heideggers Blick auf die abendländische Geschichte als »uneingeschränkte Negation« beschreiben: »die jahrtausendalte Bemühung um das Sein beginnt und endet nach Heidegger in einer Verfehlung des Seins … das verborgene Wesen des Seins enthüllt sich als das Nichts. Heideggers kühne Geschichtskonstruktion wiederholt und verwandelt Hegels Konzeption: die Weltgeschichte wird zur Selbstoffenbarung nicht des Geistes, sondern des Nichts. Tantae molis erat se ipsam destruere mentem.« (Kuhn 1952, 263).
23
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
35
Einleitung
Denken hat kein Ergebnis. Es hat keine Wirkung. Es genügt seinem Wesen, indem es ist« (Heidegger 1949, 42). Es ist fragend, nicht antwortend; schweigend statt redend. »In all dem ist es so, als sei durch das denkende Sagen gar nichts geschehen.« (ebd., 45) Dieses Denken nennt Heidegger »den Schritt-zurück«: »Weil in diesem Denken etwas Einfaches zu denken ist, deshalb fällt es dem als Philosophie überlieferten Vorstellen so schwer. Allein das Schwierige besteht nicht darin, einem besonderen Tiefsinn nachzuhängen und verwickelte Begriffe zu bilden, sondern es verbirgt sich in dem Schrittzurück, der das Denken in ein erfahrendes Fragen eingehen und das gewohnte Meinen der Philosophie fallen lässt.« (ebd., 29) Als dieses einfache, inständige Denken aber hat es mit dem Abgeschlossenen abgeschlossen und ist mit dem Fertigen fertig. Es ist offen; es sucht im Seienden keinen Anhalt mehr, sondern »achtet auf die langsamen Zeichen des Unberechenbaren und erkennt in diesem die unvordenkliche Ankunft des Unabwendbaren.« (Heidegger 1992, 51) Es lässt das Sein – sein und merkt hörend auf die Wahrheit des Seins. Diese Bestimmung des Denkens als »Schritt-zurück« macht deutlich, warum Heidegger eine solche Art des Denkens, das nottue, nicht weiterhin »Philosophie« nennen kann. Denn weder sucht noch liebt solches Denken »die Wahrheit« – als sei sie ein Seiendes, das man erstreben oder finden könne. Es will das Sein nicht mehr erkennen, bestimmen, beschreiben oder benennen, sondern lässt das Sein sein. Dieses Denken hat sich von der Philosophie als der Thematisierung des europäischen Denkens getrennt; sein Ort ist nicht mehr national oder kontinental, sondern ›planetarisch‹ 24 . Erst aus dieser R. Thurnher hat verdeutlicht, dass für Heidegger die Distanzierung vom europäischen Denken die Bedingung für die Öffnung des Denkens ist. Heidegger gilt die Philosophie nicht mehr als ein »kulturelles Produkt«, als »Leistung des abendländischen Menschen«, sondern umgekehrt als »Ereignis« (131): »die Philosophie resp. die Metaphysik (ist) das ›Geschick‹ der dadurch erst bestimmten abendländischen Geschichte und des durch diese geprägten abendländischen Menschen.« (132) Diese These, dass nicht Europa die Philosophie ›gemacht‹ habe, sondern die Philosophie das ›Geschick‹ des Abendlandes sei, schließt nach Thurnher nun ein, »dass die Lichtung von Welt sich auch in ganz anderer Weise und aus einem ganz anderen Zuspruch und Anspruch bestimmen kann … Sie zielt darauf ab, gerade dem abendländischen Menschen (und dem Menschen, der heute, wo immer, unter dem Anspruch der Technik steht), die Begrenztheit der Welterschließung im Horizont eines bestimmten Seinsgeschicks vor Augen zu führen … Indem die Aussage Heideggers diese Begrenztheit vor Augen führt, öffnet sie gerade den Blick für andere Weisen der Erschlossenheit von Welt und für Formen des Denkens (nicht der Philosophie), die diesen Weisen der Erschlossenheit und des Welt24
36
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
Distanz ist es wohl mehr als eurozentrische Überheblichkeit oder Anbiederung, wenn Heidegger nun nicht mehr die »Bewahrung der europäischen Völker vor dem Asiatischen« 25 verlangt, sondern hofft, dass dieses Europa von seinem Anfang aus »sich den wenigen anderen großen Anfängen (öffnet), die mit ihrem Eigenen in das Selbe des Anfangs des unendlichen Verhältnisses gehören, worin die Erde einbehalten ist« (Heidegger 1979, Bd. 4, 177), und »europäisch-abendländisches und ostasiatisches Sagen auf eine Weise ins Gespräch kämen, in der Solches singt, das einer einzigen Quelle entströmt.« 26
aufenthaltes der Menschen jeweils entsprechen. Welche Formen der Erschlossenheit von Welt dies sind, woraus sie sich jeweils bestimmen und welche Weisen denkerischer Auslegung bzw. Vorzeichnung ihnen entsprechen, muss dabei zunächst offen bleiben. Aber der Einblick in die spezifische Bestimmtheit – und das bedeutet zugleich in die Begrenztheit – der uns zum Geschick gewordenen Weise der Welterschließung ermöglicht erst eine angemessene Annäherung an uns unvertraute Weisen des Daseins und Denkens.« (R. Thurnher, Der Rückgang in den Grund des Eigenen als Bedingung für ein Verstehen des Anderen im Denken Heideggers. In: Gander 1993, 132 f.). – Siehe auch: Weinmayr 1991, 275. 25 M. Heidegger, Europa und deutsche Philosophie. In: Gander 1993, 31. – Heideggers Urteil über »Europa« hat sich grundlegend gewandelt: 1936 erklärt er in dem in Rom gehaltenen Vortrag, dass die Zukunft unseres geschichtlichen Daseins »gleichkommt dem nackten Entweder-Oder einer Rettung Europas oder seiner Zerstörung.« (ebd.) Im Sommer 1942, bald nach dem Kriegseintritt der USA, heißt es in der Hölderlin-Vorlesung: »Wir wissen heute, dass die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d. h. die Heimat, und d. h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten.« (Heidegger 1979, Bd. 53, 68.) Ein Jahr später, nach Stalingrad, sagt er in der Heraklit-Vorlesung: »Der Planet steht in Flammen. Das Wesen des Menschen ist aus den Fugen. Nur von den Deutschen kann, gesetzt, dass sie ›das Deutsche‹ finden und wahren, die weltgeschichtliche Besinnung kommen.« (Heidegger 1979, Bd. 55, 123). – Zehn Jahre später, 1953/54, ist Heideggers Urteil ein gänzlich anderes: Nicht mehr die drohende Vernichtung Europas, sondern die »Europäisierung der Erde« erscheint ihm nun als das geschichtliche Problem. Auf die Feststellung des Japaners T. Tezuka: »Man findet die unantastbare Herrschaft Ihrer europäischen Vernunft durch die Erfolge der Rationalität bestätigt, die der technische Fortschritt stündlich vor Augen führt.« erwidert Heidegger: »Die Verblendung wächst, so dass man auch nicht mehr zu sehen vermag, wie die Europäisierung des Menschen und der Erde alles Wesenhafte in seinen Quellen anzehrt. Es scheint, als sollten diese versiegen.« (M. Heidegger 1959, 104). Siehe auch: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. In: Heidegger 1969. 26 Heidegger 1959, 94. – Siehe auch: »Und wer von uns dürfte darüber entscheiden, ob nicht eines Tages in Russland oder in China uralte Überlieferungen eines ›Denkens‹ wach werden, die mithelfen, dem Menschen ein freies Verhältnis zur technischen Welt zu ermöglichen.« (Heidegger 1976, 214) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
37
Einleitung
c.
Vergleich und Kritik
Vergleichen wir abschließend die angeführten Konzeptionen in Hinblick auf ihre Thematisierung des europäischen Denkens, so haben beide, die Negative Dialektik Adornos und das Seinsdenken Heideggers, zwar die Philosophie zum Gegenstand; sie sehen in ihr jedoch zugleich das Wesentliche und Spezifische des europäischen Denkens, so dass ihre Distanzierung von der Philosophie zugleich die Distanzierung vom europäischen Denken überhaupt bedeutet. Sie gewinnen durch die distanzierende Thematisierung der Philosophie einen Ort des Denkens, der nichts Positives, Haltgebendes zurücklässt, worauf das Denken sich stützen könnte. Dieser Ort ist in Adornos Negativer Dialektik die Negation des unwahren Ganzen, das NichtIdentische; in Heideggers Seinsdenken ist es ein haltlos offenes Denken. Von diesem Ort der Distanz aus treffen beide, Adorno wie Heidegger, Urteile über das europäische Denken, die ihren Ort – zumindest ihrem Selbstverständnis nach – nicht wieder in diesem haben. Adorno bezeichnet es dadurch, dass es im Banne der Identität stehe und Identitätsdenken sei; Heidegger dadurch, dass es vor-stellendes, gegenständlich-technisches Denken sei. Vergleichen wir diese beiden Urteile bloß hinsichtlich ihres Aussagegehalts, so stimmen sie – bei allen sonstigen Unterschieden der beiden Denker – darin überein, dass sie das »Verfügen« als Charakteristikum des europäischen Denkens bezeichnen. Für Adorno zeigt sich dies Verfügen in der Beherrschung des Anderen durch das »Gleichmachen«; für Heidegger in einem berechnenden Denken, das sich das Seiende verfügbar macht. 27 Vgl. dazu R. Safranski: »Adorno und Horkheimer stellen der Moderne eine ähnliche Krankheitsdiagnose aus. Heidegger spricht vom neuzeitlichen Aufstand des Subjekts, dem die Welt zum Objekt von Machenschaften wird, ein Vorgang, der aufs Subjekt zurückschlägt mit der Folge, dass dieses sich nur als Ding unter Dingen verstehen kann. In Adorno/Horkheimer findet sich derselbe Grundgedanke: ›Die Gewalt, die der neuzeitliche Mensch der Natur zufügt, kehrt sich gegen die innere Natur des Menschen. Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen.‹« Safranski geht so weit, Parallelen in der Erklärung des Völkermords zu erkennen: »Adorno: ›Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen … bis man sie … buchstäblich austilgt.‹ Als Heidegger bei dem Bremer Vortrag 1949 erklärte: Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen und Gaskammern, löste diese Äußerung, als sie später bekannt wurde, große Empörung aus gerade bei denen, die an den ähnlichen Gedanken Adornos keinen Anstoß genommen
27
38
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
Beide fassen also dieses Denken als in seinem Wesen aktivisch, praktisch auf, so nämlich, dass es die Differenz zu Seiendem als Grundkonstellation je schon vorfindet und darauf geht, dessen eigenes Sein zu negieren. Was diesem be-greifenden Denken gegenüber für Adorno ein Eingedenken der Natur wäre, das dem Anderen sich ›anschmiege‹, und für Heidegger ein Denken, das dem Sein gehört, wäre demnach als eine Weise zu verstehen, aus einer anderen Grundkonstellation zu denken, worin Denken und Sein in ›rechter Weise‹ eines sind. 28 Die bestimmtere Art dieses Denkens ist nicht unser Thema. Sie ist es nur insofern, als beide Denker diese Art in epistemischer Hinsicht ihrerseits als »wahres Denken« konzipieren, und ihr Urteil über das europäische Denken daher einen wesentlich normativen Charakter besitzt. Für Adorno ist europäisches Denken nicht nur identifizierendes Denken, sondern auch ein ungerechtes Denken, weil es dem Anderen Gewalt antut und es nicht in seinem Eigensein belässt; es wird nicht nur durch den Begriff des »Gleichmachen« beschrieben, sondern am Maß ursprünglicher Vernünftigkeit als Ideologie und falscher Schein beurteilt. Und auch Heidegger beschreibt das vorstellende Denken nicht nur als eine eigentümliche Weise des Daseins, sondern beurteilt es am Maß des Seinsdenkens als ein ver-stellendes Denken, welches, seinsvergessend, die Dinge nicht in ihrem Sein lässt. Damit aber beurteilen beide Denker das europäische Denken nicht nur aus der Distanz, sondern ordnen ihr Urteil zugleich dem epistemologischen Schema unter, worin der Ort des eigenen Denkens sich im ›Licht der Wahrheit‹ oder am ›Ursprung der Dinge‹ befinde, der Ort des europäischen Denkens hingegen der davon abgefallene und unwahre sei. Während im je eigenen Denken die Wahrheit zur
hatten. Dabei war Heideggers Äußerung durchaus im Sinne jenes kategorischen Imperativs gemeint, den Adorno so formulierte: ›Man muss das Denken und Handeln so einrichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.‹ Heidegger verstand sein Seinsdenken als eine Überwindung des modernen Willens zur Macht, der zur Katastrophe geführt hatte. Dieses Seinsdenken steht dem, was Adorno unter dem Titel ›das Denken der Nichtidentität‹ suchte, nicht allzu fern.« (Safranski 1994, 475 f.) 28 »So sehr«, urteilt J. Habermas, »die Intentionen ihrer jeweiligen Geschichtsphilosophien entgegengesetzt sind, so sehr ähneln sich beide, Adorno am Ende seines Denkweges, und Heidegger, in ihrer Stellung zum theoretischen Anspruch des objektivierenden Denkens und der Reflexion: das Eingedenken der Natur gerät in schockierende Nähe zum Andenken des Seins.« (Habermas 1981, Bd. 1, 516) – Vgl. auch: Mörchen 1980. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
39
Einleitung
Sprache komme oder wenigstens ihren Platz halte, ist die Wahrheit des anderen Denkens eine bloß gemachte oder gestellte; ein Fetisch, der an sich selbst das Unwahre zeige. Beide Distanzierungen wenden sich so in verschiedener Weise von ihrem Gegenstand, dem europäischen Denken, ab: Adornos Negative Dialektik bestimmt dieses nicht nur als Identitätsdenken, sondern destruiert zugleich die Idee der Identität der Identität und Nichtidentität als falschen Schein, indem sie in solchem Denken das Nicht-Identische, das Widersprüchliche und Aporetische, als dessen Wahrheit aufzeigt. Heideggers Seinsdenken hingegen hat sich von solchem Denken entfernt; es hat sich vom Seinsvergessen des europäisch-abendländischen Denkens abgewandt und achtet der unvordenklichen Ankunft des Unabwendbaren. Im einen Fall besteht also der Ort des eigenen Denkens in der Kritik der Philosophie als des Inbegriffs des Unwahren und Ungerechten; im anderen Fall ist er von ihr als unwesentlichem Denken ab- und Künftigem zugewandt. Auch wenn diese beiden Thematisierungen der Philosophie das europäische Denken überhaupt als einen Gegenstand der Kritik und damit Orte jenseits der Philosophie etabliert haben, so lässt sich von ihnen aus dennoch keine Untersuchung durchführen, welche dieses Denken selbst zum Gegenstand hätte. Denn beide negieren es und wenden sich in je eigentümlicher Weise von ihm – als fluchbeladenem oder seinsvergessenem – Denken ab. Diese Art ihrer Distanzierung lässt jedoch nicht nur Fragen ohne Antwort zurück, sondern wirft zudem neue Fragen auf: Können die gefällten Urteile über ihren Gegenstand, das europäische Denken, auch für sich bestehen, oder setzen sie den je eigenen Ort des Denkens voraus? Wie eigentlich konnte der ›Abfall‹ vom ursprünglichen Denken oder dem Wahren und damit die Konstitution dieses Denkens überhaupt geschehen? Wie ist es zu erklären, dass solch ›falsches Denken‹ sich dennoch als ›wahres Denken‹ etablieren und geschichtlich dauern konnte? Und warum sollte sich europäisches Denken im Denken Adornos oder Heideggers wieder des Wahren besinnen? Auf solche, das europäische Denken selbst betreffende Fragen müssen die Antworten beider Denker als große Erzählungen erscheinen, die von Ereignissen berichten, aber keine Erklärung geben. Dass im Anfang sich Odysseus des Hörens beraubt habe, um dem süßen Klang der Sirenen zu entgehen; dass Platon die Idee von Ideen erfand, wird nur erzählt. Es scheinen mythische Urtaten zu sein, vom Schicksal geschickt. Dass 40
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
am Ende aber die Vernunft oder das Sein sich entberge, wird glaubend erhofft. Diese Auslegungsweisen des eigenen und anderen, des eigentlichen und uneigentlichen, Denkens verlieren sich im ortlos Weiten und gehorchen geschichtlichem Walten, worin das historische Detail grau ist. Angesichts so großer Mythen bleibt nur ein abschließendes »So ist es« – Amen.
B.
Rekonstruktion der Philosophie als Epistemologie
Kehren wir angesichts der Kritik an dem ›Mystischen‹ und ›Mythischen‹, worin dieses utopische bzw. seinsvernehmende Denken sich verliert, nun nicht wieder zufrieden an den Ort zurück, den diese Distanzierungen ja überwunden haben, sondern halten fest, dass durch sie das europäische Denken zum Gegenstand gemacht worden ist, dann kommt es offenbar darauf an, sich eines Ortes zu vergewissern, von dem aus dieses Denken der Untersuchung unterzogen werden kann. Wir müssen dazu einen Ort finden, von dem aus das europäische Denken weder am Maß eigenen Denkens als ein unwahres oder verfallenes Denken denunziert noch so wie von den Kulturwissenschaften untersucht wird. Dieser Ort muss daher zum einen den epistemischen Verzicht einschließen, den Gegenstand, das europäische Denken, im Lichte der eigenen Wahrheit zu beurteilen; zum anderen aber muss von ihm aus dieses Denken nicht nur als eine gewisse Art zu denken, sondern zu demjenigen Gegenstand genommen werden, der nach dem ihm eigenen Anspruch »wahres Denken« ist. Dies aber, europäisches Denken zugleich als »wahres Denken« zu begründen, ist, so haben wir gesagt, die Philosophie. Also ist der gesuchte Ort jenseits der Philosophie, weil er auf eigene Wahrheit verzichtet; aber er hat die Philosophie als seinen Gegenstand, weil sie diejenige Veranstaltung ist, worin das europäische Denken sich als »wahres Denken« begründet. Von diesem Standort aus wollen wir – nichts. Wir wollen weder die Philosophie ›modernisieren‹ oder erneuern, noch in ihrem Rahmen einen ›Beitrag leisten‹ zur Vertiefung oder zur Erweiterung philosophischer Probleme. Wir wollen der Philosophie aber auch nicht den Prozess machen, weil sie etwa überflüssig, uneigentlich oder gefährlich wäre. Auch liegt es uns fern, abgeklärt zu erklären, dass es Wahrheit und Wissen nicht gebe, da dies ja der Gegenstand unserer Untersuchung sein soll. Unser Ort lässt sich am besten als das unA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
41
Einleitung
gläubige Staunen beschreiben, dass es so etwas wie eine »Philosophie« genannte Veranstaltung gibt. 29 Von diesem Ort jenseits der Philosophie nennen wir unsere Untersuchung des europäischen Denkens »Epistemologie« 30 und wollen zunächst den Gebrauch dieses Worts in Abgrenzung zu anderen GeDieser Ort entspricht vielleicht dem »gänzliche(n) Indifferentismus«, von dem Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (A X) spricht. Kant meint jedoch, solche Gleichgültigkeit sei »umsonst«, weil »deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann«; sie zwinge aber, einen Gerichtshof einzusetzen, der »kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst« sei. – Da wir von diesem Ort des gänzlichen Indifferentismus aus jedoch nichts wissen – weder, was jene »menschliche Natur« sei, der jene Gleichgültigkeit nicht gleichgültig sei, noch, dass es eine solche Natur nicht gebe –, meinen wir auch nicht, dass dieser Standort »umsonst« ist. Wir wollen von ihm aus nur darauf sehen, wie europäisches Denken sich als ein solches Wissen konstituiert. 30 Das Wort »Epistemologie« wird üblicherweise in anderer Bedeutung gebraucht, als wir es verwenden. Es wurde 1901 von J. M. Baldwin als »epistemology« in das Dictionary of Philosophy and Psychology auf- und als »épistémologie« in das von A. Lalande herausgegebene Vocabulaire critique et technique de la philosophie übernommen. Zunächst als ein überflüssiger Neologismus abgelehnt, ist es 1906 von dem Erkenntnistheoretiker E. Meyerson in Identité et réalité (Paris 1908; dt.: Identität und Wirklichkeit, Leipzig 1930) als Synonym für die »Philosophie der Wissenschaften« (1) akzeptiert worden. In der Folgezeit hat man das Wort in der angelsächsischen Tradition im weiten Sinne zur Bezeichnung der Theorie menschlicher Erkenntnis gebraucht. Es bezeichnet hier »the study of the origin, nature, and limits of human knowledge« (Encyclopaedia Brittanica 1999). In der französischen Tradition hingegen bezeichnet es in einer engeren Bedeutung das Studium der wissenschaftlichen Erkenntnis, die im Zusammenhang mit der Geschichte der (Natur-)Wissenschaften gesehen wird. Vgl. dazu: Canguilhem 1974. Was uns zu unserem davon abweichenden Gebrauch des Worts »Epistemologie« berechtigt, ist, dass das griechische Wort »episthmh« im strikten Sinne nicht »Erkenntnis«, sondern »Wissen« bedeutet. Während man unter »Erkennen« eine auf ein Objekt gerichtete Handlung versteht, um dieses als etwas zu erkennen, drückt »Wissen« eine Beziehung zu einem Urteil oder einer Aussage aus. So kann man jemanden als Hans erkennen, aber nicht als Hans wissen; man weiß, dass dieser Hans ist. Daher untersucht eine Theorie des Wissens anderes als eine Theorie der Erkenntnis. Jedenfalls in Hinblick auf die Wortbedeutung muss es daher angemessener erscheinen, die Theorie der Erkenntnis »Gnoseologie«, die Untersuchung des Wissens aber »Epistemologie« zu nennen. Dieser Wortbedeutung entspricht die sogenannte »epistemische Logik«, die nicht die Ursprünge, die Natur oder die Grenzen der Erkenntnis, sondern die Struktur und die Bedingungen des Wissens untersucht. Allerdings setzt diese Untersuchung ihrerseits schon vieles voraus, was sie weiß: dass etwa die Aussage »p« verschieden ist vom Glauben, »dass p«; und dass dieser Glauben verschieden ist vom Wissen, »dass p«. Während diese also einen schon bestimmten, konkreten und eingeschränkten Begriff vom Wissen hat, mit dem sie an dessen Untersuchung herangeht, werden wir uns im Folgenden um einen allgemeinen und voraussetzungslosen Begriff vom Wissen bemühen. 29
42
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Europäisches Denken und Philosophie
brauchsweisen erklären. Sie hat nicht die Erkenntnis, das Wissen oder die Wissenschaften zu ihrem Gegenstand, deren Natur, Ursprung oder Grenzen sie untersucht; denn so wäre sie selbst Philosophie. Sie analysiert kein gegebenes Wissen; sondern untersucht, wie gewisse Vorstellungen oder Gedanken europäischer Denker zu Wissen werden, wie sie von diesen Denkern selbst zu Repräsentanten von Wissen qualifiziert worden sind, die als solche das europäische Denken geformt und geprägt haben. – Unsere Untersuchung wird daher nicht kritisch im Sinne der Aufklärung sein, die ein vorhandenes Wissen am Maß eigenen Wissens als ein nur ›scheinbares Wissen‹ destruiert, und die diesen Schein des Wissens auf andere Motive zurückführt wie den Wunsch nach Glückseligkeit (Kant), die Furcht vor dem Anderen (Adorno), das Vergessen der Seinsfrage (Heidegger) oder den Willen zur Macht (Nietzsche). Vielmehr soll eben dieses Verfahren aufklärender Kritik selbst, die Destruktion von vorhandenem und die Konstitution von neuem Wissen, als eine der Eigentümlichkeiten des europäischen Denkens Gegenstand der Untersuchung sein. – Sie verfährt aber auch nicht analytisch, indem sie von einem vorhandenen Wissen ausgeht – sei es dessen ›unveränderlicher Kern‹ oder ›neuester Stand‹ –, um seine Elemente, seinen Aufbau und seine Struktur zu untersuchen. Denn diese Analyse des Wissens setzt selbst schon ein Wissen sowohl von ihrem Gegenstand als auch von ihrer Methode voraus, um dessen Genese es uns ja gehen soll. – Schließlich wird unsere Untersuchung auch nicht in konstruierender Absicht verfahren. Sie entwirft nicht a priori einen Begriff des »europäischen Denkens«, der Merkmale enthielte, um gewisse Gedanken, Ideen oder Einstellungen als »europäisch« klassifizieren zu können. Denn auch in diesem Fall müssten wir schon ein Wissen in Anspruch nehmen wie das, was »europäisches Denken« sei, dass Begriffe Intensionen und Extensionen haben oder haben können, oder dass der Begriff mit seinem Gegenstand übereinstimmen soll, – und setzten damit voraus, was doch erst untersucht werden soll. Wir wollen unsere Methode daher rekonstruierend nennen. Sie ist nicht Epistemologie im Sinne einer speziellen Wissenschaft vom Wissen, sondern sucht vielmehr, was als Wissen sich konstituiert, in seinem status nascendi auf. Die sie leitende Frage ist: Wie geschieht es, dass gewisse Gedanken oder Vorstellungen als Wissen konstituiert werden? Oder bestimmter: wie geschah es, dass gewisse Denkmuster zu den Grundsätzen und Prinzipien wurden, die für das europäische Denken bestimmend geworden sind? Die Frage geht also A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
43
Einleitung
nicht darauf, diese Gedanken oder Vorstellungen erklären oder verstehen zu wollen – denn die meisten sind, wie sich zeigen wird, einfach und manche trivial –; sie will sie aber auch nicht auf ihren Wissens- oder Wahrheitsgehalt hin prüfen oder hinterfragen, sondern nur nachvollziehen, wie sie zu Wissen wurden. 31 Diese rekonstruierende Epistemologie ist daher nicht selbst Epistemologie. Sie will Wissen weder erklären oder begründen noch als bloß vermeintliches Wissen der Kritik unterziehen; sie vollzieht nur nach, wie gewisse Gedanken oder Vorstellungen von Philosophen oder Epistemologen als Repräsentanten von Wissen ausgezeichnet wurden. Sie nimmt so den jenseitigen Standort eines staunenden Beobachters ein, der selbst nichts weiß und als solcher die Philosophen bei ihrem eigenartigen Tun betrachtet. 32 Zu dieser Rekonstruktion bedarf es einer allgemeinen Theorie des Wissens, die einerseits das, was »Wissen« ist, so unbestimmt lässt, dass unter sie alle möglichen Arten von Wissen fallen können, und die es uns andererseits erlaubt, das, was sich als »europäisches Denken« konstituiert hat, nachzuvollziehen. Sie wird im Folgenden skizziert. Die Lateinamerikanerin M. C. Boidi hat sich aus ihrer Sicht die Aufgabe gestellt, »die europäische Philosophie als das zu verstehen, was sie ist – nämlich die Philosophie einer Kultur, die sich selbst als die einzige, universelle, allumfassende darstellte.« (Boidi 1988, 116) Wir meinen allerdings, dass diese Darstellung selbst Philosophie ist, und wollen daher die europäische Philosophie nicht verstehen, sondern nachvollziehen, wie solches Darstellen funktioniert. 32 Unsere Methode der epistemologischen Rekonstruktion hat Ähnlichkeit mit M. Foucaults Diskursanalyse als einer Archäologie des Wissens. Und in der Tat gehen auch wir davon aus, dass es Wissen gibt; wir können Foucault auch darin zustimmen, dass es dessen Funktion ist, die tatsächlich vollzogenen Diskurse zu formieren und zu regulieren. Gleichfalls stimmen wir mit Foucault darin überein, dass diese epistemischen Strukturen nicht als geschichtslose Wesenheiten anzunehmen sind, sondern entstanden und daher kontingent sind. Aber wir setzen unserer Rekonstruktion nicht voraus, dass die Ursache der diskursregelnden Strukturen im sozialen Phänomen der Macht zu finden sei und diese daher als Dispositive der Macht zu analysieren seien. Denn woher sollten wir dies wissen? Und wüssten wir es, so wäre eben dieses Wissen vom Machtcharakter des Wissens selbst als ein gewisses Machtdispositiv zu analysieren. Anders als Foucaults Diskursanalyse setzen wir selbst kein Wissen voraus, und zielt unsere Methode der Rekonstruktion des Wissens nicht darauf, die je vorhandenen epistemischen Strukturen auf etwas anderes zurückzuführen als sie selbst sind. Sie vollzieht anhand bestimmter Muster, der europäischen, nur nach, wie sie zu solchen geworden sind. Sie analysiert daher keine sozialen Prozesse, die Diskurse formieren, sondern untersucht, wie gewisse Gedanken oder Vorstellungen epistemologisch als Wissen begründet worden sind. 31
44
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
Weiterhin lassen wir unsere Untersuchung von dem Vorverständnis leiten, dass das europäische Denken aus zwei ›Anfängen‹ geformt wurde: dem »Griechischen« und dem »Römischen«. Für jenes schicken wir voraus, dass es ihm um »Autonomie«, für dieses um »Autorität« geht. Wenngleich dies erst das Ergebnis der Untersuchung sein kann, so erscheint es doch ratsam, einleitend die Bedeutung festzulegen, in der wir beide Begriffe gebrauchen werden.
II. Elemente zu einer Theorie des Wissens In dem berühmt gewordenen Brief des Suquamish-Häuptling Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, J. Q. Adams, in dem er der Legende nach die europäischen Eindringlinge rücksichtsloser Verbrechen beschuldigte, ist der Satz formuliert, der diese Anklage begründet: »Die Erde ist meine Mutter und die Tiere meine Brüder und Schwestern.« 33 Anhand dieses Satzes wollen wir einleitend den Bedingungen nachgehen, unter denen dieser »Satz des Häuptlings« ein Wissen repräsentiert, um daraufhin eine Definition von »Wissen« anzugeben. Setzen wir unseren gewöhnlichen und gemeinsamen ›europäischen Verstand‹ als Maßstab der Prüfung voraus, so kann dieser Satz in semantischer Hinsicht gar nicht als eine sinnvolle Proposition beurteilt werden, sondern muss als ein sinnloses Wortgebilde erscheinen. Denn der Satz kann nicht nur deshalb kein Wissen repräsentieren, weil ihm kein Sachverhalt entspricht, sondern weil in ihm die kategorialen Ebenen verwechselt und vermischt werden: der Begriff der Erde bezeichnet eine allgemeine und unbelebte Substanz, der daher schlechterdings nicht die Eigenschaft zukommen kann, die Mutter des Häuptlings zu sein; und ähnliches gilt für die Verwendung des Begriffs der Tiere, die als Nicht-Menschen in keiner Verwandtschaftsbeziehung zu ihm stehen können. An jenem Verstand gemessen erscheint es also als ganz unmöglich, dass der Satz des Häuptlings ein Wissen repräsentiert. In einem nächsten Schritt können wir nun von der propositionalen Gehaltlosigkeit des Satzes absehen und nach der subjektiven
33
Siehe: Kaiser 1985. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
45
Einleitung
Bedeutung für den Sprecher fragen. Er ließe sich in der ideologiekritischen Tradition der baconischen Idolenlehre als Äußerung eines kindhaft-anthropomorphisierenden Bewusstseins verstehen, das alle umgebenden Dinge in Bezug zu sich selbst setzt; oder er könnte in der hermeneutischen Tradition viconischer Geschichtsphilosophie als poetisch-bildhafter Ausdruck eines archaischen Menschheitsglaubens an ein ganzheitliches Mensch-Natur-Verhältnis gedeutet werden. Als Repräsentanten jenes gewöhnlichen Verstandes mögen wir es begrüßen oder bedauern, selbst einem solchen »Stand der Unwissenheit« enthoben zu sein, der sich in dem Satz ausdrückt; dies ändert jedoch nichts an dem Urteil über die propositionale Gehaltlosigkeit dieses Satzes. Was wären nun aber die Bedingungen, unter denen dieser Satz doch ein Wissen repräsentiert? Nehmen wir hierzu fraglos an, dass der Suquamish-Häuptling als Autor des Satzes über die subjektiven Fähigkeiten zur Urteilsbildung verfügt, dass er die nötigen Informationen über seine Verwandtschaftsverhältnisse besitzt und die Intelligenz hat, über sie ein angemessenes Urteil bilden zu können, sowie dass er ehrlich ist und mit der Äußerung dieses Satzes seine eigene Überzeugung ausdrückt. Unter diesen subjektiven Voraussetzungen lässt sich nun sagen, dass der »Satz des Häuptlings« offenbar nur dann ein Wissen repräsentieren kann, wenn er auf eine »Welt« bezogen ist, in welcher er keine Vermischung der kategorialen Ebenen darstellt. Dies wäre in einer Welt der Fall, die durch die Kategorie der Verwandtschaft bestimmt ist. In dieser Welt wäre der Satz: »Die Erde ist meine Mutter und die Tiere meine Brüder und Schwestern« ein sinnvoller Satz, weil er in dem, was er aussagt, der kategorialen Bedingung der Verwandtschaft entspricht. Hier entspricht der Satz der kategorialen Ebene und vermag daher Wissen zu repräsentieren. Wenn wir nun weiterhin annehmen, dass diese »Welt der Verwandtschaften« die vorhandene, in Überlieferungen, Erzählungen und Ritualen festgelegte und ausgestaltete Welt der Amerikaner ist, dann können wir sagen, dass der »Satz des Häuptlings« auch tatsächlich ein Wissen repräsentiert, weil und wenn er die Zuordnung der Begriffe von Erde und Tiere der Art der Verwandtschaft mit ihnen entsprechend angemessen ausdrückt. In dieser Welt kann der Satz also einen Sachverhalt angemessen beschreiben und daher Wissen repräsentieren. Diese vergleichende Überlegung verweist darauf, dass ein und derselbe Satz offensichtlich Nicht-Wissen und Wissen zu repräsen46
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
tieren vermag. Während der Amerikaner Seattle den europäischen Eindringlingen, indem er sie des unsachgemäßen Umgangs mit Erde und Tieren anklagt, den Status der Unwissenheit zuweist, weisen die Europäer umgekehrt den amerikanischen Einwohnern den Status der Unwissenheit zu und halten diesen ihrerseits einen unsachgemäßen Gebrauch der Erde und der Tiere vor. Der Satz, der in der »Welt der Amerikaner« aufgrund ihres impliziten Kategoriensystems der Verwandtschaften ein Wissen darstellt, stellt in der »Welt der Europäer« aufgrund ihres impliziten Kategoriensystems ein Nichtwissen dar. Was Wissen ist, ist offenbar verschieden und hängt vom jeweiligen Kategoriensystem ab.
A. Wissen als »epistemische Tätigkeit« Halten wir als Resultat dieser einleitenden Überlegung die offensichtliche Gegensätzlichkeit der Urteile über den epistemischen Status dieses Satzes fest, so können wir in Hinblick auf eine entsprechende Definition von »Wissen« formulieren: ein Satz repräsentiert Wissen unter der Bedingung eines bestimmten »Kategoriensystems« und kann daher epistemisch gegensätzlich beurteilt werden, als Repräsentant von Wissen wie Nichtwissen. Diese epistemischen Beurteilungen von Sätzen geschehen auf der Grundlage eines je vorhandenen »Kategoriensystems«; sie stellen fest, ob ein Satz ihm entspricht oder widerspricht. Auf dieser Grundlage wollen wir »Wissen« nun folgendermaßen definieren: unter »Wissen« soll nicht die Relation der Übereinstimmung einer Aussage oder einer Vorstellung mit einem ihr entsprechenden Sachverhalt verstanden werden, der durch sie in sprachlicher oder bewusster Form repräsentiert wird, sondern diejenige Tätigkeit, welche gegebene Aussagen oder Vorstellungen auf einen je vorhandenen »epistemischen Code« bezieht und sie diesem Code gemäß als Repräsentanten von Wissen (bzw. Nichtwissen) beurteilt. Diese Definition des Wissens als einer solchen Tätigkeit erlaubt es uns auf einer metatheoretischen Ebene, jene beiden entgegengesetzten Urteile über den epistemischen Status des »Satzes des Häuptlings« erklären zu können. Denn beide Urteile stimmen in der Tätigkeit überein, die Satzaussage auf einen impliziten epistemischen Code zu beziehen, und sind daher beide Wissen; sie sind jedoch einander entgegengesetzt, weil der epistemische Code, auf A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
47
Einleitung
den sie die Aussage beziehen, je verschieden ist: der »Code der Amerikaner« ist nicht der »Code der Europäer«. Explizieren wir diese Definition, so soll unter dem Begriff des »epistemischen Codes« ein gewisser Corpus verstanden werden, der in impliziter Form das, was Wissen ist, birgt und speichert, und den, als unverfügbar vorhanden, die epistemisch tätigen Subjekte je vorfinden. Unter diesem allgemeinen Begriff eines »epistemischen Codes« wollen wir die konkreteren Gestalten, in denen er vorliegen kann, als »Ur-Erzählung«, »Ur-Bild«, Ur-Text« oder »Ur-Sache«, zusammenfassen. Er entspricht dem, was wir eingangs das »implizite Kategoriensystem« genannt haben. Die individuelle Gestalt, in der der epistemische Code je vorhanden ist, bestimmt die jeweilige Art des Wissens und prägt die jeweilige Kultur. Sie zu analysieren und zu vergleichen, ist Aufgabe der Ethnologie und der vergleichenden Kulturwissenschaft. 34 Unser Begriff des »epistemischen Codes« überschneidet sich mit dem strukturalistischen Begriff des »Zeichen-« oder »Symbolsystems«, da in beiden Fällen das Epistemische als Aktualisierung einer selbst invarianten Zeichenstruktur verstanden wird. Indem der Strukturalismus jedoch die individuellen, in Mythen und Riten vorhandenen Systeme auflöst – der ältere, um in ihnen einen »universellen Code« zu finden, der neuere, um der Genese und den Brüchen der Strukturen nachzugehen –, verfehlt er unseres Erachtens die spezifisch epistemische Qualität dieser Zeichensysteme. Denn sie codieren Wissen nur unter der Bedingung, dass sie in ihrer Individualität, d. h. als invarianter, schlicht vorhandener Maßstab von Wissen, vorausgesetzt sind. Wenn Strukturalisten daher in diesen Systemen nach einer »Universallogik« suchen oder ihrer Genese nachgehen, so verstehen sie die Systeme als etwas anderes, als sie selbst sind; sie zerstören sie damit als »epistemischen Code«. Nur unter der Bedingung der Invarianz codiert das jeweilige Symbolsystem Wissen; wird es als variant beurteilt – sei es als Variante eines universellen Codes oder als ein kontingentes Aggregat von Zeichen –, verliert es seine epistemische Qualität. »Der Mythos«, schreibt R. Panikkar, »kann nicht nachgedacht, ohne gestört und sogar zerstört werden. Der Mythos ist entweder gegeben oder nicht gegeben, kann aber reflektierend nicht nachgeholt werden.« (R. Panikkar, Mythos und Logos. Mythologische und rationale Weltsichten. In: Dürr 1991, 212). Gegen die strukturalistische Methode ist von unserem Standpunkt aus einzuwenden, dass sie zwar andere Symbolsysteme untersucht, aber nicht ihr eigenes. Sie setzt ihrer Untersuchung anderer Symbolsysteme ihr eigenes – das der »Universalität« oder der »Kontingenz« – als den selbst invarianten Maßstab der Untersuchung voraus, und beraubt so jene ihrer epistemischen Qualität, nicht aber das eigene. Ihr fehlt zu einer Theorie des Wissens die Selbstreflexivität. Um unseren Einwand mangelnder Selbstreflexivität zu erläutern, wollen wir auf die methodischen Überlegungen verweisen, die F. W. J. Schelling in seiner »Einleitung in die Philosophie der Mythologie« der Untersuchung verschiedener Symbolsysteme vorausschickt. Er unterscheidet hier zwischen zwei Untersuchungsmethoden: der allegorischen und der tautegorischen (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 196). Die allegorische erkennt
34
48
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
Der epistemische Code bliebe ein toter Zeichencorpus, wenn er nicht durch die epistemische Tätigkeit von Menschen aktualisiert würde 35. Unter dieser Tätigkeit soll, zunächst ganz allgemein, diejenige geistige Arbeit verstanden werden, die aus der Fülle der im menschlichen Bewusstsein gegebenen Vorstellungen diejenige Vorstellung oder diejenigen Vorstellungen auswählt, die das im epistemischen Code implizit vorhandene Wissen repräsentieren. Diese Arbeit decodiert gleichsam den epistemischen Code, indem sie die Vorstellungen auswählt oder auffindet, die dessen implizite Bedeutung explizieren. Diese epistemische Tätigkeit der Wissensrepräsentation kann in ganz verschiedener Weise geschehen und hängt von der Gestalt ab, in der der epistemische Code jeweils vorhanden ist. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Arten der Wissensrepräsentation genannt: Tanzen, Träumen 36 , Meditieren, Beten, Textverstehen, Analyse oder Synthese von Aussagen, Beobachten. Als epistemische Tätigkeiten treffen sie darin überein, dass sie eine geistige Arbeit leisten, die gewisse Vorstellungen als aktuelle Repräsentanten des epistemischen Codes hervorbringen oder auszeichnen.
ihre Untersuchungsobjekte, die Mythen, als etwas anderes, als sie sind: Einkleidungen oder Entstellungen von ursprünglichen »Wahrheiten« oder bloß zufällig-willkürliche Erdichtungen. Die tautegorische hingegen fasst die Mythen selbst als »Wahrheiten« (ebd., 214). Nach dieser seien die Mythen als das aufzufassen, was sie innerhalb des jeweiligen epistemischen Bezugssystems sind: »Die Götter sind hier wirklich existirende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind.« (ebd., 196) Sie seien invariante, vor-zeitliche ›epistemische Mächte‹, die das jeweilige Wissen spezifisch prägen. Insofern codieren die Mythen als Götterlehren Wissen. So provozierend dieser tautegorische Begriff vom Mythos als Wissen für das sogenannte »wissenschaftliche Denken« auch ist, – Schelling verlässt diesen Ansatz jedoch wieder, indem er die je individuellen Codes doch zu bloßen Stufen und Etappen eines theogonischen Geschichtsprozesses erklärt, der zu seinem Endpunkt die »philosophische Religion« habe. Schelling nimmt zwar andere, nicht-europäische Wissensformationen als solche ernst; er integriert sie dann aber doch in das Modell einer Universalgeschichte, das europäisch konnotiert ist. Für diese Inkonsequenz besteht heute kein Zwang mehr. – Zur aktuellen Problematik des »Verstehens anderer Kulturen« siehe: Habermeyer 1996. 35 Unsere Auffassung von der aktiven Rolle des Menschen im epistemischen Prozess widerspricht der strukturalistischen, nach der es nicht die Menschen seien, die in Mythen denken, sondern, wie C. Lévi-Strauss schreibt, »sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken.« (Lévi-Strauss 1976, 26). 36 Das Träumen bildet eine gewisse Ausnahme: Traumvorstellungen können Wissen repräsentieren, ohne dass das Träumen als geistige Arbeit bezeichnet werden kann. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
49
Einleitung
Durch sie wird das implizit vorhandene Wissen als Vorstellung vergegenständlicht. 37 Wie zu jeder Arbeit bedarf es auch zur Ausübung dieser Tätigkeit gewisser subjektiver Dispositionen. Nicht jeder kann und nicht jeder muss diese Arbeit verrichten. 38 Es bedarf dazu der Kraft, die Trennung zwischen dem alltäglichen Haben beliebiger gegebener Vorstellungen und der Produktion von Vorstellungen als Wissensrepräsentationen bewusst und dauerhaft aufrecht erhalten zu können, sowie der Fähigkeit und Ausdauer, die epistemische Tätigkeit zweckmäßig auf diese Herstellung von Wissen auszurichten, und schließlich auch des Vermögens, das Produkt dieser geistigen Arbeit im gesellschaftlichen Kontext als Wissensrepräsentation zu vermitteln 39 . Der Besitz dieser Fähigkeiten kann sowohl auf einer Disposition gewisser Menschen beruhen als auch durch Übung erworben werden. Von dieser Definition des Wissens als einer besonderen Art der Arbeit nehmen wir an, dass sie es uns gestattet, ganz unterschiedlichen epistemischen Bezugssystemen gerecht zu werden. Sie gibt Unsere Definition von Wissen als geistiger Arbeit übernimmt das Marxsche Theorem, wonach die menschliche Tätigkeit wesentlich Arbeit ist. Während Marx jedoch den Arbeitsbegriff anhand der materiellen Reproduktion expliziert, wird er hier auf den Bereich der epistemischen Reproduktion menschlicher Gesellschaften bezogen. Sind die Konstitutionselemente materieller Arbeit der vorhandene Zweck der Arbeit, der gegebene Rohstoff als Gegenstand der Arbeit sowie die menschlichen Fähigkeiten und Werkzeuge als Mittel der Arbeit, so bilden in Analogie dazu der »epistemische Code« den je vorhandenen, invarianten Zweck der epistemischen Arbeit, die gegebenen mannigfaltigen Vorstellungen den zu bearbeitenden Rohstoff und die geistigen Fähigkeiten des Menschen die Mittel ihrer Bearbeitung. 38 Es liegt nahe, die Anforderungen, die die epistemische Arbeit stellt, in Abhängigkeit vom Organisationsgrad einer Gesellschaft zu betrachten, so dass in Gesellschaften mit geringem Differenzierungsgrad alle oder viele diese epistemische Arbeit verrichten, in Gesellschaften mit hoher Komplexität nur wenige. Für den ersten Fall wären australische Kulturen ein Beispiel, in denen offenbar alle Mitglieder an der Wissensproduktion teilgenommen haben, und es keine ausgeprägte Differenz zwischen Vorstellungen und Wissen gegeben hat, so dass jede Vorstellung zugleich eine epistemische Bedeutung hatte (siehe: Petri 1982, 404–428; vgl. auch: Schwarz 1995, 36–44). In sog. »Hochkulturen« hingegen ist die Wissensproduktion die Angelegenheit bestimmter sozialer Gruppen, in der Regel der Priester oder der Wissenschaftler, die dazu des Erwerbs spezifischer Fähigkeiten bedürfen. Dennoch scheinen auch in höher organisierten Gesellschaften gemeinschaftliche Feiern zur gemeinsamen Wissensrepräsentation als zwar gelegentliche, aber kulturell notwendige Handlungen beibehalten worden zu sein. 39 Vgl. Manning 1976. – Zur Diskussion um den epistemischen Status der afrikanischen Weisheit siehe: Presbey 1997, 74–93. 37
50
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
einen genügend allgemeinen Rahmen, um die spezifischen Wissenssysteme in ihrer Eigentümlichkeit zu rekonstruieren, ohne selbst ein eigenes Wissenssystem vorauszusetzen. Denn nach dieser Definition ist Wissen kein idealer Zustand, der etwa in der Korrespondenz einer Vorstellung oder Aussage mit ihrem Objekt oder einer Tatsache besteht; nach ihr gilt vielmehr diese Idee des Wissens selbst als eine spezielle Art des Wissens, die einen ihr eigentümlichen epistemischen Code aktualisiert. Unsere Definition setzt also der Untersuchung der Wissensarten keinen eigenen Begriff vom Wissen voraus, sondern nennt nur die Bedingungen, unter denen unterschiedliche, historisch gegebene Wissenssysteme in ihrer Eigentümlichkeit rekonstruiert werden können. Sie nimmt zwar an, dass es Wissen gibt; aber nicht als Verwirklichung eines idealen Zustands, sondern als eine Vielzahl einzelner Wissenssysteme. Zudem erlaubt es uns eine solch allgemeine Definition von Wissen im Weiteren auch, Konflikte zwischen den Kulturen und die Entstehung neuer Kulturen als Transformationsprozesse gewisser Symbolsysteme in verbindliche und invariante epistemische Codes, als Kämpfe um deren Institutionalisierung und Standardisierung, zu lesen.
B.
Der Begriff: »epistemisches Gesetz«
Um unser Thema eingrenzen zu können, wollen wir im Folgenden den Bedingungen nachgehen, unter denen sinnvoll von einem »epistemischen Gesetz« gesprochen werden kann. Unter diesem Ausdruck verstehen wir eine gewisse Regel, die die epistemische Tätigkeit anleitet, die es also erlaubt, gewisse Vorstellungen epistemisch auszuzeichnen. Sie ›vermittelt‹ gleichsam zwischen dem implizit und invariant vorhandenen epistemischen Code einerseits und der Fülle der gegebenen Vorstellungen andererseits. Eine solche, die epistemische Tätigkeit anleitende Regel wäre informationstheoretisch als ein »Schlüssel« zu denken, der den Code ›knackt‹, der also eine geregelte Transformation des implizit vorhandenen Wissens in ein explizites und gegenwärtiges Wissen ermöglicht. Mit der Einführung eines solchen »epistemischen Gesetzes« schließen wir die Untersuchung solcher Wissensarten aus, deren epistemische Tätigkeit regellos ist und auf Intuitionen oder Assoziationen beruht, die man in kritischer Absicht als »Glossolalie« bezeichnen mag. Um das mit diesem Gesetz Gemeinte zu erläutern, wollen wir es A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
51
Einleitung
zunächst von äußeren Regelungen unterscheiden. So lassen sich Regeln anführen, nach denen gewissen Menschen die Kompetenz zugewiesen wird, den vorhandenen Wissenscode authentisch zu aktualisieren. Diese Kompetenzzuweisungsregeln können die Erbfolge oder das Charisma sein, wie im Schamanismus, die Adoption in gewissen Priesterschaften oder die Absolvierung von Ausbildungs- und Ausleseverfahren in einer Wissenschaftlergemeinschaft. Die Kompetenzzuweisung kann aber auch durch Initiationsriten geschehen wie dem schamanischen Neugeburtsritual, der Priesterweihe oder akademischen Habilitationsfeiern. Doch diese Regeln als soziale Verfahren der Kompetenzzuweisung geben nur äußerliche Regelungen an; sie enthalten aber kein epistemologisches Kriterium. Nun scheint es jedoch, als sei es in dem von uns gesetzten Rahmen unmöglich, dass es ein solches vermittelndes »epistemisches Gesetz« geben könne. Denn entweder ist ein solches Gesetz nur eine gewisse Vorstellung, die, um epistemisch als Gesetz ausgezeichnet werden zu können, schon die Existenz eines solchen Gesetzes voraussetzt. Man müsste schon wissen, dass diese Vorstellung den epistemischen Code ›knackt‹. Oder aber dieses Gesetz muss als diejenige invariante Instanz angenommen werden, nach der gewisse Vorstellungen epistemisch als Wissen ausgezeichnet werden, die als solche aber selbst nicht vorgestellt werden kann. Um also ein Gesetz anzunehmen, das die Transformation des impliziten in explizites Wissen regelt und leitet, müsste es ›irgendwie‹ beides zugleich sein: invariant, um die Qualität des Epistemischen zu haben; und variant, um überhaupt als Regel auf Vorstellungen anwendbar zu sein. 1.
Gesetz und Satz
Um nun den Bedingungen nachzugehen, unter denen die Existenz eines solchen epistemischen Gesetzes möglich ist, wollen wir uns in einer historisch-systematischen Skizze dem Begriff des Gesetzes zuwenden. Dazu soll unter einem Gesetz zunächst nur die Vorstellung von einer Regelmäßigkeit der Beziehung zwischen zwei Klassen von Vorstellungen verstanden werden. So wäre etwa die Vorstellung vom Wechsel von Tag und Nacht ein Gesetz, wenn vorgestellt wird, dass (wie etwa nach 1. Mose 1) jedem Tag eine Nacht und jeder Nacht ein Tag folgt. Wäre es jedoch so, dass zwar der Vorstellung vom Tag regelmäßig die Vorstellung von der Nacht folgte, ohne dass dadurch 52
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
die Regelmäßigkeit von Tag und Nacht vorgestellt wird, so wäre diese regelmäßige Folge der Vorstellungen kein Gesetz, weil sie nicht die Regelmäßigkeit der Folge vorstellt. Umgekehrt jedoch wäre die Vorstellung der Regelmäßigkeit kein Gesetz, wenn der Vorstellung vom Tag nicht die Vorstellung von der Nacht folgte. Das Gesetz als Vorstellung der Regelmäßigkeit von Vorstellungen zwingt also der Abfolge von Vorstellungen gleichsam ›von außen‹ oder ›von oben‹ eine Regelmäßigkeit auf; und es gilt nur insofern als Gesetz, als es ihr diese Regelmäßigkeit aufzwingt. Gesetze in diesem Sinne als Vorstellungen über Vorstellungen setzen offenbar schon einen gewissen Grad der Selbständigkeit des vorstellenden Subjekts gegenüber seinen Vorstellungen voraus. Es bedarf der Fähigkeit einer zusammenfassenden Verallgemeinerung, um aus der Fülle der gegebenen Vorstellungen gemeinsame Eigenschaften hervorzuheben, diese von anderen Eigenschaften abzugrenzen und die Bildung von Klassen von Vorstellungen vorzunehmen; es erfordert zudem eines gewissen Grads der Distanzierung des Subjekts gegenüber seinen Vorstellungen, um die selbständige Vorstellung der Regelmäßigkeit von Vorstellungen herauszubilden; und drittens setzt diese Vorstellung einen Grad an Urteilskraft voraus, um die Vorstellung der Regel sowohl von den gegebenen Vorstellungen unterscheiden als sie auch auf diese beziehen zu können. – In historischer Hinsicht gilt als das erste überlieferte Dokument eines solchen Gesetzes der Codex Hammurabi, der die Vorstellungen des babylonischen Gesetzgebers als eine Reihe von festen »Wenndann«-Beziehungen zwischen Klassen vorstellt. So nennt eines der Gesetze die Regel: Wenn jemand Raub begeht und ergriffen wird, dann wird er getötet. Diese Regel, so dürfen wir annehmen, galt als Gesetz, weil und solange alle diejenigen, die geraubt haben und ergriffen wurden, tatsächlich getötet wurden. Die Geltung dieser Regel als Gesetz setzte also einen hohen Grad der Konzentration und Ausübung von Macht voraus, so dass wir annehmen können, dass die eigenständige Vorstellung des Gesetzes erst mit dem Bestehen der frühen Hochkulturen vorhanden war 40. Der Charakter der Allgemeinheit, der Festigkeit und Dauerhaftigkeit dieser Vorstellung von Gesetzen legt es nahe, sie in Verbindung mit der Entstehung der Schrift zu bringen. Denn wenn es der Zur Entstehung der Gesetzesvorstellung siehe: Cassirer 1994, 137 ff.; Wendorff 1985, 13 ff.; Frankfort 1978; Topitsch 1958.
40
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
53
Einleitung
Vorzug der Schrift ist, gewisse Vorstellungen in der Gestalt dauerhafter Zeichen zu fixieren, so bietet sie sich wegen dieser Beständigkeit als das Medium an, um in ihr auch die Vorstellung von Gesetzen zu fixieren. Unabhängig von der historischen Frage, ob wir aus schriftlosen Kulturen keine Gesetze kennen, weil diese nicht schriftlich festgehalten worden sind, oder weil sie keine Gesetze in diesem Sinne hatten, liegt aus systematischen Gründen die Annahme nahe, dass zwischen der Herausbildung von Gesetzen und der Schriftentwicklung ein enger Zusammenhang besteht. Denn die Möglichkeit, Gesetze in schriftlicher Form zu fixieren, bedingt einen Grad der Entwicklung der Schrift, der dem Charakter der Abstraktion und der Eindeutigkeit von Gesetzen entspricht. Schriftliche Fixierungen von Gesetzen lassen sich daher erst dort finden, wo die Semantik der Schrift sich vom Bild zum Begriff entwickelt hat, wo also Schriftzeichen nicht nur Einzeldinge und Klassen (Götter, Könige, Soldaten etc.) darstellen, sondern auch abstrakte Dinge (Vorgänge, Eigenschaften etc.) in eindeutiger Weise bezeichnen. Diese Möglichkeit ist jedoch erst mit den Wortsilbenschriften der Hochkulturen und ihren Syllabarien seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. gegeben. 41 – Weiterhin macht es die schriftliche Fixierung von Gesetzen erforderlich, Zeichen- bzw. Wörterfolgen zu Sätzen zu organisieren, da ohne die Struktur des Satzes keine feste und eindeutige Beziehung zwischen den Zeichen, durch die Gesetze als Regeln erst schriftlich fixiert sind, gewährleistet ist. Diese syntaktische Gliederung der Schrift in Sätze finden wir zwar explizit erst in der griechischen Schrift, so dass wir uns hier mit der Annahme begnügen müssen und können, dass der Kreis der vormals Schriftkundigen so begrenzt und geschult war, dass er die semantische Gliederung der Zeichenreihen auch ohne syntaktische Zeichen vornehmen konnte. In unserem historisch-systematischen Kontext ist nun nicht die Entstehung der Schrift im Einzelnen von Bedeutung, wohl aber die Annahme, dass die Entstehung der Vorstellung von Gesetzen als Regeln zu ihrer schriftlichen Fixierung und damit zur syntaktischen Gliederung der Schrift zu Sätzen drängte. Zwar sind die allerwenigsten überlieferten Zeichenfolgen Darstellungen von Gesetzen; aber umgekehrt drängte das Bedürfnis nach einer bleibenden und adäqua-
Zur Entwicklung der Schrift vom Anschaulich-Bildhaften zum Abstrakt-Formalen siehe: Földes-Kapp 1975.
41
54
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
ten Fixierung dieser Art von Vorstellungen zur Gliederung der Schrift in Sätze. 2.
Zur Dialektik von Gesetz und Satz
Unter der Voraussetzung dieses Zusammenhangs von Gesetz und Satz wollen wir uns ihrer speziellen Verbindung in einem Gesetzestext zuwenden. Gesetzestexte gelten zum einen, wie erörtert, als schriftliche Fixierung dessen, was von bestimmten Subjekten als Regeln vorgestellt wird. In dieser Hinsicht sind sie dauerhafte Repräsentanten dessen, was, nur vorgestellt, leicht vergessen wird; ein verlängertes und vergegenständlichtes Gedächtnis. Zum anderen jedoch kann dieses Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem umschlagen: Gesetzestexte repräsentieren nicht nur die Vorstellung von Gesetzen, sondern sie codieren selbst das, was als Gesetz vorzustellen ist. Der Text tritt als Bedeutungsträger an die Stelle des Subjekts und ersetzt dieses, so dass das Gesetz seinen Ursprung nicht mehr in der Vorstellung des Subjekts, sondern in sich selbst hat, und die Vorstellung nun mehr die Bedeutung aktualisiert, die im Gesetzestext codiert vorliegt. In dieser Hinsicht gleicht das Subjekt dem Zauberlehrling, dessen Produkt eine eigenständige Existenz gewinnt, weil die Zeichen das, was sie bedeuten, in sich selbst enthalten. Unter der Bedingung eines solchen semantischen Umschlags besitzen syntaktische Satzgebilde als Gesetzestexte offensichtlich einen semantischen Doppelcharakter: Sie sind einerseits literal verfasste Symbole, die dauerhaft das repräsentieren, was von Subjekten vorgestellt wird; andererseits codieren sie die Bedeutung selbst, so dass umgekehrt die Vorstellungen der Gesetze durch die Subjekte das repräsentieren, was in dem Gesetzestext enthalten ist. Diese beiden Eigenschaften von Gesetzestexten scheinen sich gegenseitig auszuschließen und doch zu bedingen: Gesetze als bloße Vorstellungen von Regeln drängen der Beständigkeit wegen zu ihrer schriftlichen Fixierung in Sätzen, die jene bedeuten; Gesetzestexte selbst sind jedoch nur ein Gerippe, dessen semantischer Gehalt vorgestellt, d. h. aktualisiert, ausgelegt und interpretiert, werden muss. Im Sinne dieses Doppelcharakters sind Gesetzestexte sowohl »Abbilder« als auch »Urbilder« von Gesetzen. 42 42
Zur philosophischen Deutung dieses Doppelcharakters vgl. Platon, Phaidros 274c– A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
55
Einleitung
Zur historischen Illustration dieser angenommenen semantischen Dialektik von Gesetzestexten mag das konfliktreiche Verhältnis zwischen der Königs- und Priesterherrschaft im alten Ägypten als Beispiel dienen. Dort galten anfangs, so weit wir wissen, die Gesetzesvorstellungen des Pharao als die maßgebende Instanz, während den Aufzeichnungen der Priesterschaft eine nur fixierende Funktion zukam, die damit die Rolle des Pharaos verherrlichten. Im neuen Reich (ab 1570 v. Chr.) erstarkte jedoch die Priesterschaft; sie schrieb sich nun – spätestens nach Echnaton und seit Tutenchamun – die semantische Macht zu, das in den »heiligen Schriften« Codierte authentisch auszulegen, während der Pharao zunehmend in die Funktion gedrängt wurde, das priesterliche Wissen umzusetzen und zu sichern. So konfliktreich das Verhältnis der beiden Gesetzesmächte, des Palasts und des Tempels, auch war, so blieben sie doch beide bis zuletzt aufeinander angewiesen. 43 – In ähnlicher Weise ließe sich auch die Konfliktlage zwischen Kaiser und Papst bzw. Adel und Klerus um die ›semantische Macht‹ im europäischen Mittelalter beschreiben. 3.
Das »epistemische Gesetz«
Gehen wir von diesem dargelegten Zusammenhang vom Gesetz als einer Regel und dem Satz als Bedeutungsträger aus, so ist die Existenz eines epistemischen Gesetzes, das die Transformation von implizitem in explizites Wissen regelt, offenbar dann möglich, wenn ein solches Gesetz in der Form eines Satzes vorhanden ist, der die Bedeutung codiert. Denn als Gesetzestext kann der Satz, so haben wir gesagt, in seiner syntaktischen Zeichenstruktur nicht nur die Vorstellung einer Regel repräsentieren, sondern diese Regel in sich selbst codieren. Unter der Bedingung der Schrift wäre also die Existenz eines epistemischen Gesetzes möglich. Dieses Gesetz nun müsste ein solcher Satz sein, der zum einen in sich enthält, was Wissen überhaupt ist, der also der »epistemische Code« ist, so dass alle Vorstellungen nur relativ zu ihm Wissen repräsentieren können, und der zum anderen die Regel formuliert, nach der implizites Wissen in 278b; W. v. Humboldt, Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Humboldt 1985, 77 ff.; sowie – als Gegenentwurf – Derrida 1974. 43 Vgl. Tokarew 1980, 422 ff.
56
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
explizites Wissen transformiert und also ein explizites Wissen erzeugt werden kann. Dieser Satz wäre das gesuchte Dritte, das einerseits invariant codiert, was Wissen überhaupt ist, und andererseits zugleich die Regel darstellt, nach der Wissen erzeugt wird. Statt diesen Begriff des epistemischen Gesetzes als eines Satzes zu analysieren, wollen wir wiederum ein historisches Beispiel anführen, um an ihm zu erläutern, wie konsistent die Existenz eines solchen Gesetzes angenommen werden kann. Die Inschrift im Tempel von Sais lautete: »Ich bin alles, was war und was ist und was sein wird, und mein Kleid hat kein Sterblicher je enthüllt.« 44 – Dieser Satz enthält, so wollen wir ihn deuten, in seinem ersten Teil: »Ich bin alles, was war und was ist und was sein wird« die in der Aussage verschlüsselte Regel, nach der jede Vorstellung, gleichsam a priori, in ein festes und unauflösliches Verhältnis zum »Ich« als dem Subjekt der Aussage zu setzen ist. 45 Da er aussagt, Ich sei alles, so stimPlutarch überliefert in »de Iside et Osiride«: »In Saïs hatte der Sitz der Athene, die sie auch für die Isis halten, die folgende Inschrift: Ich bin alles, was war und was ist und was sein wird, und mein Kleid hat kein Sterblicher je enthüllt.« – Vgl.dazu auch: Herodot, Historien II, par. 59; Platon, Timaios 21. – Dass die Göttin für die Isis gehalten wurde, wie Plutarch berichtet, ist wohl späteren, hellenistischen Datums. Siehe dazu: Griffiths 1970, 283 f. 45 Wir merken an, dass der Satz weder eine Aussage macht, wer das »Ich« der Inschrift sei, noch darüber, wie das Verhältnis des Ichs zu allem zu verstehen sei. Daher legen die Deutungen, die im »Ich« die saitische Schutzgöttin Neith oder die Göttin Isis erkennen, die – nach dem rührenden Mythos, den Plutarch berichtet – von Alexandria aus in der spätantiken Welt weithin als die Spenderin allen Lebens, als Schmerzensmutter und als Heilerin verehrt wurde, in den Satz mehr hinein als er selbst enthält. – Das Gleiche gilt für spätere philosophische Bemühungen, sich jenes Verhältnis mittels der Kategorie der Substanz begreiflich zu machen und das »Ich bin alles« als materielle Substanz der Natur zu deuten. Schelling hält ihnen in seiner »Philosophie der Mythologie« entgegen, »dass in jener Inschrift etwas mehr gemeint war.« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 384) Um dieses Mehr jedoch erfassen zu können, meint Schelling, »braucht (es) dieser Inschrift nicht.« (ebd.) Das Gemeinte beziehe sich auf keine Substanz, sondern auf die Idee des ägyptischen dreieinigen Gottes Osiris, in dem sich »der Geist der ägyptischen Weisheit« ausdrückt: »Entschieden war der erste Osiris der Gott der Vergangenheit, der zweite der Gott der Gegenwart, der dritte der Gott der Zukunft im ägyptischen Bewusstsein, und der erste, zweite und dritte waren nur derselbe Gott. Aber dieser Monotheismus war kein abstrakter, rationeller oder philosophischer, es war ein überhaupt auf geschichtlichem Weg entstandener und bestimmt mythologischer Monotheismus, der eben darum auch keine Ursache hatte von seiner Voraussetzung sich loszureißen.« (ebd.) So wie Schellings Deutung jenes einfachen Satzes nicht nur die Kenntnis der ägyptischen Religion erforderlich macht, sondern auch seine eigene Philosophie der Mythologie und Offenbarung, so macht auch Novalis’ Isis-Verklärung in der Geschichte über »Hyacinth und Rosenblütchen«, die im Bild der »heiligen Göttin« die »Mutter der Dinge« erkennt, 44
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
57
Einleitung
men alle diejenigen Vorstellungen mit der Satzaussage überein, die dieses Verhältnis des »Ich bin alles, …« explizieren, in denen also die jeweilige Vorstellung in dieses Verhältnis zum Ich gesetzt ist; und als nicht übereinstimmend – so wollen wir ergänzen – gelten demgegenüber all diejenigen Vorstellungen, die dieser Regel nicht entsprechen und daher dieses Verhältnis nicht explizieren. Der erste Satzteil enthält also in seiner Aussage eine allgemeine Regel, nach der Vorstellungen zu bilden seien. – Nun hat jedoch diese Aussage für sich allein noch keinen epistemischen Wert. Diesen erhält der Satz erst in Verbindung mit dem zweiten Teil der Inschrift. Er, so verstehen wir ihn, sagt aus, dass der erste Satz seine Wahrheit in sich enthält. Er ist das ›Geheimnis‹, das kein Sterblicher je enthüllt hat; nicht weil die enthüllte Wahrheit, die das Kleid verbirgt, schrecklich wäre, wie F. Schiller interpretiert 46 , sondern weil keine Vorstellung und kein Gedanke hinreicht, die Wahrheit des Satzes: »Ich bin alles, …« zu erkennen. Er ist jeder Vorstellbarkeit entzogen, unbegreiflich. Er erfüllt das Gemüt mit ›heiligem Schauer‹, weil sich nichts vorstellen lässt, in Bezug worauf dieser Satz gilt 47 . Er gründet in sich selbst und ist schlicht, ihn nicht deutlicher, sondern gibt nur beredte Auskunft über die romantische Sehnsucht nach der blauen Blume. – Nach unserer Auffassung hat der Satz keine extrinsische Bedeutung, die aufforderte, ihn zu verstehen; er nennt vielmehr eine Regel, die Fülle der Vorstellungen nach einem Prinzip zu organisieren. 46 Siehe: F. Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais: »… Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund, / rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe. / Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu: / Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen? / ›Sei hinter ihm, was will! Ich heb’ ihn auf.‹ / Er ruft’s mit lauter Stimm’: ›Ich will sie schauen.‹ / Schauen! / Gellt ihm ein langes Echo spottend nach. / Er spricht’s und hat den Schleier aufgedeckt. / ›Nun,‹ fragt ihr, ›und was zeigte sich ihm hier?‹ / Ich weiss es nicht. Besinnungslos und bleich, / so fanden ihn am andern Tag die Priester / am Fussgestell der Isis ausgestreckt. / Was er allda gesehen und erfahren, / hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig / war seines Lebens Heiterkeit dahin, / ihn riss ein tiefer Gram zum frühen Grabe. / ›Weh dem,‹ dies war sein warnungsvolles Wort, / wenn ungestüme Frager in ihn drangen, / ›Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld! / Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.‹« 47 Der Satz: »Ich bin alles, …« ließe sich, nach unserer Definition des Gesetzes, als Repräsentant einer Vorstellung deuten, die die Göttin, Neith oder Isis, (von sich) hat. Aber diese Deutung wäre ein »Anthropomorphismus«, der das Verkleidete entkleidete. Diesem Anthropomorphismus entspricht, wenn das Kleid und die Entkleidung sexuell konnotiert werden: »The reference to lifting the mantle is clearly sexual, and it is ecoed verbally in a magical papyrus of the time of Hadrian … : ›[Isis], pure virgin, give me a sign of the fulfilling (of the charm), lift the sacred mantle, shake thy black Destiny.‹« (Griffiths 1970, 284). Als Geheimnis jedoch entzieht sich das »Ich«, wie die Inschrift sagt, jeder Vorstellbarkeit durch »Sterbliche«.
58
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Elemente zu einer Theorie des Wissens
was er ist 48 . Als solcher aber codiert er, was Wissen ist. – Fassen wir die beiden Teile der Inschrift zusammen, so enthält sie offenbar nicht nur eine allgemeine Regel, nach der Vorstellungen zu bilden sind, sondern sagt auch aus, dass diese Regel Wissen codiert. Die Inschrift enthält daher sowohl die epistemische Begründung der Regel, die – selbst unvorstellbar – die Bildung von Vorstellungen leitet, als auch die Formulierung der Regel, der gemäß gewisse, der Regel entsprechende, Vorstellungen explizit Wissen repräsentieren. Die Inschrift codiert also, so unsere These, das epistemische Gesetz gänzlich in sich selbst 49 . Nach ihm repräsentieren allein diejenigen Vorstellungen Wissen, die die Aussage des Satzes: »Ich bin alles, …« explizieren; und alle anderen, die ihn nicht explizieren, Nichtwissen 50 . Anhand dieser Erläuterung eines Beispiels wollen wir unter dem Begriff des »epistemischen Gesetzes« nun folgendes verstehen: er bezeichnet weder eine gegebene Vorstellung noch die Vorstellung einer Regelmäßigkeit der Beziehung zwischen Vorstellungen; noch beschreiben wir damit den epistemischen Code, der invariant Wissen codiert; wir fassen darunter vielmehr einen Grund-Satz, der als solcher sowohl codiert, was Wissen ist, als auch die Regel enthält, nach der explizit Wissen hergestellt wird. Dieser Grundsatz leitet die epistemische Arbeit an, welche aus der Fülle der gegebenen Vorstellungen diejenigen Vorstellungen bildet, die dem, was der Grundsatz aussagt, entsprechen. Das Resultat der solcher Art gesetzmäßigen Ideologiekritisch mag eingewandt werden, dass dieser Satz nicht in sich gründet, sondern ein Gemachtes ist, ein Fetisch etwa, auf den ägyptische Priester und Priesterinnen ihren Herrschaftsanspruch gründeten. Unter der Bedingung der Ideologiekritik freilich ist der Satz kein epistemisches Gesetz, sondern ein analysierbarer und erklärbarer Satz. Uns geht es hier jedoch nicht um Kritik, sondern um die Erläuterung dessen, was wir das »epistemische Gesetz« nennen. 49 Diese Geschlossenheit des Satzes dürfte Kant zu dem Urteil veranlasst haben: »Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis …« (KU V 316, Anm.) Wir möchten dieses Urteil um die Bedingung ergänzen: wenn unter dem »Erhabenen« nichts anderes verstanden wird, als der Satz aussagt. 50 Vergleichen wir mögliche Urteile innerhalb dieser »Ich bin alles …«-Welt mit solchen aus der »Welt der Amerikaner« in unserem Anfangsbeispiel, so gibt die Inschrift eine eindeutige Regel an, wie der »Satz des Häuptlings«, die Erde sei seine Mutter, epistemisch zu beurteilen ist. Anders als in der »Welt der Amerikaner« repräsentiert dieser Satz in dieser Welt kein Wissen. Denn da die in ihm enthaltene Aussage nicht dem Satz entspricht, dass Ich es sei, was alles war, ist und sein wird, kann der Satz des Häuptlings in dieser Welt kein Wissen repräsentieren. In ihr kann richtigerweise nur das Ich, nicht aber die Erde, als Mutter des Häuptlings vorgestellt werden. 48
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
59
Einleitung
Tätigkeit ist die Herstellung von explizitem Wissen, das in aktueller Form das vorstellt, was der Grundsatz codiert. Ein solcher Grundsatz ist nach unserer Definition ein Gesetz, weil er eine Regel zur Bildung von Vorstellungen enthält; und er ist ein epistemisches Gesetz, weil er codiert, was Wissen ist. Diese Eigenschaft eines epistemischen Gesetzes hat der Grund-Satz als syntaktisches Gebilde aber nur, weil, wenn und solange er der epistemischen Tätigkeit als Regel zur Erzeugung von explizitem Wissen dient. Fehlt dieser Gebrauch, bleibt er als epistemisch bedeutungsloses Zeichengerippe zurück.
III. Das Vorhaben Unsere Untersuchung des »europäischen Denkens« wird, wie oben erwähnt, davon ausgehen, dass es sich mithilfe des griechischen Begriffs der Autonomie und des römisch-lateinischen Begriffs der Autorität rekonstruieren lässt. Da wir beide Begriffe als zunächst zwei verschiedene epistemische Codierungen verstehen, die sowohl im Griechischen wie im Römischen jeweils bestimmen und regeln, was Wissen ist, wollen wir vorab die Bedeutung der beiden Begriffe explizieren und festlegen, in welcher Weise wir sie gebrauchen werden.
A. Der Autonomiebegriff Nehmen wir fiktiver Weise an, Herodot habe in seinem Bericht über die Meder den Satz formuliert: »Sie gaben sich die Gesetze selbst«, und deuten diesen Satz als erste Formulierung des Autonomiegedankens 51. Unter Absehung vom Wahrheitswert dieses Satzes, der sowohl die Richtigkeit von Herodots Bericht als auch die Authentizität Herodot selbst schreibt dies nicht. Er berichtet nur: »… indem diese [die Meder] um die Freiheit mit den Assyrern kämpften …, schüttelten sie die Knechtschaft ab und bekamen ihre Freiheit. Da machten auch die übrigen Völker dies den Medern nach. Als sie alle auf dem Festland autonom waren, gerieten sie auf diese Weise wiederum in die Tyrannis« (eontwn de autonomwn pantwn ana thn hpeiron wde auti@ e@ turranida perihljon; Herodotus 2004, I, par. 96). – Wir räumen zudem ein, dass Herodot in diesem historisch-politischen Kontext das Wort »autonomo@« nicht im Sinne einer Selbstgesetzgebung gebraucht, sondern dass es bedeutet: »unter eigenem Gesetz« leben. Siehe: R. Pohlmann, Autonomie: In: Ritter 1971 ff., Bd. 1, 701 f.
51
60
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
unseres Zitats betrifft, können wir in dem Satz zunächst zwei verschiedene Aussagen auffinden. Die eine macht eine Aussage über die Meder, die andere über die Gesetze der Meder. Die erste Aussage prädiziert den Medern die Eigenschaft der Selbstgesetzgebung; die zweite sagt aus, dass deren Gesetze nicht von anderen (Göttern, Heroen oder fremden Herren), sondern von den Medern gegeben wurden. Was schließlich die Ausdrücke »Meder« und »Gesetze« betrifft, so bezeichnet »Meder« ein altiranisches Volk und »Gesetze« geltende Normen des Handelns, die wohl auch Sanktionen impliziert haben. 1.
Die drei Dimensionen des Autonomiebegriffs
Fragen wir nach dieser Festlegung des Aussagegehalts nach der Bedeutung des Satzes, so zeigt sich, dass der Satz auf drei verschiedenen Ebenen thematisiert werden kann: er lässt sich erstens als eine Aussage verstehen, die eine historische Tatsache beschreibt, zweitens als ein Urteil über das politische System der Meder und drittens über deren Selbstverständnis. Diesen drei Ebenen wollen wir nachgehen, indem wir nach dem jeweiligen Verfahren der Bedeutungsgewinnung suchen, um sie abschließend in einer Definition des Autonomiebegriffs zusammenzufassen. a.
empirische Regel
Wird der Satz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« als Aussage über eine historische Tatsache aufgefasst, so erfordert diese Deutung des Satzes zunächst eine Präzisierung des Umfangs der Begriffe »Meder« und »Gesetze«. Bezieht sich das »Sie« im Satz auf alle Meder oder nur einige, während eines gewissen Zeitraums, nur auf Männer, Erwachsene, Freie, zur Gesetzgebung Versammelte? Und entsprechend: bezieht sich das Wort »Gesetze« auf alle medischen Gesetze oder nur die wichtigen, und welche Merkmale gelten hierfür? Der Satz lässt sich dann in eine Relation von Elementen der definierten Klasse der Gesetze zu denen der Klasse der Meder umformulieren. In diesem Falle dient der Ausdruck »Selbstgesetzgebung« offenbar als eine Regel, um Elementen der Klasse der Gesetze Elemente aus der Klasse der Völker zuzuordnen. Gemäß diesem Verfahren erhält der Satz über die Meder: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« seinen Sinn dadurch, dass er dann als eine Aussage über eine historiA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
61
Einleitung
sche Tatsache gilt, wenn es zu einigen oder allen medischen Gesetzen der Meder (mindestens) einen Meder gibt, der das jeweilige Gesetz gegeben hat. Sowohl die umfangslogische Präzisierung der Begriffe als auch die Bewertung dieser Bedeutung des Satzes ist die Aufgabe der historischen Wissenschaften, die sich dazu der Dokumente, Berichte, deren Vergleiche usw. bedienen. Für uns ist hier nur wichtig, dass auf dieser Bedeutungsebene der Begriff der »Selbstgesetzgebung« offenbar eine Regel bezeichnet, durch die Gesetze historisch-empirisch als »sie« bezeichneten Subjekten zugeordnet werden können, dass er also zur Beschreibung von historischen Tatsachen dient. b.
politische Systemeigenschaft
Auf einer zweiten Bedeutungsebene enthält der Satz eine Aussage über das politische System der Meder. Der Ausdruck »Selbstgesetzgebung« bezeichnet hier keine Zuordnungsregel, sondern dient der Charakterisierung der politischen Organisationsform des medischen Volkes. An die Stelle der historischen Verifikation tritt auf dieser Ebene das Verfahren der Klassifikation, das politische Systeme anhand der Art der Gesetzgebung einteilt und typisiert. In diesem Bedeutungskontext macht der Satz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« eine Aussage darüber, dass das politische System der Meder dadurch gekennzeichnet war, dass es weder durch den Typus »Anarchie«, der Gesetzlosigkeit, noch durch den der »Heteronomie«, der Gesetzgebung durch andere, sondern durch den Typus der »Selbstgesetzgebung« beschrieben wird. Will man hier die typologische Klassifikation weiterführen, so wäre zu klären, ob gemäß der Art der Selbstgesetzgebung das politische System der Meder als monarchisches, aristokratisches oder demokratisches System zu bezeichnen wäre; und ob etwa ein monarchisches System dem Typus »Selbstgesetzgebung« entspricht oder ihm widerspricht. 52 Den Sinn und die Tragfähigkeit solcher Typologien und die konkreten Gehalte der Zuschreibung zu klären, ist Aufgabe der politischen Wissenschaften. In
Herodot jedenfalls legt letzteres nahe, wenn er in dem zitierten Bericht die Autonomie von der Tyrannis unterscheidet. – Zu Herodots ›politologischem Interesse‹ an einer Verfassungstypologie siehe insbesondere seine Erzählung der Unterredung dreier persischer Granden: Herodotus 2004, III, par. 80 f.
52
62
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
unserem Zusammenhang wollen wir nur festhalten, dass auf dieser Ebene jener Satz seine Bedeutung dadurch erhält, dass die Selbstgesetzgebung als Eigenschaft politischer Systeme anderen Eigenschaften wie der Gesetzlosigkeit oder der Gesetzgebung durch andere, also der Begriff »Autonomie« den Begriffen »Anarchie« bzw. »Heteronomie«, entgegengesetzt wird. c.
moralisch-praktischer Begriff
Schließlich können wir den Satz auf einer dritten Bedeutungsebene als Aussage über das Verhältnis der Meder zu sich als Gesetzgeber interpretieren. So verstanden, hat der Satz die Bedeutung, dass es für die Meder »wichtig« war, sich die Gesetze selbst zu geben; dass sie darauf »stolz« waren oder zumindest Anlass dazu hatten. Das »selbst« in dem Satz drückt hier keine Relation von Klassen und keine Eigenschaft politischer Systeme aus, sondern besagt, dass die Selbstgesetzgebung für die Meder in gewisser Weise identitätsbildend war. Der Satz enthält damit eine Aussage über die Beziehung der Meder zu sich als den Urhebern der medischen Gesetze; er trifft also eine Aussage über deren Selbstverständnis. Lässt sich auch auf dieser Bedeutungsebene ein Verfahren der Sinngewinnung angeben? Jedenfalls sind dafür weder empirische Verifikations- noch typologisierende Klassifikationsverfahren hinreichend. »Selbstgesetzgebung«, verstanden als historische Tatsache oder als Kennzeichen politischer Systeme, erlaubt keine Auskunft darüber, ob die Meder auf die Tatsache, dass ihre Gesetze von ihnen stammten, etwa »stolz« waren. Historische Berichte, z. B. über Militäraktionen zur Vertreibung der nicht-medischen Assyrer, von denen Herodot erzählt, oder schriftliche Dokumente bieten allenfalls Anhaltspunkte, erlauben aber nicht den Schluss vom historischen Faktum ihrer Selbstgesetzgebung auf die Art ihres Selbstverständnisses. Es scheint demnach, als sei diese im Satz enthaltene Aussage zwar nicht ohne Bedeutung, aber ohne Sinn. Wollen wir dennoch an einem Sinngehalt des Satzes festhalten, so ließe sich sagen, dass er eine Einsicht Herodots in den (Selbst-)Bewusstseinszustand der Meder zum Ausdruck bringt, zu der ›große Historiker‹ in der Lage sind. Mit dieser Zuschreibung einer intuitiven Erkenntnis verlassen wir jedoch den Boden dessen, was mit Sinngebung gemeint ist: ein geregeltes Verfahren zur Explikation von Bedeutungen. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
63
Einleitung
Ein anderes Verfahren der Sinngewinnung besteht nun darin, die Aussage von ihrem Tatsachencharakter zu lösen und den Satz in dieser Bedeutung als eine pragmatische Äußerung Herodots zu verstehen. Wir können so den Satz als eine Projektion dessen lesen, was Herodot selbst wichtig war. So gesehen, beschreibt der Satz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« keinen Sachverhalt, sondern stellt vielmehr eine praktische Bezugnahme des Geschichtsschreibers Herodot zu den Meder her: Herodot bewertet es als »gut«, sich die Gesetze selbst zu geben, d. h. er beurteilt die Selbstgesetzgebung in Bezug auf handelnde Subjekte als ihnen angemessen und überträgt diese Bewertung auf die Meder. Er unterstellt damit, dass auch die Meder ihr gesetzgebendes Handeln in Bezug auf sich als »gut« bewertet haben. Mit dem Satz könnte Herodot dann gemeint haben, dass die Meder, indem sie sich ihre Gesetze selbst gaben, ›damals noch‹ ein angemessenes Verhältnis zu sich als Subjekten hatten, oder, im Sinne einer kontinuitätsstiftenden Tradition, dass »sie« – so wie »ich« oder »wir« – dies Verhältnis zu sich gehabt hatten. In beiden Fällen drückt der Begriff der »Selbstgesetzgebung« eine moralisch-praktische Identifikation des Geschichtsschreibers mit seinem Objekt, den Medern, aus: sie gelten ihm als historische Vorbilder für das eigene Handeln oder als Elemente einer gemeinsamen Tradition eines moralisch-praktischen Selbstverständnisses. Diese Art identitätsbildender Projektion lässt sich nun aber als eine durchaus sinnvolle Tätigkeit einer pragmatischen Art von Geschichtsschreibung verstehen. Ob Herodot diesen Satz »Sie gaben sich die Gesetze selbst« tatsächlich mit dieser moralisch-praktischen Konnotation versehen hat, brauchen wir hier nicht zu erörtern. 53 Dies wirft seinerseits hermeneutische Probleme auf und betrifft methodologische Fragen der Geschichtsschreibung. Für uns ist hingegen wichtig, dass der Satz diese Bedeutung eines Selbstverhältnisses hat, und dass sich für sie ein präzisierbarer Sinngehalt angeben lässt.
Vgl. zu Sinn und Zweck der griechischen Geschichtsschreibung: Meier 1980, 360– 434. Chr. Meier verweist auf ein »neues, intensiv fragendes Orientierungsbedürfnis« (423), das mit der Etablierung demokratischer Verfassungen entstanden sei. – Vgl. auch: Jaeger 1934, 479–513.
53
64
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
2.
Die performative Struktur von Autonomie
Fassen wir unsere Analyse des Satzes zusammen, so müssen wir dem Begriff der Autonomie offenbar drei ganz verschiedene Dimensionen zuordnen: er dient der Beschreibung von historisch-empirischen Sachverhalten sowie der Kennzeichnung politischer Systeme, und er drückt ein praktisches Verhältnis des aussagenden Subjekts zu seinem Gegenstand aus. Wenn wir nun nach einem einheitlichen, diese drei Dimensionen zusammenfassenden Begriff von Autonomie suchen, dann müssen wir einen Wechsel der Perspektive vornehmen. Denn aus der gewählten Sicht des Historikers wird der Begriff in seinen Bedeutungen zwar analysierbar, aber er zerfällt auch in einen theoretischen Teil, der der Beschreibung von Ereignissen bzw. Strukturen dient, und in einen praktischen Teil, der ein Verhältnis des Geschichtsschreibers zu seinem Gegenstand, den handelnden Subjekten, ausdrückt. Beide Teile sind jedoch verschieden: weder lässt sich aus dem theoretischen Gebrauch auf die praktische Bedeutung schließen, noch folgt aus der praktischen Verwendung etwas für den theoretischen Gebrauch. Eine Zusammenführung dieser Teile gelingt daher nur, wenn wir den bisher eingenommenen Standort verlassen und annehmen, dass das Subjekt, das die Eigenschaft der Selbstgesetzgebung seinem Gegenstand zuordnet, mit dem Gegenstand, von dem die Selbstgesetzgebung ausgesagt wird, identisch ist; wenn wir also den Aussagesatz: »Sie gaben sich die Gesetze selbst« in den performativen Satz umformulieren: »Wir geben uns die Gesetze selbst«. In diesem Fall der Identität des Subjekts mit seinem Gegenstand sind die theoretischen Dimensionen des Autonomiebegriffs mit der praktischen Dimension verbunden, weil diejenigen Subjekte, von denen gesagt wird, dass sie sich die Gesetze selbst geben, und diejenigen Subjekte, die diese Aussage machen, dieselben sind. Zwar hängt der Sinn dieses Satzes weiterhin davon ab, dass die Subjekte sich tatsächlich die Gesetze selbst geben; aber die pragmatische Dimension, etwa des Stolzes, sich die Gesetze selbst zu geben, ist nun keine Projektion mehr auf andere, sondern drückt das Selbstverhältnis der Sprecher zu sich als den Subjekten aus, die sich die Gesetze selbst geben. Innerhalb dieser performativen Satzstruktur werden die drei Dimensionen des Begriffs »Autonomie« in ihrer je spezifischen Weise gehaltvoll, weil die im Satz behauptete Handlung der Selbstgesetzgebung von den Sprechern selbst vollzogen wird: sie geben sich tatsächlich die A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
65
Einleitung
Gesetze selbst; sie konstituieren dadurch eine politische Einheit; und sie finden dies gut. Wir wollen daher den Begriff »Autonomie« in der Weise definieren, dass er ein solches Verhältnis von Subjekten bezeichnet, die sich in ihren gesetzgebenden Handlungen die Eigenschaft der Selbstgesetzgebung zuschreiben. Als gewisse Handlungen sind sie historisch und haben eine Wirkung; als gemeinsame Handlungen liegt ihnen ein einheitlicher gesetzgebender Wille zugrunde; und als selbstgesetzgebend ist dieser Wille ihr Wille. In dieser Definition sehen wir also die historisch-empirische, die politische sowie die moralisch-praktische Dimension des Autonomiebegriffs zusammengefasst und enthalten; und in diesem ›Spannungsfeld‹ von Historizität, Kollektivität und Selbstbestimmung werden wir den Autonomiebegriff im Folgenden auch verwenden. Fragen wir zum Abschluss nach dem Geltungsbereich, den dieser Begriff umfasst, so kann er für alles gelten, was diese selbstbezügliche Struktur erfüllt, was also jenes selbstgesetzgebende Handeln als eine Eigenschaft haben kann. Dabei wollen wir den Bereich möglichst offen lassen. Zweifellos gibt es a priori gute Gründe, etwa Steine, Pflanzen oder auch Tiere als Kandidaten auszuschließen; hingegen wären Menschengruppen, Völker, Staaten, aber auch geistige Kollektive, wie »die Wissenschaft«, »die Kirche«, die Engelschar oder der Götterrat mögliche Kandidaten. Die Festlegung des Geltungsbereichs scheint davon abzuhängen, welchem Kollektiv sich diese Eigenschaft zuweisen lässt. – Erläuternd sei noch angefügt, dass in unserem Begriff von Autonomie eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Selbstgesetzgebung und den Gesetzen unterstellt ist. Der Satz: »Wir Hundezüchter geben uns die Gesetze des Straßenverkehrs selbst« enthält keine sinnvolle Aussage über die Selbstgesetzgebung, da zwischen den Fähigkeiten Hunde zu züchten und der Regulierung des Straßenverkehrs kein Zusammenhang besteht.
B.
Der Autoritätsbegriff
So verständlich der Autonomiebegriff auf den ersten Blick erscheint, so vieldeutig und missverständlich ist demgegenüber, was »Autorität« bezeichnen soll. Unumstritten scheint nur die Tatsache zu sein, dass es Autoritäten gibt. Doch die Kontroverse beginnt schon bei der Frage nach ihrer Legitimität und Begründbarkeit und setzt sich in der 66
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
Diskussion fort, was unter »Autorität« eigentlich zu verstehen sei. Während die Befürworter Gründe anführen, die die Existenz von Autoritäten rechtfertigen sollen und allenfalls einen Mangel bzw. einen Verfall der Autorität beklagen, bestreiten die Gegner die Begründbarkeit von Autoritäten und bedauern deren Existenz. Der Autoritätsbegriff selbst hat dabei seinen präzisen Sinn verloren und ist zu einer Worthülse geworden, deren Bedeutung nur noch durch den Kontext erschließbar ist, in dem er verwandt wird. So erscheint »Autorität« im Rahmen des soziologischen Diskurses vornehmlich als eine – positiv oder negativ bewertete – besondere Art der Ausübung sozialer Macht; in den politologischen Diskussionen als eine spezifische Form legitimer bzw. illegitimer Herrschaft; und in der Psychologie als eine charismatische Begabung oder als eine Disposition zur Strafandrohung und Gewaltanwendung. Wenn man in diesen unterschiedlichen Verwendungsweisen überhaupt noch einen festen begrifflichen Kern erkennt, dann ist es bestenfalls die »Ansehensmacht« oder »Kompetenz«, die von den Befürwortern als Legitimitätsgrund von Autoritäten angeführt wird, während die Kritiker als ihren harten Kern die Ausübung von Herrschaft und Gewalt enthüllen. – Da zwischen diesen Mühlsteinen der begriffliche Gehalt von »Autorität« fast zur Unkenntlichkeit zerrieben worden ist 54 , soll zunächst einige Mühe darauf verwendet werden, den Autoritätsbegriff, auf den wir uns im Weiteren beziehen werden, herauszuarbeiten. Hannah Arendt, die sich unseres Erachtens das beste Gespür für den ursprünglichen und eigentlichen Sinn von »Autorität« bewahrt hat, sah in den Eltern das »uralte Modell für die Notwendigkeit von Autorität« 55 . So wie die Eltern, ihre Fürsorge und Liebe für das Leben und die Erziehung der Kinder unersetzbar seien, so seien auch im politischen und sozialen Leben verlässliche Autoritäten nötig. Obgleich Hannah Arendt um das Problematische der Analogie zwischen Eltern und Autoritäten weiß, dient ihr dieser Bezug doch dazu, das Verstärkt wurde diese ›konzeptionelle Verschleifung‹ durch die Rezeptionsgeschichte. So wurde das Wort »Herrschaft«, das schon M. Weber oft synonym mit dem der »Autorität« verwendet hat, in der amerikanischen Rezeption, insbesondere durch T. Parsons, generell mit »authority« übersetzt und als »Autorität« ins Deutsche reimportiert. Siehe: Sofsky 1994, 24, Anm. 55 Arendt 1957, 123. – Vgl. auch die Analogie zwischen »Eltern und Staatsmann als eminente Paradigmen«, die H. Jonas in »Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation« (Jonas 1984, 184 ff.) gezogen hat. 54
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
67
Einleitung
Autoritätsverhältnis von anderen sozialen oder politischen Verhältnissen, die durch Macht oder Herrschaft oder durch Vertrag oder Freundschaft bestimmt sind, abzugrenzen. Um der eigentümlichen Bedeutung des Autoritätsbegriffs näher zu kommen, wollen wir uns daher zuerst dem Eltern-Kind-Verhältnis zuwenden. 1.
Das Eltern-Kind-Verhältnis
Sieht man von allem Kontingenten, den kulturellen Ausformungen, den sittlichen und rechtlichen Regelungen, ab, so lässt sich das Eltern-Kind-Verhältnis in seiner einfachsten Gestalt als eine Relation zwischen drei Menschen, einer Frau, einem Mann und einem dritten Menschen, gleichgültig ob Frau oder Mann, darstellen. In der ElternKind-Relation sind drei Menschen einander so zugeordnet, dass eine Frau und ein Mann für den dritten die Mutter und der Vater, resp. beide zusammen die Eltern, sind, und der dritte für beide das Kind ist. Wichtig ist hierbei erstens, dass alle drei Menschen nicht nur Eltern bzw. Kind sind, sondern auch andere Eigenschaften haben; und dass zweitens niemand Kind oder Eltern für sich ist, sondern sie dies nur innerhalb dieses Verhältnisses sind. Das »Eltern-« bzw. »Kind-Sein« ist also eine relationale Eigenschaft derart, dass, wer Eltern ist, (mindestens) ein Kind hat, und wer Kind ist, Eltern hat. Um der Besonderheit dieser Beziehung näher zu kommen, soll zunächst behauptet werden, dass für alle Menschen gilt, dass sie in der Eltern-Kind-Beziehung stehen. Zwar ist nicht jede Frau eine Mutter und nicht jeder Mann ein Vater, und haben nicht alle Eltern nur ein Kind; aber jeder Mensch hat genau eine Mutter und genau einen Vater, d. h.: jeder Mensch hat seine Eltern. Aus dieser Annahme folgen nun die beiden Sätze: »alle Menschen sind Kinder«, weil definitionsgemäß jeder Mensch Eltern hat und daher Kind ist; und: »einige Menschen sind Eltern«, nämlich diejenigen, die Kinder haben. Der erste Satz trifft die Aussage, dass der Umfang der Kinder dem der Menschen gleich ist, und der zweite Satz, dass die Eltern eine echte Teilklasse der Klasse der Menschen ist. Aus diesen beiden trivialen Aussagen über das Kind- bzw. Elternsein lässt sich nun aber der paradoxe Schluss ziehen: »alle Eltern sind Kinder und folglich Nicht-Eltern«. Denn da alle Eltern, als Teilklasse, zur Klasse der Menschen gehören, und die Klasse der Menschen dem Umfang der Klasse der Kinder gleich ist, gehören auch alle 68
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
Eltern der Klasse der Kinder an. Wie aber ist es möglich, dass Eltern Kinder sind, wenn der Definition nach Eltern zwar Kinder haben, aber keine Kinder sind? 56 Diese Paradoxie des Eltern-Kind-Verhältnisses lässt sich nun auflösen, indem man die Unterscheidung macht, nach der alle Menschen in einer Hinsicht gleich sind: sie sind Kinder und haben als solche Eltern; und nach der sie in anderer Hinsicht ungleich sind: nur einige sind Eltern und haben als solche Kinder. Das Kind-Sein und Eltern-Haben sowie das Eltern-Sein und Kind-Haben betrifft also unterschiedliche Gesichtspunkte, die als solche erst das ElternKind-Verhältnis konstituieren. Welches diese ›Gesichtspunkte‹ sind, die die Gleichheit aller Menschen als Kinder und die Ungleichheit der Eltern gegenüber den Kindern begründen, werden wir im Weiteren untersuchen. Fürs erste aber können wir als Resultat dieser Unterscheidung festhalten, dass den Menschen, die Eltern sind, offenbar beides zukommt: die Gleichheitsrelation, nach der sie Kinder sind, als auch die Ungleichheitsrelation, nach der sie nicht Kinder, sondern Eltern sind. Eltern sind also in verschiedener Hinsicht beides: Kinder und Eltern, und sie haben daher auch beides: Eltern und Kinder. Bevor wir nach der Eigenschaft fragen, die jene paradoxe ElternKind-Beziehung auflöst, soll ein kurzer Vergleich mit anderen sozialen Beziehungen angestellt werden, die diese paradoxe Struktur nicht aufweisen. Innerhalb der Ehe etwa ist ein Mann der Ehemann und hat als solcher eine Ehefrau (oder mehrere Ehefrauen), und umgekehrt; es ist jedoch nicht so, dass er in einer gewissen Hinsicht das, was er hat, auch wäre. Ähnliches gilt für Herrschaftsverhältnisse. Zwar mag es so sein, dass der Herr des einen der Knecht eines dritten ist; aber es gilt weder für alle Herren noch für alle Knechte, dass sie das, was sie haben, auch sind, so wie es gilt, dass alle, die Kinder haben, auch Kinder sind. Und schließlich gilt in Gleichheitsbeziehungen wie der Freund- oder der Partnerschaft, dass zwar, wer des einen Freund ist, diesen als Freund auch hat; sie schließen jedoch die AsymVielleicht ist diese Paradoxie des Eltern-Kind-Verhältnisses die Ursache für die alte Vorstellung von den »ersten Menschen«, die zwar Kinder haben, aber keine Kinder sind. In der jüdischen Mythologie überwindet die Vorstellung von Adam und Eva diese Paradoxie: sie gelten als Eltern, ohne Kinder zu sein. – Vgl. dazu die im Verwerfungsdokument von 1277 verurteilte These: »Es gab keinen ersten Menschen, und es wird keinen letzten geben, vielmehr gab es immer und wird es immer geben die Erzeugung eines Menschen aus einem anderen.« (Zit. nach: K. Flasch, Aufklärung und Gegenaufklärung im späten Mittelalter. In: Schmidt 1989, 153).
56
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
69
Einleitung
metrie aus, wonach jemand einen Freund hätte, aber selbst kein Freund wäre. Ihnen gegenüber weist das Eltern-Kind-Verhältnis die paradoxe Struktur auf, dass Eltern beides sind: Eltern und Kinder, und doch beides nicht zugleich sein können. Suchen wir nach diesem Vergleich mit anderen sozialen Beziehungen nun nach der Eigenschaft, die das spezifische Eltern-KindVerhältnis konstituiert, so lässt sich etwa die Liebe als verbindende Qualität anführen. Sie könnte das soziale Band sein, das als Kinderliebe die Kinder an die Eltern und als Elternliebe die Eltern an die Kinder bindet. Und wenn wir annehmen, dass alle Eltern ihre Kinder lieben, und alle Kinder ihre Eltern, dann wäre die Eltern-Kind-Beziehung nicht auf elterliche Macht oder Gewalt gegründet, sondern auf die wechselseitige Liebe. Des weiteren ließe sich anführen, dass es Gründe der Klugheit sind, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituieren. So sei es für die Eltern aus Gründen der Altersvorsorge klug, Kinder zu haben, und – folgen wir dem vierten biblischen Gebot – auch für die Kinder klug, ihre Eltern zu ehren. – Doch allein das Referat dieser Qualitäten zeigt, dass die Eigenschaften der Liebe oder der Klugheit die Existenz des Eltern-Kind-Verhältnisses schon voraussetzen und es daher nicht konstituieren. Die Kinder können ihre Eltern nur lieben, weil sie sie schon haben; und auch die Eltern ihre Kinder nur, wenn sie schon da sind. Weder Liebe noch Klugheit machen Menschen zu Eltern oder zu Kindern. Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so ergibt sich, dass die gesuchte Eigenschaft, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituiert, weder politischer noch sozialer, aber auch nicht psychischer oder rationaler Natur sein kann. Die tatsächliche Ursache, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituiert, und der Grund dafür, dass alle Menschen Kinder, aber nur einige Eltern sind, ist ohne Zweifel der natürliche Zeugungsvorgang (generatio naturalis) bzw., genauer, die Verschmelzung der weiblichen Eizelle mit der männlichen Samenzelle zu einer Keimzelle (u. U. mehreren Keimzellen). Durch diesen Zeugungsvorgang werden eine Frau und ein Mann zu Eltern, entsteht ein Kind als ihr Kind und mit ihnen das Eltern-Kind-Verhältnis. Nimmt man nun einerseits an, dass kein Mensch existiert, ohne gezeugt worden zu sein, so folgt daraus, dass aufgrund seines Gezeugtseins jeder Mensch Kind ist und daher Eltern hat. Und nimmt man andererseits an, dass der Zeugung selbst mannigfache Bedingungen sozialer, psychischer, rationaler und physischer Natur vorausgehen, so erklärt diese Be70
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
dingtheit der Zeugung, dass alle Menschen zwar Kinder, aber nur einige Eltern sind. Der Unterschied zwischen dem Unbedingten des Gezeugtseins einerseits und dem Bedingtsein des Zeugens andererseits gibt also die Erklärung, dass nur einige Menschen Eltern sind, die als Erzeuger Kinder haben, aber zugleich alle Menschen Kinder sind, die als Gezeugte Eltern haben. Die Annahme, dass die Zeugung diejenige Eigenschaft ist, die das Eltern-Kind-Verhältnis konstituiert, impliziert, dass alle anderen Qualitäten, soziale Verhältnisse, Gefühle oder Überlegungen, dem Zeugungsvorgang zwar vorausgehen, ihn begleiten oder ihm folgen können, dass sie aber für das Eltern-Kind-Verhältnis selbst nicht konstitutiv sind. Dieser vollzieht sich als ein natürlicher Vorgang, der unabhängig von allen sonstigen sozialen Beziehungen, den psychischen Verhaltensweisen und bewusst-rationalen Handlungen geschieht 57 . Aus dieser Natürlichkeit der Zeugung folgt nun aber gleichfalls, dass auch die soziale Eltern-Kind-Beziehung, die durch sie konstituiert wird, unabhängig vom Bewusstsein, von den Bedürfnissen und den Absichten der Bezogenen, besteht. Zumindest vermag es niemand, sich seine Kinder bzw. seine Eltern auszusuchen58 . Kehren wir abschließend zu der obigen Unterscheidung zurück, nach der Eltern in einer Hinsicht Kinder und damit allen anderen Menschen gleich, in anderer Hinsicht jedoch ungleich, Eltern und nicht Kinder, sind, so gibt der Zeugungsvorgang die Erklärung für diesen Unterschied. Als Eltern sind sie Zeugende, als Kinder Gezeugte. Zwar geriete man erneut in die Paradoxie, wenn man annimmt, Eltern wären Zeugende und Gezeugte zugleich; stellt man sich die qualitative Differenz von Zeugen und Gezeugtsein jedoch als eine zeitliche Abfolge vor, so dass Eltern zwar sowohl Zeugende als auch Gezeugte sind, aber nicht zugleich, sondern früher gezeugt, später zeugend, so verschwindet die Paradoxie. Sie wird in einer nicht-abschließbaren Kette aufgelöst, in der die Zeugenden früher selbst von Zeugenden gezeugt wurden, sowie die Gezeugten später die ZeugenDiese Unabhängigkeit des Zeugungsvorganges lässt sich dadurch erklären, dass die menschliche Gattung Bestandteil der organischen Natur, näher der Klasse der Säugetiere, ist und mit dieser die Art der Fortpflanzung teilt. Mir scheint jedoch auch ohne diese Erklärung die Annahme plausibel zu sein, dass Menschen nur aufgrund natürlicher Zeugung existieren. 58 Kompliziertere Probleme, die das Gen-Engineering, neue Reproduktionstechniken, die Abortion, das Kindersterben o. a. betreffen, lasse ich als hier unwesentlich außer Acht. 57
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
71
Einleitung
den sein werden, die Gezeugte zeugen, usw. Unter der Bedingung, dass alle Menschen Kinder sind, ist also das Eltern-Kind-Verhältnis nicht anders konsistent denkbar als in einer nicht-abschließbaren Reihe von Generationen. Sie erklärt, dass alle Eltern nicht nur Kinder haben, sondern auch Kinder sind. 2.
Das Autoritätsverhältnis
Nun mag es scheinen, als seien wir durch Arendts Auffassung von den Eltern als Modell für Autorität auf eine falsche Fährte gesetzt worden. Denn mit Recht lässt sich fragen, was Zeugung und Generationen mit den Eigenschaften der »Macht«, »Herrschaft«, »Ansehen« oder »Gewalt« gemein haben, die mit dem Autoritätsbegriff verbunden werden. Gesetzt jedoch, die Annahmen sind richtig, dass – bei aller Liebe, Macht und Gewalt – der konstitutive Kern des Eltern-Kind-Verhältnisses der natürliche Zeugungsvorgang ist, und dass dieses Verhältnis das Modell für Autorität ist, dann muss der begriffliche Gehalt von Autorität in Analogie zu diesem Zeugungsvorgang bestimmt werden 59 . Im Folgenden soll daher der Autoritätsbegriff in der Weise expliziert werden, dass das soziale Verhältnis von Eltern und Kind auf die Ebene eines personalen Verhältnisses übertragen und der Begriff des »Menschen« durch den Begriff der »Person« ersetzt wird. Unter diesen Bedingungen ist unter dem Autoritätsbegriff ein Verhältnis von Personen zu verstehen, das – in Analogie – durch eine Art von ›Zeugung‹ konstituiert wird. Gehen wir zur Explikation des Autoritätsverhältnisses vom Begriff der »Person« aus, dann lässt sich nicht mehr – wie im Fall der Menschen – annehmen, dass alle Personen durch natürliche Zeugung entstanden sind. Denn unter dem Begriff der »Person« können auch rein geistige Wesen wie Engel oder Götter vorgestellt werden, die auf eine nicht-natürliche Art entstanden oder unentstanden sind. Der Begriff »Person« erlaubt daher widerspruchsfrei die Annahme, es Unser Vorgehen, den Autoritätsbegriff in Analogie zum Eltern-Kind-Verhältnis zu konstruieren, unterscheidet sich also von dem Verfahren, die Entstehung der Autoritätsvorstellungen zu erklären und ihren Ursprung etwa in der familialen Sozialisation zu verorten. Uns geht es hier nicht darum, die Existenz dieser Vorstellung zu erklären, sondern zu klären, was »Autorität« überhaupt ist. Zu jenen Erklärungen siehe: M. Horkheimer, Autorität und Familie (1936). In: Horkheimer 1970; E. Fromm, Studien über Autorität und Familie. In: Fromm 1980, 139–187; auch: Sennett 1985.
59
72
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
gebe Personen, die, weil nicht natürlich gezeugt, nicht Kinder sind. Mit dieser Annahme aber verschwindet die Paradoxie, die in dem Satz »alle Eltern sind Kinder« enthalten war; denn da sich Personen denken lassen, die nicht natürlich gezeugt sind, ist der Satz falsch: »alle Personen sind Kinder«. Unter der Bedingung also, dass der Begriff »Mensch« durch den der »Person« ersetzt wird, lässt sich ein analoges Modell zum Eltern-Kind-Verhältnis konstruieren, in dem jedoch jene Paradoxie zwischen der Eltern- und der Kind-Eigenschaft nicht besteht, und das eine in sich stabile bipolare Struktur aufweist. Von diesem Modell nehmen wir an, dass sich mit ihm der Autoritätsbegriff explizieren lässt. a.
als personales Verhältnis
Unter »Autorität« verstehen wir nun diejenigen Personen, auf die die Eigenschaft der Eltern, nicht aber des Kindes, übertragen wird, die also im Autoritätsverhältnis die »Elternrolle« einnehmen. Diejenigen Personen hingegen, auf die die Eigenschaft des Kindes, nicht aber die der Eltern, übertragen wird, wollen wir »die anerkennenden« nennen 60 . Sie nehmen im Autoritätsverhältnis die »Rolle des Kindes« ein. Da nun drittens diejenige Eigenschaft, die das Eltern-KindVerhältnis konstituiert, der natürliche Zeugungsvorgang ist, entDiese Benennung trifft nicht das von uns Gemeinte. So schief es wäre, das Korrelat der Eltern nicht nach dem zu bezeichnen, was es ist, sondern nach dem, was es tut, d. h. nicht als »Kind«, sondern etwa als »das die Eltern Liebende«, so verfehlt ist es, das Korrelat der Autorität nicht nach dem, was es ist, sondern tut, zu benennen. Denn das Anerkennen ist, wie sich zeigen wird, ein Tun, das aus dem, was diese Person ist, folgt. – Ich habe in der Literatur jedoch kein Wort gefunden, das das Gemeinte treffend bezeichnet. Im Lateinischen war jemand, der der Autorität eines anderen unterworfen war, ein pupillus oder impubes, was ins Deutsche übersetzt »Mündel« heißt. Die hierin implizierten rechtlichen und sozialen Verhältnisse sind jedoch viel zu konkret, als dass diese Ausdrücke für eine allgemeine Definition des Autoritätsbegriffs taugen würden. In seiner Studie »Was ist Autorität?« definiert J. M. Bochenski (1974) Autorität als »eine dreistellige Relation zwischen einem Träger (T), einem Subjekt (S) und einem Gebiet (G)« (23). Seine Verwendung des Ausdrucks »Subjekt« für denjenigen, der einen anderen als Autorität anerkennt, ist jedoch nicht nur unbestimmter, sondern auch missverständlicher als unser Kunstwort einer »anerkennenden (Person)«. Dieser Missstand, keinen angemessenen Begriff für das Korrelat zu haben, scheint dahin zu drängen, das personale Verhältnis in sozialen Kategorien auszudrücken: Vater-Sohn, Herr-Knecht, Obrigkeit-Untertan. Solche Übertragungen verfehlen jedoch das Eigentümliche des Autoritätsbegriffs. Mit diesen Kautelen versehen werde ich das Korrelat der Autorität im Weiteren »die anerkennende (Person)« nennen.
60
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
73
Einleitung
spricht diesem auf der Ebene der Autorität der Konstitutionsakt von Personen durch andere Personen. Von diesem Akt nehmen wir an, dass er das Autoritätsverhältnis, das Verhältnis von »Autorität« und »anerkennender Person« begründet. In seiner einfachsten Form besteht dieses Verhältnis nicht, wie im Fall der Eltern-Kind-Relation, aus drei Menschen, Vater, Mutter und Kind, sondern aus zwei Personen: der Autorität und der anerkennenden. Diese zahlenmäßige Differenz deutet darauf hin, dass der analoge Konstitutionsakt des Autoritätsverhältnisses nicht nach Art der natürlichen sexuellen Zeugung zu denken ist. Betrachten wir das so konstituierte Verhältnis der zwei Personen, so ist in ihm diejenige Person die »Autorität«, die selbst nicht entstanden ist, die aber bezüglich der anderen Person als deren ›Erzeuger‹, als Urheber (lat.: auctor) ihres Daseins gilt. Die »anerkennende« hingegen ist diejenige Person, die entstanden ist, und deren Dasein auf das Wirken der Autorität zurückgeführt wird. Von dem Akt nun, durch den mit der anerkennenden Person zugleich das Autoritätsverhältnis entsteht, müssen wir annehmen, dass er sich – in Analogie zum natürlichen Zeugungsvorgang – unabhängig vom Wissen und Wollen der beiden Personen vollzieht. Er hat sich, so wollen wir dies ausdrücken, je schon vollzogen, so dass beide sich immer schon im Autoritätsverhältnis als Autorität bzw. als anerkennende vorfinden. So verstanden, ist die eine Person je schon Autorität und wird nicht zu einer solchen, und ist die andere Person je schon die anerkennende und wird gleichfalls nicht zu einer solchen. In seiner einfachsten Gestalt stellt der Autoritätsbegriff demnach eine asymmetrische und irreflexive Beziehung zweier Personen dar. Die eine Person, die Autorität, kann nicht auch eine anerkennende (weder sich noch eine andere) sein; die andere Person kann sie nur anerkennen, nicht aber selbst auch Autorität sein 61 . Während Eltern, als Menschen, sowohl Kinder haben als auch Kinder sind, schließt dieses personale Verhältnis es aus, dass die Autorität auch anerkennend ist. Als diese asymmetrische und irreflexive Beziehung gründet das Autoritätsverhältnis in dem unüberbrückbar qualitativen Unterschied der Personen, worin die eine als Urheber des Daseins der anderen gilt 62 . Dieser qualitative Unterschied der beiden Personen verDie Frage, ob etwa, wenn A für B als Autorität gilt, B für C wiederum als Autorität gelten kann, ob also der Autoritätsbegriff eine transitive Relation bezeichnet und Autorität ›übertragbar‹ ist, möchte ich hier, wo es um den bloßen Begriff geht, offen lassen. 62 Diesen qualitativen Unterschied hat S. Kierkegaard treffend erläutert: »Wenn die 61
74
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
hindert die Paradoxie, in die das Eltern-Kind-Verhältnis gerät, und gibt dem Autoritätsverhältnis seine stabile bipolare Struktur. Da der ursprüngliche Akt, der als je schon vollzogener Vollzug dieses personale Verhältnis zwischen der Autorität und der anerkennenden konstituiert, weder mit Begriffen noch mit Bildern angemessen beschrieben werden kann, er unseres Erachtens jedoch den Schlüssel zum Verständnis von Autorität bildet, soll er durch Abgrenzung von anderen Interpretationen erläutert werden. Es wäre demnach unpassend, sich das Autoritätsverhältnis als Resultat eines gewollten Prozesses, d. h. funktional, vorzustellen. Denn so wenig das Eltern-Kind-Verhältnis durch die Entscheidung konstituiert wird, ein Kind zu haben, so wenig hängt auch das Autoritätsverhältnis von einer vorhergehenden Willensbildung ab. Beide Personen können daher nicht auch außerhalb des Verhältnisses, als zwei, je selbständige Subjekte, gedacht werden. Daraus folgt, dass die Auffassung, Autoritäten verfügten an sich schon, etwa als »innere Gabe«, über die Eigenschaft der Autorität, die andere zur Anerkennung veranlassen würde, oder die umgekehrte Auffassung, Subjekte entschlössen sich aufgrund von Überlegungen zur Anerkennung von Autoritäten, dem, was Autorität ist, unangemessen sind. Sie sind der beste Weg, in einen Begründungszirkel zu geraten: anerkannt wird, wer Autorität besitzt; Autorität besitzt, wer anerkannt wird. Die Anerkennung wird durch Autorität, die Autorität durch Anerkennung erklärt. 63 Wortschöpfungen wie die einer »inneren AnseAutorität nicht das Andere (to eteron) ist; wenn sie auf irgend eine Weise bloß ein Potenzieren innerhalb der Identität bezeichnen soll, so gibt es keine Autorität … Wenn Christus sagt, ›es gibt ein ewiges Leben‹ ; und wenn der Kandidat der Theologie Petersen sagt ›es gibt ein ewiges Leben‹ : so sagen beide dasselbe; es ist in der ersten Aussage nicht mehr Deduktion, Entwicklung, Tiefsinn, Gedankenfülle enthalten, als in der letzten; beide Aussagen sind, ästhetisch gewürdigt, gleich gut. Und doch ist da wohl ein ewiger, qualitativer Unterschied! Christus ist als der Gott-Mensch im Besitz der spezifischen Qualität der Autorität, die keine Ewigkeit mediieren kann, so wenig wie sie Christus auf die gleiche Stufe mit der wesentlichen menschlichen Gleichheit stellen kann. Christus lehrte deshalb mit Autorität. Fragen, ob Christus tiefsinnig ist, ist Blasphemie und ein Versuch, hinterlistig (es sei nun bewusst oder unbewusst) ihn zu vernichten, denn in der Frage ist ein Zweifel in Richtung auf seine Autorität enthalten, und ein Versuch gemacht, in naseweiser Direktheit ihn zu würdigen und zensurieren zu wollen, als sei er zum Examen da und sollte überhört werden, statt dass er der ist, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden.« (Kierkegaard 1926, 170, 174 f.) 63 In ihrer Studie über »Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition« beschreiben W. Sofky und R. Paris »Die Struktur von Autorität«: »Autorität beruht auf Anerkennung. Eine Autorität ist jemand dann, wenn andere ihn als Autorität A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
75
Einleitung
hensmacht« einerseits oder einer »begründeten« bzw. »legitimierten Autorität« andererseits verfehlen den Bedeutungsgehalt von »Autorität«. Solchen Auffassungen liegen entweder soziale Herrschaftsoder diskursive Rationalitätsmodelle zugrunde, aber nicht das ElternKind-Verhältnis. Die Bedeutung von »Autorität« zu erfassen, mutet also zu, das Autoritätsverhältnis als ein solches personales Verhältnis zu beschreiben, in dem beide, die Autorität und die anerkennende, in entgegengesetzter Weise durch einen ursprünglichen Akt konstituiert werden bzw. je schon konstituiert sind. Dieser Akt gilt als der unverfügbare Grund ihres Verhältnisses, der nicht zur Disposition steht, sondern ein spezifisches inneres Verhältnis der Personen begründet. anerkennen, ihm aus freien Stücken Autorität zubilligen. Die Anerkennung wird der Autorität entgegengebracht; wo sie abgefordert oder gar erzwungen werden muss, ist der Autoritätsglaube bereits brüchig. Aufgenötigte Anerkennung ist keine.« (Sofsky 1994, 24) Nach dieser Erklärung der Autorität qua freier Anerkennung präzisieren sie: »Die Autoritätszuschreibung gründet in der Anerkennung einer fremden Überlegenheit … Die Überlegenheit eines anderen ist nicht einfach seine positionale Stärke oder individuelle Potenz, mit der er sich über Widerstände hinweg setzen kann; sie erscheint vielmehr als eine quasi-moralische Qualität, eine Kraft, die Gehorsam findet, ohne ihn einklagen zu müssen.« (ebd., H. v. m.) So sehr wir dieser Beschreibung der wesentlichen Merkmale von Autorität auch zustimmen können, – was in dieser Strukturanalyse fehlt, und auch im Weiteren von den Autoren nicht geklärt wird, ist die Frage nach dem Grund von Autorität. Zweifellos ist es so, dass jemand nur dann Autorität ist, wenn er anerkannt wird; aber ist er Autorität, weil er als solche anerkannt wird, oder wird er als Autorität anerkannt, weil er Autorität ist? Gründet jene »fremde Überlegenheit« in der Anerkennung durch andere oder diese in jener? Die Autoren schwanken in ihrem Urteil. Einmal schreiben sie: »Autoritäten sind Autoritäten durch andere. Eine Autorität, die dies nur in ihrer eigenen Einbildung und für niemanden sonst ist, ist eine komische, vielleicht tragische Figur.« (22) Dann aber schreiben sie: »Die Anerkennung der Autorität ist die Anerkennung der Werte, die sie repräsentiert.« (26) Dies aber kann nur so verstanden werden, dass sie diese Werte nicht repräsentiert, weil sie anerkannt wird, sondern umgekehrt, dass sie als Autorität anerkannt wird, weil sie diese Werte repräsentiert. Und wenn die Autoren dann weitergehend erklären: »Autorität beruht zuerst auf persönlicher Ausstrahlung, auf einem spontanen Eindruck von Kompetenz und Selbstsicherheit, der sich bis zum Gefühl der ›Außeralltäglichkeit‹ (Weber) steigern kann: Die höchste Autorität ist der charismatische Führer« (26), – so ist für sie nicht die Anerkennung der Grund für diese »Außeralltäglichkeit«, sondern vielmehr ist diese persönliche Ausstrahlung der Grund für ihre Anerkennung als Autorität. – Für uns heißt das: legt man dem Autoritätsverhältnis zwei selbständige Subjekte zugrunde, so wird man im Kreis geführt: dass jemand Autorität hat, wird durch die Anerkennung durch andere erklärt; dass jemand von anderen als Autorität anerkannt wird, wird durch das Haben von Autorität erklärt, usf. Damit aber wird Autorität nicht erklärt.
76
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
b.
als Kommunikationsverhältnis
Nach der Darstellung der Elemente, die das Autoritätsverhältnis konstituieren, nehmen wir nun an, dass zwischen beiden Personen, der Autorität und der anerkennenden, ein aktives und gegenseitiges Verhalten besteht. So wie das Eltern-Kind-Verhältnis sich in der Zeugung zwar konstituiert, es aber in bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen der Eltern und der Kinder besteht und sich äußert, so existiert auch das Autoritätsverhältnis in den Handlungen von Subjekten, die das personale Verhältnis gleichsam ›mit Leben‹ erfüllen. – Dazu ist erforderlich 64 , 1. dass die Autorität sich der anderen Person mitteilt. Diese Mitteilung, den Willen und die Fähigkeit dazu sowie die Äußerung, lässt sich in Analogie zur elterlichen Fürsorge und Pflege verstehen: so wie die Eltern sich dem Kind mitteilen können und wollen, weil es, wie Aristoteles sagt, gleichsam ihr »zweites Ich« 65 sei, so teilt die Autorität sich mit, weil sie als Urheber der anderen Person gilt. 2. dass diese Mitteilung mittels physischer Zeichen geschieht. Diese Zeichen können Gesten oder Taten, Reden oder Schriften, aber auch Ereignisse sein. Wichtig ist nur, dass diese Vorkommnisse als Äußerungen der Autorität gelten, durch die sie sich mitteilt. 3. dass die anerkennende Person a. diese physischen Zeichen wahrnehmen kann, b. sie tatsächlich wahrnimmt, c. ihren semantischen Gehalt versteht und d. sie als Mitteilung der Autorität erkennt. Diese sukzessive Art der Wahrnehmung und Erkenntnis der anerkennenden Person lässt sich gleichfalls in Analogie zur Kinderliebe verstehen: während die Liebe der Eltern von Beginn an besteht, braucht die Kinderliebe Zeit. Um die Eltern als Urheber der eigenen Existenz zu lieben, bedarf es der Vorgänge der Wahrnehmung der Eltern sowie des Verstehens. Wie das Kind wird daher auch die anerkennende Person erst durch Wahrnehmung und Verstehen zu demjenigen Subjekt, das in dem anderen Subjekt die Autorität als seinen Urheber erkennt. Das Autoritätsverhältnis stellt in dieser Hinsicht also eine dreiIm Folgenden übernehme ich gekürzt, was J. M. Bochenski in »Was ist Autorität?« (Bochenski 1974, 23 ff.) über die »Logik der Autorität« ausgeführt hat. 65 »… die Eltern lieben das Kind wie sich selbst – was aus ihnen entstanden ist, existiert ja nach dem Akt der Loslösung gleichsam als zweites Ich (eteroi autoi) weiter –, das Kind aber liebt seine Eltern, weil es von ihnen stammt.« (Aristoteles 1969, [1161 b 25], 235.) 64
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
77
Einleitung
stellige Relation zwischen zwei Subjekten und einem Zeichensystem dar. Beide kommunizieren mittels eines bedeutungsvollen Zeichensystems, in dem die Autoritätsperson sich der anderen Person mitteilt, und durch das und in dem diese jene als Autorität erkennt. Diese Kommunikationsstruktur der Subjekte ließe sich in den Formeln ausdrücken: »Du bist, was du bist, weil ich bin« bzw. »Ich bin, was ich bin, weil du bist.« Vergleichen wir am Ende unserer Exposition den Autoritätsbegriff mit den Begriffen der »Macht«, »Herrschaft« und »Kompetenz«, die wir zu Beginn genannt haben, so lässt sich der Zusammenhang der Begriffe jetzt recht einfach herstellen, aber auch das Missliche dieser Assoziationen erkennen. Zwar können diese Begriffe durchaus auch als Eigenschaften von Autoritäten gedacht werden, aber sie definieren nicht, was »Autorität« ist. So übt eine Autorität über den, der sie anerkennt, zweifellos Macht aus, weil sie sein Verhalten bestimmt; verfügt sie über eine Kompetenz, die verstanden und erkannt werden muss; und schließt schließlich die Asymmetrie des Autoritätsverhältnisses das Element von Herrschaft ein. Aber diese Eigenschaften konstituieren das Autoritätsverhältnis sowenig wie die Macht, Kompetenz oder Herrschaft der Eltern das ElternKind-Verhältnis konstituieren. Der Autoritätsbegriff bezeichnet vielmehr ein ursprüngliches personales Verhältnis, dem eine eigentümliche Beziehung des Mitteilens und Anerkennens entspringt. Arendts Urteil über die Eltern als dem Modell für Autorität hat schließlich doch den Weg zum Verständnis von Autorität gezeigt. Allerdings müssen wir ihr Urteil einschränken: nur die Unverfügbarkeit des Eltern-Kind-Verhältnisses hat als Vorbild gedient; dass Arendt darüber hinaus annimmt, Autoritäten seien notwendig, lässt sich damit nicht begründen. Im Gegenteil, gerade die Unverfügbarkeit dieses Verhältnisses bedingt, dass sich für die Existenz von Autoritäten keine Gründe angeben lassen. So wenig es notwendig ist, dass Eltern existieren, so wenig müssen Autoritäten existieren. Es gibt sie oder gibt sie nicht. Ihre Existenz kann rational nicht begründet werden.
C. Ausblick Nach der Exposition unserer Grundbegriffe: epistemisches Gesetz, Autonomie und Autorität, die uns als Instrumentarium der Rekons78
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
truktion dienen, wollen wir schließlich den methodischen Status dieser drei Begriffe erläutern, d. h. die unterschiedlichen Funktionen, die sie in der Rekonstruktion haben werden, und damit zugleich unser Vorhaben skizzieren. Unter dem Begriff des epistemischen Gesetzes verstehen wir erstens, wie ausführt, eine Regel, welche die epistemische Arbeit anleitet. Er erscheint uns einerseits als genügend allgemein, um unterschiedliche Wissenssysteme auf ihre epistemischen Grundlagen hin untersuchen zu können, andererseits jedoch als bestimmt genug, um die Anzahl von Wissensarten zu begrenzen. Denn unter diesen Begriff fallen keine epistemischen Gebilde, die ohne allgemeine Regel sind, die eine narrative Struktur haben oder auf Intuitionen gründen, und die daher mimetisch im Gesang oder Tanz oder aber im Zustand der Entrückung aktualisiert werden. Unter ihn fallen also nur solche Wissenssysteme, denen Sätze als epistemische Regeln zugrunde liegen. – Wir verwenden den Begriff des epistemischen Gesetzes zweitens als einen formalen Begriff. D. h.: er dient uns allein dazu, zwei Fragen zu stellen: zum einen, was im jeweiligen Wissenssystem der Grundsatz sei, der die Herstellung von explizitem Wissen regelt, und was er bedeutet; und zum anderen wie dieser bedeutungsvolle Satz epistemologisch als epistemisches Gesetz begründet wird. Dieser bloß formale Gebrauch erlaubt uns also die meta-epistemische Frage, wie es geschieht, dass gewisse Sätze zu epistemischen Gesetzen erhoben werden. Wir selbst gehen also von keinem Grundsatz aus, der festlegte, was Wissen sei, sondern lassen uns von der Frage leiten, wie ein gewisser Satz oder gewisse Sätze epistemologisch zum epistemischen Gesetz erhoben werden. Dieses Vorgehen entspricht dem von uns eingangs beschriebenen Standort einer bloß rekonstruierenden Epistemologie. Während wir den Begriff des epistemischen Gesetzes nur im formalen Sinn verwenden, verhält es sich anders mit den beiden Begriffen der Autonomie und der Autorität. Diese können nur auf der Grundlage desjenigen Denkens gebildet werden, das mit diesen Begriffen zugleich untersucht wird. Denn der begriffliche Gehalt von Autonomie und Autorität ist nicht abstrakt, sondern griechischen bzw. römischen Ursprungs. Wenn wir daher das griechische Denken mithilfe des Begriffs der Autonomie, wie wir ihn erörtert haben, rekonstruieren werden, dann unterstellen wir, dass sein begrifflicher Gehalt nicht ›von außen‹ an dieses Denken herangetragen wird, sondern dass sich mit der Bildung dieses Begriffs zugleich das grieA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
79
Einleitung
chische Denken als dessen Ursprungsort rekonstruieren lässt. Das gleiche gilt für den Begriff der Autorität zur Rekonstruktion des römischen Denkens. Das Vorhaben der Rekonstruktion von Wissenssystemen mittels der Begriffe der Autonomie und der Autorität bedeutet also eo ipso die Rekonstruktion des griechischen wie des römischen Denkens. Unsere Untersuchung des griechischen Denkens unter dem Prinzip einer Selbstgesetzgebung wird diese Art zu denken als reflexives Modell der permanenten Vergewisserung der epistemischen Grundlagen darstellen. In dieser Rückbezüglichkeit bringt es die Struktur einer kritisch-selbstkritischen Wissensinnovation hervor und stellt das dynamische Element epistemologischer Erneuerung bereit. Das römische Denken hingegen werden wir unter dem Autoritätsprinzip als Modell einer ›Vergewisserungsentlastung‹ durch die Anerkennung gesetzgebender Autoritäten rekonstruieren, das als solches das stabile, kontinuitäts- und traditionsstiftende Element der Wissensbewahrung enthält. Während das griechische Denken in der raschen Abfolge seiner Welterklärungsmodelle eine Wissensbegründungsstruktur qua Autonomie hervorgebracht hat, hat sich im römischen Denken der begriffliche Gehalt von Autorität allmählich, auf dem Hintergrund des entstehenden Weltreichs, herausgebildet. Als ›Markstein‹ der Verbindung dieser beiden Arten der Begründung von Wissen zum europäisch-abendländischen Denken betrachten wir Augustinus. Dieser hat am Ende der griechisch-römischen Antike und am Beginn des sog. »Mittelalters« das personale Autoritätsverhältnis und das selbstbezügliche Autonomieprinzip in seinem Modell des dreieinigen Gottes zusammengeführt, das im lateinisch geprägten Europa zur verbindlichen Grundlage des Wissens wurde. Den Ausgangspunkt der neuzeitlich-europäischen Wissenskonstellation sehen wir in der Epistemologie René Descartes’. Diese hat in ihrer Neubegründung des Wissens das Prinzip der Autonomie mit der Klarheit des »Ich denke« und das Prinzip der Autorität mit der Wahrheit des Urteilens auf neue Weise verknüpft. – Schließlich unternehmen wir es, die Philosophie Immanuel Kants als Epistemologie der Moderne zu rekonstruieren. Sie trennt die theoretische Gesetzgebung von der praktischen und konzipiert auf dieser Grundlage die Autonomie als Berufung des Menschen. Bei unserer Rekonstruktion des europäischen Denkens werden wir uns auf eine Anzahl von Sätzen beziehen und untersuchen, wie 80
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das Vorhaben
sie von ihren Autoren zu epistemischen Grundsätzen erhoben wurden. Diese Bezugnahme enthält zum einen die Einschränkung, dass unser Gegenstand Sätze, nicht aber ihre Autoren sind. Wir schreiben daher keine Geschichte, die versammelt, was europäische Denker gedacht haben. Sie bedeutet zum anderen, dass wir in der Reihe dieser Sätze keine ›Notwendigkeit‹ walten sehen, die uns ihre Formulierung erklärt oder ihre Abfolge – sei es als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte – begreifen lässt; dass wir in ihr aber auch kein »ImmerGleiches« erkennen, das sich in diesen Sätzen nur verschieden auslegt. Wir streben also weder Vollständigkeit an noch verbinden wir unsere Untersuchung mit einem systematischen Anliegen. Damit haftet unserer Reihe von Sätzen etwas Willkürliches an: Wir betrachten sie als Sätze, die von ihren Autoren zu epistemischen Grundsätzen erhoben wurden und deshalb kontingent sind; es hätten andere Sätze von anderen Autoren dazu erhoben werden können. Zudem enthält unsere Auswahl Willkürliches, so dass die Anzahl der Sätze sicher erweiterungs-, kaum jedoch reduktionsfähig ist. Da wir auch hierbei keine Originalität beanspruchen, haben wir uns bei der Auswahl vom common sense leiten lassen.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
81
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
I
Das griechische »Projekt Autonomie«
I.
Thales: Der »Satz vom Wasser«
Seit Aristoteles ist es die weitgehend einhellige Auffassung, dass am Anfang dessen, was dann als »Philosophie« bezeichnet wurde, der sogenannte »Satz vom Wasser« steht, den Thales formuliert hat. Bevor wir diesen Satz als ersten Grundsatz der Philosophie rekonstruieren, wollen wir jedoch der Frage nachgehen, in welchem Sinn dieser Satz als »Anfang der Philosophie« bezeichnet werden kann.
A. Das Problem des Anfangs der Philosophie In der »Metaphysik« (983b 6 ff.) schreibt Aristoteles: »Twn de prwtwn yilosoyhsantwn oi pleistoi ta@ en ulh@ eidei mona@ whjhsan arca@ einai pantwn« (Von denen, die zuerst philosophiert haben, haben die meisten geglaubt, die Urgründe von allem seien nur im Stofflichen). Er führt daraufhin die Überlegung an, dass die arcai im Sinne der bleibenden Substanz (ousia upomenoush) des Entstehens und Vergehens von allem zu verstehen seien. Anschließend fährt Aristoteles fort: »to mentoi plhjo@ kai to eido@ th@ toiauth@ arch@ ou to auto pante@ legousin, alla Qalh@ men o th@ toiauth@ archgo@ yilosoyia@ udwr yhsin einai« (Über die Anzahl und die Art eines solchen Urgrundes haben freilich nicht alle dieselbe Meinung, sondern Thales, der Begründer solcher Art von Philosophie, sagt, das Wasser sei dieser Urgrund). Er nennt nun einige Gründe, die Thales zu dieser Annahme geführt haben könnten. Achten wir nicht auf die Inhalte: stofflicher Urgrund und Wasser, die Aristoteles nennt, sondern auf die Struktur seiner Darlegung, so sehen wir, dass Aristoteles den »Satz vom Wasser« nicht als den Anfang der Philosophie vorstellt. Denn im ersten Teil führt er Gründe an, die die ersten Philosophen annehmen (whjhsan) ließen, die arch wäre stofflich; so aber wären diese Gründe selbst schon PhiA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
83
Das griechische »Projekt Autonomie«
losophie, und die Annahme wäre nicht ihr Anfang. Im zweiten Teil nennt Aristoteles Gründe, die Thales veranlasst haben könnten, zu sagen, die arch sei Wasser. Diese seien entweder gewisse Beobachtungen (oran), die Thales gemacht, oder gewisse Mythen, die er übernommen habe. In beiden Fällen setzt Aristoteles auch hier Thales’ Annahme Begründendes voraus: eine Methode, aufgrund von Beobachtungen zu gewissen Aussagen zu gelangen, oder die Geltung von Mythen, die Thales übernimmt; in keinem Fall aber stellt er den »Satz vom Wasser« selbst als den Anfang von Philosophie vor. Wenn wir nun unsererseits den Gründen nachgehen, die dieser Darstellung des Anfangs der Philosophie zugrundeliegen, so ist es offensichtlich die Unterscheidung, die Aristoteles zwischen der Annahme und ihrer Begründung macht. Zwar stellt er fest, dass Thales »zuerst philosophiert« hat; aber nicht der »Satz vom Wasser« selbst ist ihm das Erste, sondern die Begründung, die Thales für die in dem Satz enthaltene Annahme gegeben hat oder hätte geben können. Diese Begründung ist nun aber entweder selbst schon Philosophie oder eine Bezugnahme auf die Beobachtung oder ein Rekurs auf den Mythos, so dass sich bei den genannten Begründungsarten die Einsicht verliert, worin denn der Anfang der Philosophie besteht. – Statt vom »Satz vom Wasser« selbst als dem Anfang der Philosophie auszugehen, interpretiert Aristoteles diesen Anfang schon auf der Grundlage seines eigenen bzw. des von Platon übernommenen Begriffs von Philosophie, dass nämlich Philosophie ein »begründetes Annehmen« (doxa meta logon) sei. Daher sucht er nach Gründen, die Thales bewegt haben könnten, anzunehmen, die arch von allem sei Wasser. Aristoteles stellt also den Anfang der Philosophie nicht als Anfang dar; er setzt seiner Darstellung des Anfangs vielmehr einen Begriff von Philosophie voraus, mit dem die Philosophie nicht angefangen hat. Im Folgenden wollen wir daher den »Satz vom Wasser« unter der Voraussetzung interpretieren, dass es keiner außerhalb dieses Satzes liegender Gründe (Überlegungen, Beobachtungen oder Mythen) bedarf, um ihn als den Anfang der Philosophie bestimmen zu können. Der Satz soll vielmehr selbst als der Anfang der Philosophie rekonstruiert werden, um von hier aus im Weiteren nachzuvollziehen, wie ein Begriff von Philosophie hat entstehen können, der sie als ein »begründetes Annehmen« bestimmt.
84
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
1.
Die Frage nach der Arch
Um das Anfängliche der Wissensart, die als »Philosophie« bezeichnet wird, erfassen zu können, wollen wir nicht nach den Gründen fragen, die zu jener Annahme geführt haben, sondern den »Satz vom Wasser« zunächst als Antwort auf eine Frage interpretieren. Hierzu gehe ich davon aus, dass das Frage-Antwort-Schema kein willkürlich gewähltes Mittel ist, sondern mit ihm sich die epistemische Situation beschreiben lässt, in der die Philosophie entstanden ist. Wenn wir daher den »Satz vom Wasser«, mit dem die Philosophie beginnt, als Antwort deuten, so setzt dessen Rekonstruktion die Suche nach der Frage voraus, auf die der Satz eine neue Antwort gibt. Was also ist diese Frage, und wer stellt sie? Und – gehört sie schon der Philosophie an oder geht sie ihr noch voraus? 1. Es kann in zweifacher Weise gefragt werden. Die eine, die relative und normale, Art zu fragen sucht eine Antwort. Sie setzt dabei voraus, dass es ein Wissen gibt, das die gestellte Frage beantwortet. So ist die Frage: »Wie spät ist es?« nur sinnvoll, wenn angenommen wird, dass es Uhren gibt, die die Zeit anzeigen, und sich damit die Frage beantworten lässt. In dieser Situation verhält sich ein nichtwissendes Subjekt zu einem vorhandenen Wissen, und die Frage regelt seine Tätigkeit, den Zustand des Nichtwissens durch den des Wissens zu überwinden. Diese besteht in der Aneignung des vorhandenen Wissens und endet mit dem Wissen, das die gestellte Frage beantwortet. Daher fragt weder der Nichtwissende, der keine Antwort sucht, noch der Wissende, der die Antwort hat; wer so fragt, sucht also den Zustand des Nichtwissens durch den des Wissens zu negieren. – Die andere, absolute und anormale, Art zu fragen setzt zwar ebenfalls voraus, dass es Wissen gibt; die Tätigkeit des Fragens ist jedoch nicht darauf gerichtet, es sich anzueignen, sondern als Wissen aufzulösen. Sie hat das Ziel, die Antworten epistemisch als »Irrtum«, »Meinung«, »Glaube« o. ä. zu desavouieren. Wer so fragt, hat nicht die Überwindung des Nichtwissens durch das Wissen, sondern umgekehrt des Wissens durch das Nichtwissen zum Ziel. Er sucht nicht die Frage zu beantworten, sondern befragt die Antworten. Diese Art zu fragen endet nicht mit der Antwort, sondern mit der Frage, nicht im Zustand des Wissens, sondern des Nichtwissens 1. In der Diese absolute Art des Fragens endet nicht mit der »sum-bolh«, der Vereinigung, sondern mit der »dia-bolh«, der Trennung. – Vgl. Bodenheimer 1984, 20 ff.
1
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
85
Das griechische »Projekt Autonomie«
Situation des absoluten Fragens eignet sich ein nichtwissendes Subjekt nicht vorhandenes Wissen an, sondern entfremdet sich von diesem und bezieht sich bloß auf sich. Es verhält sich in dieser Entfremdung zu sich als zu einem schlechthin nichtwissenden Subjekt. Während also das relative Fragen eine endliche Tätigkeit ist, die durch die Aneignung vorhandenen Wissens in der Antwort endet, ist das absolute Fragen eine unendliche Tätigkeit: das Fragen endet – im Fragen. Ordnen wir nun das Frage-Antwort-Schema dem »Satz vom Wasser« zu, so können wir ihn nur als eine Antwort verstehen, der die zweite Art zu fragen vorausgeht. Denn ginge ihm die erste, bloß relative Art zu fragen voraus, so ließe er sich nicht als eine neue Art der Antwort interpretieren. Er wäre das Resultat der Aneignung vorhandenen Wissens und repräsentierte bloß dieses Wissen. Wenn der »Satz vom Wasser« jedoch den »Anfang der Philosophie« bezeichnet, dann setzt er eine Art des Fragens voraus, die das vorhandene Wissen in Frage stellt, und mit Thales zugleich ein Subjekt, das sich im Zustand des fragenden Nichtwissens in Distanz zu diesem Wissen setzt. Dies aber ist die zweite, absolute und anormale Art zu fragen. Unter dieser Bedingung stellt sich für unsere Rekonstruktionsabsicht also die Frage, wie es überhaupt möglich ist, auf der Grundlage eines solchen absoluten Fragens dennoch den »Satz vom Wasser« als eine Antwort zu verstehen. 2. Bevor wir uns diesem Problem des »Übergangs« von Frage in Antwort zuwenden, möchte ich zunächst auf den Inhalt der Frage eingehen, auf die der »Satz vom Wasser« eine Antwort gibt. In der von Aristoteles überlieferten Version ist sie die Frage nach der arch 2 , die 2 Man hat eingewandt, dass die Frage nach der arch erst aristotelisch sei. So schreibt W. Schadewaldt: »Wenn wir gleich zu Anfang lesen, dass sich die Archai in der Wesensart der Materie bewegen, so sind die Begriffe arché und hyle spät und bestimmt nicht vor Aristoteles selbst.« (Schadewaldt 1978, 225). Er schlägt vor, den »Satz vom Wasser« so zu rekonstruieren: »udwr genesi@ apantwn« (226). – Dieser Auffassung stehen allerdings Zitate von Simplikios und Hippolyt entgegen, die nicht Aristoteles, sondern Anaximander als den ersten auszuweisen scheinen, der das Wort »arch« in diesem Sinn gebraucht hat: »prwto@ touto tounoma komisa@ th@ arch@« (Simplikios zu Aristoteles, Physik 24, 13); »prwto@ tounoma kalesa@ th@ arch@« (Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 6). An dieser Lesart hat J. Burnet Zweifel geäußert: Er liest nicht, Anaximander habe als erster das Apeiron als arch, sondern umgekehrt, er habe als erster die arch als Apeiron bezeichnet: »having been the first to introduce this name (i. e. to apeiron) for the arch« (Burnet 1930, 57, Anm. 1). Nach Burnet kam also bei Anaximander das Wort »apeiron«, nicht aber »arch« vor. Aus einem anderen Simpli-
86
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
wir als Frage nach dem »Ur-« verstehen wollen 3 . Auf sie hatten bislang die Kosmogonien und Theogonien geantwortet. Sie repräsentierten das vorhandene Wissen von der arch. Wenn wir nun erstens davon ausgehen, dass Thales diese Antworten kannte, und wir zweitens Thales’ Frage nach der arch im Sinne des absoluten Fragens auffassen, dann ist sie so zu verstehen, dass sie das vorhandene Wissen von der arch in Frage stellt. Thales fragt nach der arch nicht, um das vorhandene Wissen sich anzueignen, sondern weil es für ihn zur bloßen Meinung geworden ist; er verhält sich zu diesem Wissen fragend, d. i. nichtwissend. 4 – Allerdings erlaubt es die Darstellung, die Aristoteles von der arch-Frage gibt, nicht, sie in diesem absoluten, sondern in einem nur eingeschränkten Sinn zu verstehen: als Frage nach der ulh, dem »Stoff«, aus dem alles hervorgeht. Wäre dem so, dann setzte die Frage nach der arch jedoch schon ein Wissen voraus, dass nämlich die arch »Stoff« – und nichts anderes – sei. Damit aber ginge dem »Satz vom Wasser« ein anderer Satz voraus: arch ulh esti. Jener wäre kein Erstes, sondern ein Zweites; und ihm ginge kein nichtwissendes Fra-
kios-Zitat dürfte jedoch jenes Verständnis unmissverständlich hervorgehen: »prwto@ auto@ [Anaximander] archn onomasa@ to upokeimenon« (Simplikios zu Aristoteles, Physik 150, 23). In diesem Satz ist zwar der Ausdruck »to upokeimenon« peripatetisch; aber die »Worte bedeuten unmissverständlich: ›Er gab ihm den Namen arch‹, wie sie auch richtig von Usener und Diels verstanden wurden.« (Jaeger 1968, 66, Anm. 28). – Vgl. auch: Schmitz 1988, 19 f. Für unseren Rekonstruktionszweck ist jedoch die Wahl des Wortes nicht von entscheidender Bedeutung. Wir nehmen an, dass es dieselbe Frage war, auf die Thales und Anaximander eine verschiedene Antwort gegeben haben, und die wir als »Frage nach dem Ur-« deuten. Unseres Erachtens liegt das Problem in der Wahl des Wortes, nicht in der Bedeutung. 3 Man erlaube mir diese Verwendung der Silbe »Ur-« als Wort. Denn die Wörter UrAnfang, Ur-Sprung, Ur-Sache, Ur-Grund konnotieren das Gemeinte in einer schon bestimmten und unterschiedlichen Weise: zeitlich, dynamisch, mechanisch, substanzhaft. Diese Konnotationen sollen jedoch ferngehalten werden. 4 Vgl. W. Jaeger: »Ein solches reserviertes Verhalten des Denkens setzt eine tiefgreifende Veränderung des Menschen voraus, verglichen mit dem Geisteszustand, der sich auf der Stufe des Mythos offenbart, und zugleich eine veränderte Stellung zum Mythos selbst. Es liegen uns zwar keine direkten Äußerungen der ältesten philosophischen Denker über ihr Verhältnis zu den überlieferten Mythen vor, aber es ist unvorstellbar, dass sie nicht ihr eigenes Denken als den äußersten Gegensatz (H. v. m.) zu einer Form der menschlichen Existenz hätten empfinden müssen, welche sich in allen entscheidenden Punkten auf die Voraussetzung der Wahrheit von allgemein geglaubten mythischen Erzählungen stützte. Insbesondere die Erkenntnis der Welt vertrug für diese Leute keine Einmischung der mujoi« (Jaeger 1968, 51 f.). A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
87
Das griechische »Projekt Autonomie«
gen, sondern schon ein Wissen voraus 5. Da es uns jedoch um die Bestimmung des »Satzes vom Wasser« als Anfang der Philosophie geht, wollen wir von allen einschränkenden Voraussetzungen und Bedingungen absehen, um die Frage nach der arch im absoluten Sinn zu rekonstruieren. 2.
Der Anfang der Philosophie: die »Arch-Frage« oder der »Satz vom Wasser«?
Nun lässt sich die These aufstellen, dass, da dem »Satz vom Wasser« die Frage nach der arch vorangeht, der Anfang der Philosophie nicht in diesem Satz liegt, sondern in der Frage nach der arch. Die Philosophie beginnt demnach mit der Konstitution eines Subjekts, das sich als absolut fragend und nichtwissend in Distanz zum vorhandenen Wissen setzt. Die Philosophie wäre so, in ihrem Ursprung, keine besondere Art des Wissens, sondern eine des, fragenden, Nichtwissens. – Doch dieser These stehen sowohl systematische als auch historische Einwände entgegen. Denn wenn man den Anfang der Philosophie einseitig in die Frage nach dem »Ur-« verlegt, dann wird nicht mehr einsichtig, welchen epistemischen Wert der »Satz vom Wasser« hat. Er wäre jedenfalls nicht als eine Antwort zu verstehen, die das Fragen beendet; er könnte bestenfalls als eine hypothetische, selbst fragwürdige, Antwort gelten und wäre so eingereiht in eine Menge fragwürdiger Antworten. Damit aber verschwände der qualitative Unterschied zwischen den bisherigen, fragwürdig gewordenen, Antworten und dem »Satz vom Wasser« als einer neuen Antwort. Hält man jedoch daran fest, dass dieser Satz, wie allgemein angenommen, den Anfang der Philosophie bezeichnet, so ist es um die Erklärung dieses Anfangs zu tun. – Zudem hält die These vom Fragen als Es ist merkwürdig, dass Aristoteles zwar die allgemeine Feststellung trifft, die Menschen hätten zu philosophieren begonnen, weil sie sich über das Unerklärliche wunderten, das ihnen entgegentrat, und er denjenigen, der voller Fragen ist und sich wundert, als einen bezeichnet, der meint, in Unkenntnis zu sein, das Philosophieren aber als die Anstrengung, der Unwissenheit zu entkommen (Metaphysik, 982 b). Im konkreten Fall jedoch geht er nicht von dieser Unwissenheit, sondern schon von einem Wissen aus: dass nämlich Thales schon wusste, dass allem Werden und Vergehen eine unveränderliche Substanz zugrunde liegt, und dass diese stofflich ist, und er nur danach fragte, was dieser Stoff sei (und dies mit der Annahme beantwortete, er sei Wasser). Dies Wissen aber ist schon Philosophie, und kann nicht ihr Anfang sein.
5
88
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
Anfang der Philosophie auch nicht dem Vergleich mit den historischen Tatsachen stand. Denn in der griechischen Kultur markiert die lyrische Dichtung den Bruch mit dem alten Wissen. In ihr artikulierte sich erstmals die Distanz eines freien Subjekts, das »an den Grundfesten einer Welt (rüttelt), deren Existenz sich auf überholte Wertauffassungen gründet.« 6 . Wenn also der Aufstellung des »Satzes vom Wasser« durch Thales der Auflösungsprozess des vorhandenen Wissens zeitlich vorangegangen ist, und wenn dieser Satz als eine neue Antwort das absolute Fragen voraussetzt, dann erlaubt dies nur die Auffassung, dass Thales zwar an diesem Auflösungsprozess des »alten Wissens« teilgenommen hat, dass sich aber nicht erst mit ihm ein freies, absolut fragendes Subjekt konstituiert hat. Im Gegenzug lässt sich die These vertreten, dass, wenn nicht das Fragen den Anfang der Philosophie bezeichnet, es offenbar die Antwort ist. Mit dem »Satz vom Wasser« beginnt ein neuer Diskurs, der dadurch beschrieben wird, dass er nicht mehr mythisch, sondern rational verfährt 7 . Diese Rationalität lässt sich nun so beschreiben, dass, wie es Aristoteles tut, mit dem »Satz vom Wasser« die Suche nach der stofflichen Substanz, aus der alles ent- und besteht, beginnt; oder dass in diesem Satz erstmals die Vielfalt der Erscheinungen in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wesens zusammengefasst worden ist 8 ; oder schließlich dass mit Thales die Erforschung der natürlichen Ursachen beginnt. – Zwar deutet schon die Aufzählung hin, dass durchaus nicht klar ist, was mit der »Rationalität« gemeint ist, mit der Thales begonnen habe; sie hängt vom je eigenen Begriff von »Rationalität« ab. Doch selbst wenn wir einen solchen bestimmten Rationalitätsbegriff zugrunde legen, ergeben sich Erklärungsdefizite. Ebener 1985, XXXI. – Zu diesem Umbruch siehe: Fränkel 1955, 8; Snell 1955, 83–117; Nestle 1975, 53–80. 7 Vgl. W. Nestle: »… auf die Frage nach der letzten Ursache der Welt, nach dem Prinzip (arch) aller Dinge, gaben sie keine mythische Antwort mehr, sondern eine rationale, wenn sie dieses Prinzip in irgendeiner anfangslosen materiellen Substanz, in Wasser, Luft oder Feuer, in einem grenzenlosen und unbestimmten Stoff … fanden« (Nestle 1975, 81). G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield: »In Ionien fanden die ersten wirklich rationalen Versuche statt, die Natur der Welt zu beschreiben« (Kirk 1994, 83; auch 108.). Auch: Gigon 1945, 45 f. 8 So Hegel: »Der einfache Satz des Thales ist … darum Philosophie, weil darin nicht das sinnliche Wasser in seiner Besonderheit gegen andere natürliche Elemente und Dinge genommen ist, sondern als Gedanke, in welchem alle wirklichen Dinge aufgelöst und enthalten sind, es also als das allgemeine Wesen gefasst ist« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 202). – Siehe auch: Schadewaldt 1978, 218. 6
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
89
Das griechische »Projekt Autonomie«
Denn es entsteht die Schwierigkeit zu erklären, warum die Aussage, Wasser sei Ursprung von allem, der Anfang aller Rationalität sein soll 9 ; oder aber es wird unterstellt, Thales hatte die behaupteten Rationalitätsstandards schon vor der Aufstellung des Satzes, so dass die Aussage, die arch sei Wasser, das Resultat einer rationalen Untersuchung war 10. Dies aber hat erneut die Konsequenz, dass die Philosophie schon vor ihrem Anfang angefangen haben müsste. Thales hätte schon wissen müssen, was »rational« ist, und dass sein Satz eine rationale Aussage darstellt. Die Erklärung, der »Satz vom Wasser« sei der Beginn von Rationalität, kann also das Problem des Anfangs der Philosophie nicht zirkelfrei lösen. Sie setzt entweder einen je eigenen Rationalitätsbegriff voraus oder unterstellt ihn Thales als Voraussetzung seines Satzes. 3.
»Thales selbst«
Wenn nun weder die These, die Philosophie beginne mit dem absoluten Fragen nach der arch, noch die Gegenthese, sie beginne mit der neuen Rationalität des »Satzes vom Wasser«, ihren Anfang hinreichend erklären, so muss die Erklärung offenbar »zwischen« beidem, zwischen der Frage nach der arch und ihrer Antwort mit dem Zur Erklärung des Satzes werden meist Zufälligkeiten der Biographie Thales’ herangezogen: weil er die Erde und das Meer, die Pflanzen oder die Tiere beobachtet habe; weil er nach Ägypten gefahren sei … Unklar bleibt, wie diese Zufälle den Anfang von Rationalität ausmachen können. Es scheint eher, als müsse man mit der ›Irrationalität‹ der Aussage irgendwie fertig werden: »… haben wir kaum eine Vorstellung davon, wie man zu der Auffassung kam, die Dinge seien wesentlich auf Wasser bezogen.« (Kirk 1994, 104) – Hegel war der einzige, der den »Satz vom Wasser« als in sich rationalen Anfang gedeutet hat. Seine Artistik geht dabei in eine andere Richtung: die Philosophie müsse um der Idee willen mit dem ›spekulativen Wasser‹ beginnen. Dies Wasser sei »der Widerspruch des Begriffs des Allgemeinen (Formlosen) und seines Seins« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 201). Diese spekulative Erklärung ist jedoch ebenfalls wenig überzeugend. 10 So behauptet K. R. Popper, dass, weil alle wissenschaftlichen Sätze Hypothesen seien, die Sätze der Ionier kosmologische »Vermutungen« (conjectures) waren. Zwar stimmen wir ihm zu, wenn er feststellt, ihre Ideen »haben nichts mit neuen Beobachtungen zu tun«, sondern seien frei erfundene, »kühne(.) Theorien über die Welt« (Kosmologie und Veränderung. In: Popper 2000, 212). Wenn er sie jedoch hinsichtlich ihres epistemischen Status als »Vermutungen« beschreibt, dann erklärt Popper weniger den Anfang der Philosophie, als dass er uns die ersten Philosophen als die ersten »kritischen Rationalisten« vorstellt, die schon damals nach der Methode von »Versuch und Irrtum« gearbeitet hätten. Siehe auch: K. R. Popper, Die Anfänge des Rationalismus. In: Popper 2000, 4–11. 9
90
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
»Satz vom Wasser«, gesucht werden. Als ein absolut fragendes Subjekt nimmt Thales einerseits an dem historischen Vorgang teil, der die theo- und kosmogonischen Antworten in Zweifel zieht und sich damit in Distanz zum vorhandenen Wissen setzt. Mit dem »Satz vom Wasser« gibt Thales andererseits eine neue Antwort auf die Frage nach der arch. Dieser Satz, so unterstellen wir, stellt für Thales keine selbst fragwürdige Annahme dar, sondern beantwortet die Frage nach der arch. Er beendet das Fragen und repräsentiert als solcher das Wissen, was die arch ist. Damit aber stehen wir vor die Frage: wie ist es möglich, dass dasselbe Subjekt – Thales von Milet – hinsichtlich derselben Frage sowohl ein fragendes und nichtwissendes als auch ein Antwort habendes und wissendes Subjekt ist? Darauf lässt sich nun die triviale Antwort geben, Thales sei als fragender aufgebrochen und als wissender zurückgekehrt. Mittels seiner Reise nach Ägypten, seinem Gang an den Strand von Milet oder seiner Fahrt in die mythische Vergangenheit sei aus einem fragend-unwissenden ein antworthabend-wissender geworden. Doch diese Antwort geht an der Frage vorbei, weil sie den »Übergang« vom Nichtwissen zum Wissen nach Art des bloß relativen Fragens beschreiben: als Aneignung eines schon vorhandenen Wissens. Sie erklärt, wie Thales aus dem Zustand des Nichtwissens in den des Wissens gelangt; aber nicht, wie unter der Bedingung der grundlegenden Infragestellung des vorhandenen Wissens dennoch neues Wissen entsteht. Ernster ist wohl die Erklärung zu nehmen, die diesen Übergang vom Nichtwissen zum Wissen nicht als eine äußere Erfahrung, sondern als eine Art innerer Erleuchtung beschreibt, als mystisch-intuitive Annehmung neuen Wissens 11. Auch wenn sich in diesem Fall interessante Parallelen zu Religionsstiftern, sowohl hinsichtlich der aporetischen Ausgangssituation als auch der Sicherheit des neu Gewussten, finden lassen, so hat sich offensichtlich weder Thales selbst als Prophet oder Religionsstifter verstanden, noch ist er – und mit ihm der Anfang der Philosophie – in der Folgezeit in dieser Weise gedeutet worden. Da die angeführten Erklärungen, die den Anfang der PhiloSo ist für F. Nietzsche z. B. der »Satz vom Wasser« ein »metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, samt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz ›Alles ist Eins‹. (Nietzsche 1968 ff., Bd. 1, 813).
11
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
91
Das griechische »Projekt Autonomie«
sophie als einen Vorgang der äußeren oder inneren Erfahrung beschreiben, ihn nicht als Anfang erklären, so bleibt die letztlich einfache Erklärung: Thales selbst hat die Antwort gegeben. Damit wird »Thales selbst« zum Anfang der Philosophie. Was bedeutet »Thales selbst«? Zum ersten soll dieser Ausdruck Thales als dasjenige Subjekt bezeichnen, das den Übergang vom epistemischen Zustand des Nichtwissens in den des Wissens vollzieht. Dieser beendet das Fragen, weil die Antwort, die Thales gibt, für ihn Wissen repräsentiert, er in Bezug auf diese also wissend ist. Da nun aber dieser Übergang nicht so erklärt werden kann, als wäre er durch die Aneignung eines vorhandenen Wissens vermittelt, kann er nur als ein vermittlungsloser, als ein durch Thales selbst bewirkter Vollzug gedacht werden. Das »selbst« bezeichnet hier also das Subjekt als den Autor seines Wissens; d. h. das autonome Subjekt, das weiß, weil es selbst die Antwort gibt und damit sein Wissen selbst setzt. Der Begriff des autonomen Wissenssubjekts gilt uns damit als die Lösung der Frage, wie Thales als absolut nichtwissendes Subjekt zugleich wissend werden kann; er erklärt, wie der Anfang der Philosophie als Anfang möglich ist. Zum zweiten bedeutet der Ausdruck »Thales selbst«, dass in Hinblick auf den geschichtlichen Anfang der Beginn zu philosophieren als eine historische Tatsache zu verstehen ist. Er ist weder durch äußere Faktoren verursacht, noch gehorcht er einer inneren Notwendigkeit, sondern ist schlicht das Resultat von Thales’ autonomem wissensetzendem Vollzug. Er ist ein Ereignis, das sich auch nicht hätte ereignen können. »Thales selbst« als Anfang der Philosophie bedeutet, dass ihr geschichtlicher Beginn die zufällige, kontingente Tat von Thales ist. – Zwar lassen sich für diese Tat Bedingungen anführen: die geographische, ökonomische und politische Lage der Handelsstadt Milet und die vorhandenen Kommunikationswege; die weltanschaulich-religiöse Krise des 7. und 6. Jahrhunderts; Thales’ soziale Stellung in seiner Heimatstadt und seine persönlichen Kenntnisse und Erfahrungen. Sie können jedoch nicht als die Ursache dafür gelten, dass Thales mit dem »Satz vom Wasser« zu philosophieren begonnen hat, sondern stellen nur Bedingungen dar. Ebenso wenig kann diese Tat als Folge einer Art »innerer Logik« erklärt werden, so als hätte die Philosophie mit dem »Satz vom Wasser« anfangen müssen, und Thales tat, was getan werden musste. Denn im Fall einer solch immanenten Erklärung müsste die Existenz eines Geschichtssubjekts angenommen werden, dem der thaletische »Satz vom Was92
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
ser« als Moment eigenen Werdens zuzuschreiben wäre. Diese Erklärungsweise setzt jedoch schon den Begriff eines allgemeinen Subjekts voraus, um dessen Möglichkeit es hier im Anfang bestenfalls gehen kann. Die Erklärung des Anfangs erfolgte in einem kategorialen Rahmen, der als solcher erst das Ergebnis von Philosophie, nicht aber ihr Anfang ist. Drittens soll der Ausdruck »Thales selbst« noch die Bedeutung enthalten, die sich in psychologischer Hinsicht als Wirkung dieser Wissen setzenden Tat beschreiben lässt. Sie verweist auf ein neues Gefühl des Stolzes und der Stärke, die aus dieser Art autonomer Wissenssetzung hervorgeht. Zwar lassen sich diese »psychischen Qualitäten« von Thales kaum historisch-empirisch verifizieren; es ist jedoch schlecht in Abrede zu stellen, dass sie vorhanden waren und ihre Ausstrahlung auf andere hatten. »Thales selbst« bezeichnet in diesem Sinne die Eigenschaften der Kühnheit und des Mutes, die Thales als demjenigen zugesprochen werden, der mit der Philosophie angefangen hat.
B.
Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz
Nachdem wir das Anfangsproblem der Philosophie mithilfe des Frage-Antwort-Schemas exponiert und als Anfang Thales als autonomes Subjekt angeführt haben, soll nun dem Umstand nachgegangen werden, dass dieses neue Wissen sich in Form des Satzes darstellt. Auch wenn uns die authentische Wortfolge des thaletischen »Satzes vom Wasser« unbekannt ist, so kann doch als gesichert gelten, dass Thales die Antwort auf die Frage nach der arch als Satz gegeben hat. 12 1.
Der Satz: Repräsentant von Wissen
Um die Struktur dieser neuen Wissensart genauer beschreiben zu können, soll zunächst die Form, in der das bisher vorhandene Wissen präsent gewesen war, in einer für unseren Vergleich hinreichenden Ausführlichkeit skizziert werden. Dieses Wissen lag, solange es die Frage nach der arch beantwortet hatte, in der Gestalt eines unver12
Siehe: Anmerkung 2. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
93
Das griechische »Projekt Autonomie«
fügbar vorhandenen epistemischen Codes vor. Er enthielt die sogenannte »Ur-Geschichte« 13 , die Genese, die Wirkungen und Handlungen von Göttern und Heroen, und prägte die geistig-kulturelle Identität des jeweiligen Stammes oder Volkes, einer Stadt oder Kultur. Die aktualisierende Repräsentation dieses vorhandenen Wissens vollzog sich in dessen ritueller, wieder-holender Nachahmung. Diese bestand teils in kultischen Inszenierungen, teils in der singenden oder redenden Nacherzählung der Ur-Geschichte 14. Die epistemische Gewähr für die Nachbildung des »heiligen Wissens« bot die Hinwendung der Seele zum Göttlichen und die Imagination durch göttliche Inspiration, die sich entweder im Rahmen kultischer Gemeinschaftsfeiern oder – stellvertretend – in der feierlichen Anrufung der Götter durch Priester, Seher, Sänger oder Dichter vollzogen 15 . In unserem Kontext ist nun von Interesse, dass sich diese Wissensrepräsentation in formaler Hinsicht als eine unabgeschlossene, locker gegliederte und sich wiederholende Reihung von einzelnen Szenen darstellte 16. Diese Szenenreihe füllte sukzessive und regresDer Religionsforscher M. Eliade beschreibt den Mythos: »Der Mythos erzählt eine heilige Geschichte; er berichtet von einem Ereignis, das in der primordialen Zeit, der märchenhaften Zeit der ›Anfänge‹ stattgefunden hat … Es handelt sich also immer um die Erzählung einer ›Schöpfung‹ : es wird berichtet, wie etwas erzeugt worden ist und begonnen hat, zu sein. Der Mythos spricht nur von dem, was wirklich geschehen ist, von dem, was sich voll und ganz manifestiert hat. Die Personen des Mythos sind übernatürliche Wesen.« (Eliade 1988, 15 f.) – Siehe auch: Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 7. 14 Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Mythos und Kult in der griechischen Kultur schreibt R. v. Ranke-Graves: »Man könnte den echten Mythos als erzählerische Kurzschrift kultischer Spiele, wie sie bei öffentlichen Festen aufgeführt wurden, definieren.« (Ranke-Graves 1984, 10 f.) – J. Campbell nennt die Mythen allgemein »das geistige Gerüst der Riten und die Riten die leibhaftige Aufführung der Mythen« (Campbell 1985, 54). 15 In der griechischen Kultur kam die vermittelnde Funktion zwischen mythischer Vergangenheit und aktueller Gegenwart den Musen zu: »als Göttinnen sind die Musen überall dabei und wissen alles im Gegensatz zu den Menschen, die vom Längstvergangenen nur durch Hörensagen wissen.« (W. Kraus, Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechenland. In: Kraus 1984, 48, Anm. 13) – Zur Wissensart des griechischen Sängers schreibt B. Snell: »Wenn Homer anhebt: ›Singe mir, Göttin, den Zorn …‹ oder ›Nenne mir Muse, den Mann‹, so spricht der Dichter, der nicht von sich aus weiß, was er sagt, nicht durch eigene Begabung oder persönliche Erfahrung, sondern dem eine Gottheit es eingibt. Der Glaube, dass aus dem Dichter eine übermenschliche Stimme spricht, ist allgemein verbreitet …« (Snell 1955, 184). 16 In Hinblick auf den reihenden Stil dieser Wissensrepräsentation stellt H. Fränkel für die frühgriechische Erzählform fest: »Stockungen und Pausen, unserm Empfinden unentbehrlich als Ruhepunkte und zur Gliederung der Rede, werden gemieden. Vielmehr 13
94
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
sive den Umfang der urgeschichtlichen Ereignisse aus und hatte in diesen ihren sachlichen Zusammenhang. Die Wissensrepräsentation besaß eine narrative Struktur: der Fortgang der Erzählung wird durch die Intuition und die Einbildungskraft des Erzählers bestimmt; die Unabgeschlossenheit der Erzählung drückt die Differenz zwischen dem vergangenen Ur-Geschehen und dessen wiederholender Vergegenwärtigung in der nachahmenden Erzählung aus. Wenn Thales nun dem bisherigen Wissen mit dem »Satz vom Wasser« ein neues Wissen entgegengesetzt hat, so besteht das Neue nicht im Inhalt, sondern in der Form des Wissens. Es waren nicht nur die Antworten, sondern es war die Art der Antworten, die nicht mehr überzeugte. Die kultischen Inszenierungen und feierlichen Erzählungen galten nicht mehr als epistemische Repräsentationen, sondern nur mehr als kontingente Ereignisse und Äußerungen. Dieser fragwürdig gewordenen Form des Wissens setzt Thales mit seiner Antwort den Satz als neuer Form des Wissens entgegen. Dieser repräsentiert Wissen in Gestalt eines in sich abgeschlossenen und sinnhaften sprachlichen Ausdrucks. Auch wenn, wie gesagt, die tatsächliche Antwort, die Thales auf die Frage nach der arch gegeben hat, nicht rekonstruierbar ist, so können wir mit Sicherheit annehmen, dass sie keine reihende Erzählung war: »Am Anfang war das Wasser und das Wasser war …«, sondern dass sie eine abgeschlossene Aussage in der Art eines Satzes war. In ihm sind die beiden Ausdrücke »arch pantwn« und »udwr« so zusammengefasst, dass sie ein Ganzes bilden und als dieses abgeschlossene Ganze zugleich Wissen repräsentieren. 2.
Die epistemologische Begründung des Satzes
Bevor wir auf die Struktur des Satzes näher eingehen, wollen wir erst der Frage nachgehen, wodurch der »Satz vom Wasser« nicht nur den Charakter einer Annahme hat, sondern eine neue Art von Wissen
wird durchgängiger, engster Anschluss zwischen den Nachbargliedern angestrebt. Dagegen sind die Fernbeziehungen locker und willkürlich, sie können aufgenommen oder vernachlässigt werden. Ebenso wenig wird eine mehrere oder alle Glieder durchziehende Norm geachtet: einen Zwang zur Konsequenz gibt es nicht. Jedes Glied der Rede wird so bald wie möglich zu freier Selbständigkeit und zu voller Geltung erhoben.« (Fränkel 1955, 50). A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
95
Das griechische »Projekt Autonomie«
repräsentiert. Dabei unterstelle ich, dass dieser epistemische Wert des Satzes Folgen für das Verständnis seiner Struktur hat. Für die epistemische Auszeichnung des Satzes als Wissen lassen sich drei Begründungen anführen: es kann »die Sache« als Grund gelten, weshalb er Wissen repräsentiert; oder der »Satz selbst« enthält diesen Grund in sich; oder es ist drittens »Thales«, der dem Satz seinen epistemischen Wert zuweist. Im ersten Fall gründete dieser Wert in der Einsicht in den Sachverhalt, dass das Ur- von allem das Wasser ist, die Thales entweder methodisch durch Beobachtungen oder aber in einer Art »Ursprungsschau« 17 gewonnen hat. Der Satz repräsentierte Wissen, weil er den Sachverhalt abbildet. Doch diese Begründung des epistemischen Werts des Satzes wollen wir aufgrund der obigen Überlegungen zum Anfang der Philosophie ausschließen. – Im zweiten Fall entspricht der »Satz vom Wasser« keinem Sachverhalt, sondern codiert, als das gleichsam »ewige Wort«, Wissen. Dass das Ur- von allem Wasser ist, hätte seinen Grund im Satz selbst. Da man in diesem Fall Thales jedoch als Ausleger einer solch in sich selbst gründenden, ewigen Wahrheit deuten müsste, schließen wir auch diese Möglichkeit aus 18. – Im dritten Fall wäre Thales selbst der Grund, dass der »Satz vom Wasser« Wissen repräsentiert. Und in der Tat liegt diese Annahme als Konsequenz unserer Feststellung nahe, dass »Thales selbst« der Urheber des neuen Wissens ist. Denn wenn dieser Satz eine neue Art zu wissen darstellt, weil Thales ihn selbst gegeben hat, dann müsste er auch der Grund sein, dass der Satz Wissen repräsentiert. So aber wäre das bloße Geben des Satzes schon der hinreichende Grund, dass er auch Wissen repräsentiert. Das kontingente Faktum dieser Tat wäre zugleich Geltungsgrund des Satzes. Wenn wir daher an der Annahme festhalten, dass weder die Sache noch der Satz selbst, sondern Thales der epistemische Grund des »Satzes vom Wasser« ist, dann kann er dies nicht in der Eigenschaft sein, Autor des Satzes zu sein. Denn in diesem Fall fragen wir, wer den Satz gibt; nicht aber, was ihn als Wissen begründet. Ist Thales also der Grund, warum der »Satz vom Wasser« Wissen repräsentiert, dann ist er dies nicht als Autor des Satzes, sondern als Träger und Vgl. dazu: Jaeger 1968, 54. Zwar führt Aristoteles als Grund für Thales’ Annahme, die arch sei Wasser, in der Tat die Ehrwürdigkeit des Schwurs der Götter auf das Wasser an (Metaphysik, 983b 30). Aber er referiert nur die Auffassung »einiger«, und geht der Frage nach, wie Thales zu der Annahme kam, nicht aber, wodurch der Satz als Wissen begründet ist. 17 18
96
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
Subjekt dieses Wissens. Das »Thales« genannte, Individuum, diese eine und unteilbare ›Persönlichkeit‹ ist der Grund, dass der »Satz vom Wasser« nicht nur eine Annahme ist, sondern Wissen repräsentiert. Es ist Thales, der weiß, dass das Ur- von allem Wasser ist. Aus dieser Erklärung des epistemischen Grundes folgt, dass das Wissen jetzt nicht mehr, wie in den mythischen Wissensarten, in Bezug auf einen vorhandenen, den Subjekten unverfügbar gegebenen und von ihnen zu entschlüsselnden epistemischen Code begründet wird, sondern dass das Subjekt selbst diejenige invariante Instanz ist, durch die Vorstellungen und Annahmen als Wissen begründet werden. Der Wissensgrund ist nicht mehr außerhalb, in einer Welt der Götter und Helden, sondern im Subjekt selbst. Damit aber besitzt das Wissen jetzt eine dem epistemischen Subjekt durchsichtige Struktur; denn der Grund des Wissens ist nichts Vorhandenes mehr, dessen sich die epistemisch tätigen Subjekte durch die feierliche Anrufung zu vergewissern hätten, sondern das Subjekt selbst, das als Autor des Satzes zugleich Grund des Wissens ist. Statt in der offenen Form der Anfangserzählungen ist im »Satz vom Wasser« das Wissen in der geschlossenen Form eines epistemisch durchsichtigen Satzes gefasst: Thales weiß, dass das Ur- von allem Wasser ist, weil der Autor des Satzes selbst für dessen Geltung verbürgt. 3.
Der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz
Wenden wir uns nach der epistemologischen Begründung der Struktur des Satzes zu: den zwei Bestandteilen, der »arch pantwn«und dem Wort »udwr«, sowie der Art ihrer Verknüpfung. Der Ausdruck »arch pantwn« bezieht sich auf etwas, was ich das »Ur- von allem« nenne. Es ist das, was allen Vorstellungen voraus ist, was, selbst unvorstellbar, nicht entsteht, aus dem aber alles Vorstellbare entsteht. Das Wort »udwr« hingegen bezeichnet eine gegebene und zudem gewöhnliche Vorstellung: Wasser. Das Eigentümliche nun, wodurch der »Satz vom Wasser« den Anfang der Philosophie bildet, ist die Verbindung des unvorstellbaren Ur- mit der Vorstellung vom Wasser, durch die der »Satz vom Wasser« zugleich Wissen repräsentiert. Wie aber ist diese Verbindung zu verstehen? Dazu nehmen wir an, dass der Satz in der von uns beschriebenen Weise Wissen repräsentiert, weil die beiden Ausdrücke »arch pantwn« und »udwr« durch ihre Einheit im Satz ihre spezifische A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
97
Das griechische »Projekt Autonomie«
Bedeutung erhalten. Zwar fehlt dem »Satz vom Wasser« in seiner authentischen Formulierung wohl die Kopula »ist«, die die Einheit explizit macht; aber unter der Annahme, dass der Satz Wissen repräsentiert, stellt er die Verbindung von arch pantwn, dem unvorstellbaren Ur- von allem, und udwr, dem vorstellbaren Wasser, als unauflöslich Eines dar: das Ur- von allem ist Wasser. So gefasst, hat der »Satz vom Wasser« keine Erzählstruktur; er erzählt nicht, was »im Anfang war«, weder im Sinne einer mythischen Urgeschichte noch als ein historischer Bericht, sondern sagt aus, was das Ur- von allem ist. Als solcher aber repräsentiert er nicht nur, sondern codiert auch Wissen, indem er einen ganz neuen Zeitbezug konstituiert. Denn die Aktualisierung von Wissen geschieht jetzt nicht mehr in der Hinwendung zu vergangenem Urgeschehen, sondern in der Zuwendung zur gegenwärtigen Welt der gegebenen Vorstellungen. Anders als der Okeanos im Mythos ist das Wasser des Thales eine gegebene, dem Subjekt jederzeit verfügbare und gegenwärtige Vorstellung. Im »Satz vom Wasser« ist also das Ur- von allem nicht mehr als ein Vergangenes codiert, sondern als ein Gegenwärtiges 19 ; und das Wissen ist nicht mehr mimetisch in der Vergegenwärtigung des Vergangenen präsent, sondern in der Vergegenwärtigung des Gegenwärtigen. An die Stelle des träumenden und entrückten »arcaiologein« des Sängers tritt nun das wache und präsente »logon didonai«, das »Satz geben« des Philosophen, der das »Ur-« von allem als ein jederzeit Gegenwärtiges weiß. Mit dem »Satz vom Wasser« setzt ein Diskurs ein, der das Wissen an die Gegenwärtigkeit des Vorstellbaren knüpft; was diesem Kriterium widerspricht, verfällt dem Verdikt unkontrollierter und unkontrollierbarer Schwärmerei 20 . Wenn Aristoteles behauptet hat, die Frage, was das Seiende ist, sei »bereits von alters her erhoben [worden, werde] auch heute erhoben … und immer erhoben werden und Gegenstand der Ratlosigkeit sein« (Metaphysik, 1028 b), so drückt er damit zwar den neuen Bezug zum Gegenwärtigen aus, nimmt ihn aber als einen immer schon gegenwärtigen an. Auf diese Weise lässt sich jedoch das Neue, der Bruch der Philosophie mit der Nicht-Philosophie, nicht begreifen. 20 In seiner Interpretation des griechischen Wissens hebt M. Heidegger dessen Vergangenheitscharakter hervor: »Der Seher«, so deutet Heidegger Homer am Beginn der ›Ilias‹, »ist derjenige, der das All des Anwesenden im Anwesen schon gesehen hat; lateinisch gesprochen: vidit; deutsch: er steht im Wissen. Gesehenhaben ist das Wesen des Wissens.« (Der Spruch des Anaximander. In: Heidegger 1963, 321) Das Wissen sei »das Gedächtnis des Seins« (ebd., 322). Der Seher vermag dies durch »die von Gott verliehene mantosunh« (ebd., 320). – So berechtigt nach unserer Interpretation diese Deutung 19
98
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
In diesem Satzganzen erhält zudem der Ausdruck »udwr« eine neue und spezifische Bedeutung. Zwar hat Thales den Ausdruck wohl ohne Artikel gebraucht. Aber »udwr« ist weder der Sammelname für alles Wässrige noch der Name einer mythischen Vorstellung; er bezieht sich vielmehr auf die ›reine‹ und allgemeine Vorstellung vom Wasser als einem, wie es später heißen wird, Element. Nur durch die Abstraktion der gegebenen Vorstellungen zum allgemeinen und entmythifizierten Begriff: das Wasser kann es im »Satz vom Wasser« mit dem selbst unvorstellbaren Ur- von allem verknüpft werden und ist als solches das Ur- von allem. Zwar verfügt Thales, am Anfang der Philosophie, nicht über diese Kategorien, des Begriffs oder des Elements; doch die Analyse des »Satzes vom Wasser« zeigt, dass hierfür der Anfang gemacht ist 21 . Die neue Art des Wissens, das Unvorstellbare mit Vorstellbarem zu vereinen, drängt die Sprache, die Vorstellungen in ihrer Fixierung als Begriffe angemessen darzustellen 22 . Durch diese Struktur, in der das unvorstellbare Ur- mit dem Begriff des Wassers unauflöslich verbunden ist, vermag der »Satz vom Wasser« als epistemischer Grundsatz nun auch die Regel abzugeben, nach der gegebene Vorstellungen als Wissen ausgezeichnet werden können. Denn wenn das Ur- von allem das Wasser ist, dann ist umgekehrt auch das Wasser das Ur- von allem, und daher stellen nach diesem Gesetz nur diejenigen Vorstellungen Wissen dar, in denen das Wasser als das Ur- vorgestellt wird. Dieser Anwendung des »Satzes vom Wasser« als epistemischer Regel entspricht Aristoteles’ Bericht, Thales habe erklärt, die Erde ruhe auf dem Wasser, weil dieses
des traditionell-mythischen Wissens ist, so unberechtigt ist sie, wenn das »Gesehenhaben« mit der neuen Art des philosophischen Wissens identifiziert wird. Thales’ Bezugnahme auf das Wasser als der arch wird nicht verständlich, wenn sie als Vergegenwärtigung von Vergangenem, sondern nur, wenn sie als Vergegenwärtigung des immer schon Gegenwärtigen interpretiert wird. Nicht die gottverliehene mantosunh, sondern die dem Menschen eignende swyrosunh, nicht das »Gedächtnis«, sondern das »Wachsein« verbürgt dem Subjekt hier Wissen. – Vgl. dazu auch: Snell 1955, 412–416. 21 Unseres Erachtens macht es einen Unterschied, ob man mit Aristoteles, behauptet, Thales habe angenommen, der Stoff, aus dem alles besteht, sei Wasser, oder ob die rekonstruierende Analyse des »Satzes vom Wasser« zeigt, dass der Ausdruck »Wasser« in einem Sinne zu verstehen ist, der später als »Element« bezeichnet wurde. Im einen Fall geht die kategoriale Bestimmung der Darstellung vorher, im anderen Fall wird sie als ein nachfolgendes Ergebnis betrachtet. – Vgl. dazu: Diels 1899. 22 Vgl. Snell 1955, 301 f. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
99
Das griechische »Projekt Autonomie«
die arch von allem sei 23 . Diese Erklärung lässt sich als Anwendung des epistemischen Grundsatzes auf gegebene Vorstellungen verstehen: Die Vorstellung der auf dem Wasser ruhenden Erde repräsentiert Wissen, weil ihr der »Satz vom Wasser« als epistemisches Gesetz zugrunde liegt 24 . Betrachten wir zum Abschluss den »Satz vom Wasser« nicht als neuen epistemischen Grundsatz, sondern aus der Perspektive des Beobachters gleichsam von außen, dann muss uns dessen Aussage bestenfalls als eine trockene Versicherung erscheinen. Denn für uns ist die Verknüpfung des Ur- von allem mit dem Begriff des Wassers gänzlich kontingent. So gesehen, können also weder »wir« noch eine andere allgemeine Instanz der Grund der epistemischen Geltung dieses Satzes sein, sondern muss in der Tat in der Individualität des Thales liegen. Nur für ihn repräsentiert der Satz keine fragwürdige Meinung, sondern Wissen. Für uns hingegen ist der Satz als ein möglicher Grundsatz irgendwie ›unfertig‹. Und dies Unfertige verweist darauf, dass der »Satz vom Wasser« offenbar nicht die Philosophie ist, sondern bloß ihr Anfang.
C. Die »Nachfolger« und das Problem der Dauer So wie wir diese neue Art des Wissens rekonstruiert haben, scheint sie keine dauerhafte und tragfähige Struktur herausbilden zu können. Denn der »Satz vom Wasser« verschwindet als epistemischer Grundsatz mit Thales; er hat kein epistemisches Subjekt, das ihn dauerhaft trägt. Für die Nachfolger wäre daher die epistemische Geltung dieses Satzes nicht auf sie selbst gegründet, sondern auf Thales, der so als Begründer des (neuen) Wissens anerkannt würde. Doch Aristoteles, Metaphysik, 983 b 21: »… Qalh@ … [arch] udwr yhsin einai (dio kai thn ghn ey’ udato@ apeyaineto einai) …« (H. v. m.). 24 Diese Erklärung lässt sich als erste Philosophie im Sinne eines »begründeten Annehmens« (doxa meta logou) verstehen. In ihr ist nicht die Vorstellung von der Erde als schwimmender Scheibe neu, die damals »Gemeingut der Kulturnationen« (Capelle 1968, 70) war, aber ihre Erklärung aus einem Grundsatz. Gleichfalls wäre die Erklärung des Erdbebens als eines Schwankens auf dem Wasser, die Seneca dem Thales zuschreibt (ebd.), als ein solches begründetes Annehmen zu interpretieren. – Dieses Verfahren scheint für andere »Erkenntnisse«, die Thales zugeschrieben werden, den »Satz des Thales«, seine Sonnenfinsternisprognose und die Erklärungen der Nilschwelle oder des Magnetsteins, nicht zu gelten. Sie zeigen Thales als einen »vielerfahrenen Mann« und guten Beobachter, aber nicht als den, der mit der Philosophie angefangen hat. 23
100
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
dieses Verfahren, ein schon vorhandenes Wissen sich anzueignen und zu übernehmen, widerspricht dem, was wir als die Art dieses neuen Wissens beschrieben haben: die autonome Setzung durch das epistemische Subjekt. Der neuen Wissensart scheint daher das zu fehlen, was das mythische Wissen ausgezeichnet hat: ein epistemischer Code, der – dem epistemischen Subjekt unverfügbar – schlechterdings vorhanden ist. Für unsere Rekonstruktion stellt sich somit die Frage, wie diese »Philosophie« genannte Wissensart überhaupt dauern konnte. 1.
Kritik und Setzung
Wenn Simplikios Anaximander den »Schüler und Nachfolger des Thales« (majhth@ kai diadoco@) 25 nennt, so meint er damit offenkundig nicht, dieser habe die Lehre seines Lehrers weitergeführt, indem er den »Satz vom Wasser« etwa zur Grundlage einer umfassenden »Wasserlehre« gemacht hat; denn der Schüler ›lehrt‹ anderes als der Lehrer. Die Bezeichnung »Nachfolger und Schüler« kann daher nur heißen, dass Anaximander Thales in der neuen Art zu wissen gefolgt ist, und dass er darin dessen Schüler war. Demnach muss Anaximander zum einen den von Thales aufgestellten »Satz vom Wasser« als epistemischen Grundsatz in Frage gestellt und damit als erster Philosoph den Bruch mit dem Wissen des Vorgängers vollzogen haben, und so zum ersten ›Vatermörder‹ der Philosophie geworden sein. Zum anderen muss Anaximander einen neuen Satz aufgestellt haben, der seine Geltung als epistemischer Grundsatz in gleicher Weise dadurch erhält, dass »Anaximander selbst« der Urheber dieses Satzes ist. Und in der Tat gibt Anaximander auf die gleiche Frage nach der arch mit seinem »Satz vom Apeiron« eine eigene und andere Antwort. In ihm ist die arch nicht mit »Wasser«, sondern mit »dem Apeiron« (to apeiron) zu einem neuen epistemischen Grundsatz vereinigt. – Denselben Vorgang der Kritik des Wissens des Vorgängers und der Setzung eines neuen Grundsatzes vollzieht Anaximanders Nachfolger: »Anaximenes selbst« gibt auf die Frage nach der arch eine wiederum eigene, andere und neue Antwort: Luft (pneuma kai ahr [Aetios 26 ]). 25 26
Simplikios zu Aristoteles, Physik 24, 13. Aetios’ Referat scheint ein authentisches Zitat Anaximenes’ zu sein: »oion h vuch … A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
101
Das griechische »Projekt Autonomie«
Diese Art der raschen Abfolge je neuer epistemischer Grundsätze ist zweifellos durch »eine erstaunliche Rücksichtslosigkeit und produktive Kraft der Sinngebung« 27 geprägt. Hinsichtlich des Dauerns dieser neuen Wissensart stellt sich jedoch die Frage, ob sie sich nur durch die Wiederholung der Kritik und der Setzung je neuer epistemischer Grundsätze zu reproduzieren vermag, oder ob sich in dieser Reihe von Brüchen und Anfängen eine Kontinuität finden lässt, die es gestattet, diese Anfänge als ein »gemeinsames Projekt« zu interpretieren; ob also die Philosophie am Beginn mehr ist als die Abfolge von Grundsätzen einzelner ›Heroen‹. 2.
Das »unaufhörliche Entstehen« als Bedingung von Wissen
Auf eine Gemeinsamkeit der ersten Philosophen deutet eine Überlegung von Aristoteles hin, der als Begründung für Anaximanders »Satz vom Apeiron« anführt, dass »wohl nur so Entstehen und Vergehen nicht verschwinden, wenn das unbegrenzt ist, woraus das, was entsteht, entnommen ist.« 28 Nehmen wir diese Überlegung als authentisch an, dann lässt sich der »Satz vom Apeiron« jedoch nicht mehr eine freie Setzung verstehen, deren epistemischer Grund »Anaximander selbst« wäre; denn der Satz erfüllt offenbar eine Bedingung: das Bleiben von Entstehen und Vergehen, der Sätze, die die Frage nach der arch beantworten, genügen müssen. Damit aber unterwirft Anaximander die epistemische Geltung von Grundsätzen einer Bedingung. Der »Satz vom Apeiron« setzt offenbar die Annahme voraus, dass Entstehen und Vergehen nicht aufhören, sondern bleiben. Lässt sich diese Annahme jedoch ihrerseits begründen? – Mit Sicherheit können wir ausschließen, dass die Annahme eines solchen unaufhörlichen Entstehens und Vergehens ein Wissen repräsentiert, das durch Anaximander selbst gesetzt ist. Denn sie nennt ja die Bedingung, der h hmetera ahr ousa sugkratei hma@, kai olon ton kosmon pneuma kai ahr periecei.« (siehe: Kirk 1994, 173 f.). Im Folgenden soll, wenn wir von »Luft« reden, »pneuma kai ahr« gemeint sein. 27 Fränkel 1955, 187. – Vgl. auch: Popper 2000, 4–11. 28 Aristoteles, Physik III 4, 203b 15. Vgl. auch Physik III 8, 208a 8: »damit das Entstehen nicht aufhört« (ina h genesi@ mh elleiph). – Da Aristoteles offenbar die Schrift Anaximanders besaß, können wir davon ausgehen, dass der Text der Überlegung Anaximanders entspricht. Vgl.: Kirk 1994, 123 ff.; Hölscher 1968, 23, Anm. 41.
102
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
solch selbst gesetzte Grundsätze zu genügen haben, unter der ihnen also der Status eines epistemischen Grundsatzes zukommen kann. Als solche aber kann sie selbst kein epistemischer Grundsatz sein. – Es kann aber auch die Erklärung nicht überzeugen, die die Annahme eines unaufhörlichen Entstehens als Vergegenwärtigung eines mythischen Wissens beschreibt. Mögen sich auch historisch interessante Vergleiche zwischen dieser Annahme Anaximanders und orientalischen Mythen vom Unerschöpflichen anstellen lassen 29 , – als »Schüler und Nachfolger des Thales« jedenfalls kann Anaximander nicht auf Erzählungen zurückgreifen, deren epistemischer Status ja gerade fragwürdig geworden ist. Die Geltung epistemischer Grundsätze von mythischem Wissen abhängig zu machen, wäre keine »Nachfolge«, sondern die Rückkehr zu einer anderen, alten Art von Wissen. Wenn nun aber die Annahme vom unaufhörlichen Entstehen und Vergehen weder ein von Anaximander selbst gesetzter Grundsatz ist noch auf ein mythisches Wissen zurückgreift, worauf bezieht sie sich dann? Wir interpretieren sie als Ausdruck einer bestimmten »Weltanschauung«, die Anaximander den epistemologischen Grundlegungen offenbar als eine gemeinsame und selbst unbefragte Anschauungsweise voraussetzt. Sie betrachtet alles als ein unaufhörliches und insofern ewiges Entstehen und Vergehen. 30 So verstanden aber ist diese Art der Anschauung gerade nicht mythisch. Denn während die mythischen Theo- und Kosmogonien einen Anfang von allem angenommen und alles als ein in Bezug auf diesen Anfang bedeutungsvolles Geschehen gedeutet hatten, hat das absolut fragende Ich sich aus der Bindung an dieses Wissen gelöst. Für dieses Ich hat daher das Entstehen von allem keinen Anfang und ist daher unaufhörlich. So gefasst, ist Anaximanders Annahme nicht nur un-, sondern auch antimythisch 31 . Sie enthält einerseits die Kritik am Mythos, der die arch von allem als ein Geschehen annimmt und also erzählt werden kann; sie nennt andererseits die Bedingung, der die Siehe: Hölscher 1968, 88 f. Simplikios schreibt über Anaximander und andere: »… und sie setzten die Bewegung als ewig voraus. Denn ohne Bewegung gäbe es weder Entstehen noch Vergehen.« (Simplikios zu Aristoteles, Physik 1121, 5 ff.; zit: nach: Capelle 1968, 84). – Zur unbefragten Selbstverständlichkeit der Annahme, gegen die sich erst Parmenides richtet, siehe: Kahn 1960. 31 Vgl. zur »kritisch-antireligiösen Weltbetrachtung« der ersten Philosophen: Reinhardt 1959, 255 ff. 29 30
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
103
Das griechische »Projekt Autonomie«
Sätze über das, was die arch von allem ist, genügen müssen. Nur dann, so die Überlegung, wenn alles als ein unaufhörliches Entstehen und Vergehen betrachtet wird, kann die Frage nach der arch ›angemessen‹ beantwortet werden. 3.
Die Prüfung der Grundsätze
Wenn Anaximander diese Annahme als Bedingung einführt, der Sätze über die arch zu genügen haben, so unterstellt er die darin ausgedrückte Anschauung offenbar als die gemeinsame Anschauungsweise. Es ist zwar nicht mehr rekonstruierbar, ob Thales dieser Annahme seines Schülers zugestimmt hätte; aber so wie Anaximander sie einführt – als Bedingung der Sätze über die arch und als Begründung für seinen »Satz vom Apeiron« –, setzt sie voraus, dass Thales ihr hätte zustimmen müssen. Als eine solche gemeinsame und selbst unbefragte Weltanschauung formuliert sie das ›Band‹, hinsichtlich dessen sich die Abfolge der epistemischen Grundsätze der ersten Philosophen als ein »gemeinsames Projekt« rekonstruieren lässt. Unter der Annahme eines unaufhörlichen Entstehens und Vergehens als gemeinsamer Bedingung lässt sich nun die Abfolge der epistemischen Grundsätze nicht nur als Abbruch und Neuanfang rekonstruieren, sondern als Vorgang der kritischen Prüfung der Grundsätze in Hinblick auf diese Bedingung. Anaximander stellt demnach das Wissen seines Vorgängers nicht überhaupt in Frage; vielmehr impliziert seine Infragestellung die kritische Prüfung des »Satzes vom Wasser« am gemeinsamen Maß der Annahme eines unaufhörlichen Entstehens und Vergehens. Sie stellt fest, dass der Satz dieser Bedingung nicht genügt. Denn, so die Kritik, wenn die arch von allem das Wasser wäre, so hörte hier das Entstehen auf, und das Wasser wäre selbst unentstanden. Da aber, der gemeinsamen Anschauung gemäß, das Entstehen nicht aufhört, kann die arch von allem nicht das Wasser sein. Hingegen genügt der »Satz vom Apeiron« dieser Bedingung, weil in ihm »to apeiron« eben das Unbegrenzte bezeichnet, das als solches die, selbst unentstandene, arch des unaufhörlichen Entstehens und Vergehens ist 32 . Während also Man kann Anaximander selbst eine solche Beweisführung wohl nicht zurechnen. Aber er muss eine vergleichende Überlegung zwischen Thales’ Aussage, die arch sei
32
104
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Thales: Der »Satz vom Wasser«
Thales’ »Satz vom Wasser« die Behauptung enthält, das unvorstellbare »Ur-« von allem sei, als Wasser, eine bestimmte Vorstellung – und damit das Unvorstellbare vorstellbar –, widerspricht Anaximander dieser Behauptung: das unvorstellbare Ur- von allem muss selbst ein Unvorstellbares sein 33 . Dieser Bedingung aber genügt der unbestimmte Begriff: »to apeiron«. Demnach stellt Anaximenes gleichfalls das Wissen seines Vorgängers nicht überhaupt in Frage; seine Kritik impliziert ebenfalls die Prüfung des »Satzes vom Apeiron« an der gemeinsamen Bedingung des unaufhörlichen Entstehens von allem: Zwar sagt dieser Satz aus, dass die arch von allem das Unbegrenzte ist; aber er sagt nicht aus, dass das Unbegrenzte die arch von allem ist. Er erklärt nicht, wie das unentstanden Unbegrenzte zugleich die arch des Entstehens von allem ist, wie also alles aus ihm als der arch entsteht. 34 Wenn Simplikios daher kommentiert, Anaximenes lasse die arch »nicht unbestimmt (aoriston) wie jener, sondern bestimmt (wrismenhn), indem Wasser, einerseits und der Begründung: »damit das Werden nicht aufhöre«, angestellt haben. Simplikios’ Erklärung, Anaximander habe »den Wandel der vier Elemente (tettarwn stoiceiwn) ineinander beobachtet (jeasameno@)« und daher »nicht eins von diesen als Grundlage annehmen wollen« (zu Aristoteles, Physik 24, 21), dürfte jedenfalls nicht richtig sein. Denn diesen Wandel hat er gewiss nicht beobachtet; und hätte er ihn beobachtet, hätte er die Beobachtung nicht als Begründung verwendet. – Vgl. dazu: Kirk 1994, 141; Capelle 1968, 82. 33 Folglich ordnet Anaximander dem Apeiron auch bloß negative Eigenschaften zu: »un-sterblich« (ajanaton) und »un-vergänglich« (anwlejron) (Aristoteles, Physik III 4, 203b 6 ff.), vielleicht auch »ewig« (aidion) und »nicht-alternd« (aghrw) (Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 6. Zit. nach: Kirk 1994, 116). 34 Gegen diese Kritik lässt sich einwenden, dass zwar der »Satz vom Apeiron« die Frage nach dem ›Wie‹ des Entstehens nicht beantwortet, aber der sog. »Spruch des Anaximander«: »kata to crewn« (gemäß der Notwendigkeit), der das Entstehen und Vergehen als eine Art von Strafe und Vergeltung beschreibt. Doch wie immer man diesen Spruch interpretiert, ob als eine mythisch-religiöse Aussage über die Schuld all dessen, was ist, oder als Übertragung der politischen Rechtsvorstellungen von Schuld und Strafe auf das, was ist, – aus der Perspektive der anaximeneischen Kritik jedenfalls fehlt zwischen diesen zwei Sätzen der innere Zusammenhang. Aus dieser Perspektive lässt sich sogar sagen, Anaximander habe deshalb auf solche Vorstellungen zurückgreifen müssen, weil der Satz vom Apeiron selbst keine Erklärung des Wie des Entstehens enthält. – Würden wir mit Aristoteles (Physik I 4, 187a 20) annehmen, dass aus dem Einen, dem Apeiron, die Gegensätze sich aussondern (ekkrinesjai), oder mit Simplikios (zu Aristoteles, Physik 24, 21), dass sie sich absondern (apokrinesjai), dann müsste das Apeiron die Gegensätze schon als ein in sich Gemischtes (migma) oder als ein in sich Begrenztes enthalten. Dies aber widerspricht dem Begriff des Apeiron als des schlechterdings Unbegrenzten. – Vgl. zum »Ausscheiden der Gegensätze«: Hölscher 1968, 9–25; Kirk 1994, 140 ff. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
105
Das griechische »Projekt Autonomie«
er die Luft als Urgrund erklärt« 35 , so könnte dieser Kommentar durchaus die Überlegung des Anaximenes gewesen sein. Auf das gemeinsame Problem der ersten Philosophen, wie unter der Bedingung des unaufhörlichen Entstehens die Frage nach der arch zu beantworten sei, gibt Anaximenes eine genial-einfache Antwort. In seinem »Satz von der Luft« hat der Ausdruck »Luft« (pneuma kai ahr) einerseits die Bedeutung des Unbegrenzten: die Luft ist selbst unentstanden und unbegrenzt; sie ist andererseits aber die arch von allem so, dass durch ihre Verdichtung (puknwsi@) und Verdünnung (araiwsi@) alles entsteht 36 . Die Luft hat so die Bedeutung, dass nicht nur alles aus ihr, sondern auch durch sie, als Verdichtung und Verdünnung, entsteht. Anaximenes’ »Satz von der Luft« ist also hinsichtlich dessen, was die arch ist, unbestimmt genug, um der Bedingung des unaufhörlichen Entstehens zu genügen; und er ist bestimmt genug, um die Bedingung des Entstehens von allem aus der arch zu erfüllen. Weil in diesem Satz der Ausdruck »Luft« (pneuma kai ahr) die unvorstellbar-vorstellbare arch bezeichnet, aus der alles entsteht 37 , ist der »Satz von der Luft« ein epistemischer GrundSimplikios zu Aristoteles, Physik 24, 21 (Zit. nach: Capelle 1968, 95). So Simplikios zu Aristoteles, Physik 24, 26 ff. – Die Frage der Authentizität lässt sich heute wohl nur dadurch beantworten, dass Simplikios (zu Aristoteles, Physik 149, 32) bemerkt, Theophrast habe bei Anaximenes zuerst von Verdünnung und Verdichtung gesprochen. – Vgl. dazu: Kirk 1994, 161 f., Anm. 37 Gegen unsere Darstellung der Luft als »unvorstellbar-vorstellbarer arch« lässt sich einwenden, es sei nicht denkbar, dass ein und dasselbe zugleich unvorstellbar und vorstellbar sei. Diesem Einwand entspricht das weitgehend abschätzige Urteil über Anaximenes, er habe wieder ›Grob-Sinnliches‹ zum Prinzip gemacht und sei daher hinter Anaximander zurückgefallen. Anaximenes mag ein guter »Naturwissenschaftler« gewesen sein, war aber ein schlechter Philosoph. Gehen wir von unserer epistemologischen Problemstellung aus, dann kann dieser Einwand nicht überzeugen. Denn Anaximander behauptet zwar, dass die arch von allem das Unbegrenzte sei, dass aus ihm alles entstehe, und dass dieses Entstehen gesetzmäßig sei; aber er kann diese drei Behauptungen nicht in einem Grundsatz zusammenfassen. Anaximenes’ Grundsatz hingegen schließt alle drei ein: Die Luft ist das Unbegrenzte; sie ist das, aus dem alles entsteht; und sie ist das, woraus nach ihrem Gesetz der Verdickung und Verdünnung alles entsteht. Evident ist, dass der Ausdruck »Luft« nichts »Stoffliches« bedeutet – Anaximenes hätte gefragt, was das heißt –; dass er aber auch keine sinnliche Vorstellung bezeichnet, denn diese sollen ja erklärt werden. Anaximenes’ Satz zwingt also, die Luft als das aufzufassen, was Gedachtes und Vorgestelltes, Begriffliches und Sinnliches ist. Insofern ist es nicht richtig, Anaximenes’ Satz als einen ›Rückfall‹ in Sinnliches zu bezeichnen. Der Einwand jedoch, Anaximenes’ Satz vereinbare, so verstanden, Unvereinbares, legt der Beurteilung einen späteren Maßstab an, der dem Problem der ersten Philosophen fremd ist. 35 36
106
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
satz, der in sich selbst die Regel enthält, nach der die gegebenen Vorstellungen Wissen repräsentieren: als Verdichtungen oder Verdünnungen der Luft 38 . Mit dem »Satz von der Luft« ist, so nehmen wir an, das Problem der ersten Philosophen (twn prwton yilosoyhsantwn) gelöst und das gemeinsame Projekt, die Frage nach der arch von allem unter der Bedingung der Unaufhörlichkeit des Entstehens zu beantworten, abgeschlossen. Dieser Satz erfüllt erstens das Kriterium dieser neuen Wissensart, die Frage nach der arch nicht durch die Vergegenwärtigung eines vorhandenen epistemischen Codes, sondern durch das Geben eines Satzes, nicht durch das entrückte »arcaiologein«, sondern durch das wache »logon didonai« zu beantworten; er ist von Anaximenes selbst gegeben worden. Er erfüllt zweitens die gemeinsam angenommene Bedingung des unaufhörlichen Entstehens von allem: die Luft ist das selbst Unbegrenzte, aus dem alles unaufhörlich entsteht. Und er besitzt zum dritten die Funktion eines epistemischen Grundsatzes: er enthält die Regel, nach der Wissen erzeugt wird. Nach ihm repräsentieren diejenigen gegebenen Vorstellungen Wissen, die als Verdichtungen oder Verdünnungen von Luft vorgestellt sind. In diesem Satz sind »Zustimmung und Widerspruch gegenüber den Lehren der Vorgänger … zu einer Korrektur [vereinigt], in welcher der berichtigte Gegenstand zugrunde geht, um in anderer Gestalt neu zu erstehen« (Fränkel 1955, 187).
II. Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden« Es scheint, als gehöre der »Satz vom Seienden«, den Parmenides aufgestellt hat, auch in die Reihe der Grundsätze der »ersten Philosophen«. Denn Parmenides stellt gleichfalls die Sätze der Vorgänger in Frage und gibt selbst einen neuen Satz: den »Satz vom Seienden«. Mit diesen zwei Merkmalen endet jedoch die Gemeinsamkeit. Parmenides ändert durch seinen Satz diese neue Art zu wissen so grundlegend, dass es unzutreffend wäre, ihn in die Reihe der ersten PhiWie fruchtbar dieser Satz als epistemisches Gesetz war, belegen die kosmo-, meteoround psychologischen Erklärungen, die Anaximenes zugeschrieben werden. Ihnen liegt dasselbe Prinzip, der »Satz von der Luft«, zugrunde.
38
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
107
Das griechische »Projekt Autonomie«
losophen einzuordnen. Er gilt als der »Vater« der Logik und der Ontologie, und letztlich auch der Wissenschaften. Mit ihm, sagt Hegel, habe »das eigentliche Philosophieren angefangen« (Hegel 1969, Bd. 18, 290). Es muss uns also darum gehen, Parmenides’ »Satz vom Seienden« als eine erneute Grundlegung von Wissen aufzufassen. Im Folgenden stehen daher weder Parmenides’ onto- und kosmologischen Aussagen über das Seiende und die Welt im Mittelpunkt, noch soll ideengeschichtlich ihrer Herkunft nachgegangen werden. Stattdessen wollen wir das Begründungsverfahren rekonstruieren, durch das der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz aussagt, was überhaupt Wissen bzw. Wissen überhaupt ist. Wir werden Parmenides also als den ersten Epistemologen thematisieren, der keine Aussagen über etwas macht, sondern begründet, was Wissen ist. Hierzu soll im ersten Teil Parmenides’ Kritik an den Grundsätzen der ersten Philosophen und im zweiten Teil der »Satz vom Seienden« und seine epistemologische Begründung nachvollzogen werden.
A. Kritik der »ersten Grundsätze« Suchen wir, um die Art der Kritik von Parmenides an seinen Vorgängern bestimmen zu können, in einem ersten Schritt nach dem Ort seiner Kritik. Die nächstliegende These wäre, dass Parmenides den ersten Philosophen in der Frage nach der arch folgt, mit dem »Satz vom Seienden« aber eine neue Antwort gibt. Nachdem Anaximenes die arch als Luft bestimmt hat, kehrt Parmenides wieder zur abstrakteren Bestimmung zurück; er bestimmt die arch jedoch nicht, wie Anaximander, als Apeiron, sondern, einfacher, als: to eon. Doch diese These kontrastiert so sehr mit dem, was Parmenides’ »Satz vom Seienden« aussagt, dass sie kein angemessenes Fundament der Interpretation abgibt. 39 Gehen wir daher davon aus, dass der »Satz vom Seienden« sich nicht in den Kontext der ersten Philosophen einreiht, so lässt sich annehmen, er sei als Antwort auf eine neue Frage zu verstehen. Statt nach der arch von allem zu fragen, fragt Parmenides nach dem, was alles ist, und antwortet darauf mit seinem »Satz vom Seienden«. DaDiese These hat J. Stenzel vertreten: er nimmt an, dass »das starre, feste, allem zugrunde liegende Sein« des Parmenides »die arch auch alles dessen (sei), was in diesem Ganzen geschieht, sich verändert, entsteht, vergeht.« (Stenzel 1971, 54).
39
108
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
von ausgehend kann man nun nach den Ursachen und Gründen für diese neue Frage suchen. Es ließe sich anführen, dass sie in einem anderen geistig-kulturellen Umfeld entstanden ist: anders als die Ionier, die ›geborene Naturforscher‹ waren, sind die Italer ontologisch orientiert gewesen. Im Zentrum ihres Denkens sei nicht die AnfangsFrage, sondern die Seins-Frage gestanden. Zum Beleg kann auf Einflüsse der pythagoreischen Zahlenlehre oder der Theologie von Xenophanes auf die Entstehung der parmenideischen Seinslehre verwiesen werden. – Man kann aber auch anführen, dass sowohl die Entstehung seines Lehrgedichts als auch Parmenides’ Gewissheit des unfehlbar Erkannten nicht anders zu erklären sind, als dass sie Ergebnis einer ursprünglich erfahrenen Wahrheit seien. Der Gehalt des Lehrgedichts, die Fahrt zur Göttin und die Rede der Göttin, wie auch der Gesamtzusammenhang seiner Seinslehre seien nur als Darstellung einer ursprünglichen Erfahrung erklärbar. Diese Erfahrung ließe sich als ein »Geschick des ›Seins‹«, als »eine lichthafte Erscheinung, die seinen Geist umgab und durchdrang« oder als »Erlebnis des Transzendenten« beschreiben 40 . – In beiden Fällen wäre es so, dass der Ort von Parmenides’ Seinslehre nicht der Ort der Kritik an den Grundsätzen der Vorgänger wäre, sondern dass er unabhängig davon in einem anderen, eigenen Kontext stünde. So sinnvoll diese Ortszuschreibungen sein mögen, so bleibt bei diesen Interpretationen doch die geschichtliche Wirkung des parmenideischen Denkens unterbestimmt. Sie geben zwar detaillierte Einblicke in die damalige Situation und Konstellation des Denkens; sie können aber nicht verdeutlichen, worin die Bedeutung dieser Lehre liegt, die Parmenides zum »Vater der Philosophie« gemacht hat. Um dieser Wirkung zu entsprechen, möchte ich den Ort seiner Seinslehre zum einen in Bezug zu den Grundsätzen seiner Vorgänger setzen, ihr zum anderen jedoch eine andere und neue Ebene zuweisen. Diese soll als »epistemologische Meta-Ebene« bezeichnet werden. Auf ihr werden keine Antworten gesucht oder gegeben – weder auf die Frage nach der arch von allem noch auf die Frage nach dem eon –; auf ihr M. Heidegger, Moira (Parmenides, Fragment VIII, 34–41). In: Heidegger 1954, 251 ff. – W. J. Verdenius, Parmenides’ Conception of Light. In: Parmenides 1985, 57. – Mansfeld 1964, 273. – F. Nietzsche behauptet in kritischer Absicht, »Parmenides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt« (Nietzsche 1994, 39 f.). Siehe auch: M. Theunissen, Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5–6a. In: Theunissen 1991, 117.
40
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
109
Das griechische »Projekt Autonomie«
werden vielmehr die epistemischen Grundsätze selbst zum Gegenstand genommen und einer kritischen Prüfung unterzogen. Diese Ortszuschreibung impliziert die These, dass Parmenides die bisherige Art zu wissen weder fortgeführt noch erneuert, sondern sie als ein grundsätzlich unangemessenes Verfahren der epistemischen Gesetzgebung kritisiert hat 41 und mit dieser Kritik zum »Vater der Philosophie« geworden ist. 1.
Die »ersten Grundsätze« als etera
In Fr. 8, 6 f. seines Lehrgedichts lässt Parmenides die Göttin im Rahmen ihrer Aussagen über die Merkmale des Seienden zwei Fragen stellen: tina gar gennan dizhseai autou; ph pojen auxhjen? (denn welches Entstehen desselben wirst du suchen wollen; wie, woher sollte es gewachsen sein?) Von welcher Art nun sind diese Fragen der Göttin nach dem Entstehen? – Erinnern wir uns: die Annahme des unaufhörlichen Entstehens von allem war die gemeinsame und unbefragte Bedingung, unter der die ersten Philosophen nach der arch gefragt und sie durch ihre Grundsätze beantwortet haben. Wenn Parmenides die Göttin nun ebenfalls fragen lässt, so fragt sie nicht, um nach Art der ersten Philosophen eine andere, neue Antwort zu geben, sondern um die Frage nach der arch selbst, nach dem Wie und Woher des Entstehens, in Frage zu stellen. Während für jene die Annahme des Entstehens von allem fraglos gültig war, ist sie für Parmenides eine selbst fragwürdige Annahme, die ihrerseits Bedingungen zu unterwerfen ist, um ihren epistemischen Wert zu überprüfen. Vollziehen wir die Einwände gegen diese Annahme anhand einer kritischen Prüfung der »ersten Grundsätze« nach. Diese Grundsätze sind vom Typ: »Die arch pantwn ist …«. Formulieren wir nun mit Parmenides’ Göttin die folgende Alternative: entweder ist diese arch, aus der alles entsteht, Nicht-Seiendes (mh eon), oder sie ist Seiendes (eon). – Gesetzt nun, die arch ist nicht-seiend 42 , so Vgl. auch H. Fränkel, der Parmenides’ Lehre »als eine Korrektur der … arch-Lehren überhaupt« (Parmenides und Anaximander. In: Fränkel 1955, 193) interpretiert hat, sowie W. Schadewaldt: »So ist seine [Parmenides’] ganze Lehre gerichtet gegen die Grundlagen des milesischen Denkens.« (Schadewaldt 1978, 326) 42 Die Passage lautet (Fr. 8, 7–11): »Ich werde nicht zulassen, ›aus Nichtseiendem‹ zu sagen oder zu denken; denn weder zu sagen noch zu denken ist, was gar nicht ist. Wel41
110
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
ist entweder, wie sie sagt, »aus Nicht-Seiendem« (ek mh eonto@) gar nicht zu sagen oder zu denken, oder aber es müsste einen »Zwang« (creo@) geben, der treibt, das Entstehen vom Nicht-Seienden anzufangen. Einen solchen Zwang vom Nicht-Seienden anzufangen aber, müssen wir ergänzen, gibt es nicht 43 . Also kann die arch nicht nichtseiend bzw. Nicht-Seiendes nicht die arch sein. – Gesetzt hingegen, die arch ist seiend, so müsste das, was »aus Seiendem« entsteht, »etwas über dasselbe hinaus« (ti par’ auto) sein. Dies aber, dass etwas über Seiendes hinaus entsteht, lasse die »Stärke der Überzeugung« (pistio@ iscu@) nicht zu 44 . Also kann die arch nicht seiend bzw. Seiendes nicht die arch sein. – Der Satztyp: »Die arch pantwn ist …« nimmt, so das Fazit, Unmögliches an; denn die arch kann weder Nicht-Seiendes noch Seiendes sein. Nun lassen sich die Grundsätze der ersten Philosophen gegen diese Kritik durch den Nachweis verteidigen, dass sie von ihr nicht getroffen sind. Denn diese Sätze drücken weder aus, dass die arch von allem nicht-seiend ist, noch dass sie seiend ist, sondern dass sie beides ist: nicht-seiend und seiend. Insofern die arch das ist, aus dem alles, was ist, entsteht, ist sie nicht-seiend (weil das, woraus alles Seiende entsteht, nicht ebenfalls seiend sein kann); insofern jedoch aus der arch alles, was entsteht, ist, ist sie seiend (weil aus NichtSeiendem nichts entsteht). Demnach ginge die Kritik an dem vorbei, was die Grundsätze aussagen: sie trennt, was nur zusammen gilt. Nun lässt sich jedoch gegen diese Verteidigung ein Einwand formulieren, der das Ziel der Kritik erreicht, und der auch das Kriterium nennt, das Parmenides zur Prüfung epistemischer Grundsätze aufstellt. Gehen wir dazu vom eben Gesagten aus: Die Grundsätze drücken beides aus: die arch als nicht-seiend und seiend. Gegen diese cher Zwang sollte es auch getrieben haben, früher oder später, vom Nichts anfangend, zu entstehen? Also besteht der Zwang, dass es entweder gänzlich ist oder gar nicht.« – Hier wie im Folgenden wird zitiert nach: Parmenides 1985. 43 Diese Ergänzung: »den ›Zwang vom Nicht-Seienden anzufangen‹ gibt es nicht« lässt sich entweder als direkte Folge der Behauptung deuten, dass weder zu sagen noch zu denken ist, was gar nicht ist; oder als Beweis: gesetzt, es gäbe den »Zwang von NichtSeienden anzufangen«, dann wäre die arch nicht nichts, sondern etwas; dies aber widerspricht der Voraussetzung, dass die arch nicht-seiend ist. 44 Die Passage lautet (Fr. 8, 12–13): »Und auch nicht ›aus Seiendem‹ wird die Stärke der Überzeugung zulassen, dass etwas über dasselbe hinaus entsteht.« – Diese »Stärke der Überzeugung« können wir uns vorläufig so erklären, dass das »Über Seiendes hinausEntstehende« ebenfalls Seiendes ist. (Vgl. Fr. 8, 25: Seiendes schließt an Seiendes an«). Denn wenn Seiendes aus Seiendem entsteht, dann ist Seiendes. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
111
Das griechische »Projekt Autonomie«
Aussage lässt sich nun mit Parmenides’ Göttin der Einwand der Inkonsistenz erheben. Denn was auch immer diese Grundsätze aussagen, sie selbst sagen aus, dass Nicht-Seiendes und Seiendes dasselbe ist. Als die arch, woraus alles Seiende entsteht, ist sie nicht-seiend; als das Wasser, das Apeiron oder die Luft hingegen ist sie seiend; und doch wird in diesen Sätzen ausgesagt, dass beides dasselbe ist, z. B.: »die arch ist Wasser«. Zum einen ist also das Ausgesagte ein mh auton: die arch nicht-seiend, das Wasser seiend; zum anderen aber ist das Ausgesagte ein auton: »die arch ist Wasser«. Weil also die Grundsätze selbst dies Eine aussagen: nicht dasselbe ist dasselbe 45, so sind sie, wie ich es nennen möchte, selbst Andere, etera 46 . Dieser Einwand der Inkonsistenz trifft die Grundsätze der ersten Philosophen zwar nicht auf der epistemischen Ebene, auf der es um die Frage nach der arch geht. Er trifft sie aber auf der epistemologischen Ebene. Denn auf dieser Ebene werden nicht Sätze gegeben, sondern auf ihre innere Konsistenz geprüft. – Nun haben wir jedoch gesehen, dass die Grundsätze der ersten Philosophen zwei epistemische Funktionen erfüllt haben: sie codierten Wissen, und sie dienNach unserer Interpretation trifft, was die Göttin in Fr. 6, 7 ff. allgemein über die »Törichten« (kwyoi) sagt, auch auf die ersten Philosophen zu, dass nämlich »ihnen Seiendes und Nichtseiendes als dasselbe gilt und nicht als dasselbe« (oi@ to pelein te kai ouk einai tauton nenomistai kou tauton). – Dieser Satz ist anders ausgelegt worden. So übersetzt L. Tarán: »Being and non-Being each one being a tauton and when compared with the other a mh tauton« (Tarán 1965, 64 f.). U. Hölscher liest: sie glauben, »dass etwas ›sowohl ist, wie auch nicht ist‹, dass es ›dasselbe ist und nicht dasselbe‹«. Hölscher will also – im Anschluss an K. Reinhardt – vor ›tauton‹ interpungieren (Hölscher 1968, 102 f.). – Diese Deutung – die zudem in den Text eingreifen muss – bringt jedoch Parmenides’ Kritik um ihre Pointe. Wäre es so, dass Parmenides’ Göttin sagt: sie glauben, dass etwas sowohl ist, wie auch nicht ist, sowohl dasselbe ist als auch (when compared with the other) nicht dasselbe ist, so wäre nicht einsichtig, warum sie diese urteilsfähige Spezies einen »urteilslosen Haufen« (akrita yula) und den Weg, den sie gehen, »rücklaufend« (palintropo@) nennt. Sie wüssten ja zu urteilen: das eine ist das eine, und das andere ist das andere. Unseres Erachtens hat Hegel den springenden Punkt der Kritik richtig erfasst: Ihr, der Törichten, Weg »ist eine sich immer widersprechende, sich auflösende Bewegung. Der menschlichen Vorstellung gelte jetzt dies für das Wesen, jetzt sein Gegenteil, und dann wieder eine Vermischung von beiden, – ein beständiger Widerspruch.« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 288). 46 Parmenides selbst verwendet den Ausdruck »to eteron« in diesem Zusammenhang nicht; dies tut erst Platon im »Parmenides« (143b). Ich meine jedoch, dass der Ausdruck das Intendierte: »tauton kou tauton« gut trifft. – In Fr. 8, 58 verwendet Parmenides die Formulierung: ewutw pantose twuton, tw d’ eterw mh twuton (demselben völlig dasselbe, dem anderen nicht dasselbe). Zu dieser Stelle siehe U. Hölschers Interpretation: »Jedes der beiden ist ein ›Anderes‹.« (Hölscher 1968, 107). 45
112
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
ten der Erklärung. Ihre Codierungsfunktion erfüllten sie, weil in ihnen das, was sie aussagen, unauflöslich Eines ist: die arch von allem ist Wasser. In dieser Hinsicht unterstehen sie selbst der Konsistenzbedingung. Die Erklärungsfunktion jedoch erfüllten sie, weil das, was sie aussagen, auf die Welt der gegebenen Vorstellungen bezogen ist. So gab der Grundsatz: »die arch von allem ist Luft« die Regel, um die Entstehung von allem aus Luft zu erklären. Parmenides’ Einwand lässt sich nun so deuten, dass beide Funktionen einander widersprechen, weil die Erfüllung der einen Funktion zugleich die der anderen ausschließt. Denn die Konsistenzbedingung erfüllt nur der Satz: »die arch von allem ist – die arch von allem«. Dieser drückt zwar ein unauflösliches auton aus, ihm fehlt aber die Erklärungsfunktion. Diese hingegen erfüllt zwar der Satz: »die arch von allem ist – Luft«, da alles Entstehen aus Luft erklärt werden kann; aber er widerspricht der Konsistenzbedingung, weil er kein unauflösliches auton, sondern nur ein Verschiedenes, ein eteron ausdrückt. Daher sind die Sätze der ersten Philosophen nicht, was sie vorgeben: epistemische Grundsätze. 2.
Die Heteronomie des »Wissens der Sterblichen«
Parmenides belässt es nicht bei der Kritik dieser Grundsätze, sondern gibt für sie auch eine Erklärung. Die Ursache solcher »etera« sei, wie er die Göttin in Fr. 7 sagen lässt, die »vielerfahrene Gewohnheit« (ejo@ polupeiron). Sie veranlasse, »das ziellose Auge, das wiederhallende Ohr und die Zunge« zu verwenden. Auf dieser Gewohnheit, so können wir ergänzen, gründet die Annahme, alles habe ein Entstehen und Vergehen, und Wissen müsse daher Erfahrungswissen, das Gewusste sichtbar, hörbar und sprechbar, sein. Diese Gewohnheit sei jedoch eine fremde Macht. Denn sie führe vom Wissen weg auf eine Bahn, auf der »nichtswissende Sterbliche umherirren« und »Ratlosigkeit den irrenden Verstand lenkt«. – Beziehen wir diese Erklärung auf jene Grundsätze, so ist es also die »Gewohnheit«, die Sinne zu verwenden, welche die ersten Philosophen auf den Weg geführt hat, Nicht-Seiendes mit Seiendem, die unvorstellbare arch mit Vorstellbarem ineinszusetzen und zu unterscheiden und so zu sich widersprechenden Grundsätzen zu gelangen. Diese Erklärung, die Parmenides die Göttin als Ursache der »etera« anführen lässt, scheint nun aber der Erklärung zu widerA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
113
Das griechische »Projekt Autonomie«
sprechen, die wir für die ersten Grundsätze gegeben haben. Denn für uns war es nicht die Erfahrung, die Thales zu seinem Grundsatz geführt hat, sondern »Thales selbst«, der ihn gegeben hat. Diese Erklärung aber bestreitet Parmenides implizit, wenn er nicht das ›SelbstGeben‹, sondern die fremde Macht der »vielerfahrenen Gewohnheit« als Ursache dieses Satzes annimmt. Uns galt das Subjekt als autonom, weil es den Satz selbst gibt; für Parmenides hingegen ist es heteronom, weil es einer fremden Macht unterliegt. Ist diese Gegensätzlichkeit beider Erklärungen zu vereinbaren? Ihre Vereinbarkeit erscheint dann als möglich, wenn man präzisiert, was in den beiden Fällen unter dem »Subjekt« verstanden wird. Parmenides’ Göttin nennt die Subjekte, die der Macht der Gewohnheit unterliegend irren, »die Sterblichen« (oi brotoi), so dass der Weg, der zu jenen sich widersprechenden Grundsätzen führt, der »Weg der Sterblichen« ist. Wenn diese Sterblichkeit nun der Grund ist, warum sie – der Gewohnheit gehorchend, die Sinne zu gebrauchen – urteilslos Seiendes und Nicht-Seiendes für dasselbe und nicht für dasselbe halten, dann stehen nicht nur ihr Denken und Sagen, sondern diese Subjekte selbst unter einer fremden Macht. Sie selbst sind heteronom: geboren und sterbend, seiend und nicht-seiend, und stehen – im Gegensatz zur unsterblichen Göttin – unter dem Gesetz des Entstehens und Vergehens. Als Sterbliche unterliegen sie einer Macht, die sie zwingt anzunehmen, alles entstehe und vergehe, und kommen daher, urteilslos, zu in sich widersprechenden Grundsätzen. Die Inkonsistenz der ersten Grundsätze hat folglich ihre Ursache in der Macht der Gewohnheit, die Sinne zu gebrauchen; aber dieser Gebrauch ist nicht willkürlich, sondern hat seinen Grund in der Sterblichkeit dieser Subjekte. Die Inkonsistenz ihrer Sätze ist die Art, in der die Sterblichen wissen. 47 – Diese Sterblichkeit haben nun aber auch wir angenommen. Sie diente uns zwar nicht, die Inkonsistenz der Sätze zu erklären, aber die Kontingenz des Anfangs der Philosophie als historischer Tat sowie die Diskontinuität der ersten Philosophie als Abbruch und Neubeginn. Insofern ist beide Male die Annahme der Sterblichkeit das Argument, das einen Mangel der ersten Unsere Interpretation setzt voraus, dass die Aussagen über die »nichtwissenden Sterblichen«, über die »Doppelköpfigen, die taub, blind und urteilslos dahinschwanken«, keine Polemik Parmenides’ gegen irgendwen sind, sondern als Aussagen der Göttin die Art beschreiben, wie Sterbliche wissen. Siehe dazu die erhellenden Ausführungen von K. Reinhardt: Reinhardt 1959, 64 ff. Vgl. auch: H. Schwabl, Sein und Doxa bei Parmenides. In: Gadamer 1968, 409.
47
114
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
Philosophie – einmal die Inkonsistenz ihrer Sätze, zum anderen die Kontingenz der neuen Wissensart – erklärt. Auf Grundlage dieser Sterblichkeit der Subjekte entsprechen sich nun aber beide Erklärungen. Denn auch Parmenides’ Göttin erklärt die ersten Sätze als freie Setzungen, die als solche freilich nur eine trügerische Ordnung vorstellen, in der Meinung, sie seien Wissen 48 . Während wir auf diese freie Setzung jedoch ihre epistemische Geltung als Grundsätze zurückgeführt haben, ist sie für die Göttin Ausdruck der Ratlosigkeit des irrenden Verstandes der Sterblichen. Die Grundsätze der ersten Philosophen, so können wir beide Erklärungen zusammenfassen, sind nur scheinbar Setzungen autonomer Subjekte; sie sind ›in Wahrheit‹ Setzungen heteronomer, d. h. sterblicher Subjekte, die als solche keine konsistenten und dauerhaften Grundsätze zu geben vermögen. Akzeptieren wir diese Kritik der bisherigen Grundsätze und deren Erklärung, so stellt sich folgendes Problem: wenn es sterblichen Subjekten unmöglich ist, Wissen in Gestalt von Sätzen zu codieren, weil sie dazu ihrer sterblichen Natur nach unvermögend sind, dann kann ein Satz, der Wissen konsistent und dauerhaft codiert, nicht von der Art der Grundsätze Sterblicher sein. Wie aber ist ein solcher Satz möglich, wenn man annimmt, dass Parmenides, der einen solchen Satz gibt, selbst sterblich ist? Dieser Problemstellung gehen wir in Folgenden nach.
B.
Der »Satz vom Seienden«
Nach unserer Darstellung der Kritik der ersten Grundsätze ist es einfach, den Satz zu finden, der die parmenideische Konsistenzbedingung erfüllt: »einai esti, mh einai ouk esti. Er sagt schlicht aus: Seiendes ist; und Nicht-Seiendes ist nicht. Dieser sog. »Satz vom Seienden« ist kein »eteron«, sondern ein »auton«. Er ist leicht zu finden, weil er so einfach ist 49 . Siehe Fr. 8, 38 f.: »Wortbildend ist alles, was die Sterblichen festgesetzt haben, in der Überzeugung, wahr zu sein: Entstehen und Vergehen, Sein und nicht …«; Fr. 1, 30: »Annahmen der Sterblichen, denen nicht die eine wahre Überzeugung innewohnt, …« und in Fr. 6, 8 der Ausdruck »nenomistai«. 49 Daher ist das Geraune um diesen Satz schwer nachzuvollziehen, mit dem ihn etwa K. Jaspers umgibt: »Das Selbstverständlichste ist das Rätselvollste, aber auch das Klarste … Der leerste Gedanke bedeutet das Ungeheuerste …« (Jaspers 1959, 640 f.) Zu einer 48
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
115
Das griechische »Projekt Autonomie«
Betrachten wir diesen Satz auf dem Hintergrund jener Kritik, so stellt er zunächst nur das Unauflösliche als Satz dar. Denn er sagt nichts anderes aus, als dass das, was ist, ist (und das, was nicht ist, nicht ist). Er vereint nicht verschiedenes, sondern dasselbe. In diesem Fall bedarf die Annahme der Verbindung der Satzelemente keiner zusätzlichen Begründung, weil der Satz sie in seiner Struktur enthält bzw. zeichenhaft darstellt. Er ist keine doxa, der die Konsistenz fehlt, sondern – wie wir es nennen können – das axiwma. Dieser »Satz vom Seienden« ist nun in der Tat von anderer Art als die ersten Grundsätze. Denn diese vereinten, um ihre epistemischen Funktionen zu erfüllen, Verschiedenes, die unvorstellbare arch und Vorstellbares, Wasser oder Luft. Der »Satz vom Seienden« vereint jedoch – dasselbe. Er ist daher kein »eteron«, sondern ein »auton«. Er ist konsistent; dafür aber auch trivial, epistemisch bedeutungslos. Wenn diesem Satz daher, über die Konsistenzbedingung hinaus, auch die Bedeutung eines epistemischen Grundsatzes zukommen soll, er also Wissen repräsentiert, dann bedarf es dazu einer Begründung, die, nach dem Vorherigen, weder auf einen vorhandenen Code noch auf ein sterbliches Subjekt rekurrieren kann. Diese epistemologische Begründung des Satzes soll in zwei Schritten nachvollzogen werden: Im ersten Schritt wird Parmenides’ Göttin als die Instanz rekonstruiert, die die epistemische Geltung begründet; der zweite geht der Frage nach, wie Parmenides diesen Satz als epistemischen Grundsatz ausweist. 1.
Das autonome Subjekt: die Göttin
Die Kritik der ersten Grundsätze als »etera« verhindert, die bisherige Art, Grundsätze aufzustellen, weiterzuführen. Will man angesichts dieser aporetischen Situation am »Projekt Autonomie« festhalten, dann ergeben sich allein aus der beschriebenen Destruktion der bisherigen Grundsätze die entscheidenden Elemente für dessen Weiterführung. Soll der »Satz vom Seienden« nicht nur der Konsistenzbedingung genügen, sondern darüber hinaus ein epistemischer Grundsatz sein, dann bedarf es zu dessen Begründung der Annahme starken Behauptung kommt es erst, wenn darüber hinaus behauptet wird, der Satz beschreibe, was das Seiende ist, und habe also eine epistemische Bedeutung. Diese Behauptung ist in der Tat »ungeheuer«, aber nicht der Satz selbst.
116
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
eines Subjekts, das erstens nicht sterblich ist wie Thales oder Anaximander, das also selbst nicht dem Gesetz des Entstehens und Vergehens unterliegt, sondern das ungeworden und unvergänglich ist; das zweitens die Ursache dafür ist, dass es so ist, wie der »Satz vom Seienden« aussagt, dass es sei; und das drittens der Grund ist, dass der »Satz vom Seienden« das aussagt, was ist. Kurz gesagt: es bedarf der Annahme eines schlechterdings autonomen Subjekts. a.
Qea: die »mitteilende Göttin«
Gehen wir mit dieser Vorgabe an das Lehrgedicht des Parmenides, so lassen sich zunächst zwei Teile unterscheiden: der erste beschreibt Parmenides’ Fahrt zur Göttin, der zweite Teil berichtet, was sie ihm gesagt hat 50 . Diese – »Qea« genannte – Göttin steht im Zentrum des Lehrgedichts. Sie empfängt Parmenides, und sie spricht zu ihm. Sie teilt ihm zu Beginn ihrer Rede mit, dass das, was er erfahren wird, »das unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« sei: Alhjeih@ eupeijeo@ atreme@ htor. Achten wir auf den epistemischen Status dieser Eingangsrede, so teilt sie ihm nicht dieses »Herz der Wahrheit« mit, sondern nur, dass das, was sie ihm sagen wird, das »Herz der Wahrheit« ist. Diese Aussage befindet sich epistemologisch auf einer Ebene, auf der sie Parmenides den epistemischen Status ihrer Rede mitteilt: dass ihre Rede zugleich die Mitteilung des »Herzens der Wahrheit« sein wird. Das aber bedeutet, dass die in dem Lehrgedicht »Qea« genannte Göttin nicht nur Urheberin ihrer Rede ist, sondern dass Parmenides das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« auch in Form der Rede mitgeteilt wird 51 . Es bleibt allerdings offen, ob das, Im Folgenden beschränken wir uns auf den ersten Teil der Rede, in dem die Göttin das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« mitteilt. Den zweiten Teil über die »Meinungen der Sterblichen« (doxai broteiai) lassen wir außer Acht. 51 Unsere Deutung unterscheidet sich von der Interpretation M. Heideggers. Für ihn steht nicht Qea, sondern Moira im Mittelpunkt, und der Moira-Satz (Fr. 8, 37 f.) gilt als »der Satz aller seiner Sätze«: epei to ge Moir’ epedhsen oulon akinhton t’ emmenai. Heidegger deutet Moira als »das Geschick des ›Seins‹ im Sinne des eon«, so aber, dass im Geschick das »Wesen der Alhjeia … verhüllt (bleibt).« (Heidegger 1954, 251 ff.). Diese Interpretation gelingt jedoch nur, weil Heidegger willkürlich einen Nebensatz ins Zentrum stellt und den systematischen Stellenwert des von uns zitierten Eingangssatzes außer Acht lässt. Dieser Satz sagt nicht aus, dass das »Wesen der Alhjeia« verhüllt wird, sondern dass Parmenides es erfahren soll: crew de se pujesjai. – Zudem gibt der Text keinen Anhaltspunkt, »die vernehmende Beziehung zum 50
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
117
Das griechische »Projekt Autonomie«
was die Göttin mitteilen wird, dies unerschütterliche Herz selbst ist, oder ob es von wohlüberzeugender Wahrheit ist. b.
Dikh: Die Göttin der »gerechten Gewalt«
Neben der »mitteilenden Göttin« wird »Dikh« genannt, die jedoch in zwei verschiedenen Rollen auftritt. Im ersten Teil des Gedichts nennt Parmenides die »Dikh polupoino@« (Fr. 1, 14), was sich mit »die vielstrafende« oder »die unerbittliche Dike« übersetzen lässt. Sie hat die Schlüssel zum Tor der Wahrheit und entscheidet durch Öffnen bzw. Schließen des Tores über den Zugang 52 ; ihr verdankt Parmenides den Eintritt ins ›Haus der Wahrheit‹. Im zweiten Teil des Gedichts jedoch ist Dikh die »bindende Gewalt«, von der die Göttin sagt (Fr. 8, 13–15), sie sei es, die das Entstehen und Vergehen abweist und das Seiende festhält. Parmenides selbst also erkennt im ersten Teil Dikh als die Göttin des Rechts 53, die über Recht und Unrecht entscheidet und als solche den Zugang zur Wahrheit gewährt oder verwehrt; im zweiten Teil hingegen spricht Qea von ihr als der Göttin der Gewalt, die als solche die mächtige Urheberin dessen sei, dass das Seiende ist, und Entstehen und Vergehen vertrieben sind. Sind diese Zitate aus den zwei Teilen des Lehrgedichts als Funktionsbeschreibungen ein und derselben Göttin zu verstehen? Von der Gewalt, die das Seiende bindet und fesselt und das Entstehen und Vergehen vertreibt, spricht Qea, die »redende Göttin«, neben der »Dikh« auch von der »kraterh anagkh« (Fr. 8, 30) und der »moira« (Fr. 8, 37). Da diese drei jedoch in gleicher Funktion genannt werden, nämlich das Seiende zu binden, fällt es schwer, sie als drei verschiedene Göttinnen zu verstehen. Sie sind vielmehr drei ›Aspekte‹ der einen, das Seiende fesselnden Gewalt. Während der Ausdruck »kraterh anagkh« die Stärke und Unüberwindlichkeit Anwesen des Anwesenden«, wie Heidegger behauptet, »als ein Sehen (eidenai)« zu bestimmen (ebd.). Die Göttin fordert Parmenides ausdrücklich auf, die gehörte Rede zu bewahren (Fr. 2, 1: komisai de su mujon akousa@). Die Verknüpfung des Vernehmens der Wahrheit mit dem Sehen ist ein Zusatz, der nicht die »vernehmende Beziehung« beschreibt, die Parmenides selbst beschreibt. 52 Für den schwer zu interpretierenden Satz (Fr. 1, 14): »twn de Dikh polupoino@ exei klhida@ amoibou@« hat H. Fränkel eine einleuchtende, sich in den Kontext einfügende Erklärung gegeben: »Dike lohnt durch Öffnen des Tors, und sie straft, indem sie es vor dem Eingang Suchenden verschlossen hält.« (Fränkel 1955,168). 53 H. Fränkel nennt Dikh »die Potenz des Rechts und der Richtigkeit« (Fränkel 1962, 401). – Siehe auch: Deichgräber 1958.
118
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
der Fesseln bedeutet 54 und »moira« das Geschick, das dem Seienden dadurch zuteil wird, 55 bezeichnet »Dikh« darüber hinaus und vor allem die Rechtmäßigkeit dieser Fesselung des Seienden. Durch »Dikh« ist, dass das Seiende ist und nicht wird, nicht nur notwendig und schicksalhaft, sondern gerecht. Ihretwegen ist die Gewalt, die das Seiende fesselt, nicht willkürlich, sondern rechtmäßig; durch sie ist sie gerechtfertigt. Die Bindung des Seienden, dass es ist und nicht wird, ist anagkaia kai dikaia; sie hat eine gerechte Ursache: Dikh. Diese ist daher als das schlechterdings autonome Subjekt zu verstehen, weil ihre Fesselung des Seienden zugleich nach ihrem Gesetz geschieht. So aber müssen die »unerbittliche Dike«, die im ersten Teil des Gedichts als Göttin des Rechts über den Zugang zur Wahrheit wacht, und die »bindende Dike«, die im zweiten Teil als Göttin der Gewalt das Seiende fesselt, als ›Manifestationen‹ der einen Göttin verstanden werden. Sie ist die Eine gerechte Gewalt, die sowohl lohnt und straft als auch bindet. 56 54 »Ananke ist hier auch insofern verschieden, als sie Muß ist, nicht Soll … Daher das Beiwort kraterh, das nicht stark bedeutet, sondern stärker, überlegen, zwingend.« (Fränkel 1955, 164, Anm.) 55 »Moira ist ein Muß der Bestimmung … Daher erscheint hier moira in Verbindung mit dem betonten to ge: gerade dieses hat Moira gebunden unbeweglich zu sein.« (ebd.) 56 Parmenides’ »Dikh« hat mit traditionellen Vorstellungen nichts zu tun. Denn nirgends ist »Dikh« so gedacht worden, dass sie das Entstehen und Vergehen verwehrt, sondern dass sie verteilt und ausgleicht. Noch Anaximander verwendet »dikh« und »adikia«, um die Rechtmäßigkeit von Entstehen und Vergehen auszudrücken (siehe: Fränkel 1955, 165). In Parmenides’ Lehrgedicht jedoch erscheinen Dikh und Qemi@, die alten Mächte der gerechten Ordnung und des Rechts, in der neuen Manifestation des Zwangs und der Gewalt gegenüber dem Seienden (vgl.: E. Heitsch, Logischer Zwang und die Anfänge der Beweistechnik. In: Hoermann 1975, 24 f.). Ideologiekritisch lässt sich ein plausibler Begründungszusammenhang zwischen den Attributen der Gewalt und des Rechts herstellen: Parmenides stellt das Verhältnis zwischen dem bestimmenden Subjekt und dem Seienden offen als ein Gewaltverhältnis dar. Das Seiende wird gefesselt, es wird gezwungen, zu bleiben und nicht zu werden. Um so notwendiger erscheint es da, diese Gewalt zu rechtfertigen. Dass Parmenides sie der Göttin des Rechts zuschreibt, wird, so gesehen, plausibel, weil durch sie die Ausübung der Gewalt als rechtens erklärt wird. Da Dikh als Göttin des Rechts selbst diese Gewalt ausübt, ist die Vergewaltigung des Seienden rechtens. – Durch feministische Patriarchatsanalysen sensibilisiert stellt sich uns die – hier nicht zu klärende – Frage, warum Parmenides diese Vergewaltigung durch das weibliche Geschlecht stattfinden lässt. Dikh, Moira, Anagkh sind klar erkennbar Göttinnen. Mythologisch aber war die Aufrichtung einer bleibenden Seinsordnung gegen das Walten von Entstehen und Vergehen männlich konnotiert: Tiamat, die babylonische Göttin des Entstehens und Vergehens,
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
119
Das griechische »Projekt Autonomie«
c.
Eine »Göttin«
Die für unsere Rekonstruktion der parmenideischen Epistemologie entscheidende Frage ist nun, ob das Lehrgedicht im Kern von zwei Göttinnen handelt, von Qea, die sagt, sie werde Parmenides das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« mitteilen, und von Dikh, von der Qea dann sagt, sie sei es, die das Seiende rechtens bindet; oder ob wir beide als personifizierte Attribute ein und desselben Subjekts interpretieren müssen. Sind also Reden und Tun auf zwei verschiedene Subjekte bezogen, so dass Qea über das Tun der Dikh redet, oder sind beide, die Mitteilung der Wahrheit durch Qea und die Bindung des Seienden durch Dikh, die Handlungen eines Subjekts? Da wir nicht unterstellen, Parmenides sei sein Begründungsdiskurs auseinandergefallen, nehmen wir an, dass sein Gedicht von einem unsterblichen Subjekt handelt. Um das Lehrgedicht als ein solch einheitliches Ganzes zu rekonstruieren, greifen wir erneut auf die Idee der Autonomie als Selbstgesetzgebung zurück. Wir beziehen sie jedoch nicht auf Philosophen als sterbliche Subjekte, sondern auf die parmenideische »Göttin« als das eine unsterbliche Subjekt. Sie dient uns daher nicht, Grundsätze als »freie Setzungen« zu erklären, sondern dazu, sowohl die Mitteilung, die Qea dem Parmenides über Dikh macht, als auch die gerechte Gewalt, die Dikh gegen das Seiende ausübt, als Handlungen eines Subjekts begreifen zu können. Bislang war für uns die Kernaussage der »mitteilenden Göttin«, dass sie Parmenides in ihrer Rede das »unerschütterliche Herz der Wahrheit« mitteilen werde. Es war offen geblieben, ob diese Mitteilung von wohlüberzeugender Wahrheit oder deren unerschütterwird durch Marduk, den Gott des »neuen Rechts«, bekämpft, besiegt und zerstückelt. Fesseln, Binden, Bezwingen etc. galten als »männliche Tugenden«. Warum lässt Parmenides dieses Geschäft Frauen verrichten? Liegt der Wahl das größere Vertrauen (»pistio@ iscu@«) zugrunde, das die weiblichen Gottheiten hatten? Der Zusammenhang von Gewalt und Recht wird auf den Kopf gestellt, wenn man das Verhältnis umkehrt, wenn also das Recht nicht der Gewalt, sondern die Gewalt dem Recht dient. So schreibt H. Fränkel: »Sie [Dikh] hält das Sein fest in seinem eigenen Wesen und seiner Reinheit, sie gibt es nicht frei wider seine eigene Natur zu werden und zu vergehen.« (Fränkel 1955, 173). Warum aber muss dann das Seiende durch kraterh anagkh und moira gefesselt werden? Warum sollte es »wider seine eigene Natur« werden und vergehen? Was wäre der ›widernatürliche Zwang‹ ? Der sowohl zwingende als auch schicksalhafte Charakter der Fesselung, die Parmenides beschreibt, wird nur verständlich, wenn sie umgekehrt als eine ›widernatürliche‹ und deshalb zu rechtfertigende Gewalt gegen die ›eigene Natur‹ zu werden und zu vergehen aufgefasst wird.
120
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
liches Herz selbst ist. Würden wir nun annehmen, ihre Mitteilung sei ›von wohlüberzeugender Wahrheit‹, so würde sie anderes als deren Herz mitteilen. Dies aber widerspricht dem, was die Göttin ankündigt. Nehmen wir daher an, dass die Göttin so, wie sie sagt, in ihrer Rede das »unerschütterliche Herz« mitteilt, so lässt sich dies zunächst in dem Sinne verstehen, dass das, worüber sie redet, das »Herz der Wahrheit« sei. Doch in ihrer Rede selbst teilt sie nichts über dieses Herz mit, sondern berichtet über anderes: über Dikh, die das Seiende bindet, und über das Seiende, was es ist, und was es nicht ist. Wenn nun aber das, was sie mitteilt, weder von wohlüberzeugender Wahrheit ist, sie aber auch nicht über das Herz der Wahrheit spricht, so bleibt nur die Annahme, dass ihre Rede selbst dieses »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« ist. Dieses Herz kann nichts von ihrer Rede verschiedenes sein; ihre Rede ist dies Herz, und dies Herz ist ihre Rede. Da nun aber die Göttin in ihrer Rede dieses »Herz der Wahrheit« mitteilt, muss die redende Göttin selbst das Herz der Wahrheit sein; d. h. sie muss in ihrer Rede sich selbst mitteilen. Ist nun aber die redende Göttin selbst das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit«, dann kann Dikh, die Göttin der gerechten Gewalt, über die sie redet, kein anderes Subjekt als sie selbst sein. Denn sonst würde sie in ihrer Rede nicht sich als dieses Herz mitteilen, sondern würde über ein anderes Subjekt reden, das ausdrücklich nicht dieses »Herz der Wahrheit« ist. Parmenides’ Lehrgedicht erscheint daher in epistemologischer Hinsicht nur dann als konsistent, wenn die Rede der Göttin performativ ist 57 , wenn also Qea, die »redende Göttin«, und Dikh, die »tätige Göttin«, über die sie redet, ein und dasselbe Subjekt ist, wenn also die Ausschließung des Andersseins nicht nur für das Seiende, sondern auch für das Subjekt gilt 58 . vgl. dazu: Einleitung, III, A. 2. Da uns die Annahme unplausibel erscheint, Parmenides habe zwar hinsichtlich des Seienden alles Anderssein ausgeschlossen, hinsichtlich der epistemologischen Begründung jedoch eine Vielzahl von Göttinnen angenommen, bedarf es einer Erklärung der Vielzahl. Denn im Lehrgedicht ist in der Tat von einer Reihe von Göttinnen und Dämoninnen die Rede: kourai, Dikh, Qea, Qemi@, Anagkh, Peijw, Alhjeih, Moira. Die sinnvollste und mit Parmenides’ Anliegen übereinstimmende Interpretation ist, dass diese Ausdrücke keine Eigennamen sind, sondern in poetischer Form Funktionen des einen wissensbegründenden Subjekts bezeichnen. – Vgl. dazu K. Reinhardts Deutung: »Die Gestalten sind, als Mythologie betrachtet, wesenlos und schemenhaft, und das aus keinem anderen Grunde, weil sie ausschließlich Ausdruck der Gedanken sind, und die
57 58
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
121
Das griechische »Projekt Autonomie«
Unter dieser Bedingung müssen wir also die Mitteilung des Herzens der Wahrheit und die rechtmäßige Fesselung des Seienden als Handlungen eines Subjekts verstehen, das in beiden Handlungen sowohl der unerschütterliche Wahrheitsgrund der Rede als auch die unerbittliche Ursache für die Fesselung des Seienden ist. Denn nur dann ist es möglich, dass die Göttin, indem sie Parmenides über die Fesselung des Seienden durch Dikh berichtet und darüber, was das Seiende ist, ihm zugleich das »unerschütterliche Herz der wohlüberzeugenden Wahrheit« mitteilt. Die Übereinstimmung von Reden und Tun, der Mitteilung der Wahrheit in der Rede und der Fesselung des Seienden durch die rechtmäßige Gewalt, ist so in der Autonomie des Einen Subjekts begründet. Denn nur diese Autonomie gewährleitet, dass die Aussage der Göttin, dass sie das »Herz der Wahrheit« mitteilen wird, mit dem, was sie als »Herz der Wahrheit« mitteilt, übereinstimmt 59 .
Gedanken wiederum können es zu einer kräftigen und lebendigen Personifikation nicht bringen, weil sie nur mit dem Verstande und nicht aus den Bedürfnissen des Gefühls gewonnen sind. Daher der Eindruck des Gemachten und der Kälte.« (Reinhardt 1959, 67.) Auch J. Mansfeld hat die Auffassung vertreten, dass die Einheit des parmenideischen Lehrgedichts nur gefunden werden könne, wenn die Göttin Dikh und ihre Offenbarung in den Mittelpunkt gerückt wird. Sein Argument für die Identität von Dikh und Offenbarung ist etymologisch: »Die Begriffe der ›Mitteilung‹ und der ›Bekanntgabe‹ sind von alters her im Griechischen mit den Worten dikh und deiknumi verbunden … Die Bedingungen für die Einheit von logischer und offenbarender Göttin sind in den Bedeutungskreisen der Worte krisi@ und dikh schon in der griechischen Sprache gegeben. Die ›Personifikation‹ der Dikh als offenbarender Göttin ist sozusagen in der Sprache schon vorbereitet.« (Mansfeld 1964, 270). – Dieser Hinweis auf den juristischen Sprachgebrauch von dikh im Griechischen legt die Einheit im Lehrgedicht nahe. Er kann jedoch nicht das systematische Argument ersetzen, dass in epistemologischer Hinsicht Rechtsetzung und Offenbarung in einem Subjekt verbunden sein müssen, da sonst der Begründungsdiskurs auseinanderfällt. 59 Unser Autonomiebegriff impliziert nicht, Parmenides’ Gesamtkonzeption »monotheistisch« zu nennen, wie dies etwa W. R. Chalmers (Parmenides and the Beliefs of Mortals. In: Parmenides 1985, 75) tut und J. Mansfeld nahelegt (Mansfeld 1964, 269 ff.). Denn uns geht es hier nur um die Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz begründbar ist. Der weitergehende Problembereich, Parmenides’ Darstellung der »doxai broteiai« und, damit verbunden, die Frage, ob jene »Daimwn«, die inmitten alles lenkt (Fr. 12, 3), dieselbe Göttin wie Dikh ist, ob sie eine »Sub-Göttin« oder gar »Gegen-Göttin« ist, wird von uns ausgeklammert.
122
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
2.
Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz
Nach der Rekonstruktion der parmenideischen Göttinnen als einem Subjekt gehen wir der Frage nach, wie Parmenides den »Satz vom Seienden« als epistemischen Grundsatz begründet. Als dieser Satz muss er zum einen Wissen codieren, indem er festlegt, was Wissen überhaupt ist; zum anderen muss er regeln, wie ein aktuales Wissen erzeugt wird. Beiden Funktionen soll zunächst getrennt nachgegangen werden. a.
Der »Satz vom Seienden« als epistemischer Code
Nach dem Bisherigen erscheint es als einfach, den »Satz vom Seienden« als epistemischen Code zu begründen. Zwar stellt der Satz, als axiwma, zunächst bloß die Konsistenzbedingung von Wissen zeichenhaft dar: »IST IST«, und hat keine andere Bedeutung als das unauflösliche auton. Als Mitteilung der Göttin jedoch besitzt er einen epistemischen Wert; sie nennt ihn den »Weg der Überzeugung« (Fr. 2, 4). Der Satz codiert demnach Wissen, weil die Göttin in diesem Satz mitteilt, dass sie selbst dem Seienden dasjenige Gesetz gibt, das der Satz aussagt. Da sie die Gewalt ist, die das Seiende fesselt und Entstehen und Vergehen vertreibt, ist der Satz »IST IST« nicht leer, sondern von der Art, dass in ihm codiert ist, was Wissen ist: Seiendes ist; Nicht-Seiendes ist nicht. Dies teilt sie Parmenides als den »Weg der Überzeugung« mit, so dass Wissen nicht anders als in Bezug auf diesen Satz möglich ist. – In Parmenides’ Epistemologie ist daher weder ein mythisch Vorhandenes noch ein »sterbliches Subjekt« der Grund für die Auszeichnung von Sätzen als Wissen, sondern das »unsterbliche Subjekt«, das dem, was ist, selbst das Gesetz gibt, das es im »Satz vom Seienden« zugleich mitteilt. 60 Auf diese Begründung des »Satzes vom Seienden« lässt sich die Probe machen. Nehmen wir dazu an, die Instanz, die ihn als Wissen begründet, wäre nicht die Göttin, sondern »Parmenides selbst«, dann wäre die Begründung inkonsistent. Denn Parmenides müsste das »Unerschütterliche« des Satzes durch Rekurs auf sich als »sterbliches Subjekt« begründen, von dem er zugleich doch annimmt, es sei von »irrendem Verstand«. Wenn, wohl dieser Ungereimtheit wegen, die Auffassung vertreten wurde, Parmenides habe sich nach seiner »Himmelfahrt« den Unsterblichen zugehörig geglaubt (vgl. G. Vlastos, Parmenides’ Theory of Knowledge (1946). In: Parmenides 1985, 54) oder sei »als Entrückter nicht nur seiner Weltlichkeit und Menschlichkeit ledig geworden …, sondern auch seiner Individualität und Zeitlichkeit« (Fränkel 1962, 417 ff.), so widerspricht diese Auffassung dem Aufbau des Lehrgedichts. Denn es beschreibt seine
60
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
123
Das griechische »Projekt Autonomie«
b.
»Das Denken« als Repräsentation von Wissen
Größer hingegen ist der Aufwand, die epistemische Funktion zu begründen, nach der der »Satz vom Seienden« auch für »sterbliche Subjekte« ein Wissen zu repräsentieren vermag. Denn da nach Parmenides die Wissensart der »Sterblichen« unter der Heteronomie der Erfahrung steht und daher allemal nur eine »trügerische Ordnung« konstituiert, scheint es unmöglich zu sein, dass der Satz, dass das Seiende nicht entsteht und vergeht, sondern (nur) ist, für Sterbliche ein Wissen repräsentiert. Dies wäre nur möglich, so können wir vorab sagen, wenn Sterblichen doch ein ›Vermögen‹ zukommt, durch das sie die Macht der »vielerfahrenen Gewohnheit« überwinden, und durch dessen Tätigkeit sie das erfassen können, was im »Satz vom Seienden« epistemisch codiert ist. Dieses Vermögen, der »vielerfahrenen Gewohnheit« nicht gehorchen zu müssen, nennt Parmenides »das Denken« (noo@, noein), sodass es um die Klärung geht, welche Rolle diesem Vermögen im epistemologischen Kontext zukommt. 1. Unter dem Ausdruck »Denken« versteht man zunächst die menschliche Tätigkeit, gegebene Vorstellungen unter Begriffen zusammenzufassen und diese zu verbinden. In diesem Sinne haben die ersten Philosophen allgemeine Begriffe: das Wasser, das Apeiron, die Luft gebildet und ihnen Vorstellungen sowie andere Begriffe zugeordnet. Parmenides selbst jedoch hat das Denken nicht auf diese Weise zur ›Verarbeitung‹ gegebener Vorstellungen gebraucht, sondern es, auf der »Metaebene«, zur Untersuchung von Sätzen angewandt und sowohl die Aussagen der »Sterblichen« der kritischen Prüfung unterzogen als auch den »Satz vom Seienden« als konsistenten Aussagesatz aufgestellt. Während »Denken« also im einen Fall eine Tätigkeit bezeichnet, durch die »Sterbliche« zum Wissen gelangen, ist es im zweiten Fall ein bloßes Prüfungsverfahren von Sätzen am Maßstab der Konsistenz. – Von diesen zwei Arten des Denkens können wir nun sagen, dass sie beide durchaus den »Sterblichen« zukommen: im einen Fall wissen sie und prüfen nicht; im anderen Fall prüfen sie und wissen nicht. Die Frage kann also nicht sein, ob »Sterbliche« in dieser Weise zu prüfen vermögen, sondern ob durch die Tätigkeit des bloß prüfenden Denkens für sie auch Wissen konFahrt zur Göttin und ihre Mitteilung der Wahrheit, die sie an ihn, den »jungen Mann« (Fr. 1, 24: kouro@) richtet, und die er weitergeben soll (Fr. 2, 1). Dass Parmenides geglaubt habe, er sei selbst unsterblich, ist unseres Erachtens eine überflüssige Spekulation.
124
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
stituiert wird. Diese Frage beantwortet Parmenides durch den Rekurs auf Aussagen der Göttin: Sie teilt ihm mit, dass durchs bloße Denken das, was das Seiende alhjeia ist, erfasst wird, so dass also die »nichtswissenden Sterblichen« zwar ›aus eigener Kraft‹ zu denken, aber nur kraft Mitteilung der Göttin nach Art der Unsterblichen zu wissen vermögen. Diese epistemologische Begründung soll anhand des Lehrgedichts im Folgenden nun so rekonstruiert werden, dass deutlich wird, welche Aussagen der Göttin von der Art sind, dass sie von den Sterblichen der kritischen Prüfung unterzogen werden können und damit dem Postulat des krinai logw (Fr. 7, 5) unterliegen, das die Göttin an Parmenides richtet; und welche ihrer Aussagen Mitteilungen solcher Art sind, dass sie von Sterblichen nicht prüfbar sind, für sie aber Wissen begründen. Dazu möchte ich zuerst auf die Aussagen über das Denken (Fr. 4), dann auf die über die Dieselbigkeit von Gedachtem und dem, was das Seiende ist, (Fr. 8, 34 ff.) eingehen. 2. Nach der Anfangsthese, Denken und Sein sei dasselbe, fordert die Göttin Parmenides auf, darauf zu achten, was das Denken ›tut‹. Fr. 4: »Sieh, dem Denken ist Wegseiendes so sicher wie Daseiendes« 61 . Daraufhin gibt sie die Begründung: »denn es trennt nicht vom Zusammenhalt mit Seiendem das Seiende, weder als ein in seinem Gefüge überallhin völlig Zertrenntes noch als ein Zusammengesetztes.« 62 Bevor wir auf die Bedeutung der beiden Sätze eingehen, soll zunächst gefragt werden, worauf sich der Ausdruck »Denken« (noo@) bezieht, welches Denken hier also beschrieben wird. Ist es das Denken der »Unsterblichen«, denen als solchen Wegseiendes so sicher wie Daseiendes ist; oder ist es ein Denken der »Sterblichen«, das durch diese Aussage charakterisiert wird? Die Tatsache, dass die Göttin hier keine »Wahrheit« mitteilt, sondern Parmenides auffordert, selbst zu sehen, was das Denken ›tut‹, deutet daraufhin, dass das »leusse d’ omw@ apeonta now pareonta bebaiw@.« – W. Capelle übersetzt: »Sieh, wie auch das Ferne deinem Geist greifbar nahe ist.« (Capelle 1968, 164). – J. Mansfeld: »Betrachte mit Verständnis das Abwesende als genauso zuverlässig anwesend [wie das Anwesende].« (Parmenides 1994, 9) – G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield: »Schaue jedoch auf abwesende Dinge, wie sie dem Geist dennoch zuverlässig gegenwärtig sind.« (Kirk 1994, 288). 62 »ou gar apotmhxei to eon tou eonto@ ecesjai oute skidnamenon panth pantw@ kata kosmon oute sunistamenon.« – Bei »kata kosmon« folge ich der von H. Diels vorgeschlagenen Übersetzung: »Gefüge«. Siehe dazu: Reinhardt 1959, 50, Anm. 1. 61
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
125
Das griechische »Projekt Autonomie«
Denken hier in der zweiten Bedeutung gemeint ist: Wer als Sterblicher darauf achtet, was geschieht, wenn er denkt, kann prüfend nachvollziehen, was die Göttin über das Denken sagt. Fassen wir die Aussagen über das Denken nun in dieser Weise auf, so können wir den ersten Satz so verstehen, dass in den durch das zusammenfassende Denken gewonnenen Begriffen Daseiendes und Wegseiendes gleich sicher ist. In Begriffen ist gegenwärtig, was als Vorstellung nicht gegenwärtig sein muss. »Denken« bezeichnet demnach hier den Vorgang der Begriffsbildung, wie wir ihn bei den ersten Philosophen beschrieben haben: to udwr z. B. als Inbegriff alles Wässrigen. Den zweiten Satz verstehen wir nun so, dass er eine Reflexion, ein ›Achten‹ auf dieses Denken beschreibt. Dieses ›Achten‹ zeigt, dass das Denken selbst nicht trennt, sondern eint. Dies geschieht, wenn etwa die abwesende Vorstellung als Gedanke anwesend ist, wenn Wasser als die arch von allem gedacht wird oder wenn Sätze auf ihre Konsistenz hin geprüft werden. Die Aussage ist also, dass sowohl das Zertrennte als auch das Zusammengesetzte nicht dem Denken entstammen, sondern, so können wir ergänzen, das, was trennt, die »vielerfahrene Gewohnheit« ist, und dass daher solches ein »eteron« ist; dass hingegen das, was rein gedacht ist, ein auton ist, oder, wie es hier ausgedrückt wird, ein Zusammenhalt von Seiendem mit Seiendem (to eon tou eonto@ ecesjai). So verstanden, enthalten also die Aussagen der Göttin über das Denken nichts, was von Sterblichen nicht auch ohne die Göttin nachvollziehbar wäre. Sie haben den Status von Aussagen Sterblicher über das Denken von Sterblichen. Sie sagen jedoch nichts darüber aus, ob durch eine solch einende Tätigkeit auch ein Wissen konstituiert wird. 3. Vergleichen wir diese Aussagen über das Denken von Sterblichen mit denen über das ›Tun‹ der Göttin, so stellen wir in Bezug auf den »Satz vom Seienden« eine ›Parallele‹ fest. Einmal ist es das Denken, das eint; einmal ist es die Gewalt, die das Seiende festhält. Beide Male ist das Resultat der Handlung das »tauton«: to eon tou eonto@ ecesjai im Falle des Denkens; im Falle der Gewalt das »ecei« der Göttin. Aber während die Göttin weiß, dass der »Satz vom Seienden« ›wahr‹ ist, weil sie selbst das Seiende bindet, ist für Sterbliche das auton ein bloß Gedachtes, da diese nur wissen, wenn und weil sie der Macht der sinnlichen Erfahrung gehorchen. In der autonomen Wissensart der Göttin drückt der »Satz vom Seienden« also aus, was das Seiende alhjeia ist; in der heteronomen Art der Sterblichen drückt er ein bloß gedachtes auton aus. 126
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
Soll der »Satz vom Seienden« nun für die Sterblichen über das bloße Gedachtsein hinaus als Wissen begründet werden, so bedarf es offenbar der Ermächtigung des Denkens zum epistemischen Vermögen durch die Göttin: Sie muss sagen, dass das Gedachte und das, was das Seiende ist, dasselbe ist. Denn nur sie weiß, dass die Sterblichen durch die einende Tätigkeit ihres Denkens zugleich erkennen, was das Seiende alhjeia ist. Ihre Mitteilung gibt die epistemologische Begründung, dass das auton als der bloße Gedanke Sterblicher zugleich Wissen repräsentiert. Nur als Mitteilung der Göttin, die selbst das Seiende bindet, wäre also der »Satz vom Seienden« als epistemischer Grundsatz verbürgt. – Diese Ermächtigung des Denkens durch die Göttin soll nun anhand Fr. 8, 34 ff. in der Weise paraphrasierend nachvollzogen werden, dass durch Textergänzungen die unterschiedlichen Aussagenebenen deutlich werden: zum einen die Aussagen der Göttin über das Denken Sterblicher, die an den hörenden und kritisch-prüfenden Parmenides gerichtet sind; zum anderen die Mitteilungen über ihr eigenes Tun, die von Parmenides gehört und nur vernommen, nicht aber geprüft werden können. Nachdem die Göttin auf dem »Weg der Überzeugung« die Merkmale (shmata) des Seienden genannt hat, sagt sie im Anschluss, was ich folgendermaßen lese 63 : »(Wenn du, Parmenides, auf dein Denken achtest, so wirst du mir nach kritischer Prüfung zugeben müssen:) dasselbe ist das Denken und Sagen und wesbezüglich der Gedanke und die Aussage ist 64 . Denn (– du magst prüfen, wie du willst –) du wirst das Denken und Sagen niemals antreffen ohne das Seiende, in dem das Gedachte und Ausgesagte ist. (Nun aber teile ich »tauton d’ esti noein te kai ouneken esti nohma‡ ou gar aneu tou eonto@, en w peyatismenon estin, eurhsei@ to noein‡ ouden gar hhi estin h estai allo parex tou eonto@, epei to ge Moir’ epedhsen oaulon akinhton t’ emenai‡ tw pant’ onomastai ossa brotoi katejento pepoijote@ einai alhjh, gignesjai te kai ollusjai, einai te kai ouci, kai topon allassein dia te croa yanon ameibein.« – Ich ersetze »denken« durch »denken und sagen« bzw. »sagen« durch »denken und sagen«, da Parmenides zwischen beiden keinen sachlichen Unterschied macht. Siehe Fr. 2, 7 f.: »oute gar an gnoih@ … oute yrasai@«; Fr. 6, 1: »crh to legein te noein t’ eon emmenai«; Fr. 8, 7 f.: »out’ … yasjai @’ oude noein«; Fr. 8, 8 f.: »ou gar yaton oude nohton estin …«; Fr. 8, 50: »… piston logon hde nohma amyi@ alhjeih@«. 64 Dieser Satz gilt einerseits als ein Kernsatz der parmenideischen Theorie und ist auch für unsere Rekonstruktion von zentraler Bedeutung; er hat sich andererseits jedoch als äußerst auslegungsfähig und -bedürftig erwiesen. Ich werde es an anderer Stelle unternehmen, die vorgelegte Interpretation, insbesondere die Verwendung des Ausdrucks »wesbezüglich«, durch die Kritik anderer Interpretationen zu rechtfertigen. 63
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
127
Das griechische »Projekt Autonomie«
als Hüterin der Wahrheit dir mit:) nichts anderes ist oder wird je sein außer dem Seienden! (Der Grund für die Wahrheit dieser Aussage ist: ich weiß:) Moira hat das Seiende gefesselt, ganz und gar unbeweglich zu sein. (Daher ist nichts anderes oder wird je sein außer dem Seienden.)« – Nun würden wir erwarten, dass die Göttin die positive Aussage trifft: ›Daher ist, wesbezüglich der Gedanke und die Aussage ist, dasselbe wie das, was das Seiende ist.‹ Doch Parmenides lässt sie die negative Aussage treffen: »Daher sind ›Entstandensein und Vergangensein‹, ›Sein und Nichtsein‹, ›den Ort wechseln‹ und ›die leuchtende Farbe ändern‹ alles nur Wörter, die Sterbliche festgelegt haben, überzeugt, wahr zu sein. (Aber wahr ist: ›Seiendes ist.‹)« Vollziehen wir den Gang der Paraphrase nach, so ist der entscheidende Punkt der epistemischen Ermächtigung des Denkens durch die Göttin der »Wechsel der Ebene«. Sie führt Parmenides zunächst bis zu der für ihn – als sterbliches Subjekt – nachprüfbaren Aussage: ›Denken und Sagen ist nicht ohne das Seiende anzutreffen‹ oder: ›nicht denk- und sagbar ist Nicht-Seiendes‹. Dann aber wechselt sie die Ebene. Ihre Aussage: ›nichts außer Seiendem ist, weil Moira es gefesselt hat‹, ist für Parmenides – als sterbliches Subjekt – keine prüfbare Aussage. Denn die Göttin sagt hier nichts über das Denken des sterblichen Subjekts, sondern über das Tun des unsterblichen Subjekts aus. Diese Aussage hat den Status einer »Offenbarung«; sie kann vom sterblichen Subjekt nicht gedacht, sondern als Mitteilung des unsterblichen Subjekts nur vernommen werden. Mit ihr teilt die Göttin den Grund mit, warum das Seiende, in dem das Gedachte und Ausgesagte ist, und das, was das Seiende alhjeia ist, dasselbe ist: Sie selbst als die das Seiende fesselnde Gewalt ist Ursache und Grund, dass der »Satz vom Seienden«: ›einai esti‹ wahr ist. Im Kontext unserer Rekonstruktion ist also der Satz, dass das Gedachte und das, was das Seiende ist, dasselbe ist, nicht nur die Eröffnungsthese der Rede der Göttin, sondern auch der Schlusssatz 65 . Er enthält die Begründung, dass das reine Denken der Sterblichen die Macht hat oder ist, das, was alhjeia ist, zu erkennen, und damit auch, dass die Sterblichen diese Wahrheit durch reines Denken Während Dikh nach der Eingangsthese, Denken und Sein sei dasselbe, Parmenides auffordert, das, was sie über das Seiende sagt, kritisch zu prüfen, kommt sie am Ende dieser Prüfung zur Aussage, dass es in der Tat dasselbe ist, was sie sagt, dass das Seiende ist, und was gedacht ist, was das Seiende ist. – Siehe zu dieser Zirkularität Fr.5: »Ein Gemeinsames ist es für mich, woher ich anfange; denn dorthin werde ich wieder zurückkehren.«
65
128
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Parmenides: Der epistemologische Grundsatz: Der »Satz vom Seienden«
wissen können. Der »Satz vom Seienden« codiert also nicht nur als Aussage der Göttin über ihre Gesetzgebung Wissen, sondern sagt auch aus, dass für Sterbliche im reinen Gedanken Wissen repräsentiert ist. Das gedachte auton bezeichnet die Art, in der Sterbliche wissen, und das Denken den Weg, Wissen zu erzeugen.
C. Zusammenfassung Parmenides, so haben wir das Lehrgedicht rekonstruiert, hat in die Philosophie die epistemologische Ebene eingeführt. Er hat keinen neuen Grundsatz über das aufgestellt, woraus alles ist, sondern hat diese Sätze selbst auf ihre Konsistenz überprüft. Dieser Bedingung genügen allein tauta, Sätze, die dasselbe aussagen. Das entscheidend Neue seines Lehrgedichts besteht jedoch nicht in dieser Art der Prüfung, sondern darin, dass es dieses, in epistemischer Hinsicht belanglose, Verfahren der Kritik zu der allein Wissen konstituierenden Tätigkeit erhoben hat. Es hat damit eine ganz neue epistemologische Instanz etabliert. Parmenides nennt sie »Qea«, die die Wahrheit mitteilt, und »Dikh«, die das Seiende bindet; wir haben sie als das schlechterdings autonome Subjekt rekonstruiert, welches die Diesselbigkeit des bloß gedachten auton mit dem, was das Seiende in Wahrheit ist, verbürgt und die Gültigkeit des »Satzes vom Seienden« garantiert. Diese Instanz hat weder, wie im Mythos, den Status eines je schon vorhandenen Codes, der erzählend vergegenwärtigt wird, noch ist sie ein Mensch als sterbliches Subjekt, das Sätze über das Prinzip alles Erfahrbaren aufstellt; sie ist vielmehr das eine und unsterbliche Subjekt, das die Wahrheit des Satzes verbürgt, weil es dem, was ist, selbst das Gesetz gibt. Sie ermächtigt, das bloß Gedachte als das Wahre anzunehmen, und erhebt damit das reine Denken zu derjenigen Tätigkeit, die allein dem Wahren folgt. Wenn Parmenides also in historischer Sicht als »Vater« und eigentlicher Begründer der Philosophie beurteilt wird, dann kann diese Rolle nicht darin gesehen werden, dass er, wie Thales am Beginn, einen Grundsatz aufgestellt hat, der die wissenschaftliche Tätigkeit regelt und orientiert; und auch nicht darin, dass er solche Grundsätze der prüfenden Kritik unterzogen hat. Sie liegt vielmehr darin, dass durch sein Lehrgedicht ein neuer Diskurs gestiftet wurde, der im Glauben an die Macht des Denkens gründet. Parmenides hat – noch in der Form der Erzählung – gegen die bisherige Macht sinnlicher A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
129
Das griechische »Projekt Autonomie«
Erfahrung das reine Denken als die wahre wie gerechte Macht instanziiert. So widersinnig den Repräsentanten des bisherigen Wissens dieser neue Glaube erscheinen mochte, – sie sind mit diesem neuen Diskurs entmachtet worden. Nicht mehr Dichtung und Gesang repräsentieren nunmehr das Wissen, und mit ihnen nicht der Mythologe oder Rhapsode, aber auch nicht der vielerfahrene soyo@ und yusiko@, sondern der Philosoph. Seither hat die Philosophie sich als die »Hüterin des Seienden« und »Wahrerin des Einen« verstanden, die den Daimon der Entgrenzung bannt, das urteilslose Werden stoppt und die »trügerischen Ordnungen« der Sterblichen prüft und richtet. Parmenides hat seinen Ehrenplatz bei den Freunden der Idee wie den Anhängern des Atoms, bei Theologen wie Ontologen, bei Mathematikern wie Physikern. Und seither rebelliert im europäischabendländischen Denken gegen diese Glaubensmacht untergründig die entmachtete Sinnlichkeit im Namen des »Lebendigen«, des »Natürlichen«, des »Schönen«, des »Wirklichen« – und wird doch immer wieder von den Hütern des Seienden in die unerbittlichen Fesseln der festen Begriffe und klaren Formeln geschlagen 66 .
III. Heraklit: Der »Satz vom Logos« A. Vorüberlegungen 1.
Die aporetische Situation
Mit Thales hatte eine Art des Wissens begonnen, die nicht in der Aktualisierung eines vorhandenen Codes bestand, sondern im Geben eines Satzes, der die epistemische Tätigkeit leitet. Gegen diese WisFür Nietzsche, den Diener des Dionysos, ist klarerweise der »kaltes, stechendes Licht um sich ausgießend(e)« Parmenides »ungriechisch wie kein andrer in den zwei Jahrzehnten des tragischen Zeitalters« (39 f.), und doch so folgenreich: »›Folgt nur nicht dem blöden Auge, so lautet jetzt sein Imperativ, nicht dem schallenden Gehöre oder der Zunge, sondern prüft allein mit des Gedanken Kraft!‹ Damit vollzog er die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnisvolle Kritik des Erkenntnisapparats: dadurch dass er die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riss, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von ›Geist‹ und ›Körper‹ aufgemuntert, die, besonders durch Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt.« (Nietzsche 1994, 46)
66
130
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
sensart hat Parmenides eingewandt, dass Sätze solchen Typs nur eine »trügerische Ordnung von Wörtern« vorstellen, aber kein Wissen codieren. Diese codiert nur der »Satz vom Seienden«. Vergleichen wir diese beiden Typen epistemischer Grundsätze, so stellt sich das Projekt in epistemologischer Hinsicht als Aporie dar: Die Grundsätze der ersten Philosophen haben zwar eine Erklärungsfunktion – sie geben Regeln, nach denen gegebene Vorstellungen aus einem Prinzip erklärt werden –, aber ihnen fehlt die Codierungsfunktion. Sie sind doxai, kein axiwma. Diese Funktion besitzt hingegen der »Satz vom Seienden«, der das unauflöslich Invariante des epistemischen Codes darstellt, dem aber die Erklärungsfunktion der Regel fehlt. Er dient nur dazu, Grundsätze kritisch zu prüfen 67 . Einmal ist also das autonom begründete Wissen der Form nach kein Wissen: die Grundsätze sind Setzungen, denen die Konsistenz fehlt. Das andere Mal ist es dem Inhalt nach kein Wissen: dem »Satz vom Seienden« fehlt die Funktion, gegebene Vorstellungen zu erklären. Das Projekt, Wissen auf die Selbstgesetzgebung des Subjekts zu gründen, hat sich in der Antinomie von Form und Inhalt verfangen. Es gibt gleichsam zwei »epistemische Reiche«: ein inkonsistentes ErDiese Methode der kritischen Prüfung hat Parmenides’ Schüler Zenon ausgearbeitet. Seine Beweisführungen haben dasselbe Ziel wie Parmenides’ Kritik der »vielerfahrenen Gewohnheit« : die Grundannahmen der Erfahrung, dass alles veränderlich, bewegt und Vieles sei, als widersprüchliche und inkonsistente Aussagen nachzuweisen. – Im »Parmenides« lässt Platon Zenon sagen, er habe zeigen wollen, dass die Annahme: »wenn Vieles ist« noch Lächerlicheres ertragen müsse als die Annahme: »wenn Eines ist« (128d). Doch die »Lächerlichkeit« ist eine jeweils andere. Wer von der Annahme: »Eines ist« ausgeht, macht sich lächerlich in Bezug auf die Erfahrung, weil er das augenscheinlich Viele bestreitet. Wer hingegen von der Annahme: »Vieles ist« ausgeht, macht sich lächerlich in Bezug auf das Denken, weil er sich in Widersprüche verwickelt. Der eine gilt als lächerlich, weil er als ›weltfremd‹ erscheint, der andere, weil er ›Unfug‹ redet. Beides sind verschiedene Arten von »Lächerlichkeit«. Wenn Platon Zenon den Komparativ »lächerlicher« bilden lässt, scheint er zu meinen, dass es angesichts dieser Antinomie besser sei, ›weltfremd‹ zu sein als ›Unfug‹ zu reden, d. h. dem Denken den Vorzug vor der Erfahrung zu geben. Wie Zenon verfährt auch Gorgias. Seine rein negative Beweisführung zieht die letzte Konsequenz aus dem eleatischen Wissenskonzept: es gibt keinen Satz – nicht einmal den, dass es Seiendes gibt –, der dem formellen Wissenskriterium der Diesselbigkeit genügt. Gorgias zeigt damit, schreibt Th. Buchheim, »dass das so allein gelassene on einer es selbst zerstörenden Widersprüchlichkeit verfällt.« (Buchheim 1989, XVI) – Vgl. auch O. Gigon, Gorgias ›Über das Nichtsein‹. In: Gigon 1972, 96 f.; Calogero 1970, 171 ff. – Zur Aufnahme dieser Kritikfigur in der ersten Untersuchung des »Parmenides« Platons siehe: Chr. Iber, Platons eigentliche philosophische Leistung im Dialog Parmenides. In: Angehrn 1992, 197 f. 67
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
131
Das griechische »Projekt Autonomie«
fahrungswissen der Sterblichen und ein konsistentes reines Wissen der Unsterblichen. Jedem fehlt das andere Moment, um Wissen als ein konsistentes Erfahrungswissen zu begründen. Im Folgenden soll die Philosophie Heraklits als Lösung dieser skizzierten Aporie rekonstruiert werden. Heraklit gilt uns als der erste Epistemologe, der auf Grundlage dieser Antinomie das Konzept eines Erfahrungswissens formuliert, in dessen Zentrum der »Satz vom (alles beherrschenden) Logos« steht. – Diese Rekonstruktion bedarf allerdings vorab der Klärung der chronologischen Voraussetzungen sowie der systematischen Verortung der Philosophie Heraklits. 2.
Chronologische Voraussetzungen
Unsere Rekonstruktion muss davon ausgehen, dass Heraklit Parmenides’ Konzeption kannte. Denn wenn Heraklits Philosophie als eine Antwort auf die genannte aporetische Situation verstanden werden soll, dann setzt sie deren Kenntnis voraus. Heraklit muss daher zeitlich nach Parmenides philosophiert haben. Dieser Annahme steht jedoch die Auffassung vieler Historiker entgegen, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert; danach aber scheint es unmöglich zu sein, Heraklits Philosophie als Antwort auf Parmenides und als Lösung jener Aporie zu interpretieren. Es bedarf daher der Rechtfertigung unserer Annahme. Zur Stützung der Auffassung, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert, ist auf zwei Arten von Quellen Bezug genommen: auf chronologische Datierungen sowie auf die Texte beider Autoren. Hinsichtlich der Chronologie schließen wir uns der Auffassung an, dass die von K. Reinhardt initiierte Debatte über die Qualifizierung und die Kohärenz der verschiedenen überlieferten Datierungen das Ergebnis hatte, dass die bisherige Annahme, Heraklit gehe Parmenides voraus, nicht haltbar ist. Die Datierungen machen es wahrscheinlicher, dass Parmenides vor Heraklit philosophiert hat 68 . Hinsichtlich der Textlage sind Aussagen von Parmenides und U. Hölscher, der u. a. den Datierungen Apollodors, Platons und Eusebius’ nachgegangen ist, kommt zum Ergebnis: »Für die Schrift des Parmenides bleibt ein Spielraum von etwa 510 bis allerspätestens 475. Dass er Heraklits Schrift gekannt hätte, ist danach so gut wie ausgeschlossen.« (Hölscher 1968, 165)
68
132
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
Heraklit angeführt worden. Die Sätze in Fr. 6 des Lehrgedichts von Parmenides über die »nichtswissenden Sterblichen« und über »die Doppelköpfigen«, denen Sein und Nichtsein dasselbe ist, sind seit den »Abhandlungen« von J. Bernays 69 als Polemik gegen Heraklit und dessen Lehre interpretiert worden. Sie dienten als Beleg, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert. Weiterhin wurde festgestellt, dass Heraklit in Fr. 40 zwar namentlich gegen die »Vielwisserei« des Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios polemisiert, nicht aber gegen Parmenides. Dies Fehlen ist damit erklärt worden, dass Heraklit Parmenides nicht gekannt habe. Aus diesen Interpretationen der beiden Textstellen schloss W. Kranz: »Herakleitos zitiert und bekämpft den Pythagoras, Xenophanes und Hekataios, nicht den Parmenides; dieser aber zitiert und bekämpft den Herakleitos«. Diese Konstellation nennt er »die Ecksteine der Geschichte der Vorsokratiker.« 70 Diese chronologische Zuordnung steht jedoch auf schwachen Füßen. Hinsichtlich der Polemik des Parmenides hat K. Reinhardt überzeugend eingewandt, dass es den Charakter des Lehrgedichts sprengen würde, wenn Parmenides der Göttin einen polemischen Ausfall gegen einzelne Denker in den Mund gelegt hätte. Das Fr. 6 enthalte keine Polemik gegen eine »besondere Klasse von Querköpfen«, sondern beschreibe allgemein – so wie auch wir es angenommen haben – die Wissensart der »Sterblichen« 71 . Im zweiten Fall erwähnt Heraklit in seiner Polemik zwar den Parmenides tatsächlich nicht. Die Erklärung jedoch, weil er ihn nicht gekannt habe, ist vorschnell; denn wie hätte Heraklit Parmenides begründeterweise der »Vielwisserei« anklagen können, da dieser doch nur das Eine versichert hat, dass in Wahrheit nur Eines ist? 72 Weder die überlieferten Datierungen noch die angeführten Bernays 1850, 90–116. Zit. nach: Capelle 1968, 165. 71 Reinhardt 1959, 66: »Wenn von den Sterblichen, brotoi, die Rede ist, so muss vor allem daran erinnert werden, dass dies alles nicht Parmenides, sondern die Göttin spricht, und dass diese von den Sterblichen nicht anders redet als wie es die Götter im Epos eben zu tun pflegen: oion dh jeou@ brotoi aitiowntai.« 72 Hölscher 1968, 165: »Ich sehe, bei aller Differenz, keinen Grund, und nicht einmal die Möglichkeit, wie Heraklit über den strengen Denker des Seins in ähnlicher Weise sich hätte auslassen können wie über Xenophanes und die anderen. Tatsächlich musste ihm der Nachweis eines Seienden, der Gedanke der Einheit, die Antithese einer durch Logos zu erfassenden Wahrheit und einer menschlichen Welt der dokeonta im letzten sympathisch sein.« 69 70
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
133
Das griechische »Projekt Autonomie«
Textstellen belegen, Heraklit habe vor Parmenides philosophiert. Es besteht daher kein sachlicher Grund, nicht wieder zu der Chronologie zurückzukehren, die schon Platon im »Sophistes« (242) gegeben hat. Er beschreibt dort die Philosophie Heraklits und Empedokles’, der »ionischen und der sikelischen Musen«, als spätere Bemühungen, eine Antwort auf die eleatische Lehre vom Einen zu geben. 73 3.
Systematische Verortung
Heraklit ist nicht als Epistemologe, sondern als Naturphilosoph und Ontologe rezipiert worden. Er gilt zum einen als der Begründer der Lehre von der »Welt als ewig-lebendigem Feuer«, die auf die Ausbildung der stoischen Pneuma-Lehre und der christlich-hellenistischen Geist-Lehre gewirkt habe. Zum anderen sieht man in ihm den ontologischen Antipoden von Parmenides, der statt des unveränderlichen Seins das unaufhörliche Werden von allem gelehrt habe. In diesem Sinne zitiert ihn Platon: Heraklit habe gesagt, »dass Alles davon geht und nichts bleibt«, und habe alles Seiende einem strömenden Flusse verglichen 74 ; und Aristoteles schreibt, es sei die Lehre Heraklits, »dass alles sei und nicht sei« 75 . Für beide Klassifizierungen lassen sich Belege anführen. Heraklits Aussagen über das »Weltenfeuer« sind zahlreich und können als Elemente eines umfassenden kosmologischen Modells gedeutet werden. Gleichfalls sind genügend Zitate über den Wandel, das Fließen und die Relativität von allem überliefert, die Heraklit zum Vorläufer, ja Begründer der sophistischen ›Relativitätstheorie‹ machen können. Die Möglichkeit und der Sinn dieser Zuordnungen soll und kann nicht bezweifelt werden. Ich möchte jedoch die darüber hinausgehende Frage nach dem epistemologischen Status dieser naturphilosophischen und ontologischen Aussagen stellen: sind sie als doxai nach »Schwer begreiflich«, bemerkt dazu U. Hölscher, »wie leicht sich die Philosophiegeschichte über Platons Urteil hinwegsetzt. Es ist das authentischste, was wir über die Zeitfolge der beiden Philosophien haben, durch keinerlei Interesse des Autors verdächtig. Platon fasst sowohl Heraklits wie Empedokles’ Lehre als Antworten auf den Eleatismus auf …« (Hölscher 1968, 163) H.-G. Gadamer räumt ein: »Beider [U. Hölschers und Ch. H. Kahns] Ergebnis stärkt mich in der Überzeugung, dass Heraklit weit jünger ist als die sogenannten ›Eleaten‹ Xenophanes und Parmenides.« (Gadamer 2000, 12) 74 Platon, Kratylos 402 a. 75 Aristoteles, Metaphysik 1012a 20 ff.; siehe auch: 1005b 25, 1010a 10. 73
134
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
Art der ersten Philosophen oder als Ausdruck epistemologischer Reflexion zu verstehen? Befinden sie sich auf der Ebene jenes ›vor-kritischen‹ Wissens, auf der Grundsätze ›dogmatisch‹, ohne Reflexion auf ihre Begründbarkeit, aufgestellt wurden, oder befinden sie sich auf der Metaebene reflexiver Wissensbegründung, so dass in diesen Sätzen zugleich ein Wissen vom Wissen ausgedrückt ist? Einfach gefragt: Unterbieten Heraklits Aussagen die parmenideische Kritik oder wollen sie diese überbieten? Dieser Frage nach dem epistemologischen Status der Philosophie Heraklits möchte ich zunächst und vorgreifend anhand Heraklits Aussagen über das Vermögen der Sinne nachgehen. Denn ›vor Parmenides‹ und dessen Kritik an dem Gebrauch der Sinne als der Quelle der Widersprüche und »Ratlosigkeit« wäre eine Reflexion auf deren Vermögen unnötig; ›nach Parmenides‹ wäre eine unkritische Bezugnahme auf diesen Gebrauch ein Rückfall hinter die epistemologische Begründungspflicht. Die beiden diesbezüglichen Aussagen Heraklits lauten: Fr. 107: »Schlechte Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, die barbarische Seelen haben.« und Fr. 55: »Wovon Gesicht, Gehör und Erfahrung, dies ziehe ich vor.« 76 – Aus dem ersten Zitat hat Sextus Empiricus geschlossen, Heraklit verwerfe die Sinneswahrnehmung und mache die Vernunft zum Prüfstein der Wahrheit. 77 Demnach stimmte Heraklit hinsichtlich der Kritik der Sinneswahrnehmung mit Parmenides überein. Das zweite Zitat trifft jedoch die gegenteilige Aussage: das sinnlich Erfahrbare erhält – offenbar gegenüber dem Gedachten – den Vorzug; sie scheint Parmenides’ Aussage über den »Weg der Überzeugung« zu widersprechen. Auch wenn diese beiden Zitate einander auszuschließen scheinen – einmal die Kritik, einmal die Bevorzugung der Sinne –, so sind sie zunächst Belege für die Annahme, dass Heraklit sich gegenüber den Sinnen nicht, wie die ersten Philosophen, unkritisch verhält, sondern deren epistemische Funktion beurteilt 78 . Die Heraklitfragmente werden zitiert nach: Snell 1995. Sextus Empiricus, adversus Mathematicos, VII 126 f. (zit. nach: Kirk 1994, 205) 78 K. Reinhardt übersetzt das zweite Zitat: »›Was man sehen, hören, lernen kann, Symbol und Gleichnis ziehe ich abstrakter Logik vor‹. Das Fragment ist echt, Hippolytos bürgt für seine Echtheit; an seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung kann kein Zweifel sein.« Er stellt anschließend die Frage: »Aber wie konnte es einem Philosophen einfallen, die Sinne in Schutz zu nehmen, wenn niemand sie zuvor verdächtigt und verworfen hatte? Ja, wie konnte überhaupt die sinnliche Erkenntnis zum Problem werden, 76 77
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
135
Das griechische »Projekt Autonomie«
Suchen wir im zweiten Schritt nach einem kohärenten Sinn dieser scheinbar gegensätzlichen Aussagen. Das erste Zitat – und erst recht die Interpretation von Sextus Empiricus – legt nahe, Heraklit verwerfe die Sinneswahrnehmung und stimme darin mit Parmenides überein. Aber dies ist nicht die Aussage des Zitats. Parmenides hatte davor gewarnt hat, die Sinne zu gebrauchen und dem Weg der »vielerfahrenen Gewohnheit« zu folgen; Heraklit jedoch schränkt diese Kritik ein: Augen und Ohren seien schlechte Zeugen nur für solche Menschen, die barbarische Seelen haben. Daraus müssen wir folgern, dass die Kritik am Gebrauch der Sinne nicht für Menschen gilt, die keine barbarischen Seelen haben, dass für diese Menschen also Augen und Ohren keine schlechten Zeugen sind. Unterstellen wir nun, dass Heraklit sich selbst zu der Art von Menschen zählt, die keine barbarische Seele haben, so ergibt das zweite Zitat einen mit dem ersten kohärenten Sinn: »Ich (der keine barbarische Seele hat) ziehe Augen, Ohren und Erfahrung vor«. So verstanden, richtet sich die Kritik Heraklits nicht – wie die des Parmenides – gegen den Gebrauch der Sinne überhaupt, sondern nur gegen gewisse ›Seelen‹. Nicht das Auge und das Ohr, sondern eine bestimmte Beschaffenheit der Seele ist der Gegenstand seiner Kritik 79 . Heraklit verlagert damit das Problem der Wissensbegründung: nicht mehr die sinnliche Erfahrung als solche gilt als die Quelle des Nichtwissens, sondern dasjenige Subjekt, das von den Sinnen keinen rechten Gebrauch macht. Auch wenn wir mit dieser Erläuterung auf manches Folgende schon vorgegriffen haben, so macht diese Interpretation der beiden Zitate es schlicht unglaubhaft, Heraklit habe seine Aussagen über den epistemischen Status der Sinne ohne Kenntnis der Kritik an der sinnlichen Erfahrung getroffen. Wir gehen daher in unserer Rekonstruktion davon aus, dass die Aussagen Heraklits über das »Weltenfeuer« und das »Werden von allem« nicht als ›naturphilosophische‹ oder ›ontologische‹ Grundsätze, sondern als Elemente einer nachparmenideischen Wissensbegründung zu interpretieren sind, die die genannte Antinomie von Form und Inhalt auflöst. 80 Heraklit gilt uns mithin als Schöpfer eines Modells, das die Kluft zwischen den kontingenten etera der sinnlichen Erfahrung und dem konsistenten wenn nicht durch die Entdeckung einer übersinnlichen Erkenntnis?« (Reinhardt 1959, 213) 79 Siehe Kirk 1994, 205, Anm. 7. 80 In ähnlicher Weise auch H.-G. Gadamer, Heraklit-Studien. In: Gadamer 2000, 48.
136
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
auton des reinen Denkens überwindet und in dieser Funktion prägend für die Gestalt des »europäischen Denkens« wurde.
B.
Der »Satz vom Logos«
Der Satz, der die Epistemologie Heraklits prägnant formuliert, und den ich als den »Satz vom Logos« bezeichne, lautet: Fr. 50: »ouk emou, alla tou logou akousanta@ omologein soyon estin en panta einai.« (Nicht mich, sondern den Logos hörende stimmen überein: Wissen ist: Eines ist alles) Die Auszeichnung dieses Satzes als Grundsatz Heraklits mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen; er vereinigt jedoch in konziser Form die drei Elemente seines Wissensbegründungsmodells 81. 1. Der Teilsatz: »Wissen ist: Eines ist alles.« enthält die epistemologische Aussage über das Wissen. Wissen, so deuten wir ihn, besteht nicht als Differenz zwischen dem rein zu denkenden En der Unsterblichen und dem sinnlich erfahrenen panta der Sterblichen, sondern in der Vereinigung des konsistenten ›Seinswissens‹ mit dem kontingenten ›Erfahrungswissens‹. Wissen ist daher konsistentes Erfahrungswissen. – So gelesen, ist die Aussage dieses Teilsatzes sowohl gegen die Grundsätze der ersten Philosophen als auch gegen den »Satz vom Seienden« des Parmenides gerichtet. Gegen jene behauptet er, dass Wissen nicht im Inhalt besteht, sondern in der Form, die das gedachte ›Eine‹ und das sinnlich erfahrbare ›alles‹ verbindet. Trotzdem bleibt es misslich, aus der Menge der überlieferten Heraklit-Fragmente die Nr. 50 auszuwählen und sie zum Grundsatz zu erheben. Einiges mag die Entstehungsgeschichte der Nummerierung erklären: Das von Heraklit verfasste Werk ist nicht überliefert. Die von H. Diels gesammelten Zitate spätantiker Autoren scheinen allesamt Theophrasts Werk »yusikwn doxai« als Quelle verwendet zu haben, so dass Heraklits Werk nur auf diesem Weg fragmentarisch überliefert ist. Diels hat nun da, wo Kriterien fehlten, die Fragmente in der alphabetischen Reihenfolge der Autoren geordnet, wodurch inhaltlich verschiedene Aussagen zusammengestellt und ähnliche auseinandergerückt wurden. Dies erklärt zumindest, dass die Ordnungszahl nichts über den systematischen Platz im ursprünglichen Werk aussagt. – Siehe dazu: Capelle 1968, 16–23. Hinsichtlich Heraklits Werk lässt sich als philologisch gesichert annehmen, dass es mit Fr. 1 beginnt. Dieses Fragment besagt, dass den immerseienden Logos die Menschen nicht begreifen. Es dürfte aber auch als sicher gelten, dass dieses Zitat das Werk nur eröffnet, nicht aber schon das Prinzip formuliert. K. Reinhardt hat bemerkt, dass das Fr. 50 als einziges das Logos-Wissen inhaltlich bestimmt (Reinhardt 1959, 219); und auch W. Capelle beginnt seine Darstellung der »Metaphysik« Heraklits mit diesem Fragment (Capelle 1968, 131). 81
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
137
Das griechische »Projekt Autonomie«
Auf die Frage nach dem, was Wissen ist, lässt sich nicht antworten: die arch von allem ist Luft. Es bedarf – vor allem Inhalt – der Bestimmung dessen, was Wissen ist. Gegen Parmenides hingegen behauptet der Satz, dass sich das Wissen nicht im Satz: ›(nur) Seiendes ist‹ erschöpft – mag dessen ›Wahrheit‹ durch die Göttin noch so verbürgt sein –, sondern in einem Satz, der das ›gefesselt‹ Eine und das ›ungefesselt‹ alles vereinigt. Wissen auf die Konsistenz des Gedachtseins festzulegen, so lässt sich sagen, ist für eine epistemologische Bestimmung ›zu wenig‹ ; es muss beides, das Gedachte und das Erfahrbare, ›einschließen‹. 2. Der »Satz vom Logos« schreibt zweitens dem Logos eine gemeinschaftsbildende Kraft zu: »den Logos hörende stimmen überein«. Durch das Hören des Logos wird die Übereinstimmung im Wissen, dass Eines alles sei, bewirkt. Dieser Teil des Satzes bezeichnet den Ort des Wissens. Er ist ausdrücklich nicht die Inspiration des Sängers oder Dichters, aber auch nicht »Heraklit selbst«, der als ›kühner Denker‹ dies Wissen bewirkt, und gleichfalls nicht das parmenideische »Haus der Göttin«. Als der Ort des Wissens gilt vielmehr diejenige Gemeinschaft der Wissenden, die durch das Vernehmen des Logos in den Hörenden bewirkt wird 82 . 3. Schließlich führt der »Satz vom Logos« den epistemischen Grund für die Aussage über das Wissen an. Denn der Logos bewirkt nicht nur die Übereinstimmung der ihn Hörenden, sondern begründet auch, dass die Aussage, Eines sei alles, Wissen ist. Heraklit bezieht sich weder auf Vergangenes, wie der Mythos, noch auf die Göttin als »Herz der Wahrheit«, und schließt ausdrücklich sich selbst als Begründungsinstanz aus. Der Satz bezeichnet vielmehr »den Logos« als diejenige Instanz, die jene Aussage als gemeinschaftliches Wissen begründet und garantiert. Fassen wir zusammen, so bestimmt der »Satz vom Logos« erstens das Wissen als eine Einheit von Einem und allem; er erhebt zweitens die Gemeinschaft der Logos-Hörenden zum Repräsentanten dieser Art des Wissens; und er führt drittens den Logos als Begründungsinstanz für das Wissen der Wissenden an. – Diese drei Bestandteile des Satzes sollen der Reihe nach untersucht werden: zuerst der Grundsatz, der festlegt, was Wissen ist; dann die episteDas Wortspiel »tou logou akousanta@ omologein« lässt sich ins Deutsche nicht übertragen. Ich interpretiere den Ausdruck so, dass er eine ›Logos-Gleichheit‹ vieler als Wirkung des einen Logos aussagt.
82
138
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
mischen Funktionen, die Heraklit dem Logos als gemeinschaftsbildender Kraft zuschreibt; und schließlich die Bedeutung des Logos als wissensbegründender Instanz. Hierzu werde ich auf andere Zitate Heraklits zurückgreifen, die die jeweilige Aussage konkretisieren bzw. deren Sinn erläutern. 1.
Der epistemische Grundsatz: »Eines ist alles«
1. Der Satz vom Logos enthält den Satz: »Wissen ist: Eines ist alles«. Dieser Satz sagt zwar aus, was Wissen ist; er nennt aber keine Regel, wie Wissen ist. Der Satz lässt sich daher so deuten, als bestünde Wissen darin, alles auf das ›in Wahrheit‹ Eine zurückzuführen, und enthielte so die Anweisung, von allem nur das eine auszusagen, dass es Eins sei, en kai sunece@. Wir hätten uns damit jedoch nicht vom Standpunkt des Parmenides entfernt, für den das Wissen nur im tauton bestand. Umgekehrt kann man den Satz auch so verstehen, dass ›in Wahrheit‹ Eines alles sei, und er die Anleitung enthielte, vom Einen nicht bloß Eines, sondern alles auszusagen sei. Dieses Verständnis des Satzes führte dazu, Heraklit als den Begründer einer Sophistik aufzufassen, die damit auf die Auflösung von Wissen zielt. 83 Mit dem Satz beschreibt Heraklit jedoch, so nehmen wir an, einen ›dritten Weg‹ : Wissen besteht weder in der ›Fesselung‹ des Seienden und ›Vertreibung‹ des Nicht-Seienden noch in der ›EntFesselung‹ des Einen in alles, sondern in der Vereinigung des Einen mit allem. Wenn wir zur Erläuterung der gemeinten Art dieser Vereinigung das Fragment Nr. 10 84 hinzuziehen, können wir präzisieren: »ek pantwn en kai ex eno@ panta« (aus allem Eines und aus Einem alles). Nach dessen Aussage wird also die wissensbildende Vereinigung von Heraklit nicht als ›Negation‹ des einen im anderen, sondern – irgendwie – als ein wechselweises ›Übergehen‹ des Einen in alles und umgekehrt konzipiert. Fürs erste wollen wir daher festhalten, dass der Satz offenbar die Anweisung enthält, dass das Wissen in einer Art ›rückläufigen Übergehens‹ von Einem und allem besteht. Zu den sog. »Herakliteern« siehe: Kirk 1994, 202. Fr. 10: »Verbindungen: Ganze und nicht Ganze, Zusammentretendes – Außereinandertretendes, Zusammenstimmendes – Missstimmendes; aus allem Eines und aus Einem alles.«
83 84
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
139
Das griechische »Projekt Autonomie«
2. Es ist bemerkenswert, dass Heraklit – nach allem, was wir wissen – diesen Satz weder begründet noch erklärt. Er gibt keine Antwort auf die Frage, warum dem rein gedachten Begriff des Einen der disparate Begriff von »allem« folgt. Der Satz behauptet dies schlicht. Ebenso fehlen Erklärung, wie und wodurch aus Einem alles bzw. aus allem Eines entstehen kann. An diesen Fragen zeigt Heraklit kein Interesse. Nach unserer Interpretation unterlässt Heraklit dies mit Recht. Denn wenn der Satz: »Eines ist alles« als epistemischer Grundsatz gilt, dann kann er nicht seinerseits einer Begründung unterworfen sein oder als Antwort auf eine ihm vorausgesetzte Frage verstanden werden. Er legt vielmehr a priori fest, was überhaupt Wissen ist. Würde daher Heraklit die Frage der parmenideischen Göttin beantworten, welcher »Zwang« denn bestehe, vom ›Einen‹ zu ›allem‹ überzugehen, so ginge er von dem Grundsatz aus, dass (nur) Seiendes ist, nicht aber vom Satz, dass Eines alles ist. Er überwände so nicht die Antinomie zwischen dem Seins- und dem Erfahrungswissen. Würde man den Satz hingegen als Antwort auf die Frage nach der arch verstehen, so verfehlte man gleichfalls den epistemologischen Status des Satzes; denn er sagt nicht aus, was das Ur- ist, aus dem alles entsteht, sondern definiert, was Wissen ist. Nach unserer Interpretation ist Heraklit kein yusiko@, sondern ein Epistemologe 85. 3. Vergleichen wir diesen Satz abschließend mit Parmenides’ »Satz vom Seienden« und ziehen daraus einen ersten Schluss hinsichtlich Heraklits Wissensbegründungsprogramm. Parmenides hatte die epistemische Geltung des Satzes: »(nur) Seiendes ist« mit der Macht und Kraft des reinen Denkens verbunden, während jegliches Erfahrungswissen sich nur in doxai ausdrücke. ›Wahres Wissen‹ bestehe daher im Wissen des Einsseins des Seienden, unter Ausschluss alles Andersseins. Demgegenüber legt der Grundsatz Heraklits das Wissen auf den Einschluss alles Andersseins fest: Wissen besteht in der Vereinigung, näher: im wechselweisen Übergehen von Einem und allem. Er formuliert damit die Alternative zur Epistemologie des Parmenides: der ›Weg des Wissens‹ führt nicht abgetrennt und jenseits des ›Weges der Erfahrung‹, sondern führt geradewegs in sie hinein und aus ihr heraus. Wissen, so können wir als Ergebnis des Vergleichs festhalten, besteht für Heraklit in der – paradoxen – Ver-
85
140
Vgl. dazu: Reinhardt 1959, 206.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
einigung des autonom Gedachten der ›Unsterblichen‹ mit dem heteronom Erfahrenen der ›Sterblichen‹. 2.
Die drei Funktionen des Logos
Bevor wir uns den einzelnen Funktionen zuwenden, die Heraklit dem Logos zuschreibt, soll zunächst erläutert werden, in welchem Sinn wir den Ausdruck »o logo@« verwenden, und was unter den »epistemischen Funktionen« zu verstehen ist. Die Deutung des Ausdrucks »o logo@« ist für die Interpretation der Philosophie Heraklits von zentraler Bedeutung. Von ihr hängt ab, wie Heraklit historisch und systematisch beurteilt wird. Bezeichnet der Ausdruck die »göttliche Weltvernunft«, wie schon Sextus Empiricus (adversus Mathematicos, VII 126 ff.) ihn auslegte 86, den »Weltprozess« (Seidel 1987, 75) oder »den Sinn« – der Welt wie der Lehre (Snell 1926, 386, Anm. 1; auch: 1995, 19)? Bezeichnet er die Sprache, so dass Heraklit als der Entdecker der Sprachstrukturen als Bedingungen von Erkenntnis gelten könnte (Hoffmann 1925, 1 ff.)? Meint »o logo@« die Regeln, an denen das Denken sich orientieren müsse, und lässt sich demnach Heraklit als Begründer der Logik deuten (Reinhardt 1959, 219)? Bedeutet der Ausdruck die »vernünftige Rede« oder bezeichnet er schlicht das, was Heraklit sagt und schreibt, und könnte daher als »Rede Heraklits« übersetzt werden (Hölscher 1968, 130 ff.)? – Diese Unsicherheit über das von Heraklit Gemeinte ist zweifellos durch das Fragmentarische des überlieferten Textes und durch die Mehrdeutigkeit bedingt, mit der Heraklit den Ausdruck verwendet hat 87 . Ein Teil des Problems dürfte jedoch auch darin liegen, dass die Interpreten jeweils erkenntnistheoretische bzw. ontologische Differenzierungen wie »subjektiv-objektiv«, »Sprache-Rede«, »Logik-Denken« voraussetzen, die in dieser Form doch erst spätere Resultate sind und daher den Zugang zu der anfänglichen Bedeutung eher verstellen. Im Folgenden werden wir den Ausdruck rein epistemologisch Vgl. auch: Gadamer 2000, 44: »… in Wahrheit ist der Logos als Weltprinzip gedacht. Hegel ante diem.« 87 O. Gigon rechnet mit einer absichtlichen Mehrdeutigkeit des Ausdrucks, der einmal Wahrheit und Sinn des Alls, dann göttliches Gesetz, schließlich das göttliche Wesen bedeute. Siehe: Gigon 1945, 201 ff. 86
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
141
Das griechische »Projekt Autonomie«
deuten. Das heißt: wir fragen nicht, was der Ausdruck »o logo@« bedeutet, sondern welche Funktionen ihm innerhalb des »Satzes vom Logos« zukommen, welche Aufgaben also der Logos erfüllt, um den Satz: ›Wissen ist: Eines ist alles‹ als gemeinschaftlichen epistemischen Grundsatz zu begründen. Dabei werden wir den Ausdruck auf zwei verschiedene Weisen verwenden: zuerst soll er das Objekt bezeichnen, dem Heraklit, als Subjekt, die Funktionen zuspricht, durch die in den Hörenden ein gemeinschaftliches Wissen bewirkt wird. Diese Funktionen sind, so nehmen wir an, erstens das Gesetz, nach dem von ihnen alles als Eines gewusst wird, zweitens die »epistemische Kraft«, durch die das gemeinschaftliche Wissen bewirkt wird, sowie drittens der Zustand der »Erkenntnis«, in dem die LogosHörenden sich befinden. 88 Im Weiteren dann bezeichnet »o logo@« das Subjekt, das die von Heraklit entwickelte Logos-Theorie als Wissen begründet. Diese Verwendungsweise entspricht der Aussage im »Satz vom Logos«, dass diejenigen im Wissen übereinstimmen, die nicht auf ihn (Heraklit), sondern auf den Logos hören. a.
Die epistemische Regel: »Einheit Entgegengesetzter«
1. Betrachten wir zunächst die Zitate, die dem Logos die Funktion des Gesetzes zuschreiben, nach dem, wie es in Fr. 1 heißt, alles geschehe: »ginomenwn gar pantwn kata ton logon …«. Dabei soll unter dem Begriff des Gesetzes nur diejenige allgemeine Regel verstanden werden, nach der sich das Wissen bildet, dass Eines alles ist. Eine Gruppe von Zitaten lässt sich so deuten, als fasse Heraklit diese Regel als ein ›Fließen‹ auf. Fr. 49a: »In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.« Fr. 12: »Steigen wir hinein in die gleichen Ströme, fließt andres und andres Wasser herzu«. Demnach wäre die im Bild des Flusses ausgedrückte Aussage, dass Eines alles ist, weil alles fließt, Seiendes nicht-seiend und Nicht-Seiendes seiend wird, jedes zugleich ein Anderes ist. Wäre nun aber dieses Fließen tatsächlich die Regel, von der Heraklit sagt, dass nach ihr alles geschehe, so hätten die Recht, die behaupten, dass
88 Wir nehmen also an, dass die Ausdrücke: »o nomo@ tou jeiou« (Fr. 114), »o jeo@« (Fr. 67; 88; 102), »to en soyon« (Fr. 108) oder »o logo@ ode« (Fr. 1), keine Mehrzahl von Subjekten, sondern unterschiedliche Funktionen Eines Subjekts bezeichnen. – Wir folgen H.-G. Gadamer: »… sein Logos ist Einer.« (Gadamer 2000, 54)
142
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
nach Heraklit ein Wissen unmöglich sei 89 . Denn wenn das »alles fließt« die Regel wäre, dann wäre es nach ihr nicht möglich, dass alles Eines ist. Das »alles fließt« schließt das Einssein aus. 90 Heraklits Aussagen über das Fließen müssen daher einen anderen Sinn haben, als die Regel zu benennen, nach der alles geschieht. Es liegt deshalb nahe, sich auf andere Zitate zu beziehen. Eine Gruppe scheint diese Regel als einen »Kampf Entgegengesetzter« zu beschreiben. Fr. 53: »Krieg (polemo@) ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen, – die einen lässt er zu Sklaven werden, die anderen Freie.« Fr. 80: »Zu wissen aber tut not: Der Krieg führt zusammen, und Recht ist Streit, und alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit.« Nach dieser Regel des »Kampfs Entgegengesetzter« wäre alles in dem Sinne Eines, dass alles in seiner Entgegensetzung Eines wäre, es – wie Platon im »Sophistes« (242d) über die »ionischen Musen« schreibt – »sich immer sondernd mische«. Jedes wäre in dem, was es ist, nicht ohne das Entgegengesetzte, und so wäre in der Tat Kampf und Streit der ›Vater‹ aller Dinge. Diese Fassung der Regel hätte zwar die Struktur einer Regel – sie wäre das unveränderlich Eine Gesetz, nach dem alles geschieht –, aber sie erfüllt nicht die Funktion, den Satz: ›Eines ist alles‹ als epistemischen Grundsatz zu erklären. Denn wäre es so, dass alles nach diesem Gesetz als ein Kampf Entgegengesetzter geschieht, dann wäre für dieses Wissen nicht der Satz: ›Eines ist alles‹, sondern: ›Zwei ist alles‹ die angemessene Beschreibung. Diese Regel formuliert den ›Dualismus‹ als Prinzip, nicht aber den ›Monismus‹. Sie erfüllt daher nicht die Funktion, jenen Satz als epistemischen Grundsatz zu erklären 91 . Eine dritte Gruppe von Zitaten schließlich be- und umschreibt die epistemische Regel als »Einheit Entgegengesetzter«. Fr. 8: »Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem UnstimAristoteles, Metaphysik, 1078b 15: »… denn vom Fließenden existiert keine Wissenschaft.« 90 Aristoteles hat treffend auf den Selbstwiderspruch dieser Annahme hingewiesen: wäre alles im Flusse, dann müsste die Aussage: »alles fließt« auch ›fließen‹. Dies aber würde jedem Gespräch, wie er meint, die Grundlage nehmen. – Siehe Metaphysik 1062a 30 ff. Vgl. auch: Platon, Kratylos 440 a ff. 91 K. Reinhardt bemerkt dazu, dies sei die Lehre der Eleaten: »alles in der Welt ist Gegensatz; folglich ist diese Welt der Gegensätze falsch, und wahr ist nur das ewig unveränderliche On.« (Reinhardt 1959, 208) Demgegenüber behaupte Heraklit »die Coinzidenz (H. v. m.) des Seins und Nichtseins«; »es ist alles in der Welt tauton« (ebd., 210). 89
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
143
Das griechische »Projekt Autonomie«
migen schönste Harmonie.« Fr. 51: »Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: rückwendendes Maß wie bei Bogen und Leier.« 92 Nach dieser Fassung der Regel als »Einheit Entgegengesetzter« ist alles nicht nur entgegengesetzt, sondern ist aus seiner oder durch seine Entgegensetzung zugleich Eines. Nach ihr »fließt« weder alles noch ist alles »im Streit«, sondern ist alles in diesem Streit Eines. Erst diese Fassung der Regel, der gemäß alles widerstrebend sich vereinigt, erlaubt den Satz: ›Eines ist alles‹ als epistemischen Grundsatz zu erklären. Denn wenn diese »Einheit Entgegengesetzter«, to antixoun sumyeron, als die allgemeine und selbst unveränderliche Regel angenommen wird, nach der alles geschieht, dann erklärt sie zugleich, wie der Satz: »Wissen ist: Eines ist alles« als Grundsatz möglich ist. 2. Fragen wir noch nicht, ob nach dieser Regel überhaupt konsistente Aussagen gemacht werden können, sondern sehen zunächst auf den epistemischen Status, den sie in Heraklits Konzeption einnimmt, so können wir mit Sicherheit ausschließen, dass sie ein Gesetz der Erfahrung ist. Denn auf dem Weg der »vielerfahrenen Gewohnheit« kann eine solche Regel nicht gewonnen werden. Sie zeigt vielmehr, dass alles entsteht und vergeht. Sie ist aber sicher auch nicht das Gesetz des reinen Denkens, nach dem das Gedachte ein auton ist, das für Parmenides allein wahr ist. Heraklits Regel sagt weder aus, dass alles entsteht und vergeht, noch, dass nur Seiendes ist. Sie schließt weder das Seiendsein noch das Entstehen und Vergehen aus. Sie hat also weder den Status eines Erfahrungsgesetzes noch den des reinen Denkgesetzes. Angesichts dessen ließe sich nun annehmen, dass die Regel als »Einheit Entgegengesetzter« das sogenannte »Weltgesetz« beschreibt, so dass Aussagen, die nach dieser Regel gebildet werden, Wissen repräsentieren, weil sie mit diesem Gesetz übereinstimmen. Wir müssten dann aber Heraklit als einen »Mystiker« 93 deuten, dem über die Vermögen der sinnlichen Erfahrung und des kritisch-begrifflichen Denkens noch das Vermögen zukäme, ein solch inneres Weltgesetz zu schauen. Vgl. auch: »Es strebt wohl auch die Natur nach den Gegensätzen und wirkt aus ihnen den Einklang, nicht aus dem Gleichen. So führt sie das Männliche mit dem Weiblichen zusammen (und nicht etwa ein jedes zu seinesgleichen) und knüpft so den allerersten Bund durch die entgegengesetzten Naturen.« Der erudierte Satzaufbau weist jedoch daraufhin, dass dieser Text kein Originalzitat ist. – Siehe: Capelle 1968, 134. 93 So Reinhardt 1959, 256 f. 92
144
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
Da wir Heraklit jedoch als Epistemologen verstehen, erklären wir diese Regel nicht aus einer solchen Schau, sondern aus der epistemischen Funktion, die Heraklit dem »Logos« zuschreibt 94 . Als solche formuliert sie das Prinzip, nach welchem die empirische Kontingenzbedingung und die logische Konsistenzbedingung, die etera und das auton, zusammen als ein Erfahrungswissen möglich sind. Denn nach ihm ist weder alles ein unaufhörliches Entstehen und Vergehen, wie es die Erfahrung zeigt, noch ist Seiendes nur seiend wie im reinen Denken, sondern alles ist in seiner Entgegensetzung zugleich Ein Seiendes. Dieses Prinzip nennt damit die epistemologische Bedingung, unter der die Antinomie zwischen dem heteronomen Erfahrungswissen und dem autonomen Seinswissen überwunden ist, da unter ihr ein Wissen als Einheit von heteronomer Erfahrung und autonomem Denken möglich ist. Es ist das Gesetz, nach dem, gemäß dem »Satz vom Logos«, alles als Eines und Eines als alles gewusst wird. b.
Die epistemische Kraft
1. Heraklit erläutert das Prinzip anhand einer Reihe von Sätzen. Fr. 88: »Ein und dasselbe ist Lebendiges und Totes und Wachendes und Schlafendes und Junges und Altes«. Fr. 62: »Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich, – lebend einander ihren Tod, ihr Leben einander sterbend.« Fr. 58: »Gut und Übel ist eins.« Fr. 61: »Meerwasser ein sauberstes und abscheulichstes«. Fr. 60: »Der Weg hin und her ist derselbe.« Fr. 111: »Krankheit macht Gesundheit süß und gut, Hunger die Sattheit, Mühe die Ruhe.« – Sucht man in diesen Sätzen das Gemeinsame, so ist es ihre paradoxe Struktur: entgegengesetzte Erfahrungsbegriffe, ›Lebendiges-Totes‹, ›Gut-Übel‹, ›sauber-abscheulich‹, ›hin-her‹, werden in eins gesetzt. Demnach ist
Auffassungen, das Prinzip der Einheit der Gegensätze künde vom Tiefsinn des Philosophen oder einer religiösen Betroffenheit, verzichten auf Erklärung. Wir sehen in Heraklit ein Arbeiter am griechischen »Projekt Autonomie«, das mit Thales begann und von Parmenides weitergeführt wurde. Kontrahenten Heraklits sind daher auch nicht wahllos andere, sondern die, die das Projekt gefährden: die Sänger Homer, Hesiod, Archilochos und Xenophanes, der Zahlenspekulant Pythagoras und der Geschichtenerzähler Hekataios. Sie gefährden durch ihre anmaßende Vielwisserei das Vorhaben, Wissen auf das Eine zu gründen. Es fällt deshalb auch kein polemisches Wort gegen die Mileter oder Parmenides.
94
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
145
Das griechische »Projekt Autonomie«
offenbar die Paradoxie die Satzstruktur, in der nach Heraklit dem epistemischen Grundsatz gemäß Wissen hergestellt wird 95 . Die Paradoxie ist als Eigenart der Philosophie Heraklits oft beschrieben worden. Aber der epistemologische Kontext, in dem sie rekonstruierbar wird, blieb vergessen. Schon Platon zeigt für diesen Zusammenhang kein Interesse mehr: dass entgegengesetztes zugleich mit sich übereinstimmt, ist für ihn keine begründbare Aussage mehr, sondern ein »völliger Widersinn« (Symposion 187a). Aristoteles nennt es die Behauptung Heraklits, entgegengesetzte Aussagen seien in Hinblick auf dasselbe wahr, und kommentiert, dieser sei sich wohl nicht recht bewusst gewesen, was er sage (Metaphysik 1062a 30). Je nach Standpunkt erscheinen Heraklits Paradoxien als Reden eines »Trunkenen«, »rätselhaft«, »tief« oder »dunkel«. Sie dienen als Kontrast zur Auszeichnung sinnvoller Sätze oder gelten als Ausdruck einer tiefen Religiosität dieses Denkers. Erst Hegel hat für sie wieder ein philosophisches Verständnis eröffnet; aber er interpretiert sie im Rahmen seiner Philosophie als spekulative Sätze: sie drückten das Werden des Absoluten aus, das sich sein Entgegengesetztes setzt. 96 Die Ursache der Verständnislosigkeit sehen wir in der Ausblendung des epistemologischen Zusammenhangs, in dem die Paradoxien stehen. Während Heraklit ringt, die heteronome Erfahrung überhaupt der epistemischen Herrschaft des rein gedachten unveränderlich Einen zu unterwerfen, setzen die Nachfolgenden diese Herrschaft schon als fraglos voraus. Ob unter dem Namen des »Guten«, »Gottes« oder der »Vernunft« – in jedem Fall gilt Eines als das Prinzip, das alles beherrscht. Unter dieser Voraussetzung aber müssen Heraklits Paradoxien in der Tat als unverständlich erscheinen. Dass dem Einen Gegensätzliches zugleich zukomme bzw. einander Entgegengesetztes mit sich übereinstimme, dies kann nur noch als ein unverständliches Gerede rezipiert werden 97 . Insofern verstehen wir Vgl. dazu Hölscher 1968, 136 ff. Hegel anerkennt die Paradoxien Heraklits, weil er ihn ›tauft‹. Er unterstellt, dass für Heraklit der Logos Ursache und Prinzip der Bewegung sei. »Dies Eine ist nicht das Abstrakte, sondern die Tätigkeit, sich zu dirimieren (H. v. m.); das tote Unendliche ist eine schlechte Abstraktion gegen diese Tiefe, die wir bei Heraklit sehen … Dass Gott die Welt geschaffen, sich selbst dirimiert, seinen Sohn erzeugt hat u. s. f., – alles dies Konkrete ist in dieser Bestimmung enthalten.« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 326) 97 Dieser Erklärung entspricht, dass eine positive Rezeption der Paradoxien Heraklits erst erfolgte, als die »Entwicklung« oder der »Fortschritt« zum Paradigma erhoben und 95 96
146
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
unsere epistemologische Rekonstruktion der Paradoxien Heraklits auch als eine ›Archäologie‹ dieser Art des Wissens. 2. Um die Paradoxie der zitierten Sätze erklären zu können, wollen wir zunächst auf die zweite Funktion des Logos, die »epistemische Kraft«, eingehen. Sie bewirkt, nach dem »Satz vom Logos«, die Übereinstimmung im Wissen, dass alles Eines ist. Diese Kraft hatte Parmenides als Dikh, die »gerechte Gewalt«, vorgestellt, die dem Seienden das Gesetz der Identität aufzwingt; der Logos Heraklits hingegen zwingt dem, was ist, ein anderes, sein Gesetz auf, die »Einheit Entgegengesetzter«. Die Kraft des Logos besteht daher nicht in der Vertreibung des Andersseins, sondern in der Unterwerfung von allem, was ist, unter sein Gesetz und damit im Einschluss des Andersseins unter dessen Herrschaft. Hier konstituiert sich also das »Reich des Wissens« nicht jenseits der Erfahrung im reinen Denken, sondern in derjenigen Erfahrung, der der Logos sein Gesetz aufzwingt. – Nach dieser Erklärung der epistemischen Kraft sind also die Paradoxien, die Vereinigungen Entgegengesetzter, nicht nur Eigentümlichkeiten Heraklits; sie sind vielmehr Ausdruck der Gewalt, mit der der Logos das Veränderliche der sinnlichen Erfahrung unter seine Herrschaft, die Herrschaft des Einen, zwingt. Für diese Art des Logos-Wissen ist weder die doxa noch das axiwma, sondern das paradoxon, die Ineinssetzung Entgegengesetzter, die angemessene Darstellungsform. Statt dieser Erklärung der Paradoxien nun im Allgemeinen nachzugehen, wollen wir ein Heraklit-Zitat interpretieren, das den Zusammenhang zwischen den Paradoxa als Darstellungsform des Wissens vom »All-Einen« und der epistemischen Kraft des Logos veranschaulicht. – Fr. 94 überliefert den merkwürdigen Satz: »Die Sonne wird die Maße nicht überschreiten; wenn aber doch, werden die Erinnyen, der Dike Schergen, sie erwischen.« In diesem Fragment macht der erste Satz keine Schwierigkeit. Er drückt die geläufige, auf Erfahrung gegründete Vorstellung vom regelmäßigen Aufgang und Untergang der Sonne aus 98. Diese Darstellung des Phänomens lässt der »Antagonismus« als deren Mittel formuliert wurde. Auf dieser Grundlage wurden die Paradoxien als bildhafte Ausdrücke einer dialektischen Logik interpretierbar. Es ist jedoch evident, dass für Heraklit selbst eine solche »Logik der Entwicklung« weder das Problem noch das Thema war. 98 Heraklit erklärt dieses Phänomen allerdings nicht durch den Kreislauf der Sonne um die Erde (oder deren Rotation), sondern durch die tägliche Neugeburt und den täglichen Tod der Sonne. – Vgl. Fr. 6; auch: Diogenes Laertius 1998, IX 9–11. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
147
Das griechische »Projekt Autonomie«
sich auch zwanglos unter die Regel der »Einheit Entgegengesetzter« bringen: im regelmäßigen Wechsel des Entstehens und Vergehens bleibt die Sonne selbst das unveränderlich Eine. Heraklits Aussage, dass die Sonne ihre Maße nicht überschreitet, entspricht so nicht nur der Erfahrung, sondern auch seiner aufgestellten Regel. Wie aber kommt Heraklit zur Annahme, die Sonne könne die Maße überschreiten und werde dafür verfolgt? Um diese Aussage zu verstehen, genügt es offenbar nicht, nur Heraklits Darstellung des Phänomens nachzugehen. Sie gewinnt nur Sinn, wenn sie auf einer Ebene interpretiert wird, auf der es nicht um die Darstellung, sondern um die Kritik und Begründung von Wissen geht. Auf dieser Ebene lässt sich der zweite Satz des Fragments als Beschreibung eines Konflikts zweier Subjekte interpretieren: Wenn Heraklit annimmt, die Sonne könne die Maße überschreiten, dann setzt er offenbar voraus, die Sonne sei selbst ein mächtiges Subjekt oder das sichtbare Zeichen eines solchen. Hlio@, als selbstmächtiges Subjekt, vermag es, den Maßen zu widerstreben und sie zu überschreiten. Wenn Heraklit nun im Fall der Überschreitung mit der Verfolgung durch Dikes Schergen droht, so setzt diese Drohung zum einen den Widerstreit zweier Subjekte voraus: Dikh, die der Sonne die Maße setzt, und Hlio@, der aus eigener Macht das gesetzte Maß zu überschreiten vermag. Zum anderen impliziert die Drohung eine Rangordnung beider Subjekte: das Subjekt der Verfolgung ist Dikh, die Göttin des Rechts, die die Überschreitung der Maße als »Unrecht« qualifiziert, und die Erinnyen als deren ›Polizei‹, die qua Verfolgung die Herrschaft des maßgebenden Subjekts (wieder)herstellen. Hlio@ hingegen ist der Adressat der Drohung: er wird zum unrechtmäßigen Subjekt und zum rechtmäßig unterworfenen Objekt erklärt, dessen Lauf nicht aus eigener Macht geschieht, sondern den gesetzten Maßen zu genügen hat. Fassen wir diese im zweiten Satz formulierte Folge von Überschreitung und Verfolgung zusammen, so können wir sagen: aus dem Konflikt beider Subjekte geht – qua Sanktionsandrohung – unter der Herrschaft des einen Maß und Harmonie hervor. Der in diesem Zitat dargestellte Konflikt zwischen Hlio@ und Dikh lässt sich sinnvoll nur als Beschreibung des epistemologischen Kampfes um die Entmythologisierung und die Logifizierung des Erfahrungswissens deuten. Der die Maße überschreitende Hlio@ repräsentiert das mythische Wissen, das im Auf- und Untergang der Sonne die Wirkung einer eigenen Macht erkennt. Aus dem Wissen um 148
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
diese Eigenmacht resultierte die Furcht, die Sonne könne sterben oder verschwinden, ohne Wiedergeburt und Neuentzündung, oder könne nicht verlöschend alles verbrennen und vertrocknen; eine Furcht, die durch Rituale der Sonnenverehrung gebannt wurde. Dieser Wissensart sagt Heraklit den Kampf an: das mythische soll durch die Art eines gemeinschaftlichen Erfahrungswissens ersetzt werden, in dem alles der Herrschaft des einen Subjekts als der allein und zu Recht maßgebenden Instanz untergeordnet ist. Was widerstrebt, wird der Verfolgung ausgesetzt. 99 – Auch wenn Heraklit im Zitat die rechtmäßige Vollzugsgewalt die »Erinnyen« nennt, so fasst er sie doch nicht mythisch als selbständige Handlungssubjekte auf, sondern als Bild für die unwiderstehliche Wirkungsmacht, die er dem maßgebenden Einen zuschreibt. Hatte Parmenides die Welt der Erfahrung noch der Heteronomie wegen aus dem »Reich des Wissens« verbannt, geht es Heraklit jetzt um die ›Umwandlung‹ des mythischen in logisches Erfahrungswissen, um den Sieg des Einen, allein und allem maßgebenden Subjekts über die heteronomen Mächte. Aus diesem Kampf aber gehe jenes als »Freier«, diese als »Sklave« hervor; während jenes die Maße setzt, geben diese den bloß sinnlichen ›Stoff‹ 100 . 3. Lesen wir Heraklits Paradoxien auf dem Hintergrund dieses Kampfes, so verdeutlicht er, in welchem Sinn sie Entgegengesetztes vereinigen. Sie setzen nicht, wie Aristoteles annimmt, ein Eines voraus, von dem dann Entgegengesetztes ausgesagt wird. Das Wesentliche dieser Paradoxien ist aber auch nicht, dass Entgegengesetztes ineinander umschlägt. Es liegt vielmehr darin, dass im haltlosen Umschlagen Entgegengesetzter ineinander sich zugleich die Kraft des Logos zeigt, die alles unter die Herrschaft des einen Gesetzes zwingt; dass dem Widerstrebenden ›in Wahrheit‹ kein Eigensein zukommt, sondern alles nur unter dem einen Gesetz geschieht. Daher lässt sich Diese epistemologische Dimension des Konflikts verdeutlicht Fr. 28: »Dike wird die Schmiede und Zeugen der Lügen fassen.« 100 Das Zitat zeigt Heraklit an der Nahtstelle zwischen mythischem und logischem Erfahrungswissen. Was er noch als Konflikt zwischen dem mythischen Wissen der Sonne als Eigenmacht und dem logischen Wissen als selbstlosem Objekt beschreibt, hat die Philosophie rasch verdrängt und vergessen. Für Anaxagoras schon und für Leukipp und Demokrit ist es ausgemacht, dass die Sonne nichts als ein »glühender Brocken« ist, der selbstlos von der Macht der Notwendigkeit getrieben wird; für Platon und Aristoteles ist sie ein »göttlicher Weltkörper«, der gleich den anderen Gestirnen selbstlos-selig seine Kreisbahn ewig durchläuft. Die Vorstellung von der Sonne als Eigenmacht erscheint rasch nur noch als ein Märchen aus alter Zeit. 99
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
149
Das griechische »Projekt Autonomie«
die Struktur dieser Paradoxien nicht so beschreiben, als begönne Heraklit mit dem Einen, dem auton, von dem dann Entgegengesetztes ausgesagt würde. Er beginnt vielmehr mit etera, mit Erfahrungsbegriffen, dem Sterblichen, dem Lebenden, dem Kranksein; diese werden aber nur dann in die Form des Wissens gebracht, wenn sie nicht – mythisch – in ihrem ›Eigensein‹ erkannt werden, sondern wenn sich in ihrem haltlosen Umschlagen ins Entgegengesetzte zugleich das Eine als das Unveränderliche, allein Maßgebende und Mächtige zeigt, wenn also in diesem Umschlagen die Begriffe der Erfahrung dem rein gedachten Einen untergeordnet sind. Für diese Art des Einesseins Entgegengesetzter aber ist die Paradoxie die angemessene Darstellungsform. 101 Diese Kraft, die in allem dieses Einessein bewirkt, können wir nun im Allgemeinen mit Heraklit als »das Göttliche« (to jeion) bezeichnen, von dem das Fr. 114 sagt: »… denn das herrscht so weit es will und reicht hin im All und setzt sich durch.« Die so begründete Art des Erfahrungswissens besteht daher sowohl ›nach dem Logos‹ (kata ton logon) als auch ›kraft des Logos‹ (dia ton logon). Diese Kraft bewirkt, dass dem »Satz vom Logos« gemäß ein gemeinschaftliches, auf das Eine gegründetes Wissen entsteht. c.
Die Erkenntnis
Schließlich spricht Heraklit dem Logos die Funktion der Erkenntnis (h gnwmh) zu. Es fällt allerdings schwer, aus den überlieferten Fragmenten einen bestimmteren Begriff dieser Erkenntnis zu gewinnen. Denn dass, wie es in Fr. 78 heißt, die Erkenntnis nicht menschlicher, sondern göttlicher Art ist, sagt nicht aus, was sie ist. Und Fr. 41 sagt zwar aus, was Erkenntnis ist; aber es ist so vieldeutig 102 , dass sich 101 Diese paradoxe Satzstruktur macht die Figur des Kreises anschaulich: Auf der Ebene des Gedachten ist der Kreis das unbeweglich Eine, das weder Anfang noch Ende hat. Von diesem unbeweglich Einen sagt Parmenides (Fr. 8, 3), es sei eine »wohlgerundete Kugel« (eukuklo@ syaira). Auf der Ebene der Erfahrung hingegen ist der Kreis die Gestalt einer Bewegungsart, die sowohl Anfang als auch Ende hat, aber so, dass der Fortgang vom Anfang zugleich Rückkehr ist. Von ihm sagt Heraklit in Fr. 103: »Gemeinsam ist Anfang und Ende auf dem Umfang des Kreises.« Nach unserer Deutung ist nun aber dieser rückläufige Fortgang nicht die ursprüngliche Bewegungsform; er ist vielmehr die Wirkung der »Kraft des Logos«, die dem Bewegenden die ›Form‹ des Einen gewaltsam einbildet. Erst ›nach‹ diesem Akt der Ein-bildung lässt sich sagen, dass die Kreisbewegung das Eine ab-bilde. 102 Fr. 41: »Einai gar en to soyon, epistasjai gnwmhn, oteh ekubernhse panta dia
150
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
daraus kaum ein klares Verständnis gewinnen lässt. Um daher dieser Funktion des Logos näherzukommen, wählen wir den Vergleich. Da Heraklits Aussagen über das menschliche Erkennen nachvollziehpantwn.« Dieses Fragment ist durch Diogenes Laertius (IX, § 1) überliefert. Es ist oft so übersetzt worden: Eines ist weise (oder: das Weise), die Einsicht zu erkennen, die alles durch alles lenkt. (vgl. Diogenes Laertius 1998, Bd. 2, 159; Capelle 1968, 139). Diese Übersetzung stimmt mit der stoischen Auffassung überein, wonach es dem Weisen zukomme, in allem die alles lenkende Weltvernunft zu erkennen. Ist dies aber auch die Aussage des Fragments? Gegen diese Deutung von »en to soyon« hat K. Reinhardt eingewandt, dass Diogenes Laertius offenbar zwei verschiedene Heraklit-Zitate zusammengestellt habe: dasjenige Zitat, das gegen die Vielwisserei Hesiods, Pythagoras’ u. a. polemisiert (Fr. 40), und obiges Zitat. Würde man das Zitat jedoch aus diesem Kontext lösen und es mit Fr. 32 korrelieren, das vom »en to soyon« aussagt, es wolle und wolle nicht ›Zeus‹ genannt werden, und – so wollen wir hinzufügen – mit Fr. 108, das von ihm aussagt, es sei das von allem Abgesonderte, so ließe sich »en to soyon« nicht durch »Eines ist weise« übersetzen, sondern müsse durch »das Eine, das All-Weise« übersetzt werden. In diesem Fall aber, so Reinhardt, könne das folgende »epistasjai gnwmhn« nicht heißen: »die Einsicht erkennen«, sondern: »die Erkenntnis besitzen«, so dass seine Übersetzung lautet: »Wahre Einsicht hat allein das Eine, das Allweise, als die da ist: alles durch alles zu regieren« (Reinhardt 1959, 200, Anm. 1). Akzeptiert man die Interpretation, »to soyon« nicht prädikativ, sondern substantivisch als das Eine Subjekt zu verstehen, dem das »Erkenntnis besitzen« prädiziert wird, so ergibt sich als weiteres Problem, wie der Nebensatz: oteh ekubernhse panta dia pantwn zu verstehen ist. G. S. Kirk et al. führen insgesamt sechs Textversionen an (Kirk 1994, 221, Anm. 22): oteh kubernhsai, ot’ egkubernhsai, oteh ekubernhse, oph kubernatai, oteh kubernatai, okh kubernatai. Während die einen Versionen den Nebensatz mit dem Relativpronomen »die« oder »welche« (oteh) beginnen lassen, das sich auf »gnwmh« bezieht, und folglich das Verb des Nebensatzes aktivisch deuten, lassen die anderen den Nebensatz mit der Konjunktion »wie« oder »dass« (oti, okh, oph) beginnen und deuten das Verb passivisch. Das eine Mal also: »…, welche alles durch alles regiert«; das andere Mal: »…, wie/dass alles durch alles regiert wird.« Im einen Fall ist die Erkenntnis das, was regiert; im anderen Falle ist sie das, was die Art des Regiertwerdens erkennt. Von jener Deutung können wir sagen, dass hier die Erkenntnis (gnwmh) mit dem zusammenfällt, was wir als die »epistemische Kraft« des Logos rekonstruiert haben; sie ist das, was alles regiert. Nach der zweiten Deutung wird sie jedoch als eine andere Eigenschaft aufgefasst, nämlich als die, die dies Regiertwerden erkennt. Wenn nun das »en to soyon«, womit das Zitat beginnt, nicht das »Weise-Sein« bedeutet, sondern das »Allweise«, von dem Heraklit auch sagt, es sei das von allem Abgetrennte, dann fällt es schwer zu verstehen, wie dies Abgetrennte zugleich doch alles regieren soll; leichter jedoch, dass es das Regiertwerden erkennt. Uns erscheint es daher sinnvoller, die Erkenntnis (gnwmh) als eine andere, vom Regieren (ekubernhse) verschiedene Eigenschaft zu rekonstruieren, um erst dann zu fragen, wie beide in Heraklits Gesamtkonzept ›zusammenhängen‹. Wir übersetzen Fr. 41 also: »Denn es ist das Eine Wissende, das die Erkenntnis besitzt, wie alles durch alles regiert wird.« A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
151
Das griechische »Projekt Autonomie«
barer sind, versuchen wir auf diesem indirekten Weg zu klären, was jene »göttliche Erkenntnis« ist, und welche Rolle ihr im epistemologischen Kontext zukommt. 1. Fragen wir, wann Menschen erkennen, so antwortet Heraklit: im Zustand des Wachseins. Fr. 89: »Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt (ena kai koinon kosmon); im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.« Demnach erklärte Heraklit den epistemischen Zustand der Erkenntnis durch den psychischen Zustand des Wachseins. Was aber kann »Wachsein« bedeuten, wenn der psychische Zustand nicht zirkulär durch den epistemischen erklärt wird, und Heraklit damit offenbar auch nicht den alltäglichen Wachzustand meint 103 ? Da Heraklit nun diejenigen als »unwissend« (axunetoi) bezeichnet, die erfahrend unerfahren sind (Fr. 1), die hörend taub und anwesend abwesend sind (Fr. 34) 104 , lässt sich schließen, dass ihm umgekehrt derjenige »wissend« ist, der erfahrend erfährt, hörend hört und anwesend anwesend ist. Zur Kennzeichnung dieses Zustands einer anwesenden Anwesenheit erscheint mir nun der Ausdruck der »Gegenwärtigkeit« als angemessen. Denn er bezeichnet anderes als das bloße Wachsein, nämlich einen Zustand, worin Wachsein und Wissen, der psychische und epistemische Zustand, ›zusammenfallen‹. Diesen Zustand der Gegenwärtigkeit verstehen wir nun als den der Erkenntnis. Während Parmenides noch, wie gesehen, diese Gegenwärtigkeit nur auf das reine Denken bezogen hat, dem (auch) abwesendes anwesend ist, bezieht sie Heraklit, seinem Grundsatz gemäß, auf das Haben der einen und gemeinsamen Welt. Erkenntnis besteht für ihn also darin, dass in allem, was erfahren wird, zugleich das Eine als das allem Gemeinsame gegenwärtig ist. Heraklit formuliert damit eine Theorie der Erkenntnis, die sie auf den Begriff des Gemeinsamen, des xun-on, festlegt, in dem das All der Erfahrung und das Eine des reinen Denkens nicht getrennt, sondern als Ein Kosmos miteinander ›verbunden‹ sind. 105 103 Denn sonst könnte Heraklit nicht sagen (Fr. 1), den Menschen bleibe verborgen, was sie wachend tun, wie sie im Schlaf es vergessen. 104 Vgl. Fr. 19: »Die zu hören nicht verstehen noch zu sprechen.« Die Aussage des Zitats kann nicht sein, dass sie taub und stumm sind, sondern dass sie zwar hören und reden, aber dies nicht verstehen. Sie vergegenwärtigen nicht ihr Hören und Reden; sie werden vom Gehörten und Geredeten besessen, statt es zu besitzen. 105 Vgl. auch Gadamer 2000, 56: »Es ist gerade nicht Unterscheiden, sondern in allem Unterschiedenen das Eine gewahren: Das ist die heraklitische Botschaft. Was die ande-
152
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
2. Nun stellt sich unserem Vorgehen jedoch das Problem, dass wir diesen Begriff der Erkenntnis aus Zitaten über das menschliche Erkennen gewonnen haben, dass für Heraklit jedoch die Erkenntnis nicht von menschlicher, sondern allein göttlicher Art ist. Daher gelte selbst für den wachesten Menschen, dass er nicht das allem Gemeinsame erkennt, sondern im eigenen Meinen befangen bleibt (Fr. 28), und dass er im Vergleich mit Gott wie ein Affe (Fr. 83) bzw. wie ein Kind erscheint (Fr. 79). Wir haben folglich den Erkenntnisbegriff anhand der menschlichen Erkenntnisart zu klären versucht, von der Heraklit jedoch annimmt, sie sei keine wahre Erkenntnis. Diesem Problem begegnen wir nun mit der Annahme, dass jener Zustand der Gegenwärtigkeit in der Tat nur dem Göttlichen zukommt. In Fr. 41 nennt Heraklit es »das Eine, das weiß« (en to soyon). Dieses Eine besitzt die Gegenwärtigkeit, die in allem zugleich das Eine als das Gemeinsame erkennt, und die der Mensch nicht besitzt. Für das Eine gilt also, dass ihm die Differenz zwischen einem »Wachsein«, dem alles ein gemeinsamer Kosmos ist, und dem Zustand, in dem selbst der wissendste Mensch im eigenen Meinen verbleibt, fehlt, dem also in der Tat alles als ein gemeinsamer Kosmos gegenwärtig ist. Diesem Einen ist daher alles, wie es in Fr. 102 heißt, schön, gut und gerecht; während die Menschen trennen und das eine als unrecht, das andere als recht annehmen. Nun macht diese Zuordnung der Erkenntnis zum Göttlichen freilich nur Sinn, wenn sie zu erklären vermag, wie auch dem Menschen ein solcher Zustand der Gegenwärtigkeit möglich ist. Denn wie sonst könnte der »Satz vom Logos« aussagen, dass die Menschen im Hören des Logos zum gemeinschaftlichen Wissen gelangen; und wie sonst könnte Heraklit sagen, was Wissen ist und wie jedes sich verhält? Wenngleich es nach Heraklit nicht die menschliche Art ist, das Gemeinsame zu erkennen, so muss die menschliche Seele offenbar doch ein Vermögen besitzen, sich dem Zustand solch göttlicher Gegenwärtigkeit anzunähern. Denn nur unter dieser Bedingung lässt sich sagen, dass das Logos-Hören ein gemeinschaftliches Wissen bewirkt.
ren für verschieden halten, wie Hesiod Tag und Nacht, ist in Tat und Wahrheit eins und dasselbe. Die heraklitische Lehre wird ständig in dieser Weise formuliert: en to soyon. Ich halte das für den eigentlichen und ursprünglichen Satz, der von Heraklit in seinem Buche anscheinend mehrfach wiederholt wird.« A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
153
Das griechische »Projekt Autonomie«
Nach dem uns Überlieferten hat Heraklit dies nicht näher ausgeführt. Der »Satz vom Logos« nennt das Hören des Logos als die Bedingung gemeinschaftlichen Wissens; die Fragmente 2 und 114 postulieren die Notwendigkeit, dem gemeinsamen Logos zu folgen bzw. sich auf das Gemeinsame von allem zu stützen, und Fr.112 sagt aus, dass diese Erkenntnisart die höchste Tugend sei. Wie jedoch das Hören des Logos als ein Vorgang der Seele zu verstehen ist, die sich von der menschlichen Art des eigenen Meinens ab- und der göttlichen Art der Gegenwärtigkeit der einen gemeinsamen Welt zuwendet, und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Menschen dem gemeinsamen Logos folgen können, lässt Heraklit ungeklärt 106 . Er scheint ein solches Vermögen der menschlichen Seele nur behauptet 107 und ihren Gebrauch nur postuliert zu haben. Er benennt das Problem, nicht die Lösung. Doch er hat mit diesem Problem, wie denn das Logos-Wissen in der menschlichen Seele überhaupt aktualisierbar ist, das Gebiet einer neuen, epistemologisch begründeten Anthropologie und Seelenlehre vorgezeichnet 108 . Die Bilder vom Aufstieg, der Teilhabe oder des göttlichen Funkens, die das Verhältnis der menschlichen Seele zur göttlichen Erkenntnis zu fassen suchen, sind jedenfalls späteren Datums.
C. Der »Logos selbst« Wir sind vom »Satz vom Logos« ausgegangen, der nicht nur den epistemischen Grundsatz formuliert, dass alles Eines ist, sondern 106 Es sei denn, man hält die Theorie der Einatmung (anapnoh) des göttlichen Logos, die Sextus Empiricus (adversus Mathematicos VII, 129) gibt, als erklärungskräftig. Siehe: Kirk 1994, 225 f.; Capelle 1968, 149, Anm. 2. 107 So, wenn Heraklit sagt: Fr. 116: »Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.« 108 Im Kontext einer solchen Seelenlehre steht wohl die eingangs zitierte Unterscheidung zwischen den »Barbarenseelen« (vucai barbarai) und den »griechischen« (?) Seelen. Diese können jedenfalls weder nur als parmenideische brotoi aufgefasst werden, die von der Macht der »vielerfahrenen Gewohnheit« getrieben sind, noch nur als die ›schlafenden‹ Wesen, die Heraklit beschreibt. Denn unter diesen Bedingungen wäre ein Wissen, wie es Heraklit aufstellt, für Menschen nicht möglich. Heraklits LogosEpistemologie erfordert eine neue Anthropologie, die Menschen oder einige als Wesen beschreibt, die ›irgendwie‹ an der göttlichen Erkenntnisart teilzuhaben vermögen. – Zur Genesis der »universalistischen Sprachfigur« des Hellenen, der dem Logos folgt, und dem Barbaren, der vernunft- und daher gesetzlos ist, siehe: Eichler 1992, 859–869.
154
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
auch die Theorie eines gemeinschaftlichen Logos-Wissens impliziert. Diese haben wir anhand der drei Funktionen rekonstruiert: dem Gesetz der »Einheit Entgegengesetzter«, nach dem alles als Eines, der Kraft, durch die alles als Eines, und der Erkenntnis als Art, wie alles als Eines gewusst wird. Was aber ist der Logos selbst? Und wie hängen die drei Funktionen mit ihm zusammen? Hatte Parmenides die Einheit noch in Gestalt der Göttin vorgestellt, die als Dikh das Gesetz gibt und das Seiende bindet und als Qea das »Herz der Wahrheit« mitteilt, fehlt bei Heraklit ein solches Bild. Er benennt das Eine nur mit den Namen »o logo@« (Fr. 1), »en to soyon« (Fr. 41) oder »en to jeion« (Fr. 114), und sagt von ihm doch, es wolle nicht und wolle »Zeus« genannt werden (Fr. 32). – Dieses Fehlen von Aussagen über das Eine selbst soll nun weder als konzeptioneller oder begrifflicher Mangel noch als Ausdruck des religiösen Schweigens gedeutet, sondern als notwendiges Element der heraklitischen Epistemologie erklärt werden. 1.
Das Absolute als epistemischer Grund
Das einzige überlieferte Zitat, das das Fehlen von Aussagen über das Eine erklärt, besagt, dass »das Wissende« getrennt von allem sei. Fr. 108: »So vieler Reden (logou@) ich gehört habe, keiner ist dazu gelangt zu erkennen, dass das Wissende getrennt von allem ist (oti soyon esti pantwn kecwrismenon).« Da dieses Fragment dem »Satz vom Logos« in gewisser Hinsicht ähnlich ist, soll es mit ihm zunächst verglichen werden. Formulieren wir dazu die Aussage des Satzes dementsprechend um, lässt er sich folgendermaßen lesen: »Wer nicht auf die vielen »logoi« hört, sondern auf den einen »logo@«, gelangt zur Erkenntnis, dass das Wissende getrennt von allem ist.« So gelesen, scheint der Satz nun aber das Gegenteil des »Satzes vom Logos« zu behaupten; denn dieser sagt aus, dass man im Hören auf den Logos erkennt, dass Eines alles ist. Wie aber ist es möglich, im Hören auf dasselbe, den Logos, einmal zu erkennen, dass Eines alles ist, das andere Mal aber, dass das Eine getrennt von allem ist? Um den Widerspruch beider Sätze aufzulösen, wollen wir zwei Ebenen unterscheiden: auf der einen, der epistemischen Ebene, enthält der Satz die negative Aussage, dass es zwar Wissen ist, dass Eines A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
155
Das griechische »Projekt Autonomie«
alles ist, dass aber vom Wissenden selbst, weil getrennt von allem, ein Wissen nicht möglich ist; auf der anderen, der epistemologischen Ebene, enthält der Satz jedoch die positive Aussage, dass das Wissende getrennt von allem ist, weil es der Grund des Wissens ist, dass Eines alles ist. 1. Auf der epistemischen Ebene folgt aus der Erkenntnis des Getrenntseins, dass vom Wissenden selbst ein Wissen nicht möglich ist. Denn da das Wissen, nach dem »Satz vom Logos«, darin besteht, dass Eines alles ist, das Wissende selbst aber getrennt von allem ist, ist von diesem ein Wissen nicht möglich. Dieses Wissende ist offenbar kein Seiendes von der Art, dass es dem Werden und dem Gesetz der »Einheit Entgegensetzter« unterläge; es ist aber auch nicht die eine und gemeinsame Welt, wie sie der Erkenntnis gegenwärtig ist. Getrennt von allem kann vom Wissenden nichts gewusst werden. Es ist auf der epistemischen Ebene also ein Absolutum, ein ›Nichts‹, das weder vorgestellt noch gedacht noch erkannt werden kann. So verstanden, gibt uns der Satz die Erklärung, warum wir keine Aussage Heraklits über das Eine selbst finden. Heraklits Aussage, dass noch keiner zu dieser Erkenntnis gelangt sei, lässt sich auch als Kritik an Parmenides verstehen. Denn in seinem Lehrgedicht war das Wissende zwar von göttlicher Art, aber nicht getrennt von allem ist. Parmenides stellt es vielmehr in Gestalt der Göttin vor, die nicht nur das Seiende fesselt und NichtSeiendes vertreibt, sondern ihm zudem das »Herz der Wahrheit« in der veränderlichen Form der Rede mitteilt. Parmenides’ Vorstellung der Göttin vereinigt so zwei disparate ›Aspekte‹ : einerseits das Wissende selbst, das als das »unzerstörbare Herz der Wahrheit« codiert, was Wissen ist, und das als dies »Herz« getrennt vom Handeln und Reden ist, weil es der Grund dieses Handelns und Redens ist; andererseits aber ein handelnden und redenden Subjekt, das durch das, was es tut, eine Veränderung bewirkt: im Seienden, das es als nur seiend fesselt, und in Parmenides, in dem es redend ein Wissen bewirkt. Parmenides, so wollen wir die implizite Kritik deuten, stellt sich das Wissende wie ein Mensch vor, der ein Herz hat, in dem die Wahrheit sitzt, der Hände hat, die das Seiende fesseln, und einen Mund, der die Wahrheit mitteilt. So aber könne das Wissende selbst nicht bestimmt werden. 2. In positiver Hinsicht verstehen wir den Satz über das Getrenntsein als eine epistemologisch notwendige Annahme. Er erfüllt in Heraklits Programm die Funktion, den »Satz vom Logos« zu 156
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
begründen. Während der »Satz vom Logos« festlegt, was Wissen ist, und wir rekonstruiert haben, nach welchem Gesetz, durch welche Kraft und auf welche Weise dieses Wissen statthat, ist der Satz vom Getrenntsein des Wissenden auf den Grund der epistemischen Geltung dieses Satzes bezogen. Dieser Grund aber kann nicht gewusst sein, eben weil er der Grund des Wissens ist. In dieser positiven Bedeutung des Satzes besteht der springende Punkt nun darin, dass in ihr nicht nur die Ebene, sondern auch das Subjekt gewechselt wird. War das Subjekt bislang Heraklit, der angesichts der Antinomie von Seins- und Erfahrungswissen erneut festlegte, was Wissen ist, und dem Logos die Funktionen zuschrieb, die ein solches Wissen bewirken, wird durch den Ebenenwechsel der Logos selbst zum Subjekt. Dieser Bedeutung des Wissenden als Grund des Wissens entspricht die Aussage im »Satz vom Logos«, dass diejenigen im Wissen übereinstimmen, die nicht auf ihn (Heraklit), sondern den Logos hören: »ouk emou, alla tou logou akousanta@ …« Damit aber stellt sich die Frage, wie dieser Wechsel des Subjekts, von Heraklit, dem Epistemologen, zum Logos, dem Wissenden selbst, überhaupt möglich ist. Wie kann Heraklit das Wissende – getrennt von allem – nicht nur als ein ›epistemisches Nichts‹, sondern auch positiv als die Instanz bestimmen, die seine eigene Theorie des Wissens als Wissen begründet? 2.
Die Idee der Autonomie
1. Wenn nach obigem Zitat das Wissende als das erkannt wird, das getrennt von allem ist, es nach dem »Satz vom Logos« jedoch der Grund ist, der Heraklits Theorie als Wissen auszeichnet, dann müssen wir es offenbar als Eines annehmen, das dennoch verschieden ist. Denn getrennt von allem ist es eben getrennt von allem; als epistemischer Grund jedoch ist es die Instanz, die die Theorie begründet, die Heraklit formuliert hat. Wie aber ist diese Verschiedenheit zu verstehen? Auf diese Frage gibt Heraklit selbst keine Antwort. Wir finden nur die gegensätzlichen Aussagen, dass das Wissende (to soyon) getrennt von allem sei (Fr. 108), und dass es doch auch das sei, das herrscht, soweit es will, das alles überwindet (Fr. 114) und alles erkennt (Fr. 41). – Um nun diesen ›Mangel‹ nicht nur zu konstatieren, sondern das ›Verhältnis‹ zwischen dem absoluten ›Selbstsein‹ des A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
157
Das griechische »Projekt Autonomie«
Einen und seiner Begründungsfunktion nachvollziehen zu können, greifen wir erneut auf die Idee der Autonomie zurück. Denn der Autonomiebegriff erlaubt es zum einen, die gesetzgebende Handlung als den Selbstvollzug eines Subjekts, als Akt der Selbstgesetzgebung, zu bestimmen; er enthält jedoch zum anderen das Problem, wie von einem anderen Subjekt sinnvoll ausgesagt werden kann, dieses sei selbstgesetzgebend. Hatte in Parmenides’ Lehrgedicht die Autonomie noch eine performative Struktur, weil die Göttin über sich redete, ist es jetzt Heraklit, der über den Logos sagt, was dieser ›sagt‹. Um den Wechsel der Subjekte zu beschreiben, wollen wir das Bild der Außen- und der Binnenperspektive verwenden. So lange Heraklit das Subjekt ist, ordnet er dem Logos als Objekt ›von außen‹ Funktionen zu, die den Grundsatz erklären, dass Eines alles sei. In dieser Außenperspektive ist Heraklit der Epistemologe, der eine Theorie formuliert, welche die Aporie zwischen Seins- und Erfahrungswissen überwindet. In der Binnenperspektive jedoch ist es der Logos, dem nicht, als Objekt, Funktionen zugeordnet werden, sondern der das eine Subjekt ist, das, getrennt von allem, die Funktionen als quasi innere Vollzüge besitzt, und das durch diese Vollzüge den »Satz vom Logos« epistemologisch begründet. Wie aber lässt sich diese Binnenperspektive beschreiben – so zwar, dass dem von allem getrennten Logos die Funktionen, die Heraklit ihm ›äußerlich‹ zuschreibt, auch ›innerlich‹ zukommen? Eine solche Beschreibung erlaubt unseres Erachtens allein der Begriff der Autonomie. Denn er beschreibt das Verhältnis zwischen einem Subjekt und seinem gesetzmäßigen Handeln so, dass es ihm nicht von außen ›zu-kommt‹, sondern es sich darin selbst das Gesetz gibt, d. h. als einen Selbstvollzug. Betrachten wir daher jene drei epistemischen Funktionen unter dem Autonomiebegriff, so ist offenbar das absolute und unerkennbare Eine dasjenige Subjekt, das als invariabler Grund zugleich der Ursprung der drei Funktionen ist. Es ist das, das selbst das Gesetz gibt, nach dem alles Eines ist; selbst die Kraft ist, durch die es alles regiert; und selbst die Gegenwärtigkeit ist, die alles als eine einzige gemeinsame Welt erkennt. Nach dem Autonomiebegriff ist der Logos also das gleichsam ›ewige Selbst‹, das je schon der Welt der Erfahrung die »Einheit der Entgegengesetzten« als Gesetz gibt, in ihr die allein die maßgebende Gewalt ausübt und sie als den einen und gemeinsamen Kosmos erkennt. – Nur diese aller Erfahrung und allem Denken vorausgehende Idee der Selbstgesetzgebung vermag jene heraklitische Unterscheidung zu erklären, 158
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Heraklit: Der »Satz vom Logos«
nach der das Eine selbst getrennt von allem ist, und dennoch alles nach ihm geschieht. 109 Als das absolute und autonome Subjekt codiert es, was Wissen ist, und gibt zugleich die Regel, nach der Wissen statthat. Fehlte diese übergreifende Idee, so wäre nicht nachvollziehbar, wie das Eine Wissende von allem getrennt sein und doch in allem herrschen kann. 2. Akzeptieren wir diese Interpretation des Logos aus der Binnenperspektive, so ist damit freilich nicht das Problem gelöst, wie der Wechsel dieser Perspektiven überhaupt möglich ist. Denn da der Begriff der Autonomie eine performative Struktur besitzt, muss der Perspektivenwechsel, den Heraklit vornimmt, als ungereimt erscheinen. Denn im »Satz vom Logos« redet er ja ausdrücklich nicht über sich, sondern über den Logos als ein anderes Subjekt: »ouk emou, alla tou logou …« Wie und woher aber sollte Heraklit wissen, dass das, was er über den Logos sagt, dessen Selbstvollzug ist? Der Wechsel lässt sich daher nur als ein unbegreiflicher Sprung verstehen, in dem Heraklit das, was er in seiner historischen Situation als Wissen konzipiert, erst in den Rang eines zeitlos Unbedingten erhebt, dem er sich dann hörend unterwirft. Mit dem »Satz vom Logos« sagt Heraklit, paradoxerweise, was der Logos ›sagt‹. 110 Von unserem Standort einer epistemologischen Rekonstruktion muss dieser Wechsel der Subjekte wie ein magischer Zauber erscheinen, der in seiner Naivität ergreifend ist. War es im Fall des »Satzes vom Wasser« Thales selbst, den wir als wissensbegründende Instanz ausmachen konnten, und rekurrierte der »Satz vom Seienden« auf die unsterbliche Göttin, die in ihrer Rede dessen Wahrheit verbürgte, so mutet uns Heraklit zu, zu verstehen, dass er seinen Satz, als doxa broteia, selbst zum epistemischen Gesetz, zur episthmh jeia, erhebt. – Hinsichtlich der historischen Wirkung müssen wir jedoch Für dieses autonome Subjekt erscheint uns der Ausdruck »o logo@«, den Heraklit so schillernd und auslegungsfähig gebraucht, als treffend und passend. Denn dieser bezeichnet, so gesehen, das eine universelle Gesetz, in dem sich das Eine Wissende (en to soyon) selbst aussagt (legein). 110 Diese Paradoxie lässt sich auch als Abbruch eines unendlichen Begründungsregresses verstehen: Ist es die Behauptung Heraklits, alles geschehe gemäß dem Logos (kata ton logon), so lässt sich diese Behauptung durch den Rekurs auf den Logos begründen, dem gemäß alles geschieht. Um diesen Rekurs seinerseits zu begründen, bedarf es erneut des Rekurses ad infinitum. Um ihm zu entgehen, ist der Wechsel des epistemischen Bezugssystems erforderlich: nicht Heraklit darf die Behauptung machen, sondern der Logos selbst muss ›sagen‹, was Heraklit behauptet. Die Aussagen Heraklits über den Logos werden so zu Aktualisierungen des Logos selbst; er spricht sich in ihnen aus. 109
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
159
Das griechische »Projekt Autonomie«
feststellen, dass in der Folge das europäische Denken diesem Zauber erlegen ist. Heraklit, so haben wir ihn rekonstruiert, vollzog als erster das Geschäft des Epistemologen, der als epistemischer Gesetzgeber dadurch auftritt, dass er sogleich ›hinter‹ seiner Gesetzgebung verschwindet, dessen Setzungen nicht als eigene, sondern als Repräsentation des Absoluten gelten. Unter verschiedenen Namen und in verschiedener Auslegung ist der so instanziierte Logos als die Instanz verehrt worden, die allein Wissen begründet und als gemeinschaftsbildende Kraft ein gemeinschaftliches Wissen bewirkt. Die Idee der Autonomie, so erklären wir den Zauber, hat sich offenbar in moralisch-praktischer Hinsicht als so anziehend und gemeinschaftsbildend erwiesen, dass die Deutung der Welt der sinnlichen Erfahrungen als Selbstvollzug des einen Subjekts für das europäische Denken prägend und verbindlich wurde. Dass es darum gehe, die Heteronomie der sinnlichen Erfahrung zu überwinden, um sie an den unwandelbar einen, sie bestimmenden Grund zu binden, war nicht nur der Ausgangspunkt der weiteren Philosophie, sondern wurde sogar zur Definition dessen, was Wissen überhaupt ist: doxa logikh, begründetes Meinen.
IV. Die Antinomie des Logos-Wissens Mit dem Logos als der Instanz, die den Satz: »Eines sei alles«, begründet, hat Heraklit nicht nur die Aporie der zwei »epistemischen Reiche«, der autonomen Wissensart der ›Unsterblichen‹ und der heteronomen Wissensart der ›Sterblichen‹, überwunden. Er hat damit auch am Schnittpunkt des alten, mythisch begründeten und des neuen, auf Autonomie gegründeten Erfahrungswissens das epistemologische Fundament für die nachfolgenden Konzeptionen gelegt. Dass der Logos ein gemeinschaftliches Erfahrungswissen bewirke, bleibt die selbst unproblematisierte Grundlage der nachfolgenden Epistemologien und Wissenssysteme. Für sie gilt, dass die Welt der sinnlichen Erfahrung nicht ihrer Heteronomie wegen aus dem »Reich des Wissens« ausgeschlossen ist, sondern der Herrschaft des gesetzgebenden Einen unterliegt, und dass dieses Wissen auch für Menschen – sofern sie keine »Barbarenseele« haben – möglich ist. – Diese Epistemologien sollen im Folgenden nur insoweit rekonstruiert werden, als sie den Grundsatz, dass der Logos herrscht, voraussetzen, 160
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
sich jedoch hinsichtlich der Art, wie der Logos herrscht und daher Erfahrungswissen möglich ist, von der Konzeption Heraklits unterscheiden und über sie hinausgehen. Heraklit hat die Art, in der der Logos herrscht, als Kampf und Gewalt beschrieben. In den Paradoxien, die entgegengesetzte Erfahrungsbegriffe vereinen, ist, so haben wir gesagt, der Streit und Kampf ausdrückt, in dem die heteronomen Mächte der sinnlichen Erfahrung der Gesetzgebung des gedachten Einen unterworfen werden. Diesem polemischen Charakter entspricht die dialektische Formel der »Einheit Entgegengesetzter«. Sie spiegelt den Antagonismus wider, in dem das Heteronome der »vielerfahrenen Gewohnheit« unter die allein maßgebende Herrschaft des unveränderlich Einen gebracht wird. – An diesem Gewaltcharakter der Logos-Herrschaft setzen die nachfolgenden Revisionen an. Da sie das Prinzip der Logos-Herrschaft nicht erst aufstellen und begründen, sondern von ihm schon ausgehen, löschen sie das Bewusstsein vom Kampf zwischen dem mythischen und dem Logos-Wissen, das in den Paradoxien Heraklits noch gegenwärtig war. Sie machen vergessen, dass die neue Wissensart aus diesem Kampf hervorgegangen ist. 111 Diesen Vorgang der Überwindung des polemischen Charakters nennen wir die »Logifizierung der Erfahrung«. Sie nimmt dem sinnlich Erfahrenen schon im Ursprung die epistemische Selbständigkeit, die es bei Heraklit noch hatte, indem sie es als je schon ›logisch‹ voraussetzt. Das Logos-Wissen konstituiert sich daher nicht mehr dadurch, dass im einander Entgegengesetzten das Eine erkannt wird, sondern dass im Gegebenen selbst das Logische schon enthalten ist. Diese Logifizierung der Erfahrung, die die epistemologischen 111 Damit ändert sich auch der Charakter des Philosophierens. Es werden nicht mehr neue Grundsätze verkündet, sondern das schon gegebene Prinzip wird verbindlich gemacht. Auf diese ›Änderung‹ verweist O. Gigon: »Grundsätzlich stehen alle Philosophen von den Milesiern bis zu den Atomisten in einem gewollten und betonten Gegensatz zu den Anschauungen, die von ihrer Umwelt und vor allem von dem geistigen Beherrscher dieser Umwelt, dem homerischen Epos vertreten wird. Wenn Anaximander, Xenophanes, Parmenides und Heraklit schreiben, so ist überall die pathetische Behauptung zu spüren: ich allein weiß die Wahrheit, die Leute dagegen bewegen sich in törichten Meinungen. – Mit den Atomisten scheint sich ein Umschlag anzubahnen, der dann bei Aristoteles sich vollendet. Nun wird das, was die Philosophen schreiben, zu der gereinigten Form dessen, was die Menschheit im Grunde schon seit jeher gedacht hat. Das Ziel der Philosophen wird nun nicht mehr so sehr die Überwindung des menschlichen Irrens als vielmehr die Interpretation des Consensus gentium.« (Gigon 1972, 60 f.)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
161
Das griechische »Projekt Autonomie«
Grundlagen für die Wissenschaft als einer in der Tat gemeinschaftlichen Veranstaltung bereitstellt, soll im Folgenden anhand von zwei einander ausschließenden Verfahren rekonstruiert werden. Das eine Verfahren ordnet das Erfahrbare der Notwendigkeit unter, nach der alles geschieht, so dass die Wissenschaften in der Erkenntnis der Notwendigkeit jeglichen Geschehens besteht; diese Art der Logifizierung möchte ich das »meta-physische Verfahren« nennen, weil es dem sinnlich Gegebenen Prinzipien voraussetzt. Das andere hingegen gründet Wissen auf die Produktivität des Logos bzw. Nous, so dass die Wissenschaft darin besteht, das All der sinnlichen Erfahrung als das Produkt des Einen zu erkennen; dieses Verfahren nenne ich die produktive oder »erzeugende Methode«. Beiden Verfahren ist der Grundsatz gemeinsam, dass der Eine Logos in allem herrscht. Während im einen Fall jedoch angenommen wird, dass diese Herrschaft in einer Art ›äußeren‹ Gesetzmäßigkeit besteht, gründet sie im anderen Fall in einer Art ›inneren Ordnung‹ aller Erfahrung. – Diese zwei entgegengesetzten Logifizierungsverfahren sollen anhand der Philosophie von Leukipp bzw. Demokrit sowie von Sokrates bzw. Platon nachvollzogen werden. Wir unterstellen dabei, dass diese zwei Konzeptionen nicht nur wirkungsgeschichtlich die bedeutendsten waren, sondern dass sie auf das Problem, wie der Logos herrscht, eine in sich konsistente, einander aber widersprechende Antwort gegeben haben.
A. Demokrit: Die »Notwendigkeit von allem« als Grundsatz des Logos-Wissens Von Leukipp selbst ist nicht mehr überliefert als das Zitat: »Nichts geschieht umsonst/von selber, sondern alles aus dem Logos und unter der Notwendigkeit.« (ouden crhma mathn ginetai, alla panta ek logou te kai up’ anagkh@) 112 Aristoteles führt ihn jedoch wiederholt auch als den Begründer einer Art von Philosophie an, die annimmt: alles bestehe aus Vollen oder Atomen 113 und dem Leeren. 114 Wenngleich wir von Leukipp selbst nicht mehr Gesichertes wissen, so können wir doch begründeterweise davon ausgehen, dass Demokrit Aetios I 25, 4. Zit. nach: Kirk 1994, 457. Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen der »Vollen« oder der »Atome« vgl. auch: Pechmann 1999, 389. 114 Aristoteles, Metaphysik I 4, 985b 4; Vom Werden und Vergehen I 8, 325a 23 ff. 112 113
162
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
dann auf diese beiden Grundsätze gestützt eine umfassende Theorie der Atome formuliert sowie ein vielseitiges System von ›Ursachenerklärungen‹ entwickelt hat. Unser Interesse soll sich allerdings weder auf die historische Existenz dieser Personen noch auf das System Demokrits richten, sondern auf die Begründungsstruktur der zwei Sätze, die die Notwendigkeit alles Geschehens sowie die Atome und das Leere als die ›Bausteine‹ von allem aussagen. Wir rekonstruieren das epistemologische Verfahren, nach dem die beiden Sätze offenbar zusammengehören, und das sie als Grundsätze ausweist. Hierzu fragen wir zuerst nach dem epistemologischen Status der Begriffe des »Vollen« bzw. »Atoms« und des »Leeren«, untersuchen dann die Bedeutung des Ausdrucks »Notwendigkeit«, um schließlich die Art der epistemischen Gesetzgebung zu beschreiben, die in den beiden Sätzen ausgedrückt ist. 1.
Der »Satz von den Atomen und dem Leeren«
Beginnen wir mit der Frage nach dem Status der Begriffe des »Atoms« und des »Leeren«. Das diesbezügliche Demokrit-Fragment Nr. 9 115 lautet: »Setzung ist Süßes, Setzung Bittres, Setzung Warmes, Setzung Kaltes, Setzung Farbe; wahr aber ist: Atome und Leeres.« (nomw gluku, nomw pikron, nomw jermon, nomw vucron, nomw croih, eteh de atoma kai kenon). Dieser Satz scheint auf den ersten Blick an die parmenideische Antinomie zwischen den zwei »epistemischen Reichen« anzuschließen: während die sinnlichen Erfahrungsbegriffe nur Setzungen (nomoi) ›Sterblicher‹ sind, besteht wahres Wissen in dem, was rein gedacht ist. Der zweite Blick aber zeigt, dass diese Deutung nicht stimmt; denn der Ausdruck »atoma kai kenon« bezeichnet nicht das rein gedachte Eine Seiende, sondern offenbar eine Vielzahl Seiender und ein Nicht-Seiendes. Welchen Status aber kann dieser Ausdruck dann haben, wenn er weder einen Erfahrungs- noch einen reinen Begriff vertritt; und wie dann ist die Entgegensetzung von ›Setzung‹ und ›Wahrheit‹ (nomw – eteh) zu verstehen?
115
Sextus Empiricus, adversus Mathematicos VII, 135. Zit. nach: Kirk 1994, 447. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
163
Das griechische »Projekt Autonomie«
a.
»atoma kai kenon«: das »dritte Reich« zwischen Denken und Erfahrung
1. Sinnvoll wird der Satz, wenn wir statt des parmenideischen den heraklitischen Bezugsrahmen wählen und damit von der Einheit von Gedachtem und Erfahrenem ausgehen. Auf dieser Grundlage lässt er sich als Kritik der Methode Heraklits verstehen. Denn für diesen hatte – unter der Regel der »Einheit Entgegengesetzter« – die sinnliche Erfahrung in der Tat ›Wahrheit‹. Zwar zeigte sie sich nicht am Sinnlichen selbst, aber im Umschlagen ins Entgegengesetzte: die ›Wahrheit‹ des Süßen war – um Demokrits Beispiel aufzunehmen – das Bittere, und dessen ›Wahrheit‹ wiederum das Süße. Für Heraklit war daher die Paradoxie, die Einheit entgegengesetzter Begriffe, die Darstellungsform der ›Wahrheit‹. Gegen diese Dialektik richtet sich die Aussage des Satzes: die Erfahrungsbegriffe haben keine ›Wahrheit‹ ; sie sind nur Setzungen und erfassen nicht das, was ›in Wahrheit‹ (eteh) ist. Wovon die Erkenntnis vielmehr auszugehen habe, sind die Begriffe der Atome und des Leeren, um aus ihnen das sinnlich Gegebene zu erkennen. Das aber heißt: für Demokrit ist nicht mehr erklärungsbedürftig, wie im Veränderlichen der sinnlichen Erfahrung denn überhaupt das unveränderlich Eine herrscht, sondern wie umgekehrt aus dem Unveränderlichen das sinnlich Veränderliche besteht. Demokrit dreht Heraklits Methode um: was erkannt werden soll, ist nicht das unveränderlich Eine im veränderlich Vielen, sondern das Veränderliche aus dem Unveränderlichen. Was Heraklits Methode noch zeigte, dass und wie im Veränderlichen das Unveränderliche zum Herrschenden wird, setzt Demokrit schon fraglos voraus: nicht, wie in allem das Eine ist, ist das explandandum, sondern wie aus »atoma kai kenon« alles besteht. 116 Akzeptieren wir diese Deutung des Ausdrucks »eteh atoma kai kenon«, dann sind für Demokrit diese beiden Begriffe die Grundlage jeder möglichen Erfahrungserkenntnis. Was aber ist ihr epistemischer Status? Denn die Begriffe des Atoms und des Leeren bezeichnen weder das rein gedachte Seiende noch entstammen sie der sinnlichen Erfahrung; und sollen dennoch ein Unveränderliches dar116 vgl. dazu P. Natorps Darstellung: »Wahrhaft ›ist‹ nur, was nicht auch Entgegengesetztes sein kann, sondern in dem, was es ist, identisch verharrt; das ist die Norm des Wahren in Demokrits Erkenntniskritik; nach dieser Norm, deren Ursprung aus der eleatischen Philosophie offenkundig ist, verwarf er die Realität der sinnlichen Qualitäten.« (Natorp 1884, 204)
164
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
stellen, aus dem alles Veränderliche besteht. Sie beziehen sich offenbar auf ein ›Drittes‹, das weder das rein Gedachte ist noch aus der Erfahrung entstammt, das aber beide Bereiche irgendwie ›verbindet‹. Was aber kann ein solches »drittes Reich« zwischen dem rein Gedachten und dem sinnlich Erfahrenen sein? 2. Ein möglicher Weg zur Beantwortung dieser Frage wäre, dieses Unveränderliche im sinnlichen Erfahrenen selbst aufzufinden. Einen solchen Versuch hat wohl als erster Empedokles unternommen. Er nahm an, dass alles aus den »vier Elementen« (tessara pantwn rizwmata) 117 , Wasser, Luft, Feuer und Erde, als deren Mischung und Trennung (mixi@ te diallaxi@) entsteht und vergeht. Diese vier seien selbst unentstanden und in ihrem Kreislauf unauflöslich. Doch – gesetzt, Empedokles hat die Annahme als Lösung jenes Problems verstanden – er blieb auf halber Strecke stecken. Denn auf der einen Seite sollen diese vier Elemente das unveränderlich Seiende darstellen, aus dem alles sinnlich Gegebene als Mischung besteht; auf der anderen Seite aber entspringen diese vier Begriffe und die Vorstellung ihres Kreislaufs selbst der sinnlichen Erfahrung, die durch sie doch erkannt werden soll. Wasser, Luft, Feuer und Erde sind Erfahrungsbegriffe und haben als solche keine Unauflöslichkeit; sie taugen daher nicht als Grundbegriffe. 118 Sie sind etera, und für sie gilt, was schon Parmenides gegen die Grundbegriffe der ersten Philosophen eingewandt hat: sie sind Namen, die Sterbliche festgesetzt haben in der Überzeugung, wahr zu sein. – Einen anderen Versuch hat Anaxagoras unternommen, der bei der Lösung des Problems jedoch über das Ziel hinausgeschossen ist. Er nimmt an, dass das, woraus alles besteht, keine endliche Menge von Elementen, sondern eine unendliche Menge unendlich Kleinster sei. Fr. 1: »Zusammen waren die Dinge alle, unendlich die Menge und die Kleinheit.« Diese Kleinsten seien die »Samen aller Dinge« (Fr. 4: spermata Fr. 6; Aetius I, 3, 20. Zit. nach: Kirk 1994, 316. An dieser Untauglichkeit ändert auch der Zusatz nichts, diese Elemente seien ›ganz klein‹ : »Empedokles … denkt sich die Elemente aus kleineren Stücken zusammengesetzt, die eben die kleinsten sind und gleichsam die Elemente der Elemente.« (Aetios I 17, 3; zit. nach: Capelle 1968, 192) Sie bleiben Erfahrungsbegriffe. – Mit Recht sagt Aristoteles, dass »Empedokles sich selbst und der Erscheinung widerspreche. Denn das eine Mal behauptet er, dass keines der Elemente aus dem anderen entspringe, sondern alles andere aus ihnen; zugleich aber lässt er sie in Ein Ganzes werden und aus diesem Einen wieder … ; so dass nicht deutlich wird, ob er eigentlich das Eine, oder das Viele zum Wesen macht.« (Vom Werden und Vergehen I, 1) – Siehe auch: Metaphysik I 8, 988b 25 ff.; 989a 20 ff. 117 118
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
165
Das griechische »Projekt Autonomie«
pantwn crhmata), die als solche alles sinnlich Erfahrbare in sich schon enthalten, worin also »alles an allem Anteil hat« (Fr. 6). Die Erkenntnis der Dinge bestehe demnach darin, im jeweils Gegebenen die je besondere Zusammenmischung der Teilchen zu erkennen, worin eine der Eigenschaften die andere überwiegt. 119 Doch auch dieser Versuch, im Veränderlichen das selbst Unveränderliche aufzusuchen, entkommt nicht dem Einwand der Inkonsistenz. Denn einerseits müssen die unendlich Kleinsten selbst unvermischt sein, einfache und reine tauta, weil aus ihnen ja alles Gemischte besteht; andererseits aber müssen sie als die »Samen aller Dinge« schon alles in sich enthalten und damit etera sein, die »allerlei Formen, Farben und Wohlgeschmack haben« (Fr. 4). Anaxagoras’ unendlich Kleinste sollen also von aller Erfahrung abgesonderte nohmata sein, und doch sind sie nicht abgesonderte crhmata; sie sind gedacht und vorgestellt zugleich. 120 3. Angesichts dieser aporetischen Versuche bedarf es offenbar der Annahme eines selbständig dritten epistemischen Reiches ›zwischen‹ dem rein gedachten Einen und dem All der sinnlichen Erfahrung, das zum einen weder das Denken noch die Sinne als Ursache hat, das zum anderen den Widerspruch, rein Gedachtes und sinnlich Vorgestelltes zugleich zu sein, löst oder verschwinden lässt, und das schließlich dennoch beidem genügt, dem reinen Gedanken des auton und den etera der sinnlichen Erfahrung 121 . Als ein solches drittes epistemisches Reich soll im Folgenden Leukipps und Demokrits Konzept der »Atome und des Leeren« rekonstruiert werden. Es gibt eine konsistente Lösung des Problems, wie auf der Grundlage der LogosHerrschaft das rein Gedachte und das sinnlich Erfahrene zusammen als ein Erfahrungswissen möglich sind. 119 Fr. 12: »… nichts anderes (ist) irgendetwas sonstigem gleich; wovon vielmehr am meisten in jedem einzelnen Gegenstand ist, das als das deutlichste ist und war er.« (Kirk 1994, 398) 120 Auf diesen Widerspruch zwischen dem Unvermischten und Vermischten weist Aristoteles in Metaphysik 989a 30 ff. hin. Er hilft Anaxagoras und sich, indem er dessen Aussagen ›modernisiert‹ : man müsse seine Elementenlehre so auffassen, dass das Unvermischte das Unbestimmte vor der Bestimmung bezeichne: Es sei das – gegenüber dem Nous – »Andere, welches wir als das Unbestimmte vor der Bestimmung oder der Teilhabe an einer Form bezeichnen.« Damit aber gibt Aristoteles erklärtermaßen eine Lösung, die Anaxagoras eben nicht gegeben hat. – Vgl. auch: Kirk 1994, 401 f. 121 A. Gianaras sagt treffend, die Atomlehre schiebe »ein Drittes zwischen die strukturlose, überhomogene und geschlossene Einheit des Parmenideischen eon und die strukturierte Vielheit der empirischen Realität« ein. (Gianaras 1977/78, 60)
166
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
b.
Die metaphysische Grundlegung des Erfahrungswissens
Demokrit selbst hat den Satz: »eteh d’ atoma kai kenon« offenbar ohne Angabe von Gründen als epistemischen Grundsatz aufgestellt. Dieser Satz entfaltete zum einen seine Wirkung als Leitsatz einer wissenschaftlichen Erkenntnis: sinnlich gegebene Vorstellungen seien in ihre elementaren ›Bausteine‹, aus denen sie bestehen, aufzulösen, um sie als deren Zusammensetzungen zu erkennen. Zum anderen aber ist es ebenso unbestritten, dass der Satz auch eine Antwort auf das epistemologische Problem gibt, wie Erfahrungswissen überhaupt konsistent konzipiert werden kann. Auf diese Antwort werden wir uns im Folgenden konzentrieren. Sucht man nach einer Begründung der Aussage, es gebe (nur) Atome und das Leere, so begegnet man zwei entgegengesetzten Argumentationsmuster: ein empiristisches und ein methodologisches. Jenes Muster hat Simplikios überliefert, der auf die sinnliche Erfahrung rekurriert: da diese das Gegebene als zusammengesetzt zeigt, bedarf es der Annahme von Kleinsten, aus denen es zusammengesetzt ist, die aber selbst nicht zusammengesetzt sind. 122 Diese unteilbar Kleinsten aber könnten ihrer Kleinheit wegen nicht sinnlich wahrgenommen werden, sondern würden durch das Denken erkannt 123 . – Doch diese Begründung, die aus dem Zusammengesetztsein des sinnlich Gegebenen auf ein unteilbar Kleinstes schließt, ist nicht haltbar; denn mit demselben Recht lässt sich das Gegenteil begründen: da das sinnlich Gegebene sich als zusammengesetzt zeigt, muss die Teilung bis ins Unendliche fortgesetzt werden. 124 Die Begründung für die a-toma kann daher nicht aus der Erfahrung stammen; sie muss anderswoher kommen. Eine andere Argumentation trägt Aristoteles vor 125. Er stellt Leukipp und Demokrit als Methodologen vor, die »methodisch bestens und mit einem Grundsatz« (odw de malista kai peri pantwn eni logw) eine Theorie formuliert haben, die mit der Erfahrung über122 Simplikios zu Aristoteles, Physik 925, 13: »Leukipp und Demokrit sagen, dass nicht allein die Leidenslosigkeit der Grund für die Unteilbarkeit der ersten Körper ist, sondern auch, dass sie klein und ohne Teile (smikron kai amere@) sind. – Siehe auch: Galen, De elementis secundum Hippocratem I, 2 (DK 68 A 49). 123 siehe: Fr. 125 (Kirk 1994, 449); Fr. 11 (Sextus Empiricus 1998, 38). 124 Vgl. Kirk 1994, 453, Anm. 13: »Der Gedanke, dass Kleinheit irgend etwas unteilbar machen könnte, ist äußerst merkwürdig, …« 125 Aristoteles, Vom Werden und Vergehen I 8, 324b 34 ff.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
167
Das griechische »Projekt Autonomie«
einstimme (pro@ thn aisjhsin omologoumena). Hierzu beginnt Aristoteles mit der Darstellung der Seinslehre der Eleaten, nach der das Seiende notwendigerweise Eines und unbeweglich sei; denn da das Leere nicht ist, das Bewegtsein aber nicht ohne ein Leeres sein könne und das Viele nicht ohne das, was trennt, sei weder das Bewegtsein noch das Viele möglich. Daraufhin stellt Aristoteles dar, dass Leukipp dieser Theorie über das Bewegtsein und das Leere als Nicht-Seiendes zugestimmt, dass er aber nicht nur ein Seiendes, sondern unbegrenzt viele Seiende angenommen habe 126 . Er fährt dann fort: Diese Vielen bewegten sich im Leeren – denn das Leere gebe es (kenon gar einai) – und bewirkten durch Zusammensetzung Entstehen und durch Ablösung Vergehen. Befragen wir nun Aristoteles’ Darstellung nach dem Einen Grundsatz (eni logw), mit dem Leukipp jene mit der Erfahrung übereinstimmende Theorie aufgestellt habe, dann kann dieser Satz nur die – von Aristoteles eher beiläufig erwähnte – Annahme sein: kenon einai, es gibt das Leere. Denn erst diese Annahme macht es möglich, Seiendes nicht als notwendigerweise Eines und unbeweglich zu denken, sondern es – in Übereinstimmung mit der Erfahrung – als ein Vieles und Bewegtes zu konzipieren. 127 Wenn nun aber Leukipp – nach Aristoteles – der These zustimmt, das Leere sei nicht seiend, dann setzt die Annahme, dass es das Leere gibt, den Satz voraus: es gibt Nicht-Seiendes. Angenommen nun, es ist dieser Satz, der Leukipp seine mit der Erfahrung übereinstimmende Theorie ermöglicht, – wie kann Aristoteles dann behaupten, Leukipps Theorie sei »methodisch bestens und mit einem Grundsatz«? Denn der Satz: »es gibt Nicht-Seiendes« ist mit dem Logischen unvereinbar 128 ; er ist das als
126 Nach Aristoteles begründet also Leukipp die Unteilbarkeit »eleatisch«: die vielen sind unteilbar, nicht weil sie die »kleinsten«, sondern weil sie »voll« (pamplhre@) und »nicht nicht-seiend« (oujen mh on) sind. 127 vgl. Johannes Philoponos: »Wenn es Bewegung gibt, gibt es auch Leeres. Nun aber gibt es Bewegung, also gibt es Leeres. Auch hier nahm er [Leukipp] die erste Prämisse genau so wie Parmenides, die zweite aber nicht mehr.« (de gen. et corr. 324b 25 ff.; zit. nach: Löbl 1989, 16 f.) 128 B. Russell: »Die Auffassung des Parmenides lässt sich folgermaßen formulieren: ›Sagt man, es gebe die Leere, dann ist der leere Raum nicht Nichts; daher ist es also auch kein leerer Raum.‹ Tatsächlich haben die Atomisten dieses Argument niemals widerlegt: sie schlugen nur vor, es auf sich beruhen zu lassen, da Bewegung eine Erfahrungstatsache sei und es infolgedessen einen leeren Raum geben müsse, auch wenn es noch so schwierig sei, ihn sich vorzustellen.« (Russell 1999, 91). – Siehe auch: Kirk 1994, 454.
168
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
undenkbar Ausgeschlossene! 129 Daraus folgt, dass die Begründung für die Existenz des Leeren nicht dem Denken entstammen kann, sondern anderswoher kommen muss. Ziehen wir aus den beiden Argumentationsmustern die Schlussfolgerung, so ist die Annahme, dass das Seiende unteilbar ist, nur durch das Denken, nicht aber durch die sinnliche Erfahrung begründbar; denn diese zeigt nur Zusammengesetztes und Teilbares. Umgekehrt lässt sich die Annahme, es gebe das Leere, nicht durchs Denken begründen, dem sie widerspricht, sondern nur auf die sinnliche Erfahrung stützen, die Gegebenes als vieles und bewegt zeigt. Wenn nun aber die Annahme des unteilbar Seienden der Erfahrung und die Annahme des Leeren dem Denken widerspricht, wie ist dann der Satz: es gebe (nur) Atome und das Leere, der beides vereinigt, begründbar? Wie lässt sich aus Gründen der Autonomie des Wissens an der Annahme, dass es unteilbar Seiendes gibt, und zugleich aus Gründen der Heteronomie an der Annahme, dass das Leere existiert, festhalten? Wie also sind Autonomie und Heteronomie epistemologisch vereinbar? a. Der Raum als Einheit des »Vollen und Leeren« Sollen das durchs Denken als unteilbar begründete Seiende und das aus Erfahrung gewonnene Leere zusammen ein Erfahrungswissen konstituieren, so bedarf es eines ›Dritten‹, das weder logischen noch sinnlichen Ursprungs ist, das aber zugleich das widerspruchsfreie Zusammen der beiden ermöglicht. Dieses Dritte ist, so unsere These, in der leukipp-demokritischen Epistemologie der ›Raum‹. – Da es für diese These in der Überlieferung kaum Anhaltspunkte gibt 130 , sind wir auf systematische Überlegungen angewiesen, die schließlich auch erklären sollen, warum dafür die Hinweise fehlen. Üblicherweise wird der leukipp-demokritische Raum mit dem kenon identifiziert: Raum = Leere. In diesem Sinn überliefert Sim129 siehe dazu Melissos’ Argumentation: »Auch ist es nichts leeres; denn das Leere ist nichts; und was nichts ist, kann schwerlich sein« (nach: Simplikios zu Aristoteles, Physik, 112, 6). 130 »Nur an einer Stelle referiert Simplikios, dass Demokrit eigentlich den Raum vom Leeren unterschieden haben müsste: to de diasthma touto […] kenon einai legousin outw@ wste pote men plhrousjai swmato@ pote de kai kenon apoleipesjai (Simplikios, In Phys. 571, 27–29). Es wurde also unter dem Leeren ›to diasthma to metaxu twn escatwn tou perieconte@‹ verstanden, welches bald mit einem Körper erfüllt, und bald leer ist.« (Nikolaou 1998, 112 f.)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
169
Das griechische »Projekt Autonomie«
plikios (de caelo, 295, 1 ff.), Demokrit habe für den Raum die Namen: »das Leere«, »das Nichts« oder »das Unbegrenzte« verwendet. Man hat dann gesagt, nach Leukipp und Demokrit bewegten sich die Atome im Leeren, dessen Existenz die Bedingung ihrer Bewegung sei. Dabei begnügte man sich mit der Feststellung, es sei ihr entscheidender Schritt gewesen, das undenkbar Nicht-Seiende des Parmenides in den physischen leeren Raum verwandelt zu haben, ohne freilich zu erklären, wie ein solcher Schritt überhaupt möglich ist 131 . Nun ist verschiedentlich der Einwand erhoben worden, dass das Verständnis des leukipp-demokritischen Raums insbesondere durch die aristotelische Raumvorstellung verstellt worden sei 132 . Denn Aristoteles habe das Raumproblem auf dem Hintergrund seiner eigenen, teleologischen Prinzipien diskutiert. Es sei daher eine naheliegende Überlegung, dass in Hinblick auf das leukipp-demokritische Konzept die übliche Identifizierung des Raums mit dem Leeren in die Irre führt und der Raum als eine »eigene Größe« 133 anzunehmen ist. Von dieser Überlegung ausgehend müssen wir den epistemischen Grundsatz Demokrits offenbar so verstehen: »wahr ist: voller Raum und leerer Raum«. In diesem Fall ist der Raum nicht identisch mit dem Leeren; er ist keine ›physikalische Größe‹, sondern ein dem Vollen (plhre@) und dem Leeren (kenon) gegenüber selbständig
131 M. A. Dynnik: »Die Kategorie des Seins und Nicht-Seins bekommt im frühgriechischen Denken eine neue Interpretation auf dem Weg ihrer Identifizierung mit den Atomen und dem Leeren: das Sein nahm das Aussehen des Systems der materiellen Teilchen an (d. h. wurde zum …), aber das Nicht-Sein verwandelte sich in das physische Sein des nicht ausgefüllten leeren Raumes. Also: das Nicht-Sein ist eine Art des Seins.« (Istoria anticnoj dialektiki, Moskau 1972, 131; zit: nach: Löbl 1987, 69) Nach der Beschreibung solch geheimnisvoller Transsubstantiation des Nicht-Seins in Sein raunt Dynnik vom dialektischen Charakter dieser Prinzipien, die von Demokrit nun »unter dem Aspekt der ›Wirklichkeit‹« interpretiert würden. – Ähnlich auch: Pleger 1991, 134; Kirk 1994, 454. – H.-G. Gadamer beschreibt wenigstens die Aporie: »Aber wie das Leere etwas Seiendes sein kann, und gar etwas, das zum Sein der körperlichen Dinge stets und notwendig gehört, das war mit den Mitteln des griechischen Seinsbegriffs schwer auszudenken …« (Antike Atomtheorie. In: Gadamer 2000, 111 f.) – Siehe auch: Russell 1999, 91; Kirk 1994, 454. 132 Siehe: Gianares 1977/8, 50–56; Sedley 1982, 179–183; Löbl 1987, 131–139. 133 Löbl 1987, 134. – D. N. Sedley nimmt an: »And the symmetrical looking pairing of to plhre@ and to kenon suggests that if to kenon is empty space then to plhre@ is filled space«. Er schließt daraus: »It may be objected that the scheme as I propose to interpret it is in danger of hypostatising place as a third kind of existing thing« (Sedley 1982, 179 f.; H. v. m.).
170
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Drittes 134. Den Raum als dieses Dritte deuten wir nun als die epistemologische Bedingung, unter der die unvereinbaren Begriffe des Vollen oder Unteilbaren einerseits und des Leeren andererseits in einem Wissenskonzept widerspruchsfrei vereinbar sind. Als diesem Dritten kommen dem Raum die zwei Vereinbarkeitsfunktionen zu: er gibt zum einen den gemeinschaftlichen Boden ab, auf bzw. in dem die Antinomie zwischen dem logisch begründeten Vollen und dem sinnlich gewonnenen Leeren aufgelöst und verschwunden ist; und er bildet zum anderen das strukturierende Prinzip, durch welches beide, das Volle und das Leere, voneinander verschieden sind, das Volle also nicht das Leere ist, in dem beide aber ein gemeinsames und durchgehendes Bestehen haben: voller und leerer Raum. Unter der Annahme des Raumes als dieser Bedingung lassen sich nun der logische Satz: »Seiendes ist« in »es gibt erfüllten Raum« sowie der a-logische Satz: »Nicht-Seiendes ist« in »es gibt leeren Raum« umformulieren, und die Antinomie: »Seiendes ist und NichtSeiendes ist« in den widerspruchsfreien Satz: »es gibt erfüllten und leeren Raum« auflösen. Der Raum ist hier also die Bedingung, unter der die epistemische Antinomie zwischen dem rein Gedachten und dem sinnlich Erfahrenen aufgelöst ist, beide Wissensarten vereinbar sind, und der »Satz von den Atomen und dem Leeren« als ein epistemischer Grundsatz möglich ist. b. Die »reine Anschauung« Statt den Raum in Hinblick auf die Eigenschaften zu explizieren, die ihm im Rahmen der Lehre von den Atomen zukommt, soll vielmehr nach dem Vermögen gefragt werden, dem er als das gemeinschaftliche Dritte entspringt, da er weder dem Vermögen der Sinne noch dem des Denkens entstammt. Denn der Raum kann nicht als das Leere aufgefasst werden, das als Bedingung des Bewegt- und Zusammengesetztseins des sinnlich Erfahrenen angenommen werden muss, da er ja nicht die Bedingung sinnlicher Erfahrung ist, sondern den Boden abgibt, auf dem das Leere und das Volle zusammen das konstituieren, was nach Demokrit ›in Wahrheit‹ ist. Der Raum kann deshalb nicht der sinnlichen Erfahrung entstammen und nicht die Sinne als Ursache haben. Umgekehrt kann er aber auch nicht dem Denk134 Vgl. Löbl 1987, 135: »Ist plhre@ der volle und kenon der leere Raum, dann sind ›voll‹ und ›leer‹ nur Prädikate eines Dritten, des Subjekts, von dem sie ausgesagt werden – und das ist der ›Raum an sich‹ oder die bloße ›Räumlichkeit‹.«
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
171
Das griechische »Projekt Autonomie«
vermögen entspringen; denn durch dieses wird das Seiende ja nur als ein Unteilbares und Volles, als ein unveränderliches auton, bestimmt. Der Raum aber soll ein »Drittes« sein, worin eine Vielzahl im Leeren bewegter Atome bestehen kann. Er kann daher auch nicht das Produkt des reinen Denkens sein. Welchem Vermögen aber entspringt er dann? Da der Raum, worin das Volle und Leere zusammen bestehen, weder ein Erfahrungs- noch ein logischer Begriff ist, müssen wir offenbar ein zusätzliches und neues Vermögen annehmen 135 , dem er als Bedingung eines konsistenten Erfahrungswissens entspringt. Dieses neue Vermögen bezeichne ich als das »reine Anschauen« und verstehen darunter die Setzung des reinen Andersseins als einer Voraussetzung. Erläutern wir zunächst den Ausdruck »Setzung des reinen Andersseins« anhand der epistemologischen Problemlage: wenn auf der einen Seite das Denken den Begriff des auton bildet und das Seiende als unwandelbar festhält, wenn auf der anderen Seite die sinnliche Erfahrung Gegebenes als veränderlich vorstellt und daher den Begriff des Nicht-Seienden notwendig macht, und wenn es drittens eines Konzepts bedarf, das beide, das unwandelbar Seiende und das veränderlich Gegebene, zu einem Erfahrungswissen zu vereinigen erlaubt, dann erfordert dessen Durchführung die Existenz eines dritten epistemischen Vermögens, das diese Vereinigung ermöglicht. Dazu aber muss es in der einen Hinsicht die Unwandelbarkeit des Seienden garantieren – dass es un-teilbar und voll ist und bleibt –, und muss in der anderen Hinsicht dem sinnlich Gegebenen die Wandelbarkeit gewähren – dass es entsteht und vergeht, geteilt und bewegt ist. Die Leistung des Vermögens, das diese Funktionen erfüllt, nenne ich die »Setzung des reinen Andersseins«. Denn dieses Gesetzte ist grundlegend verschieden sowohl vom Begriff des auton als Leistung des 135 Der leukipp-demokritische Raum lässt sich mit mythischen Vorstellungen des Anfangs, dem cao@ Hesiods, dem Tohuwabohu des Alten Testaments, dem Grenzenlosen des Phönikiers Sanchunjaton oder dem »weder Nichtsein noch Sein« des Rigveda-Weltschöpfungslieds in Verbindung bringen. Doch diese Vorstellungen haben eine ganz andere epistemische Funktion als der philosophische ›Raum‹. Dieser ist ein Aporie lösendes Konstrukt; jene die »Ur-Anschauung« des Sängers und Erzählers. – Wenn Aristoteles bei der Diskussion des Raumbegriffs (Physik III 8, 208a 29) bemerkt, Hesiod sei im Recht, wenn er mit dem cao@ angefangen habe, weil dieses vor allem anderen da sei, dann vergisst er diesen Unterschied. Hesiod hätte wohl nicht verstanden, was Aristoteles mit »im Recht sein« meint.
172
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Denkens als auch von dem der etera, wie sie die sinnliche Erfahrung zeigt. Es ist aber auch nicht das undenkbare Nicht-Seiende oder die Vorstellung eines sinnlich bedingten Leeren. Es gilt uns vielmehr als Leistung eines eigenständig dritten Vermögens, das reine Anderssein zu setzen. In Abgrenzung zum logischen auton und zu den empirischen etera können wir den so gesetzten Raum auch als das bloße ›eteron‹ bezeichnen oder ihn als das selbst- und veränderungslose ›Auseinander‹ umschreiben 136 . Von diesem dritten Vermögen nehmen wir an, dass es die Bedingung setzt, unter der das gedachte auton und die erfahrenen etera so vereinbar sind, wie es der epistemische Grundsatz Demokrits ausdrückt: »wahr aber ist: Atome und Leeres.« Es stellt gleichsam die ›Folie‹ bereit, auf der das ewig Seiende des Denkens und das immer Andersseiende der Erfahrung als bloß verschieden Seiende ein gemeinsames Bestehen haben können, auf der also die epistemische Antinomie zwischen Denken und Erfahrung verschwunden ist. Das reine Anderssein als Setzung eines eigenständigen, weder sinnlichen noch logischen, Vermögens verstehen wir also als die Bedingung, die das geforderte Erfahrungswissen ermöglicht. Nun verhält es sich freilich so, dass nur wir – in Absicht der Rekonstruktion des »Satzes von den Atomen und dem Leeren« – dieses Vermögen angenommen haben, dass Leukipp und Demokrit selbst jedoch nur vom Denken und von den Sinnen gesprochen haben. Zudem kann unsere Annahme eines solchen dritten und neuen Vermögens nicht erklären, wie durch die bloße Setzung des ›reinen Andersseins‹ ein bleibendes und zudem gemeinschaftliches Wissen begründet werden kann. Mag die Annahme aus Rekonstruktionsgründen notwendig sein; in epistemischer Hinsicht muss sie als willkürlich erscheinen. Als bloßer Setzung fehlt ihr die epistemische Qualität. Um also erklären zu können, dass Leukipp und Demokrit von einem solchen Vermögen nicht gesprochen haben, und um diese Set136 Unser sog. »reines Anderssein« nennt Hegel »das Prinzip der höchsten Äußerlichkeit und damit der höchsten Begriffslosigkeit« (Hegel 1969 ff., Bd. 5, 186). Er bleibt jedoch in der Polemik gegen dieses atomistische Prinzip stecken und erkennt nicht das epistemologische Problemlösungspotential. Er kann daher auch nicht erklären, warum das »berüchtigte atomistische System« sich jederzeit erhalten hat. – Platon nennt es im »Timaios« »cwra«: ein »unsichtbares, gestaltloses und allaufnehmendes Wesen« (51a), das weder durch Denken noch durch die Sinne zu erfassen sei. Siehe dazu unten: Teil I, IV. B. 3. c.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
173
Das griechische »Projekt Autonomie«
zung als eigenständige epistemische Leistung zu begründen, muss der willkürliche Charakter der Setzung verschwinden. Der Raum als das reine Anderssein darf nicht als Resultat eines Konstrukts erscheinen, das die epistemologische Aporie von Denken und Erfahrung löst, sondern muss den Charakter einer vorhandenen, sich selbst verstehenden Bedingung annehmen, unter der alles Erfahrungswissen je schon steht. Die rekonstruierte Setzung des Andersseins muss also die Form der Voraussetzung annehmen, in der der Charakter einer Setzung verschwindet oder, besser, verschwunden ist. Das aber heißt, dass das dritte und neue Vermögen, das reine Anderssein zu setzen, nur dann die Qualität eines epistemischen Vermögens erhält, wenn es als das theoretische Vermögen der reinen Anschauung gilt, in der das, was ursprünglich gesetzt ist, bloß geschaut wird. Diese Anschauung, in der die willkürliche Setzung des reinen Andersseins in der Form des Anschauens verschwunden ist, verstehen wir als denjenigen Raum, der den gemeinsamen Boden abgibt, auf dem die Atome und das Leere zusammen und nebeneinander ihr Bestehen haben. 137 137 Die Alternative zu unserer These vom Raum als reiner Anschauung ist, dass das gemeinsame Dritte ›das Denken‹ sei. So stimmt R. Löbl in seiner kenntnisreichen Arbeit über »Demokrits Atomphysik« mit unserer Rekonstruktion zunächst überein. Er führt aus, dass die Gründe für die Existenz von Atomen logischer Natur seien, die Gründe für das Leere jedoch in der sinnlichen Erfahrung liegen. Er nimmt dann jedoch an, Demokrit habe den »Satz von den Atomen und dem Leeren« mit der überlieferten Formel »um nichts mehr« (ou mallon) begründet: »wenn zwei gleichrangige Möglichkeiten gegeben sind, gibt es prinzipiell keinen zwingenden Grund, einer davon den absoluten Vorrang einzuräumen.« (Löbl 1987, 95) Er zitiert zustimmend A. Graeser, in der ou mallon-Formel habe Demokrit das Instrument gehabt, »dem eleatischen Dogma (nur Sein ist) … die logische Möglichkeit der Existenz des Nichtseienden entgegenzuhalten.« (Graeser 1970, 303). Gäbe diese Formel tatsächlich die hinreichende Begründung, so gliche Demokrit dem Witzbold, der auf die Frage des Gangsters: »Geld oder Leben?« antwortet: »Dann nehme ich beides.« Es bedarf daher der Begründung der Formel. Löbl erklärt dementsprechend auch, dass die Antinomie nur zu überwinden sei, »wenn [Demokrit] dem Parmenides auch das Argument entwinden konnte, dass Nichtseiendes nicht gedacht werden konnte. Er musste beweisen, dass es gedacht werden muss.« (Löbl 1987, 95; H. v. m.) Dieser Beweis gelingt Löbl, indem er Demokrit flugs zum Hegelianer erklärt: »Der Grund liegt eben in der dialektischen Relation der Gegensatzpaare, in der jeder der Terme in der Negation des anderen, also seiner Negation, er selbst wird.« (ebd.) Er zitiert daraufhin die Passage in Hegels »Wissenschaft der Logik«, die die Dialektik des Einen und Leeren darstellt. Nun ist es in der Tat so, dass sich die Einheit der beiden Prinzipien, des Atoms und des Leeren mit Hilfe der dialektischen Logik begründen lässt. In der »Geschichte der Phi-
174
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Fassen wir abschließend unsere Rekonstruktion des »Satzes von den Atomen und dem Leeren« zusammen, so repräsentiert dieser Satz nicht Meinung, sondern Wissen, weil das neu geschaffene dritte losophie« zeigt Hegel, dass Leukipp nur das ausgesprochen habe, was in der eleatischen Philosophie schon enthalten war, nämlich dass das Nichtsein, das die Eleaten als nichtseiend bestimmten, »in Wahrheit« ist: »Das Sein ist, aber das Nichtsein, da es eins mit dem Sein, ist ebensowohl; oder Sein ist sowohl Prädikat des Seins als des Nichtseins … was in Wahrheit bei den Eleaten vorhanden war, spricht Leukipp als seiend aus« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 355). Hegel setzt damit die seiende Einheit von Sein und Nichtsein in das Logische: Leukipp spricht aus, was der notwendige Fortgang des Gedankens fordert. Das Atom sei der Begriff dieser konkreten Einheit von Sein und Nichtsein, die Hegel »das Fürsichsein« nennt. [So auch K. Marx: »… das Atom (ist) die unmittelbare Negation des abstrakten Raums: also ein räumlicher Punkt.« Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. In: Marx 1983, 198.] Nach Hegel hat also Leukipp in der Tat bewiesen, dass das Nicht-Seiende als seiend gedacht werden muss. Doch ist diese Interpretation gerechtfertigt? Hegel räumt im Folgenden selbst ein, dass sich diese Deutung nicht mit dem Grundsatz deckt; denn dieser sagt nicht aus, dass sowohl Sein als auch Nichtsein ist, sondern dass in Wahrheit das Volle und das Leere ist. Den Schluss, den Hegel aus dieser Verschiedenheit zieht, ist, dass der Satz die seiende Einheit von Sein und Nichtsein so aussagt, wie sie für die sinnliche Anschauung sei: »Das Sein aber und Nichtsein, beide mit der Bestimmung eines Gegenständlichen oder, wie sie für die sinnliche Anschauung sind, ausgesprochen, so sind sie der Gegensatz des Vollen und Leeren (to plhre@ kai to kenon) … – Sein-für-Anderes, und Reflexion-insich, nur sinnlich, nicht an sich bestimmt; denn das Volle ist sich selbst gleich, wie das Leere.« (ebd.). Einerseits unterstellt Hegel also, dass es in Leukipp um die Dialektik von Seiendem und Nicht-Seiendem geht, dass somit das Nicht-Seiende als seiend gedacht werden muss; andererseits muss er zugestehen, dass dies nicht geschieht, sondern dass es um das Volle und Leere geht, »wie sie für die sinnliche Anschauung sind«. Hegel unterscheidet also den ›eigentlichen Leukipp‹, der das Nicht-Seiende als seiend denkt, vom ›tatsächlichen‹, der das Volle und das Leere sinnlich anschaut. Welcher Leukipp aber gilt nun? Halten wir uns an den ›eigentlichen‹, so hat er das Nicht-Seiende als seiend gedacht; halten wir uns an den ›tatsächlichen‹, so hat er das Volle und das Leere geschaut, und das Argument fehlt, er habe bewiesen, dass das NichtSeiende ist. Hegel verfängt sich mit dieser Unterscheidung im eigenen Schema. Denn er kann weder erklären, warum Leukipp, wenn es ›eigentlich‹ doch um den Fortgang des Logischen geht, ›tatsächlich‹ so an der Form der Anschauung festgehalten hat; noch umgekehrt, warum es sich, wenn es ihm um die Anschauung des Vollen und des Leeren zu tun war, ›eigentlich‹ um den Fortgang des Begriffs handelt. Die Ursache dieser Erklärungsnot sehe ich in der Ausgangslage Hegels. Hegel geht aus von der »Wahrheit« des sich in Gegensätzen entfaltenden, dialektischen Denkens, die er europa-geschichtlich expliziert. Wo er in Konflikt mit den historischen Tatsachen gerät, löst er ihn nach Maßgabe der eigenen Grundsätze, – und produziert Missverständnisse. Denn auch wenn Hegel nicht umhin kann, festzustellen, dass nicht das Denken, sondern die Anschauung dem »Satz von den Atomen und dem Leeren« zugrunde liegt, so ist es ein Missverständnis, diese Anschauung als sinnlich zu deuten, – als hätte Leukipp oder Demokrit je behauptet, die Atome und das Leere wären durch Auge, Ohr oder Tastsinn A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
175
Das griechische »Projekt Autonomie«
Reich der Atome und des Leeren unmittelbar angeschaut wird, weil also im gesetzten Raum die Setzung verschwunden ist, und dieses Reich die Form des schlicht Vorhandenen hat. Was sich uns beim »Satz vom Logos« als ein »unbegreiflicher Sprung« gezeigt hat, in dem Heraklit das, was er selbst als Wissen konzipiert, zugleich in den Rang eines zeitlos Unbedingten erhebt, ist in diesem Fall das »Vergessen« der Setzung. Nur weil in der Anschauung des Raumes der willkürliche Charakter des Aporie lösenden »Dritten« getilgt ist, kann Demokrit sagen: eteh d’ atoma kai kenon. Es bedarf keiner Göttin mehr, die das »Herz der Wahrheit« mitteilt, und auch keines gemeinschaftlichen Hörens des Logos, sondern nur des voraussetzungslosen Schauens, um zu erkennen, dass ›in Wahrheit‹ alles voller und leerer Raum ist. Dass dieser Satz konsistent ist, macht die Idee eines Dritten nötig, in dem das gedachte atomon und das empirisch gewonnene kenon zusammenbestehen können; dass er aber wahr ist, setzt voraus, dass er das Ausgesagte als ein in der Anschauung schlicht Vorhandenes repräsentiert 138 .
gegeben. – Wir interpretieren den »Satz von den Atomen und dem Leeren« anders: er bildet keine Etappe des sich entwickelnden Begriffs, sondern gibt eine Lösung für das epistemologische Problem, wie unter dem Prinzip einer autonom-logischen Wissensbegründung eine Wissensart möglich ist, die mit der Heteronomie sinnlicher Erfahrung übereinstimmt. Die These, dass weder das Denken noch die sinnliche Anschauung, sondern der ›Raum‹ und – wie wir es nennen – die ›reine Anschauung‹ das Dritte ist, das die Vereinbarkeit des Vollen und des Leeren begründet, erscheint mir als zutreffender als die Gegenthese von der logischen Begründung, um sowohl das Problem als auch die Lösung rekonstruieren zu können. 138 Betrachtet man diese Lösung aus der Distanz, so lässt sie sich nur als »genial« bezeichnen. Hatte Parmenides seine Lehre von der Trennung der zwei epistemischen Reiche noch durch Rekurs auf eine göttliche Offenbarung gerechtfertigt, und Heraklit die Erkenntnis des All-Einen auf eine Art gottgleicher »Gegenwärtigkeit« gegründet, brauchen Leukipp und Demokrit keine »höhere Instanz« mehr. Um die Annahme von der Einheit des Gedachten mit dem Erfahrenen als wahres Wissen auszuweisen, bedarf es nur der Anschauung des Vorhandenen. Das epistemologische Begründungsproblem verschwindet in der einfachen und rechten Anschauung, die die Welt als eine unendliche Vielzahl im Leeren bewegter Atome zeigt. Sie beendet den Grundlagendisput und macht Platz für die Wissenschaften, die alles empirisch Konkrete aus den einfachen Elementen erklärt, aus denen es zusammengesetzt ist. Setzt man diese Weltanschauung ins Verhältnis zur Wirkung, die sie seither für die Wissenschaften hatte, und den Erfolgen, die auf dieser Grundlage erzielt wurden, kann man die Konzeption nur als »genial« bezeichnen.
176
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
2.
Der Satz von der Notwendigkeit
Wenden wir uns nun dem zweiten Grundsatz zu, der die Notwendigkeit alles Geschehens aussagt: »Nichts geschieht zufällig/von selber, sondern alles aus dem Logos (ek logou) und unter der Notwendigkeit (up’ anagkh@).« Dieser Satz scheint, für sich genommen, nur zu wiederholen, was schon Heraklit gesagt hatte. Denn auch er nannte das Subjekt, nach dem alles geschieht, »o logo@« und erklärte ebenfalls alles Geschehen als notwendig. 139 Insofern schließt dieser Satz offenbar programmatisch an Heraklits Konzept an, Erfahrungswissen als Logos-Wissen zu begründen. – Der Unterschied ergibt sich jedoch, wenn wir diesen Satz im Kontext des »Satzes von den Atomen und dem Leeren« explizieren. Denn während Heraklit diese Notwendigkeit als einen Kampf und Streit der allein gesetzgebenden Macht des Logos gegen die widerstrebenden Mächte des Mythos verstand, ist die Bezugsebene in diesem Fall jenes »dritte Reich« des vollen und leeren Raums. Unter dieser Voraussetzung aber kann das, was geschieht, nicht mehr, wie von Heraklit, als ein Umschlagen sinnlicher Qualitäten ineinander begriffen werden, sondern als eine nur räumliche Bewegung der Atome 140, so dass der »Satz von der Notwendigkeit« in der Weise zu verstehen ist, dass er aussagt, dass diese räumliche Bewegung der Atome nicht zufällig, sondern »aus dem Logos und unter der Notwendigkeit« geschieht. Allerdings lässt es der Satz im Unklaren, worauf er eigentlich antwortet. Liegt ihm die Frage nach der Ursache allen Geschehens, dem »Wodurch« der Bewegungen, zugrunde, oder aber nach der Art des Geschehens, dem »Wie« der Bewegungen? Im ersten Fall enthielte der Satz die Aussage, dass alles durch den Logos und die Notwendigkeit geschieht; im anderen Fall jedoch, dass alles gemäß dem Logos und der Notwendigkeit geschieht. Wir gehen daher zuerst der
139 Siehe Fr. 80: »… kai ginomena panta kat’ erin kai crewmena.« Anstelle der »anagkh«verwendet Heraklit allerdings den prosaischen Ausdruck »crewmena«. 140 Siehe Aristoteles, Physik VIII 9, 265b 24 ff.: »Dass die Ortsbewegung die primäre unter den Bewegungsarten ist, bekunden alle, die auf die Bewegung eingehen … In der gleichen Weise äußern sich diejenigen, die … lehren, Bewegung erfolge wegen der Leere. Denn auch sie sagen, die Natur bewege sich in der Weise der räumlichen Bewegung …, und sie meinen, von den anderen Bewegungsarten komme keine den Primärkörpern zu, sie begegneten vielmehr den aus den Primärkörpern zusammengesetzten Dingen.«
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
177
Das griechische »Projekt Autonomie«
Frage nach der Ursache der Bewegung nach, um den Satz dann als Antwort auf die Frage nach der Art des Geschehens zu interpretieren. a.
Die Ursache der Bewegung
1. Hinsichtlich der Ursache der Atombewegungen lassen sich zwei mögliche Verständnisarten anführen: eine äußere oder eine innere Ursache141. Nach der ersten ist die Ursache der Bewegung ein Anstoß von außen, durch den das Atom durch ein anderes in Bewegung gesetzt wird. Der Satz hätte dementsprechend die Bedeutung, dass die Ursache der Bewegung nicht zufällig, sondern logischer- und notwendigerweise von außen kommt. Im zweiten Fall ist anzunehmen, dass die Ursache der Bewegung den Atomen immanent ist, und sie daher selbstbewegend sind. So verstanden, bedeutet der Satz, dass die Bewegung den Atomen nicht zufällig, sondern aufgrund einer inneren Notwendigkeit zukommt. Die Schwierigkeit, zwischen beiden Lesarten entscheiden zu können, resultiert nun offenbar daraus, dass nach Leukipp und Demokrit den Atomen die Bewegung zwar durch einen von außen kommenden Stoß, den sog. »Schlag« (plhgh), mitgeteilt wird 142 ; dass sie aber zugleich sagen, die Atome seien immer in Bewegung (aei kineisjai) 143 . Beide Aussagen scheinen einander jedoch zu widersprechen; denn wenn man behauptet, dass den Atomen die Bewegung von außen mitgeteilt wird, dann müssen diese selbst als unbewegt angenommen werden, und können daher nicht immer bewegt sein. Sagt man hingegen, die Atome seien immer in Bewegung, dann scheint die Ursache ihrer Bewegung nicht von außen zu kommen,
141 Eine dritte mögliche Lesart, die als Bewegungsursache einen Zweck annimmt, lässt sich mit Aristoteles ausschließen: »Demokrit lehnt es ab, von einem Zweck zu sprechen, und führt alles, dessen sich die Natur bedient, auf die Notwendigkeit zurück.« (Über die Entstehung der Tiere V 8, 789b 2 f.) 142 Simplikios zu Aristoteles, Physik, 42, 10: »Demokrit nennt die Atome von Natur unbewegt und sagt, sie seien durch einen ›Schlag‹ in Bewegung gesetzt worden.«. – Siehe auch: Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Metaphysica commentaria 36, 21; Aetios I, 12, 6; I, 23, 3. (zit. nach: Kirk 1994, 461); Cicero, de fato 46. 143 Aristoteles, Über den Himmel 300b 8. Auch: Metaphysik XII 6, 1071b 31 ff.; Simplikios zu Aristoteles, De caelo, 583, 20; Cicero, de finibus bonorum et malorum I, 6, 17; Eusebius, Praeparatio evangelica XIV 3 (DK 68A43); Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I 13, 2 (DK 68A40); Galen, De elementis secundum Hippocratem I, 2 (DK 68A49).
178
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
sondern muss in ihnen selbst liegen. 144 Wie also können die beiden Aussagen über den äußeren Stoß als Ursache und das Immer der Bewegung konsistent erklärt werden? 2. Nun scheint die naheliegende Lösung dieser Schwierigkeit in der Annahme zu bestehen, Leukipp und Demokrit hätten zwei Ursachen, eine primäre Art der inneren Selbstbewegung und eine sekundäre Art des äußeren Bewegtwerdens, unterschieden145 . Die Atome teilten zwar einander ihre Bewegung durch den Stoß mit; aber ihre Bewegung selbst sei ewig und immer aufgrund ihrer immanenten bewegenden Kraft; und diese innere Kraft lasse sich als ihre Schwere oder ihr Gewicht deuten 146 . Unter der Voraussetzung einer solchen inneren Kraft wäre also der Grundsatz so zu interpretieren, dass »der Logos« und »die Notwendigkeit« diejenige Ursache alles Geschehens sei, die in den Atomen selbst liegt; sie wären mit dieser inneren Ursache der Bewegung identisch 147 . Doch die Annahme einer inneren Ursache ist mit der Theorie des Atoms, wie wir sie rekonstruiert haben, nicht vereinbar. Denn die Auffassung einer räumlichen Bewegung der Atome stellt nach unserer Interpretation die Lösung des epistemologischen Problems dar, wie das volle und sich selbst gleiche Seiende, das auton des reinen Denkens, und das Veränderliche, die etera der sinnlichen Erfahrung, in einem Erfahrungswissen zu vereinen sind. In diesem Rahmen kann jedoch die Frage nach der Ursache der Bewegung nur so beantwortet werden: durch einen Anstoß von außen. Denn wenn man den Atomen als Ursache ihrer Bewegung eine innere Kraft, die 144 Diesen Widerspruch zwischen »äußerer« und »innerer Ursache« formuliert – offenbar unwissentlich – Simplikios. Im Kommentar zu Aristoteles’ Physik (42, 10) schreibt er, dass Demokrits Atome von Natur unbewegt und durch einen ›Schlag‹ in Bewegung gesetzt werden«. Im Kommentar zu Aristoteles’ Über den Himmel (583, 20) hingegen heißt es, die Atome »bewegten sich ständig aus sich selbst (kat’ autou@)«. – Siehe dazu: Löbl 1987, 112 f. 145 So V. E. Alfieri, der zwischen einem primären »movimento precosmico« und einem sekundären »movimento cosmogonico« unterscheidet. (Alfieri 1953, 84 f., 89). – Vgl. auch Fritz 1963. 146 Siehe Simplikios zu Aristoteles, Physik 1318, 35: »… diese Körper nannten jene Philosophen Natur und behaupteten, sie seien infolge der ihnen innewohnenden Schwere (kata thn en autoi@ baruthta) in Bewegung und bewegten sich durch das Leere hindurch …« Auch Cicero spricht in de fato 46 von einer »vis impulsionis« bei Demokrit. 147 So Schreckenberg 1964, 115, Anm. 99: »Die rätselhafte Ananke muss mit dieser Ursache identisch sein.«
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
179
Das griechische »Projekt Autonomie«
Schwere oder das Gewicht, zuschreibt, dann wäre das Atom nicht mehr das sich selbst Gleiche, der schlicht volle Raum, sondern wäre ein Anderes seiner selbst, ein eteron. Besäße also das Atom eine solche Kraft, wäre es sich selbst gleich und nicht sich selbst gleich. Es ist daher ungereimt, einerseits davon auszugehen, die Theorie des Atoms basiere auf dem Begriff des unteilbar und unveränderlich Einen, andererseits aber dem Atom eine inhärente Bewegungskraft zuzuschreiben. Eine solche Theorie der Selbstbewegung bedürfte ganz anderer Annahmen über den Raum, des »vollen« wie des »leeren«, als die von uns rekonstruierten 148 . Die Frage nach dem »Wodurch« 148 Angesichts der unübersichtlichen Überlieferungslage gehen die meisten Interpreten von der Erfahrung aus – und geraten in Widersprüche: weil uns die Erfahrung die Dinge als schwer zeigt, muss, so der Schluss, Demokrit die Atome selbst als schwer angenommen haben. Dieser Schluss geht jedoch auf Kosten eines konsistenten Atombegriffs. Diese Konfusion lässt sich exemplarisch an K. Marx’ Schrift über die »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« nachvollziehen. Marx skizziert zunächst die kontroverse Situation und schließt dann: »Es folgt …, dass Demokrit die Schwere nicht als eine wesentliche Eigenschaft der Atome hervorhebt. Sie versteht sich ihm von selbst, weil alles Körperliche schwer ist.« (Marx 1983, 207) Wenn Marx anschließend diesen ›Begriff‹ des Atoms expliziert, so ist vom demokritischen nichts mehr zu erkennen; er gleicht weit mehr einer Leibnizschen Monade bzw. dem Hegelschen Fürsichsein. Dem solcher Art ›dynamisierten‹ Atom muss freilich die Schwere als eine innere Kraft zukommen und das Atom so das Negative seiner selbst, ein sich Widersprechendes sein: »Allein die Schwere widerspricht auch direkt dem Begriff des Atoms; denn sie ist die Einzelheit der Materie als ein idealer Punkt, der außerhalb derselben liegt. Das Atom ist aber selbst diese Einzelheit, gleichsam der Schwerpunkt, als einzelne Existenz vorgestellt.« (208; H. v. m.) Doch, was hat dieser »Widerspruch im Begriff des Atoms zwischen Wesen und Existenz« (209) mit dem demokritischen Atom als einfach Seiendem zu tun? Marx räumt denn auch ein, Demokrit – immerhin Begründer der Atomtheorie – habe sich für den Atombegriff gar nicht interessiert: »(Er) betrachtet nirgends die Eigenschaften in Bezug auf das Atom selbst, noch objektiviert er den Widerspruch zwischen Begriff und Existenz, der in ihnen liegt. Vielmehr geht sein ganzes Interesse darauf, die Qualitäten in Bezug auf die konkrete Natur, die aus ihnen gebildet werden soll, darzustellen … Der Begriff des Atoms hat daher nichts mit ihnen zu schaffen.« (205) Erst unterstellt Marx also die Schwere als eine ›sich selbst verstehende‹ Eigenschaft des Atoms; er konstatiert dann den Widerspruch im Begriff des Atoms; und erklärt schließlich, weil er diesen dialektischen Begriff bei Demokrit nicht findet, er habe sich dafür nicht interessiert. Eine entgegengesetzte und unseres Erachtens angemessene Erklärung hat J. Burnet (Burnet 1930, 341–346) gegeben. Um die erfahrbare Schwere der Körper zu erklären, geht er davon aus, dass Demokrits Atome selbst keine Schwere haben, dass sie ihnen vielmehr erst aufgrund der ›Wirbelbewegung‹ zukommt. In diesem Wirbel bewegten sich größere Dinge zum Zentrum, kleinere zur Peripherie hin. Das Gerichtete dieser Bewegungen werde als schwer oder leicht erfahren. Burnet versteht also die Schwere bei Demokrit nicht als eine primäre, den Atomen innewohnende Qualität, sondern als
180
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
der Bewegung kann daher unseres Erachtens nur mit: »durch Anstoß von außen« beantwortet werden. 3. Wie aber lässt sich dann die andere Aussage Leukipps und Demokrits erklären, die Atome seien immer in Bewegung? Eine solche Erklärung der ewigen Bewegung ist nun hinreichend in dem Einwand enthalten, den Aristoteles formuliert hat: »Leukipp und Demokrit, die behaupten, dass die ersten Körper im Leeren und im Unendlichen sich immer bewegen, müssen sagen, welche Bewegung sie ausführen und welche ihre naturgemäße Bewegung ist. Denn wenn eins der Elemente vom anderen mit Gewalt bewegt wird, dann muss notwendigerweise aber auch eine naturgemäße Bewegung eines jeden da sein, gegen die die gewaltsame ist. Und es ist nötig, dass das erste Bewegende nicht gewaltsam bewegt, sondern naturgemäß; denn es geht ins Unendliche (ei@ apeiron), wenn nicht irgendetwas da ist, was als erstes naturgemäß bewegt.« 149 Fasst man diesen Einwand zusammen, so sagt er aus, dass die Annahme einer »gewaltsamen Bewegung« von außen als einziger Ursache notwendig in einen unendlichen Progress führt. Die Ursache des bewegten Atoms ist ein anderes bewegtes Atom – bis ins Unendliche. Formulieren wir Aristoteles’ Kritik um, so nehmen Leukipp und Demokrit offenbar an: »es gibt keine erste Ursache der Bewegung« 150 . Zwar ist Aristoteles der Auffassung, es müsse eine solche erste Ursache geben – und es gebe sie –; aber er nennt in seiner Kritik zugleich das Argument, dass mit der Annahme eines unendlichen Progresses der Bewegungsursachen die beiden Aussagen über den Anstoß von außen und das Immer der Atombewegung nicht nur vereinbar sind, sondern dass aus ihnen diese Annahme auch notwendig folgt. Der Satz: »es gibt keine erste Ursache der Bewegung« erlaubt es also, die Bewegung der Atome einerseits als Wirkung eines Aneine sekundäre, durch jenen Wirbel bedingte Eigenschaft. – Diese Erklärung stimmt mit Aristoteles (Vom Werden und Vergehen I 8, 326a 9 ff.) und Theophrast (de sensu 61; DK 68 A 135) überein, die zwar feststellen, dass für Demokrit die Atome schwer oder leicht bezüglich ihrer Größe sind, die aber nicht von einer inneren Qualität der Atome sprechen. Und sie folgt Aetios, der in I, 3, 18 berichtet: »Demokrit sprach von zwei (Eigenschaften der Atome), Größe und Gestalt; Epikur fügte diesen als dritte noch die Schwere hinzu«. (vgl. auch: I, 12, 6). 149 Aristoteles, Über den Himmel III 2, 300b 8 ff. – Siehe auch: Metaphysik 1071b 32; Physik 250b 20, 251b 11 ff.; Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Metaphysica commentaria, 36, 21 (Kirk 1994, 461). 150 Darauf weist Aristoteles’ Kritik in Physik VIII 1, 252a 32 ff. hin: »… für das ›Immer‹ hält [Demokrit] es nicht für angemessen, den Anfang zu suchen.« A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
181
Das griechische »Projekt Autonomie«
stoßes von außen zu konzipieren, ohne andererseits annehmen zu müssen, die Atome seien nicht immer bewegt. 151 Geht man von dieser Erklärung der Atombewegung durch eine äußere Ursache aus – was kann dann der Satz bedeuten, dass alles »aus dem Logos und unter der Notwendigkeit« geschieht? Versteht man ihn weiterhin als Antwort auf die Frage nach der Ursache alles Geschehens, dann sagt er nur aus, was wir ohnehin wissen: dass die Bewegung nicht zufällig, sondern notwendig von außen kommt. Wir interpretieren daher den Satz als Antwort auf die Frage nach der Art des Geschehens. b.
Die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens
Um den »Satz von der Notwendigkeit« in dieser Weise zu verstehen, soll er zuerst mit Heraklits Begriff der Notwendigkeit verglichen werden. Nach Heraklit herrscht der Logos durch den Streit; er geht siegreich aus dem Kampf mit dem Widerstrebenden hervor, dem er sein Gesetz, die Einheit im Entgegengesetzten, aufzwingt. Mit der Einführung des »dritten Reichs« der Atome und des Leeren erscheint jedoch die Art der Logos-Herrschaft in ganz anderer Weise. Denn das sinnlich Erfahrene wird jetzt nicht mehr als ein Eigenständiges dem Logos unterworfen, sondern unterliegt als selbstloses Objekt je schon dem Logos. Die sinnlichen Qualitäten, die Farben, die Süße oder die Wärme, sind nichts für sich, sondern nur das ›Spiel‹ der immer seienden, im Leeren bewegten Atome. Was die Sinne zeigen, wird also von vornherein auf die Art räumlicher Objekte angeschaut, denen ausdrücklich kein Eigensein zukommt. Das Sinnliche wird nicht erst, wie bei Heraklit, im Kampf der Herrschaft des Einen unterworfen, sondern ist, schon immer, eine Menge selbstloser Objekte, von außen bewegter Atome. Unter der Bedingung einer solchen logifizierten Erfahrungswelt 151 Es verwundert, dass auch heutige Interpreten die Auffassung kolportieren, die Atome müssen eine innere Bewegungsursache haben. So ›beweist‹ R. Löbl: »Wenn also für Demokrit die Bewegung immer stattfindet, dann ist sie eine Bewegung ohne ersten Anstoß; das aber führt zwangsläufig zu dem Schluss, dass ihre Quelle im Atom selbst zu suchen ist.« (Löbl 1989, 52; H. v. m.) Dem entgegen hatte doch schon Kant in der Transzendentalen Dialektik (KrV B 473) gezeigt, dass die Annahme einer inneren Bewegungsursache keineswegs notwendig, vielmehr in den Wissenschaften bloß der »Gemächlichkeit zuträglich ist« (B 498), und hatte ihre Ablehnung mit der antiken Atomtheorie verbunden (vgl. B 479).
182
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
wird nun der »Satz von der Notwendigkeit« als folgerichtige Konsequenz verständlich: da alles, was geschieht, nichts als die räumlichen Bewegungen einer Vielzahl einfacher und subjektloser, von außen angestoßener Atome ist, geschieht nichts durch Zufall, sondern alles allein nach dem Logos als der gesetzgebenden Instanz und unter der Macht der Notwendigkeit 152 . Weil alles sinnlich Erfahrbare je schon in der Form des selbstlosen und bewegten Objekts angeschaut wird, ist das, was geschieht, nichts, als was der Logos exekutiert. Die Heteronomie der sinnlichen Erfahrung – deretwegen Parmenides sie aus dem Reich des ›wahren Wissens‹ verbannt und Heraklit sie dem Logos im Kampf unterworfen hatte – ist gleichsam ›hinter‹ der Anschauung des Gegebenen als bloß räumlicher Objekte gebannt und verschwunden. Dieser Logifizierung der Erfahrungswelt wegen sind nun aber auch die epistemischen Funktionen des »logo@« und der »anagkh« neu zu bestimmen, da ihnen jetzt alles Polemische fehlt. Da das Sinnliche keine ›Wahrheit‹ mehr hat, die Empfindungen der Farben, des Süßen, des Warmen nur Setzungen sind, und alles in der Form von einfachen, im leeren Raum bewegter Atome angeschaut wird, fehlt dem Geschehen ganz das Eigensein, das ein Widerstreben bewirkte. Damit aber drückt der leukipp-demokritische Begriff der »anagkh« – im Unterschied zu Parmenides und Heraklit – nichts GewaltsamZwingendes mehr aus. Durch sie wird weder das Nicht-Seiende vertrieben noch wird das Heteronome bekämpft. Der Begriff der »anagkh«drückt vielmehr nur die Tatsache aus, dass eben alles, was geschieht, nach dem einen Gesetz des Logos geschieht. 153 152 Als letzter Reflex des Kampfs des Logischen gegen das Mythische lässt sich vielleicht Leukipps Aussage deuten: »ouden crhma mathn ginetai«. Denn »mathn« heißt nicht nur »umsonst, zufällig«, sondern auch »fälschlich, töricht«. Mataiologie ist ein leeres Geschwätz und ein Mataiologe ein Schwätzer. So verstanden richtet sich die Aussage gegen das ›Geschwätz‹ der Mythologen, die nur erzählen, wie ein jedes entstand, aber nicht erklären, wie alles entstehen musste. Sie betrachten so jedes in seinem eigenen Sein, nicht aber nach dem einen und allgemeinen Gesetz der Notwendigkeit. – Vgl. auch Demokrit, Fr. 119: »Die Menschen haben sich ein Trugbild des Zufalls erdichtet, als einen Deckmantel ihrer eigenen Ratlosigkeit …« 153 Wir interpretieren also Leukipps »anagkh«nicht als die »kraterh anagkh« (Fr. 8, 30) des Parmenides, die Entstehen und Vergehen vertreibt und das Seiende fesselt; aber auch nicht als ›blinde Macht‹, die zufällig wirkt. Denn wie hätte Leukipp sie mit dem ›logo@‹ zusammen nennen und dem Zufälligen entgegensetzen können? Wenn daher Aristoteles feststellt: »Demokrit lehnt es ab, von einem Zweck zu reden, und führt alles, was die Natur gebraucht, auf die Notwendigkeit (ei@ anagkhn) zurück« (Über die Ent-
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
183
Das griechische »Projekt Autonomie«
Auf der Grundlage eines solchen »dritten Reichs« der bewegten Atome lassen sich die zwei epistemischen Funktionen, das Gesetz, nach dem alles geschieht, und die Kraft, durch die alles geschieht, auch nicht mehr als zwei getrennte Funktionen unterscheiden. Denn zwischen der gesetzgebenden Instanz, dem Logos, und der alles bewirkenden Kraft, der anagkh, besteht nicht mehr die funktionale Differenz, die wir bei Heraklit anhand der gesetzgebenden Dikh und ihren Schergen, den Erinnyen, beschrieben haben, weil sich jetzt alles je schon unter dem Logos-Gesetz vollzieht, und die Vorstellungen von Gewalt und Strafe deshalb als absurd erscheinen müssen. Wenn der »Satz von der Notwendigkeit« dennoch zwischen dem »logo@« und der »anagkh« unterscheidet, dann kann der Begriff der »anagkh« hier keine andere Bedeutung haben, als festzustellen, dass eben alles, was geschieht, unter dem einen Gesetz geschieht, d. h. dass alles gesetzmäßig geschieht. Und der Begriff des »logo@« kann nur das Eine Gesetz bezeichnen, das schlechthin einfach und unauflöslich ist, und das zugleich doch allgemein ist, weil nach ihm, wie der Satz sagt, alles geschieht. Dieses Gesetz lässt sich daher das »Gesetz der Erfahrung« nennen, weil nichts, was irgend geschieht, aus Zufall, sondern alles nach diesem Einen Gesetz geschieht 154 . Die Annahme einer solchen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens löst nun in konsistenter Weise die Frage, wie das sinnlich Veränderliche unter das gedachte Eine gebracht, wie also sinnliche Erfahrung und reines Denken zu einem Erfahrungswissen verbunden werden können. Denn in der Form der Anschauung des Gegebenen als selbstloser, im Leeren bewegter Atome hat das Logos-Gesetz nicht mehr die paradoxe Struktur einer Einheit Entgegengesetzter, sondern ist das einfach Allgemeine. Es ist einfach, weil es rein gedacht ist; es ist allgemein, weil alles nach ihm, d. h. gesetzmäßig, geschieht. Dieses »Gesetz der Erfahrung«, das der »Satz von der Notwendigkeit« ausdrückt, ist freilich nicht aus der Erfahrung gewonnen, da diese nichts Einfaches zeigt; es entstammt aber auch nicht dem reinen Denken, weil dieses nicht die Allgemeinheit des Gesetzes begründet. Ihm liegt vielmehr das epistemologische Prinzip zugrunde, dass der Logos in stehung der Tiere V 8, 789b 2), dann versteht auch er die »anagkh« nicht im Sinne des Zufalls. 154 F. A. Lange geht zu weit, wenn er dieses Gesetz umstandslos mit dem »mathematisch-mechanischen Gesetz« identifiziert, »dem die Atome in ihrer Bewegung mit unbedingter Notwendigkeit folgen« (Lange 1974, Bd. 1, 16). Vgl. dazu: Gadamer 2000, 108 ff.
184
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
allem herrscht; und gibt auf die Frage des »Wie« der Herrschaft eine einfache und konsistente Lösung: weder durch Zufall noch Gewalt, sondern durch Gesetzmäßigkeit. a.
Das Gesetz der Gleichheit
Nun ist die Annahme einer Gesetzmäßigkeit allen Geschehens in epistemischer Hinsicht nur formell, wenn nicht auch gesagt wird, was das Gesetz sei, das die Bewegung der Atome ›steuert‹. Als Gesetz, das alle Erfahrung bestimmt, kann es nicht nur das Eine in allem sein, sondern muss auch die Funktion der epistemischen Regel enthalten, nach der das sinnlich Gegebene in seiner ›Wahrheit‹ erkannt wird. Doch welches Gesetz ließe sich anführen, das zum einen in der Autonomie des Logos begründet ist, und das zugleich doch die Regel enthält, die die Erfahrungswelt ordnet? Eine solche Regel hat Demokrit – vielleicht schon Leukipp – mit dem Gesetz der Gleichheit aufgestellt: »Gleiches zu Gleichem« (to omoion pro@ to omoion). 155 Zwar ist von ihm gesagt worden, es sei eine alte Lehre 156 , und man hat nahegelegt, Demokrit habe es empirisch, aus der Beobachtung der Natur, gewonnen 157 . Umgekehrt wird aber auch berichtet, Demokrit habe mit ihm nicht nur einzelne Vorgänge wie den Magnetismus oder die Entstehung des Meeres 158, sondern auch die Entstehung der Weltordnung insgesamt bzw. der Welten (kosmoi) erklärt 159 . Wir betrachten daher das Gesetz der Gleichheit in letzterem Sinn als Bestimmung der universellen Regel, nach der, wie Leukipp und Demokrit sagen, alles geschieht. So gesehen mag das ›Alter‹ und der empirische Charakter dieses Gesetzes als
155 Sextus Empiricus 1998, VII 116 f.: »Es gibt eine alte … Lehre, dass Gleiches durch Gleiches erkannt werden kann … Demokrit stellt dieses Gesetz für beseeltes und unbeseeltes auf.« – siehe auch: Diogenes Laertius 1998, IX 31. 156 Aetios IV 19: »w@ aiei ton omoion agei jeo@ w@ ton omoion« [Odyssee 17, 218] – Vgl. Müller 1965. 157 Sextus Empiricus 1998, VII, 116 f. (Fr. 164) »… Denn dort ordnen sich durch den Wirbel des Siebes gesondert Linsen zu Linsen, Gerste zu Gerste und Weizen zu Weizen; hier aber werden durch die Bewegung der Welle die länglichen Kiesel zu dem den länglichen selben Ort gestoßen, die runden zu dem den runden – als hätten die Dinge die Gleichheit in sich, die sie zusammenführt.« 158 Alexander von Aphrodisias, Quaestiones II 23 (Jürss 1977, 145); Theophrast Fr. 8 (DK 68 A 99a). 159 siehe insbesondere: Diogenes Laertius 1998, IX 31.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
185
Das griechische »Projekt Autonomie«
Belege dienen, dass es für sie schon immer und überall seine Geltung hatte 160 . Versteht man den Satz: »Gleiches zum Gleichem« zunächst nur als Formel für den Grundsatz, dass »alles aus dem Logos und unter der Notwendigkeit geschieht«, so folgt daraus, dass der Logos weder nach dem Gesetz der Identität, wie für Parmenides, noch nach der »Einheit Entgegengesetzter«, wie für Heraklit, sondern nach dem Gesetz der Gleichheit herrscht; dass daher das Seiende auch nicht ›gefesselt‹ ist oder alles ins Entgegengesetzte umschlägt, sondern dass alles, was ist, gleich ist. Nach dieser Regel ist also ›in Wahrheit‹ alles gleich bzw. kommt zu Gleichem nur Gleiches. Unter seiner Herrschaft ist, so interpretieren wir das Gesetz, alles Heterogene und Polyvalente ausgelöscht, zur bloßen Meinung (nomo@) herabgesetzt. ›Wahr‹ hingegen (eteh) ist: alles ist gleich, im leeren Raum gleichartig bewegte Gleiche. 161 Insofern ist die Gleichheit das Gesetz, das im Reich der Atome und dem Leeren herrscht. Nun hat das Gesetz der Gleichheit für Demokrit jedoch nicht nur diese meta-physische Bedeutung, sondern auch die phänomenologische Funktion, die sinnliche Erfahrungswelt zu erklären, in der freilich das, was ist, nicht gleich, sondern als verschieden und veränderlich gegeben ist. Wie aber kann unter dieser Voraussetzung der einfache Satz: »Gleiches zu Gleichem« als allgemeines Gesetz der Erfahrung begründet werden? Dieses Problem von metaphysischer Gleichheit und empirischer Vielfalt löst Demokrit bekanntlich mit der Annahme, dass die Atome zwar Volle sind, einfach Seiende; dass ihnen aber unveränderlich eine unendliche Vielzahl der Gestalten und Größen zukommt 162 . Diese unteilbar Seienden, die zugleich Gestalt und Größe haben 163 , hat er 160 So Löbl 1987, 121: »… die Beispiele … haben nur induktive Funktion; sie sollen das Bestehen, die Gültigkeit des Gesetzes ›Gleiches zu Gleichem‹ aus der Natur belegen.« 161 Vgl. Aristoteles, Vom Werden und Vergehen, I 7, 323b 10 ff. 162 Gegen die unendliche Vielzahl der Größen hat Epikur eingewandt, dass man dann »auch Atome von unendlicher Größenordnung annehmen (müsste)« (Brief an Herodotes 42; zit. nach: Jürss 1977, 207; vgl. auch Aetios I, 12, 6). Simplikios führt als Begründung Demokrits an, dass es apriori kein Argument gebe, die Vielfalt der Größen zu beschränken. – Zum »ou mallon«-Argument siehe: Kirk 1994, 453, Anm. 14. 163 Hegel sieht darin einen Widerspruch: »Die Atome sind ganz einfache Eins; von Gestalt, Ordnung kann da nicht die Rede sein; sie sind einander vollkommen gleich, einer solchen Verschiedenheit gar nicht fähig; …« (Hegel 1969 ff., Bd. 18, 363; auch: Bd. 5, 186). Hegel hat jedoch ein anderes Anliegen: er will nicht das Vielfältige der sinnlichen Erfahrung überhaupt unter die Form eines einfachen Gesetzes bringen, sondern erkennt
186
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
vielleicht – im Unterschied zu den rein angeschauten atoma – als »ideai« bezeichnet 164 . Unter der Annahme einer solchen unendlichen Vielzahl von »Ideen« formuliert nun aber der Satz: »Gleiches zu Gleichem« das Gesetz, nach dem diese gestalteten Raumgrößen – wie Kiesel in der Brandung – aus dem ordnungslosen Zustand ihrer räumlichen Bewegung in einen geordneten Zustand übergehen, indem solche von gleicher Art – »als hätten sie die Gleichheit in sich« (Fr. 164) – zusammengeführt und solche von ungleicher Art getrennt werden. So verstanden benennt also dieser Satz nicht nur das Prinzip der Gleichheit von allem, sondern führt auch die Regel an, nach der der Logos in allem herrscht: ›in Wahrheit‹ ist das sinnlich Vielfältige und Veränderliche nichts als das Geschehen des Auf- und Abbaus von Ordnungszuständen verschieden gestaltiger Atome, das sich nach dem einen Gesetz der Gleichheit vollzieht. Nehmen wir an, dass diese zwei Bedeutungen des Satzes: »Gleiches zu Gleichem«, die metaphysische, nach der alles Seiende von gleicher Natur ist, und die phänomenologische, nach der Gleichgestaltiges mit Gleichgestaltigem zusammengeführt wird, sich auf ein und dasselbe Gesetz beziehen 165 , dann lässt sich in der Tat sagen, im Atom die logischen Bestimmungen des ›Fürsichseins‹. So verstanden, muss freilich der ›Übergang‹ von der Gleichheit der Atome zur Verschiedenheit ihrer Gestalten als willkürlich erscheinen. Doch Hegels Problem ist nicht das »der Alten«. – Näher kommt dem P. Natorps Erklärung: »Das ›Wahre‹, die Realität, liegt auch bei den Atomisten … in Begriffen des Verstandes; nur nicht in solchen, welche, wie die eleatischen, die Erscheinung einfach und schlechthin negiren, sondern auf sie allerdings eine nothwendige Beziehung haben und ihre Bewährung allein darin finden, dass sie die Erscheinungen erklären, ein Verständnis derselben eröffnen« (Natorp 1884, 171). 164 siehe Plutarch, adversus Colotem, 8, 1110F (DK 68 A 57); Löbl 1987, 93; Löbl 1989, 26; Wismann 1979, 41. 165 Diese Ineinssetzung kann nicht außer Acht lassen, dass die Bezugsebenen dennoch verschieden sind. Im Fall der atoma ist die Gleichheit arithmetisch, im Fall der ideai ist sie geometrisch. Epikur hat deshalb zwischen den »Atomminima« (atomoi arcai), die nur gedacht werden, und den »Atomkörpern« (atoma stoiceia), aus denen alles sinnlich Wahrnehmbare besteht, unterschieden. Doch auch mit dieser Unterscheidung löst Epikur die Aporie nicht, sondern formuliert sie nur: Wenn die Atome Größe haben, müssen sie als teilbar angenommen werden; wenn sie als unteilbar angenommen werden, können sie keine Größe haben. (siehe: Epikur, Brief an Herodotos 56–59; zit. nach: Jürss 1977, 73 f., 503 f.). Der Differenz der zwei Bezugsebenen korrespondieren zwei Demokrit-Bilder: der kalte Analytiker, der in »eisige(r) Konsequenz … alle qualitativen Differenzen aus den primären Wirklichkeiten des Seins und alle geistigen Kräfte aus dem Begriff der Naturordnung ausschaltet« (Gadamer 2000, 110), und der umtriebige Empiriker, der für alles A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
187
Das griechische »Projekt Autonomie«
dass Demokrit mit diesem Satz ein einfaches und zugleich allgemeines Gesetz aufgestellt hat, dem die Welt der Erfahrung unterworfen ist. Die Instanz, die den Satz epistemisch begründet, ist der Logos, der das Gesetz der Gleichheit selbst gibt (»ek logou«); und die Instanz, die die allgemeine Geltung des Gesetzes bewirkt, ist die Notwendigkeit, unter der alles sinnlich Erfahrbare nach diesem Gesetz geschieht (»up’ anagkhn«). Mit dessen Geltung ist die sinnliche Erfahrung, die das Gegebene als verschieden, als entstehend und vergehend, zeigt, zur bloßen »Meinung« (nomo@) herabgesetzt, da allem ›in Wahrheit‹ (eteh) das Gesetz der Gleichheit zugrunde liegt. Dieses Gesetz vereinigt so das Vielfältige und Veränderliche, wie es die Erfahrung zeigt, mit der Idee des unveränderlich Einen in einem Erfahrungswissen, weil es nicht nur angibt, dass alles gesetzmäßig, sondern auch wie es gesetzmäßig geschieht. b. Anhang: der »Wirbel« (dino@) Leukipps und Demokrits Theorie der Weltentstehung kann als Prüfstein dienen, ob alles tatsächlich nach dem Gesetz: »Gleiches zu Gleichem« geschieht. Denn wenn es möglich ist, die Komplexität der Erfahrungswelt mittels dieses einfachen Gesetzes zu erklären, dann würde dies beweisen, dass es keiner zusätzlichen Annahmen von ordnenden ›Mächten‹ oder wirkenden ›Kräften‹ bedarf. In diesem Sinne bildet die Kosmogonie quasi die ›Deduktion‹ von der metaphysischen Ebene des Reichs gleichartiger Atome auf die phänomenologische Ebene der Sinnenwelt. Diese »Deduktion« soll als Exkurs skizziert werden. a) Im Zentrum dieser Kosmogonie steht der »Wirbel« (dino@). Dies belegen Aristoteles, Simplikios, und Diogenes Laertius 166. Unter einem »Wirbel« verstehen wir die rotierende Bewegung vieler und verschiedenartiger Atome. b) Hinsichtlich des Anfangszustands besteht Übereinstimmung, und jedes eine Erklärung gibt. Für jenes Bild hat schon Epikur die Vorlage gegeben: »Denn es wäre besser, dem Mythos über die Götter zu folgen, als sich zum Sklaven der Schicksalsnotwendigkeit der Naturphilosophen zu machen.« (Brief an Menoikeos 134; zit. nach: Jürss 1977, 239 f.) Dieses Bild zeichnet B. Russell: »Diese Philosophen interessierten sich für alles – für Meteore und Finsternisse, für Fische und Wirbelstürme, Religion und Moral; scharfer Verstand paarte sich bei ihnen mit kindlichem Eifer.« (Russell 1999, 94). 166 Aristoteles, Physik II 4, 194a 24; Simplikios zu Aristoteles, Physik 327, 23; Diogenes Laertius 1998, IX, 31.
188
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
dass die Atome ursprünglich im Zustand der Bewegung waren 167 ; Uneinigkeit jedoch, über die Art der Bewegung. Während Diogenes Laertius und Hippolyt von einer gleichgerichteten Bewegung der Atome »in das große Leere« (ei@ mega kenon) berichten 168 , beschreiben Simplikios, Aetios und Eusebios den Anfangszustand als zufällig, regellos und ungerichtet 169 . Wir folgen letzteren, da sich jener Bericht wohl auf Epikurs – anders motivierte – Theorie des »freien Falls« bezieht 170 , und nehmen daher an, dass das regellose und ungerichtete ›Spiel der Atome‹ den Anfangszustand bezeichnet. 171 c) Auf die Frage nach der Ursache des Wirbels sind zwei scheinbar verschiedene Antworten gegeben worden: das »von selbst« (automatw@) bzw. das »notwendig« (anagkh). Aristoteles und Simplikios überliefern, Leukipp und Demokrit hätten den Wirbel »aus dem von selber und dem Schicksal« (apo tautomatou kai tuch@) hervorgehen lassen. 172 Diogenes Laertius hingegen berichtet, Ursache sei der Wirbel, den Demokrit anagkh nennt 173 . Wenn wir angesichts dessen annehmen, dass die Antworten eigentlich dasselbe bezeichnen, nämlich die »anagkh« als eine zwecklos und insofern »von selber« wirkende Ursache, dann stimmen beide mit Leukipps Grundsatz überein, dass nichts umsonst, sondern alles – damit auch der Wirbel – aufgrund der Notwendigkeit (up’ anagkh@) geschieht. 174 167 Dieser Anfangszustand bezeichnet die Differenz zur Kosmologie des Anaxagoras. In ihr waren alle Dinge anfänglich zusammen (Fr. 1) und sind durch den Geist (nou@) in den Wirbel versetzt worden. In ihr ist der Geist die Ursache der Bewegung und der Rotation. – Leukipps Schrift »peri nou« könnte eine Auseinandersetzung darüber enthalten haben. Vgl. Kirk 1994, 442. 168 Diogenes Laertius 1998, IX, 31; Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 12, 1 (DK 67A10). 169 Simplikios, Über den Himmel, 242, 15 ff.; Aetios, I, 4, 1 ff. (DK 67 A 24); Eusebios, Praeparatio evangelica, XIV 23, 2 (DK 68A43). 170 zur Differenz der demokritischen zur epikureischen Theorie der »Anfangsbedingungen« siehe: Jürss 1977, 127, Anm. 3. 171 Siehe auch: Guthrie 1969, 404; Luria, Mechanika Demokrita, 132. – Neben der Regellosigkeit kann noch ein Zustand der Gleichverteilung der Atome nach dem demokritischen Prinzip des »ou mallon« angenommen werden. Siehe dazu: Aristoteles, Physik III 4, 203b 25: »Warum nämlich sollte ein Mehr des Leeren in diesem als in jenem sein?« 172 Aristoteles, Physik II 4, 196a 24 ff.; Simplikios zu Aristoteles, Physik 327, 23 ff. 173 Diogenes Laertius 1998, IX, 45: »th@ dinh@ aitia@ oush@ th@ genesew@ pantwn, hn anagkhn legei.« 174 In diesem Sinne sagt auch Aristoteles: Demokrit »führt alles, dessen sich die Natur bedient, auf die Notwendigkeit (ei@ anagkh@) zurück« (Über die Entstehung der Tiere V 8, 789b 2 f.).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
189
Das griechische »Projekt Autonomie«
Unter diesen Bedingungen lässt sich nun die Entstehung des Wirbels als ›Übergang‹ aus dem regellosen Anfangszustand der Atome in den geordneten Zustand der rotierenden Bewegung verstehen, der notwendig und gesetzmäßig geschieht: im homogenen, regelund richtungslosen Anfangszustand verursacht die anagkh nach dem Gesetz der Gleichheit irgendwo im Raum eine Änderung 175 . Sie beschreibt Diogenes Laertius (IX, 31) als eine »Ballung« (ajroisjenta), die sich von dem Unendlichen abtrennt (apotomh ek th@ apeirou). In dieser abgetrennten »Ballung« entsteht nun ›plötzlich‹ (exaiynh@) ein Wirbel, in dem die Atome eine gleichartige Kreisbewegung haben. Durch die Rotation streben jetzt gleiche zu gleichen, die größeren Atome streben zur Mitte und die kleineren an die Peripherie; sie erhalten dadurch die wahrnehmbare Qualität der Schwere bzw. der Leichte, so dass die festwerdende Erde und der sichtbare Himmel sich trennen, die Sterne durch Rotation sich entzünden und leuchten, und so die sichtbare Ordnung entsteht. Nach diesem kosmogonischen Modell entsteht also der Wirbel nicht ›zufällig‹, sondern ›plötzlich‹. 176 Seiner Entstehung geht das Wirken der anagkh voraus, die nicht ›blind‹, sondern nach dem einfachen Gesetz des »Gleiches zu Gleichem« in der regellosen Homogenität des unendlichen Raumes eine Inhomogenität bewirkt, aus der plötzlich ein rotierende Bewegung entsteht. Das ›plötzlich‹ drückt aus, dass ein solcher Wirbel einerseits nicht aus Zufall, sondern nach dem Gesetz des Logos entsteht; dass er andererseits aber nicht zweckmäßig, sondern gesetzmäßig, nicht durch den nou@, sondern durch die anagkh nach dem Gesetz der Gleichheit entsteht. Die Entstehung von Ordnung aus Unordnung ist weder zufällig noch absichtlich; sie entsteht plötzlich, aber notwendig. 177 175 Dem ›irgendwo‹ entspricht, dass Leukipp und Demokrit die Existenz nicht nur des einen Kosmos’, sondern vieler Kosmoi angenommen haben, und der sichtbare nur einer von vielen sei. Siehe dazu: Hippolytos, Refutatio omnium haeresium, I, 13, 2 f. 176 Die Annahme des ›plötzlich‹ der Entstehung von Ordnung aus Unordnung hat Ähnlichkeit mit modernen Theorien spontaner Selbstorganisation. Vgl. dazu: Prigogine 1984, 14. 177 vgl. dazu F. Nietzsches Deutung: »Die Weltbildung dachte Demokrit sich so: im unendlichen Raume schweben die Atome in ewiger Bewegung: dieser Ausgangspunkt wird oft im Alterthum getadelt: aus dem ›Zufall‹ concursu quodam fortuito … sei die Welt bewegt und entstanden. Der ›blinde Zufall‹ herrsche bei den Materialisten. Dies ist eine ganz unphilosophische Ausdrucksweise: es soll heissen, die zwecklose Causalität, die anagkh ohne Zweckabsichten; es gibt eben hier gar keinen Zufall, sondern strengste Gesetzmässigkeit, nur nicht nach vernünftigen Gesetzen.« (Nietzsche 1994, 97).
190
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Unsere Rekonstruktion kann nicht entscheiden, wie Leukipp und Demokrit die Entstehung des Wirbels ›tatsächlich‹ konzipiert haben. Sie sollte nachzeichnen, dass der »Übergang« aus dem metaphysischen Reich der bewegten Atome in das phänomenologische Reich der erfahrbaren Vielfalt nicht vermittlungslos als ein ›Sprung‹ verstanden werden muss – und damit der »Satz von der Notwendigkeit« leeres Gerede wäre. Denn wenn Leukipp und Demokrit die Entstehung der sinnlichen Erfahrungswelt nach dem einfachen Gesetz der Gleichheit erklärt haben, dann wäre diese Erklärung der Beweis für den Grundsatz, dass in der Tat alles, was geschieht, »aus dem Logos und unter der Notwendigkeit« geschieht. 178
B.
Platon: Die »gute Ordnung« als Grundsatz des Logos-Wissens
Der folgende Teil wird die Philosophie Platons nur in so weit rekonstruieren, als sie die Alternative zu dem Konzept darstellt, das Erfahrungswissen auf die Idee der Notwendigkeit zu gründen. Dazu gehen wir davon aus, dass ihr zwar gleichfalls der »Satz vom Logos« vorausgesetzt ist und mit ihm die Annahme des Einen, das allem das Gesetz gibt; dass sie aber auf das Wie der Herrschaft eine entgegengesetzte Antwort gibt: statt Erfahrungswissen auf die Anschauung der im Leeren bewegten Atome und die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit allen Geschehens zu gründen, gründet es Platon auf den nou@, der alles »auf das Beste« (beltista) ordnet. Bleibendes Erfahrungswissen wird daher nicht durch die Prinzipien der Gleichheit und Notwendigkeit, sondern durch das Prinzip der »guten Ordnung« begründet; und es besteht in der Erkenntnis dessen, was das Beste ist. Dieses Konzept der »guten Ordnung« soll in drei Schritten rekonstruiert werden: Im ersten Schritt wird Platons Lehre vom Wis178 Diese Kosmogonie unterscheidet sich wesentlich von den späteren Kosmogonien Descartes’ und Kants. Zwar gehen auch sie von einem Anfangswirbel aus, nehmen aber zur Erklärung der Weltordnung mathematische Gesetze an: Descartes des Stoßes, Kant der Gravitation. Von seiner »Theorie des Himmels« bemerkt Kant, sie scheine mit der von Demokrit und Epikur »größte Ähnlichkeit« zu haben (TH I 226), aber der große Unterschied sei, dass dort alles aus dem Zufall hergeleitet würde, während hier notwendige Gesetze zugrundegelegt werden, die auf eine »höchst weise(.) Absicht« (I 228) hindeuten. Die Idee des weisen Weltplaners fehlt Leukipp und Demokrit in der Tat; sie brauchen ihn nicht.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
191
Das griechische »Projekt Autonomie«
sen als Schau der ewigen und unbewegten Ideen dargestellt, an denen die sinnlichen Dinge teilhaben. Im anschließenden Teil wird Platons kritische Reflexion auf diese Lehre behandelt und die Erkenntnis der »guten Ordnung« als Produkt des »noetischen Denkens« rekonstruiert. Der dritte Teil schließlich geht der Konzeption nach, die sinnliche Erfahrungswelt als Abbild der noetischen Ordnung darzustellen. Bei diesem Vorgehen stellt sich uns in methodischer Hinsicht das entgegengesetzte Problem. Hatten wir die Epistemologien bislang aus dem rudimentären Bestand der überlieferten Fragmente rekonstruiert, besteht im Fall der Philosophie Platons nicht nur das Problem der Fülle des Überlieferten, sondern auch des literarischen Charakters der Dialoge. Hinzu kommt die Frage nach Platons »ungeschriebener Lehre«. Was wir daher in Absicht der Rekonstruktion auswählen und hervorheben, bildet in der Gestalt der einzelnen Dialoge wie auch im Gesamtwerk Platons ein weit komplexeres Ganzes. Unser Vorgehen, zunächst die Lehre von der Schau der Ideen vom Konzept des noetischen Denkens zu unterscheiden, um auf dieser Grundlage dann Platons Kosmologie zu rekonstruieren, geschieht jedoch nicht aus hermeneutischem Interesse; es beansprucht weder, die Dialoge, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, noch das Gesamtwerk Platons verstehend nachvollziehen. Es folgt vielmehr der genannten systematischen Fragestellung, wie Platons Philosophie das epistemologische Problem löst, das heteronome Erfahrungswissen auf ein gesetzgebendes Prinzip zu gründen. 1.
Die Schau der Ideen
Im »Phaidon« (96a–101e) lässt Platon Sokrates berichten, er sei zu einer »zweiten Fahrt« (deutera plou@) aufgebrochen, nachdem die erste gescheitert sei. Nachdem er sich den Satz, dass der Nous alles ordne und die Ursache von allem sei, als Grundsatz zu eigen gemacht habe, sei er von der Art enttäuscht worden, wie dieser Grundsatz angewandt wurde. Statt des Nous seien »die Luft und der Äther und das Wasser und manches Ungereimte mehr« zur Ursache der Ordnung der Dinge gemacht worden. Diese Erklärungen aber machten vom Begriff der Ursache keinen richtigen Gebrauch. Es dürfte nun diesem Bericht nicht widersprechen, wenn wir zu den genannten Ursachen noch die bewegten Atome hinzufügen (und dem »manches 192
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Ungereimte mehr« zuordnen). Sokrates’ Enttäuschung lässt sich dann so verstehen, dass es ihm widersinnig erschien, den Nous zwar zum Ordner und Urheber von allem zu erheben, dann aber statt dessen gewisse Elemente wie Luft, Wasser oder Atome – von uns so genannte »logifizierte Vorstellungen« – zur Ursache zu machen, um aus deren Beschaffenheit oder Anordnung die sichtbaren Dinge zu erklären. Denn dadurch werde – entgegen dem Grundsatz – nicht der Nous selbst, sondern etwas anderes, was doch nur Mittel ist 179 , zum Prinzip der Erklärung gemacht. Dies aber sei keine konsistente Auslegung des Grundsatzes. a.
Die »zweite Fahrt«
Nach dem Scheitern der »ersten Fahrt« beschloss Sokrates, sich nicht mehr den Dingen (pragmata), sondern den sogenannten »logoi« (99e) zuzuwenden und in diesen die »Wahrheit über das Seiende« zu erforschen. Diese »zweite Fahrt« kann nach dem Bisherigen nur darin bestehen, von dem Grundsatz ausgehend, dass der Nous der Ordner und Urheber von allem sei, diejenige Ordnung der Dinge zu suchen, in denen dieser selbst als Urheber erkannt wird. Die gesuchten »logoi« sind demnach zwar – wie die Atome – als ein eigenständiges »drittes Reich« zwischen dem Gedachten, das nur ist, und dem Sinnlichen, das nur wird, als ein Reich von sich selbst gleichen tauta zu verstehen. Aber ihre Bestimmtheit kann nicht in der räumlichen Anschauung, in Bewegung, Größe und Gestalt gegeben sein, sondern muss in der Seele selbst in derjenigen einfachen und vollkommenen Bestimmtheit gefunden werden, die Sokrates das »to auto kaj’ auto« nennt. 180 Denn nur von solch Vollkommenen ließe sich sagen, dass sie den Nous als Urheber haben. 179 Platon, Phaidon 99b: Wörtlich: »… etwas anderes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte« (… allo de ekeino aneu ou to aition ouk an pot’ eih aition). 180 Sokrates verdeutlicht diesen Unterschied am Beispiel des Schönen: »… wenn mir einer behauptet, dass irgend etwas deshalb schön sei, weil es eine glänzende Farbe habe oder eine schöne Gestalt oder sonst etwas dieser Art, dann lasse ich das alles unbeachtet, weil es mich doch nur verwirrt, und halte mich schlicht und einfach und vielleicht einfältig nur an das eine, dass gar nichts anderes es schön macht als die Gegenwart jenes Schönen oder die Gemeinschaft mit ihm, oder wie der Zusammenhang zwischen den beiden sein mag – darüber will ich nichts Bestimmtes mehr behaupten, sondern nur – dass alles Schöne durch das Schöne schön ist (oti tw kalw panta ta kala [gignetai] kala). Denn diese Antwort kann nach meiner Überzeugung ich und jeder andere mit unbedingter Gewissheit (asyalestaton) geben.« (Phaidon 100c-d) – Während also
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
193
Das griechische »Projekt Autonomie«
Diese »zweite Fahrt« wollen wir also in der Weise nachvollziehen, dass sie vom Grundsatz ausgeht, dass der Nous der Ordner und Urheber von allem sei; dass sie von da aber nicht in die räumliche Anschauung »logifizierter Vorstellungen«, den sog. »Elementen«, springt, sondern das Programm formuliert, in der Seele selbst nach denjenigen Seienden zu suchen, die dem Grundsatz entsprechen. Wie aber können die gesuchten gefunden werden? a. Die Seele als »Spiegel« der Ideen Im »Staat« (507b–509b) vergleicht Sokrates die Erkenntnis der gesuchten logoi mit dem Sehen (oran). Denn, so das Argument, wenn es darum geht, den Nous als den Urheber solcher logoi zu erkennen, dann kann ihre Erkenntnis mit keinem anderen Sinn als dem Sehen verglichen werden, da die anderen Sinne keines Dritten (triton) bedürfen. Nur das Sehen bedarf dreierlei: des Gegenstands, des Auges sowie des Lichts. Und so wie das Auge sieht, weil das Gesehene durch ein Drittes, das Licht, sichtbar wird und das Auge durch das Licht seine Sehkraft erhält, so erkennt – in Analogie dazu – die Seele die Ideen (eidh) im ›Lichte‹ eines Dritten. Sie erkennt die Ideen, weil sie durch dieses Dritte erkennbar werden, und die Seele durch es die Kraft der Erkenntnis erhält. Von diesem Dritten nun, »das dem Erkannten die Wahrheit verleiht und dem Erkennenden die Kraft gibt, sage, es ist die Idee des Guten. Diese Ursache des Wissens und der Wahrheit wird zwar durch den Verstand erkannt, aber – wiewohl beide, die Erkenntnis und die Wahrheit, schön sind – so wirst du das Rechte treffen, wenn du sie selbst als ein anderes und schöneres annimmst« (508e; H. v. m.), weil, so wollen wir ergänzen, durch sie erst die beiden anderen schön sind. Und so wie die Gegenstände durch das Licht der Sonne nicht nur sichtbar werden, sondern das Licht sie auch wachsen lässt, ohne selbst zu wachsen, so werden auch die Ideen durch das Gute nicht nur erkennbar, sondern erhalten »von ihm auch das Sein und das Wesen; es selbst aber ist kein Seiendes, sondern reicht über das Seiende an Würde und Kraft hinaus« (509b). Diese Analogie der Erkenntnis mit dem Sehen ist offenbar als Einlösung des Programms jener »zweiten Fahrt« zu verstehen, das Wissen von dem, was ist, auf nichts als den Nous als Urheber zu gründen. Die Idee des Guten (idea tou agajou) ist die Ursache sojene Art von Antworten nur Verwirrung stiftet, ist diese Art der Antwort von unbedingter Gewissheit.
194
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
wohl der Wahrheit des Erkannten als auch der Erkenntnis der Seele, so dass für die menschliche Seele ein im Nous begründetes und bleibendes Wissen nur in Bezug auf dieses Dritte möglich ist. Weder, so können wir daraus schließen, können die gesuchten logoi unmittelbar in der menschlichen Seele gefunden werden, noch besitzt sie aus sich selbst die Kraft, sie zu erkennen; sie werden als Ideen nur im und durch das Licht des überseienden Guten erkennbar, und nur durch es erwächst der Seele die Kraft ihrer Erkenntnis. Hier also wird die Wahrheit des Erkannten nicht, wie bei Parmenides, in »verlässlicher Rede« (pisto@ logo@) offenbart und mitgeteilt und auch nicht, wie bei Heraklit, im »Hören des Logos« (tou logou akousa@) vernommen, sondern im »Licht des Guten« eingesehen. Auf die Frage also, wie die gesuchten logoi zu finden seien, lässt Platon Sokrates antworten: sie werden ›im Licht des Guten‹ gefunden. Doch erfüllt dieses Konzept des Schauens der Ideen, was die »zweite Fahrt« bringen soll: nämlich ein Wissen von der Art, dass – anders bei Luft, Äther, Wasser »und manchem Ungereimten mehr« – in den logoi zugleich der Nous als Urheber von allem erkannt wird? Zwar gründet in diesem Fall die Erkenntnis dessen, was ist, in der Tat in einem Dritten, das die Ursache der Wahrheit und der Erkenntnis ist. Aber in der Form des Sehens werden die Ideen nur in ihrem Ansichsein (auto kaj’ auto), in ihrer »königlichen Abgeschiedenheit« 181 , erkannt; nicht jedoch, dass der Nous ihr Urheber ist. Denn so wie im Licht der Sonne die Dinge zwar gesehen werden, aber das ›Ursache-Sein‹ des Sonnenlichts nicht gesehen wird, sondern hinzugedacht werden muss, so werden im Licht des Guten zwar die Ideen wie auch die Idee des Guten selbst erkannt, aber das, worauf es ankommt, nämlich das ›Ursache-Sein‹ des Guten für die Erkenntnis und das Erkannte wird auf diese Weise nicht erkannt. – Wenn Platon also im »Staat« anstelle des Hörens das Sehen in die Epistemologie einführt – und er die Sehkraft als den »weit kostbarsten« (polutelestathn; 507c) der Sinne bezeichnet –, um zu erklären, wie jene logoi, die den Nous zum Urheber haben, erkannt werden können, so erreicht dieses Gleichnis nicht sein Ziel. Es kann das Programm nicht einlösen, weil nach Art des Sehens im Licht des Guten zwar 181 Diesen treffenden Ausdruck hat J. Dewey geprägt: »Der wirkliche Gegenstand, der in seiner königlichen Abgeschiedenheit so unverändert ist, dass er für jeden schauenden Geist, der auf ihn blickt, ein König ist. Das unvermeidliche Ergebnis ist eine Zuschauertheorie des Erkennens.« (Dewey 1998, 27).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
195
Das griechische »Projekt Autonomie«
die Ansichseienden, aber nicht das ›Ursache-Sein‹ des Guten erkannt wird. Platon wäre denn auch nicht Platon, würde er Sokrates’ Rede nicht kontern lassen: »Da rief Glaukon recht spöttisch (mala geloiw@): ›Bei Apoll, das ist ein wunderbares/sames Hinausragen!‹ (daimonia@ uperbolh@)« (509c). 182 182 Das Konzept der Ideenschau gibt Anlass, auf die Kritik der Philosophie einzugehen, die R. Rorty in »Der Spiegel der Natur« (1985) vorgetragen hat. Rorty stellt – unter Bezugnahme auf Dewey, Heidegger und Wittgenstein – in seiner Kritik die »visuelle Metapher« ins Zentrum. Die abendländische Philosophie sei vom Bild des Geistes als dem »Spiegel der Natur« geleitet worden. Auch wenn Rorty dann näher auf die neuzeitlichen Philosophen, Descartes, Locke und Kant, eingeht und sie von der antiken Philosophie dadurch unterscheidet, dass diese den Geist als »Spiegel« aufgefasst habe, während jene diesen »Spiegel« noch einmal beobachtet haben, so sei das Spiegel-Bild des Geistes doch der Mythos, der, selbst unbefragt, der abendländischen Philosophie zugrunde liegt und in der griechischen Antike seinen Anfang hat. Mit der Aufklärung über diesen Mythos verbindet Rorty die Hoffnung, ihn zu beenden. An die Stelle der Konfrontation: Ding – Spiegel solle die Kommunikation treten. Angesichts der zentralen Bedeutung, die Rorty dem Spiegel-Bild für die abendländische Philosophie zuschreibt, erscheint es merkwürdig, wie nonchalant er mit der Entstehungsfrage dieser Metapher umgeht. Er schreibt: »Wie wir Neuzeitlichen mit der Undankbarkeit späterer Einsicht [vollzieht sich die Kritik der Ein-Sicht wiederum als EinSicht?] sagen können, gab es keinen besonderen Grund, warum diese visuelle Metapher von der Phantasie der Begründer des westlichen Denkens Besitz ergreifen konnte. Es geschah jedoch, und die Philosophen arbeiten noch immer die Konsequenzen aus. Sie analysieren die Probleme, die sich daraus ergaben, und stellen die Frage, ob an der Sache nicht ›doch etwas dran‹ gewesen sein mochte. Die Vorstellung der Kontemplation, der Kenntnis allgemeiner Begriffe und Wahrheiten als Qewria, macht das innere Auge zum unausweichlichen Modell des besseren Wissens. Es ist jedoch fruchtlos, die Frage aufzuwerfen, ob die griechische Sprache oder die griechischen ökonomischen Bedingungen oder die müssige Phantasie eines namenlosen Vorsokratikers dafür verantwortlich sind, dass dieses Wissen als ein Sehen von etwas aufgefasst wurde (statt etwa als ein Sichreiben gegen etwas, oder als ein Am-Boden-Zertreten von etwas, oder als den Umstand, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben).« (51) Und in der Fußnote fügt Rorty hinzu: »Es lässt sich schwer sagen, ob die visuelle Metaphorik dafür verantwortlich war, dass man sich den Gegenstand echter Erkenntnis als ewig und unveränderlich dachte, oder vielmehr umgekehrt; jedenfalls scheinen beide Vorstellungen wie gemacht füreinander.« Nun ist in Hinblick auf die Geltung des Mythos seine Entstehung in der Tat ohne Bedeutung; denn er gilt, weil und solange er gilt. In Hinblick auf seine Kritik jedoch wird die Frage nach seiner Entstehung zentral. Rorty hat sicher Recht, wenn er mit Ironie feststellt, es sei müßig, die Übertragung des Sehens in die Philosophie der altgriechischen Grammatik, der Produktionsweise oder einem (noch) unbekannten Talent zuschreiben zu wollen. Aber nicht müßig ist es, nach den Gründen zu fragen, das Wissen als ein Sehen von etwas – und nicht als ein Sichreiben gegen, Am-Boden-Zertreten von oder Geschlechtsverkehrhaben mit etwas – zu konzipieren. Diese Frage aber fällt mit den Gründen zusammen, die Sokrates nach dem Referat Platons veranlasst haben, seine
196
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
b. Die Seele als Ort der logoi In anderen Dialogen beschreibt Platon die Erkenntnis der gesuchten logoi nicht mit dem Gleichnis des Sehens, sondern als Gang der Seele zu sich selbst, die sich von ihrer Bindung ans Vergängliche ab- und dem ihr Eigenen zuwendet. 1. Im »Theaitetos«, der der Frage nach dem, was Wissen ist, nachgeht, wird das Wissen als eine Folge von Stufen dargestellt: die erste Stufe sei die Wahrnehmung (aisjhsi@), auf der die Seele in einer Wahrnehmung vermittelst der Sinne erkennt, was wahrnehmbar ist (184d). Die nächste Stufe sei die richtige Meinung (alhjh@ doxa), wo die Seele mit sich selbst beschäftigt ist (187a) und die falsche Meinung von der richtigen unterscheidet. Die dritte Stufe schließlich sei die richtige Meinung, die mit Erklärung verbunden ist (doxa alhjh@ meta logou), die in der Angabe der spezifischen Differenz (diayora) besteht. Worin jedoch das Eigentümliche dieser »erste Fahrt« aufzugeben. Sokrates führt gute Gründe an, warum er gegen eine taktile Metaphorik des Stoßen und Drückens ist. (Er nennt das Ziehen und Drücken der Glieder; er hätte aber auch das Sichreiben oder das Zertreten nennen können). Auf diese Weise, so die Begründung, sei es nicht möglich, zu erkennen, dass der Nous der Urheber von allem sei. Wenn Platon nun die »visuelle Metapher« in die Epistemologie eingeführt hat, so liegt ihr – zumindest nach unserer Rekonstruktion – die Annahme zugrunde, es müsse sog. »logoi« geben, unveränderliche und ansichseiende Entitäten. Deren Erkenntnis beschreibt er im »Staat« als Widerspiegelung der Ideen. Ist dadurch aber das Bild des menschlichen Geistes als »Spiegel der Natur« zum unhinterfragten Mythos der abendländischen Philosophie geworden? Wäre dem so, warum hat Platon selbst andere Bilder geprägt? Nach unserer Auffassung ist nicht das Bild vom Geist als Spiegel der unbefragte Mythos, der die Identität der abendländischen Philosophie stiftet, sondern die Idee des autonomen Subjekts, die unter verschiedenen Namen als »Logos«, »Nous«, »Ratio« oder »Vernunft« dieselbe geblieben ist. Sie liegt den Aporien und Antinomien, den kritischen und selbstkritischen Lösungsversuchen der abendländischen Philosophie zugrunde. Dieser Idee gegenüber sind die Bezugnahmen auf sinnliche Erkenntnis- und Verhaltensweisen sekundär; sie sind Arten, wie dieser »Mythos« konsistent und überzeugend auszulegen sei. Ob die Idee der Herrschaft des Einen dem auditiven Modell des parmenideischen oder heraklitischen Hörens der Wahrheit, dem Riechmodell des Anaxagoras’schen Nous, dem taktilen Modell des Stoßens und Drückens der leukipp-demokritischen Atome im Leeren, dem sexuellen Modell der Vereinigung Entgegengesetzter des Empedokles, dem erotischen Modell der »Heiligen Hochzeit« der menschlichen Seele mit dem Göttlichen in Platons »Symposion« oder eben dem visuellen Modell des Sehens der Ideen nachgebildet wird, – sie umkreisen alle das eine Problem: wie ist die Idee der Autonomie als epistemologisches Prinzip auf die veränderliche Welt der sinnlichen Erfahrungen anzuwenden? Nach unserer Auffassung ist die visuelle Metaphorik eine, wenn auch einflussreiche, Variante abendländischer Philosophie, aber nicht ihr identitäts- und kontinuitätsstiftender Mythos. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
197
Das griechische »Projekt Autonomie«
Wissensart gegenüber der zweiten besteht, wodurch und warum die Verbindung der Meinung mit dem logo@ Wissen ist, und ob dies das gesuchte Wissen ist, lässt der Dialog offen. 183 Sokrates beendet ihn mit der Aporie: »Auch weiß ich nichts von dem, was die anderen berühmten und bewundernswerten Männer der Vergangenheit und Gegenwart wissen und wussten« (210c). 2. Im »Menon« hingegen lässt Platon den Sokrates sagen, dass die gesuchten logoi in der menschlichen Seele schon enthalten seien. In einem gleichsam »mäeutischen Experiment« 184 schließt Sokrates aus der Tatsache, dass der ungelehrte Sklave nur aufgrund von Fragen die richtigen Antworten gibt, dass sie in seiner Seele schon waren, und er sie erinnernd aus sich hervorgeholt habe: »In dem Nichtwissenden also sind von dem, was er nicht weiß, dennoch richtige Meinungen« (85c) 185 . Diese These vom Enthaltensein der logoi erlaubt es Platon zwar, den Gang der Seele zu sich nicht nur als einen Weg vom Meinen zum aporetischen Nichtwissen oder als verschiedene Stufen des Wissens zu beschreiben, sondern ihn als Weg zur Erkenntnis zu begründen, weil das, was die Seele rein aus sich hervorbringt, zugleich als die logoi gelten kann, die, jener Forderung entsprechend, nichts als den Nous zum Urheber haben. Doch mit der Einführung dieser These vom Wissen als Erinnern verschiebt sich nur das Problem der Begründung: sie beantwortet zwar die Frage, warum die Beschäftigung der Seele mit sich in epistemischer Hinsicht ein »Wissen« genannt werden kann, aber sie provoziert die Frage, wie diese These sich ihrerseits begründen lässt. Denn die Annahme, dass das, dessen sich die Seele erinnert, zugleich das sei, das den Nous zum Urheber hat, setzt offenbar ein Wissen über die Seele voraus, dass sie nämlich von der Art sei, dass das, was sie in sich hat, jene gesuchten logoi sind. 3. Eine solche Theorie der menschlichen Seele lässt Platon den Sokrates im »Phaidon«, der die Frage nach ihrer Unsterblichkeit behandelt, ausführen (79c f.): bedient die Seele sich der Sinne, dann wird sie zu dem hingezogen, was niemals sich gleichbleibt; sie ist dann schwankend, irrt und taumelt wie betrunken. Wendet sie sich hingegen auf sich und beschäftigt sich mit dem ihr Eigenen, dann Zur Aporie des Schlusses vgl.: Hare 1990, 67. G. Reale, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon. In: Kobusch 1996, 78. 185 Siehe auch: Phaidon 73a–b. 183 184
198
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
erhebt sie sich zu dem immer Seienden (aei on), dem Unsterblichen und Unvergänglichen 186 . Da sie, so das Argument, mit dem immer Seienden verwandt (sungenh@) sei, so bleibe sie diesem verbunden, so oft sie sich auf sich bezieht 187 . Diesen Zustand der menschlichen Seele nenne man die »vernünftige Einsicht« (yronhsi@). Diese Darlegung lässt sich in der Sprache unserer Rekonstruktion so deuten: bedient sich die Seele der Sinne, so ist Heteronomie ihr Gesetz; sie gleicht den nichtswissenden Sterblichen des Parmenides, die taub und blind dahintreiben. Beschäftigt die menschliche Seele sich hingegen mit dem ihr Eigenen, so besitzt sie darin ein bleibendes Wissen, weil sie in dem, was sie ist, dem immer seiend Einen verwandt ist. Interpretieren wir diese Verwandtschaft nun so, dass zwischen dem, womit die Seele befasst ist, und dem immer Seienden eine solche Art der Ähnlichkeit besteht, dass das der Seele Eigene den logoi entspricht, die den Nous zum Urheber haben, dann begründet die Annahme eines solchen Verhältnisses der Ähnlichkeit in der Tat ein bleibendes Wissen. Zwischen der menschlichen Seele als dem ›heautonomen Subjekt‹, wie man sie nennen könnte, und dem göttlichen Nous als dem ›autonomen Subjekt‹ besteht eine Verwandtschaft, und zwischen dem Eigenen der Seele und den logoi eine gleichsam ›prästabilierte Harmonie‹. Wie aber kann die Annahme einer solchen Verwandtschaft der menschlichen Seele mit dem göttlichen Nous begründet werden? Zumindest die Art dieser Verwandtschaft lässt Platon den Sokrates im »Phaidros« (249b–d) erklären: Der Mensch, führt er aus, müsse Einsicht gewinnen, indem er von den vielen Wahrnehmungen zum durch Überlegung zusammengefassten Einen kommt. Diese Einsicht aber sei die Erinnerung an das, »was unsere Seele einst gesehen hat, als sie gemeinsam mit dem Gott dahinfuhr, als sie auf das herabsah, von dem wir jetzt sagen, dass es sei, und als sie emporblickte zu dem wahrhaft Seienden.« Daher sei derjenige Mensch wahrhaft vollkommen, der mit seiner Erinnerung stets nach Kräften bei den Dingen ist, dank derer ein Gott göttlich ist. Konzentrieren wir uns bei dieser Hymne auf den beim Gött186 Siehe auch Theaitetos 176a-b: »Deshalb muss man auch versuchen, von hier möglichst schnell dorthin zu fliehen. Diese Flucht aber ist die möglichste Ähnlichkeit mit Gott; und diese ist, mit vernünftiger Einsicht gerecht und fromm zu werden.« 187 Die »Ähnlichkeit« (to omoion) der Seele mit dem Göttlichen und Vernünftigen wird in Phaidon 81a beschrieben. – Zur ›Verwandtschaft‹ siehe auch: Staat 611e: »… w@ sungenh@ ousa tw te jeiw kai ajanatw kai tw aei onti.«
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
199
Das griechische »Projekt Autonomie«
lichen weilenden Philosophen nur auf die Darstellung der Beziehung der Seele zum Göttlichen, so bleibt als Kern erneut die »visuelle Metapher«: das der Seele Eigene ist ihr eigen, weil sie das wahrhaft Seiende »einst gesehen hat« (pot’ eiden), so dass das, was in ihr enthalten ist, durch diese einstige Schau bewirkt ist. »Jede Seele eines Menschen«, führt Sokrates aus, »hat schon von Natur das Seiende geschaut (tejeatai), sonst wäre sie gar nicht in dieses Lebewesen hineingekommen.« (249e). In epistemologischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Beschäftigung der Seele mit dem ihr Eigenen aus dem Grunde zugleich die Erkenntnis der immer seienden logoi ist, weil sie die Erinnerung des einst Geschauten ist. Auch wenn Sokrates hier nicht vom ›Licht des Guten‹ spricht, sondern vom »überhimmlischen Ort« (uperouranio@ topo@; 247c), den das wahrhaft seiende Wesen einnimmt, welches das Geschlecht des wahren Wissens (to th@ alhjou@ episthmh@ geno@) um sich schart; und auch wenn das Schauen hier als eine Fahrt der Seelen um diesen Ort beschrieben wird – es ist das Sehen, das in der menschlichen Seele das Enthaltensein der logoi bewirkt. 188 Trotz des Hymnischen bleibt auch in dieser Darstellung das Verhältnis der Seele zum Göttlichen ›distanziert‹. Die Seele bleibt der ›Spiegel‹, der die immer seienden logoi als Ideen abbildet. Sie erkennt darin aber nicht, was wir schon vom ›Licht des Guten‹ gesagt haben, dass der göttliche Nous ihr Urheber und Ordner ist. Die Beziehung: erkennende Seele – ansichseiende logoi – wissensbegründender Nous wird als eine räumliche Anordnung, als ein Kreis, ein Dreieck oder als ein Unten und Oben, vorgestellt. Auf diese Weise jedoch lässt sich das Vorhaben der »zweiten Fahrt«, nämlich diejenige »gute Ordnung« zu finden, die den Nous als Urheber hat, nicht einlösen.
Man mag einwenden, dass im Phaidros nicht die Ideenlehre das Thema ist, sondern die Redekunst, Rhetorik und Dialektik, und dass Sokrates’ Rede nur als Beispiel Bedeutung hat, die daher, fast scherzhaft, als ein »mythischer Hymnus auf den Eros« (265c) wieder zurückgenommen wird. (Heitsch 1992, 169–180.) Der Dialog lässt sich umgekehrt als »Programm der platonischen Philosophie« deuten, der am Anfang einer Reihe von Dialogen, dem Theaitetos, Phaidon, Menon und dem Staat, steht, wie er in der Nachfolge Schleiermachers von P. Natorp interpretiert wurde (Natorp 1994, 60 ff.). Wie ersichtlich, haben wir unser Augenmerk nur auf die Beschreibung des überhimmlischen Orts gerichtet, von dem Sokrates sagt (247c), ihn könne der Dichter nicht würdig besingen, seine Wahrheit aber müsse, wo es um die Wahrheit geht, gesagt werden.
188
200
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
b.
Die kritische Prüfung der Ideen
Platon hat die These, dass die gesuchten logoi – im ›Licht des Guten‹ oder am ›überhimmlischen Ort‹ – schauend erkannt werden, einer kritischen Prüfung unterzogen. Dieser Prüfung liegt der Einwand zugrunde, dass in der Schau zwar die Ideen in ihrem Ansichsein (kaj’ auta) erfasst werden; dass aber die gesuchte Ordnung der Ideen, ihre Beziehungen und ihr Zusammenhang, nur durch das Denken erkannt wird. Da nun aber das Denken, das trennt und verbindet, die Ideen verändert, werden sie auf diese Weise nicht in ihrem Ansichsein erkannt. Damit aber stellt sich die Frage, wie ein Wissen der logoi möglich ist, wenn das Schauen zwar die Ideen in ihrem Ansichsein erfasst, nicht aber ihre Ordnung, das Denken jedoch die Ordnung erkennt, nicht aber das, was die Ideen an sich sind. 1. Den Nachweis, dass die Ideen, wenn das Denken sich auf sie richtet, zu anderen werden, hat Platon im »Parmenides« geführt. Im ersten Teil dieses Dialogs lässt Platon, nachdem die Fragen nach dem Umfang des Reichs der Ideen und ihrer Beziehung zu den sinnlichen Dingen behandelt wurden, den (jungen) Sokrates als Vertreter dieser Lehre sagen, dass die Annahme unproblematisch sei, dem Sinnlichen kämen gegensätzliche Bestimmungen zu. Denn, so können wir erläutern, sie sind allemal etera, selbst Andere, von denen ein bleibendes Wissen unmöglich ist. Nun fährt Sokrates jedoch fort: »Falls jemand zuerst aus dem von mir eben genannten Bereich [des Sichtbaren] die Ideen getrennt, rein für sich, abtrennen würde, wie die Gleichheit und Ungleichheit, die Vielheit und das Eine, die Beharrung und die Veränderung und alles solches, und falls er dann zeigte, dass diese es in sich selbst vermögen, miteinander verbunden und voneinander getrennt zu werden, so würde mich dies, sagte er, ganz außerordentlich erstaunen … Es würde mich, wie gesagt, wundern, wenn jemand dieselbe Aporie, die ihr bei dem Sichtbaren in ihrer vielfältigen Verflechtung durchgegangen seid, bei den Ideen zeigen könnte, die sich nur mit dem Denken erfassen lassen.« (129d–130a) Das Aporetische dieser vielfältigen Verflechtung lässt Platon im zweiten Teil des Dialoges den Parmenides auch im Reich der Ideen zeigen. Dazu sei es jedoch nicht nur erforderlich, in jedem Fall zu prüfen, was der jeweiligen Idee sowohl in Bezug auf sich als auch in Bezug auf anderes notwendig zukommt (ti crh sumbainein; 137b), sondern auch, was ihr zukommt, wenn sie nicht ist. Hinsichtlich der Idee des Einen (to en auton), die Parmenides zum Gegenstand der A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
201
Das griechische »Projekt Autonomie«
Untersuchung nimmt, werden nun insgesamt acht Annahmen (upojesei@) gemacht und acht Untersuchungen durchgeführt. 189 – Die Resultate dieser Prüfungen hinsichtlich dessen, was dem Einen zukommt und was nicht, lassen sich hinsichtlich ihrer positiven wie negativen Konsequenzen so zusammenfassen: Wenn das Eine für sich und getrennt von allem vorausgesetzt wird, dann ergeben sich negative Konsequenzen: in Bezug auf sich nimmt das Eine in keinerlei Weise an anderem teil, so dass es von ihm, weil es alles andere ausschließt, »weder einen Namen noch eine Erklärung noch eine Erkenntnis, Wahrnehmung oder Meinung« (142a) geben könne; die anderen aber, da sie »des Einen gänzlich beraubt sind« (160b), haben gleichfalls an nichts teil, da sie sonst doch 189 Wir folgen dem Schema von Brisson 1994, 46: 1. Wenn Eines ist, was folgt für das Eine? (137c) 2. Eines, wenn ist, was folgt für das Eine? (142b) 3. Eines, wenn ist, was folgt für die anderen? (157b) 4. Wenn Eines ist, was folgt für die anderen? (159b) – 5. Wenn Eines nicht ist, was folgt für das Eine? (160b) 6. Eines, wenn nicht ist, was folgt für das Eine? (163b) 7. Wenn Eines nicht ist, was folgt für die anderen? (164b) 8. Eines, wenn nicht ist, was folgt für die anderen? (165e) Ohne hier auf die Diskussion um die Gliederung der Untersuchung des Einen näher einzugehen, sei ein gewichtiger Einwand gegen das Schema genannt: dass nämlich den acht Reihen nicht vier Hypothesen zugrunde liegen. So hat H. G. Zekl angenommen, dass die von Proklos diskutierte Frage nach der Anzahl der Hypothesen so beantwortet werden müsse: »Es ist im Grunde eine, indem der Satz ›Eins ist‹ einmal gesetzt, einmal negiert wird« (Zekl 1971, 213). Wie aber ist es unter dieser Annahme zu erklären, dass aus ein und derselben Hypothese, dem »Wenn Eins ist, …«, in der ersten und der zweiten Reihe Gegensätzliches folgt, »insofern,« wie Zekl schreibt, »in der zweiten Reihe dem Eins alle Bestimmungen zugesprochen sind, die ihm in der ersten abgesprochen werden« (ebd., 214)? Er erklärt diesen Gegensatz aus dem Unterschied der Perspektiven: Zwar sei der Satz »Wenn Eins ist« derselbe; aber in der ersten Reihe werde das »ist« »vergessen« (16), d. h. bewusst vernachlässigt, in der zweiten Reihe dann daran erinnert, »dass wir es bei der Setzung ›Eins ist‹ doch mit schon zwei Elementen zu tun haben, dem »Eins« und dem »ist« (16). – Ähnlich argumentiert R-P. Hägler: Beiden Deduktionen liegt das »wenn Eins ist, …« zugrunde (Hägler 1983, 85 ff.). Im Fall der ersten Deduktion ist »jedes Prädikat dem Einen abzusprechen« (138); im Fall der zweiten wird »eine andere Voraussetzung der Hypothesis ans Licht geholt … : Wenn das Eine ist, muss es am Sein teilhaben.« (139) Was aber soll es heißen, dass zwar die Hypothese dieselbe, die Perspektiven oder Voraussetzungen jedoch andere sind? Es sind dann eben zwei Voraussetzungen – das heißt ja »upojesi@« –, von denen in beiden Reihen jeweils ausgegangen wird. Unsere Unterscheidung zwischen »Wenn Eines ist« (ei en estin) und »Eines, wenn ist« (en ei estin) soll dem Unterschied der Hypothesen syntaktisch Rechnung tragen. Denn wenngleich der Satz »Eines ist« derselbe ist, so sind doch seine Bedeutungen und so auch die Hypothesen, aus denen gefolgert wird, verschieden. Dieser Differenz folgt obiges Schema.
202
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Eines sein müssten. Wenn also das Eine rein für sich (kaj’ auta) ist, wie dies Sokrates angenommen hatte, dann wäre sowohl das Eine als auch alles andere gänzlich unbestimmbar. – Wenn hingegen vom Einen angenommen wird, dass es ist, d. h. »dass es am Sein teil hat« (142c), dann ergeben sich positive Konsequenzen: als seiend sind das Eine wie auch alles andere ein vielfältig Verflochtenes: »eines und vieles, Teile und Ganzes, sowie begrenzt und unbegrenzt der Menge nach« (145a). Unter der Voraussetzung also, dass das Eine ist, zeigt sich die Idee des Einen, was Sokrates für so erstaunlich hielt, sowohl in Bezug auf sich als auch in Bezug auf anderes vielfältig mit- und untereinander verbunden. Dem Einen wie den anderen kommen »all die Gegensätze« (159a) zu. – Am Ende der ersten vier Untersuchungen stellt Parmenides zusammenfassend fest: »Wenn also Eines ist, so ist das Eine alles und nicht einmal eins, und zwar in Bezug auf sich selbst als auch auf die anderen in der gleichen Weise.« (160b) Die folgenden vier Untersuchungen setzen die These voraus, dass das Eine nicht ist. Wird angenommen, dass es das Eine ist, das nicht ist, so ergeben sich daraus positive Konsequenzen: denn, um vom Einen anzunehmen, dass es nicht ist, muss es doch etwas sein, das nicht ist, und hat als solches an anderem teil 190 ; wird hingegen von den anderen gesagt, dass sie zwar sind, ihnen aber das Einssein fehlt, dann sind sie ein scheinhafter »einsloser Haufen« (165b), begrenzt und unbegrenzt, ähnlich und unähnlich, identisch und verschieden, eben weil ihnen das Einssein fehlt. – Wenn schließlich vom Einen angenommen wird, dass es nicht ist, ergeben sich negative Konsequenzen: denn da das Eine schlechterdings nicht ist, so ist das Eine in Bezug auf sich »in keiner Weise irgendwie beschaffen« (164b), und also nichts; und die anderen sind, wenn das Eine schlechterdings nicht ist, gleichfalls nichts, da sie sonst doch irgendwie Eines wären. »Wenn [also] Eines nicht ist,« schließt Parmenides, »ist nichts« (166c). Die ganze Untersuchung lässt Platon den Parmenides nun in der »nicht mehr überbietbaren Paradoxie« 191 enden: »ob nun Eines ist oder nicht ist, es ist offensichtlich, dass es selbst und die anderen, sowohl in bezug auf sich als auch in bezug aufeinander, alles völlig 190 vgl. Hägler 1983, 208: »Hier aber bleibt es bei dem Paradoxon: Das Nichtseiende muss gemäß 161a, b sein, wenn es wahrhaft nicht sein soll, aber es darf andererseits nicht sein, da es doch nicht ist.« (H. v. m.) 191 ebd., 210.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
203
Das griechische »Projekt Autonomie«
sowohl ist als auch nicht ist und sowohl scheint als auch nicht scheint.« – »Vollkommen wahr« (166c). 2. Dieser Dialog ist vor allem seines zweiten Teils wegen die umstrittenste Schrift Platons 192. Der Streit betrifft dabei zum einen den epistemischen Status der Untersuchung, zum anderen die Funktion, die er in Platons Gesamtwerk einnimmt. Das Spektrum der Deutungen reicht dabei von der Annahme, dass in den Untersuchungen des Einen die Theologie und Ontologie Platons entfaltet wird (Wyller 1960), bis zur Auffassung, es könne sich nur um einen nicht ernstgemeinten Scherz handeln (Taylor 1926). Darüber hinaus ist dieser Dialog, insbesondere sein erster Teil, als Beleg für die Selbstkritik Platons genommen worden, der den Abschied des späten Platon von seiner frühen Ideenlehre markiere (Ryle 1994; Vlastos 1973). Statt auf die kontroverse und komplexe Diskussion einzugehen, erscheint es mir ratsamer, den Ort zu benennen, in dem dieser Dialog in unserem Rekonstruktionskontext steht, und zu erläutern, in welchem Sinn wir die Kritik der Ideenlehre verstehen. In diesem Kontext kann die Untersuchung des Einen im »Parmenides« nicht als ein kohärenter philosophischer Gesamtentwurf verstanden werden 193 , aber auch nicht als ein nur geistvolles Spiel oder eine »Begriffskomödie« (Gadamer 1983, 41) ohne rechten Sinn. Wir deuten sie vielmehr als diejenige »anstrengende Übung« (pragmateiwdh paidia, 137b), als die sie von Parmenides am Beginn bezeichnet wird. Diese Charakterisierung richtet sich offensichtlich nicht gegen die Lehre von den Ideen; bildet deren Existenz doch die Voraussetzung und den Ausgangspunkt der Untersuchungen, »ohne die man nichts hätte,« wie Parmenides sagt, »worauf sich das Denken richtet« (135b). Sie wendet sich jedoch gegen eine bestimmte, ›naive‹ Auffassung, die die Ideen rein für sich und getrennt von allem betrachtet, wie sie Sokrates im ersten Teil des Dialogs vorgetragen hat. 192 R. E. Allen: »Twenty-five hundred years after it was written, the Parmenides remains a puzzle for ordinary readers, and for scholars whose business it is to understand, a scandal.« (Allen 1983, 198) 193 Die Deutungen des »Parmenides« als eines Systems haben sich mit dem Einwand auseinander zu setzen, dass es schwer zu verstehen ist, wie Platon »in einer Untersuchung, die gewissermaßen den Grundstein für das System legen soll, auch nur den Schein des Widersprüchlichen hätte zulassen können – es sei denn, um zu zeigen, dass es ein solches System nicht gibt noch geben kann.« (Hägler 1983, 83) Für H. G. Zekl folgt daraus »dass man die Widersprüchlichkeit des Ganzen als wirksam bestehend und als solche vom Autor intendierend hinnimmt, m. a. W. … als umfassendes Paradox.« (Zekl 1971, 7)
204
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Diese Kritik verstehen wir in der Weise, dass ein epistemologisches Konzept, das die Erkenntnis der Ideen als ein Schauen begreift, nicht die Aporie erkennt, in die es gerät. »Wenn daher jemand behauptet,« gibt Parmenides zu bedenken, »dass das, was wir für die Ideen als notwendig erachten, gar nicht erkannt werden kann, dem könne man nicht nachweisen, dass er etwas Falsches sagt.« (133b) Parmenides’ anstrengende Übung zeigt, dass sowohl die Annahme der Ideenlehre, dass es das Eine gibt, als auch die ihrer Gegner, dass es das Eine nicht gibt, in Aporien endet. 194 Daher sich lässt die Erkenntnis der Ideen nicht einfach auf das Schauen gründen; sie müssen zum Ausgangspunkt ihrer denkenden Untersuchung gemacht werden. Hinsichtlich des Erkenntnisvermögens aber bedeutet diese Kritik, dass die Seele offenbar nicht allein nach Art des »Auges« oder »Spiegels« aufgefasst werden kann, der die immer Seienden ›im Licht des Guten‹ abbildet, sondern offenbar als ein produktives Vermögen zu verstehen ist, das sich auf die Analyse der Ideen richtet bzw. auf die Untersuchung dessen, was mit ihnen notwendig verbunden ist. Diese Erkenntnis aber ist kein seliges Schauen, sondern ein mühsames Geschäft, das der »anstrengenden Übung« bedarf, um von den Ideen einen ihnen angemessenen Gebrauch machen zu können 195 . 3. In positiver Hinsicht liefert diese Kritik freilich kein fertiges Resultat. Denn der »Parmenides« zeigt nicht, wie die Idee des Einen angemessen gebraucht wird. Ihre vollständige Prüfung zeigt vielmehr jene gänzliche Aporie, die das paradoxe Resultat der einzelnen acht Untersuchungen zusammenfasst. Nimmt man nämlich vom Einen an, es sei rein für sich, so folgt, dass es selbst wie die anderen gänzlich bestimmungslos und auf keine Weise ist. Nimmt man jedoch an, dass das Eine ist, dann erweist sich, dass es all die Gegensätze an sich hat und Eines alles ist. Wer hingegen leugnet, dass es das Eine gibt, muss zum einen etwas annehmen, was es doch gar nicht gibt, und hat zum anderen unterschiedlos einen »einslosen Haufen« vor sich; oder er ist zu der Folgerung gezwungen, dass nichts ist. In all diesen Fällen ist das Verfahren der Untersuchung und der Sinn der Übung das Dialektische, dass die Hypothese »p« in »non-p« umgewandelt wird 196 ; und in jedem Fall ist es das Denken, das diese Wider194 A. Graeser deutet diese Kontroverse als eine akademieinterne Auseinandersetzung (Kobusch 1996, 146–166). 195 Vgl.: Wieland 1999, § 7: Die Kritik der Ideenlehre, 105–124. 196 Siehe: A. Graeser, Wie über Ideen sprechen?: Parmenides. In: Kobusch 1996, 159.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
205
Das griechische »Projekt Autonomie«
sprüche zwischen der vorausgesetzten These und dem gewonnenen Resultat produziert. Versteht man diese Untersuchung also nicht als ein epistemologisch sinnloses Spiel, das sich um der Paradoxie willen in Schein- und Trugschlüssen herumtreibt, sondern als Verfahren einer kritischen Prüfung, die untersucht, was dem Einen, seiend oder nicht-seiend, notwendig zukommt bzw. nicht zukommt, dann muss diese Produktion von Widersprüchen über sich hinausweisen 197 . Sie fordert zur Suche nach der Quelle dieser Widersprüche heraus bzw. zur Frage nach der Verfasstheit eines Denkens, das die Ideen, dem Programm der »zweiten Fahrt« gemäß, in ihrer Ordnung, in ihrem Fürsichsein wie in ihrer Beziehung zueinander, widerspruchsfrei zu erkennen vermag. Dies aber führt zur Frage: »Wie eigentlich vollzieht sich menschliches Denken?« 2.
Das noetische Denken
Da die im »Parmenides« angestellte Untersuchung des Einen ein Geflecht von Widersprüchen zum Ergebnis hatte, bedarf es der Revision des bisher Dargestellten: Die gesuchte Erkenntnis der »guten Ordnung«, die den Nous zum Urheber hat, kann nicht allein rezeptiv als Schau der immer seienden Ideen verstanden, sondern muss auch als ein nohton, als das Produkt der denkenden Seele aufgefasst werden, die die Erkenntnis dieser Ordnung widerspruchsfrei hervorbringt. Diese Art des Denkens, das die »gute Ordnung« erkennt, nennen wir das »noetische Denken«. Zu dessen Rekonstruktion wenden wir uns zuerst der Natur des menschlichen Denkens zu, die Platon im »Sophistes« untersucht; dann der Beziehung der menschlichen Seele zum göttlichen Nous, wie sie im »Symposion« dargestellt wird; schließlich vollziehen wir anhand des »Philebos« dasjenige Denken nach, von dem Platon sagt, es bringe ein bleibendes Wissen vom Guten hervor.
Zu einem ähnlichen Urteil kommt H. G. Zekl: »So zeigt der ›Parmenides‹ die Notwendigkeit einer Lösung, aber er zeigt ihre Möglichkeit und Richtung nur indirekt, indem man das bei ihm Falsche auflösen muss.« (Zekl 1971, 188).
197
206
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
a.
Das diskursive Denken: »die Differenz« als Gesetz des menschlichen Denkens
1. Der »Parmenides« hat anhand des Einen gezeigt, dass nicht nur die sinnlichen Dinge, sondern auch die immer seienden Ideen, wenn das Denken auf sie gerichtet ist, sich als veränderlich, als etera, erweisen. Im Dialog über den »Sophisten« nun analysiert Platon diese aporetische Erkenntnissituation. Er lässt dazu den Gesprächsführer, den »Gast aus Elea«, zunächst unterschiedliche Annahmen über das Seiende (to on) anführen (242c ff.). So habe von »hochberühmten und altehrwürdigen Männern« (243a) jeder seine Geschichte erzählt: der eine sagte, das Seiende sei dreierlei: mal im Streit, mal freund, mal paarend; ein anderer, es sei zweierlei: feucht und trocken oder warm und kalt; weitere, wie Xenophanes, alles Seiende sei nur Eines. Dann aber haben andere gemeint, es sei besser zu verbinden, und gesagt, das Seiende sei Vieles und auch Eines 198. Jetzt aber sei eine »wahre Riesenschlacht« (246a) zwischen den »Irdischen« (spartoi te kai autocjone@; 247c) mit den »Freunden der Ideen« (248a) entstanden. Jene erklären, dass Körper und Sein dasselbe seien, und behaupten, »das allein sei, was ein Zugreifen und Berühren zulässt« (246a); diese hingegen behaupten, »gewisse gedachte und unkörperliche Ideen seien das wahre Sein« (246b) und schreiben den Körpern »statt des Seins ein herumgetragenes Werden« (246c) zu. Auf beide Weisen sei jedoch eine Erkenntnis des Seienden nicht möglich. Denn wenn alles bewegt und in Veränderung ist, dann ist eine Erkenntnis des Seienden nicht möglich. Aber auch dann, wenn die unkörperlichen und unveränderlichen Ideen das wahre Sein sind, ist das Seiende nicht erkennbar, weil die Erkenntnis, wie gesehen, ein veränderndes Tun ist. Wäre das Seiende daher unveränderlich, dann gäbe es »von nichts nirgendwo Verstand« (249b). Aus dieser Aporie zieht der Gast nun den Schluss: um des Wissens willen müsse der Philosoph, »wie nach dem Wunsch der Kinder beides vom Seienden und dem All sagen, dass es unbewegt und dass es bewegt sei.« (249b) Er zeigt jedoch, dass auch dieser Schluss nicht 198 Wenn mit den »ionischen Musen« (242d) offenbar Heraklit gemeint ist, der sagte, »das Seiende sei Vieles und auch Eines« (242e), so kann die distanzierte Erwähnung nicht darüber hinwegtäuschen, dass Platon dieselbe Annahme macht. Die Kritik sich richtet sich deshalb auch nicht gegen diese Annahme, sondern gegen die apodiktische und monologische Art. Die »Alten« haben nicht darauf geachtet, »ob wir ihnen folgen in ihren Reden oder zurückbleiben« (243a-b).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
207
Das griechische »Projekt Autonomie«
die Erkenntnis des Seienden ermöglicht. Denn wenn die Bewegung und die Ruhe einander entgegengesetzt sind, dann ist das Seiende selbst weder unbewegt noch bewegt, sondern ist, unerkennbar, ein Drittes. »Also ist nicht Bewegung und Ruhe zusammengenommen das Seiende, sondern ein von diesen verschiedenes … Seiner eigenen Natur nach also ruht das Seiende weder noch bewegt es sich« (250b-c). Demnach ist vom Seienden selbst eine Erkenntnis unmöglich. Der Gast endet mit der Aussage, dass das, was schon vom NichtSeienden gilt, dass es unerkennbar ist, offenbar auch vom Seienden gilt 199 . Es scheint daher, als befinde man sich »in völliger Ratlosigkeit« (249d). Beide, das Nicht-Seiende und das Seiende, »haben gleichermaßen Anteil an unserer Verlegenheit« (250e). 2. Der Darlegung dieser Situation der Unerkennbarkeit des Seienden lässt Platon nun die Analyse des Redens und Denkens folgen 200 . Diese Analyse geschieht zunächst ganz unabhängig vom epistemischen Kontext. Sie will nicht klären, was das Seiende ist, und ob und wie es erkannt wird, sondern sucht vielmehr nach einem allgemeinen Gesetz, nach dem sich jegliches Reden und Denken vollzieht. Hierzu geht der Gast aus Elea von der Annahme aus, dass alle Reden – nicht, so wollen wir einschränkend hinzufügen, Gesänge oder Gedichte sind, sondern – aus Satzaussagen (logoi) bestehen. Diese Satzaussagen aber sind Verknüpfungen von etwas mit anderem, sodass »wir jedes als eines setzen und umgekehrt doch von diesem vieles und mit vielen Namen sagen.« (251b) Ohne diese Verknüpfungen sind Aussagen nicht möglich. Wer daher sagt, etwas sei an sich, ohne Gemeinschaft mit anderem, widerspricht durch seine Aussage sich selbst: »Sind sie doch bei allem gezwungen, das ›Sein‹ (einai) zu gebrauchen, und das ›Getrennt‹ (cwri@) und das ›Anderer‹ (twn allwn) und das ›Ansich‹ (kaj’ auto) und tausenderlei verschiedenes, dessen sie sich nicht enthalten können, in ihren Reden zu verknüpfen, und bedürfen daher gar keiner Widerlegung durch andere, sondern haben ihren Gegner und Widerpart sozusagen im eigenen Haus« (252 c). Würde man daher die Verknüpfbarkeit von etwas mit anderem leugnen, so wäre keine Aussage, nicht einmal Vgl. M. Frede, Die Frage nach dem Seienden: Sophistes. In: Kobusch 1996, 190 ff. Da für Platon Denken und Reden dasselbe sind, das Denken »der Dialog der Seele mit sich, der ohne Laut geschieht«, die Rede aber »der Fluss, der aus ihr laut durch den Mund kommt« (263e), nehmen wir an, dass aus der Analyse des Redens (logo@) auf die Analyse des Denkens (dianoia) als »innerer Rede« geschlossen wird. 199 200
208
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
deren Leugnung, möglich. Das Reden ist, so wollen wir sagen, allemal diskursiv, und das Denken daher allemal diskursives Denken. Auf der Grundlage dieser Diskursivität werden nun erneut die drei Gattungen (genh): das Seiende selbst, die Ruhe und die Bewegung untersucht. Jetzt jedoch nicht hinsichtlich der Erkenntnis des Seienden, sondern nur hinsichtlich ihrer Verknüpfbarkeit untereinander. Dabei zeigt sich, dass Ruhe und Bewegung miteinander nicht verknüpfbar sind, das Seiende jedoch mit beiden verknüpft werden kann (254d). So lässt sich von der Ruhe wie der Bewegung sagen, dass sie ist; aber nicht, dass die Ruhe bewegt ist oder die Bewegung ruht. Daraus wird geschlossen, dass jede der drei Gattungen offenbar von den beiden anderen verschieden, mit sich selbst jedoch identisch ist. Daraufhin werden nun die zwei erschlossenen Begriffe des Verschiedenen (jateron) und des Identischen (tauton) untersucht, – mit dem Ergebnis, dass sie einerseits sowohl voneinander als auch von jenen drei Gattungen verschieden sind, dass sie andererseits aber mit allen drei verknüpfbar sind. Jede der drei Gattungen: das Seiende, die Ruhe und die Bewegung ist identisch mit sich gemäß ihrer Teilhabe am Begriff des Identischen; und jede der Gattungen ist verschieden von den anderen »nicht wegen ihrer Natur, sondern wegen des Teilhabens an der Idee des Verschiedenen« (dia to metecein th@ idea@ th@ jaterou; 255e). Welche Rolle spielen nun die beiden Begriffe des Identischen und des Verschiedenen, wenn sie von jenen drei Gattungen zwar verschieden sind, die Untersuchung von deren Verknüpfbarkeit jedoch notwendig zu ihnen geführt hat? Sie bezeichnen, so nehmen wir an, nichts Seiendes; sie benennen vielmehr die zwei Gesetze, denen gemäß sich nach Platon menschliches Denken vollzieht: Wer denkt, setzt Gegebenes identisch und unterscheidet es von anderem. 201 Er hält »weder denselben Begriff für einen anderen, noch einen anderen für denselben« (253d). Gegebenes wird nach dem Gesetz der Identität als mit sich identisch und nach dem Gesetz der Verschiedenheit als verschieden von anderem gedacht. Beides, das Identischsetzen und das Verschiedensetzen, geschieht, so möchten wir es formulieren, nach dem »Gesetz der Differenz«, nach dem sie zwei ergänzende 201 Wir verstehen die Untersuchung der Verknüpfbarkeit von Begriffen nicht als Analyse des reinen (vgl. Natorp 1994, 280), sondern des menschlichen Denkens. Denn sie setzt die Tatsache voraus, dass Menschen reden, d. h. Aussagen machen. Diese Tatsache ist aber durch reines Denken nicht zu begründen.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
209
Das griechische »Projekt Autonomie«
Handlungen der denkenden Seele des Menschen sind. Ohne sie fänden Aussagen und Urteile nicht statt. 202 3. Dieses Konzept vom Denken nach diesem »Gesetz der Differenz« setzt der Gast nun dem »Satz des Vaters Parmenides« (241d) entgegen, demgemäß es die Tätigkeit des Denkens ist, das Seiende als Eines festzuhalten, – während alles andere nur ein urteilsloses Meinen ist. Gegen diesen Satz lässt sich jetzt einwenden, dass seine Aussage sich selbst widerspricht. Denn wenn vom Seienden gesagt wird, es sei Eines, dann werden Seiendes und Eines unterschieden und Zwei gesetzt, obgleich doch nur Eines ist (244b f.) Das Ausgesagte widerspricht so der Aussage. Nimmt man daher mit Parmenides an, dass das Denken nach dem Gesetz des auton geschieht, dann ist diese Annahme gar nicht auszusagen; denn es wäre »die völligste Vernichtung alles Redens, ein jedes von allem zu trennen.« (259e). Nimmt man hingegen mit Platon an, dass das Denken nach dem Gesetz des jateron geschieht, dann widerspricht man zwar dem »Satz des Vaters Parmenides«, aber man kann reden; »denn nur durch gegenseitige Verflechtung der Begriffe entsteht uns ja die Rede.« (259e). Während im einen Fall die Konsequenz ist, dass auf dem »Weg der Überzeugung« (Parmenides: Fr. 2, 4) die menschliche Rede niemals das Seiende erfasst, ergibt sich im anderen Fall das Problem, wie das diskursive Denken, das Identisch- und Verschiedensetzen, anders als durch den Rekurs auf die vorausgesetzte Praxis der menschliche Rede zu begründen ist 203 . Wie dem auch sei, jedenfalls erlaubt es das Konzept des diskursiven Denkens, die Aporien aufzulösen, in die das Denken bei der Erkenntnis des Seienden geraten ist. Denn jetzt gilt nicht mehr, dass nur das Bewegte oder nur das Unbewegte als seiend, oder aber dass nur das Seiende selbst als seiend, das Bewegte und Unbewegte jedoch Unsere Interpretation »des Identischen« (tauton) und »des Verschiedenen« (jateron) als Gesetze des Denkens stützt sich auf Platons Aussagen über die dialektische Wissenschaft (253d): Wenn diese darin besteht, denselben Begriff für denselben und nicht für einen anderen Begriff zu halten, dann ist das »Halten für« (hghsasjai) kein Begriff, sondern ein Tun, ein bestimmtes Denken. 203 Platon belässt es nur bei der Feststellung, dass das Unterscheiden von Identischem wie das Identischsetzen von Verschiedenem ›lächerliche‹ Handlungen sind, wenn nicht ihrer Einheit nachgegangen werde: »Aber dasselbe, ganz unbestimmt wie, als verschieden erscheinen zu lassen und das verschiedene als dasselbe, und das Große als klein und das Gleiche als ungleich, und sich freuen, in seinen Reden immer Gegensätze vorzubringen, das ist keine wahrhafte Untersuchung, sondern der unreife Versuch von jemandem, der erstmals mit dem Seienden in Berührung kommt.« (259d) 202
210
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
als nicht-seiend zu denken ist. Denn an die Stelle eines Denkens, das alles Anderssein als ein Nicht-Seiendes ausschließt, ist jetzt ein diskursives Denken getreten, das nach dem »Gesetz der Differenz« das Andere als ein Verschiedenes einschließt: »Wenn wir vom Nichtseienden sprechen,« sagt der Gast aus Elea, »so sagen wir nicht, wie es scheint, das Entgegengesetzte des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes.« (257b) Denn es ist die »Natur des Verschiedenen« (256 d), die das je Andere zu einem Verschiedenen macht. Hier also setzt Platon an die Stelle des ausschließend-trennenden Denkens nach dem Gesetz der Identität eine Art des einschließend-umgreifenden Denkens, das aber nicht, wie in den Paradoxien Heraklits, das Entgegengesetzte schlicht als Eines begreift, sondern das Gegebenes sowohl nach dem, was es selbst, als auch nach dem, worin sie von anderen verschieden ist, erfasst. 204 Diese Untersuchung des Redens hat zwar in epistemischer Hinsicht nichts ergeben, weil sie nur den Bedingungen nachgeht, denen die menschliche Art der Erkenntnis unterliegt; aber sie bildet doch erst die Alternative zu dem Konzept, das von Leukipp und Demokrit formuliert wurde. Während hier der Gegensatz zwischen dem unteilbar Seienden und dem, was immer anders ist, wie gesehen, in der räumlichen Anschauung verschwunden ist, wird dieser Gegensatz im Konzept Platons in der menschlichen Rede aufgelöst. Weil die Redepraxis zeigt, dass sie das Andere nicht als nicht-seiend ausschließt, sondern nach der »Natur des Verschiedenen« als ein bloß Verschiedenseiendes einschließt, gilt sie als das »Dritte«, das den Gegensatz des rein Gedachten und des nur Erfahrenen überwindet. War im leukipp-demokritischen Modell der Raum das Medium, in dem das ›Feste‹ des rein Gedachten beweglich wird und das ›Fließende‹ der sinnlichen Erfahrung seinen festen Ort erhält, ist es hier der Diskurs, der das Identische als ein auch Verschiedenes aussagt und dem Beliebigen zugleich die feste Struktur gibt. Beide Konzepte geben insofern eine verschiedene Antwort, wie das Eine zugleich ein Verschiedenes sein kann. Von der Suche nach der Erkenntnis des Guten jedoch scheint die Untersuchung des Redens weggeführt zu haben, da sie wieder das Tor 204 vgl. K. Gaiser: »Der ›kategoriale‹ Gegensatz von Selbigkeit und Verschiedenheit (tauton : jateron) ist ferner gleichbedeutend mit dem Gegensatz des An-sich-Seienden und des Relativen (kaj’ auta : pro@ ti, pro@ allhla) …« (Gaiser 1963, 344, Anm. 38).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
211
Das griechische »Projekt Autonomie«
fürs beliebige Meinen geöffnet hat, das Platon durch die Hinwendung der Seele zum immer Seienden hatte verschließen wollen. Denn wenn es das Ergebnis der Analyse ist, dass jedes auf »tausend und zehntausenderlei« Weise verschieden, seiend und nicht seiend ist, dann sind viele Verknüpfungen und Verknüpfungen von Verknüpfungen sag- und denkbar. Im »Sophistes« wird keine Instanz genannt, hinsichtlich derer gewisse Verknüpfungen in epistemischer Hinsicht als »wahr« oder »falsch« zu beurteilen wären. Es wird nur gesagt, dass wenn es – für Menschen – ein Wissen gibt, es in diskursiver Form repräsentiert ist. 205 b.
Die Vereinigung der Seele mit dem Nous
Was nun die Erkenntnis des Guten und seiner Ordnung betrifft, so hat Platon den Sokrates im »Staat« (509 d ff.) sagen lassen, dass die menschliche Seele dann erkennt, wenn sie nicht von gegebenen Ideen als upojesei@ ausgeht, sondern mittels ihrer zum voraussetzungslosen Anfang von allem aufsteigt, diesen ergreift und hat, und von ihm aus von Ideen durch Ideen zu Ideen herabschreitet, um in diesen zu enden. Dieses Denken, das vom Voraussetzungslosen ausgeht und ohne Hilfe des Sinnlichen bloß durch sich selbst fortschreitet, verstehen wir als das »noetische Denken«, das auf die Verbindung der Seele mit diesem Anfang gegründet ist. Die Erkenntnis wird hier nicht als ein »Sehen« (oran) der immer seienden Ideen im ›Licht des Guten‹ beschrieben, sondern als ein »Ergreifen« (aptein) und »Haben« (ecein) des Anfangs, wodurch das menschliche Denken zum erkennenden Denken wird. Wie aber ist diese erkenntnisbegründende Verbindung der Seele mit dem Anfang von allem zu verstehen? Was Platon im »Staat« nur als Prinzip und Methode des noetischen Denkens benennt, führt er im »Symposion« (201c ff.) näher aus. Anhand des Gesprächs der Diotima mit Sokrates gibt Platon eine Erklärung für die Erkenntnis des Seienden, die nicht mehr die visuelle Metapher verwendet, sondern das Bild der erotisch-sexuellen Vereinigung. Das gesuchte Wissen der »guten Ordnung« wird hier 205 Platon führt im »Sophistes« zwar die Argumentation weiter; da er dem Sophisten gegenüber zeigen will, dass nicht jede Aussage wahr ist, sondern manche wahr und manche falsch sind, bzw. dass diese Annahme nicht widersprüchlich ist. Um dies zeigen zu können, bedarf es zuvor jedoch der Untersuchung der Aussagen überhaupt, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt.
212
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
als die gemeinsame Frucht der menschlichen Seele mit dem göttlichen Nous konzipiert. Diotima, die Priesterin der Liebe, vergleicht in diesem Gespräch Sokrates, das Wissen suchende Subjekt, mit dem Eros. Dieser sei weder schön noch hässlich, sondern »etwas dazwischen« (ti metaxu). Ihm fehle zwar die Schönheit, und er sei insofern hässlich; aber er stelle allem Schönen und Guten nach und sei so die Liebe zum Schönen. Sie stellt ihn als den daimon des Philosophen vor; denn da das Wissen zum Schönsten gehöre, müsse »der Eros notwendig weisheitsliebend sein« (204b). Als solcher stehe er zwischen den Menschen und Göttern, der, wie Sokrates, weiß, dass er nichts weiß, aber das Wissen begehrt. Er liebt das Wissen als das Schönste überhaupt, und insofern ist die Philosophie selbst diese Liebe zum Wissen. Nach diesem Vergleich mit dem Eros besitzt also die menschliche Seele selbst kein bleibendes Wissen, aber strebt nach dem, was sie nicht hat. Und das Wissen wird als Besitz des Begehrten verstanden, so dass an die Stelle der visuellen Konfrontation der Seele als »Spiegel der Ideen« jetzt das erotische Bedürfnis nach Kommunion tritt. Wie aber wird dieses Bedürfnis des Philosophen nach Wissen erfüllt? Platon lässt die Priesterin der Liebe darauf eine eindeutige Antwort geben: nach Art der Sexualität. Diotima klärt Sokrates darüber auf, dass es dem Eros nicht um das Schöne, sondern um das Gute geht: »›Denn der Eros, Sokrates‹, sagte sie, ›richtet sich nicht eigentlich auf das Schöne, wie du meinst.‹ – ›Sondern worauf denn?‹ – ›Auf die Fortpflanzung und die Zeugung im Schönen (th@ gennhsew@ kai tou tokou en tw kalw)‹« (206e). Diotima unterscheidet also zwischen dem Besitz des Wissens als dem erstrebten Guten und dem Schönen, das die Bedingung und das Mittel ist, um in diesen Besitz zu gelangen. Das »Werk« (ergon, 206b) aber sei die Zeugung im Schönen. Von allen Menschen, sagt sie, verlange ihre Natur zu zeugen, und des Mannes und Weibes Vereinigung bedeute Zeugung. Diese sei eine göttliche Sache und in den Sterblichen als etwas Unsterbliches enthalten (206c). Während nun aber die, die »vom leiblichen Zeugungsdrang erfüllt sind, … sich mehr den Frauen zu(wenden)« (208e), richten sich die in der Seele zeugungsbereiten, wenn sie das göttliche Schöne selbst in seiner Eingestaltigkeit (monoeide@) zu sehen vermögen, auf das, was dieser Seele zu zeugen und gebären gemäß ist: die Zeugung des Wahren. Dies Gezeugte seien die ›unsterblichen Kinder‹ der Weisheit, der Tugend und Kunst, in denen die Seele unsterblich ist (209d). – Hier also wird das Wissen A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
213
Das griechische »Projekt Autonomie«
nicht als Einsicht der Seele in die ansichseienden Ideen beschrieben, sondern als das Werk der Seele, die das Wahre in der Vereinigung mit dem Schönen im Schönen zeugt. Und das Erkenntnissubjekt ist nicht nur die nichtwissende, aber Wissen begehrende, sondern auch die zeugungsfähige, -willige und -bereite Seele, die der Vereinigung mit dem Schönen, der »Schicksals- und Geburtsgöttin« (206d), bedarf, um mit ihr zusammen das bleibende Wissen als Frucht dieser Vereinigung zu zeugen. Um das begehrte Gute zu besitzen, bedarf es demnach dreierlei: der begehrenden und zeugungsfähigen Seele, des ermöglichenden Schönen selbst und ihrer Vereinigung in der Zeugung im Schönen. Mit dieser erotisch-sexuellen Metapher formuliert Platon im »Symposion« ein Modell, das das gesuchte Wissen nun mehr als das Produkt der Seele bestimmt. Dieses Wissen ist weder in der menschlichen Seele ursprünglich vorhanden, noch vermag sie, es autonom zu setzen, sondern ist in der Liebe des Schönen und in der Vereinigung mit ihm gegründet, durch die sie das Wissen als gemeinsame Frucht erzeugt. Das Schöne selbst, das der Eros begehrt, und das Diotima im Gespräch das nennt, was »an sich und mit sich selbst ist, eingestaltig und immer seiend« (211b), ist hingegen das autonome Subjekt, das Platon ansonsten als das »Gute selbst« bezeichnet oder den »Nous«, der die Ursache von allem sei 206 . Er ist als solcher der bleibende Grund des in und mit ihm gezeugten Wissens. Platons Darstellung der Verbindung der menschlichen Seele mit dem göttlich Schönen im »Symposion« präzisiert und erläutert, was im »Staat« das Ergreifen und Haben des voraussetzungslosen Anfangs genannt wird, von dem aus das noetische Denken rein durch sich von Idee zu Idee fortschreitet. Das gesuchte Wissen wird zum Besitz, wenn und weil es die gemeinsame Frucht der denkenden Seele mit dem Nous als dem Urheber von allem ist. Mit ihm zusammen besitzt die menschliche Seele das Vermögen, ein Wissen hervorzubringen, das zugleich an diesen Grund gebunden bleibt. 207 206 Vgl. P. Natorp: »Es [das an sich Schöne] ist also das anupojeton, der voraussetzungslose, selbst nicht bloß voraussetzungsweise geltende Anfang, die unbedingte Bedingung des ›Staats‹. Dass dies Selbige einmal das Schöne, das andermal das Gute heißt … kann keinen Augenblick Bedenken machen, wenn man sich erinnert, wie unmittelbar diese beiden Begriffe für Plato überhaupt zusammengehören.« (Natorp 1994, 177). 207 Nach unserer Deutung steht nicht die Schau, sondern die Zeugung im Schönen im Zentrum der Diotima-Rede. Wäre nur von der Schau des Schönen die Rede, so stellte sich zu Recht die Frage: »Diotimas ›Mysterium des Eros‹ – die Ideenlehre? oder genauer:
214
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
c.
Das noetische Denken
Wie lässt sich nun auf den zwei dargelegten Grundlagen, der Diskursivität des menschlichen Denkens nach dem »Gesetz der Differenz« sowie dem Prinzip der Kommunion der Seele mit dem Nous, eine Art die Hinführung zur Idee des Schönen? Wieso ›Mysterium‹ ? Und warum fürchtet Diotima, Sokrates vermöge noch nicht zu fassen, was sie ihm zu sagen hat, wo Platon die Ideenlehre an anderer Stelle doch als ›Allerweltszeug‹ bezeichnet?« (R. Rehn, Der entzauberte Eros: Symposion. In: Kobusch 1996, 80). Das Mysterium ist vielmehr das der Zeugung, das Diotima Sokrates offenbart: »›So will ich es dir sagen‹, erwiderte sie. ›Es ist dies die Zeugung im Schönen, sowohl nach dem Leibe als nach der Seele.‹ – ›Der Seherkunst bedarf das, was du da sagst‹, erwiderte ich, ›und ich verstehe es nicht.‹ – ›So will ich denn deutlicher sprechen …‹« (206b-c). Dieses ›deutlicher sprechen‹ deute ich als Paradigmenwechsel von der visuellen zur sexuellen Metapher: Die Erkenntnis des Seienden wird nach Art der Fortpflanzung konzipiert. Diotimas Mysterium ist die Unsterbliches verheißende ›Heilige Hochzeit‹ der menschlichen Seele mit dem Göttlichen. Diesem Paradigmenwechsel gehen viele Interpreten aus dem Weg. So bemerkt O. Gigon, dass da, wo es um die Zeugung geht, »die Ausführungen Diotimas immer verschlungener und, wie wir uns eingestehen müssen, unübersichtlicher« werden (Gigon 1970, LII). R. Rehn fragt: »Wie ist dieses orakelhafte Wort der Priesterin aus Mantineia zu deuten?« Er deutet die Zeugung im Schönen »im Kern als Maieutik, als geburtshelferische Kunst« (Kobusch 1996, 89) – eine eigenwillige Fortpflanzungstheorie! J. N. Findlay verfehlt unseres Erachtens die Pointe, indem er den Zusammenhang umdreht: statt die Liebe des Schönen als Mittel zur Zeugung des Guten aufzufassen, stellt er zwei Wege vor: der eine Weg, »der über die genannte zeugende Tätigkeit hinausgeht«, sei der Aufstieg zur Schau des Schönen selbst; der andere bestehe darin, »Weisheit und Tugend in der Seele eines geliebten Schülers hervorzubringen« (Findlay 1994, 72 f.). Andere gehen zwar explizit auf den Paradigmenwechsel ein, deuten ihn jedoch um. So will H. Neumann zeigen, dass Diotimas Rede nicht Platons Ansicht wiedergebe, weil »all or part of Diotima’s teaching negates the concept of the soul’s immortality taught by Socrates in such dialogues as the Phaedo, the Phaedrus, and the Republic« (Neumann 1965, 34). Denn nach ihr ist die Seele nicht unsterblich, sondern erwirbt die Unsterblichkeit erst durch die Zeugung im Schönen. F. Schleiermacher lässt es im Unklaren, ob das Unsterbliche der Seele als ein Erworbenes oder nicht doch als ein Sein aufzufassen sei. Das eine Mal beschreibt er die Erkenntnis als ein »sterbliches Vorkommen«, das »durch dies Übertragen von einem auf den andern im sterblichen unsterblich« wird (Schleiermacher 1919, 11); das andere Mal jedoch ist ihm »die natürliche Geburt nichts anderes … als ein Wiedererzeugen derselbigen ewigen Form und Idee und also die Unsterblichkeit derselben in dem Sterblichen.« (5) Deutlicher wird P. Natorp: »Das Gastmahl weiß nichts von persönlicher Unsterblichkeit, oder lehnt sie wohl bewusst ab« (Natorp 1994, 171). Doch er will diesen Gegensatz zur Anamnesis-Lehre versöhnen: die Unsterblichkeit der Seele sei »beständige Selbsterneuerung«; während die Ideen ewig seien, sei die Seele immer. Dennoch kommt er nicht umhin, den Unterschied zwischen jener weltflüchtigen Ideenschau am »überhimmlischen Ort« im »Phaidros« und der Todesbejahung im »Phaidon« einerseits und der »immanente(n), weltbejahende(n) Auffassung der Idee« (173) im »Symposion« andererseits zu konstatieren. »Das ist nicht«, hält Natorp fest, »bloß augenblickliche Stimmung, es setzt eine tiefe Wandlung A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
215
Das griechische »Projekt Autonomie«
des Denkens konzipieren, das nur von Ideen zu Ideen fortschreitend dasjenige Reich der logoi zu erkennen vermag, das, wie Sokrates sagte, allein den Nous zum Urheber und Ordner hat? – Diese Frage soll anhand des Dialogs »Philebos« beantwortet werden. Dieser Dialog behandelt zwar die Frage, ob das Wohlbefinden oder das Vernünftigsein das erstrebte Gute sei; aber dazu wird dieses Problem in einem Rahmen erörtert, der es ermöglicht, Platons Begriff eines noetischen, d. h. nur durch sich selbst fortschreitenden, Denkens zu rekonstruieren, das schließlich in einem Wissen endet, welches das erstrebte Gute besitzt. a. Die zwei Gattungen des Seienden: pera@ und apeiria 1. Sokrates nennt es im »Philebos« (16 c ff.) den schönsten Weg, der »eine Gabe der Götter an die Menschen« sei, und den zu beschreiben leicht, zu beschreiten jedoch höchst beschwerlich sei: »dass zwar aus Einem und Vielem alles ist, wovon jedesmal gesagt wird, dass es ist, es aber die Grenze und das Unbegrenzte in sich verbunden hat« 208 . Da dies so sei, müsse man immer »einen Begriff von allem« annehmen, suchen und finden; von diesem ausgehend sei zu betrachten, ob zwei, drei oder »irgendeine andere Zahl« darin enthalten ist, so dass man sieht, dass alles nicht nur Eines und auch Vieles ist, sondern wie vieles. Fassen wir diese »Gabe der Götter« als Anweisung auf, nach der das Seiende von Menschen erkannt wird, so kann es nicht, wie die »Freunde der Ideen« meinen, als ein Unbewegtes und immer Seiendes aufgefasst werden, dem sie das sinnlich Körperliche als nicht-seiend entgegengesetzen; aber auch nicht, wie von den »irdisch Gesonnenen«, als ein wahrnehmbar Körperliches, dem das bloß Gedachte als nicht-seiend entgegengesetzt wird. Das Seiende müsse vielmehr als eine Verbindung beider bestimmt werden, die, nach dem Gesetz voraus.« (ebd.). – Diese »tiefe Wandlung« erklärt sich unseres Erachtens aus der epistemologischen Perspektive: da das im »Phaidon« formulierte Programm der Erkenntnis einer Ordnung, die den Nous zum Urheber hat, durch die Schau des wahrhaft Seienden nicht eingelöst werden kann, bedarf es einer Konzeption, die die Erkenntnis nicht als ›Widerspiegelung‹ begreift, sondern als das Produkt eines Denkens, das seine epistemische Kraft durch die Vereinigung mit dem göttlichen Nous erwirbt. 208 F. Schleiermacher übersetzt »men … de« einfach mit »und«. Unsere Übersetzung mit dem konzessiven »zwar … aber« ist zweifellos zu stark, aber das koordinierende »und« lässt die Nuance außer Acht. G. Striker paraphrasiert: »es ist zwar richtig, dass … ; dabei muss man aber beachten, dass …« (Striker 1970, 18).
216
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
der Differenz, zwei verschiedene Gattungen des Seienden sind. Demnach sei es falsch, das sinnlich Viele, das seiner Natur nach »Zerspaltene und Zerrissene« (25a), seiner Heteronomie wegen aus dem »Reich des Seienden« auszuschließen, sondern sei unter derjenigen Gattung zusammenzufassen, die an sich selbst das Unbegrenzte (apeiria) ist, in Bezug auf die entgegengesetzte Gattung, die Grenze (pera@), jedoch der Begrenzung fähig ist 209 . Und umgekehrt ist das gedachte Eine nicht das vom Vielen getrennte auton, sondern diejenige Gattung des Seienden, die in Bezug auf die entgegengesetzte Gattung, das Viele, das Begrenzende und Bestimmende ist 210 . Das Eine und das Viele werden also richtigerweise nicht ins ausschließende Verhältnis von Seiendem und Nicht-Seiendem gesetzt, sondern in das einschließende Verhältnis verschieden Seiender. Jede Gattung ist, was sie ist, und zugleich in Bezug zur entgegengesetzten: das Viele als das an sich Unbegrenzte, aber Begrenzbare; das Eine als das auton, aber zugleich Begrenzende. 2. Diese zwei Seinsarten, pera@ und apeiria, sind freilich, trotz ihres Verhältnisses, in epistemischer Hinsicht ganz verschiedenen Ursprungs. Denn die Gattung des Einen kann zunächst nur durch das reine, alles Anderssein ausschließende Denken erfasst werden, und ihre Erkenntnis ist das Produkt des sich auf sich beziehenden Denkens; die Gattung des Vielen hingegen wird nur durch das verallgemeinernde Denken erfasst, und ihre Erkenntnis ist die Zusammenfassung des sinnlich Wahrgenommenen zum Einen, die sunagwgh ei@ en. Der Begriff des Einen ist daher einfach und rein gedacht, der des Vielen jedoch allgemein und zusammenfassend. Während also die Erkenntnis der Seinsart des Einen der Autonomie des reinen Denkens entspringt, resultiert die des Vielen aus der Heteronomie der sinnlichen Erfahrung und stellt das Gemeinsame im Begriff vor. 211 209 In Politikos 283e heißt es, das Unbegrenzte habe »zwei verschiedene Arten zu sein«. Die eine bestehe in der Beziehung des Großen und des Kleinen aufeinander, die andere im Bezug auf das Angemessene. 210 vgl. Stenzel 1971, 137: »Peras und Eins ist scharf gesehen nicht dasselbe, Peras ist die Verfassung, in die das Eins ›die anderen Dinge‹ bringt, die an sich Apeira sind«. 211 Der Auffassung, dass die »pera@« genannte Gattung der Natur nach Eines ist, stehen andere Interpretationen entgegen. Da Sokrates von der »Familie des pera@« (thn tou perato@ gennan) spricht, ist diskutiert worden, ob und wo er diese Familie gebildet hat, und man hat diese Fragen auf dem Hintergrund des klassenlogischen Schemas von »Merkmal« und »Element« interpretiert. Während G. Stallbaum (1826, 65), J. C. B. Gosling (1975, 92) und R. Hackforth (1958, 47, Anm. 1) die Auffassung vertreten ha-
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
217
Das griechische »Projekt Autonomie«
Dieser verschiedene Ursprung aber bedeutet, dass die beiden Seinsarten nicht aufeinander reduzierbar und gleich ursprünglich ben, Sokrates habe kein Merkmal der »pera@«-Klasse angegeben, vertrat L. M. Crombie (1963, 368, Anm. 1) die entgegengesetzte Auffassung: er habe zwar das gemeinsame Merkmal angeführt, aber nicht die dazu gehörenden Elemente genannt. R. G. Bury (1973, 167 f.) wiederum interpretiert Sokrates’ Eingeständnis, die »Familie der Grenze« nicht zusammengebracht zu haben (25d: ou sunhgagomen), so, dass Platon keine vollständige Klassenbildung durchgeführt habe. G. Löhr (1990, 228 f.) schließlich ist der Auffassung, er habe eine durchaus hinreichende Klassenbildung vorgenommen: das »gemeinsame Merkmal aller perata« sei ihre Funktion, »Übermaß zu verhindern und jedes apeiron am Weiterschreiten in alle Extreme zu hindern« (229); zudem werden hinreichend Elemente dieser Klasse genannt: »›das Gleiche‹, ›das Doppelte‹ etc (25a7– b2)« (228). Diese These von der Klassenbildung hat freilich die Schwierigkeit, sie in Übereinstimmung mit Sokrates’ Feststellung zu bringen, dass man die »Familie der Grenze« nicht zusammengebracht habe. Löhr deutet sie in Anlehnung an G. Striker (1970, 61) so: Sokrates verweist darauf, dass »erst bei der Betrachtung der [aus apeiron und pera@] gemischten Gegenstände deutlich wird, inwiefern Zahlen und Maße eine Grenze bilden, d. h. man kann den Charakter des pera@ erst dann erfassen, wenn es mit einem Apeiron in Verbindung getreten ist und einen gemischten Gegenstand bildet … Folglich kann eine sachgemäße sunagwgh der Klasse des pera@ erst erfolgen, wenn zugleich die gemischten Entitäten in Betracht gezogen werden.« (Löhr 1990, 233 f.) Doch diese Deutung der perata als Klasse der gemischten Gegenstände widerspricht klar der zentralen Aussage über die »Lehre der Alten«, dass alles aus Einem und Vielem sei und pera@ und apeiria in sich verbunden habe (16c). Denn wenn das pera@ als Klasse sowohl aus einem Merkmal und vielen Elementen besteht, dann wäre es selbst aus Einem und Vielem zusammengesetzt. Das pera@ wäre einmal das, was pera@ und apeiria in sich verbunden hat, und einmal das, woraus alles verbunden ist; es wäre das Verbundende und das verbindende Nicht-Verbundene zugleich. Will man diesen Widerspruch vermeiden, dann kann das pera@ nicht als Klasse verstanden werden. Sokrates’ Aussage, das pera@ sei von Natur (yusei) Eines (26d), zeigt klar, dass es keine Klasse, sondern eben Eines ist. Statt des eigenen Schemas wird nun der Text in Frage gestellt, obwohl, wie eingeräumt wird, »die Handschriften dazu keinen Anlass geben.« (Löhr 1990, 241) Im anstößigen Satz: »Das pera@ aber hatte weder Vieles (oute polla eicen) noch waren wir im Zweifel, dass es nicht seiner Natur nach Eines wäre (w@ ouk hn en yusei)«, wird das skandalöse »oute polla eicen« wegretuschiert. »Schütz schlägt vor: ›oute w@ polla eicen …‹ Badhams Konjekturen lauten entweder: ›… oti polla eicen outoi eduskolainomen …‹ oder, wie auch Apelt, Taylor: ›… ote polla eicen ouk eduskolainomen‹. Ein Vorschlag von Bury lautet, vor ›eicen‹ ein ›ei‹, ausgefallen durch Haplographie, einzufügen. Diès fügt, entsprechend einem Vorschlag von Gloel, vor ›eicen‹ ein ›ouk‹ ein. Der überzeugendste Vorschlag stammt von Bury, Hackforth schließt sich ihm an: vor ›polla‹ ist ein durch Haplographie mit ›oute‹ ausgefallenes ›oti‹ einzufügen …« (ebd., 241; hier auch die Literaturhinweise). Nicht aus grammatischen Gründen oder einer verschieden überlieferten Textstelle wegen, sondern aus sachlichen Gründen wird in den Text eingegriffen, um die entgegengesetzte Aussage zu erreichen!
218
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
sind. 212 Deshalb lässt sich die Erkenntnis des Einen nicht aus dem Vielen durch Verallgemeinerung gewinnen, noch kann umgekehrt von der Seinsgattung des Einen auf das Viele geschlossen werden. Eine Metabasi@ ei@ allo geno@ ist nicht möglich, da die Erkenntnis der Gattungen ganz verschiedenen Ursprungs ist. Diese irreduzible Dualität des Einen und des Vielen als Arten des Seienden deuten wir so, dass sie für Platon eine Grundtatsache der menschlichen Erkenntnis ist, die nicht weiter begründet werden kann, weil sie die »Natur« des menschlichen Denkens darstellt. 213 Sie ist, wie Sokrates im »Philebos« sagt, »ein unsterbliches und nie veraltendes Geschick der Reden selbst in uns« (15d). Diese Annahme der Irreduzibilität scheint nur wieder die bekannte Aporie zwischen Denken und Erfahrung auszudrücken, die schon Parmenides in seinem Lehrgedicht in die zwei Wissensarten der Unsterblichen und der Sterblichen unterschieden, Heraklit jedoch im »Satz vom Logos« schlicht als Eines ausgesagt hatte. Platon geht jedoch mit jener »Gabe der Götter« den entscheidenden Schritt weiter, indem er das Verhältnis des Einen und Vielen weder als ausschließendes noch einschließendes, sondern, der Analyse der menschlichen Rede gemäß, als das der Verschiedenheit annimmt. Das Eine ist daher weder das getrennte auton noch zugleich alles, sondern ist in Bezug Diesen Interpretationen liegt offenbar die Intuition zugrunde, im Text werde das Verhältnis der sinnlichen Dinge zu den ›übersinnlichen‹ Ideen behandelt, wie dies so nachdrücklich H. Cherniss vertreten hat. Für ihn ist es klar erkennbar, dass die Frage nach dem Eins und Vielen »die unwandelbare und unteilbare Einzigartigkeit jeder Idee im Verhältnis zur Vielheit ihrer Erscheinungen betraf« (Cherniss 1966, 18). Daher sei unter »apeiron« die Klasse der sinnlichen Dinge zu verstehen, unter »pera@« aber die Klasse der Dinge, die Platon sonst als »Ideen« bezeichnet hat. Unter dieser Prämisse ist dann die Aufregung groß, wenn es heißt, das »pera@« habe nicht Vieles und sei der Natur nach Eines. – P. Wilpert hat zurecht bemerkt, dass wir hier »nicht auf die bekannte Trennung der Seinsbereiche in einen topo@ orato@ und nohto@ zurückgreifen (dürfen), die das Reich der Ideen als den eigentlichen Bezirk des Erkennens von der Wahrnehmungswelt scheidet. Es geht um eine andere Trennungslinie«. (Eine Elementenlehre im Philebos. In: Wippern 1972, 317 f.) Diese Linie ziehen wir zwischen dem auton und dem eteron, dem rein gedachten, sich selbst gleichen Einen und dem sinnlich gegebenen, veränderlichen Vielen. Zwar ist auch sie Interpretation; aber sie greift nicht um eines Vorverständnisses willen in den Text ein. 212 Zur Gleichursprünglichkeit siehe: Natorp 1994, 315. 213 Unsere Annahme einer »Natur« des menschlichen Denkens impliziert nicht, dass nach Platon alle Menschen so denken, sondern nur, dass diese zwei Arten zu denken dem Menschen möglich sind. Der Mensch kann das Eine denken und sinnlich Vieles in Begriffen zusammenfassen. Er kann aber nicht aus dem gedachten Einen das sinnlich Viele deduzieren oder aus diesem das gedachte Eine gewinnen. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
219
Das griechische »Projekt Autonomie«
auf das Viele das Begrenzende; und das Viele ist umgekehrt weder das nur »Zerspaltene und Zerrissene« noch zugleich Eines, sondern in Bezug auf das Eine das der Begrenzung fähige. – Hatte Platon im »Parmenides« noch die Dialektik aufgewiesen, in die ein Denken gerät, wenn es von den Ideen keinen angemessenen Gebrauch zu machen versteht, stellt er im »Philebos« dieses Angemessene als die Regel dar, nach der in jedem Seienden das Eine und das Viele als pera@ und apeiria verbunden (xumyuton) sind. Da nun aber die beiden Gattungen in dieser Weise verbunden sind, kann das Eine nicht mehr nur im reinen Denken, getrennt von allem, festgehalten werden, sondern erfordert ein Denken, das gleichsam über sich ›hinausstrebt‹ und ›bestimmen will‹, ohne es freilich durch sich selbst zu können; und das Viele wird jetzt als eine Art des Seienden aufgefasst, das nicht nur das schlicht bestimmungslos Werdende ist, sondern das seiner Bestimmung ›harrt‹ 214 . 3. Diese Darstellung des »schönsten Wegs« im »Philebos« scheint nun freilich unserer obigen Annahme zu widersprechen, nach der das noetische Denken vom Einen, dem voraussetzungslosen Anfang, ausgeht, und von ihm aus durch sich selbst fortschreitet. Denn dieser Weg hat ja die Dualität des Einen und des Vielen zum Ausgangspunkt. Daher müsste jener Gang vom Einen aus nicht der »schönste Weg« sein, den die Götter gewiesen haben, oder dieser Weg wäre nicht derjenige, auf dem das Denken durch sich selbst zum begehrten Guten führt. Angesichts dieser Differenz der Methoden legt es Platon nahe, mit dem »schönsten Weg« die Technik oder Kunst zu verstehen, die den Menschen von die Götter gegeben ist, um mittels dieser Erkenntnis der Arten des Seienden – mühsam (pancalepon; 16c) – zum Wissen zu gelangen 215 ; dass das Wissen selbst jedoch, das seinen Ort, wie Sokrates sagt, in »der Wohnung des Guten« (64c) hat, keine solche Kunst ist, sondern das Produkt der Seele, die in ihrer Vereinigung mit dem voraussetzungslos Einen das Gute zeugt. So verstanden, besteht zwar der Anfang des noetischen Denkens in der unreduzierDer apeiria über die Fähigkeit, vom Einen begrenzt zu werden, noch ein Verlangen nach Bestimmung, eine »Strebebewegung« (orexi@) zuzuschreiben, geht über den Text hinaus. Vgl. dazu: C. J. de Vogel, Die Spätphase der Philosophie Platons und ihre Interpretation durch Léon Robin. In: Wippern 1972, 202. 215 Wenn Sokrates den Überbringer der Göttergabe »einen Prometheus« (16c: ti@ Promhjeu@) nennt, dann verbindet er mit dieser Kunst wohl auch die Mühen, die aus ihrer Anwendung entstehen. 214
220
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
baren Dualität der Seinsgattungen, die der ›Natur‹ des menschlichen Redens und Denkens geschuldet ist, und das daher von der Differenz zwischen dem Einen und dem Vielen auszugehen hat; aber es wird auf diesem Weg am Ende, wie wir sehen werden, zu dem ›wahren Anfang‹ geführt, wo in allem nur mehr das Eine, der alles ordnende Nous, erkannt wird. b. Die Zahl als dritte Gattung des Seienden 1. Auf der Grundlage der Gattungen des pera@ und der apeiria als den zwei irreduziblen Tatsachen menschlicher Erkenntnis verstehen wir nun die dritte Gattung des Seienden als das Erzeugnis eines Denkens, das nach seinem eigenen Gesetz fortschreitet. Diese Gesetzmäßigkeit besteht zunächst darin, dass das Denken und Reden, wie Sokrates sagt, nicht von der einen Gattung in die andere ›springt‹, wie die »jetzigen Weisen unter den Menschen«, die »Eines setzen, wie sie es eben treffen, dann Vieles, schneller oder langsamer als es nötig ist, nach dem Einen aber gleich Unendliches« (17a) – oder, wie es im »Sophistes« heißt, sich freuen, in ihren Reden immer nur Gegensätze vorzubringen (259d) –, sondern dass es »das in der Mitte« (ta mesa) trifft, wodurch sich die dialektische Untersuchung von der Eristik unterscheidet (17a). Dieses »die Mitte treffende« Denken ist, jener Anweisung entsprechend, das zahlenerzeugende Denken, weil das »Gemischte« (meikton), das durch die Verbindung von pera@ und apeiron entsteht, die Zahlen sind. Zwar nimmt Sokrates im Gespräch mit Philebos und Protarchos diese Begrenzung der dritten Gattung des Seienden auf das Reich der Zahlen so eindeutig nicht vor. Er verdeutlicht vielmehr die Funktion der Zahlen an der Kunst, auf dem Gebiet der Töne (17c ff.) oder der Laute (18b ff.) Unterscheidungen zu erkennen und in Arten einzuteilen; und verwendet den Begriff der Zahl oft gleichbedeutend mit dem des Maßes, des Schönen oder des Wahren 216 . Da diese Erläuterungen jedoch das Verständnis der Gattung des »Gemischten« eher erschweren, erscheint es uns aus Gründen der Systematik als sinnvoll, diese Gattung des Seienden auf das Reich der Zahlen zu beschränken 217 . z. B. Philebos 25a, 25e–26d, 57d. Auf das Verwirrende des Dialogs ist wiederholt hingewiesen worden: Wie verhält sich die Diskussion über Lust und Vernunft zu der in 16c ff. beschriebenen Methode? Illustrieren die Beispiele über die Töne oder Sprachlaute (17c–18d) dasselbe wie das über 216 217
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
221
Das griechische »Projekt Autonomie«
Platon hat im Dialog »Philebos« zweifellos keine Theorie der Zahlen vorgelegt, da es in ihm ja um das Verhältnis von Lust und Vernunft in Bezug auf das Gute ging. Wenn er Sokrates jedoch den »schönsten Weg« so beschreiben lässt, nach dem Eins nicht sogleich das Viele und Unendliche zu setzen, sondern vom Einen ausgehend zu sehen, ob nicht zwei, drei oder irgendeine andere Zahl enthalten sei, um es erst dann ins Unendliche freizulassen (16e); und wenn das begrenzt Viele oder die begrenzten Mengen der Gattung nach die Zahlen sind 218 , dann kann dasjenige Seiende, das aus der »Vermischung« der zwei ersten, der Grenze und des Unbegrenzten, entsteht, nur das Reich der Zahlen sein 219 . Darüber hinaus müsste es verwundern, wenn Platon der Unterschied zwischen den Zahlen (arijmoi) und den Maßen (metra), die Sokrates im Gespräch oft verbindet, nicht bewusst gewesen wäre 220 . das Wärmere oder Kältere (24c f.)? Sind die Mischungen aus dem Begrenzenden und dem Unbegrenzten in jedem Fall »gute Mischungen«? – Zum Problembestand des Dialogs siehe: J. C. B. Gosling, Metaphysik oder Methodologie?: Philebos. In: Kobusch 1996, 213–228. 218 Philebos 18b: »arijmon au tina plhjo@ ekaston econta«. Siehe auch: Aristoteles, Metaphysik 1020a; Gericke 1970, 24–31. 219 vgl. G. Cantor, der zum Begriff der »Menge« erklärt: »Ich glaube hiermit etwas zu definieren, was verwandt ist … mit dem, was Platon in seinem Dialoge ›Philebos oder das höchste Gut‹ mikton nennt.« (Cantor 1932, 204) 220 Hinsichtlich der Systematik macht es Platon schwer, zwischen der dritten Gattung und der vierten klar zu unterscheiden. Denn das eine Mal (25e–26b) wird das Angemessene und Schöne zur dritten Gattung, dem Gemischten, gerechnet; ein anderes Mal (64c–65a) erklärt Sokrates, Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit (kallo@ kai summetria kai alhjeia) gehörten der vierten Gattung an. – Angesichts dieser Unklarheit zeigen sich zwei Interpretationsmöglichkeiten: Die meisten Kommentatoren verzichten auf die Unterscheidung zwischen dem ›Gemischten‹ und der ›guten Mischung‹ ; damit werden ›Zahl‹ und ›Maß‹ zu einer, der dritten, Gattung des Seienden gerechnet. Es entsteht dann freilich die Schwierigkeit, die Systematik der vier Seinsgattungen zu verstehen. Denn wenn das »Hineinbringen« des pera@ in die apeiria als eine ›Leistung‹ des Nous gedeutet wird, die das Gutsein des Gemischten bewirkt, dann scheint die vierte Gattung der dritten vorauszugehen. »Die ganze Schwierigkeit liegt hier darin:«, schreibt P. Natorp, »im Zusammentritt des Unbestimmten und der Bestimmung scheint der logische Grund des Seins schon aufgezeigt; und nun wird noch ein besondres Prinzip des Grundes aufgestellt.« (Natorp 1994, 327). Wenn Sokrates von diesem Prinzip dann sagt, es sei der »König des Himmels und der Erden« (28c), dann könne diese Rede nur so verstanden werden, dass Platon »in dieser Personifikation dem einmal unbesieglichen poetischen Hang seiner Darstellung nicht ungern nachgibt« (332). Die Rede vom Nous als vierter Gattung wird so als eine nachträgliche dichterische ›Verdinglichung‹ der bestimmenden Tätigkeit erklärt. – Die andere Interpretationsmöglichkeit, der wir nachgehen, unterscheidet zwischen dem ›Gemischten‹ und der ›guten Mischung‹ (siehe auch:
222
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
2. Wenn wir uns aus diesen Überlegungen auf die Rekonstruktion nur des zahlenerzeugenden Denkens konzentrieren, das die dritte Gattung des ›Gemischten‹ hervorbringt, dann besteht dieses Denken in der für sich einfachen Kunst, nicht vom Einen ins Viele oder umgekehrt zu ›springen‹, sondern die zwei verschiedenen Gattungen des Seienden, pera@ und apeiria, zu verknüpfen 221 . Diese Verknüpfung beschreibt Sokrates näher so, dass in das Unbegrenzte das Gleichmäßige und Zusammenstimmende hineingebracht (enjeisa) und dadurch die Zahl hervorgebracht wird (arijmon apergazetai; 25e), die als die dritte Gattung »ein aus diesen beiden zusammengemischtes Eines« (23c-d) ist. Durch diese Operation des Hineinbringens, sagt Sokrates, hören die beiden entgegengesetzten Arten auf, sich zueinander entgegengesetzt zu verhalten (25e); das Unbegrenzte erhält durch die Begrenzung die Grenze und wird dadurch zum Grenze Habenden (pera@ econ). Hinsichtlich des Werdens lässt sich diese Gattung des Seienden als das ›begrenzte Unbegrenzte‹, hinsichtlich ihres Seins als das ›grenzhabende Eine‹ bezeichnen. Das gesamte Erzeugnis ist so ein »Werden zum Sein«: das durch die Begrenzung des Unbegrenzten entstandene grenzhabende Eine (26d). – Fassen wir dieses grenzhabende Eine nun erneut als Grenze, von der das Unbegrenzte ein verschieden Seiendes ist, so entsteht durch die Wiederholungen der einfachen Grundoperation der Begrenzung des Unbegrenzten eine fortlaufende Reihe, die sich hinsichtlich ihrer Erzeugung als Anzahlen Gleichartiger, hinsichtlich ihres Seins als einfache Zahlen beschreiben lässt 222 . Veranschaulicht man sich die Verlaufsform dieser zahlenerzeugenden Tätigkeit im Bild, so vollzieht sich dieses Eins und Vieles verbindende Denken weder nach Art eines Flusses oder eines Sprunges noch in Form des Kreises, sondern schreitet linear fort. Es fließt nicht zu immer anderem und springt nicht vom Einen ins Viele, es Sayre 1983, 159 f.; Migliori 1993, 157 f.), und daher zwischen ›Zahl‹ und ›Maß‹. Hiernach wird die dritte Gattung des ›Gemischten‹ durch das diskursive menschliche Denken erkannt, indem es das Eine und das Viele verbindet; die vierte Gattung hingegen ist der Nous, der in das ›Gemischte‹ Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit ›hineinbringt‹. – Vgl. auch: Stenzel 1933, 2 ff.; Wippern 1972, XX ff. 221 Das »höchst Beschwerliche« der Kunst, von der Sokrates spricht (16c), entsteht demnach aus der Anwendung der Zahlen auf das konkrete Gebiet, der Töne, Laute oder Gesundheit. 222 Was Aristoteles (Metaphysik 987b 33) hinsichtlich der »aoristo@ dua@« bemerkt, dass Platon sie angenommen habe, weil sich aus ihr bequem (euyuw@) alle Zahlen wie aus einer bildsamen Masse erzeugen lassen, lässt sich auch auf die apeiria übertragen. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
223
Das griechische »Projekt Autonomie«
kehrt aber auch nicht, fortlaufend, zum Anfang zurück, sondern schreitet, Schritt für Schritt, fort. Jeder Schritt hat einen Anfang, pera@ und apeiron als verschieden Seiende, und ein davon unterschiedenes Ende, das aus beiden zusammengemischte Eine, das der Anfang des folgenden Schritts ist. Dieses schrittweise Fortgehen hat und verfolgt das Ziel, die Begrenzung des Unbegrenzten, die am Anfang nicht da ist, sondern erst durch die Tätigkeit des »Hineinbringens« der Grenze ins Unbegrenzte erreicht wird. Das Denken gehorcht darin nur seinem Gesetz der Differenz: dem Identisch- und Verschiedensetzen; denn indem es in der Gattung der apeiria das pera@ hineinbringt und dadurch die Gattung des meikton erzeugt, setzt es die verschieden Seienden als ein Seiendes. 223 Es ist einerseits diskursiv, weil es nicht im auton verbleibt und anderes als Nicht-Seiendes ausschließt; es bleibt andererseits jedoch ›bei sich‹, weil es nicht springt, sondern nur nach dem eigenen Gesetz der Differenz fortschreitet. 224 g. Das Noetische als vierte Gattung des Seienden 1. Das Reich der Zahlen ist freilich nicht die »gute Ordnung«. »Ich wäre, wie es scheint, ein spaßiger Mensch,« räumt Sokrates ein, nachdem er die drei Gattungen genannt hat, »wenn ich nach Arten auseinanderstellte und zusammenzählte« (23d). Daher sei noch eine vierte Gattung nötig. Denn die Kunst des Zählens soll ja zur Erkenntnis desjenigen Seienden hinführen, das den Nous zum Urheber und Ordner hat. Da das Reich der Zahlen jedoch nur das diskursive Denken zur Ursache und dessen Gesetz zum Ordner hat und es daher nur ein aus Einem und Vielem Gemischtes ist, bedarf es der Annahme einer weiteren Gattung, nach der das Seiende »auf das Beste« (beltista) ist. Deren Ursache nennt Sokrates die »aitia« (23d), durch die das Gemischte zugleich eine ›gute Mischung‹ sei. Von ihr sagt Sokrates nur, dass alle Wissenden übereinstimmen – um, wie er süffisant hinzufügt, sich selbst zu feiern (eautou@ ontw@ semnunonte@) –, dass sie der Nous ist: »der König des Himmels und der Erde« (28c). vgl. P. Natorps Interpretation des meikton: Natorp 1994, 317 ff. Auf die Frage: »Woher weiß ich, dass auf die drei die vier folgt?« wäre nach unserer Rekonstruktion die Antwort: »Weil du ein Mensch bist«. Für Götter ist alles Eines und die Gattungsdifferenz des Einen und Vielen keine Tatsache; hier ›folgt‹ nichts. Für ›Sinnenwesen‹ hingegen ist alles Vieles, nichts Eines. Nur der Mensch, für den die Differenz zwischen dem gedachten Einen und dem sinnlich Vielen eine Tatsache ist, vermag die Folge zu wissen, weil er sie selbst erzeugt. 223 224
224
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Schon die Vorfahren haben gesagt, dass eine »wundervolle Vernunft und Einsicht alles anordnend beherrscht« (28d). Mit der Erklärung dieser Ursache beruft sich Sokrates offenkundig nicht auf die Götter, die den Menschen die Kunst des Zählens gegeben haben, sondern nur auf die »Vorfahren«, die gesagt haben, dass die Ursache von allem nicht eine »Kraft des Alogischen und Ungefähren und Zufälligen« (h tou alogou kai eikh dunami@ kai to oph etucen; 28d) sei, sondern »Weisheit und Vernunft« (soyia kai nou@; 30c) genannt werde. Er zitiert nur den bekannten Grundsatz, wonach es das Eine sei, das alles ordnet, und sieht selbst die Gefahr, bei der Bestimmung dieser Gattung des Seienden nur Fremdes nachzusagen (29a). Er erklärt damit jedoch nicht die epistemologische Frage, wie denn aus einem Zitat der Vorfahren eine eigene Gattung des Seienden werden kann. Sokrates versichert denn auch nur, dass es sich so verhält (w@ tauj’ outw@ ecei), und versteht diese Versicherung offenbar selbst als die Alternative zu Demokrit, dem »gewaltigen Mann«, der sagt: »es verhält sich nicht so, sondern ganz unordentlich« (29a). 225 2. Nehmen wir trotzdem mit Sokrates an, dass es sich so verhält, so stellt sich als zentrale Frage, wie diese vierte Gattung des Seienden vom Menschen überhaupt erkannt werden kann. Denn aus eigener Kraft vermag die menschliche Seele in allem, was ist, nur die Ordnung nach Zahlen zu erkennen, nicht aber diejenige Ordnung, die den Nous zum Urheber hat. Wie also lässt sich die Metabasi@ ei@ tetarton geno@ verstehen, die Platon den Sokrates im »Philebos« vornehmen lässt? Greifen wir hierfür zunächst auf das Vereinigungsmodell der menschlichen Seele mit dem Göttlichen zurück, das im »Symposion« vorgestellt wird, so lässt sich der Übergang von der dritten zur vierten Gattung so verstehen: zwar ist die Seele für sich unvermögend, diese vierte Gattung des Seienden zu erkennen; aber sie dann vermögend ist, wenn sie in der Vereinigung mit dem Einen die noetische Ordnung selbst zeugt. In ihr erkennt die nach Wissen strebende Seele nicht nur, dass alles, was ist, in sich die Grenze und das Unbegrenz-
225 »Auffallend ist, dass Platon Demokrit in keinem seiner Dialoge erwähnt. Nur an zwei Stellen im ganzen Corpus Platonicum stellt man mit Recht eine Bezugnahme auf Demokrit fest: ›Philebos‹ 29A3–4 … und ›Timaios‹ 55C7–8 … Im ›Philebos‹ kann der deino@ anhr kein anderer als Demokrit sein …« (Nikolaou 1998, 201)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
225
Das griechische »Projekt Autonomie«
te verbunden hat, sondern darüber hinaus das Gutsein des Verbundenen, das als ein solches den Nous zur Ursache hat. So verstanden, bildet das Reich der diskursiv erzeugten Zahlen den Weg, auf dem die Seele zur Erkenntnis des Guten bereit und fähig wird; um jedoch das Wissen dieser Ordnung zu besitzen, bedarf es der Gemeinschaft mit dem göttlichen Nous, durch die erst aus dem dritten Reich der Zahlen das vierte Reich der »guten Ordnung« erkannt wird. Diese Gattung des Seienden wäre sowohl die durch das menschliche Denken diskursiv erzeugte Ordnung als auch die intuitiv erfasste »gute Ordnung«, als deren Urheber der Nous gewusst wird 226 . 3. Für dieses Modell enthält der Text jedoch keine Hinweise. Sokrates konstatiert nur, dass es sich mit der vierten Gattung so verhält, und verbindet zudem im Gespräch allzu oft das bloß Gemischte mit der »guten Mischung«, die dritte mit der vierten Gattung. Im Weiteren dann führt er jedoch die drei Begriffe der Schönheit, der Angemessenheit und der Wahrheit (kallo@, summetria und alhjeia) an, von denen er sagt, dass sie der vierten Gattung des Seienden zugehören. Zwar sei das, schränkt er sein, was nach diesen drei verbunden ist, nicht das Gute selbst; aber in ihrer Dreieinigkeit könne es nur als das aufgefasst werden, das des Guten wegen geworden ist: »Wenn wir also nicht in einer Form das Gute fangen können, so wollen wir es in diesen dreien zusammenfassen: Schönheit und Angemessenheit und Wahrheit, und sagen, dass diese als eines mit Recht als Ursache angesehen werden können dessen, was in der Mischung ist, und dass sie dieses Guten wegen eine solche geworden ist.« (64e f.) Wenn also, so deuten wir die Funktion dieser drei, das diskursive Denken das Seiende als eine solche Mischung von Einem und Vielem erkennt, die die Schönheit, die Angemessenheit und die Wahrheit als Gesetze ihrer Entstehung haben, dann ist das Seiende von der Art, dass es des Guten wegen geworden ist. Demnach ist die schöne, angemessene und wahre Ordnung die Gattung des Seienden, die zwar nicht das Gute selbst, aber des Guten wegen geworden ist. Bedauerlicherweise präzisiert Sokrates diese drei, das Gute ›vermittelnden‹ Begriffe nicht 227 . Doch so viel lässt sich erschließen: sie Vgl. zu diesem »sowohl – als auch«: Hoffmann 1891, 241. Platon macht es in der Tat schwer, den begrifflichen Gehalt von Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit zu rekonstruieren. Statt anzugeben, was jede Idee für sich (kaj’ auto) und in Bezug zu den anderen (pro@ alla) ist, regiert das ›auch‹ : die ›gute Mischung‹ sei schön und auch angemessen und auch wahr. Ein Zusammenhang wird jedoch im Satz: »metrioth@ gar kai summetria kallo@ dhpou kai areth pantacou 226 227
226
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
müssen Ideen sein, die ihre Ursache und ihren Grund im Nous haben; denn sonst wäre nicht einsichtig, warum das, was nach diesen drei zusammen ist, des Guten wegen ist. Sie müssen aber auch Begriffe sein, die in Hinblick auf die Erkenntnis der vierten Gattung das diskursive Verfahren regeln 228 . So verstanden lässt sich der Nous erstens als »das Schöne selbst« bezeichnen, das durch die Idee des Schönen der Erkenntnis des Schönen das Vorbild gibt, nach dem das aus pera@ und apeiria gemischte Erzeugnis zugleich als ein ›zusammenstimmendes Gefüge‹ erkannt wird. Der Nous wäre zweitens das »absolute Maß« 229 , das durch das Prinzip der Angemessenheit die Regel gibt, im Gemischten das ›symmetrische Verhältnis‹ zu erkennen. Er wäre schließlich drittens die »aitia«, die als die Wahrheit dem Wahren das Gesetz gibt, nach dem das, was ist, als seinem Begriff oder Wesen entsprechend erkannt wird 230 . In der Einheit dieser drei wäre die vierte Gattung des Seienden erkannt; sie wäre zugleich das von Beginn an gesuchte Wissen, weil in dieser Gattung der Nous als Ursache und Ordner erkannt ist. Mit dem nach diesen drei Ideen gezeugten Wissen stünde die menschliche Seele nicht nur, wie Sokrates sagt, »am Eingang des Guten und dessen Wohnung« (64 c), son-
sumbainei gignesjai« (64e) hergestellt. Wenn man den Satz allerdings in der Weise versteht, dass durch die Angemessenheit Schönheit und Tugend entstehen, dann wäre das Angemessene die Ursache des Schönen. Diese Aussage ist jedoch nicht einsichtig, und Sokrates nennt selbst Beispiele: Farben, Düfte oder Töne sind schön, nicht weil sie ›angemessen‹ sind, sondern weil sie rein, lauter und einfach sind (51b-d). Umgekehrt ist gleichfalls nicht einsichtig, warum Maßverhältnisse selbst schön sein sollten. – Wenn also diesen drei Ideen in Hinblick auf das Gute ein Gemeinsames zukommen soll, sie untereinander jedoch unterschieden sind, so dürfte nichts dagegen sprechen, im Sinne Platons zu sagen: eine »gute Mischung« ist die, die erstens (auch) ohne Maß ›schön‹ ist, für die es zweitens ein Maß gibt und die daher ›symmetrisch‹ ist, und die drittens als ein Ganzes ›wahr‹ ist. Die »gute Mischung« ist demnach die, in der keine dieser Eigenschaften auf die andere reduzierbar oder der anderen gleich ist; wobei aber »die Symmetrie das Schöne mit dem Wahren zusammenhält, weil erst die maßbestimmende Mischung ein Seiendes ohne Verdeckungen und Überdeckungen ganz in dem heraustreten lässt, was es ist.« (Janke, Das Schöne. In: Krings 1973 f., Bd. 5, 1271). Vgl. auch: Pechmann 1980, 48 ff. 228 J. Stenzel: Der »Philebos« zeigt »den Weg …, auf dem für Platon Zahlenlehre und Lehre vom Quantum, von den Größen, durch den Mittelbegriff des Gemessenen (summetron) in die Sphäre des Guten einbezogen werden können.« (Stenzel 1933, 70). 229 H. J. Krämer schreibt den aristotelischen Ausdruck des »akribestaton metron« dem platonischen Guten zu (Krämer 1972, 436–9). 230 vgl. Platon, Staat 508e: dort ist die Idee des Guten die Ursache der Wahrheit (aitia alhjeia@). A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
227
Das griechische »Projekt Autonomie«
dern befände sich, in der Einheit der drei, wohl auch in der ›Wohnung des Guten‹. 231 231 Sokrates lässt uns hier, »am Eingang des Guten« stehen, so dass wir nicht wissen können – und wohl auch nicht sollen –, was sich in der »Wohnung des Guten« vollzieht. Es liegt jedoch nahe, sie als die Akademie zu verstehen und als den Ort, wo von der zeugungsbereiten Seele und dem ihr Gunst gewährenden Nous die »Heilige Hochzeit« vollzogen wird. Und so wie die Gäste zur Vermählung geladen sind, das Paar sich zur Hochzeit dann entzieht, so werden auch wir, die Unkundigen, zur »Wohnung des Guten« zwar geladen, ohne sie betreten zu dürfen. Von dem, was dort sich vollzieht, deutet Platon nur an, dass es weit »wertvolleres« (timiwtera; Phaidros 278d) sei als das bisher Verfasste, und wir dürfen nicht grundlos vermuten, dass die dort gezeugten »unsterblichen Kinder« (Symposion 209c) nun schließlich die logoi sind, deren Besitz für Platon das erstrebte Gute ist, und die die »Ideen-Zahlen« genannt worden sind. – Da der fehlenden Quellen wegen ein genaues und umfassendes Verständnis dieser Theorie wohl unmöglich bleiben wird, der »Vierzahl« im Folgenden jedoch eine zentrale Rolle zukommt, seien einige Überlegungen zur Funktion der Lehre und zu den Eigenschaften der Zahlen angemerkt. 1. Mit den sog. »Ideen-Zahlen« ist offenbar nicht jene dritte Gattung des Seienden gemeint, die aus pera@ und apeiron zusammengesetzt ist. Sie gelten vielmehr als einfache, »unzusammengesetzte Zahlen« (asumblhtoi arijmoi), die als solche das Gute sind oder repräsentieren. Jedenfalls spricht hierfür der Bericht von Aristoxenos, Platons Vorlesung »Über das Gute« habe nur von Mathematik und Zahlen gehandelt. Akzeptiert man diese Annahme, dann ist H. Gomperz’ Vermutung überzeugend, dass die Ideen-Zahlen in methodischer Hinsicht ein »Ableitungssystem« aus einfachsten Prinzipien darstellen (H. Gomperz, Platons philosophisches System. In: Wippern 1972, 161). Desweiteren lässt sich mit K. Gaiser sagen, dass es sich bei ihnen weder um natürliche Zahlen noch um Zahlenverhältnisse handelt, sondern dass mit einer »inneren LogosStruktur jeder einzelnen Idee oder auch, von Zahl zu Zahl, mit komplizierteren LogosVerhältnissen« (Gaiser 1963, 119) zu rechnen ist. 2. Gehen wir von dieser epistemischen Funktion der Ideen-Zahlen aus, das Gute darzustellen, dann müssen sie ein System von Zahlen bilden, das – zumindest dem »Philebos« gemäß – nach den drei Gesetzen der Schönheit, des Maßes und der Wahrheit geordnet und daher seiner Anzahl nach begrenzt ist. Für letzteres spricht die Aussage von Aristoteles, Platon habe die Zahlen auf die Dekade begrenzt (Metaphysik 1084a 12). Leider sagt er nicht, wie diese Begrenzung zu verstehen ist. Seine Ausführungen zeigen nur seinen Widerwillen gegen eine solche Zahlenlehre, wie seine bissige Bemerkung beweist, in Falle der Beschränkung gingen schnell die Formen aus. Verständlich wird die Begrenzung auf die Dekade nur, wenn sie nicht als willkürliche Beschränkung, sondern im Sinne der »vollkommenen Zahl« verstanden wird. Damit aber stellt sich die Frage, wie diese Vollkommenheit der Dekade zu deuten ist. Gegen die Möglichkeit, die Zehnzahl aus der Verdopplung der ersten geraden und der ungeraden Zahl hervorgehen zu lassen, hat schon Aristoteles bemerkt: »Den Ursprung der ungeraden Zahl geben sie [die Platoniker] nicht an« (Metaphysik 1091a 23). Eine andere Möglichkeit, die K. Gaiser (1963, 119 ff.) vorgestellt hat, ist das »dimensionale Teilungsverfahren«, dem aber die Herleitung der Zahlen 5 und 7 fehlt, die doch, wie Gaiser selbst bemerkt, »in der Dekas der Ideen-Zahlen nicht fehlen dürfen« (122). Man wird daher W. Bröcker zustim-
228
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
3.
Die Erfahrungswelt als Abbild der »guten Ordnung«
Mit dem Konzept des »noetischen Denkens« hat Platon den Weg beschrieben, der zur Erkenntnis der Ordnung des Seienden hinführt, men müssen: »Wie freilich Plato diese Deduktion der Ideen aus den Prinzipien durchgeführt hat, wenn er überhaupt mehr getan hat, als das Postulat einer solchen Ableitung aufzustellen, darüber vermögen wir nichts auszumachen …« (W. Bröcker, Plato über das Gute. In: Wippern 1972, 237 f.) – Bei diesen Versuchen der »Herleitung« der Zehnzahl aus einfachen Prinzipien bleibt die »klassische« Erklärung unbeachtet, nämlich die Definition der Dekade als »vollkommener Zahl« als Summe der ersten vier Zahlen: 1 + 2 + 3 + 4 = 10. Diese Deutung kann auf die Aussage der Pythagoräer zurückgreifen, die deka@ sei deshalb die »vollkommene Zahl«, weil sie die Vollendung der Tetraktys, der »tätigen Vier« (tettara + agein), sei. Hier gilt die Vier als die »heilige Zahl«, von der Sextus Empiricus 1998, VII, 94–5 schreibt, sie sei für die Pythagoreer »die Quelle und Wurzel der ewig fliessenden Natur« (phgh aenaou yusew@ rizwma); nach ihr sei »der ganze Kosmos harmonisch verwaltet.« Akzeptiert man diese Deutung, so reduziert sich das Problem der »vollkommenen Zahl« auf das Verständnis der Vierzahl im Kontext von Platons Theorie der Ideen-Zahlen. Diese Theorie lässt sich von der pythagoreischen Lehre nun dadurch unterscheiden, dass Platon die Vierzahl nicht als »die Quelle und Wurzel der ewigen Natur« behauptet, sondern dass er sie – im »Philebos« – als je verschiedene Gattungen des Seienden begründet: 1. das rein gedachte en als bestimmende pera@; 2. die Zusammenführung (sunagwgh) der sinnlich gegebenen polloi im Begriff der apeiria (bzw. der unbestimmten Zweiheit); 3. die Verbindung beider in der Mischung (meixi@); 4. das durch den Nous als Ursache (aitia) Gewordene. Jede dieser vier besitzt als Gattung eine je eigene, unreduzierbare »Logos-Struktur«, und diese vier logoi zusammen begründen die Erkenntnis des vollendet Seienden. Platons Aussagen über die Vierdimensionalität des Raumes (Punkt-Linie-Fläche-Körper), die Aristoteles in »de Anima« (406b 16–27) überliefert, über die Vierzahl der Elemente (Feuer-Luft-Wasser-Erde) und der Gattungen des Lebenden (Götter-Vögel-Fische-Landtiere) im »Timaios« oder über das Vierfache der erkennenden Seele (aisjhsi@–doxa–doxa alhjh@–episthmh; aisjhsi@–eikasia–dianoia– nou@) im »Theaitetos« bzw. im »Staat« (509d ff.) sind insofern ›Anwendungen‹ der Logos-begründeten Vierheit des Seienden. 3. Diese Deutung der Vierzahl schöpft Platons Theorie der »Ideen-Zahlen« zweifellos nicht aus, wie allein die Ausführungen über die Planetenbahnen oder die Zusammenfügung der Weltseele im »Timaios« zeigen. Auch bleibt im Dunklen, wie die Zehnzahl als Summe der vier Zahlen darzustellen wäre. In philosophiehistorischer Hinsicht bedeutsamer als die Rekonstruktion dieser ausdrücklich esoterischen Zahlenlehre Platons und der Akademie dürften jedoch die anschließenden Reflexionen über die »Vierzahl« sein. Hierzu gehören die »artigen Betrachtungen«, die Kant anlässlich der Kategorientafel in den §§ 11 und 12 der »Kritik der reinen Vernunft« über die Vierzahl der reinen Verstandesbegriffe anstellt und über die Dreizahl der Kategorien jeder Klasse sowie der Transzendentalien des Einen, Wahren und Guten; oder Schellings »Ableitung« der vier Prinzipien, die er in der 17. Vorlesung seiner »Darstellung der reinrationalen Philosophie« vornimmt. Hierzu gehören auch die Überlegungen, ob und inwiefern die Vierzahl ›heidnisches Vernunftdenken‹, die Dreizahl hingegen ›christliches Versöhnungsdenken‹ repräsentiert. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
229
Das griechische »Projekt Autonomie«
die den Nous zum Urheber hat. Schönheit, Maß und Wahrheit sind die Kriterien, nach denen das aus Einem und Vielem Gemischte des Guten wegen geworden ist. Doch mit diesem Konzept ist noch nicht der programmatische Grundsatz eingelöst, dass alles so geordnet ist, wie es am besten ist. Denn dazu bedarf es nicht allein der Erörterung der Arten des Seienden, sondern der Beantwortung der epistemologischen Frage, ob nach diesen Prinzipien auch ein Erfahrungswissen möglich ist. Die Beantwortung dieser Frage kann freilich nicht allein auf dem Weg des Denkens geschehen, sondern beruht auf den zwei verschiedenen epistemischen Vermögen: dem Denken und der Erkenntnis dessen, was immer ist, und der Sinnlichkeit und ihren Vorstellungen von dem, was immer anders wird. Diesen Weg in die Erfahrung hat Platon im »Timaios« beschritten, dem wohl einflussreichsten Dialog seines Gesamtwerks. 232 Er enthält die Rede des sternkundigen Timaios über das All, »wie es entstanden oder auch nicht entstanden ist« (27c). Diese Rede betrachten wir allerdings nicht unter dem Aspekt, ob sie die Kosmologie Platons enthält oder nur in mythischer Form die Entstehung der Welt erzählt, sondern betrachten sie hinsichtlich des Verfahrens der »Logifizierung der Erfahrung«, da Timaios es unternimmt, das Werdende, dieses sichtbare und betastbare All (28b), als ein nach den Gesetzen der Schönheit, des Maßes und der Wahrheit geordnetes Ganzes zu begreifen. 233 Im Folgenden geht es uns daher weder um den Dialog als Ganzen noch um die einzelnen Inhalte, sondern um 232 »Up until the humanistic revival of the Renaissance, the Timaeus was Plato’s most influential work.« (Reale 1997, 149) 233 Den politisch-ideologischen Gründen der platonischen Kosmologie als »Fundamentalphilosophie« ist A. Müller nachgegangen: dem mythischen Wissen wie auch dem Atheismus konnte erst dann der Boden entzogen werden, wenn die Vernunftordnung auch als sinnlich erfahrbar bzw. das sinnlich Erfahrene auch als durch Vernunft erkennbar nachgewiesen ist. »Mit dieser Leistung ist die zentrale Stellung der Kosmologie in den ›Nomoi‹ und seitdem in der gesamten hellenistischen Theologie gerechtfertigt.« (Müller 1975, 29) – In anderer Weise hat auch P. Kalkavage das politische Interesse ins Zentrum des »Timaios« gestellt: »Socrates does not meet Timaeus by chance and ask him ›What is the cosmos?‹ The dialogue begins instead by directing our attention to the Republic, to the question ›What is the best political order by nature?‹ The true theme of the Timaeus is revealed not by the speech of Timaeus per se, but by Socrates’ longest speech in the dialogue at 19b3–20c3. Socrates desires to hear about the best city’s involvement in a beautiful war. All three of Socrates’ ›hosts‹ in the dialogue are, furthermore, outstanding political men. It seems then that politics and war rather than cosmology are the true center of the Timaeus.« (Kalkavage 1983, 2 f.) Der Hinweis auf das praktischpolitische Interesse ist berechtigt; er steht aber nicht, worauf A. Müller verwiesen hat,
230
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
die Begründung dieser Ordnungslehre sowie das Verfahren der Logifizierung. Diese sind im Wesentlichen im Proömium der TimaiosRede (27c–29d) sowie in der Darlegung der zwei Anfänge der Weltentstehung (29d–30b, 47e–53c) enthalten. Zwar werden wir zur Klärung und Erläuterung auch auf andere Stellen zurückgreifen; das Anliegen ist jedoch die Rekonstruktion der epistemologischen Begründungsstruktur eines solchen Erfahrungswissens. a.
Die epistemologische Grundlegung
Bevor Timaios darlegt, warum, wodurch und wie die Welt als ein auf das Beste geordnetes Ganzes entstanden sei, umreißt er in der Vorrede die Ausgangslage. Er geht aus von der Differenz von Seiendem und Werdendem, führt den Begriff der Ursache des Gewordenen ein, bestimmt den Begriff des »Welturhebers« und bezeichnet schließlich den epistemischen Charakter seiner Rede über die Weltordnung. Im Folgenden soll darum gehen, wie diese grundlegenden Aussagen von Timaios begründet werden bzw. erklärt werden können. a. Die absolute Differenz von Seiendem und Werdendem Timaios beginnt: »Es ist nun nach meiner Meinung das Erste, dies zu unterscheiden: das stets Seiende, das kein Entstehen hat, und das immer Entstehende, das niemals ist; das eine, durch das logische Denken erfasst, ist das stets demselben gemäß Seiende; das andere, durch die alogische Sinnlichkeit vorgestellt, ist Vorgestelltes, entstehend und vergehend, niemals seiend. « (27d ff.) Betrachten wir diesen Satz als Beschreibung der Ausgangslage, so gibt es hier, am Beginn, kein »Erstes«, das den zwei Reichen, dem des stets Seienden und dem des niemals Seienden, vorausginge, aber auch kein »Drittes«, das beide irgendwie verbindet. Es gibt also keine parmenideische Göttin, die den »Weg des Wissens« mitteilt; keinen heraklitischen Logos, der ›sagt‹, was alles ist; keinen leukippischen »Raum«, in dem das Unveränderliche und das Veränderliche ein gemeinsames Bestehen haben; es gibt aber auch keinen wirkenden Nous, der alles schon geordnet hat. Das Seiende und das Entstehende sind daher auch nicht zwei verschiedene Gattungen des Seienden und stehen in keiner Beziehung oder Verbindung zueinander. Es gibt nur Timaois’ Meinung, in Gegensatz zur Annahme, dass es in diesem Dialog um die kosmische Ordnung geht, die der politischen Ordnung das sichtbare Vorbild gibt. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
231
Das griechische »Projekt Autonomie«
dass das eine nur ist und nie wird, das andere aber nur wird und nie ist. 234 Er beschreibt also »das Erste« als absolute Differenz von rein gedachtem Seienden und sinnlich vorgestelltem Werdenden, und beide Reiche sind gleichursprünglich. Epistemologisch könnte der Anfang nicht aporetischer dargestellt werden. b. Die Ursache des Gewordenen Erst im zweiten Schritt führt Timaios den Begriff der Ursache (aition) ein: »Alles Gewordene hat unter einer Ursache (up’ aitiou tino@) aus Notwendigkeit (ex anagkh@) sein Entstehen.« (28a) Deuten wir diesen Satz als eine ›meta-physische‹ Aussage, so sagt er von allem Gewordenen aus, dass es nicht zufällig, sondern unter einer Ursache entstanden sei; »denn«, so das Argument, »allem ist es unmöglich, ohne Ursache sein Entstehen zu haben.« (28a) Diese Ursache aber, weil sie die Ursache alles Gewordenen ist, kann selbst nicht entstanden sein und daher nicht durch die Sinne erfasst werden; sie ist offenbar als ein Drittes anzunehmen, durch das oder unter dem alles sinnlich erfassbar Gewordene entstanden ist. – Da Timaios es ganz unbestimmt lässt, was diese Ursache sei, sondern nur feststellt, dass alles Gewordene unter irgendeiner Ursache (up’ aitiou tino@) sein Entstehen hat, so können wir sie uns als die jeoi der Mythologien, die arch der ersten Philosophen, den logo@ Heraklits, den nou@ des Anaxagoras oder die anagkh des Leukipp vorstellen. Die Aussage ist nur, dass überhaupt etwas sei, unter dem alles Gewordene entstanden ist. 234 Insofern vermisst P. Kalkavage in seinem Kommentar des Anfangs scheinbar zu Recht das Dritte, das Sokrates im »Staat« (509d ff.) genannt hatte: »Timaeus leaves out a third mode of ›being‹. He leaves out the most important segment on the divided line, the segment that corresponds to images and the recognition of images as images. He leaves out eikwn and eikasia. This omission is most curious given the fact that for Timaeus the cosmos is an image (29b1–2)«. Angesichts dieser »Kuriosität« stellt Kalkavage die Frage: »How, in other words, can Timaeus represent as mutually exclusive the two natures whose mixture is required for cosmos understood as an image?« Er beantwortet sie als eine »inconsequence« von Timaios. (Kalkavage 1983, 60 f.) – Abgesehen davon, dass Timaios nicht mit zwei »modes of ›being‹« beginnt, sondern mit dem Unterschied zwischen »being« und »becoming«, ist es unseres Erachtens in der Tat diese Frage ist, die Timaios zu beantworten unternimmt. Im »Staat« hat Sokrates die keineswegs evidente These aufgestellt, die sinnliche Welt sei als »image« der gedachten Welt zu begreifen; im »Timaios« soll sie eingelöst werden. Dazu kann jedoch das zu Begründende – die sinnliche Welt als »image« der gedachten – weder nur behauptet noch schon vorausgesetzt werden. Daher ist es in der Tat das Erste, dass das sinnlich Vorgestellte und das rein Gedachte als »mutually exclusive« anzunehmen sind.
232
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Desweiteren sagt der Satz aus, dass das Verhältnis des Gewordenen zu seiner Ursache notwendig sei. Diese Notwendigkeit lässt sich nun nicht im ›metaphysischen‹ Sinn verstehen; denn der Satz sagt nichts über diese Ursache aus, sondern behauptet nur, dass allem Gewordenen das Ursache-Haben notwendig sei. Da nun aber diese Notwendigkeit weder durch das logische Denken (nohsi@ meta logou) begründet werden kann, das ja nur das erfasst, was stets ist, noch durch die Sinnlichkeit (aisjhsi@ alogo@), die ja nur das vorstellt, was wird, lässt sie sich offenbar nur in Bezug auf den Menschen und seine Erkenntnisart begründen: für Menschen ist es – im Unterschied zu Göttern und Tieren – notwendig, eine Ursache anzunehmen, unter der Gewordenes entstanden ist. Angesichts der Ausgangslage zwischen der logischen Konsistenz dessen, was stets ist, und der sinnlichen Kontingenz dessen, was nie ist, ist dem Menschen die Annahme eines ›Dritten‹ notwendig, das ihm das Entstehen des Kontingenten erklärt. 235 g. Der Demiurg als Urheber der Weltordnung 1. Im dritten Schritt erst zeichnet Timaios diese Ursache alles Gewordenen ›metaphysisch‹ als den Demiurgen aus: »otou men oun an o dhmiourgo@ …« (28a). Achten wir hierbei nicht, wie Timaios es sogleich tut, auf die dadurch bestimmte Art der Entstehung des Gewordenen, sondern auf den Charakter der Ursache selbst, so müssen wir sie offenbar als ein Subjekt und die Art des Wirkens als dessen Handlung auffassen. Daraus lässt sich schließen, dass Timaios vom sinnlich wahrnehmbaren Gewordenen nur dann ein Wissen als möglich erachtet, wenn sein Entstehen nicht als Wirkung irgendeiner, sondern dieser Ursache, d. h. als Resultat der Handlung des Demiurgen, 235 Diese behauptete Notwendigkeit impliziert die Kritik sowohl an Parmenides als auch an Protagoras, die beide diese Notwendigkeit bestritten haben. Parmenides, weil ›in Wahrheit‹ nur Seiendes ist und daher die Annahme des Entstehens nur eine doxa brotwn sei (siehe dort); Protagoras hingegen, weil Wissen Wahrnehmen ist, eine solche Ursache aber nicht wahrnehmbar sei (vgl. Platon, Theaitetos 151e f.). Beiden hält Platon entgegen, dass für den Menschen diese Annahme notwendig ist, weil der menschlichen Seele weder ein logisches Wissen ohne Bezug zur Wahrnehmung noch ein Wahrnehmen ohne Bezug auf ein Bleibendes möglich ist. In diesem Sinne einer Ursache überhaupt sagt auch D. Hume – wenn der Exkurs gestattet ist –, dass es zu ihrer Annahme ein »Verlangen« (propensity) gebe, »[that] point out a principle of human nature, which is universally acknowledged, and which is well known by its effects.« Hume nennt sie »the ultimate principle, which we can assign, of all our conclusions from experience« (Hume 1984, V, 36).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
233
Das griechische »Projekt Autonomie«
erkannt wird. Da die Einführung des Demiurgen keineswegs als notwendig erscheint – und Timaios, anders als im Fall der Ursache überhaupt, eine solche Notwendigkeit auch nicht behauptet –, soll es zunächst um die Gründe oder Motive gehen, die diese Auszeichnung der Ursache erklären oder begründen. Die nächstliegende Erklärung ist wohl die, den Begriff des Demiurgen wörtlich zu nehmen und ihn auf das Vorbild des Handwerkers zu beziehen. So wie Arbeitsprodukte als diese nur erkannt werden, wenn ihre Entstehung auf eine zweckmäßig wirkende Tätigkeit zurückgeführt wird, so wird, in Analogie, auch das sichtbare All nur erkannt, wenn seine Entstehung nicht durch blind wirkende Ursachen, sondern durch die Handlung eines Subjekts erklärt wird. Die Einführung des Begriffs des Demiurgen wird so qua Anthropomorphie, genauer: qua Technomorphie, erklärt. Diese Erklärung ist zumeist mit der ideologiekritischen Intention verbunden, die Analogie des kosmologischen Begriffs der Ursache mit der Zweckmäßigkeit des menschlichen Handwerks als Ausdruck einer mythisch-naiven Projektion zu deuten 236 . Ein anderes Erklärungsmuster betrachtet die Einführung des Demiurgen durch Timaios als Symbolisierung des Nous. Der Demiurg stelle bildlich die wirkende Kraft des Nous selbst dar. Er sei daher nicht als eine eigenständige dritte Realität anzunehmen, die ›neben‹ oder ›zwischen‹ den zwei Reichen des Seienden und des Werdenden besteht, sondern stelle in mythischer Gestalt das Dynamische und Weltbildende des Noetischen vor; er sei »nichts anderes als der anschaulich beschriebene Dynamis-Aspekt der Idee« (Gaiser 1963, 193). Diese Erklärung bindet die Figur des Demiurgen, die Timaios in der Vorrede beschreibt, an den Grundsatz der Philosophie Platons zurück, wonach als Ursache von allem der Nous anzunehmen sei, so dass die Bedeutung, auf die das Wort verweist, nicht das Handwerk, sondern das ewig Tätige des Nous ist. Bezieht man sich allerdings auf die Aussagen des Timaios, so stimmen beide Erklärungen mit ihnen nicht überein. Denn er beschreibt ihn zunächst weder als zweckmäßig handelndes Subjekt noch als noetische Wirkkraft, sondern als ein indifferentes Subjekt, das nach dem einen oder dem anderen Gesetz handeln und dementsprechend Entgegengesetztes bewirken kann: »Wessen Hersteller nun, auf das stets sich gleich Verhaltende blickend, nach einem sol236
234
Siehe: Topitsch 1958; 1959. – Vgl. auch: Kant, KU V 388 f.; Marx 1972, 27.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
chen Vorbild dessen Form und Kraft erschafft, das muss notwendig schön zu einem gewordenen Ganzen vollendet sein; nach Gewordenem als Vorbild aber, nicht schön.« (28a-b) Wenn, so paraphrasieren wir, der Demiurg nach dem stets Seienden handelt, dann ist das, dessen Gestalt und Form er herstellt, notwendig schön; wenn aber nach dem immer Werdenden, dann ist das Geschaffene notwendig nicht schön.237 Das aber heißt, dass der Demiurg als ein eigenständiges »Drittes« aufzufassen ist, das für sich selbst ohne Gesetz ist, das aber die Kraft hat oder ist, nach diesem oder jenem Vorbild zu wirken; ein gleichsam hypothetisches Subjekt, das, wenn es handelt, entweder Schönes oder Nicht-Schönes herstellt. Fürs erste jedenfalls unterscheidet Timaios klar zwischen der Ursache, die das Entstehen alles Gewordenen bewirkt, und den zwei Reichen des Seienden und des Werdenden, auf die der Demiurg blickt. 2. Erst im Anschluss daran erfolgt der Schluss von der Indifferenz des Demiurgen auf sein Gut-Sein. Dazu geht Timaios von der Alternative aus, die wir so formulieren: wenn das sichtbare All schön und sein Hersteller daher gut ist, dann ist das Vorbild, nach dem er sich richtet, das stets Seiende; wenn es hingegen nicht schön und sein Erzeuger daher schlecht ist, dann ist das Vorbild das stets Werdende. Nun aber sei es, so das Argument, einerseits Frevel, den zweiten Fall überhaupt auszusprechen; andererseits sei es jedem »klar« (saye@; 29a), dass dieses All das Schönste alles Gewordenen und sein Hersteller die beste aller Ursachen ist. Aus diesem »Klar-Sein« schließt Timaios, dass das sichtbare, fühlbare und körperliche All nach dem durch Denken und Einsicht (logw kai yronhsei) erfassten Seienden hergestellt und daher dessen Abbild (eikwn) sei. Wie aber lassen sich diese zwei Aussagen, das ›Sage-Verbot‹ der einen und die ›Klarheit‹ der anderen Alternative, erklären? Oder anders: Worin ist die Klarheit der Einsicht gegründet, der Urheber alles Gewordenen könne nur ›gut‹, nicht aber ›schlecht‹ sein? Dieser Grund kann jedenfalls nicht das Logische sein; denn danach ist vielmehr zu erwarten, dass das All, da es nur mit den a-logischen Sinnen erfasst wird und sich als Werdendes zeigt, nach dem Vorbild des stets Werdenden entstanden ist, dass es daher nicht-schön und sein Urheber schlecht ist. Sich widersprechend hingegen ist die Annahme, dass das Vorbild, nach dem das hergestellt ist, was immer nur wird und 237 So auch H.-G. Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platos ›Timaios‹. In: Gadamer 2001, 40.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
235
Das griechische »Projekt Autonomie«
nie ist, dasjenige sei, das immer ist und nie wird. Wenn Timaios dem gegenüber behauptet, dass jener Schluss gar nicht auszusprechen, die ihm entgegengesetzte Annahme jedoch »klar« ist, dann kann nicht die Logik diese Behauptung begründen. Würde man angesichts dieser Paradoxie zwischen dem Logischen, aber Unsagbaren und dem Klaren, aber Wider-Logischen das Gewordene in zwei Arten unterscheiden, in die noetische und daher schöne Welt und in die sinnliche und daher nicht-schöne Welt, oder würde den »schlechten Demiurgen« als einen in sich widersprüchlichen Begriff aufweisen, da doch die Gesetzlosigkeit nicht als Gesetz dienen könne, so entfernte man sich mit diesen Erklärungen zweifellos von dem, was Timaios sagt. Da also die Klarheit, die Timaios für die Schönheit des Alls und die Güte seines Herstellers behauptet, und das Unsagbare des Gegenteils nicht aus der denkenden Einsicht folgen, müssen sie in etwas anderem begründet sein. Dieses andere aber kann nur jener epistemische Grundsatz sein, dass der Nous es sei, der alles auf das Beste ordnet, den Platon folglich nicht nur der Erkenntnis des immer Seienden, sondern auch des stets Werdenden zugrunde legt, so dass das durch die Sinne erfasste Gewordene je schon schön und dessen Urheber gut ist. Mit der Begründung der Klarheit durch diesen Grundsatz ist freilich nicht nur das vorausgesetzt, was Timaios doch erst zeigen will; sie führt ihn auch zu der logischen Paradoxie, dass das stets Werdende nach dem Vorbild des immer Seienden hergestellt, das Entgegengesetzte jedoch Anathema ist. – Zudem kann dieses ›andere‹, Platons epistemischer Grundsatz, erklären, warum es so schwer sei, wie Timaios einleitend sagt, den Erbauer und Vater des Alls (poihth@ kai pathr toude to panto@) überhaupt zu finden, und unmöglich, ihn allgemein mitzuteilen. Diese Schwierigkeiten erklären sich daraus, dass der Grund für die Erkenntnis dieses Erbauers eben jenseits alles Erfahrbaren und Denkbaren liegt. 238
238 Th. Szlezák hat zu Recht bemerkt, dass es hier nicht um »Geheimhaltung«, sondern um »Esoterik« geht: »ein aprorrhton kann nicht ›an alle‹ mitgeteilt werden, weil es, vorzeitig mitgeteilt, nichts klar machen würde. Die Natur des Demiurgos ist offenbar ein solches aprorrhton: sie ist prinzipiell auffindbar und auch sagbar, aber nicht ›an alle‹«. (197) Im Weiteren stellt er über die »Natur des Demiurgos« fest: »Das ›Wissen‹ (oiden) [des platonischen Dialektikers] von den arcai wird hier also nicht mitgeteilt, hier so wenig wie 29e4–30a2, wo das entscheidende Prinzip (arch) des Werdens, nämlich das Gutsein (H. v. m.) des Demiurgos, von einsichtigen Männern (par’ andrwn
236
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
d. Die Gewissheit und Wahrscheinlichkeit der Rede Da der Inhalt des »Klaren« in dem Paradox besteht, dass das stets veränderliche All nach dem Vorbild des stets Seienden entstanden und dessen Abbild ist, ergibt sich aus dieser Art des Wissens, dass die Aussagen, die Timaios über die sinnliche Welt als Abbild der noetischen macht, nur den Charakter einer »wahrscheinlichen Rede« (eikw@ mujo@) haben. Der Paradoxie wegen können sie weder in der Form »zusammenstimmender und genau bestimmter Sätze« (§ 29c) noch in Gestalt einer bildhaften Erzählung vom Anfang der Welt dargestellt und mitgeteilt werden. Denn weder die Begriffe von dem, was immer ist, noch die Vorstellungen von dem, was stets wird, können jenes undenk- und unvorstellbare Verhältnis von Seiendem und Werdendem darstellen, das der Demiurg herstellt. Aus dieser Unmöglichkeit aber folgt, dass Timaios’ Rede über das All in epistemologischer Hinsicht als ein Amalgam aus heterogenen, teils logischbegrifflichen, teils sinnlich-vorgestellten Elementen verstanden werden muss, das weder noetisch noch poetisch ist. Sie kann in dieser Hinsicht nur ein ›Bastard‹ aus begrifflicher Ontologie und sinnlicher Kosmogonie sein, der auf die Gewissheit gegründet ist, dass das stets Veränderliche das Abbild des immer Unveränderliche sei. 239 yronimwn, 30a1) zu übernehmen ist – wie diese Männer zu ihrer grundlegenden Einsicht gelangt sind, wird im Timaios weder gefragt noch dargelegt.« (Szlezák 1997, 199) 239 K. Gaiser hat gleichfalls auf die Paradoxie der Welterklärung Platons verwiesen. Platon habe zunächst eine konsistente und rekonstruierbare Lehre vom Seienden gegeben, die aus dem Gegensatz der Prinzipien des Einen oder der Grenze und der unbestimmten Zweiheit oder dem Apeiron deduktiv und systematisch nach Zahl und Maß entwickelt ist. Die Paradoxie nun sieht Gaiser in der Frage enthalten: »Warum hat der Demiurgos einmal aus dem Chaos den Kosmos geschaffen, und zwar so, dass die göttliche Herrschaft im Kosmos nicht ständig dauert? Wie ist es möglich, die beiden Prinzipien der Potenz nach als gleichwertig, ontologisch und axiologisch aber doch nur das eine als positiv (Seinsgrund), das andere als negativ (Grund des Nichtseins) zu verstehen?« (Gaiser 1963, 200) Da Platon auf diese Fragen keine Antworten gibt, dürfe diese Lehre »nur als hypothetischer Entwurf aufgefasst werden«. Platons Prinzipienlehre biete »auch in ihrer esoterisch-mündlichen Form keine perfekte Welterklärung …, sondern (führe) systematisch zu einer einzigen, alles einbeziehenden Paradoxie hin …« (ebd., 201). Wir sehen diese Paradoxie allerdings nicht in der ontologisch-axiologischen Differenz zwischen der Gleichwertigkeit und Gegensätzlichkeit der zwei Prinzipien, sondern im epistemologischen Widerspruch, dass das Vorgestellte, das stets wird und nie ist, zugleich das ist, was das Gedachte, das stets ist und nie wird, abbildet. Der »Timaios« wird von uns daher auch nicht als ein »nur hypothetischer Entwurf« aufgefasst, sondern als ein notwendig paradoxes Amalgam aus teils rationalen, teils ästhetischen Elementen. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
237
Das griechische »Projekt Autonomie«
Timaios selbst charakterisiert seine Rede anders. Zwar hat sie auch für ihn den Charakter des Wahrscheinlichen; aber er erklärt ihn nicht aus der Paradoxie, sondern teils aus der Abbildlichkeit der gewordenen Welt, teils aus den Grenzen der menschlichen Natur. Denn da die Weltordnung das Abbild von etwas sei, sich zum Abbild aber das Vorbild »wie zum Werden das Sein« verhält, so verhalte sich auch die Rede darüber »wie zum Glauben die Wahrheit« (29b). Und da ihm wie auch seinen Zuhörern eine menschliche Natur eigne, müsse man sich damit zufrieden geben, dass die Aussagen möglichst wahrscheinlich sind, und gezieme es sich, nichts über die Grenze dessen zu suchen (29b f.). Doch zumindest Timaios’ erste Erklärung des Wahrscheinlichen stimmt mit unserer Interpretation überein. Denn der Annahme, dass das sichtbare All sich zum stets Seienden wie das Abbild zum Vorbild verhält, und daher die Rede wahrscheinlich ist, liegt ja jene Gewissheit zugrunde, dass der Nous es ist, der alles auf das Beste ordnet. Fehlte diese Gewissheit, hätte seine Rede den Charakter der bloßen Meinung (doxa), nicht aber den des Wahrscheinlichen (eikw@). 240 – Allerdings ist die zweite Erklärung wenig überzeugend. Denn wenn der Wahrscheinlichkeitscharakter seiner Rede aus den Grenzen der menschlichen Natur erklärt wird, dann müssten auch die Aussagen über das Gute als Ursache des Alls und über das Schönste alles Gewordenen den Status des nur Wahrscheinlichen haben; denn es ist zweifellos Timaios, der sie trifft und den Zuhörern mitteilt. Was aber sollte es bedeuten, wenn das, was ihm klar (saye@) ist, nur wahrscheinlich ist? Der Wahrscheinlichkeitscharakter der Rede über das All kann daher seine Erklärung nicht in den Grenzen der menschlichen Natur finden, sondern in Timaios’ Gewissheit, dass die sinnliche Welt das Abbild der noetischen ist. Diese Gewissheit gründet jedoch nicht in der menschlichen Natur, sondern in der Seele des Philosophen, der darin – wie Sokrates (selbst)ironisch angemerkt hatte (Philebos 28c) – sich selbst verherrlicht, und in der »kleinen Gruppe von Menschen« (51e), von der Timaios sagt, sie sei dieser Einsicht teilhaftig. Wenn es also das Fazit des Proömiums ist, dass das Wahrscheinliche der anschließenden Rede über die Ordnung der Welt aus der Einsicht resultiert, dass die sinnliche Welt das Abbild der noetischen 240 Zur Unterscheidung des eikw@ logo@ von der doxa und dem orjo@ logo@ siehe: Santa Cruz 1997, 138.
238
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
ist, diese Einsicht aber in der Gewissheit gründet, dass der Nous es ist, der alles ordnet, dann scheint das Programm, dieses Gewisse auch in ein konsistentes Erfahrungswissen umzusetzen, nicht durchführbar zu sein. Denn eine solche Lehre von der Weltordnung kann nur das Amalgam aus logoi, logisch erfassbaren Sätzen, und aus mujoi, vorgestellten Bildern, sein, das als ein Ganzes jedoch weder logisch noch ästhetisch ist. Dieses Vermittlungslose zwischen dem LogischNoetischen und dem Sinnlich-Ästhetischen soll im Folgenden anhand der zwei Anfänge der Weltentstehung nachvollzogen werden, die Timaios darstellt: das »In-die-Ordnung-Bringen« des Ordnungslosen durch den Demiurgen sowie das Zusammenwirken von nou@ und anagkh aufgrund »besonnener Überredung«. b.
Der erste Anfang: die »Gewalt des Guten«
Timaios stellt die Entstehung des Weltganzen in zweifacher Weise dar. Dabei wird sich uns ergeben, dass es im ersten Fall die Gewalt ist, die der Demiurg um des »Schönsten alles Gewordenen« willen anwendet; dass es im zweiten Fall eine »geheime Überredung« des heteronomen Prinzips des Werdens, der anagkh, durch das autonome Prinzip des Seienden, den nou@, ist, die der Ordnung der Welt vorhergeht. Der erste Anfang stellt das gleichsam ›despotische Modell‹ der Herrschaft des Guten dar, der zweite das ›zivile Gegenmodell‹. a. Der Beschluss Timaios beginnt seine Darstellung der Weltentstehung mit dem Beschluss des Demiurgen: »Sagen wir also, nach welchem Grund der Zusammensetzer das Entstehende und dieses All zusammensetzte. Er war gut; dem Guten aber entsteht niemals Neid. Diesem fern, beschloss er, dass alles ihm selbst aufs Beste ähnlich werde.« (29d-e) Wer sich dieser Rede weiser Männer vom vorzüglichsten Anfang (kuriwtath arch) anschließt, fügt er hinzu, möchte das Rechte annehmen. – Vergleichen wir diesen Beginn mit dem der Vorrede, so unterscheidet Timaios hier nicht zuerst die zwei epistemischen Reiche des Seienden und des Werdenden – worauf als Drittes der Demiurg folgt –, sondern fängt nach der Rede weiser Männer mit dem so schwer aufzufindenden guten Demiurgen an. Das Erste ist hier: »Er war gut.« Nun folgt diesem Gutsein des Demiurgen jedoch nicht sogleich die Handlung des »Zusammensetzens«, sondern erst der BeA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
239
Das griechische »Projekt Autonomie«
schluss (boulh), alles möge ihm, dem Guten, möglichst ähnlich werden. Timaios, so schließen wir daraus, unterscheidet zwischen dem, was der Demiurg ist, und dem, was er will; und er sieht den Grund für die Entstehung dieses Alls nicht im Gut-Sein des Demiurgen, sondern in seinem Willen, das, was durch ihn entsteht, möge dem, was er selbst ist, möglichst ähnlich werden. Dem Gutsein selbst entströmt nur neidlos Gutes; die Entstehung der Welt aber folgt dem Beschluss, das All ihm selbst möglichst ähnlich zu machen. Dieser Anfang sei von jenen weisen Männern zu übernehmen. 241 Was aber ist der Inhalt des Beschlusses? Beschließt der Demiurg, das ihm selbst möglichst ähnliche All herzustellen, oder, dass das All ihm möglichst ähnlich werde? Im einen Fall wäre der Beschluss Grund und Ursache des Alls; im anderen Fall jedoch ginge die Existenz des Alls dem Beschluss vorher. Nun versteht Timaios den Beschluss des Demiurgen zweifellos im letzteren Sinne; er fährt fort: »Denn beschließend, dass alles gut und nach Vermögen nichts schlecht sei, und vorfindend, dass das sichtbare All in der Weise war, nicht Ruhe gebend, sondern ungehörig und ordnungslos bewegt, da brachte der Gott es in die Ordnung aus der Unordnung, annehmend, dass jenes durchaus besser als dieses sei.« (30a) Dieser Darstellung nach ist der Beschluss des Demiurgen zwar der Grund für die Ordnung der Welt; aber er setzt zweierlei voraus: zum einen das Vorfinden des Alls als »ungehörig und ordnungslos bewegt«, zum anderen die Überlegung, Ordnung sei besser als Unordnung. Diese zwei verschiedenen ›Einsichten‹ gehen dem Beschluss voraus; denn es wäre widersinnig anzunehmen, erst sei der Beschluss, alles möge möglichst gut sein, und dann folge die Erfahrung, dass alles in Unordnung sei, und die Überlegung, Ordnung sei besser als Unordnung. 242 241 Die neuplatonische Deutung, die Timaios’ Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Willen des Demiurgen aus Gründen der Darstellung (didaskalia@ carin) erklärt, der jedoch Platons eigentliche Auffassung vom ewigen Hervorgehens der Welt aus dem göttlichen Nous zugrundeliege (siehe: Halfwassen 2000, 57), stimmt zumindest darin mit Timaios’ Rede nicht überein, dass er den Beschluss als den »vorzüglichsten Anfang« ausgezeichnet, der dem entspreche, was »weise Männer« gesagt haben. Warum aber sollte Platon den Timaios den Anfang in dieser Weise auszeichnen lassen, wenn er es nicht ist? – Diese Debatte um den Anfang dürfte nachträglich entstanden sein, nachdem Platon von Aristoteles vorgehalten worden war, dass so etwas Schönes wie der Kosmos nicht entstanden sein könne, und Platon von Speusippos und Xenokrates mit dem Hinweis verteidigt wurde, dies sei nur der Darstellung geschuldet. 242 Aus dieser Differenz zieht Hegel den philologisch bedenklichen Schluss, man dürfe das Geschriebene nicht ernst nehmen: »Hiernach sieht es so aus, als habe Plato ange-
240
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Wenn Timaios vom Demiurgen jedoch sagt, dass er sowohl das sichtbare All als ordnungslos-bewegt vorfindet als auch einsieht, Ordnung sei besser als Unordnung, dann muss der Demiurg auch die zwei Vermögen besitzen, nämlich das eine vorzufinden und das andere einzusehen. Er hat das sinnliche Vermögen, das das All als ordnungslos bewegt wahrnimmt, sowie das Denkvermögen, das das Gut- bzw. Bessersein von Ordnung erfasst. Ohne die Annahme dieser beiden Vermögen lässt sich nicht erklären, wie Timaios sagen kann, dass der Demiurg das All ohne Ordnung vorfindet, das Entgegengesetzte aber, die Ordnung, gut findet. Das aber heißt, dass zwar der Anfang der Welt im Beschluss des ›guten Demiurgen‹ liegt, dass alles ihm möglichst ähnlich sei, dass ihm aber zwei ›Einsichten‹ vorausgehen, die Wahrnehmung des ordnungslos bewegten Alls und das Erfassen des Gutseins von Ordnung. Auf beide gründet sich der Beschluss, dass alles gut und möglichst nichts schlecht sei. b. Die Anfangshandlung Von der Handlung selbst, durch die der Demiurg seinen Beschluss, das All sich selbst möglichst ähnlich zu machen, verwirklicht, sagt Timaios nur, dass er das All aus dem Zustand der Unordnung in den der Ordnung bringt: »ei@ taxin auto hgagen ek th@ ataxia@« (30a). Das Resultat dieser ersten Handlung ist also der Zustand der Ordnung, der den Beschluss des Demiurgen dadurch verwirklicht, dass das All aus der Unordnung in die Ordnung umgewandelt ist. Wie aber ist dieses »In-die-Ordnung-Bringen« des schlechterdings Ordnungslosen überhaupt möglich? Da wir uns im Folgenden nur auf diese ›Ur-Tat‹ des Demiurgen konzentrieren wollen, soll auf drei Interpretationen näher eingegangen werden, die für die Möglichkeit der ordnungsbildenden Handlung eine Erklärung gegeben haben. 243 nommen, Gott sei nur der dhmiourgo@, der Ordner der Materie, und diese als ewig, selbstständig von ihm vorgefunden, als Chaos.« (Hegel 1969 ff., Bd. 19, 88). Doch das pan oraton paralabwn sei nur »ein mythischer Ausdruck« Platons; »es ist ihm nicht Ernst damit; dieses ist nur nach der Vorstellung gesprochen, solche Ausdrücke haben keinen philosophischen Gehalt.« (ebd.) Er schließt daraus: »Wir müssen uns an das Spekulative Plato’s halten.« (ebd.) 243 Ein Beispiel für die Interpretationsvielfalt gibt das Ringen Schellings um diese »Hauptstelle« zeit seines philosophischen Lebens, angefangen von seinem frühen Timaios-Aufsatz von 1794 bis zur späten »Philosophie der Mythologie und Offenbarung«. – Siehe dazu: H. Krings, Genesis und Materie – Zur Bedeutung der »Timaeus«-Handschrift für Schellings Naturphilosophie. In: Schelling 1994, 115–155; auch: Pechmann 1999, 127–141. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
241
Das griechische »Projekt Autonomie«
1. Ein Interpretationsmuster orientiert sich am Dualismus von Form und Materie und betrachtet das »ordnungslos Bewegte«, das der Demiurg in die Ordnung bringt, als ein eigenes, zweites Prinzip: die selbst ordnungslose Materie gegenüber der ordnenden Form. Diese Deutung kann sich auf den »Philebos« (16c) stützen, wo Sokrates es die »Gabe der Götter« nennt, dass alles, was ist, die Grenze und das Unbegrenzte in sich verbunden hat, als auch auf den »Timaios« (50d), wo von den zwei Ursachen die Rede ist, dem Nous und der Chora, die, wie Vater und Mutter, die beiden Ursachen alles Gewordenen sind. Unter der Voraussetzung dieser zwei Prinzipien lässt sich der Demiurg dann als der »Zusammensetzer« (o xunista@, 29d) verstehen und sein Handeln als Zusammenfügung der Weltordnung aus den immer seienden Formen, auf die er als Vorbild hinblickt, und aus dem ordnungslosen Stoff, den er vorfindet. Nach dieser Interpretation bildet der Demiurg also – wie in der Vorrede – eine eigene, dritte Realität; er stellt, wie ein Handwerker, im sinnlich Veränderlichen nach dem gegebenen Vorbild die Weltordnung her. »Um sein Ziel zu verwirklichen, betrachtet der Demiurg ein Modell, das die Gesamtheit der Ideen enthält, und gestaltet sein Material nach bestimmten Regeln.« »In der Handwerkermetapher steckt im Grunde der gesamte Timaios.« (Brisson, in: Kobusch 1996, 231) Das zweite Prinzip, die Materie oder Chora, lässt sich in diesem Schema in zweierlei Weise auffassen. Sie ist einmal der gleichsam passive Stoff oder das »reine Seinkönnen« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 391) 244 , dem zugleich die Bedürftigkeit und Fähigkeit innewohnt, die seienden Formen aufzunehmen 245 , so dass die Handlung des Demiurgen als die Verwirklichung des Möglichen, als Akt der Überführung des Nicht-Seienden in Seiendes verstanden wird 246 . Die Materie lässt sich aber auch als »das Prinzip des Widerstandes gegen die vernünftige Ordnung« (Brisson, in: Kobusch 1996, 231) deuten, als eine gleichsam natürliche, der Ordnung widerstrebende Kraft (conatus naturale), so dass die Herstellung der Ordnung im Ordnungslosen als ein Kampf des guten Prinzips gegen das widerstrebend schlechte oder böse erscheint. 247 Vgl. Halfwassen 1997, 193–209. siehe: G. Reale, Plato’s Doctrine of the Origin of the World. In: Calvo 1997, 149–164, 159. 246 ebd., 157. 247 Diese von Plutarch stammende Deutung der Materie als »böser Kraft« wurde in der neuzeitlichen Platon-Rezeption als Beleg für das ›Unchristliche‹ der Platonischen Lehre 244 245
242
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Das andere Interpretationsmuster, das sich am neuplatonischen Nous-Modell orientiert, geht demgegenüber nicht von drei ›Realitäten‹ aus, dem Seienden, dem Werdenden und dem Demiurgen, sondern von zwei Ursachen, dem weltschaffenden Nous einerseits und der Chora andererseits. Es rückt nicht die Handwerkermetapher ins Zentrum, sondern das »Gutsein« des Demiurgen. Wenn, so das Argument, der Demiurg im »Timaios« als »Gott« (30a) und als die »beste aller Ursachen« (o aristo@ twn aitiwn; 29a; auch 30a) bezeichnet wird, und wenn das Paradigma, das die Gesamtheit der Ideen enthält, als ein »vollkommenes Lebendes« (pantele@ zwon; 30c) beschrieben wird, dann legt dies den Schluss nahe, dass die Rede von den zwei verschiedenen Realitäten, der Ideenwelt als causa exemplaris und dem Demiurgen als causa efficiens, nur von didaktischem Wert ist (didaskalia@ carin); dass im eigentlichen platonischen Sinn jedoch die Ideenwelt und das Demiurgische dasselbe noetische Prinzip sind. »Als der alle Ideen in sich selbst umfassende Nus ist die Idee der Einheit das Ideenganze, das autozwon, das als Demiurg den Kosmos und die Seele neidlos aus sich hervorbringt.« (Halfwassen 2000, 61) Beide Interpretationsmuster, das am aristotelischen Form-Materie-Dualismus wie das am neuplatonischen Nous-Modell orientierte, lassen sich im Kontext der platonischen Lehre – der geschriebenen wie ungeschriebenen – zweifellos rechtfertigen und belegen. Beziehen wir uns allerdings auf den Text, dann erscheint es als wenig einleuchtend, dass hier, wo es um die Darstellung des ersten Weltanfangs geht, von zwei Ursachen die Rede ist. Timaios spricht weder vom »Unbegrenzten«, das der Begrenzung bedarf, noch von der »Chora« als Ursache des Werdens. Er nennt vielmehr ausdrücklich nur ein Prinzip, den »guten Demiurgen« ; dieser sei als der vorzüglichste Anfang zu nehmen. Vom All hingegen sagt Timaios nur, dass der Demiurg es als ungehörig und ungeordnet bewegt vorfindet, ohne ihm die Disposition zur Ordnung oder ein eigenes Werdeprinzip unterzulegen. Beide Interpretationen entfernen sich vom Text, genommen. Platons Theologie, so J. Brucker in seiner einflussreichen »Historia critica Philosophiae« (1742–1744), »stehe unter dem Schatten eines Unrechts gegen Gott: etsi splendide de Deo disserat Plato, magnam tamen ex semel admissa de duplici principio hypothesi fecisse divinae perfectioni injuriam. Als Beleg dafür wird sofort jene refractaria naturae vis aufgeführt, die der Schöpfergott wie einen rebellischen Genius habe unterdrücken müssen, und das auch noch nur ›nach Kräften‹, soweit es in seinen Kräften stand.« (Franz 1996, 68) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
243
Das griechische »Projekt Autonomie«
indem sie zur Erklärung der Anfangshandlung auf Grundsätze in anderen Zusammenhängen verweisen. Anders jedoch als im »Philebos«, wo die Grenze und das Unbegrenzte als die zwei Gattungen des Seienden genannt werden, wird im »Timaios« zwischen dem stets Seienden und dem immer Werdenden unterschieden; und die Chora als das Prinzip des Werdens wird erst dann genannt, wo es um die Darlegung des zweiten Weltanfangs (48e ff.) geht 248 . 2. Die Differenz, die Timaios beschreibt, ist offenbar keine ontologische. Denn er setzt der ›Ur-Tat‹ des Demiurgen nicht den Unterschied zweier Gattungen oder Prinzipien voraus, sondern das Prinzip des stets Seienden, das nur durch das Denken zu erfassen ist, dem Prinzip-losen, das, ordnungslos bewegt, niemals ist und immer wird, und das nur mit den Sinnen wahrgenommen wird. Während daher das stets Seiende, auf das der Demiurg hinblickt, eine logisch-noetische Struktur besitzt, hat das ungeordnet bewegte All, das er vorfindet, eine sinnlich-ästhetische Struktur und ist daher »an sich nur der ›sinnlichen‹ Erfahrung des Sehens zugänglich.« (Gadamer 2001, 41) Von diesem Eigentümlichen des ersten Anfangs aber entfernen sich die onto-logischen Interpretationen, wenn sie vom Seienden und Werdenden als zwei Prinzipien oder Ursachen ausgehen. Angemessener erscheint uns daher die Interpretation, die die Ausgangslage als epistemo-logische Differenz beschreibt, und die Handlung des Demiurgen, das In-die-Ordnung-Bringen des Ordnungslosen, als Umwandlung des sinnlich wahrgenommenen Alls in das noetisch erfassbare Abbild des Seienden versteht. Hier steht der »Demiurg des Timaios … für nichts weiter als für die Überführung eines Zustandes ungeordneter Bewegtheit in einen Zustand der Ordnung.« (Gadamer 2001, 42) 249 Diese Interpretation setzt nicht voraus, dass das sinnliche All ›an sich‹ schon die Disposition hat, die noetische Ordnung aufzunehmen; oder ihm die ›Kraft‹ zum Widerstand innewohnt, sondern dass es schlicht so ordnungslos bewegt ist, wie Timaios es beschreibt. 248 Vgl. C. Baeumker: »Da die ›Aufnehmerin‹ dieses Abschnittes als unsichtbar (51A, 52A-B) und stets gleich (50B) beschrieben wird, so kann sie mit der als sichtbar und bewegt geschilderten Masse, welche der Weltordner beim Beginn seiner Tätigkeit übernahm (30A) nicht ohne weiteres zusammenfallen« (Baeumker, 1890, 136). 249 »Bewegung hat aber für Plato als bloßes fortgehendes Durcheinander überhaupt keine ›Ursache‹, am allerwenigsten die des Lebendigen, der Seele, die auf keinen Fall eine wild durcheinandergehende Bewegung verursacht: Kreislauf, Rhythmik, Ordnung!« (Gadamer 2001, 80, Fn. 5.)
244
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Unter dieser Voraussetzung lässt sich nun die Anfangshandlung in Bezug auf den Demiurgen als die Verwirklichung des Guten deuten, durch die er seinen Beschluss, dass alles möglichst gut werde, in die Tat umsetzt und das All aus der Unordnung in die Ordnung bringt. Durch diese Handlung wird das Gute tatsächlich zur Ursache alles Gewordenen, da es um des Guten willen geworden ist. Sie löst das Programm der »zweiten Fahrt« des Sokrates ein, in allem nach derjenigen Ordnung zu suchen, die den Nous als Urheber hat. Und der Demiurg als der »gute Weltordner« ist das autonome Subjekt, weil das Gesetz, nach dem er handelt – sei es aufgrund seiner guten Natur oder kraft eigenen Beschlusses –, sein Gesetz ist, und weil durch ihn als der ordnenden Kraft in allem Gewordenen das Prinzip der Autonomie herrscht. In Bezug auf das sichtbare All jedoch lässt sich die »Ur-Tat« des Demiurgen nicht als die Verwirklichung des an sich Möglichen im bloß passiven Stoff deuten, sondern muss als gewaltsame Umwandlung des sinnlich wahrgenommenen Ordnungslosen in die noetisch erfassbare Ordnung verstanden werden. Denn da das All, wie Timaios es beschreibt, so ordnungslos bewegt ist, wie die Sinne es eben erfassen, kommt die Ordnung, die der Demiurg bewirkt, schlicht von außen; und der Zustand der Unordnung kann daher nur durch Gewalt (bia) beendet werden. Was also in Bezug auf den Demiurgen teleologisch die Verwirklichung des Guten ist, ist in Bezug auf das sichtbare All gleichsam ›kata-strophisch‹ die gänzliche Umwandlung des Zustands sinnlicher Ordnungslosigkeit in den Zustand noetischer Ordnung. Beides gehört untrennbar zusammen; denn der Demiurg kann nicht, indem er dem Vernunftlosen Seele und Vernunft gibt, das seiner Natur nach schönste und beste Werk vollenden, ohne zugleich mit der durch die Sinne erfassten Ordnungs- und Vernunftlosigkeit Schluss zu machen. Er verwirklicht das Noetische, aber beendet das Ästhetische. Nach dieser dritten, epistemologischen Interpretation der Anfangshandlung ist die Frage, wie das »In-die-Ordnung-Bringen« des schlechterdings Ordnungslosen überhaupt möglich ist, so zu beantworten: durch Gewalt. Sie hebt nicht einseitig die Verwirklichung des Noetischen hervor, sondern bringt die Kehrseite, den Zwangscharakter, in den Blick, wie er nach Platon allem Handwerk eignet. So lässt er im »Gorgias« (503e–504a) Sokrates sagen: »Wie wenn du die Maler ansehen willst, die Baumeister, die Schiffbauer, alle anderen Handwerker, welche du willst, so setzt jeder jedes, was er hinzusetzt, A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
245
Das griechische »Projekt Autonomie«
in eine bestimmte Ordnung und zwingt (prosanagazei) jedes, sich zu dem andern zu fügen und ihm angemessen zu sein, bis er das ganze Werk geordnet und schön gestaltet zusammengefügt hat.« Hier beschreiben die zwei Begriffe der Gestaltung und des Zwangs die Handlung des Handwerkers, wie sie auch für den Weltordner zutreffen. 250 Zwar gebraucht Timaios für die anfängliche Umwandlung des ordnungslos Bewegten in die Ordnung nicht diesen Begriff; er hebt ihn dann aber bei der Schaffung der Seele hervor, durch die der Demiurg die Natur des Verschiedenen mit der des Selben »mit Gewalt« (bia; 35a) vereint. Für Platon jedenfalls ist die Gewalt offenbar Element jeder demiurgischen Tätigkeit, da nur durch sie das Heteronome, das von Natur Verschiedene, mit dem Autonomen, dem von Natur Selben, verbunden wird. 251 250 Zur demiurgischen Handlung: »Die Herstellung einer analogen bzw. mimetischen Ordnung im Bereich des Sinnlich-Veränderlichen muss immer einen Widerstand brechen: die platonische ausgedehnte Masse ist im Unterschied zur aristotelischen Hyle auf regellose Weise selbstbewegt. Daher besteht der Akt der Formung des Stoffes nicht in der Auswahl der Materie, die eine bestimmte Form oder Funktion bereits als Möglichkeit in sich enthält – so das Modell des Aristoteles –, sondern in einem Urakt, der Widerstände brechen muss, das heisst der den Stoff erst zu einer aristotelischen Materie verwandeln, ihn gefügig machen muss, damit er die Möglichkeit der Form zur Wirklichkeit werden lassen kann.« (Neschke-Hentschke 2000, XXVI) 251 Wo auf diese ›Gewalt des Guten‹ eingegangen wird, wird sie zumeist legitimiert. So etwa hebt Hegel das Gewaltverhältnis im »Timaios« ausdrücklich hervor, deutet es aber zugleich so, dass es als legitim erscheint: »Dies ist allerdings die Gewalt des Begriffs, der das Viele, Außereinander, idealisiert und als Ideelles setzt.« (Hegel 1969 ff., 95) Hegel erkennt darin die Gewalt der einigenden Vernunft gegen den trennenden Verstand. Während dieser nach dem Satz vom Widerspruch auf dem Unterschied zwischen Denken und Sinnlichkeit insistiere, gehe die Vernunft auf die Einheit und verbinde unter Verletzung des Widerspruchsprinzips das Getrennte zur spekulativ-dialektischen Einheit der Unterschiedenen. Hegel kann daher im »Timaios« die Grundfigur seiner eigenen Lehre entdecken (vgl. dazu: Halfwassen 1997, 193–209). Eine solche Legitimation der Gewalt ist allerdings tautologisch; denn die Gewalt, die die Vernunft ausübt, erscheint aus dem Grunde legitim, weil die Vernunft sie ausübt. Ihre Illegimität ist daher nur jenseits der tautologischen Vernunft denkbar. Kritische Untersuchungen zur »Gewalt des Begriffs« sind, soweit ich sehe, entweder zu unspezifisch oder zu speziell. Th. W. Adornos und M. Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« oder Th. W. Adornos »Negative Dialektik« haben zwar diese Gewalt zum Zentrum; sie thematisieren jedoch all zu viel: Mythos und Logos, Ontologie und Kosmologie, Transzendental- und Identitätsphilosophie, Logik und Mathematik. M. Foucaults Analyse der Gewalt in Diskursen, die er in »Die Ordnung der Dinge« (Frankfurt/Main 1971) und »Die Archäologie des Wissens« (Frankfurt/Main 1973) dargelegt hat, bietet zweifellos einen fruchtbaren Ansatz; sie ist jedoch vor allem an Institutionen und nicht an Epistemologien ausgerichtet. Zudem ist das Feld seiner Kritik die Neuzeit. Andere
246
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
g. Die Unterwerfung der Sinnlichkeit unter das Denken 1. Für die epistemischen Vermögen des Denkens und der Sinne bringt die »Ur-Tat« des Demiurgen, die Umwandlung des ordnungslosen Alls in das Abbild der noetischen Ordnung, auf der einen Seite die Ermächtigung des Denkens zu dem Organ, das jetzt nicht allein die Ordnung des stets Seienden erfasst, sondern auch im sinnlich Wahrgenommenen die noetische Ordnung erkennt, die der Demiurg dem Vernunftlosen aufzwingt. Hier verweist die Gewalt »auf die überlegene Macht des das Viele einigenden Einheitsprinzips« (Halfwassen 1997, 203). Für die Sinnlichkeit jedoch bedeutet diese Umwandlung ihre Unterwerfung unter das Denken und den Verlust ihrer Eigenständigkeit. Denn nach der Ordnung stiftenden Handlung des Demiurgen sind die Sinne nicht mehr die Vermögen, durch die dieses All (to pan tode) überhaupt erfasst wird und eine Untersuchung darüber stattfinden kann. Seh-, Hör- und Tastsinn verlieren – als Quellen der Heteronomie – diese epistemische Qualität; sie sind zu disziplinierten und unselbständigen Vermögen ›umfunktioniert‹, deren Rolle es jetzt ist, im Wahrgenommenen zugleich die noetische Ordnung abzubilden. Indem also das sinnlich wahrgenommene All zum Material umgewandelt wird, in dem der Demiurg nun mehr weltbildend seine Ordnung verwirklicht, wird die Sinnlichkeit als aktives zum passiven Vermögen, in das der Demiurg die noetische, nach Zahl und Maß bestimmte, Ordnung ein-bildet, und das diese Ordnung, unvollkommen und wahr-scheinlich, ab-bildet und nachahmt. 252 Im Sinne dieser Unterordnung unter das Denkvermögen schreibt Timaios im Weiteren (47a–e) denn auch der Sehkraft und dem Hören vor, dass es ihre Aufgabe nicht sei, sich am sinnlich Wahrnehmbaren zu erfreuen, sondern in ihm das Verständige, die mathematisch-geometrische Ordnung, wiederzufinden. Untersuchungen wie H. Arendts »Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart« (Frankfurt 1957), P. Kondylis’ »Der Philosoph und die Macht« (Hamburg 1992) oder A. Müllers »Theorie, Kritik oder Bildung« (Darmstadt 1975) diskutieren die Gewaltfrage kritisch nur anhand des Themas »Platon als Politiker«. So weit ich sehe, fehlen Arbeiten, die das Element der Gewalt in Platons Epistemologie weder referieren noch legitimieren, sondern das Aporetische offenlegen. 252 So auch H.-G. Gadamer: »Auf die Abbildstruktur also gründet sich die Möglichkeit, von dieser Werdewelt wirklich etwas zu wissen. Freilich kann dieses Wissen vom Werdenden nur im Sinne wahrscheinlicher Annahmen gelten (29c 8), die den Charakter der Glaubhaftigkeit haben.« (Gadamer 2001, 41) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
247
Das griechische »Projekt Autonomie«
2. Vergleichen wir diese Darstellung des ersten Weltanfangs abschließend mit dem alternativen Erfahrungsmodell, das Leukipp und Demokrit formuliert haben, so ist hier nicht der Raum das Dritte, das die Vereinigung der zwei epistemischen Reiche des stets Seienden und des immer Werdenden ermöglicht; und es ist nicht das »dritte Reich« der im Leeren bewegten Vollen, aus denen alles sinnlich Wahrnehmbare besteht. Im »Timaios« stellt Platon diese Vereinigung als das Verhältnis der gedachten »guten Ordnung« zum sinnlich Wahrnehmbaren als deren Abbild dar, das durch die Handlung des Weltordners geschaffen wird. Diese Vereinigung der beiden Reiche zu einem Erfahrungswissen gründet nicht in der räumlichen Anschauung, worin der epistemische Gegensatz zwischen dem Gedachten und dem sinnlich Erfahrenen, wie wir gesagt haben (174), »verschwunden« ist, sondern geschieht in der paradoxen Handlung einer »guten Gewalt«, die der ordnungslosen Welt des Sinnlichen die Ordnung und Gesetze einschreibt, durch die sie die gedachte Ordnung abbildet. War für Leukipp und Demokrit die »wahre Welt« eine Welt: das ›gesetzmäßige Spiel‹ der im Leeren ewig bewegten Atome, aus dem alles entsteht und vergeht, besteht sie für Platon aus zwei Gattungen (duo eidh; 48e): der noetischen Weltordnung als dem immer seienden Vorbild (paradeigma) und der ästhetischen Ordnung als dem werdenden Nachbild des Vorbilds (mimhma paradeigmato@). Diese Art der Logifizierung der sinnlichen Welt, die Platon im ersten Weltanfang beschreibt, hat freilich das Widersprechende, dass die Herstellung der schönen Ordnung als Abbild der guten zugleich auf der Gewalt des Demiurgen beruht, die die Sinne entmachtet, dass also, pathetisch ausgedrückt, das Reich des Nou@ zugleich auf der Schädelstätte der Aisjhsi@ errichtet ist. c.
Der zweite Anfang: die »besonnene Überredung«
Timaios nennt einen zweiten Anfang. Danach sei die Ordnung des Alls nicht, wie bisher angenommen, das Werk des »guten Demiurgen«, der das sichtbare All zum Abbild der noetischen Ordnung macht, sondern entstehe durch das Zusammenwirken zweier Ursachen: »Gemischt nämlich ist diese Ordnung entstanden, aus dem Zusammentreten der anagkh und des nou@« (48a). Dieses Zusammentreten der beiden aber gründe auf dem Sich-Fügen der anagkh »durch die besonnene Überredung« (upo peijou@ emyrono@; 48a) 248
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
des nou@. Mit diesem Anfang beginnt Timaios einen neuen Diskurs, der nicht mehr das Handeln des Demiurgen zum Thema hat, sondern das Wirken des zweiten Prinzips, das auf jene Überredung gegründet ist. 253 Insofern ist erst jetzt von zwei Prinzipien die Rede, durch die das All entstanden ist, während wir, wie Timaios sagt (48e), vorher glaubten, auch ohne ein weiteres auszukommen 254 . Die Notwendigkeit zu diesem Neuanfang sieht Timaios in dem Einwand begründet, ob vom Bisherigen überhaupt mit Recht gesagt werden könne, dass der »Leib des Alls« (31b) aus den vom Demiurgen nach Zahl und Maß geschaffenen vier unterschiedlichen und unveränderlichen Arten, Feuer und Erde, Luft und Wasser, besteht. Denn die Erfahrung zeigt diese Arten niemals als unveränderliche Elemente, sondern immer im Wandel, die bald so, bald anders werden. Wasser verdichtet zu Erde, Erde verdünnt zu Luft, diese entzündet zu Feuer, Feuer verlöscht zu Luft. Wir bemerken so, dass die Arten in diesem Kreis das Entstehen an einander übergeben (49c). Folglich wird der »Leib des Alls« nicht als ein unveränderliches, nach Zahl und Maß geordnetes Ganzes erfasst, da die Erfahrung ihn vielmehr als veränderlich zeigt. Die vier Arten seien daher niemals seiend, kein »dieses« (tode), sondern immer nur ein »solches« (toiouton). Deshalb könne niemand ohne Scham mit Sicherheit behaupten, dass irgendetwas ein identisch dieses ist und nichts anderes (49d); ja, es bestehe die Gefahr, dass das bisher Gesagte nur leere Worte waren, die »überhaupt nichts« (oudamh oudamw@; 51c) bezeichnen. Da nun aber der Kreislauf der vier Arten ineinander nicht den Demiurgen als Ursache haben kann, der sie am Vorbild des stets Seienden als unveränderlich »diese« herstellt, müsse eine zweite Ursache angenommen werden, die die vier Arten in ihrem Wandel aufnimmt, und aus der sie heraustreten. Diese arch des Entstehens und Vergehens der Arten aber sei eine höchst »schwierige und dunkle Gattung« (calepon kai amudron eido@; 49a), da sie weder durch das Denken, das nur Seiendes erkennt, noch durch die Sinne, die 253 Diesen zweiten Diskurs unterscheidet H. G. Zekl vom ersten dadurch, dass das ›Zusammentreten‹ von nou@ und anagkh »nach dem dialogischen Vorbild zwischenmenschlichen Verkehrs« geschehe, während in der ersten Rede »das, was sich da nicht fügen wollte, auch ›mit Gewalt‹ angefasst wird.« (Zekl 1992, 208) 254 Wir deuten dies als Bestätigung unserer Interpretation, den ersten Anfang als Differenz von Prinzip und Nicht-Prinzip zu verstehen, da sich Timaios erst jetzt veranlasst sieht, ein zweites Prinzip anzunehmen.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
249
Das griechische »Projekt Autonomie«
nur Werdendes wahrnehmen, zu erfassen ist. Von dieser dunklen Gattung nehmen wir an, dass sie die Ursache der Weltentstehung ist, die Timaios als »anagkh« bezeichnet. Da dieses Prinzip, das Sokrates veranlasst hatte, seine »erste Fahrt« abzubrechen (Phaidon 99a ff.), Ähnlichkeit mit Leukipps und Demokrits anagkh hat, sich Timaios’ Darstellung von ihr jedoch in gewisser Hinsicht grundlegend unterscheidet, werden wir zunächst beide Konzeptionen vergleichen, um dann der Frage nach der Art des Zusammenwirkens der anagkh und des nou@ nachzugehen. a. Die anagkh als vernunftlos wirkende Ursache Betrachtet man Timaios’ Darstellung dieser zweiten Ursache sowohl hinsichtlich dessen, was sie ist, als auch hinsichtlich ihrer Wirkung, so fällt auf, dass sie in zwei wesentlichen Aspekten mit Demokrit übereinstimmt: zum einen ist es die Bestimmung dieser »dunklen Gattung« als Raum oder Chora, zum anderen die Beschreibung ihres ›Wirkmechanismus‹ als eines »Schüttelns«. Unberücksichtigt bleibt jedoch die Lehre von den unteilbar Seienden als Atomen und folglich auch die vom Leeren, so dass die anagkh, trotz der Ähnlichkeit, im »Timaios« eine andere Rolle einnimmt als in der Atomlehre. Hinsichtlich der Bestimmbarkeit dieser Ursache des Gewordenen nimmt Timaios an, dass sie weder ist noch wird, weder durch das Denken noch durch die Sinne zu erfassen ist, sondern ein gleichsam unfassbares Unwesen sei: unsichtbar und ohne Gestalt und doch alles aufnehmend (anoraton eido@ ti kai amoryon, pandece@; 51a). Ihre Existenz könne daher nur scheinhafter Weise erschlossen 255 und in ihrer amorphen Allgestaltigkeit geschaut werden (pantodaphn men idein; 52e). Sie sei wie ein Gefäß (upodoch), das die vier Arten in ihrem Kreislauf ineinander aufnimmt und ihrem Entstehen doch einen Ort gewährt. – In dieser Hinsicht gleicht die »Chora« genannte Ursache dem, was wir in Leukipps und Demokrits Epistemologie als das »reine Anderssein« rekonstruiert haben, das weder ist noch nicht ist, das jedoch den »Boden« abgibt, auf dem das unteilbar »Volle« und das nicht-seiend »Leere« überhaupt zusammen bestehen. Was wir dort jedoch als unausgesprochene Voraussetzung der Atomistik angenommen haben, unternimmt Timaios hier, als ein
255 Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen über den »illegitimen Logismus«: Natorp 1994, 371 ff.
250
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
solch scheinhaftes Drittes zu umschreiben, das angenommen werden muss, ohne doch gedacht oder gesehen werden zu können. Weiterhin übernimmt Timaios von Demokrit die Theorie, nach der die im Raum anfangs entstehende Ordnung nach Art des Siebens geschieht: »gleichwie, wenn man Getreide in Sieben und vermittelst der übrigen zur Reinigung desselben dienenden Werkzeuge durchschüttelt und ausworfelt, alles was fest und schwer, und wiederum alles was locker und leicht ist, an verschiedenen Stellen zu liegen kommt.« (52e–53a) 256 Auf diese Weise sei das Ungleichartige geschüttelt worden und habe das Ungleichste sich am weitesten voneinander getrennt und das Gleichste am meisten zu demselben zusammengedrängt. Allerdings unterscheidet sich Timaios’ Beschreibung des Anfangszustands grundsätzlich von der Demokrits. Denn sie setzt keine unendliche Vielzahl von verschiedenartigen unteilbar Seienden voraus, die im Leeren ordnungslos bewegt sind, sondern nimmt einen Zustand der völligen Indifferenz an, eine Art amorphes ›Plasma‹ (ekmageion), in dem alles nur ›schwebt‹ : »da der Raum weder mit gleichen Kräften noch mit gleich starken erfüllt ist, befindet sich in ihm nichts im Gleichgewicht, sondern ist alles überall ungleichmäßig schwebend« (52e). Dieser Zustand scheint weit eher dem des Anaxagoras zu gleichen, wo anfangs »alle Dinge ungetrennt zusammen waren« (Fr. 1), bevor der Nou@ sie schied. Von der Bewegung nun, die ursprünglich die Trennung der Arten bewirkte, nimmt Timaios an, dass sie auf die Weise des Seismos, der Selbsterschütterung, geschah. Denn da nichts im Gleichgewicht war, wurde der Raum – Timaios nennt ihn hier die »Amme des Werdens« (tijhnh genesew@) – durch jene ungleichen Kräfte geschüttelt und schüttelte, einmal in Bewegung gesetzt, umgekehrt jene, so wie ein Gerät die Stöße weitergibt (52e). Nicht von außen bewegt, sondern durch sich selbst 257 trat so aus dem Zustand der Indifferenz die Siehe: Demokrit, Fr. 164; vgl. dazu: Nikolaou 1998, 197. Setzt man voraus, dass Bewegtes eines Bewegenden bedarf, dann kann die Bewegungsursache nicht die »Amme des Werdens« selbst, sondern muss ein ›erster Beweger‹ von außen sein. In diesem Sinne schreibt L. Robin: »Die ideelle Form ist folglich die Bewegerin im Hinblick auf das, was ohne jede Form ist, den Raum; die völlig unbestimmte und formlose Beweglichkeit des Raumes wird dadurch, dass sie die Form der Idee erhält, festgelegte, aber noch nicht organisierte Bewegung. Die Welt oder die Organisation wird das spätere Werk des Demiurgen sein.« (In: Wippern 1972, 272). Dieses Verständnis entspricht jedoch nicht dem Text. Denn hier wird der Anfang der Bewegung 256 257
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
251
Das griechische »Projekt Autonomie«
Trennung der Verschiedenartigen hervor. Durch den Mechanismus des Seismos kam, wie beim Sieben, Festes und Schweres, Lockeres und Leichtes an verschiedenen Stellen zu liegen, und nahm jede der vier Arten schon einen Ort ein, bevor dann der Demiurg aus ihnen das All ordnete (53a) 258 , indem er es durch Arten und Zahlen gestaltete und auf das möglichst schönste und beste zusammenfügte (53b). Diese Darstellung des zweiten Weltanfangs stimmt offenbar mit der von Demokrit nur darin überein, dass der Mechanismus der Entstehung derselbe ist, nach dem Gleiches zu Gleichem kommt und Ungleiches von Ungleichem sich trennt 259 . Aber die ›Kraft‹, die diese Art von Ordnung bewirkt – auch wenn beide sie mit demselben Wort »anagkh«bezeichnen – ist ganz verschieden. Für Demokrit ist sie die Notwendigkeit, durch die das Gesetz des Logos über das Reich der ewig bewegten Atome herrscht; für Timaios hingegen ist sie die »dunkle Gattung«, die durch sich selbst und ganz ohne Vernunft (aneu dianoih@) wirkt, indem sie die räumliche Trennung der Verschiedenartigen hervorbringt, die dann der Demiurg zum nach Arten und Zahlen geordneten Ganzen formt. Während die anagkh also bei Demokrit eine äußere Macht ist, die die Bewegung der verschiedenartigen Atome ›steuert‹, ist sie im »Timaios« ein Prinzip, das das Verschiedenartige ohne Verstand und Maß (alogw@ kai ametrw@; 53a) aus sich gebiert. 260
als ein ›interner‹, spontaner und wechselseitiger Vorgang ohne äußere Ursache beschrieben, der die Trennung der vier Arten zum Resultat hat. Dieser Kosmogonie liegt unseres Erachtens dieselbe Problemstellung wie die des Leukipp und Demokrit zugrunde: Wie ist erfahrbare Ordnung erklärbar ohne Einwirkung ›von außen‹ ? 258 J. N. Findlay betont zwar zu Recht, dass »der Raum seinen Inhalt selbst erschüttert haben und von ihm erschüttert worden sein (soll)« (Findlay 1994, 143; H. v. m.); wenn er das Resultat dann aber als das »Chaos« fasst, dem »Gott … ein Ende gesetzt und alles nach den Vorbildern der Ideen und Zahlen eingerichtet habe« (ebd.), so verfehlt er die Pointe. Denn die durch den Seismos bewirkte Trennung der vier Arten ist nicht Chaos, sondern Ordnung. 259 »Bei Demokrit ist die Rede von Atomen, die einen Wirbel bilden, wenn sie sich aus dem Leeren absondern (diakrinesjai) und sich sammeln. Durch den Wirbel bewegt sich Gleiches zu Gleichem. Bei Platon handelt es sich um ein Schütteln, weil es kein Leeres gibt und somit keine Atome aus dem Leeren zusammenströmen. Das Resultat ist das gleiche: Was sich bewegt und von einander gesondert ist, wird dahin und dorthin getragen (Tim. 52E5–6).« (Nikolaou 1998, 198) 260 Dieses Prinzip entspricht wohl der Ursache, die im »Sophistes« die »von selbst und ohne Verstand wirkende« (265c) genannt wird und sich von der unterscheidet, die »von Gott mit Vernunft und göttlichem Wissen« (ebd.) kommt. Sie hatte Sokrates veranlasst,
252
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
b. Das Zusammenwirken der zwei Ursachen 1. Wenn wir nach dieser vergleichenden Charakterisierung der anagkh als zweiter Weltursache nach der Rolle fragen, die sie im Rahmen der Epistemologie Platons einnimmt, so kommt ihr offensichtlich die Funktion zu, zwischen der durchs Denken zu erfassenden Ordnung des stets Seienden und der durch die Sinne wahrgenommenen Ordnungslosigkeit des Alls »zu vermitteln« (Natorp 1994, 372). Fehlt, wie im ersten Anfang, eine solche Instanz, dann ist die das Seiende abbildende Ordnung auf die vermittlungslose Tat des Demiurgen gegründet, und kann die vorgefundene Ordnungslosigkeit nicht anders als mit Gewalt beendet werden. Da sich nun aber die Sinnlichkeit, wie Timaios selbstkritisch bemerkt, dieser Unterwerfung unter das Denken ›entzieht‹, weil durch die Sinne doch niemals ein »dieses« (tode), sondern immer nur ein »solches« (toiouton) vorgestellt wird, übernimmt die anagkh als zweites Prinzip die Gewähr, dass durch ihr Wirken eine Art der sichtbaren Ordnung hervorgeht, die vom Demiurgen dann nach Arten und Zahlen gestaltet wird. 261 Damit wird die anagkh einerseits als eine eigenständige Ursache eingeführt, die als die dunkle, nur scheinhafter Weise erschlossene Gattung bloß durch sich selbst und ohne Einwirkung des nou@ wirkt; die andererseits jedoch im Werdenden bereits »gewisse Spuren« (icnh atta) der vier Arten als die Bedingungen hervorbringt, unter denen das All dann als das sichtbare Abbild des Noetischen gestaltet wird. Insofern entsteht die Ordnung des Alls in der
seine »erste Fahrt« abzubrechen, weil sie, statt zum Mittel, zur einzigen Ursache gemacht wurde (Phaidon 99a ff.). Platons Kritik richtet sich unseres Erachtens nicht dagegen, dass dieses Prinzip keine Ordnung bewirke, sondern es ohne Vernunft hervorbringt. Deutet man die anagkh als ›Chaos-Produzentin‹, deren Wirkung die »wirre Verschiedenheit und reine Beweglichkeit« (Robin, in: Wippern 1972, 271) sei, so bleibt unverständlich, wie durch ihr Zusammentreten mit dem nou@ die Welt-Ordnung entstanden sein sollte. – Uns scheint jedoch auch die Reduktion dieses Prinzips auf die Kategorie des »Grundes« oder des »Substrats« zu kurz zu greifen, wie sie Th. Buchheim vorgenommen hat (Buchheim 1987, 31). Im »Timaios« wird sie zwar »die Mutter und Aufnehmerin des sichtbaren und durchaus wahrnehmbaren Gewordenen« (51a) genannt; aber so wenig wie das »MutterSein« es ausschließt, zu gebären, oder das »Amme-Sein«, zu ernähren, so wenig schließen die Aussagen über diese Gattung es aus, dass sie nicht nur als Grund und Substrat des Gewordenen gilt, sondern auch als die – wenngleich vernunftlose – Urheberin seiner Ordnung. 261 Vgl. dazu: Gadamer 2001, 63. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
253
Das griechische »Projekt Autonomie«
Tat aus dem Zusammenwirken der zwei Ursachen, der alogischen anagkh und des unsinnlichen nou@ 262 . Wie aber ist ein solches Zusammenwirken dieser zwei prinzipiell verschiedenen Ursachen möglich? Denn auf der einen Seite ist die eine Ursache – unreduzierbar – nicht die andere: der nou@ ist die helle und durchsichtige Ursache, die nach dem Vorbild des stets Seienden die unveränderliche Ordnung erzeugt, die anagkh hingegen die dunkle und schwierige Gattung, die im Ungestalten – vernunftund maßlos – ein Auseinander von Verschiedenen hervorbringt. Auf der anderen Seite jedoch ergänzen sich beide: die anagkh bringt den sinnlich erfahrbaren Inhalt hervor, der den Erzeugnissen des nou@ fehlt, und der nou@ schafft die bleibende Formen, die den Geburten der anagkh fehlen. Das yusei on und das tecnh on ergänzen einander und bewirken so ein bleibendes Erfahrungswissen. Wie aber ist diese Ergänzung möglich, wenn beide in epistemischer Hinsicht doch zwei ganz verschieden wirkende Ursachen sind? 2. Diese Ergänzung hat offenbar einen gemeinsamen Inhalt: die Vierzahl. Sie bildet in Timaios’ Darstellung die Klammer und das Medium, wodurch die noetische mit der erfahrbaren Ordnung verbunden ist. Denn diese Zahl bestimmt zum einen die Anzahl der Arten: Feuer, Luft, Wasser und Erde, die von der anagkh im Seismos hervorbracht werden (53a) 263 ; sie ist zum anderen die »ideale Zahl«, nach der das Seiende als das Gute erkannt wird und der Demiurg den »Leib des Alls« schafft 264 . Die zwei verschiedenen Vermögen, die gebärende anagkh und der erzeugende nou@, bringen hervor bzw. 262 Insofern haben die nicht recht, die, wie Kant, Platon vorhalten, er habe die Sinnenwelt verlassen, »weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes.« (KrV B 9). Zumindest hier hat Platon mit der anagkh dem reinen Verstand den ›Widerhalt‹ in der Sinnenwelt gegeben. 263 Dieser, in unserem Kontext wesentliche, Gesichtspunkt der Vierzahl fehlt in der Analyse des »neuen Anfangs«, die Th. Buchheim vorgelegt hat. Er interpretiert diesen Anfang nicht als Einführung einer zweiten kosmologischen Ursache, sondern als Platons Spekulation des Werdens überhaupt, eines ›ersten‹ Werdens, das »im Deutschen ›Entstehen‹ heißt« (Buchheim 1987, 23). Platon thematisiere hier das Treten ins Dasein, das Buchheim als ein So-Sein (toiouton) deutet, dem das wahrnehmungslose »›Worin‹ als der Sinn des ›So‹« (ebd., 30) zugrunde liegt. Er unterstellt, Platon habe jene dunkle und höchst unzugängliche (51b: dusalwtotaton) dritte Gattung gedacht, und daher seien die vier Elemente ihr nicht wesentlich, sondern nur Beispiele der Inblicknahme des Werdens überhaupt. 264 Zur Zusammensetzung des sichtbaren Alls aus den Gattungen zum einem vierfach Ganzen siehe: 31b–32c.
254
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
schaffen also, scheinbar unabhängig voneinander, nach derselben Zahl, so dass die sichtbare Ordnung des Alls in diesem Zusammenwirken beider begründet ist. Diese Übereinstimmung ermöglicht es Timaios zu sagen, dass die vier Arten aus den »vier schönsten Körpern« (kallista swmata tettara) gestaltet sind: Feuer ! Tetraeder, Luft ! Oktaeder, Wasser ! Ikosaeder, Erde ! Hexaeder (53c– 56c) 265 . Die Vierzahl ist damit offenbar die entscheidende Bedingung, um sagen zu können: das nach Zahl und Maß Hergestellte ist das, woraus dieses All besteht; oder: das durch das noetische Denken erzeugte »dieses« ist das, was die alogischen Sinne selbst als ein »solches« vorstellen. 266 g. Das Geheimnis der Überredung 1. Wie aber lässt sich diese Übereinstimmung in der Vierzahl erklären? Für den nou@ ist die Erklärung einfach: wenn der »schönste Weg« zur Erkenntnis des Guten, wie beschrieben, die Vierzahl der Gattungen des Seienden ist, dann muss der Demiurg, auf das immer Seiende blickend, den »Leib des Alls« auf das Schönste aus den vier Elementen herstellen. In dieser Vierzahl haben sie den nou@ als Ur265 Dieses Begrenzte der Zahl hebt Aristoteles als einen wesentlichen Unterschied zwischen Leukipp und Platon hervor: »Leukipp denkt ebenso, wie Platon im ›Timaios‹ geschrieben hat; denn nur insofern äußert sich Platon nicht in genau der gleichen Weise wie Leukipp, als der eine die unteilbaren als feste Körper bezeichnet, der andere als Flächen, und der eine die unteilbaren festen Körper durch unendlich viele Formen, der andere hingegen durch eine begrenzte Zahl bestimmt sein lässt; denn dass sie unteilbar und durch Formen bestimmt sind, sagen beide.« (Vom Werden und Vergehen I 8, 325b 24 ff.) Während für Platon die Vierzahl das ›Symbol‹ des Guten und daher die Anzahl der Formen begrenzt ist, ist für Demokrit das ›ou mallon‹ das Prinzip, aus dem die Annahme unendlich vieler Formen folgt. Vgl. Kirk 1994, 453. 266 Dieses Zusammenhangs wegen erscheint es uns als unangemessen, in Platon den »Großvater der neuzeitlichen Naturwissenschaft« zu sehen (Böhme 1980, 81. – Vgl. auch: Weizsäcker 1977, 319–345; Gloy 1990, 651–659). Denn Platon war weder Mathematiker noch Physiker, sondern Epistemologe. Er betrieb keine Analyse oder Konstruktion der Zahlen oder Figuren und erforschte auch nicht die Natur. Sein Bestreben war, das Programm einzulösen, dass das Gute die Ursache von allem und die sichtbare Welt daher schön sei. Um diese These zu begründen, übernahm er die geometrische Theorie der »regulären Körper« – vom Mathematiker Theaitetos, wie man heute glaubt (vgl.: Nikolaou 1998, 143; Anm. 9) – sowie die Naturlehre von den vier Elementen. Dabei entstanden Aporien, die Platon ungeklärt ließ. So ist die Anzahl der regulären Körper fünf, der »schönsten Körper« jedoch vier. »Es gibt zwar noch eine fünfte Figur,« heißt am Ende ihrer Herleitung, »aber die verwendete der Gott für das All, indem er es vorschematisierte.« (55b) Wie jedoch die von Platon angenommene Kugelgestalt des Alls überhaupt polygon schematisiert werden kann, scheint ihn nicht interessiert zu haben.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
255
Das griechische »Projekt Autonomie«
sache ihres Entstehens. – Erklärungsbedürftig aber ist die These, auch die anagkh sei Ursache der Vierzahl der Arten; die »Amme des Werdens« bringe durch Selbsterschütterung Feuer, Luft, Wasser und Erde als die vier Arten des Kreislaufs hervor, die zwar ohne Maß und Verhältnis sind, aber bereits »gewisse Spuren von sich selbst« (53b) besitzen. Wie ist dieser ›Übergang‹ vom Schwebezustand des Amorphen, den Timaios als den Anfangszustand annimmt, zu dem zahlenmäßig bestimmten Unterschied der Arten zu erklären? Wie also kommt durch die bloße Selbsterschütterung dieser »Art schweifenden Ursache« (eido@ th@ planwmenh@ aitia@; 48a) die Vierzahl in das Entstehen hinein? Die Entstehung dieser zahlenmäßigen Ordnung lässt sich jedenfalls nicht als logische Folge erklären. Denn wenn der Anfangszustand als ein indifferentes Schweben angenommen wird, dann folgt aus dem Mechanismus des Schüttelns keine zahlenmäßige Bestimmtheit des Entstandenen. Nimmt man umgekehrt jedoch an, die vier Arten seien im Anfangszustand schon vorhanden und würden durch den Vorgang des Schüttelns nur räumlich getrennt, dann kann der Anfangszustand nicht als indifferent und amorph angesehen werden. Logisch kann also die Entstehung dieser Ordnung nicht erklärt werden. Die Annahme einer Vierzahl der Arten kann aber auch nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung des Alls erklärt werden; denn die Sinne selbst zeigen keine zahlenmäßige Ordnung, sondern nur ein stetes Werden. Diese Unerklärbarkeit freilich kann nicht überraschen, ist die anagkh doch die dunkle Gattung, die weder logisch noch sinnlich erfasst werden kann. Suchen wir dennoch nach einem Grund für diese Vierzahl der Arten und schließen aus, dass Timaios schlicht Tradiertes, etwa Empedokles’ Vier-Elementen-Lehre, übernimmt, so kommt als einzig überzeugende Erklärung für das Hineinkommen dieser Zahl die These von der »besonnenen Überredung« (peijw emyrwn) in Betracht. Sie kann zugleich erläutern, was mit der Überredung der anagkh durch den nou@ gemeint ist, auf die Timaios das Zusammenwirken der beiden Ursachen gegründet sieht. Demnach ist es zwar unbegreiflich, dass die vernunftlos wirkende anagkh genau diese vier: Feuer, Luft, Wasser und Erde als Arten hervorbringt; da der nou@ jedoch diese dunkle Gattung vor allem Anfang überredete, »das meiste des Entstehenden zum Besten zu führen« (48a), und da das Beste alles Gewordenen die Vierzahl ist, bringt die anagkh unter diesem Gebot im Kreislauf von Entstehen und Vergehen die vier Arten hervor. 256
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Überredet, ahmt sie, indem sie aus sich selbst das räumliche Auseinander der vier hervorbringt, die ideale Zahl nach. Zwar ist dieser Kreislauf noch ein haltloses Werden, in dem alles sich befindet, »wenn der Gott davon noch fern ist« (53b); aber jener Seismos bewirkt in seiner zahlenmäßigen Bestimmtheit doch die Trennungen, die dem nou@ dienen, das sichtbare All »aus einem nicht so beschaffenen Zustand auf das möglichst schönste und beste … zusammen(zufügen)« (53b) 267 . Die Erklärung ist daher: aufgrund der besonnenen Überredung treten die zwei Ursachen des Gewordenen, der bestimmende nou@ und die dienende anagkh, zusammen und bewirken gemeinsam die Entstehung des Alls als »des sich selbst genügenden, höchst vollendeten Gottes« (68e). 2. Für diese Überredung gibt Timaios selbst keine Begründung. Er behauptet nur, dass das Weltganze am Anfang mittels der anagkh, unterworfen von besonnener Überredung, hervortrat (48a). Fragt man jedoch, wie diese Annahme begründet werden kann, so lässt sich die Begründung weder in einem göttlichen noch in einem menschlichen Verstand finden. Denn göttliches Wissen bedarf nicht der Annahme einer solchen Überredung; für Menschen hingegen muss es paradox und unbegreiflich bleiben, wie die Vernunft durch Vernunft Vernunftloses zu Vernunftgemäßem bestimmen können sollte. Timaios’ Annahme einer solchen anfänglichen Überredung der anagkh durch den nou@ kann daher nur auf ein Geheimnis verweisen, das nicht erklärbar ist und das sich nur den wenigen Menschen offenbart. 268 267 So auch H.-G. Gadamer: »Man muss genau darauf achten, dass Timaios nirgends den Gott für diese vor-elementaren Prozesse verantwortlich macht, sondern der Gott lässt sich die im Gröbsten vorgeordneten Elemente für die eigentliche Weltfabrikation liefern. Er hat die Ananke ›überredet‹ – offenbar dazu, dass sie ihm ein dafür geeignetes Material vorstrukturiert liefert. Auch wenn der Gott bei der gesamten mechanischen Verordnung nicht dabei ist – er weiß eben die Notwendigkeit sich dienstbar zu machen.« (Gadamer 2001, 61) 268 A. Neschke-Hentschke ist der Auffassung, dieses Geheimnis könne durchaus verständlich gemacht werden: »Überreden heißt, auf den Willen des anderen einzuwirken, also bewirken, dass er selber will, was ihm aufgetragen wird. Das setzt voraus, dass das ihm Aufgetragene in seinen Möglichkeiten liegt. Auf die Urmasse bezogen muss das lauten: da die Urmasse Ausdehnung besitzt (cwra), enthält sie per se die Möglichkeit, die geregelte Ausdehnung (megejo@) der geometrischen Formen annehmen zu können. Die Überredung des Demiurgen muss dann darauf hingehen, sie zu überzeugen, dass es ›besser‹ ist sich der Regel zu unterwerfen als ihr zuwiderzuhandeln (48 e3: ta pleista epi to beltiston agein).« (Neschke-Hentschke 2000, XXIII f.) Wird dadurch das Paradoxe dieser Überredung verständlich? Es wird nur gesagt, dass es der Urmasse möglich
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
257
Das griechische »Projekt Autonomie«
Diesen Charakter des Geheimnisses der Überredung erklären wir nun seinerseits als Folge aus jener paradoxen Klarheit und Gewissheit, die Timaios in der Vorrede darin zum Ausdruck brachte, dass alles Gewordene allein das Gute als Ursache habe. Danach drückt die These von der besonnenen Überredung als Grund des Zusammenwirkens der zwei Ursachen in besonderer Weise aus, was der Grundsatz im Allgemeinen aussagt. Hatte es Timaios im ersten Teil seiner Rede unternommen, die ordnende Kraft des Guten als demiurgische Handlung des »In-Ordnung-Bringens« darzulegen, die das sichtbare All zum Abbild des Guten macht, lässt er im zweiten Teil das Gute mittels der besonnenen Überredung des vernunftlosen Prinzips herrschen. Weil nun aber jener Grundsatz von der Herrschaft des Guten weder aus die Erfahrung gewonnen noch durch das Denken erfasst werden kann, sondern als fraglos gewiss vorausgesetzt ist; es zur Einlösung dieses Grundsatzes jedoch des Wirkens des vernunftlosen Prinzips, der anagkh, bedarf, muss um der Geltung des Satzes willen eine ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem nou@, dem autonomen Prinzip, und der anagkh, dem heteronomen Prinzip, postuliert werden. Diese Übereinstimmung stellt Timaios anhand des politisch-rhetorischen Modells der Überredung (peijw) vor 269. Während der »erste Anfang« die vorgefundene Unordnung gleichsam despotisch beendet und auf dieses Ende das Reich des wohlgeordnet Schönen errichtet hatte, konzipiert der »zweite Anfang« die Herrschaft des Guten nach dem gleichsam zivilen Modell der Kollaboration, die nicht auf der Gewalt gegründet ist, sondern auf der Überredung des Vernunftlosen durch die Vernunft. 270 sein müsse, die Formen anzunehmen, und einzusehen, es sei ›besser‹, zu dienen als zu opponieren. Aber woher sollte der »Urmasse« diese Einsicht kommen, wenn sie ausdrücklich ohne Einsicht (aneu dianoia@) ist? 269 Vgl. Neschke-Hentschke 2000, XXIII. 270 In seiner »Darstellung der rein rationalen Philosophie« stellt Schelling diese Herrschaft als »Rechtsvergleich« dar: »Die Wissenschaft, in der wir uns bewegen, kennt kein anderes Gesetz, als dass alle Möglichkeit sich erfülle, keine unterdrückt werde; das einzige Gelübde, das sie ablegt, ist, dass was die Ordnung der Wesen betrifft, alles vernunftmäßig zugehe; die Vernunft aber ist interesselos, gegen alles gleichgesinnt (omnibus aequa), sie will daher, dass nichts gewaltsam, nichts durch Unterdrückung geschehe. Der Widerstreit zwischen dem ersten, keineswegs schon an sich materiellen Princip, und dem höheren, dem es sich als Materie hingeben soll, ist nicht dadurch zu bereden, dass das eine schlechthin unterliegt, das andere unbedingt siegt, sondern durch einen Vergleich, wobei jedem sein Recht widerfährt. Diese Gerechtigkeit, die sich die Wissenschaft zum Gesetz macht, ist zugleich das höchste Weltgesetz.« (Schelling 1856 ff.,
258
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Mit dieser Erklärung des Grunds für das Zusammenwirken der zwei Ursachen erweist sich jedoch Platons Programm, das Erfahrungswissen auf das Prinzip der »guten Ordnung« zu gründen, als eine große epistemologische Tautologie. Denn um zu zeigen, wie es der »Timaios« unternimmt, dass für die menschliche Seele ein bleibendes Wissen nicht nur von dem möglich ist, was durch das Denken als stets seiend erfasst wird, sondern auch von diesem sichtbaren All, setzt Platon das, was zu zeigen wäre, schon als Tatsache voraus. Einerseits wird, um dies darlegen zu können, das eigenständige Wirken der anagkh als der »dunklen Gattung« als notwendig erachtet, damit die mathematische, nach Zahl und Maß erzeugte Ordnung keine leeren Worte sind, sondern das darstellt, »was wir sehen und sonst vermittels des Körpers wahrnehmen« (51c). Andererseits jedoch bedarf es, damit diese eigenständige Gattung eben die Bedingungen hervorbringt, unter denen diese Ordnung keine leeren Worte sind, ihrer Überredung durch den nou@. Das aber heißt: was die Bedingung für den bestimmenden nou@ ist, gründet in der Bestimmung durch den nou@. Der nou@ ist bestimmend, weil – er das Bestimmende ist. Damit aber endet das Programm in der Aporie, dass dieser Grundsatz für den Satz selbst nicht gilt. Seine Geltung entzieht sich der Vernunft; er ist als unbegreifliches Geheimnis nur einer »kleinen Gruppe von Menschen« (51e) zugänglich.
C. Der Antagonismus der epistemologischen Modelle 1. Vergleichen wir abschließend die zwei rekonstruierten Wissensbegründungsmodelle: das leukipp-demokritische und das platonische. Beiden Modellen liegt der »Satz vom Logos« zugrunde, der die Herrschaft des Einen in allem aussagt. Dieser gilt einerseits als der epistemische Grundsatz, der codiert, was überhaupt Wissen ist, und formuliert andererseits programmatisch die Regel, eine konsistente Theorie des Erfahrungswissens zu konzipieren. Beide Modelle galten uns daher nicht als Ontologien, die beschreiben, was ist, sonBd. II/1, 492) – In seinem frühen »Timaios-Kommentar« (1794) wusste Schelling mit dem Begriff der »Überredung« nichts anzufangen (siehe: H. Krings, Genesis und Materie. In: Schelling 1994, 133, Anm. 26). Auch wenn obige Darstellung der Vernunftherrschaft nicht direkt darauf Bezug nimmt, macht sie deutlich, dass er mit diesem Begriff jetzt durchaus etwas anzufangen wüßte. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
259
Das griechische »Projekt Autonomie«
dern als Lösungen des epistemologischen Problems, wie das epistemisch Verschiedene, das rein gedachte auton und die sinnlich erfahrenen etera, in Einem Logos-Wissen zu vereinigen sind. Das Gemeinsame der beiden Lösungen sehen wir nun darin, dass jedes Modell ein »drittes Reich« konzipiert, in das die zwei epistemischen Gebiete, das rein gedachte Seiende und das sinnlich vorgestellte Veränderliche, als Konstitutionselemente eingehen, und das sie in je besonderer Weise verbindet. Diese Verbindung haben wir die »logifizierten Vorstellungen« genannt: einmal die bewegten und verschiedenartigen Atome, aus denen alles besteht, das andere Mal die aus Einem und Vielem zusammengesetzten Zahlen und Maße, durch die alles geordnet ist. Sie unterscheiden sich dadurch von anderen Modellen: dem Umschlagen Entgegengesetzter Heraklits, der Elementenlehre des Empedokles oder dem Nous- und Homoiomerienmodell von Anaxagoras. Das »dritte Reich« des Leukipp und Demokrit besteht aus nichts als den im Leeren bewegten atoma, die durch ihre Gestalt und Größe voneinander verschieden sind. Diese Konzeption löst das Problem der Vereinbarkeit des epistemisch Verschiedenen, des rein gedachten Seienden und des sinnlich wahrgenommenen Veränderlichen, durch die Setzung des Raumes, in dem die unveränderlichen Atome ihren Ort und ihre Bewegung haben. Das, was ist und nie wird und nur durchs Denken zu erfassen ist, wird darin als eine unendliche Anzahl unteilbar und unzerstörbar Voller im Leeren angeschaut; das Veränderliche der sinnlichen Erfahrung hingegen wird durch die Bewegungen der verschiedenartig Seienden im Leeren erklärt. Dieses Reich der ewig bewegten Formen haben wir als die anschaulich-objektive Bedingung verstanden, unter der alles, was geschieht, nach dem Einen Gesetz und durch die Notwendigkeit geschieht. Nach diesem Modell besteht also Erfahrungswissen in der Erklärung des sinnlich Wahrgenommenen als ein solch objektives und gesetzmäßiges Geschehen. Das »dritte Reich« Platons haben wir in zwei Etappen rekonstruiert: ausgehend von dem Einwand, dass in der Schau das Reich der unwandelbaren Ideen, an denen die sinnlichen Dinge teilhaben, zwar in seinem Ansichsein erkannt wird, aber nicht die ordnende Kraft des Guten, haben wir zunächst das noetische Denken als Erkenntnisweise dieser ordnenden Kraft dargestellt. Wir sind dann den zwei »Weltanfängen« nachgegangen, in denen einmal der Demiurg durch die Zahlen und Maße die sinnliche Welt als Abbild der »noetischen Ordnung« schafft, zum anderen das Zusammenwirken von nou@ und 260
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
anagkh die Ordnung des Alls bewirkt. Hier ist das Problem der Vereinbarkeit des gedachten Seienden und des sinnlich Werdenden durch das Wirken des Noetischen gelöst, durch die die Erfahrungswelt als Abbild der guten Ordnung erkannt wird. 2. Die wesentliche Differenz zwischen diesen beiden Modelle besteht offenbar in der Weise, wie der »Satz vom Logos« ›operationalisiert‹ wird. Im ersten Modell wird das dritte, Seiendes und Veränderliches verbindende, Reich in der Setzung des Raumes als des rein ›Anderen des Denkens‹ konstituiert, das die gesetzgebende Herrschaft des Logos ermöglicht. Alles sinnliche Eigensein und Qualitative ist hier in der Form der Anschauung ewig bewegter Objekte verschwunden, und dadurch alles, was geschieht, dem Logos-Gesetz und der Kraft der Notwendigkeit unterworfen. Im platonischen Modell hingegen ist das dritte Reich durch die produktive Kraft des Noetischen konstituiert, die nach dem Gesetz des stets Seienden das Eine und das Viele verbindet und das sinnliche All nach Zahlen und Maßen ordnet. Während also nach dem einen Modell das Erfahrungswissen auf die Anschauung des sinnlich Vielfältigen als einer gesetzmäßigen Anordnung räumlich bewegter Objekte gegründet ist, ist nach dem anderen Modell die ordnende Vernunft der Grund des Erfahrungswissens, das daher in der Erkenntnis des Guten in allem besteht. Leukipp und Demokrit haben Wissen als Erkenntnis der gesetzmäßigen Notwendigkeit in allem und jedem konzipiert, Platon hingegen als Erkenntnis der nach Maßen und Zahlen gestalteten Ordnung des Ganzen. Nach jenem Wissensmodell bestehen die Wissenschaften als ein offenes System von ›rationalen Erklärungen‹, die die Gesetzmäßigkeit der Vorgänge erforschen; nach diesem Modell hingegen bilden sie ein geordnetes und geschlossenes System ›rationaler Begründungen‹, die in jedem das Gute als dessen Ursache suchen. Für unsere Rekonstruktion des gesamten ›Projekts Autonomie‹ ist nun die Annahme entscheidend, dass diese beiden Modelle nicht nur zwei verschiedene Konzeptionen auf gemeinsamer Grundlage darstellen, sondern dass sie in epistemologischer Hinsicht einander ausschließen. Jedes Modell schließt, weil es dasselbe Programm auf seine Art vollständig einlöst, durch die Art der Lösung das andere aus. Diese Einlösung ist vollständig, weil jedes dem sinnlich Wahrnehmbaren konsequent ein rein gedachtes Prinzip – und kein wahrnehmbares »Element« – zugrunde legt: die ewigen und unteilbar Seienden als ›Bausteine‹ oder ›Buchstaben‹, aus denen alles WahrA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
261
Das griechische »Projekt Autonomie«
nehmbare besteht, bzw. die rein noetische Ordnung, deren Abbild das erfahrbare All ist. Daher muss, wenn das Programm der Herrschaft des autonom Einen nur dann verwirklicht ist, wenn alles, was geschieht, als ein objektives und gesetzmäßiges Geschehen erklärt wird, die Annahme eines inneren Grundes des Geschehens aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen werden; sie kann nur als ein Irrtum beurteilt werden, der menschliches Meinen mit der Wahrheit verwechselt. Und umgekehrt muss, wenn dieses Programm nur dann realisiert ist, wenn in allem, was ist und geschieht, dessen innerer Grund erkannt ist, die Annahme einer bloßen Gesetzmäßigkeit aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen werden; sie kann gleichfalls nur als Irrtum beurteilt werden, der die Wahrheit verkennt. Dieser Antagonismus der beiden Verfahren, den »Satz vom Logos« zu operationalisieren, schließt nun aber die Übereinstimmung darüber aus, wie das Eine herrscht: durch die Kraft der gesetzmäßigen Notwendigkeit, die über das Reich der ewig bewegten Atome regiert, und die man dann »den Verstand« genannt hat; oder durch die Kraft des ordnenden Prinzips, die alles zum möglichst Besten führt, und die man dann »die Vernunft« genannt hat. Denn jeder Versuch der Übereinstimmung setzt das eine Urteil über die Art der Herrschaft voraus, und schließt damit das andere aus. Im einen Fall ist diese Voraussetzung die »rechte Weltanschauung« als »voller« und »leerer« Raum, die wir als die Bedingung für jene Art der Logos-Herrschaft rekonstruiert haben; im anderen Fall ist sie die dem Philosophen eignende Gewissheit, dass der ordnende Nous in allem die Ursache sei. Ob das Eine daher nach Art der ›unerbittlichen‹ anagkh herrscht, wie Leukipp und Demokrit behauptet haben, oder nach Art des ›wohlordnenden‹ nou@, wie Platon behauptet hat, – diese Frage ist innerhalb des ›Projekts Autonomie‹ unentscheidbar und muss ohne Antwort bleiben. Mit den Mitteln der Vernunft ist über das Mittel der Vernunft nicht zu entscheiden 271 . Eine Lösung dieses epistemolo271 Diese Konfliktlage zeigen insbesondere Platons »Nomoi«. Auch wenn Leukipp oder Demokrit dort nicht genannt werden, sondern Platon sich allgemein gegen die wendet, die sagen, dass »dies alles nicht mit Vernunft, noch geleitet durch irgendeine Gottheit oder auf dem Wege der Kunst, sondern … lediglich ein Werk der Natur und des blinden Zufalls« (889c) sei, so ist doch anzunehmen, dass sie vor allem gemeint sind (vgl.: Nikolaou 1998, 201). Da Platon überzeugt ist, dass »die Vernunft des Seienden in den Gestirnen wohne« (967e), folgt für ihn, dass die Auseinandersetzung mit den dauerhaften Leugnern dieser Vernunft letztlich mit den Mitteln der Gewalt geführt werden
262
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
gischen Antagonismus konnte deshalb nur außerhalb dieses Projekts gefunden werden. Das Ende des »Projekts Autonomie« Diesen mit den eigenen Mitteln unlösbaren Konflikt über das, was Wissen ist, beendet Aristoteles, indem er das ›Projekt Autonomie‹ überhaupt beendet. Es begann, als für die ersten Philosophen Wissen nicht mehr als erzählende Repräsentation eines schlicht vorhandenen epistemischen Codes galt, und sie den Satz zum Repräsentanten des Wissens machten. Mit diesem ›Satz geben‹ wurde das autonome Subjekt zur Begründungsinstanz von Wissen erhoben. Der Projektcharakter dieses neuen Diskurses bestand nun in der Einlösung dieser Idee der Autonomie als epistemologischen Prinzips. An die Stelle des heteronomen Wirkens einer Vielfalt mythischer Mächte sollte die Selbstgesetzgebung des Einen in allem treten. Die Einlösung dieses Prinzips, erst durch Parmenides’ Trennung des rein gedachten Wahren vom bloß sinnlichen Meinen, dann Heraklits’ Vereinigung von Denken und Erfahrung, führte jedoch in die Aporie des epistemologischen Antagonismus: zwischen der anagkh als der Kraft, durch die alles nach dem einen Gesetz geschieht, und dem nou@ als dem alles ordnenden Prinzip. Ob daher die Idee der Autonomie in der gesetzmäßen Verbindung und Trennung ewig bewegter Atome oder in der Schönheit des Kosmos als Abbild des Guten zu finden ist, ist mit den Mitteln dieses Projekts nicht auszumachen. Aristoteles schloss dieses Projekt ab; nicht indem er den Antagonismus auflöste, sondern indem er die epistemologische Frage des Projekts, wie das Autonomieprinzip in allem herrscht, als je schon gelöst behauptete. Für ihn formuliert der »Satz vom Logos« kein könne und müsse (907d ff.). – Bedauerlich ist, dass uns zum Nachvollzug des Umgekehrten, der leukipp-demokritischen Kritik am Nousmodell, das Textmaterial fehlt und wir nur auf Vermutungen angewiesen sind. (z. B. Kirk 1994, 442: »Der Inhalt dieses Fragments [Leukipps »Peri nou«] … könnte Teil einer Attacke auf die Konzeption des Geistes bei Anaxagoras gewesen sein.«) Sieht man von der eher literarischen Wirkung von Lukrez’ Werk »de rerum natura« und von dem »Häretiker« Nikolaus von Autrecourt ab, der die 1346 von Papst Clemens VI. verurteilten Thesen vertrat, die Welt sei ewig und in der Natur gebe es nichts als die Trennung und Verbindung der Atome, begann eine originäre Kritik am Nousmodell erst in der Spätrenaissance mit F. Bacons und P. Gassendis Wiederanknüpfung an die antike Atomlehre. – Siehe: Lange 1974, Bd. I., 235 ff. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
263
Das griechische »Projekt Autonomie«
Programm mehr, das einzulösen wäre, sondern besitzt den Status der Evidenz. Er beschreibt eine schlicht vorhandene Tatsache. Dieser Ausgangslage entsprechend haben für Aristoteles die Annahmen, dass der sichtbare Kosmos göttlich (Metaphysik 1074b 1–14), dass »alles auf das Eine hingeordnet ist« (1075a 18), keinen programmatischen Status mehr, sondern sind Aussagen, die sowohl die erfahrbare Ordnung beschreiben als auch mit den Mitteln der Logik beweisbar sind. Sie formulieren nichts Außergewöhnliches, zu dessen Einsicht nur wenige fähig wären, sondern Vorhandenes, das daher von allen mittels Wahrnehmung und Denken eingesehen werden kann 272 . Aristoteles kann deshalb auch den polemischen Urteilen seiner Vorgänger gegen die Sinnlichkeit als eines heteronomen, irrenden, eigenmächtigen, a-logischen Vermögens ebenso wenig abgewinnen wie der Grundannahme einer absoluten Differenz zwischen dem ewig Seienden, das niemals wird, und dem sinnlich Veränderlichen, das niemals ist. Die Aussagen der Vorgänger über ein solches ›Gegen-Prinzip‹ des Logischen erscheinen ihm als ein unverständiges Gerede, das sowohl der Erfahrung als auch der Logik widerspricht273 . Ja, sie gelten ihm nicht nur als haltlose Sätze, sondern als gottlose Vgl. dazu: Gigon 1972, 60 f. Durch Aristoteles’ Rede von den verschiedenen Arten des Seienden ist der Blick auf das voraristotelische Problem der Wissensbegründung verstellt worden. Was wir sowohl bei Demokrit als auch bei Platon als ein »drittes Reich« rekonstruiert haben, in dem das sinnlich Gegebene allererst logifiziert wird, muss nach Aristoteles als ein fremdartiges und unerklärliches Prinzip erscheinen. In diesem Sinne deuten wir J. Derridas Ausführungen über Platons Chora, die er zu Recht nicht als Vorläuferin der aristotelischen Hyle oder gar der cartesischen Ausdehnung deutet: »Chora resists all these interpretations. What interests me is that since chora is irreducible to the two positions, the sensible and the intelligible, which have dominated the entire tradition of Western thought, it is irreducible to all the values to which we are accustomed – values of origin, anthropomorphism and so on … it is something which disrupts this tradition from within … Many have thought that it is a foreign element entering Plato’s texts from the early materialists. I thought it was a foreign graft within Plato’s text. But how is a graft possible, anyway? … One would be to say that it’s neither sensible nor insensible, but both. It is a participation of the two. We have no language that can ever struggle to describe this thing, because, as soon as we describe it, we project anachronically into it … You may think of negative theology, but this would be wrong. It is nothing sacral or theological – it’s a space. It is a space that cannot be represented, so it is a challenge to anything solid«. (Derrida 1997, 10 ff.) Platons Chora erscheint Derrida als ein »fremder Pfropfen« in dessen Text. Wir haben sie als das in der Tat unbeschreibbare »Gegen-Prinzip« des Logischen erklärt, das »durch besonnene Überredung« die Verbindbarkeit des Sensiblen mit dem Intelligiblen in Einem Wissen und damit »the entire tradition of Western thought« erst ermöglicht hat. 272 273
264
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Antinomie des Logos-Wissens
Äußerungen, die wider alle Vernunft die Alleinherrschaft des Vernünftigen zu bestreiten scheinen. 274 Da Aristoteles von dem Grundsatz schon ausgeht, dass es nur Seiendes gibt 275 , und daher alles sinnlich Wahrnehmbare auch denkbar und das ›richtig‹ Gedachte auch erfahrbar ist, zielen seine Bemühungen nicht mehr darauf ab, das Prinzip der Autonomie gegenüber anderen Wissensarten epistemologisch zu begründen und diese als bloße doxai von der episthmh zu trennen. Mit ihm beginnt ein anderer Diskurs: die Untersuchung der vorhandenen »Sache«, sowohl hinsichtlich ihrer Arten zu sein, als auch hinsichtlich der Weisen, in denen über sie geredet wird. Dieser Diskurs ermäßigt die Polemik des ›entweder-oder‹ zum umsichtigen »sowohl-als auch«. Mit ihm tritt an die Stelle der Begründung von Wissen die sich selbst genügende Wissenschaft.
274 Aristoteles übt schon in seinem frühen Werk »Über Philosophie« Kritik auch an Platons Demiurgen. So überliefert Cicero (Academica priora II, 119): »… die Welt ist auch nicht geworden, weil ein so herrliches Werk nicht auf Grund eines neu gefassten Entschlusses seinen Anfang genommen haben kann, und sie ist nach allen Seiten so vollkommen, dass keine Kraft so starke Bewegungen und eine solche Veränderung bewirken, kein Alter in der Länge der Zeiten zustande kommen kann, wodurch jemals der Zerfall oder der Untergang dieses Weltenbaus herbeigeführt werden könnte.« Aristoteles wendet sich daher nicht nur gegen Demokrits Theorie der Entstehung der Welt aus einem ›Wirbel‹ (Physik 196a 24 ff.), sondern gegen jede Theorie ihrer Entstehung. 275 Den ›Umschlag‹ markiert der Begriff der ulh: die Verwandlung des nicht Seienden in das der Möglichkeit nach Seiende. Von ihm sagt P. Natorp zutreffend, er sei »die Rumpelkammer, in die dieser ordnungsliebende Geist die störenden Probleme abschob, die er nicht zu erledigen wusste.« (Natorp 1994, 404).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
265
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
II Die römische Autorität
Im vorhergehenden Teil haben wir die Genese der griechischen Philosophie anhand des Autonomiebegriffs dargestellt. Dieser Begriff diente dazu, sie als gemeinsames Projekt einer folgenreichen epistemischen Neucodierung zu rekonstruieren. Im Folgenden soll der römischen Wissensart nachgegangen werden, die wir als die zweite Quelle des europäischen Denkens betrachten. Wir unterstellen dabei, dass dessen römisches Erbe sich nicht auf die Vermittlung und Tradierung schon vorhandener epistemischer Inhalte beschränkt, sondern dass es auch in der Übernahme einer spezifisch römischen Wissensstruktur besteht, die den Inhalten die Form der Dauerhaftigkeit und traditionsbildenden Beständigkeit gegeben hat. Hatte die griechische Epistemologie sich in Brüchen, Neuanfängen und Überbietungen vollzogen und als ein strukturell antagonistischer und kritischer Diskurs etabliert, so zeichnet die römische Epistemologie sich ihr gegenüber durch eine Stabilität und Kontinuität des Diskurses aus, die, so nehmen wir an, durch den spezifisch römischen Begriff der Autorität beschreibbar wird. Dieser bezeichnet – in dem von uns einleitend beschriebenen Sinne – als »auctoritas« ein personales Verhältnis der Urheberschaft, welches die Beständigkeit des römischen Denkens begründet. In methodischer Hinsicht ist es für unsere Rekonstruktion der römischen Autorität von grundlegender Bedeutung, dass die auctoritas, ihrer Personalität wegen, im römischen Denken keine Idee und keinen Begriff bezeichnet, der für sich Bedeutung hätte, sondern eine Eigenschaft, die untrennbar mit den Personen verbunden ist, die sie haben. Von »Autorität« zu reden, ohne sie auf die Person zu beziehen, die sie hat, entspräche, so gesehen, der Denkungsart der Griechen, nicht aber der römischen. Wir verfahren daher im Folgenden so, dass zuerst, als Hinführung zur Thematik, drei verschiedene Weisen angeführt werden, in denen der Gebrauch des Ausdruck »auctoritas« überliefert ist, und nach den Personen gefragt wird, denen er zukommt. Daraufhin werden in kritischer Absicht zwei Erklärungsmuster vorgestellt. Der Hauptteil schließlich unternimmt die ReA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
267
Die römische Autorität
konstruktion der auctoritas maiorum, die uns als der Schlüssel zum Verständnis dessen gilt, was im römischen Denken Autorität bedeutet. Dabei werden wir uns vor allem auf Aussagen von Cicero beziehen, den wir allerdings nicht als eigenständigen Denker in den Blick nehmen, sondern nur insofern, als er das Verständnis der auctoritas maiorum erschließt.
I.
Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
»Auctoritas« ist von den Römern in späterer Zeit in den verschiedensten Kontexten gebraucht worden. Wenn wir allerdings nach dem ursprünglichen, spezifisch römischen Bedeutungsgehalt des Wortes fragen, so ist er offenbar zunächst nur in drei, jeweils fest umrissenen Bereichen gebraucht worden: als Begriff des Zivilrechts, der die Verbindlichkeit von Rechtsgeschäften beschreibt; im Verfassungsrecht, in dem er die Art des Senatsbeschlusses bezeichnet; und als eine Eigenschaft, die gewissen Personen eignet bzw. zugesprochen wird. Das Referat dieser drei Verwendungsweisen wollen wir im Folgenden mit der Frage nach dem »Träger« verbinden, dem im jeweiligen Fall die »auctoritas« zugesprochen wurde, beziehungsweise der über diese Eigenschaft verfügte.
A. Die zivilrechtliche »Auctoritas mancipationis« Der älteste und für uns wohl auch am schwierigsten zu deutende Gebrauch des Worts »auctoritas« ist der zivilrechtliche. Im Zwölftafelgesetz von 450 v. Chr. bezeichnet »auctor« diejenige Person, die der Besitzübertragung einer Sache, der sog. Mancipation, ihre Zustimmung geben musste. Mit ihr übernahm der auctor die Gewähr, dass kein Dritter rechtmäßige Besitzansprüche auf die Sache anmeldet, und haftete im Falle des Gegenteils vor Gericht 1 . Wie es scheint, brauchte diese Zustimmung weder mündlich noch schriftlich gegeben werden, sondern konnte auch aufgrund der bloßen Anwesenheit des auctors erfolgen. Wenn wir nach dem »Träger« fragen, dem diese gesetzliche Zu1
268
Siehe: Kaser 1971, 45 f.; Heinze 1972, 44 f.; Miethke 1980, 18.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
stimmungspflicht bei der Besitzübertragung zukam, so erscheint es zunächst als naheliegend, den auctor mit der juristischen Person des »Eigentümers« zu identifizieren. Der Eigentümer, so ließe sich sagen, musste der Besitzübertragung zustimmen, weil sie ohne dessen Zustimmung nicht rechtskräftig geworden wäre. 2 Doch diese Erklärung ist unbefriedigend; denn wenn wir annehmen, der zustimmungspflichtige auctor wäre zugleich der Eigentümer der übertragenen Sache gewesen, dann wird nicht einsichtig, warum er mit seiner Zustimmung zugleich die Haftung vor Gericht gegenüber möglichen Ansprüchen Dritter übernommen hat. Der Zusammenhang von Zustimmung und Haftung – und damit die Rolle des auctors bei der Besitzübertragung – wird nur dann einsichtig, wenn wir annehmen, dass es offenbar ungeklärt oder unklar war, wem der Eigentumstitel an der übertragenen Sache zukam, und dass der auctor dieser Rechtsunsicherheit wegen für die Rechtmäßigkeit der Besitzübertragung haftete 3. Gehen wir von dieser Deutung aus, so können wir zunächst nur sagen, dass der zustimmungspflichtige auctor eine Person eigenen Rechts war, von deren Zustimmung eine bindende Wirkung auf das Rechtsgeschäft ausging, dass diese bindende Wirkung aber nicht auf der zivilrechtlichen Funktion des Eigentümers beruhte. Belassen wir es vorläufig bei dieser unzureichenden Erklärung der zivilrechtlichen auctoritas und fragen stattdessen allgemein nach den Trägern des zivilen Rechts, so weisen die einschlägigen Texte darauf hin, dass, zumindest in der Zeit der römischen Republik, Personen eigenen Rechts nur die patres familias waren 4 . Nur sie waren Personen sui juris und, so können wir folgern, durch das Zwölftafelgesetz verpflichtet, Besitzübertragungen ihre Zustimmung zu geben und dadurch für deren Rechtmäßigkeit zu bürgen. Hinsichtlich des zivilrechtlichen Gebrauchs können wir also fürs erste festhalten, dass mit »auctoritas« eine gewisse Fähigkeit bezeichnet wurde, die sich erstens als Zustimmung zu einer Besitzübertragung äußerte, von der zweitens die beschriebene bindende Wirkung
Siehe: Heinze 1972, 18. So H. Rabe: »Noch die großen Lexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa Ersch-Gruber oder Pierer, sprechen ausführlich von der auctoritas als der Gewährleistung des Verkäufers für den Fall, dass der verkaufte Gegenstand von einem Dritten, etwa dem Eigentümer, herausverlangt wird« (Rabe 1972, 7). 4 Vgl. Th. Mommsens eindrucksvolle Schilderung der altrömischen Familie in: Mommsen 1856, 53–59; auch Fueyo 1968, 215. 2 3
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
269
Die römische Autorität
auf zivile Rechtsgeschäfte ausging, und die drittens, zunächst ausschließlich, den patres familias zukam.
B.
Die staatsrechtliche »Auctoritas senatus«
Für uns greifbarer und auch geläufiger ist der Gebrauch des Ausdrucks im Rahmen der römischen Staatsverfassung. »Auctoritas« bezeichnet hier die eigentümliche Rolle, die der Senat im Verhältnis zu den anderen Institutionen des römischen Staates innehatte. Während, wie Cicero dies Verhältnis klassisch formuliert hat (de re publica, II, 57), »libertas« das Recht des römischen Volkes bezeichnete, an den Gesetzgebungsversammlungen teilzunehmen und den Magistrat zu wählen, und die »potestas« das Recht des römischen Magistrats, Beschlüsse zu fassen und Amtshandlungen durchzuführen, bezeichnete »auctoritas« das Recht des römischen Senats, vom Magistrat befragt zu werden und einen diesbezüglichen Beschluss zu fassen sowie die Volksbeschlüsse zu bestätigen. Die verfassungsrechtliche Besonderheit der sog. »auctoritas senatus« war nun, dass die Beschlüsse des Senats für den Magistrat auf der einen Seite keine rechtliche Bindung hatten: der Beschluss, das senatus consultum, war keine Anordnung, sondern ein »Rat«: »Wenn es den Beamten richtig erscheint, dies zu tun« (si eis videatur) – war die Schlussformel des Senatsbeschlusses 5. Die Folge dieser verfassungsrechtlichen Konstruktion war, dass der römische Magistrat seine Amtsgewalt rechtlich uneingeschränkt ausüben konnte, und der römische Senat für die Handlungen oder Unterlassungen des Magistrats rechtlich nicht verantwortlich war. Auf der anderen Seite ist trotz der verfassungsrechtlich machtlosen Stellung des Senats bis in die Spätzeit der römischen Republik anscheinend keine Amtshandlung gegen ein diesbezügliches senatus consultum ausgeführt worden 6 ; das heißt, es hat keine Amtshandlung gegeben, die nicht »in auctoritate senatus« stand. Nicht zuletzt aus diesem Tatbestand haben die Rechtshistoriker »Wenn er [der Senat] dieses oder jenes zu tun riet, fügte er die Klausel hinzu, ›wenn es ihnen richtig erscheint, es zu tun‹.« (Adcock 1961, 33) – siehe auch: Meyer 1975, 205. 6 »Eine vom Gesamtwillen der Aristokratie unabhängige Magistratur fand in dem aristokratisch geführten Gemeinwesen keinen Platz.« (Graeber 2001, 158) – siehe auch: Biscardi 1987, 9: »Gli antichi autori ci attestano concordemente che la validità degli atti comiziali nel diritto pubblico romano era in origine subordinata all’auctoritas patrum 5
270
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
– soweit ich sehe – übereinstimmend den Schluss gezogen, dass im römischen Staat der Senat, trotz beziehungsweise wegen seiner verfassungsrechtlichen Machtlosigkeit, gegenüber den beiden anderen Institutionen die politisch maßgebende Institution war 7, und dass im römischen Staatsdenken die auctoritas senatus der »politische Zentralbegriff« (Eschenburg 1965, 12) war. – Auch über die Wirkungsart der auctoritas senatus besteht unter Historikern offenbar Übereinstimmung: sie wirkte nicht mittels Sanktionsandrohungen als Befehl, dem zu gehorchen wäre, sondern aufgrund einer zwanglosen Anerkennung des Senatsbeschlusses durch den Magistrat und das Volk. Die Senatsbeschlüsse erreichten ihre politisch bindende Wirkung nicht durch Zwang, sondern als eine Art von Ratschlag, »dessen Befolgung«, wie Th. Mommsen ihn umschreibt, »man sich füglich nicht entziehen kann« (1889, Bd. 3/2, 1028). Während also dem Magistrat zwar die verfassungsrechtlich gesicherte staatliche Gewalt zukam, und den zwei Konsuln die höchste Gewalt, war dennoch der Senat die politisch maßgebende Institution im römischen Staat. Fragen wir auch hier nach den »Trägern« der auctoritas senatus, so waren es in diesem Falle offenbar ebenfalls die patres familias. Da Mitglied des römischen Senats nur werden konnte, wer zwar die Ämterbahn durchlaufen hatte, aber keine Amtsgewalt mehr besaß; und da die Ämter anfangs den Patriziern vorbehalten war, waren in der früheren Zeit die römischen Senatoren die patres familias. Auf diese Trägerschaft weist ferner hin, dass im römischen Sprachgebrauch die Ausdrücke »auctoritas senatus« und »auctoritas patrum« in verfassungsrechtlicher Hinsicht in gleicher Weise verwendet wurden und dasselbe bezeichneten: den Beschluss des Senats 8. Diese Belegquellen erlauben sinnvoll nur den Schluss, dass der römische Senat, in seiner ältesten Form, die »Versammlung der Väter« war, und dass die verespressione con la quale essi intendono manifestamente alludere ad un’approvazione o ratifica del senato.« 7 Th. Mommsen nennt es den »Grundgedanken des römischen Staates für alle Zeiten«: »… trotz der wandelnden Formen steht es fest, solange es eine römische Geschichte gibt, dass der Beamte befiehlt, dass der Rat der Alten die höchste Autorität im Staate ist, und jede Ausnahmebestimmung der Sanktionierung des Souveräns bedarf, das heißt der Volksgemeinde.« (zit. nach: Christ 1983, 42.) – Siehe auch Meyer 1975, 210: »… Und wenn der Senat auch im rechtlichen Sinne nicht regierte, sondern nur die regierenden Beamten beriet, tatsächlich darf man doch den Senat als die eigentliche Regierung Roms bezeichnen.« 8 siehe: Livius 1980, XXXII 31, 6; XXXIV 56, 4; XLV 1, 8; XXII 14, 11. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
271
Die römische Autorität
fassungsrechtliche – wie schon die zivilrechtliche – auctoritas von den patres familias ausgeübt wurde. Hinsichtlich des staatsrechtlichen Gebrauchs können wir also zusammenfassen: »auctoritas« bezeichnet die Fähigkeit eines staatlichen Organs, des Senats, erstens durch seine Beschlüsse bindend auf die anderen Organe, den Magistrat und das Volk, zu wirken, diese Bindung zweitens durch die zwanglose Anerkennung der Beschlüsse zu erreichen, und drittens als Träger die patres familias zu haben, denen diese Fähigkeit zukam.
C. Die individuelle »Auctoritas patris« Über die beiden jurifizierten Bereiche hinaus ist das Wort auch in einem allgemeinen Sinn gebraucht worden. Hier bezeichnet »auctoritas« eine kontextunabhängige Fähigkeit von gewissen Personen, die sich auf alle Bereiche des sozialen und öffentlichen Lebens erstreckte. Um diesen Wortgebrauch zu erhellen, sollen drei Zitate von Cicero angeführt werden, die drei verschiedene Aspekte dieser individuellen auctoritas beschreiben: die Wirkungsweise, das Wirkungsfeld sowie ihren ethischen Wert. Cicero berichtet von Cato, er habe über Paulus, Scipio und Maximus gesagt: »… quorum non in sententia solum, sed etiam in nutu residebat auctoritas.« 9 Auch wenn wir berücksichtigen, dass Ciceros Rückblicke auf die altrömische Republik im Allgemeinen keine bloß historischen Berichte gaben, sondern auch die ideologische Funktion ihrer Verklärung hatten, so können wir dieses Zitat doch als eine Aussage interpretieren, in der sich eine spezifisch römische Auffassung von der Wirkungsart der individuellen auctoritas ausdrückt. Danach war ihre Wirksamkeit nicht notwendig an die Sprache gebunden, und äußerte die auctoritas sich nicht allein in mündlicher oder schriftlicher Form, sondern konnte sich auch – vielleicht wirkungsvoller – durch einfache Gesten ihrer Träger mitteilen. Dies aber bedeutet, dass die in späterer Zeit vorherrschende Verbindung der Cicero, Cato Maior de senectute, 61 (2001, 42). – Siehe auch Ciceros Aussage (Pro M. Fonteio, 24), M. Aemilius Scaurus habe »mit einem Wink fast den ganzen Erdkreis regiert.« (… nutu prope terrarum orbis regebatur.) – Auf die etymologische Verbindung von »numen« mit »nuere« (nicken) weist Mommsen 1889, 73 ff. hin; auch: Arendt 1957, 155.
9
272
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Gebrauchsweisen von »Auctoritas«
auctoritas mit in Rede- oder Textform dargestellten Aussagen anfangs als nicht wesentlich angesehen worden ist; die auctoritas konnte auch mittels einfacher non-verbaler Zeichen wirken. Das zweite Zitat zeichnet ein Bild von dem umfassenden Bereich, auf dem die individuelle auctoritas wirksam wurde. In »de oratore« lässt Cicero Crassus berichten: »Wir haben auch M’. Manilius gesehen, wie er quer über das Forum ging; das war das Zeichen, dass einer sich allen Bürgern zur Verfügung stellte, um einen Rat zu erteilen; und diese Leute wurden einst auf dem Forum oder zu Hause so angegangen, dass man sie nicht nur in juristischen Dingen befragte, sondern auch über die Verheiratung der Tochter, den Kauf eines Grundstücks, die Bestellung des Ackers, kurz über Tätigkeiten und Geschäfte jeder Art« (de oratore, III 133). Nach dieser Darstellung des Wirkungskreises, auf den die auctoritas sich erstreckte, umfasste sie offenbar, über die zivile und staatliche Rechtssphäre hinaus, alle Bereiche des sozialen Lebens der Römer. Die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, ist, dass der Wirksamkeit der auctoritas ursprünglich keine Grenze zwischen einem öffentlichen und einem privaten Bereich gezogen war, dass durch ihr Wirken vielmehr eine mögliche Grenzziehung verhindert wurde. Das dritte Zitat schließlich gibt ein Urteil über den Besitz von auctoritas als ethisches Gut. Im Rahmen einer abwägenden Diskussion ethischer Werte, in der er durchaus seine Trauer über den Verlust der Lebensfreuden der Jugend zu erkennen gibt, stellt Ciceros Cato abschließend fest: »apex est autem senectutis auctoritas« 10 . Interpretieren wir dieses Zitat als eine, Cato in den Mund gelegte, Aussage von Cicero über das »Römer-Sein« – und sehen darin keine Übernahme griechisch-stoischer Grundsätze 11 –, so drängt sich hier die Parallele zwischen Politik und Ethik auf: so wie die auctoritas senatus als die politisch maßgebende Instanz im Verfassungsrahmen des römischen Staates galt, so bildete für den Römer die auctoritas den Cicero, Cato Maior de senectute, 60 (2001, 41 f.) – Vgl. auch: ebd., 61 (42): »Man besitzt im Alter, zumal wenn man ehrenvolle Ämter bekleidet hat, ein Ansehen, das mehr wert ist als alle Sinnenfreuden der Jugend.« (Habet senectus, honorata praesertim, tantam auctoritatem, ut ea pluris sit quam omnes adulescentiae voluptates.) 11 »In den griechischen Ausführungen und Schriften peri gerw@, die man, um Ciceros ›Quellen‹ festzustellen, eifrig durchsucht hat, findet sich nichts dergleichen; für das Verständnis Ciceros aber und aus ihm für das Verständnis des Römertums sind gerade die Äußerungen in seinen philosophischen Schriften die wichtigsten, zu denen sich keine griechischen Parallelen beibringen lassen.« (Heinze 1972, 53) 10
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
273
Die römische Autorität
letzten und höchsten Wert, und der Besitz dieses Gutes galt ihm als sein Lebensziel. Auch hier, im Falle der individuellen auctoritas, kommen als »Träger« anfangs nur die patres familias in Betracht. Zwar geben uns die angeführten Cicero-Zitate über die Trägerschaft keine eindeutige Auskunft. Es ist aber sicher kein Zufall, dass die Personen, die Cicero nennt, Aemilius Paulus, Scipio Africanus, Fabius Maximus und M’. Manilius, dem Patriziat angehörten, sodass wir vermuten können, dass ihm für die frühe Republik dieser Zusammenhang als selbstverständlich erschien. Fassen wir die Aspekte auch dieses Wortgebrauchs zusammen, so bezeichnet »auctoritas« in diesem Falle die Fähigkeit von Personen, einen maßgeblichen Einfluss auf die öffentlichen wie privaten Entscheidungen anderer auszuüben. Sie äußert sich durch Reden oder Gesten und kommt auch hier den patres familias zu, die dem Besitz dieser Fähigkeit ein hohes Gut zuerkennen. 12
II. Auctoritas: Macht durch Anerkennung Suchen wir nach der Darstellung dieser drei ursprünglichen Gebrauchsweisen von auctoritas nach dem gemeinsamen Merkmal, das in jedem der Fälle dem jeweiligen Träger zugesprochen wird, so bezeichnet »auctoritas« offenbar die Fähigkeit ihres Trägers, eine Verbindlichkeit zu bewirken. Im Zivilbereich erhielt die Besitzübertragung durch die Zustimmung des auctors ihre rechtliche Verbindlichkeit; im Politischen erlangten die Beschlüsse des Magistrats sowie des Volks durch den Senatsbeschluss ihre politische Verbindlichkeit; und im sozialen Bereich erhielten die familiären oder häuslichen Entscheidungen durch den Rat gewisser Personen ihre Verbindlichkeit. Diese Fähigkeit, die in den drei Fällen ihrem jeweiligen Träger zugeschrieben wurde, möchte ich mit dem Ausdruck »Macht« bezeich-
In späterer Zeit häufen sich die Texte, in denen die Trägerschaft von auctoritas erweitert und die Gebiete spezifiziert werden. Personen wird nun aus ihrem Sozialprestige, ihrem bestimmten Fachwissen oder einer großen Leistung, der Besitz von auctoritas zugesprochen (siehe: Bleiken 1985, 137). Im Laufe der Zeit nähert sich der Wortgebrauch der uns geläufigen Verwendung im Sinne von »Prestige« oder »Kompetenz« an. – Zur Vielzahl der Wortbedeutungen siehe: Georges 1988, Bd. 1, 706 ff.
12
274
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Auctoritas: Macht durch Anerkennung
nen, und unter Macht zunächst nichts anderes verstehen als die Fähigkeit, Verbindlichkeit zu bewirken. 13 Sehen wir auf das Eigentümliche dieser Macht, so besteht sie offenbar darin, dass die Herstellung der Verbindlichkeit hier an keinen Rechtstitel gebunden ist und daher nicht auf den Sanktionsmitteln der staatlichen Gewalt beruht, sondern dass die Verbindlichkeit durch die zwanglose und freiwillige Anerkennung der Äußerungen ihrer Träger durch andere bewirkt wird. Die Besitzübertragung wurde nicht durch den Nachweis des Eigentumstitels oder eine einklagbare Versicherung seitens des Verkäufers verbindlich; es genügte die bloße Anwesenheit des auctors. Die Beschlüsse des Senats wirkten weder als Befehl noch nach einem anderen, rechtlich einklagbaren Verfahren, sondern durch die »fügliche Anerkennung« der Senatsbeschlüsse. Und die individuelle auctoritas erzeugte Verbindlichkeit durch die freie Annahme der geäußerten Willensbekundung oder des geäußerten Rates. In all diesen Fällen bezeichnet also »auctoritas« die Fähigkeit von Personen, auf andere Macht durch Anerkennung auszuüben. 14 – Da diese eigentümliche Art der Macht ursprünglich den patres familias zugeschrieben wurde, und sie als die Träger dieser Macht galten, möchte ich sie in dem Ausdruck »auctoritas patrum« zusammenfassen und im Weiteren ihrer Erklärung nachgehen.
Statt einer Rechtfertigung dieser Definition sei nur eine Erläuterung angemerkt: definiert man »Macht« mit M. Weber als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen« (Weber 1981, 89; H. v. m.), so verfehlt man schon im Ansatz das Eigentümliche von Autorität. Ihr widerfährt dasselbe Schicksal wie etwa den Begriffen einer »Macht der Vernunft« oder einer »Macht der Liebe«. Sie werden aufgrund dieser Definition entweder als utopische Vorstellungen desavouiert oder als Mittel entlarvt, die Chancen zu erhöhen, den eigenen Willen durchzusetzen. – Unsere Definition von Macht hat Ähnlichkeiten mit H. Arendts Überlegungen zur Macht, wenn sie davon spricht, dass die Macht in der »Übereinstimmung vieler Willensimpulse und Intentionen« (Arendt 1983, 195) erfahrbar wird. Bei ihren Überlegungen bleibt jedoch unklar, ob sie unter »Macht« eine Fähigkeit von Personen oder allgemein einen Zustand des Politischen versteht. 14 Das Relationale des auctoritas-Begriffs hebt Th. G. Ring treffend hervor: auctoritas »ist in doppelter Hinsicht eine persönlichkeitsgebundene Größe: Sie hängt sowohl von den Qualitäten ihres Inhabers als auch von der Anerkennung und dem Vertrauen von seiten des anderen ab. Man könnte sie demzufolge als dialogisch bezeichnen, während man potestas monologisch nennen muss, insofern ihre Wirksamkeit nicht in der Zustimmung durch das betroffene Objekt beruht.« (Ring 1975, 222) 13
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
275
Die römische Autorität
A. Erklärungsmuster von »Auctoritas« Aus unserer Sicht ist die altrömische auctoritas patrum in der Tat erklärungsbedürftig. Denn es erscheint kontrafaktisch, dass dem Willen anderer ohne Gewalt oder Gewaltandrohung, zumindest dauerhaft, gefolgt wird. Diese Erklärungsbedürftigkeit wollen wir in die Frage kleiden: Wie ist es zu erklären, dass freie Personen den Beschlüssen anderer Personen sowohl ohne Zwang als auch auf Dauer Folge leisten 15 ? Zur Beantwortung dieser Frage sollen zuerst zwei Erklärungen der römischen auctoritas, die soziologische und die psychologische, vorgestellt und geprüft werden, um dann zu einer Erklärung überzuleiten, die sich auf unser Konzept einer »epistemischen Autorität« stützen wird. 1.
Autorität als »soziale Ansehensmacht«
Das der Sache nächstliegende Erklärungsmodell scheint das soziologische zu sein, das die Autorität als eine »Figuration sozialer Macht« (Sofsky 1994) beschreibt. Die in diesem Rahmen wohl geläufigste, auf Th. Geiger zurückgehende Definition der Autorität ist die der sozialen »Ansehensmacht« 16 . Nach dieser gilt das ›öffentliche Ansehen‹ oder das ›Prestige‹, das dem Träger eignet, als Grund für die freiwillige Anerkennung seiner Äußerungen. In Hinblick auf die römische Tradition heißt dies, dass zivile Rechtsgeschäfte oder familiäre Entscheidungen wirksam wurden, wenn ihnen eine Persönlichkeit öffentlichen Ansehens zugestimmt hatte, und dass politische Beschlüsse verbindlich wurden, wenn sie durch das Ansehen, das der römische Senat besaß, getragen waren. Bezeichnen wir den Ausdruck »öffentliches Ansehen« mit dem lateinischen Wort »dignitas«, so Dies Phänomen hat schon die griechischen Geschichtsschreiber verwirrt. So übersetzte Dion Cassius in seiner Römischen Geschichte den lateinischen Ausdruck »auctoritas senatus« als »probouleuma«. »Mais«, kommentiert M. L. Freyburger-Galland, »ce terme ne satisfait pas Dion car il ne s’agit pas dans ce cas d’une décision préalable, mais d’un vote invalidé. En outre, aucun mot grec ne permet de garder le rapport d’auctoritas avec auctor et la racine *aug- en général. Il ne lui reste donc qu’une solution: garder le mot latin en s’excusant: … ellhnisai gar auto kajapax adunaton esti … : il est impossible de le traduire en grec.« (Freyburger-Galland 1997, 28) – Siehe auch: Graeber 2001, 160. 16 Th. Geiger, Art. Führung. In: Vierkandt 1931, 137. – siehe auch: Rabe 1972, 8; H. Rabe, Autorität. In: Brunner 1972, Bd. 1, 383. 15
276
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Auctoritas: Macht durch Anerkennung
wird in diesem Erklärungsrahmen die auctoritas auf die dignitas, die dem Träger zukam, zurückgeführt 17 . Demnach scheint die auctoritas eine der dignitas ›entspringende‹ Qualität gewesen zu sein. Wir müssen diese Art der Erklärung nicht ablehnen, um festzustellen, dass sie nicht hinreicht. Denn auf die Frage, worauf diese Ansehensmacht beruht, kommt als Antwort: dass ihr ohne Zwang gefolgt wird. Fragen wir umgekehrt, warum gewissen Personen ohne Zwang gefolgt wird, so erhalten wir die Antwort: weil sie Ansehensmacht besitzen. Die zwanglose Befolgung wird durch die Ansehensmacht; diese aber durch die zwanglose Befolgung erklärt. Dieses Erklärungsmuster scheint der beste Weg zu sein, sich im Kreise zu drehen. Der Begriff »Ansehensmacht« gibt keine hinreichende Erklärung; er beschreibt eigentlich nur das Phänomen. Zumindest hinsichtlich der Autorität des römischen Senates ist dieser Begriff der Ansehensmacht präzisiert worden. Von dem Rechtshistoriker F. Wieacker stammt der Vorschlag, die eigentümliche Macht des römischen Senats als eine »nicht ausgeübte, also ersparte und gehortete soziale Macht« (Wieacker 1961, 12) zu erklären, so dass sich also die Wirksamkeit dieser Macht der Sparsamkeit ihres Einsatzes verdankt habe. – Diese weitergehende Erklärung halten wir jedoch für einen nicht nachvollziehbaren Einfall. Denn mit ihr wird zwar versucht, die Macht des Senates nicht nur durch dessen Ansehen zu beschreiben, sondern sie aus ihrer inneren Eigentümlichkeit zu erklären, – was jedoch unter dem Begriff einer »nicht ausgeübten sozialen Macht« vorgestellt oder gedacht werden soll, bleibt unklar. Verstehen wir nämlich unter dem Begriff der sozialen Macht die Wirkung von Personen (oder Institutionen) auf die Entscheidungen und das Handeln anderer, so ist eine Macht, die nicht ausgeübt wird, eine Macht, die nicht wirkt, und ist daher keine Macht. Der Begriff einer »nicht ausgeübten Macht« ist ein paradoxes und inhaltsloses Wortgebilde. Zudem beansprucht dieser Begriff, die Macht zu erklären, die der römische Senat über Jahrhunderte hindurch ausgeübt hat. Diese faktische Machtausübung aber durch die Nicht-Machtausübung als einer besonderen Art der Machtausübung zu erklären, mutet dem Verstand Unzumutbares zu 18 . Vgl. Fueyo 1968, 215 f.: »Die zutiefst aristokratische Mentalität, die mit der römischen Tradition einhergeht, verlangte als gesellschaftliches Kriterium, dass jede Entscheidung solcher Art einer auctoritas unterworfen werden sollte, d. h. einer öffentlich wegen ihrer dignitas bekannten Persönlichkeit.« 18 Auch der Philosoph H. Kuhn gibt für diese Freiwilligkeit keine Erklärung, wenn er 17
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
277
Die römische Autorität
2.
Autorität als »geistige Macht«
Im Unterschied zur soziologischen Erklärung der Autorität durch die Zuschreibung von Ansehen ist vom Altphilologen R. Heinze eine psychologische Erklärung gegeben worden: »auctoritas« bezeichne »die Eignung, maßgeblichen Einfluss auf die Entschließungen der anderen kraft überlegener Einsicht auszuüben« (Heinze 1972, 48; H. v. m.). Zwar präzisiert diese Erklärung nicht, was unter »überlegener Einsicht« zu verstehen sei; es dürfte aber nicht falsch sein, wenn wir für das Gemeinte den Ausdruck der »epistemischen« oder »deontischen Autorität« (Bochenski 1974, 53 ff.) verwenden. In diesem Sinne sei bei Rechtsgeschäften der auctor deshalb erforderlich gewesen, weil »nur er weiß [H. v. m.], dass er bisher Eigentümer der Sache gewesen ist, nunmehr also sie wirklich dem Käufer gehört: dafür übernimmt er als auctor die Gewähr.« (Heinze 1972, 45). Und dem entsprechend wird die besondere Wirksamkeit der Autorität des römischen Senats dadurch erklärt, dass in diesem die »verhältnismäßig wenigen (waren), denen man politische Einsicht [H. v. m.] und Verantwortungsgefühl zutraut« (ebd., 51); die also, so können wir folgern, ihren politisch maßgeblichen Einfluss nicht mittels Gewalt, sondern aufgrund ihrer epistemischen Qualität ausübten. Diese Art des Einflusses habe, so Heinze, über das Politische hinaus für »die gesamte Lebensführung des römischen Volkes« (ebd.) gegolten. – Dieser Erklärung der Autorität durch die »überlegene Einsicht« korrespondiert nun die Erklärung ihrer freiwilligen Anerkennung durch andere. R. Heinze führt sie – mit Hinweis auf A. Vierkandt – auf einen »Instinkt der Unterordnung« 19 zurück: Es habe den Charakter des römischen Volkes die Neigung ausgezeichnet, »keine wichtige Entscheidung (zu treffen), ohne vorher den Rat derer eingeholt zu haben, die ihm dazu berufen erscheinen.« (ebd.) Dieses Gefühl einer, wie wir es nennen wollen, »epistemischen Abhängigkeit« ist also nach dieser Erklärung der Grund gewesen, warum die Römer im pridie Autorität »in der Mitte« sieht »zwischen bloßem Ansehen, das als solches noch keine Ansprüche erhebt, und einer Macht, die ihre Ansprüche notfalls auch gegen den Willen der Angesprochenen durchsetzt« (Kuhn 1971, 299). Sie ist, so verstanden, ein soziologischer ›Zwitter‹ zwischen ›Ansehen‹ und ›Gewalt‹. 19 Ebd., 57. – Diesen Instinkt nennt R. Heinze »das Gefühl, dass nicht jeder alles, und besonders nicht alles allein versteht«, sowie den »Respekt vor einer Persönlichkeit, in der überlegene Erfahrung, Sachkunde und Verantwortungsgefühl verkörpert sind, verbunden mit dem Wunsche, immer möglichst sicher zu gehen« (ebd.).
278
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Auctoritas: Macht durch Anerkennung
vaten und öffentlichen Leben die Autoritäten freiwillig anerkannten und ihrem Rat folgten. Fragen wir nach der Begründung für diese Korrespondenz zwischen der »epistemischen Autorität« einerseits und der »epistemischer Abhängigkeit« andererseits, so liegt ihr offenbar die Annahme eines wechselseitigen Verhältnis von »Geist« und »Seele« zugrunde. Während die römischen Autoritäten den Geist repräsentierten, durch den ihre Träger die zur Einsicht fähigen waren, repräsentierte das römische Volk hingegen das Seelische, das zur Einsicht unfähig, aber ihrer bedürftig war. Dieses Verhältnis wäre nun näher so zu bestimmen, dass, so wie die Seele nach Einsicht begehrt und sich dem Geist zuwendet, auch das römische Volk nach der Führung durch die Einsichtigen verlangte. – In diesem Erklärungsmodell wird also die Art der Anerkennung der römischen Autoritäten nicht soziologisch durch die Macht des sozialen Ansehens erklärt oder auf ein verstecktes Gewaltverhältnis zurückgeführt, sondern sie wird psychologisch in einem Gefühl und Bedürfnis des römischen Volks nach geistig-politischer Führung verankert. Diese Entsprechung von Autorität und Anerkennung wird von R. Heinze der »Geist des Römertums« genannt, der geendet habe, als die Gracchen das römische Volk zur Auflehnung gegen die auctoritas senatus reizten, und die Verfassungskämpfe begannen (ebd., 51). So materialreich und in philologischer Hinsicht umsichtig R. Heinzes Studie zur »auctoritas« auch ist, so muss gegen die psycho-logische Erklärungsweise doch eingewandt werden, dass sie, um die römische auctoritas zu erklären, ein nicht-römisches Prinzip zugrunde legt, und dass sie daher auch keine hinreichende Begründung für die Wirkungsweise der auctoritas anzuführen vermag. Denn das Prinzip, dass der Geist das Herrschende sei, die Seele aber sich in der Hinwendung zu ihm erfülle, ist keinesfalls römischen, sondern griechischen, näher platonischen, Ursprungs. Sie überträgt das Verhältnis von nou@ und vuch auf die römischen sozialen und politischen Beziehungen, so dass es so erscheint, als hätte im römischen Staat der Senat – im Unterschied zum Magistrat – »kraft überlegener Einsicht« geherrscht und das römische Volk aus diesem Grund die Herrschaft des Senats erstrebt. Zwar können wir solche Übertragungen des griechisch-philosophischen Verfassungsverständnisses auf die römische Verfassungswirklichkeit schon in Rom selbst, etwa bei dem griechischen Historiker Polybios, finden; unseres Erachtens führen sie jedoch von der Suche nach dem Geltungsgrund der römischen A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
279
Die römische Autorität
auctoritas ab 20. Denn für die Annahme, dass die Römer, die auctoritas besaßen, diesen Besitz selbst auf ihre »überlegene Einsicht« zurückgeführt hätten, lässt sich kein Beleg anführen. Im Gegenteil; wir wollen zeigen, dass diese Begründungsart geradezu ausgeschlossen war. Dass aber diese Einsicht ihnen von den anderen zugesprochen wurde, erklärt nichts, weil wir dafür ja nach einer Erklärung suchen. Wenn folglich die Macht des Senats durch einen »Instinkt« des römischen Volks erklärt wird, der es zur Anerkennung der Einsichtsvollen befähigt habe, so wird das schwer zu Erklärende, die freiwillige Anerkennung dieser Macht, mit Unerklärlicherem, einem okkulten Gefühl der Abhängigkeit, erklärt. 21 Auf diese Weise aber bleibt das Problem der Geltung von Autorität im römischen Denken ungelöst.
B.
Zur Etymologie von »Auctoritas«
Bevor wir unsere Erklärung der römischen auctoritas vorstellen, soll zuerst, in einem hinführenden Exkurs, der Etymologie des Wortes nachgegangen werden. Auch wenn im Allgemeinen die Herkunft des Wortes wenig mit seinem tatsächlichen Gebrauch zu tun haben muss, so wäre es doch befremdlich, wenn die zugestandermaßen zentrale Rolle, die der Begriff der Autorität im Rahmen der politischen und sozialen Verfassung Roms eingenommen hat, sich von der ursprünglichen Wortbedeutung abgelöst hätte. Die Annahme eines solchen Zusammenhanges von Herkunft und Gebrauch gilt umso mehr, wenn zugestanden wird, dass den Römern ein ›semantischer Realismus‹ und ein konservativer Umgang mit dem Bedeutungsfeld von Wörtern eignete. Diesem Zusammenhang entsprechen die angeführDas von dem griechischen Philosophen Kineas geprägte Bild des römischen Senats als einer »Versammlung von Königen« (vgl. Mommsen 1856, 292) deuten wir als ein romanophiles Missverständnis. 21 Bei seinen Annahmen über den »Geist des Römertums« scheut R. Heinze keine Widersprüche: um das Phänomen der freiwilligen Anerkennung von Autoritäten zu erklären, nimmt er ein »inneres Abhängigkeitsgefühl« an; um hingegen den römischen Imperialismus zu erklären, nimmt er das »gerade Gegenteil« (Heinze 1972, 58) an: den »Drang nach Macht« (ebd.). Wie aber beide ›Instinkte‹, das Abhängigkeitsgefühl und der Machttrieb, in der Brust ein und desselben Römers zusammen bestehen konnten, bleibt unerklärt. – Im übrigen lässt sich der Eindruck kaum abweisen, dass solche volkspsychologischen Erklärungen weniger der Sachlage als der Interessenslage ihrer Erklärer entspringen. Es scheint, als sollte die römische auctoritas – just in Zeiten geistigpolitischer Führungskrisen (1925) – beschworen werden. 20
280
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Auctoritas: Macht durch Anerkennung
ten Erklärungen nicht: das soziologische Modell, das die Autorität durch das Ansehen der Person erklärt, kann ebenso wenig wie das psychologische Modell, das sie durch die Fähigkeit zur Einsicht erklärt, einen Zusammenhang mit der ursprünglichen Wortbedeutung herstellen. In beiden Fällen bleibt ungeklärt, für was denn die Autoritäten auctores gewesen waren 22 . Daher erscheint es sinnvoll, als Hinführung zur nachfolgenden Rekonstruktion zunächst der Herkunft und Abstammung des Wortes nachzugehen. »Auctoritas« ist grammatisch eine Suffixbildung des Substantivs »auctor«. Es gehört zu der kleinen Gruppe lateinischer Wörter, die, wie civitas oder hereditas, von Substantiven abgeleitet sind und zum ältesten Sprachgut der Römer zählen (Heinze 1972, 44). »Auctoritas« bezeichnet die Eigenschaft des »auctor«-Seins oder, besser und umständlicher, den Zustand, der dem auctor als auctor eignet. Das Wort »auctor« selbst ist, wie etwa lector oder factor, die Substantivierung des Perfektpartizips von »augeo«. Dieses lateinische Verb »augeo« enthält die indogermanische Wurzel »[a]ueg-« bzw. »aug-«, die sich im altindischen Wort »ugráh« wie im altnorwegischen »auka« nachweisen lässt. Als s-Erweiterung ist diese Wurzel ins deutsche Wort »wachsen« (engl. »to wax«, schwed. »växa«), das gotische »wahsjan«, das griechische »auxein« sowie das altindische »vaksayati« eingegangen. Diese Wörter der indogermanischen Sprachen haben alle dieselbe Bedeutung: »wachsen, wachsen lassen; mehren, (sich) vermehren« (Walde 1972, Bd. 1, 82). Gleichfalls verweisen die lateinischen Wörter »augeo«, »auctor«, »auctoritas«; »augur«, »augustus« und »auxilium« auf die gemeinsame Wurzel »aug-«: »augeo« = ich lasse wachsen, mehre, vermehre; »auctor« = der wachsen lässt, mehrt; »auctoritas« = die Mehrerschaft; »augur« = (urspr.) der das Vermehrungsritual vollzieht; »augustus« = der Mehrer; »auxilium« = die mehrende Hilfe. Ziehen wir aus dem grammatischen und sprachhistorischen Befund die Schlussfolgerung, so deutet die gemeinsame Semantik der »aug-«-Ableitungen der lateinischen wie anderer indogermanischen Sprachen offenbar auf eine alte, diesen Kulturen gemeinsame TätigR. Heinze räumt dies ein: »… so fragt es sich doch, ob auctor und auctoritas in den für uns ältesten Anwendungen noch engen Zusammenhang mit augere bewahrt haben.« (Heinze 1972, 44). Dies hindert ihn freilich nicht, festzustellen: auctoritas sei »ein spezifisch römischer Begriff, vom römischen Wesen unzertrennlich, und mag so alt sein wie das Römertum.« (ebd., 46)
22
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
281
Die römische Autorität
keit des »Wachsenlassens« und »Mehrens« hin. Der weitere Schritt, diese Tätigkeit mit einem Fruchtbarkeitsritus der frühen agrarischen Kulturen in Verbindung zu bringen, ist ungesichert; zumindest besteht die begründete Vermutung, dass die Tätigkeit des römischen Augurs in frühester Zeit in dem Vollzug eines uns unbekannten Fruchtbarkeitsrituals bestand 23 . Auch wenn wir im Folgenden von diesem ungesicherten Schritt in den Kultus der italisch-römischen Frühgeschichte keinen Gebrauch machen werden, so ist es doch der Erwägung wert, ob nicht noch in den späteren Verwendungsweisen des Worts »auctoritas« eine solch magisch-rituelle Bedeutung haften geblieben ist. 24 – Für unseren Rekonstruktionskontext ist allerdings die Annahme wichtig, dass im römischen Sprachgebrauch die ursprüngliche Wortbedeutung des »Mehrens« nicht zugunsten anderer Bedeutungen verschwunden ist, und dass es daher Sinn macht, nach einer Erklärung der »auctoritas« zu suchen, die der Etymologie des Wortes Rechnung trägt. Wenngleich wir im Folgenden andere Begriffe zur Explikation des Autoritätsbegriffs verwenden werden, so soll diese Bedeutung des »Mehrens« und »Wachsenlassens« doch, als Verständnishorizont wie als Erklärungsmaßstab, beibehalten bleiben.
Vgl. Walde 1972, Bd. 1, 83: »da das auspicium nur ein Teil der Obliegenheiten der Auguren war (s. z. B. Serv. auct. Aen. 2, 703), diese vielmehr urspr. Vermehrungsritualisten waren (vgl. u. a. die altröm., noch heute in Sardinien übliche Auguralformel largus annus; s. Flinck a. O., Wissowa BPhW. 1921, 916 ff. gegen PW. II 2313 ff.), ist die Anknüpfung der Alten (Ov., Val. Max.) an augeo, auctor auch sachlich gerechtfertigt«. 24 »In seinen frühesten Verwendungsweisen bezeichnet augeo nicht die Tatsache, etwas bereits Vorhandenes zu vergrößern, sondern den Akt, etwas aus sich selbst heraus zu erzeugen. Es geht also um den schöpferischen Akt, der etwas aus einem Nährboden hervorwachsen lässt und ein Privileg der Götter oder der großen Naturkräfte, aber nicht der Menschen darstellt … Mittels des Begriffs auctor findet sich die ursprüngliche Bedeutung von augeo auch in auctoritas wieder. Jede mit auctoritas verkündete Rede bedingt eine Veränderung in der Welt bzw. bringt etwas hervor. Diese geheimnisvolle Eigenschaft kommt in augeo zum Ausdruck, der Macht, die die Pflanzen hervorsprießen lässt oder einem Gesetz Existenz verleiht. Allein der auctor, derjenige, der etwas ins Leben ruft, besitzt diese Eigenschaft, die im Altindischen ojas- heißt. Man sieht, dass ›vermehren‹ nur eine abgeschwächte Nebenbedeutung von augeo ist. Dunkle und mächtige Werte liegen weiterhin in dieser auctoritas, der nur wenigen Menschen vorbehaltene Gabe, etwas entstehen zu lassen und – buchstäblich – ins Dasein zu bringen.« (Benveniste 1993, 412 f.) 23
282
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
III. Die Auctoritas maiorum Formulieren wir einleitend das, was sich uns bislang ergeben hat, als Frage: Wie ist die Wirkung von auctoritas und näher der auctoritas patrum als eine dauerhafte Macht durch die zwanglose Anerkennung anderer auf der Grundlage der Wortbedeutung des »Mehrens« erklärbar? Als Zugang zur Beantwortung dieser Frage soll uns ein Gebrauch des Ausdrucks »auctoritas« dienen, den wir bisher außer Acht gelassen haben: die auctoritas maiorum. Zwar wird uns von Historikern versichert, dass diese es gewesen sei, die im Denken der Römer die Rolle der höchsten Autorität, der summa auctoritas, eingenommen hat, 25 ; was jedoch fehlt, ist, aus dieser Annahme die Schlüsse für das Verständnis der auctoritas, ihrer Trägerschaft, Wirkungsweise und ihres Inhalts, zu ziehen. Für die folgende Rekonstruktion bildet daher die Annahme, dass im römischen Denken der auctoritas maiorum die höchste Autorität zukam, den Schlüssel zum Verständnis des Unverständlichen: sowohl der dauerhaften Machtausübung ihrer Träger durch die zwangslose Anerkennung anderer als auch der Zusammenhang dieser Art von Macht mit dem »Mehren«.
A. Die Quellenlage und ihre Interpretation Zitate, die unsere Annahme belegen, sind spärlich und entstammen zudem erst späterer Zeit. Zwar finden sich frühere Zitate, die sie nahelegen (Roloff 1967, 296, Anm. 3), doch erst mit Cicero bekommt der Ausdruck »auctoritas maiorum« offenbar einen feststehenden, begrifflichen Charakter (Plumpe 1936). Eine der Schlussfolgerungen, die wir aus dieser spärlichen Quellenlage ziehen können, wäre nun, »Dass alle staatlichen, religiösen und privaten Einrichtungen von den maiores stammen, ist bei den Römern eine natürliche und allgemeine Vorstellung. Damit verbindet sich bei ihnen stets das Bewusstsein, dass diese Einrichtungen der maiores gut und verehrungswürdig sind und dass man an ihnen nichts ändern darf. Zugrunde liegt die Anschauung, dass die maiores unbedingte auctoritas besitzen: ihre Einrichtungen und Handlungen sind ›quasirechtlich verpflichtend‹, d. h. ihre Anerkennung beruht zwar nur auf freiwilliger Unterordnung, ist aber praktisch unbedingt.« (Roloff 1967, 295 ff.) – »… die auctoritas maiorum ist identisch mit maßgebenden Modellen für tatsächliches Verhalten, sie ist der moralisch-politische Maßstab schlechthin.« (Arendt 1957, 156) – »… die auctoritas maiorum galt als letztgültiger Maßstab des politischen Lebens.« (Rabe 1972, 9)
25
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
283
Die römische Autorität
unserer These, im römischen Denken sei die summa auctoritas den maiores zugekommen, einen nur hypothetischen Charakter zuzuschreiben. Da sie am Textmaterial nicht hinreichend verifizierbar ist, und da die Aussagen Ciceros, auf die wir uns im Folgenden stützen werden, als spätere – noch dazu ideologisch motivierte – Behauptungen über die römische Vergangenheit zu deuten sind, muss die Annahme zweifelhaft bleiben. Diese Folgerung, so berechtigt sie in philologischer Hinsicht ist, hätte jedoch das unbefriedigende Resultat, dass wir uns der günstigen Quellenlage wegen zwar über zweit- und drittrangige Verwendungsweisen von »auctoritas«, insbesondere im spätrömischen Alltagsleben, verbreiten können, dass uns aber die zugegebenermaßen interessanteste Dimension verschlossen bliebe. Daher erscheint ein anderer Weg als sinnvoll und weiterführend. Dieser geht von der Gültigkeit jener Annahme aus und erklärt aus ihr die schlechte Quellenlage. Nach diesem Verfahren wird aus der gerade unbestrittenen Geltung der auctoritas maiorum geschlossen, dass für die Römer kein Anlass bestand, diesen Sachverhalt zu thematisieren. Da er zunächst sine litteris, in anderen Texturen, den politischen Institutionen und sozialen Verhaltenscodices, präsent war, begann der Vorgang der Verschriftlichung erst, als diese non-literalen Arten ihre Wirksamkeit einbüßten. Historisch bezeichnet den Einschnitt etwa Cato der Ältere, der sich gezwungen sah, das bislang Unthematisierte zu thematisieren: er schreibt in den »Origines« über den mos maiorum – und verachtet doch die Schreibkunst als unrömisch. 26 Cicero dann gebraucht den Ausdruck »auctoritas maiorum«, um damit eine Situation zu beschreiben und zu reflektieren, die ohne deren schriftliche Fixierung ausgekommen war. 27 Auf dieser Interpretationsgrundlage gilt uns also die spärliche Verwendung dieses Ausdrucks als Indiz für die grundlegende Bedeutung, die die auctoritas maiorum für die Ausprägung der römischen Denkweise hatte. Methodisch bleibt allerdings das Problem, diesen Wortgebrauch auf einer schmalen Quellenbasis rekonstruieren zu müssen. Diesen Mangel werden wir durch systematische Überlegungen ergänzen, die die »auctoritas maiorum« in einer solchen Weise Vgl. dazu: Fuhrmann 1989, 72–92. Dieser Deutung entspricht, dass Cicero in allem die auctoritas maiorum anerkannte – außer in der Kunst der Rede und der Philosophie (siehe: Roloff 1967, 307, Anm. 37). – Vgl. auch Scaevolas rhetorische Frage in Cicero, de oratore I, 37, ob denn die Könige, Romulus, Numa oder Servius Tullius, eine »Spur der Redekunst« (eloquentiae vestigium) gezeigt hätten.
26 27
284
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
explizieren, dass aus ihr sowohl die »auctoritas patrum« als auch der Wortsinn des »Mehrens« erklärbar wird.
B.
Die Maiores als »Gründer und Erbauer Roms«
Gehen wir also von der These aus, dass im römischen Denken die maiores die summa auctoritas innehatten, und fragen nach dem Grund, so erhalten wir eine zunächst eigenartig anmutende Antwort: weil sie Rom gegründet haben. Die maiores besaßen demnach für die Römer die höchste Autorität, nicht weil sie das höchste Ansehen oder die überlegenste Einsicht hatten, sondern weil sie – nach einer Formulierung des Plinius – die »auctores imperii Romani conditoresque« 28 waren. – Um uns diese Begründung der auctoritas verständlich zu machen, wollen wir zunächst die folgende semantische Unterscheidung treffen: einerseits bezieht sich die Aussage über die maiores auf gewisse Subjekte, denen die historische Tatsache der Gründung und Erbauung Roms, sei es der Stadt oder des Imperiums, zugesprochen wird; auf der anderen Seite enthält diese Aussage über die maiores als Gründer und Erbauer Roms zugleich die Begründung dafür, dass ihnen die höchsten Autorität zukommt. Das historische Faktum der Gründung und Erbauung Roms begründet hier offenbar dieses besondere, auf zwangloser Anerkennung beruhende Machtverhältnis. Für uns, als Außenstehende und Nicht-Römer, lassen sich diese beiden Aspekte unterscheiden und voneinander trennen; für die Römer offenbar nicht. Um nun diese Begründung nachzuvollziehen, wollen wir dennoch erst dem einen Aspekt, der historischen Tatsache, getrennt von dem anderen nachgehen, und dann nach dem Begründungszusammenhang suchen. Betrachten wir die Aussage über die maiores als eine Aussage über historische Subjekte, so wurden als »maiores« offenbar diejenigen Menschen bezeichnet, die Rom errichtet hatten. Mit Cicero können wir auch hier wiederum zwei Aspekte unterscheiden: die Gründung Roms als eines politischen Gemeinwesens, einer rechtlich verfassten civitas, sowie die Erbauung Roms als eines physischen Gebilde, als urbs oder Territorium 29 . In »de re publica« nennt Cicero »maiores« diejenigen, die die römischen Institutionen, die staatli28 29
Plinius, Naturalis historia, XXII, 3, § 5. In de re publica II, 5 unterscheidet Cicero zwischen urbs und res publica: »Qua gloria A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
285
Die römische Autorität
chen und religiösen Gesetze, die sozialen Regeln und ethischen Normen, geschaffen haben, die er daher als die »maiorum instituta« (V, 1, 1) bezeichnet. Dabei richtet sich Ciceros Interesse nicht allein auf die einzelnen altrömischen Institutionen, sondern insbesondere auf die Konstitution von Rom 30 , so dass für ihn die maiores deshalb von herausragender Bedeutung sind, weil sie durch ihre Einrichtungen Rom als ein Ganzes verfasst und zur civitas romana zusammengefügt und dadurch Rom gegründet haben. Als Erbauer der Stadt Rom hebt Cicero insbesondere die Wahl des Platzes durch Romulus – in der Nähe des Meeres und am Fluss – sowie die Führung der Stadtmauern und die Wahl des Burgortes hervor (de re publica II, 3–6). Schwierig ist allerdings zu entscheiden, ob Cicero den maiores über dies Planmäßige der Erbauung hinaus auch den Aspekt der manuellen Tätigkeit hinzufügt, ob sie ihm also auch als diejenigen Männer gelten, die (noch) mit eigener Hand die Grenzen gezogen, die Mauern errichtet und die Schlachten geschlagen haben, und von ihm daher als die ›Architekten‹ und ›Baumeister‹ der Stadt angesehen werden. 31 Wie dem auch sei, – Cicero bezeichnet als »maiores« diejenigen Männer, die in beiderlei Hinsicht sowohl durch die Schaffung der Institutionen als auch durch die Errichtung der Stadt Rom gegründet und erbaut haben. Was die Anzahl der Personen betrifft, die unter dem Begriff »maiores« zusammengefasst wurden, so lassen sich zu ihrer Bestimparta urbem auspicato condere et firmare dicitur primum cogitavisse rem publicam.« (H. v. m.) 30 ebd. II, 1, 1–2. – Cicero, de legibus III, 12: »Quae res cum sapientissime moderatissimeque constituta esset a maioribus nostris, nihil habui sane aut non multum, quod putarem novandum in legibus.« 31 Auf die Handarbeit der Gründer Roms legen jedenfalls die etwas späteren Epen Vergils, die »Äneis« und die »Georgica«, wert. – In seiner Analyse des Autoritätsbegriffs hebt A. Baruzzi den Unterschied zwischen Herstellen und Stiften zu sehr hervor. »Der artifex«, schreibt er, »stellt etwas her, zu was ein auctor angeregt hat. Er und nicht der artifex bestimmt die Wirklichkeit. Sein Tun ist Stiftung. Eine Stiftung soll dauern, ist nur Stiftung, wenn sie Tradition hat. Tradition kann nicht willkürlich erfunden werden; ihre Erfindung ruht auf einem ursprünglichen Fund. Beim Römer ist dies die Gründung der Stadt, des politischen Gemeinwesens. Dieses ist als solches der Raum aller Stiftungen, weil sie als erste, ursprüngliche Stiftung zeigt, was Stiftung bedeutet. Stiftung des politischen Raumes ist und bleibt die vornehmliche Tat des Menschen und in diesem Sinne ist er auctor und wird Autorität.« (Baruzzi 1973 f., 176). So treffend Baruzzis Begriff des Stiftens ist; im römischen Denken selbst lassen sich die beiden Aspekte, das Stiften und das Herstellen, nicht so deutlich unterscheiden, da es den Römern eben nicht nur um die Stiftung des Gemeinwesens, sondern auch um die Erbauung der Stadt ging.
286
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
mung zwei verschiedene Verfahren anführen. Da in früher Zeit wohl nur die Gründungsväter der alten römischen Familien bzw. die Oberhäupter der gentes, die zusammen die Stadt Rom gegründet haben sollen, als »maiores« galten, kann ihre Zahl mit 100 oder 300 angegeben werden. Cicero jedoch und wohl auch schon Cato fassen darunter nicht nur die Stadtgründer, sondern die Männer, die Rom groß gemacht, die also das Imperium Romanum erbaut haben (Roloff 1967, 297 f.). Beide gehen schon vom römischen Reich als einer geschichtlichen Tatsache aus, und der Ausdruck »maiores« bezeichnet diejenigen, denen dieses Reich als Werk zugeschrieben wird: die entsprechenden Gesetzgeber, Staatsmänner und Feldherren. Dabei betrachten sie es als die Eigenart und den Vorzug des römischen Staates, dass er weder von einem einzigen noch auf einmal erbaut worden ist, sondern von mehreren und in der Folge von Generationen 32 . Wie die Anzahl der maiores auch bestimmt werden mag; sie umfasst die Männer, denen die Errichtung Roms – als Stadt und als Reich – zugeschrieben wird. In unserem Erklärungskontext ist es nun nicht von Bedeutung, ob die jeweiligen Personen, Handlungen und Zeitpunkte von Cicero und anderen Geschichtsschreibern historisch korrekt angeführt werden, sondern dass die Gründung und Erbauung sowie die Entstehung Roms von ihnen überhaupt als ein geschichtliches Ereignis bzw. ein geschichtlicher Vorgang dargestellt wird. Zwar lässt sich mit den römischen Geschichtsschreibern trefflich streiten, von wem, wann und wie Rom tatsächlich als Stadt und Imperium erbaut wurde; aber dieser Streit macht nur Sinn, weil für die Römer selbst die Gründung Roms und die Entstehung des römischen Imperiums als historischempirische Ereignisse in Raum und Zeit gegolten haben. Sie erzählen kein mythisches Geschehen von Göttern und Heroen und berichten auch nicht von einem erfahrungstranszendenten Heilsplan, der der römischen Geschichte zugrundeliege, sondern von Ereignissen, die allgemein vorstellbar und in ihren Auswirkungen sinnlich erfahrbar sind 33 . Die Geschichte Roms wird von ihnen als das Werk einer Cicero, De re publica, II, 1, 2: »Dieser [Cato] pflegte zu sagen, dass der Zustand unseres Gemeinwesens die übrigen deshalb übertrifft, weil in jenen meist einzelne es waren, die jeder sein Gemeinwesen durch seine Gesetze und seine Einrichtungen gründeten, … unser Gemeinwesen aber nicht durch den Geist eines einzelnen, sondern vieler, und nicht in einem Menschenleben, sondern in mehreren Generationen und Zeitaltern gegründet worden ist.« 33 Wenn Th. Mommsen uns darüber aufklärt, dass »das Geschichtchen von der Anlage 32
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
287
Die römische Autorität
Gruppe oder Reihe von Menschen dargestellt, die sie als ihre Vorfahren, als die »maiores« bezeichnen. 34 1.
Die Gründung Roms als Konstitutionsakt von auctoritas
Betrachten wir diese Aussagen über die maiores als die Erbauer Roms, so wird nicht einsichtig, warum diese Leistungen der Grund sein sollten, ihnen auch die höchste Autorität zuzusprechen. Auch wenn wir nach dem Studium der römischen Geschichte und dem Vergleich mit anderen Staaten mit den römischen Geschichtsschreibern darin übereinstimmen mögen, den Aufbau des Imperium Romanum als eine große historische Leistung zu beurteilen, so können wir darauf allenfalls Aussagen über die verfassungsrechtliche Klugheit, das diplomatische Verhandlungsgeschick oder die militärische Tapferkeit der maiores gründen. Der Schluss jedoch, dass ihnen aus demselben Grunde auch die summa auctoritas zukommt, so dass ihre Taten als schlechterdings maßgebend anzuerkennen seien, erscheint uns als unzulässig. Denn diese Verknüpfung von historisch-theoretischem Urteil und moralisch-praktischer Normgebung folgt nicht logischen Regeln. Wie aber geschieht sie dann? Um diese Zuordnung der verschiedenartigen Begriffe: »maiores«, »Gründer Roms« und »summa auctoritas« erklären zu können, wollen wir auf den Begriff von Autorität zurückgreifen, den wir einleitend angeführt und expliziert haben. Er soll die Grundlage für die folgende Rekonstruktion dieses Zusammenhangs bilden. Wir haben Roms … nichts als ein naiver Versuch der ältesten Quasihistorie (ist,) die seltsame Entstehung des Ortes an so ungünstiger Stätte zu erklären und zugleich den Ursprung Roms an die allgemeine Metropole Latium anzuknüpfen«, und er fordert, die Geschichte habe vor allem sich von »solchen Mährchen, die Geschichte sein wollen und nichts sind als nicht gerade geistreiche Autoschediasmen« zu befreien (Mommsen 1856, 45), so muss er doch zugestehen, dass diese »Geschichtchen« Geschichte und keine Mythen oder Märchen sein wollen. 34 Dieser Bezug zur eigenen Geschichte ist wohl der Grund für den »Realismus« der römischen Geschichtsschreibung. Die ersten Aufzeichnungen, die von den pontifices maximi aufgezeichneten »Annales maximi«, vermeldeten, kurz und trocken, Datum, Ort, Namen und Faktum. Cicero, dem Geschichte Teil der Redekunst war, bemängelte an den griechischen Geschichtsschreibern wie Herodot und Theopompus, dass sie »innumerabiles fabulae« (de legibus I, 5) erzählten und nicht klar zwischen historischem Ereignis und Märchen unterschieden, an den altrömischen ›Protokollsätzen‹ jedoch, dass sie auf jeden sinnstiftenden Zusammenhang verzichteten. – Siehe: Fleck 1993.
288
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
dort mit dem Begriff »Autorität« die Art eines personalen Verhältnisses bezeichnet, in dem als Autorität diejenige Person gilt, die von der anderen Person als ihr Urheber anerkannt wird. Diesem Anerkennungsverhältnis liegt, so sagten wir, ein dem Eltern-KindVerhältnis analoger Konstitutionsakt zugrunde. Sowie durch die Zeugung sowohl das Kind erzeugt wird als auch das Eltern-Kind-Verhältnis entsteht, so geht auch dem Autoritätsverhältnis ein Akt voraus, der mit der anerkennenden Person zugleich auch das Autoritätsverhältnis konstituiert. Das konstituierende Subjekt nannten wir die ›selbständige Person‹, das konstituierte Subjekt die ›unselbständige Person‹. Wenden wir diesen Begriff von Autorität nun auf den zu erklärenden Zusammenhang an, so ist demnach von den Römern den »maiores« die »summa auctoritas« deshalb zugeschrieben worden, weil für sie die Gründung Roms nicht nur den Status eines historischen, raum-zeitlichen Ereignisses hatte, sondern weil sie von ihnen als derjenige ursprüngliche Akt verstanden worden ist, der ihre Existenz als Römer konstitutierte. Das Faktum der Gründung Roms stiftet in diesem Fall zugleich ein solches Verhältnis zwischen den Gründern und dem Gegründeten, worin das Gegründete nicht ›durch sich selbst‹, sondern nur in der Beziehung auf seine Gründer existiert. Rom, als das Gegründete, ist in diesem Verhältnis als die ›unselbständige Person‹ anzusehen, die nur ist, was sie ist, weil und indem sie die maiores, die Gründer Roms, als ihre auctores, ihre Urheber, anerkennt. Zwischen Rom als dem Gegründeten und den maiores als den Gründern besteht demnach ein ›inneres Band‹, durch das Rom je schon an seine Gründer gebunden ist, und es außerhalb oder ohne diese Bindung nicht ist, was es ist. Es gibt, so wollen wir sagen, zwischen Rom und seinen Gründern eine »gemeinsame Sache«, die Gründung Roms, um deretwillen die Römer die maiores als die höchste Autorität anerkennen. Diese Anwendung des Autoritätsbegriffs und die Interpretation der Gründung Roms als desjenigen Aktes, der das Autoritätsverhältnis zwischen den maiores und Rom konstituiert, gibt einen Erklärungsrahmen für die auctoritas maiorum. Sie erklärt zum einen, dass den maiores die summa auctoritas zukommt, weil sie Rom gegründet haben; und sie erklärt zum anderen, dass diese Zuordnung weder allgemein erfahrbar noch logisch begründbar und daher für den Nicht-Römer nicht nachvollziehbar ist. Denn nach dieser Interpretation basiert die Anerkennung der summa auctoritas maiorum weder A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
289
Die römische Autorität
auf ›rationalen Gründen‹ noch auf gewonnenen Erfahrungen, sondern auf jenem ›inneren Band‹, das allem Denken und Erfahren vorhergeht, und das allein den Römer als Römer betrifft. 2.
Die Maiores als Gründer der »Res Romana«
Gehen wir von diesem Erklärungsrahmen aus und erläutern zunächst, was unter dem Ausdruck ›Rom als unselbständige Person‹ zu verstehen ist. Zunächst einmal bezeichnet der Name »Rom« eine bestimmte Stadt, eine geographisch lokalisierbare Ansammlung von Menschen, die zum Zwecke der Lebenserhaltung bestimmte wirtschaftliche Beziehungen eingegangen sind und ausgebildet haben (vgl. Mommsen 1856, 48). Verstehen wir unter »Rom« desweiteren mit Cicero eine politische Einheit, einen »coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus« (de re publica I, 39), so bezeichnet es eine gewisse Rechts- und Lebensgemeinschaft, die auf Regelungen beruht, die von den maiores geschaffen wurden und verschieden von anderen Gemeinschaften sind. In diesem Sinne bezeichnet »Rom« die civitas romana: eine bestimmte, geschichtlich entstandene rechtlich verfasste Gemeinschaft. Fassen wir jedoch über diese Arten der sozialen und politischen Vergemeinschaftung hinaus »Rom« in einem personalen Sinne, so beziehen wir uns auf das Verhältnis dieser Gemeinschaft, der civitas romana, zu sich selbst. Wenn wir zur Bestimmung dieses Selbstverhältnisses nun jene beschriebene Beziehung der Römer zu den maiores als den Gründern Roms anwenden, so folgt daraus, dass diese civitas sich in ihrem Selbstverständnis weder irgendeiner fremden Gesetzgebung unterworfen weiß 35 , dass sie aber auch nicht sich selbst als Urheberin ihrer Gesetze weiß und daher nicht autonom ist, sondern dass sie als Gesetzgeber allein die maiores hat, die durch ihre Institutionen diese Rechts- und Lebensgemeinschaft gegründet haben. Dies aber bedeutet, dass die civitas romana sich als Person nicht sich selbst verdankt Dieses Selbstverständnis belegt die Episode der Verbrennung der »Bücher Numas«: Im Jahre 181 v. Chr. seien Schriften entdeckt worden, in denen Numa Pompilius die Gründe für seine Einführung der religiösen Institutionen aufgezeichnet habe, und die belegten, er sei ein Schüler des Pythagoras gewesen. Um den zersetzenden Gedanken einer Schülerschaft des Staatsgründers aus der Welt zu schaffen, habe der Senat entschieden, die Bücher zu verbrennen. (siehe: Livius 1980, XXXX, 29; Cicero, de re publica II, 15, 28 f.; Augustinus, de civitate Dei, VII, 34)
35
290
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
und nicht autonom ist, sondern dass sie sich ihren Gründern und Erbauern verdankt, die sie durch ihre Taten konstituiert haben. In diesem Sinne wollen wir ›Rom als unselbständige Person‹ verstehen: diese bestimmte Rechts- und Lebensgemeinschaft, die zugleich nicht durch sich selbst konstituiert ist, sondern die andere, die maiores, als ihre auctores anerkennt und ihnen deshalb die summa auctoritas zuschreibt. 36 Das Besondere, worin sich dieses Verhältnis der civitas romana zu ihren Gründern darstellt, wollen wir als die »res romana« bezeichnen. Diese ist zum einen nichts anderes als jene geschichtlich entstandene und allgemein erfahrbare Rechts- und Lebensgemeinschaft, deren wesentliche Institutionen von den »Erbauern Roms« zu gewissen Zeiten geschaffen worden sind. Insofern ist die res romana die civitas romana. Zum anderen aber gilt sie dem römischen Denken als die gleichsam »heilige Sache«, der der Römer seine Existenz als römischer Bürger, als civis romanus, verdankt. In diesem Sinne deuten wir die res romana als die gemeinsame und öffentliche Sache, als die res publica, durch die der Römer Römer ist; und die er nicht als durch sich, sondern durch die maiores gegründet weiß. Indem daher der Römer als Bürger an dieser öffentlichen und gemeinsamen Sache teilnimmt und ihr gemäß handelt, anerkennt er sie zugleich als die Sache an, die nicht durch ihn gemacht, sondern durch die maiores gegründet ist. Daher bilden die Teilnahme des römischen Bürgers an der res publica und die Anerkennung ihrer Gründer als
J. Fueyo, Schüler C. Schmitts, verfehlt unseres Erachtens dieses Besondere, da er den Autoritätsbegriff als Ausprägung der Idee von Gemeinschaft versteht: »So wird in der auctoritas das Pathos der grundlegenden Idee des Zusammenlebens sichtbar, eines Zusammenlebens, das notwendigerweise in der ursprünglichen Vorstellung von der Gemeinschaft impliziert ist, und in diesem Sinne wird eine tiefe Verehrung dem Ursprung gegenüber offenbar … Diese Begriffsstruktur ist … der große politische Mythos, mit dem jede Ordnung des Zusammenlebens gefühlsmäßig verbunden ist.« (Fueyo 1968, 217 f.) – Nach unserer Erklärung bezeichnet »auctoritas« keine Idee, sondern ein personales Verhältnis. Den Grund von auctoritas sehen wir daher auch nicht in der tiefen Verehrung des Ursprungs überhaupt, sondern in der Gründung dieser Gemeinschaft. Diesen Sinn von auctoritas hat H. Arendt treffend und anschaulich beschrieben: »Im Zentrum römischer Politik … stand die Überzeugung von der Heiligkeit der Gründung, und zwar in dem Sinne, dass das, was einmal gegründet ist, bindend bleibt für alle künftigen Generationen. Politik treiben hieß immer vorerst die Gründung der Stadt bewahren und vermehren. Dies ist auch der Grund, warum die Römer, in auffallendem Unterschied zu den Griechen, unfähig waren, die Gründung dieser einzigen Stadt in der Niederlassung von Kolonien zu wiederholen« (Arendt 1957, 152).
36
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
291
Die römische Autorität
der höchsten Autorität die zwei Seiten ein und derselben Sache. Diese Sache, die res romana, ist in Hinblick auf das römische Denken das ›Dritte‹, das die civitas romana mit ihren Gründern unauflöslich verbindet, und worin das Handeln des Römers als Bürger und die Anerkennung der maiores als höchster Autorität zusammenfallen 37 . a.
Die Freiwilligkeit der Anerkennung
Diese Interpretation der römischen auctoritas erlaubt uns eine zwanglose Erklärung des Phänomens der dauerhaften Macht durch ihre freiwillige Anerkennung, die zudem mit der Wortbedeutung von »auctor« als »Urheber« übereinstimmt. Wir brauchen dazu nicht mehr auf die unklaren Begriffe einer »Ansehensmacht« oder »höheren Einsicht« zurückgreifen, die ihren Trägern eigneten, und auch auf keinen dunklen »Instinkt der Unterordnung« im Römer, sondern können dieses Phänomen aus dem römischen Denken selbst erklären. Denn da wir annehmen, dass für den Römer die civitas romana keine bloß historisch kontingente Art der Vergemeinschaftung war – etwa gegenüber der ›Idee der Gemeinschaft‹ oder einer ›besten Gemeinschaft‹ –, sondern sie ihm zugleich als die »heilige Sache« galt, bestand in diesem Denken kein Gegensatz zwischen der Freiheit des Bürgers und der Anerkennung der maiores als der höchsten Autorität; diese Anerkennung galt vielmehr die Bedingung seiner Freiheit. Die Einrichtungen und Gesetze der maiores, durch die sie die civitas romana gegründet haben, hatten für ihn daher nicht die Form von heteronomen Vorgaben oder Begrenzungen, welche seine Autonomie einschränkten, sondern bildeten das Fundament und die Bedingungen, die seine freie Existenz in der res publica ermöglichten; und die maiores selbst repräsentierten dementsprechend keine ›Last der Vergangenheit‹, sondern galten dem Römer als die auctores, als die Urheber seiner Existenz als freier Bürger Roms. Dieser Zusammenhang von Freiheit und Anerkennung aber bedeutet, dass in der Freiwilligkeit, die maiores als die höchste Autorität anzuerkennen,
So verstanden steht der römische Republikanismus in Gegensatz zum griechischen Demokratieverständnis. Während hier die Gesetze als »nomoi« verstanden wurden, die auf der Übereinkunft der Bürger beruhen und als solche Ausdruck der politischen Autonomie sind, wurden sie dort als schon vorhandene »leges« gedeutet, denen die Autorität ihrer Urheber zukommt, und die daher nicht ›gemacht‹ oder ›gesetzt‹ werden, sondern zu ›lesen‹, d. h. zu bewahren und auszulegen, sind.
37
292
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
sich zugleich das Selbstverständnis des Römers als freier Bürger der civitas romana ausdrückt. 38 Diese Art der Übereinstimmung der Freiheit des römischen Bürgers und der Anerkennung der maiores erklärt uns das Dauerhafte der Macht, die die maiores in Rom hatten. Denn mit ihr ist für den Römer eine andere Art der Existenz denn als Römer ausgeschlossen; sie ist mit einer Denkungsart unvereinbar, worin der einzelne sich selbst an die Stelle der maiores setzt, um eine andere, neue oder bessere, civitas zu gründen. Einerseits die maiores als die Urheber der eigenen Existenz anzuerkennen, sich andererseits aber selbst zu deren Urheber zu machen, ist ausgeschlossen. 3.
Die Maiores als epistemische Autorität
Unsere bisherige Darstellung der auctoritas maiorum legt nahe, diese habe sich nur auf das Politische erstreckt und keinen Bezug zum Epistemischen gehabt. Die Annahme einer solchen Beschränkung der auctoritas impliziert jedoch, dass es im römischen Denken – so wie im griechischen – einen Bereich des Wissens ›außerhalb‹ oder ›jenseits‹ des Politischen gegeben habe, der nach eigenen, von der res romana unabhängigen Gesetzen und Regeln organisiert gewesen sei. Ihr widerspricht allerdings, was wir schon als eine Eigentümlichkeit der auctoritas patrum angeführt haben, dass ihre Wirkung sich auf alle Gebiete des römischen Lebens erstreckte. Im Folgenden soll daher das sogenannte ›römische Denken‹ in der Weise rekonstruiert werden, dass in ihm die Art zu wissen mit dem politischen Bewusstsein untrennbar verbunden war. Wir nehmen also an, dass die Anerkennung der Gründer und Erbauer Roms als der summa auctoritas sich auch auf das epistemische Gebiet, d. h. auf die Art der Transformation und Organisation der Wahrnehmungen und Erfahrungen in Wissen, erstreckt hat. Zum römischen Begriff der Freiheit siehe: Wirszubski 1967, 9–21. – Diesen Zusammenhang von Autorität und Freiheit verfehlt Hegel, wenn er zwar zu Recht in der »Stiftung des Staates … die wesentliche Grundlage für die Eigentümlichkeit Roms« erkennt, daraus aber schließt: »Es ist da nicht ein sittlicher, liberaler Zusammenhang, sondern ein gezwungener Zustand der Subordination, der sich aus solchem Ursprunge herleitet.« (Hegel 1969 ff., Bd. 12, 345 f.) Dieser Schluss setzt jedoch einen Begriff von Sittlichkeit und Freiheit voraus, der erklärtermaßen nicht römisch ist und die »Eigentümlichkeit Roms« verfehlt. 38
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
293
Die römische Autorität
Diese spezifisch römische Art des Wissens soll im ersten Teil anhand von Aussagen Ciceros über die sapientia maiorum und der Art ihrer Begründung nachvollzogen werden. Diese Bezugnahme auf Cicero liegt nahe, weil er der einzige Römer war, der sich – relativ – systematisch mit epistemologischen Fragen befasst hat, und seine Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie uns einen Einblick in die Wissensstruktur des römischen Denkens geben kann. Der zweite Teil wird dann, skizzenhaft und unvollständig, die institutionalisierte Art der epistemischen Organisation von Erfahrung im römischen Denken zu rekonstruieren versuchen und dabei dem Verhältnis von Politik und Kultus nachgehen. a.
Die Sapientia maiorum
1. Beginnen wir mit der Feststellung, dass Ciceros Beschreibung der römischen Geschichte, die er in »de re publica« gibt, kein bloß historischer Bericht der vergangenen Ereignisse, sondern eine durch und durch wertende Darstellung ist, und dass er sie selbst auch als eine solche versteht 39 . Unsere These ist nun, dass diese Bewertung der römischen Geschichte nicht aus vorausgehenden Überlegungen über das, was die »res publica« überhaupt oder an sich sei, resultiert, die den Maßstab für eine – zustimmende oder ablehnende – Bewertung der Geschichte Roms bilden; dass Ciceros Geschichtsdarstellung also nicht wertend in einem solchen kritischen Sinne ist. Vielmehr gibt ihm umgekehrt die Geschichte Roms selbst den Maßstab für das, was eine res publica sein kann; sie gilt als das Exemplum schlechthin. Dieses Maßgebende der Geschichte Roms drückt Cicero nun dadurch aus, dass die von den maiores errichtete res publica romana sich nicht nur in einem guten und dauerhaften Zustand befunden habe, sondern dass sie der beste Zustand (optimum status) sei 40 , und dass die Vgl. dazu Ciceros Unterscheidung der Geschichtsschreibungen: »Ista studia, si ad imitandos summos viros spectant, ingeniosorum sunt; sin tantum modo ad indicia veteris memoriae cognoscenda, curiosorum.« (de finibus bonorum et malorum V, 2, 6) 40 Siehe Scipios eindringliches Bekenntnis am Schluss der Unterredung über den ›besten Staat‹«: »So nämlich entscheide ich, so bin ich gesinnt, so versichere ich: keines von allen Gemeinwesen ist nach der Konstitution, der Ordnung, der Lebensweise zu vergleichen mit dem, was unsere Väter, schon von den Vorfahren übernommen, uns überlassen haben. Wenn es recht ist, werde ich, weil ihr das, was ihr selbst begriffen habt, auch von mir hören wolltet, zeigen: zugleich wie es beschaffen ist und dass es das beste ist, und, nachdem ich als das Beispiel unser Gemeinwesen dargelegt habe, werde ich 39
294
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
maiores die Gesetze und Institutionen Roms nicht nur geschaffen, sondern dass sie diese weisest (sapientissime) geschaffen haben. 41 In diesem Bestzustand der instituta maiorum, so wollen wir diese Bewertung zusammenfassen, drückt sich die Weisheit der Gründer Roms aus. In ihm fallen das ideale Gemeinwesen, wie es als das beste gedacht ist, und das reale Gemeinwesen, wie es die Geschichte zeigt, zusammen. Diese Bewertung der römischen Geschichte durch Cicero enthält nun einen ganz offensichtlichen Begründungszirkel: der von den maiores erbaute Zustand der res publica romana ist der beste, weil er von ihnen weisest eingerichtet wurde; und er ist umgekehrt weisest eingerichtet worden, weil dieser Zustand der beste ist. Die Weisheit der maiores erklärt Cicero durch die Güte ihres Werkes und dessen Güte durch deren Weisheit. Cicero lässt offenbar bewusst keine Differenz zwischen der sapientia maiorum und dem optimus status der von ihnen erbauten res publica zu. 42 Wie aber können wir diese Zirkularität der Begründung seiner Bewertung erklären? 2. Zur Erklärung dieses Zirkels können wir zunächst annehmen, er resultiere aus Ciceros politischer Absicht: Der Optimat Cicero zie-
diesem meine ganze Rede, die ich über den besten Zustand der Gemeinschaft zu halten habe, angleichen.« (de re publica I, 46, 70) – Vgl. auch: de re publica I, 21, 34. 41 In de re publica II, 16, 30 lässt Cicero Scipio sagen, dass gerade die geschichtliche Darstellung des römischen Staates die Weisheit der maiores zeigt: »Du wirst das aber noch viel leichter erkennen, … wenn du das Gemeinwesen fortschreitend und in den besten Zustand auf einem gewissen natürlichen Wege und Laufe kommend siehst. Gerade deshalb wirst du feststellen, dass die Weisheit der Vorfahren zu loben ist, weil du erkennen wirst, dass vieles auch von anderswoher Übernommene bei uns viel besser gemacht worden ist, als es dort gewesen war, woher es hierher übertragen wurde und wo es zuerst entstanden war, und wirst erkennen, dass das römische Volk nicht zufällig, sondern durch Überlegung und Disziplin befestigt wurde, freilich nicht gegen das Schicksal.« – Siehe auch de legibus III, 12: »Quae res cum sapientissime moderatissimeque constituta esset a maioribus nostris, nihil habui sane aut non multum, quod putarem novandum in legibus.« 42 Cicero führt die Güte der res publica romana daher nicht, wie Polybios, auf eine ›innere Gesetzmäßigkeit‹ der Staatenentwicklung zurück, sondern auf die Weisheit der Gründer Roms. Zu dieser Differenz zwischen dem griechischen Geschichtsschreiber und dem römischen Staatsmann bemerkt Pöschl 1974, 79 f.: »… während Polybios die Tyche als alleiniges Erklärungsprinzip vor allem darum ablehnt, weil damit die Aufgabe des Historikers, ta@ aitia@ zhtein, verfehlt würde, … setzt Cicero seiner epideiktischen Tendenz entsprechend den Hauptakzent auf die große Leistung der Römer, die durch die Tyche entwertet würde: Polybios lehnt die Tyche aus sachlichen, Cicero aus nationalen Gründen ab.« A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
295
Die römische Autorität
le darauf ab, die aus Monarchischem, Aristokratischem und Demokratischem »gemischte Verfassung« der alten römischen Republik, die er aktuell bedroht sieht, als vorbildlich darzustellen, und idealisiere daher die altrömische Vergangenheit 43 . Und sicher ist die Annahme einer solchen Absicht Ciceros historisch belegbar und begründbar. Aber sie erklärt uns nicht die besondere Art seiner Argumentation. Denn wenn es nur seine Absicht war, als Optimat die Güte der gemischten Verfassung der römischen Republik darzulegen, so hätte er sie auch auf andere Weise begründen können: aristotelisch etwa durch Rekurs auf das »Maßvolle«, das sie verwirkliche, oder platonisch in Bezug auf die Idee der »Gerechtigkeit«, der sie am meisten entspreche, oder auch durch Hinweis auf die Vorteile und den Nutzen, den diese Art der Verfassung befördere. Cicero führt jedoch als Begründung für ihre Güte an, dass sie von den maiores eingerichtet worden sei, und dass sie deshalb die beste sei. Er nimmt damit offenbar bewusst jenen Begründungszirkel von sapientia maiorum und optimum status in Kauf. Auch wenn wir also annehmen, Ciceros positive Darstellung der römischen Geschichte sei durch politische Interessen motiviert gewesen, so erklärt uns dies nicht die besondere Art seiner Begründung. Als eine weitere Erklärung können wir annehmen, es sei eben ›typisch römisch‹, eine nationale Eigenheit der Römer, gewesen, gewisse Aussagen über das römische Gemeinwesen mit dem Urteil über die epistemische Kompetenz seiner Gründer und Erbauer zu verbinden, die sich daher auch bei anderen römischen Autoren findet. Ciceros Leistung sei es darüber hinaus gewesen, diese Kompetenz nicht nur behauptet, sondern durch das Studium der Geschichte und den Vergleich mit anderen Staaten gezeigt zu haben, dass von allen Einrichtungen die der maiores die besten gewesen seien, und dass deshalb die maiores im Vergleich sowohl mit den Theoretikern des Staates als auch mit anderen Staatsgründern weiser und unter den Weisen die Weisesten gewesen seien. – Wenn wir diese ›typisch römische‹ Aussage über die sapientia maiorum jedoch im Sinne eines Urteils interpretieren, das aus dem Studium der Geschichte und der Staatsverfassungen resultierte, dann enthält dieses Urteil einen performativen Widerspruch. Denn als ein so begründetes Urteil über die Weisheit der maiores käme Cicero die episte-
43
296
Vgl. Dornseiff 1927, 218 ff.; auch: Heinze 1972, 141–159, Fuhrmann 1991, 161 f.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
mische Kompetenz zu, die er in der Aussage doch den maiores zuspricht. Er schriebe als Geschichtsforscher sich die Kompetenz des Urteils zu, die er als Römer den maiores zuschreibt. Als Urteil widerspricht es der Aussage. Denn wenn das Urteil über die Weisheit der maiores ein Wissen repräsentiert, dann kommt dem urteilenden Cicero die Weisheit zu, die er doch von den maiores aussagt. Würden wir jedoch annehmen, die Aussage über die Weisheit der maiores repräsentiere kein Wissen, sondern formuliere etwa nur eine, aus dem Studium gewonnene, Vermutung Ciceros über die sapientia maiorum, so widerspräche sie dem, was wir doch als ›typisch römisch‹ angenommen haben. Wie man es dreht und wendet, Ciceros Aussage über die sapientia maiorum kann nicht als ein begründetes Urteil, weder als ein wahres noch als ein wahrscheinliches, verstanden werden. 3. Da also jener Begründungszirkel von sapientia maiorum und optimum status rei publicae weder mit Ciceros politischer Intention noch als ein ›typisch römisches‹ Urteil über die maiores erklärt werden kann, er aber doch in Ciceros Geschichtsdarstellung das zentrale Argument darstellt, wollen wir diesen Begründungszirkel als Formulierung des epistemischen Gesetzes im römischen Denken interpretieren. Er trifft kein Urteil über die Weisheit der maiores oder die Güte des römischen Staats, sondern nennt die Bedingung, unter der im römischen Denken Wissen überhaupt möglich ist. So verstanden geht die Zirkularität der Aussagen Ciceros über das beste Gemeinwesen und die Weisheit der Vorfahren weder aus einem Studium der Geschichte hervor noch beruht sie auf vergleichenden Überlegungen über die Güte anderer Gemeinwesen und die Weisheit anderer, sondern formuliert das epistemologische Fundament der römischen Denkweise. Die Aussagen behaupten keine vergleichbare Überlegenheit der maiores an Weisheit und Güte gegenüber anderen; sie drücken vielmehr die Weisheit und die Güte als deren unvergleichbare Eigenschaften aus, die ihnen als den Gründern der res romana schlechterdings zukommen. Als epistemologische Aussagen ordnen sie den maiores a priori die höchste epistemische Autorität zu, so dass für den Römer allein diese als der Grund des Wissens gelten, und folglich nur denjenigen Vorstellungen eine epistemische Verbindlichkeit zukommt, die die maiores als Bezugspunkt und Maßstab haben. Ohne diese Beziehung auf die auctoritas maiorum ist, so wollen wir unsere These zusammenfassen, im römischen Denken verbindliches Wissen nicht möglich; sie ist die epistemische Macht, A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
297
Die römische Autorität
die allein in den mannigfachen Vorstellungen Verbindlichkeit bewirkt. 44 Diese Erklärung des Begründungszirkels als des epistemischen Gesetzes im römischen Denken können wir ihn nun so deuten, dass er die Art und Weise beschreibt, wie die auctoritas maiorum von den Römern auf dem epistemischen Gebiet anerkannt wurde. Einerseits wird in den Aussagen über die Güte des römischen Staates und seiner Einrichtungen zugleich die Weisheit der maiores anerkannt; und andererseits zeigt sich deren Weisheit in der Güte des von ihnen gegründeten und erbauten Staates. In der zirkelhaften Zuschreibung von sapientia maiorum und optimum status rei publicae werden die maiores als die höchste epistemische Autorität anerkannt. Sie stellen vor, was Wissen überhaupt ist: Weisheit und praktisches Können, sapientia et prudentia. – So verstanden ist Ciceros Aussage über die sapientia maiorum widerspruchsfrei; denn er urteilt nicht über die Weisheit der maiores, wenn er sagt, sie seien weisest und ihre Einrichtungen die besten, sondern, indem er dies von ihnen schlechthin aussagt, erkennt er sie als die höchste Autorität an. 45 Und wenn Cicero die Geschichte des römischen Staates als das Exemplum darstellt, so drückt diese Bewertung weder seine besondere Sicht auf die römische Geschichte aus, noch enthält sie das Urteil des Historikers über Geschichte, sondern drückt die Art aus, in der der Römer als Römer weiß 46 . Ciceros wertende Darstellung des römischen StaaMontesquieu schreibt, dass »es bei den Römern noch die Besonderheit (gab), dass sie in die Liebe, die sie für ihr Vaterland hegten, ein gewisses religiöses Gefühl mischten (mêlaient quelque sentiment religieux).« (Montesquieu o. J., 80). Nach unserer Deutung richtet sich dieses »religiöse Gefühl« jedoch nicht auf das Vaterland, sondern – durch das Vaterland hindurch – auf die Väter. 45 In den Tusculanae Disputationes I, 1 erklärt Cicero: »Es war immer mein Urteil, dass die Unsern alles von sich aus weiser erfunden haben als die Griechen oder besser gemacht haben, was sie von ihnen übernommen haben, soweit sie es für wert hielten, sich darum zu bemühen.« Diesem Urteil liegt unserer Interpretation nach weder eine Deduktion aus Grundsätzen noch der Erwerb historischer Kenntnisse zugrunde; es drückt vielmehr die Anerkennung der maiores als summa auctoritas aus. 46 Diese römische Art zu wissen beschreibt H. Roloff treffend anhand der Differenz zwischen griechischer und römischer Geschichtsschreibung. Während die Griechen Polybios und Panaitios die mikth politeia des römischen Staates der Theorie des Verfassungskreislaufs unterordnen, ordnet Cicero umgekehrt »die Kreislauftheorie der großen Schau des römischen Staates als des besten unter.« Entscheidend dafür ist: »Der Grieche Panaitios konnte nicht von den instituta – mores m a i o r u m sprechen, kaum im römischen Sinne von der patrio@ politeia. Für Cicero dagegen ist der ideale Staat nicht ›der römische‹, sondern ›der den unsere Vorfahren schufen‹. Das bedeutet: In Ciceros Schrif44
298
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
tes ist also, nach dieser Erklärung, weder (nur) eine absichtsvolle Verklärung der Vergangenheit noch das Resultat seiner historischen Studien und begrifflichen Überlegungen, sondern die Darstellung einer schlichten Tatsache. Sie drückt die zwanglose Anerkennung der Gründer der res romana als der höchsten Autorität aus. 47 Diese Deutung der Aussagen über die sapientia maiorum erlaubt uns den Schluss, dass sich die auctoritas maiorum im römischen Denken nicht nur auf das Politische, sondern auch auf das Epistemische erstreckt hat. Denn nach dieser Erklärung fallen beide Gebiete zusammen: Das, was Wissen ist, wird weder mythisch in Bezug auf ein ›Ur-Geschehen‹ bestimmt noch – wie in der griechischen Epistemologie – auf das Eine gesetzgebende Subjekt, sondern in Bezug auf die res romana, auf die ›heilige Sache‹ der Römer, die in ihr zugleich ihre Gründer als allein maßgebend anerkennen. b.
Die Gründung Roms: »ad naturam accommodare«
Cicero hat nicht nur durch die Art seiner Geschichtsschreibung die römische Art zu wissen kenntlich gemacht, sondern diese auch mit der griechischen konfrontiert. Während diese das Wissen auf das autonome, von allem abgetrenntes Subjekt, den Logos oder den Nous, gründet, und Wissen daher einer allgemeinen Gesetzgebung unterliegt, ist es das Eigentümliche des römischen Denkens, Wissen auf die auctoritas maiorum, der Gründer der res publica romana, zu gründen. Im griechischen Denken gilt daher das Politische als Teilgebiet ten erst wird die Theorie griechischer Denker zur römischen Geschichtsanschauung.« (Roloff 1967, 311) 47 »Cicero«, schreibt A. Karlovich, »philosophiert immer mit einem Vorurteil, er geht immer von einer These, von einer Definition aus, die für ihn unzweifelbar feststeht. Überspitzt und böse könnte man sagen, Cicero ›philosophiere‹ nur, um sich die eigenen Vorurteile zu bestätigen … Ciceros Denken als unkritisch-affirmatives Interessedenken, reine Ideologie, ›Fortsetzung der Senatspolitik mit anderen Mitteln‹ ? Gewiss ist das nicht einfach von der Hand zu weisen … Aber ich glaube, dass bei solcher Kritik eben nicht mit der von Cicero gemachten Voraussetzung gerechnet wird, nämlich mit der Autonomie und Priorität der Praxis gegenüber der Theorie. Das ›Vorurteil‹ erweist sich so als eine in der Praxis gewonnene Erkenntnis, die nun bloss noch ins Theoretische übersetzt werden muss.« (Karlovich 1982, 133) – So sehr wir dem zustimmen können, dass Cicero »immer mit einem Vorurteil« philosophiert, dies aber nicht »reine Ideologie« ist, – sein Vor-Urteil gründet unseres Erachtens nicht schlicht im Primat der Praxis, sondern in der Unabdingbarkeit römischen Denkens, vor aller Theorie und Praxis die auctoritas maiorum anzuerkennen. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
299
Die römische Autorität
des Wissens, das sein Fundament in dem Einen und allgemeinen Logos hat; im römischen Denken hingegen ist umgekehrt das Epistemische im Politischen, der res romana, verankert. Wenn daher Cicero diese Auseinandersetzung führt, dann sieht er sich auf der einen Seite gezwungen, ›nach Art der Griechen‹ über das Gemeinwesen im Allgemeinen zu reden und in Bezug auf dessen Ordnung nichts als das ›gute Argument‹ gelten zu lassen; auf der anderen Seite aber ist er gezwungen, ›nach Art der Römer‹ auf das Gemeinwesen und auf die Gesetze und Einrichtungen zu rekurrieren, die statt des Logos die maiores als Urheber haben 48 . – Die Auflösung dieses Konflikts zwischen den beiden Wissensbegründungsprinzipien, der griechischen Autonomie und der römischen Autorität, wollen wir mit Cicero in Hinblick auf eine ›römische Lösung‹ in drei Schritten rekonstruieren: Der erste stellt die Frage nach dem Begriff der res publica; der zweite gibt die Bestimmung des Begriffs; und der dritte Schritt schließlich wendet diesen Begriff auf ›Rom‹ an. 49 Cicero hat diese epistemische Konfliktsituation in de natura deorum III, 5–6 beschrieben. Dort sagt der pontifex maximus, Aurelius Cotta: »Wenn es sich aber um die Religion handelt, dann folge ich den Oberpriestern Ti. Coruncanius, P. Scipio und P. Scaevola, nicht dem Zenon oder Kleanthes oder Chrysipp … und ich war stets überzeugt, dass Romulus durch die Auspizien und Numa durch die Opferordnung unserem Staat ein (solides) Fundament gelegt haben, der es ohne tiefste Verehrung der unsterblichen Götter niemals zu solchem Erfolg hätte bringen können. Damit, lieber Balbus, kennst Du die Ansicht des Cotta, des Oberpriesters. Laß mich nun wissen, wie du denkst; als Philosoph hast du mir die Religion ja mit Vernunftgründen klarzumachen, unseren Vorfahren aber muss ich auch ohne gegebene Begründung glauben (a te enim philosopho rationem accipere debeo religionis, maioribus autem nostris etiam nulla ratione reddita credere).« – Vgl. auch: de natura deorum I, 61 f. 49 Unsere Darstellung ist Rekonstruktion. Cicero selbst schwankt in »de re publica« zwischen der griechischen »Idee des Staates« und dem römischen »unser Staat«. Er umgeht die gestellte Frage nach dem »besten Staat«, um sie dann doch wieder aufzunehmen. So lässt er im ersten Buch den Scipio auf die Frage von Laelius nach dem »besten Zustand des Staates« (optimum status civitatis, 20, 33) nicht antworten, was dieser sei, sondern dass er mit der Behandlung dieser Frage durch die Griechen (summi ex Graecia sapientissimique homines; 22, 36) nicht zufrieden ist. Es bedürfe dazu nicht der theoretischen Zergliederung bis zu den letzten Bausteinen (elementa; 24, 38) und nicht der Abgrenzung, was ein jedes sei, und auf wieviele Arten es ausgedrückt werde; denn da er vor klugen Leuten (prudentes homines) spreche, wolle er nicht, dass die Sache selbst (res ipsa) klarer als seine Rede sei. Doch auch daraufhin beantwortet Scipio nicht die Frage nach dem »besten Staat«, sondern stellt nur dar, was ein Gemeinwesen überhaupt sei. (25, 39 ff.) – Nachdem er seine Ausführung über die drei Arten von Staaten schließlich damit beendet, dass die gemischte Verfassung (iuncta moderateque permixta confirmatio; 45, 69) wegen ihrer Gleichgewichtigkeit (aequabilitas) und Beständigkeit (firmitudo) gegenüber den anderen zu bevorzugen sei, und man erwarten könnte, dass er jetzt 48
300
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
1. Gegenüber der griechischen Philosophie räumt der Römer Cicero zunächst ein, dass es zur Begründung von Aussagen über die Güte von Gemeinwesen und ihrer Gesetze in der Tat eines Begriffs, eines allgemeinen Kriteriums, bedarf, in Bezug auf das gegebene Verfassungen als »gut« zu beurteilen sind. Diesem Zugeständnis entspricht sowohl die Definition des Staates als »res populi«, die er in de re publica I, 25, 39 gibt, als auch seine Erklärung, dass sich das, was der beste Zustand des Staates sei, auch ohne ein Beispiel bestimmen lässt (II, 39, 66). Cicero stimmt damit den griechischen Philosophen zu, dass zur Klärung der Frage nach dem »optimum status civitatis« nicht der einfache Verweis auf die instituta maiorum genügen kann, sondern dass es dazu erst einer allgemeinen Idee des Gemeinwesens bedarf, also dessen, was mit der Art des römischen Denkens unvereinbar zu sein scheint. Im zweiten Schritt bestimmt Cicero diese Idee des Gemeinwesens als die »Natur des Staates« (natura civitatis). Er hält sie also nicht, wie Platon, als solche, als ein unveränderliches nohton, fest, sondern bezieht sie sofort auf die ›Wirklichkeit‹, und tadelt die griechischen Philosophen, dass sie, indem sie von dem Staat ›an sich‹ oder von den möglichen guten und schlechten Staatsformen reden, bloße Fiktionen ersinnen, aber nicht zur ›Wirklichkeit‹ dieser Idee gelangen 50 . Diese Wirklichkeit der Idee nennt Cicero die Natur, mit der er die Frage nach dem »besten Staat« beantwortet, bricht er erneut mit dem Hinweis ab, er wolle seine Zuhörer nicht mit abstrakten Erörterungen langweilen, und legt nun sein Bekenntnis ab, dass der römische Staat es sei, der der beste ist (46, 70). – Am Ende seiner Darstellung der Geschichte Roms im zweiten Buch (II, 39, 64 ff.) revidiert Scipio diese Auffassung offenbar wieder, wenn er feststellt, dies sei nur ein Beispiel gewesen. Es sollte nicht der beste Staat definiert werden (non ad definiendum optimum statum valuit; 9, 66) – da dies auch ohne Beispiel möglich sei –, sondern nur an dem größten Staat (civitas maxima) in der Wirklichkeit (reapse) gezeigt werden, wie das beschaffen sei, was die Theorie beschreibt. Erst dann führt er, auf Umwegen, ein, dass ohne die Gerechtigkeit kein Staat sein könne (42, 69), um daraufhin im III. Buch die Bedeutung der Gerechtigkeit im Staate zu erörtern. – Diesem Verhältnis von »Römischem Staat und griechischem Staatsdenken bei Cicero« ist V. Pöschl nachgegangen. Er verbleibt jedoch zu sehr beim Vergleich und arbeitet zu wenig diese konsequente Inkonsequenz der Gedanken- und Gesprächsführung Ciceros heraus. 50 Vgl. de re publica II, 11, 21 f.: »Denn jener erste [Platon], den niemand im Schreiben übertraf, nahm sich einen Ort, um auf ihm einen Staat nach seinem Gutdünken (arbitratu suo) errichten, der für ihn vielleicht vorzüglich ist, aber dem Leben der Menschen und ihren Sitten gänzlich entrückt ist; die übrigen haben sich ohne ein sicheres Beispiel und die Form des Gemeinwesens über die Arten und die Begriffe von Staaten verbreitet.« A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
301
Die römische Autorität
offenbar den stoischen Begriff der yusi@ übernimmt, welcher Idee und Wirklichkeit in dem Einen, ewigen und allgemeinen ›Weltlogos‹ zusammenfasst, um ihn aber sogleich auf die Natur des Staates zu beziehen 51 . Diese Bestimmung der Idee des Staates als die Natur des Staates dient Cicero nun als der Maßstab und das Kriterium, an dem wirkliche Gemeinwesen gemessen werden können, und dem sie entsprechen müssen, um als »gut« bewertet werden zu können. Gemeinwesen müssen in diesem Sinne der Natur des Gemeinwesens entsprechen. Da es für Cicero als Römer jedoch unverzichtbar ist, die res publica romana, das von den maiores gegründete Gemeinwesen, als den besten Zustand zu wissen, geht er nun nicht dazu über – wie es dem griechischen Verfahren entspricht – nach jenem allgemeinen Prinzip der Natur des Staates das diesem angemessene Gemeinwesen fragend und suchend »in schweifender Rede« (de re publica II, 11, 22) 51 Diese Transformation des griechischen »eido@« ins lateinische »natura« ist ideengeschichtlich von zentraler Bedeutung, da sich in ihr widerspiegelt, was Cicero wiederholt anführt: dass die Römer, was sie anderswoher übernommen haben, besser gemacht haben. Bedauerlich ist, dass das dritte Buch von »de re publica« nur fragmentarisch überliefert ist und die ›Laelius-Rede‹, die offenbar die Verbindung von Vernunft und Natur zum Thema hatte, fast ganz fehlt, so dass sich jene Transformation nur unvollkommen rekonstruieren lässt (zur möglichen Anordnung der Rede siehe: K. Büchner in: Cicero 1979, 361 f.). Erhalten ist jedoch das von Lactanz (divinae institutiones 6, 8, 6–9) überlieferte Fragment (III, 22, 33), das die Idee des ewigen ›Vernunftgesetzes‹ mit dem Begriff der ›Natur‹ verbindet und zudem die ethisch-politische Dimension dieser Verbindung verdeutlicht. – Vgl. auch Philippica XI, 28; de legibus I, 15, 18; 23, 33; de finibus bonorum et malorum IV, 11. Bei dieser Transformation sind vor allem zwei Gesichtspunkte von Bedeutung: Hatte die ›klassisch-griechische‹ Philosophie die Idee eines Lebens nach der Vernunft (kata logon) an die Polis gebunden, universalisierte die stoisch-hellenistische Philosophie diesen Ort der Vernunft zur Natur. Die Vernunft ›ergieße‹ sich in alles, und alles enthalte in sich den Logos. Für die Stoa wird daher vernunftgemäßes Handeln als ein Handeln gemäß der Natur (kata thn yusin) aufgefasst. Mit dieser Universalisierung aber tritt an die Stelle des Polisbürgers das Individuum, der in Übereinstimmung mit der Vernunftnatur handelnde Weise (soyo@). – Dieses stoische Konzept eines Handelns gemäß der Natur übernimmt Cicero, wendet es aber wieder ins Politische: der Ort der Vernunft ist nicht die, hellenistisch gedachte, Natur, sondern die, römisch gedachte, res publica; und das handelnde Subjekt ist nicht der soyo@, sondern der römische Staatsmann, der sich in seinem Handeln der ›Natur des Staates‹ verpflichtet weiß. Diese Verbindung von stoischer Natur und politischem Handeln drückt Ciceros Begriff der Gerechtigkeit (iustitia) aus: sie wird weder als Idee gedacht noch als Weltgesetz vorgestellt, sondern gilt als das natürliche, ewige Band der menschlichen Gemeinschaft, das dem Staatsmann verpflichtendes Gesetz ist. – Zu Ciceros Gerechtigkeitsbegriff siehe insbesondere: de officiis I, 20; de finibus bonorum et malorum V, 65.
302
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
zu konstruieren; vielmehr verschmilzt er im dritten Schritt die allgemeine und ewige Natur des Staates mit der historisch-konkreten, von den maiores gegründeten res publica romana. 52 Diese Verknüpfung der allgemeinen Natur des Staates mit der historischen Gründung Roms, die Cicero vollzieht, wollen wir in die Formel fassen: ad naturam accommodare 53. Die römische res publica gilt als das beste Gemeinwesen, weil die maiores als ihre Gründer sie durch ihre Institutionen der ewigen und allgemeinen Natur des Staates angeglichen haben, und daher der römische Staat mit dem, was die Natur des Gemeinwesens ist, übereinstimmt 54 . 2. Akzeptiert man diesen ›Dreischritt‹ als Rekonstruktionsmodell einer ›römischen Lösung‹, so erlaubt es die Formel des »ad naturam accommodare« dem römischen Denken, das Reflexionsund Begriffspotential der griechischen Philosophie einzubeziehen, um es zugleich zur Bestätigung der summa auctoritas maiorum zu verwenden 55 . Zwar räumt Cicero ein, dass den Gründern und ErbauSiehe: Pöschl 1974, 45; Pohlenz 1931, 87. – Dieser Verschmelzung entspricht Ciceros Kritik, die griechischen Philosophen haben es nur dahin gebracht, den Begriff vom besten Staat zu bilden, während es Vorzug des Römers sei, den besten Staat anhand des von den maiores geschaffenen Staats auch in der erfahrbaren Wirklichkeit zeigen zu können. Dieses Staatsmännisch-Praktische fehle – bei aller Gelehrsamkeit und Beredsamkeit – den Griechen. Für Cicero folgt aus dem Fiktiven der griechischen Staatstheorien, dass sie hinsichtlich der Institutionen, insbesondere der Familie und des Eigentums, abstrakt bleiben und mit dem Leben und den Sitten der Menschen nicht in Einklang stehen (siehe: de re publica II, 11, 21 f.; IV, 5, 5; Tusculanae disputationes I, 1–8). Cicero versteht also seinen Verweis auf den römischen Staat weder als das nur den Römer verpflichtende exemplum noch als anschauliches Beispiel des ›besten Staates‹, sondern als Demonstration des ›wirklichen Idealstaats‹, der mit der Natur des Staates übereinstimmt und das verwirklicht, was die griechischen Philosophen nur gedacht haben. Für ihn ist der römische Staat daher die »Vollendung der Natur« (Pöschl 1974, 131). 53 Cicero, de legibus 2, 62: »gaudeo nostra iura ad naturam accommodari maiorumque sapientia admodum delector.« 54 »Das Ganze ist eine konsequente und in sich geschlossene Vorstellung: die maiores haben durch das ad naturam accomodare der Institutionen den römischen Staat zu dem besten gemacht.« (Roloff 1967, 303) 55 M. Fuhrmann kommentiert diese Verwendung aus Sicht des Historikers: »Die Schrift [de legibus] beginnt mit einer allgemeinen naturrechtlichen Betrachtung, die wohl einer stoischen Quelle folgt, und befasst sich sodann mit dem römischen Sakral- und Staatsrecht. Die römischen Bestimmungen, von Cicero allerdings nicht unerheblich modifiziert, werden mit den Normen des Naturrechts verglichen und für identisch erklärt. Cicero sucht also einmal mehr griechische Theorie und römische Faktizität miteinander zu verschmelzen, hier freilich nicht ohne petitio principii: die römische Komponente wurde ja von ihm auf das Demonstrationsziel hin zurechtgestutzt.« (Fuhrmann 1991, 165). – Nach unserer Deutung geht es Cicero jedoch nicht, wie dem Historiker, um die 52
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
303
Die römische Autorität
ern Roms diejenige Bildung fehlte, die die Griechen in der Rede-, Schreib- und Dichtkunst hervorgebracht haben, sowie das Wissen über die unveränderliche ›Natur der Dinge‹, – Fähigkeiten, die nicht zuletzt Cicero selbst in Rom heimisch machen wollte 56. Gegenüber dieser Bildung der Griechen hebt er jedoch hervor, dass die Gründer Roms durch die Schaffung ausgewogener und dauerhafter Institutionen in concreto die politische Klugheit bewiesen haben, die den Griechen fehlte. Er zeichnet sie daher als die ›wahrhaft Wissenden‹ aus, die, weil sie durch ihre Gründung das Wissen um die Natur des Gemeinwesens mit der praktischen Klugheit vereinigt haben, sapientia prudentia besitzen 57 . Was, so können wir aus dieser Lösung folgern, der Römer schlechthin als den besten Staat weiß, das kann auch auf dem Weg der Einsicht in die »Natur des Staates« erkannt werden. Die entscheidende Schlussfolgerung, die sich aus der Formel des »ad naturam accommodare« ergibt, ist jedoch, dass die maiores, indem sie durch ihre Institutionen die res publica romana der ewigen Natur des Staates gemäß verwirklicht haben, nicht nur ein geschichtlich dauerhaftes Gemeinwesen, sondern Unvergängliches geschaffen haben. Denn aus der Verschmelzung der römischen res publica mit der griechischen Idee einer ewigen Natur des Staates, die Cicero vornimmt, folgt die ›Verewigung Roms‹. Die maiores werden daher nicht mehr nur als die Gründer der res publica anerkannt, denen der römische Bürger sich in seinem Denken und Handeln schlechterdings verpflichtet weiß; sie gelten nach dieser Transformation darüber hinaus als die Vollender der ewigen Natur. Cicero, indem er das Werk der maiores, die res publica romana, als die Angleichung an die Natur des Staates fasst, überträgt damit zugleich jene in der griechischen Philosophie gedachte Idee einer ewigen Vernunftordnung auf den historisch-zeitlichen Erfahrungsraum des römischen Reiches 58. Der römische Staat gilt dem römischen Staatsmann daher »römische Faktizität« – so dass man ihm vorhalten kann, er habe sie »zurechtgestutzt« –, sondern um die Anerkennung der auctoritas maiorum, d. h. um die Darstellung der von ihnen gegründeten Gemeinschaft als der besten. Für den Römer Cicero sind nicht die Fakten, sondern die maiores verpflichtend; daher die petitio principii. 56 siehe: Tusculanae disputationes I, 1–8. 57 de oratore I, 195: »Mögen auch alle protestieren, ich werde aussprechen, was ich denke: die Bibliotheken bei Gott aller Philosophen miteinander übertrifft meiner Meinung nach das kleine Büchelchen der 12 Tafeln …, übertrifft sie an Gewicht der Autorität und an der Fülle des Nutzens.« Auch: de re publica I, 2, 2–3. – Vgl. Roloff 1967, 304. 58 Der Gedanke der Ewigkeit des Geschichtlichen, stellt V. Pöschl fest, sei »ursprünglich
304
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
nicht nur als der optimum status civitatis und auch nicht nur als das dauerhafte Werk der maiores, sondern als das Gemeinwesen, das – wie die Natur – unvergänglich und ewig ist 59 . Dieser Angleichung des römischen Staates an die ewige Natur entspricht, dass der Untergang des römischen Staates nicht mehr nur als Verlust der Existenz als Römer erfahren würde, sondern als das Chaos, als der Untergang der Welt. 60
C. Die Wissensorganisation Diese Rückbindung des Denkens und Vorstellens an die sapientia maiorum, als die wir die römische Art der Wissensbegründung beschrieben haben, kann uns auch das Dauerhafte dieser Denkweise sowie den offenkundigen Mangel einer Eigenständigkeit der epistemischen Tätigkeit erklären; – sowie das Desinteresse sowohl der Philosophie als auch der Wissenschafts- und Kunstgeschichte am römischen Denken, das übereinstimmend als epigonal, eklektisch und pragmatisch beurteilt wird. Abgesehen von den republikanischen Turömisch« und »die Übertragung auf eine historische Wirklichkeit … für griechisches Denken unerhört« (Pöschl 1974, 101). 59 Cicero, de natura deorum III, 21: »Nihil est mundo melius in rerum natura; ne in terris quidem urbe nostra«. – In dieser Gleichstellung von mundus und Rom sieht V. Pöschl den Grund für die Überlegenheit der maiores vor den griechischen Philosophen, die Cicero ihnen zuspricht: »Die Schöpfung des römischen Staates und die Schöpfung des römischen Rechtes ist für die Verwirklichung der Weltordnung, die Kräftigung der in der Natur angelegten Möglichkeiten wichtiger als die griechische Philosophie. Die ist immer nur partiell wirksam; eine vollkommene Erfüllung ihrer Erkenntnisse ist ihr immer versagt geblieben. In Buch III [de re publica] wird das römische Reich als das Reich der iustitia erwiesen, das eben durch sie groß geworden ist und sie in der Welt zur Geltung gebracht hat: Rom hat die Welt nicht nur unterworfen, sondern geordnet und gesittigt, beglückt und befriedet. Hier enthüllt sich die ganze Größe römischer Leistung, die auch die höchste griechische Philosophie in den Schatten stellt.« (Pöschl 1974, 153). – Zur Wirkungsgeschichte des Gedankens vom »ewigen Rom« siehe: Kytzler 1993. 60 »… es muss nämlich der Staat so eingerichtet sein, dass er ewig ist. Deshalb gibt es keinen natürlichen Untergang eines Gemeinwesens wie den des Menschen, für den der Tod nicht nur notwendig, sondern oft auch wünschenswert ist. Wenn aber der Staat beseitigt, zerstört, ausgelöscht wird, so ist es, um Kleines mit Großem zu vergleichen, in gewisser Weise dem gleich, wie wenn diese ganze Weltordnung unterginge und zusammenstürzte (ac si omnis hic mundus intereat et concidat; de re publica III, 34).« – Vgl. auch: Hieronymus, Brief 123, 16: »Wenn Rom untergehen kann, was mag da sicher sein?« (zit. nach Brown 2000, 253) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
305
Die römische Autorität
genden der Römer, ihren juristischen Kompetenzen und einer ihr folgenden stupenden Gelehrsamkeit scheinen die epistemischen Leistungen ohne Belang gewesen zu sein. Dem römischen Denken fehlte zweifelsohne die Ausbildung einer freien epistemischen Tätigkeit, die sich in einer auf Phantasie gegründeten Erzähl- und Dichtkunst 61 oder einer aufs autonome Denken gegründeten Philosophie dargestellt hätte 62. Man hat daher wohl zu Recht vom »juristisch-institutionellen Charakter« (Wendorff 1985, 70) der römischen Wissensart gesprochen, die sich im Kern auf die gewissenhafte und pünktliche Repräsentation der von den maiores institutionalisierten Regeln beschränkte. 63 Uns soll es im Folgenden weder um die Diskussion der Ursachen eines solchen institutionalisierten Wissens noch um die Beschreibung der Folgen solcher ›Disziplinierung des Geistes‹ oder deren Bewertung gehen 64 . Wir wollen nur der Frage nachgehen, auf welche Weise sich der wissensbegründende Bezug auf die auctoritas maiorum in der epistemischen Tätigkeit ausgedrückt hat. Dabei sind für »Die Dichtkunst«, berichtet A. Gellius, »stand nicht in Ehren. Wenn sich jemand damit beschäftigte oder wenn er Gelage besuchte, dann nannte man ihn einen Bummler.« (Carmen de moribus 11, 2, 5; zit. nach: Fuhrmann 1989, 84) 62 Diese Distanz des Römers zur Philosophie formuliert der Dichters Ennius treffend: »Philosophari est mihi necesse, at paucis: nam omnino haut placet.« (Q. Ennius, Fr. 340. In: Ribbeck 1897). – Auch Cato: »vos philosophi mera estis mortualia« (nach A. Gellius, Noctes Atticae XVIII, 7, 3). Hierzu gehört der Beschluss des römischen Senats von 161 v. Chr., sämtliche griechische Philosophen und Rhetoren auszuweisen. 63 Für diese Wissensart erscheint die Dreiteilung der Theologie des griechischen Philosophen und Freundes Scipios, Panaitios, wie geschaffen: »Es gibt drei Klassen von Götterlehren: die erste ist die der Dichter, die zweite die der Philosophen, die dritte die der Staatsmänner. Die erste Gattung ist läppisch, weil dabei viele unwürdige Erdichtungen mit unterlaufen … Die zweite Gattung passt nicht für den Staat: denn sie umfasst einerseits manches Überflüssige und andererseits auch manches, was zu wissen dem Volke schädlich ist: z. B. … dass der Staat von seinen Göttern keine wirklichen Bilder habe, dass der wahre Gott kein Geschlecht, kein Alter und keine begrenzte körperliche Gestalt habe … Die dritte Gattung von Theologie ist diejenige, welche die Bürger in den Städten und besonders die Priester kennen und ausüben müssen. Sie schreibt vor, welche Götter öffentlich zu verehren seien und welche heiligen Handlungen und Opfer zu vollziehen einem jedem gezieme. Die Theologie der ersten Art passt sich am meisten dem Theater an, die zweite der Welt, die dritte dem Staat.« (Panaitios, Aus unbestimmten Schriften; zit. nach: Seidel 1984, 156) 64 z. B. Mommsen 1856 148 f.: »Rom ist groß geworden wie kein anderer Staat des Altertums; aber es hat seine Größe teuer bezahlt mit der Aufopferung der anmutigen Mannigfaltigkeit, der bequemen Lässlichkeit, der inneren Freiheit des hellenischen Lebens.« – Vgl. auch: ebd., 159 f. 61
306
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
uns nicht die Inhalte von Interesse, die den Römern als unhintergehbar ›wahr‹ erschienen, sondern die Etablierung dauerhafter epistemischer Regeln, die statt eines kontroversen und kritischen Diskurses – wie in der griechischen Philosophie – einen institutionalisierten und konsensuellen Diskurs ermöglichten. Dies wollen wir versuchsweise und exemplarisch an der Raum- und der Zeitstruktur nachvollziehen, in denen sich im römischen Denken verbindliches Wissen repräsentierte. 1.
Rom als epistemisches Zentrum
Wenn im römischen Denken den Gründern und Erbauern Roms die epistemische Autorität zukommt, dann können in diesem Denken nur diejenige Vorstellungen Wissen repräsentieren, die die instituta maiorum als Maßstab und zum Vorbild haben, die also die Gründung der res publica romana nachahmend aktualisieren. In diesem Fall ist das aktuelle Wissen keine Vergegenwärtigung eines mythischen ›UrGeschehens‹ und auch keine im Logos begründete Vorstellung, sondern die wiederholende Vergegenwärtigung der constitutio rei publicae romanae. Und dieses Wissen wird nach Regeln erzeugt, die von den maiores institutionalisiert wurden. Unter dieser Bedingung wäre nun aber der Besitz von Wissen nur dann gewährleistet, wenn Rom, das von den maiores Gegründete, das Zentrum der epistemischen Tätigkeit bildete; wenn also das, was Wissen codiert, kein vorzeitliches ›Götterreich‹ und kein von allem getrenntes ›Eines‹, sondern ›Rom‹ der Ort aller Örter wäre, von dem aus die kontingenten Wahrnehmungen und Überlegungen epistemisch geordnet werden. Der epistemischen Tätigkeit läge in diesem Fall eine räumliche Ordnung zugrunde, aufgrund derer sie nicht überall stattfinden kann, sondern an ›Rom‹ als das selbst unveränderliche Zentrum gebunden ist. Diese Art des Wissens hätte als epistemischen Bezugspunkt keinen Ort jenseits der Erfahrung, weder eine mythische Welt noch das autonome Eine, sondern organisierte sich im Bereich der Erfahrung durch die Auszeichnung von Rom als bleibendem Zentrum. Hier fehlte die epistemische Differenz zwischen einem unvergänglichen Jenseits des Gedachten und einem vergänglichen Diesseits der Erfahrung. Wenden wir uns mit dieser Vorüberlegung zur Wissensstruktur den Organisationsformen des römischen Wissens zu, so finden wir, dass dort erstens die Repräsentanten des Wissens weder Sänger oder A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
307
Die römische Autorität
Dichter noch Weise, sondern eingesetzte oder gewählte Priester waren, und dass zweitens zumindest vom collegium augurum in der Tat der Gründungsort der res romana als epistemisches Zentrum ausgezeichnet wurde. Soweit sich das Verfahren der Auguren rekonstruieren lässt, ist offenbar vom Capitol als dem Zentrum aus 65 zunächst der Himmel durch Achsenziehung in die vier Himmelsrichtungen geteilt worden, auf der Grundlage dieses Koordinatensystems dann der Vogelflug beobachtet und das Beobachtete nach feststehenden Regeln gedeutet worden. Dieses Beobachtungsverfahren der Auguren, das auspicium, erfolgte nach Abschluss einer verfassungsmäßigen Beschlussfassung der civitas romana und ging der Durchführung des Beschlusses voraus. Es diente offenbar der sanktionierenden Verifizierung bzw. der Unheil abwendenden Falsifizierung des gemeinsam gefassten Beschlusses, so dass es keine Handlung der civitas romana (wie Kriegserklärung, Militäraktion, Friedensschluss) gegeben hat, die nicht durch dieses Beobachtungsverfahren des Augurenkollegiums verifiziert worden war 66. Auch wenn wir die Regeln nicht mehr genau kennen, so ist es doch recht sicher, dass dieses Vorgehen erstens dazu diente, die Zustimmung oder Ablehnung der Schutzgötter Roms zu erkunden 67 , dass zweitens die Regeln, nach denen die Beobachtung des Vogelflugs und dessen Interpretation sich vollzogen, als Einrichtung der maiores, in diesem Falle von Romulus, galten 68 , und dass drittens das Auspicium zu gegebenem Anlass von den Auguren gewissenhaft befolgt und vollzogen wurde. Verstehen wir diese ortsgebundene Tätigkeit der Auguren als Transformation einer kollektiven Meinung in verbindliches Wissen, so bleibt allerdings die uns hier vor allem interessierende Frage ungeklärt, worin die epistemische Qualität dieser Tätigkeit bestand. Diente die beschriebene Beobachtungsmethode der Erkenntnis des Willens der Schutzgötter Roms, die ihren Sitz im Zentrum hatten, Das von Tarquinius Priscus errichtete Templum Capitolinum wurde auch »auguraculum« genannt, weil von dort aus die Auguren den Vogelflug beobachteten. Siehe: Georges 1988, 726. 66 siehe: Cicero, de legibus II, 31. Er nennt die Auspizien und den Senat die »zwei herausragenden Stützen des Staates« (egregia duo firmamentum rei publicae; de re publica, 2, 17). 67 Vgl. Müller 1961, 43. 68 Mommsen 1889, Bd. 1, 87: »… alle Auspizien werden zurückgeführt auf jenes große Zeichen, wodurch die Götter dem Romulus die Ermächtigung gaben, die Stadt zu gründen, das römische Volk zu stiften, und ihm das Königtum desselben übertrugen.« 65
308
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
und bestand Wissen daher in der Übereinstimmung des Beschlusses der civitas romana mit dem Willen der Götter; oder bestand die epistemische Qualität dieses Verfahrens in der Wiederholung der Gründungstat des Romulus, der durch die Einrichtung des Auspiciums die res romana gegründet hatte? Im einen Fall wäre die Instanz, die Wissen begründet, der Götterwille, und die Gewissenhaftigkeit der Augurentätigkeit hätte sich auf die Erkenntnis dieses Willens gerichtet; im anderen Fall wären diese Instanz die maiores, die die Institution des Auspiciums errichtet hatten, und die Gewissenhaftigkeit des Vollzugs hätte die Funktion der Nachahmung dieser Gründungstat 69 . Im einen Fall wäre das Wissen ›religiös‹, im anderen ›politisch-institutionell‹ begründet. Diese Frage wollen wir später wieder aufnehmen. 2.
Zeit als Geschichte
Wenn die maiores als summa auctoritas anzuerkennen heißt, das von ihnen Gegründete, die res romana, als die ›heilige Sache‹ zu wissen, so bildet Rom nicht nur räumlich das sakrale Zentrum der Wissensorganisation, sondern muss auch als diejenige ›Sache‹ vorgestellt werden, die in allem zeitlich Veränderlichen gleichbleibt und dauert. Denn würde, so lässt sich argumentieren, die res romana nicht als die dauerhafte und unvergängliche Sache, sondern als ein kontingentes und vergängliches Gebilde vorgestellt, so läge dieser Vorstellung die sinnliche Erfahrung zugrunde, die zeigt, dass alles Entstandene auch vergeht. Damit aber würde die Erfahrung zur epistemischen Instanz erhoben, nicht aber die maiores als epistemische Autorität anerkannt. Einerseits also die Gründer der res romana als höchste Auto-
Dieser Doppelsinn der Tätigkeit der Auguren, durch Beobachtung Wissen zu erzeugen, und das von den maiores vorgeschriebene Ritual zu vollziehen, kommt in der Etymologiediskussion des Wortes »augur« zum Ausdruck. Einmal wird das Wort von »avis« und »gerere« hergeleitet und damit auf die Art der Tätigkeit, die Beobachtung des Verhaltens der Vögel, abgehoben; das andere Mal wird es mit »auctor« zusammengestellt und damit auf die politische Funktion der Mehrung des Staatswohls durch den Vollzug des Rituals hingewiesen (siehe: Georges 1988, 726; Walde 1972, 83). Diese Kontroverse lässt sich zur Frage zuspitzen: Bedeutet »re-ligio« im römischen Denken die Verbindung mit den Göttern oder die Rückbindung an die Gründer? Wenn das eine das andere auch bedingte, – was aber war das Unbedingte?
69
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
309
Die römische Autorität
rität anzuerkennen, andererseits jedoch das von ihnen Gegründete als eine zeitlich vergängliche Sache zu beurteilen, ist nicht möglich. Der Ort nun, wo diese Vorstellung von Rom als der zeitlich dauerhaften Sache ihren Platz hat, kann unter dieser Bedingung weder ein empirisches Bewusstsein sein, dem alle Vorstellungen als veränderlich erscheinen, noch die Vorstellungswelt des Sängers oder Dichters, der durch seine Tätigkeit einen vorzeitlichen Code vergegenwärtigt; er kann aber auch nicht die ›Seele‹ des Philosophen sein, der sich des zeitlos-ewigen Logos als Grund seiner Vorstellungen vergewissert. Denn die Vorstellung Roms als der dauerhaften Sache ist weder empirischen noch mythischen noch logischen Ursprungs. Wir nehmen daher an, dass dieser der Ort dieser Vorstellung das Denken des »Römers« ist, d. h. desjenigen Subjekts, das mit der Vorstellung der res romana als der zeitlich dauerhaften Sache zugleich deren Gründer als die höchste Autorität anerkennt. Dieser Vorstellung entspricht nun aber, dass der Anfang von allem nicht in eine mythische, vor-zeitliche Ur-Geschichte gelegt oder als zeitlose Ur-Sache gedacht wird, sondern dass in diesem Denken der Ursprung und der Anfang von allem in der Gründung und Erbauung der res romana erkannt wird 70 . In der Vorstellung dieser Sache vergegenwärtigt der Römer diesen Anfang und wieder-holt darin ihre Gründung, so dass sein Handeln auf den Fortbestand der res romana gerichtet ist. Wissen hat daher im römischen Denken weder die Struktur der Vergegenwärtigung eines vorzeitlichen Geschehens noch die der Repräsentation des zeitlos-unveränderlichen Seienden, sondern eines Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifenden Denkens, das in der Einheit von Aneignung des Vergangenen, gegenwärtiger Handlung und antizipierender Sorge auf die res romana als der dauerhaften Sache bezogen ist 71 . Jedenfalls kann uns die Annahme eines solcher Art an die res Siehe: Wendorff 1985, 71. Einen passenden Ausdruck für diese Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt das Wort »traditio« bzw. »tradere«. Ursprünglich bedeutet »tradere« »eine Sache von Hand zu Hand zu übergeben«. Versteht man unter dieser ›Sache‹ die res romana, dann bedeutet »traditio«, dass der Empfänger dieser Sache damit die Verpflichtung übernimmt, sie erstens zu bewahren, von ihr zweitens einen sachgemäßen Gebrauch zu machen und sie drittens weiterzugeben. Hier ist der durchgehende Handlungszweck der Fortbestand dieser Sache. – Plumpe 1935, 69: »Man steht nicht einer rein geschichtlichen Vergangenheit gegenüber, die nur im historischen Bewusstsein existiert, sondern lebt eine von den Vorfahren gelebte Vergangenheit weiter.«
70 71
310
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
romana ›gebundenen‹ Wissens die Ausbildung einer spezifisch römischen Art des historischen Wissens erklären, das schließlich in die Konstruktion einer Geschichte mündete, die weder in die Vergangenheit phantastische Fabeln projiziert noch die Geschichte nur als eine Sammlung vergangener, vormaliger Ereignisse vorstellt, sondern die an der res romana das zeitübergreifende und dauernde Kontinuum, den ›roten Faden‹, hat, an dem einerseits die vergangenen Ereignisse chronologisch und sachgemäß geordnet werden, und dem andererseits diese Darstellung der Geschichte selbst dient. Daher ist, so die Schlussfolgerung, nicht die Mythologie oder Philosophie, sondern diese Art der Geschichtsschreibung die Form, in der das römische, an die res romana gebundene Denken den angemessensten Ausdruck findet. 72 3.
Die Res Romana als »heilige Sache«
Die Annahme eines solch räumlich wie zeitlich ›gebundenen Denkens‹, das »Rom« als den Ort aller Örter und die »res romana« als die dauerhafte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindende Sache auszeichnet, kann nun die Tatsache erklären, dass die römische Kultur nicht nur keinen verbindlichen Mythos hatte und auch keine Philosophie hervorbrachte, sondern sich diesen gegenüber auch als resistent verhielt. Wir benötigen zur Erklärung dieses Tatbestands keine Hypothesen über einen ›Realitäts-‹ oder ›Wirklichkeitssinn‹, der den Römern eignete, oder einen ›nüchternen Verstand‹, der die Vorstellungswelt der Römer beherrschte73, sondern können diesen Mangel durch die Organisationsart des Wissens im römischen Denken selbst, durch die Bindung der Vorstellungswelt an die von den maiores gegründeten res romana, erklären. Denn unter dieser BedinFreilich sind auch hier nicht die Römer, sondern die Griechen die Begründer der Geschichtsschreibung. Doch während Herodot, Thukydides oder Polybios große historische Ereignisse, die Perserkriege, den Peloponnesischen Krieg oder die Punischen Kriege, zum Gegenstand haben und nach deren Ursachen suchen, lässt T. Livius die Geschichte Roms »ab urbe condita« gleichsam selbst sprechen. Sein Interesse an der Geschichte ist nicht darauf gerichtet, über die treibenden Kräfte aufzuklären, sondern – wie schon Cato in seinen »Origines« – durch die Darstellung der Ereignisse und handelnden Personen das Vergangene in der Gegenwart zu erinnern und zu bewahren. 73 Nichtssagend sind jedenfalls ›Erklärungen‹, die die Tatsache der Armut an Phantasie in der römischen Kunst aus der ›Phantasiearmut‹ der Römer erklären. Vgl. dazu Wissowa 1971, 238; auch: Latte 1967, 100. 72
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
311
Die römische Autorität
gung bestand die epistemische Tätigkeit nicht in der Erzählung und Darstellung des Wirkens von Göttern und Heroen und auch nicht in der Anwendung allgemeiner Grundsätze, sondern hatte ihren verbindlichen Inhalt an der res romana, d. h. an den Einrichtungen, Verhaltensmustern und Taten der maiores, die der Römer in seinem Handeln wieder-holend vergegenwärtigte. Über diesen Mangel hinaus kann die Annahme einer solchen Organisation des Wissens auch eine Erklärung für die Tatsachen der Entstehung und der Dauer des Imperii Romani, der römischen ›Weltherrschaft‹, geben. Denn wenn im römischen Denken das unwandelbar ›Heilige‹ die von den maiores gegründete res romana war, und die Bindung an diese Sache das consilium der civitas romana, ihren Diskurs, ihre Beschlüsse und Handlungen, bestimmte, dann bedarf es zur Erklärung des Imperiums keiner volkspsychologischen Hypothese über einen »grenzenlosen Machtwillen«, der die Römer getrieben habe 74, es muss auch keine geschichtsphilosophische ›Vorsehung‹ angenommen, die den römischen Staat zur Weltherrschaft bestimmt habe 75, und keine politisch-normative Theorie über die ›Güte‹ einer gemischten Verfassung, die das Fundament für die ›Größe Roms‹ abgegeben habe 76. Wir können das Imperium aus der Struktur des von uns rekonstruierten ›römischen Denkens‹ selbst erklären: da diesem Denken die Fortdauer der res romana, ihre Bewahrung und Erweiterung, das ›höchste Gute‹ und der Endzweck war, auf den hin die Energien der civitas romana gebündelt und konzentriert waren, und der die partikularen Interessen und die sozialen Konflikte überwölbte, stieg die Stadt Rom – allmählich – zum Zentrum eines Weltreichs auf 77 . vgl. Heinze 1972, 9 ff. – Auch schon Augustinus, de civitate Dei, V, 12. Diesen stoischen Grundsatz von der Macht der »eimarmenh« bzw. des »fatums« verwandte wohl erstmals Polybios zur Erklärung des Aufstiegs Roms. – Vgl. auch Machiavelli 2000, 24. 76 vgl. Montesquieu: »Die Regierungsform Roms war darum so bewunderungswürdig, weil die Verfassung seit der Entstehung Roms entweder durch die besondere Gesinnung des Volkes, das Übergewicht des Senats oder die Autorität bestimmter Magistrate so beschaffen war, dass jeder Missbrauch der Macht immer korrigiert werden konnte.« (o. J., VIII, 71) 77 Diese Struktur römischen Denkens drückt der von Cicero in de re publica (V, 1, 1) zitierte Satz von Q. Ennius treffend aus: »Moribus antiquis res stat Romana virisque.« In diesem Satz sieht Cicero in Kürze ›die Wahrheit‹ zusammengefasst: weder hätten Männer »ein so großes und so weit und breit herrschendes Gemeinwesen« (tanta et tam fuse lateque imperans res publica) gründen und dauerhaft erhalten können, wenn der Staat nicht diese Gesinnung besessen hätte; und er hätte diese Gesinnung nicht 74 75
312
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Auctoritas maiorum
Akzeptieren wir diese Erklärung für die Entstehung und Dauer des Imperii Romani, so kann nun umgekehrt diese historische Tatsache den ›Beweis‹ erbringen, dass im römischen Denken die ›heilige Sache‹, das epistemische Fundament der civitas romana, nicht die Religion, d. h. die Bindung des Denkens und Handelns an den Willen der Götter, war – und daher nicht den Göttern die höchste Autorität zukam –, sondern dass dieses Fundament der Staat, die res romana, war, in der die maiores, deren Urheber und Gründer, als die höchste Autorität anerkannt wurden, so dass die Religion diesem höchsten Zweck diente 78. Nicht der – noch so pünktliche – Glaube an seine besessen, wenn diese hervorragenden Männer (excellentes viri) nicht an »den alten Sitten und den Einrichtungen der Gründer« (veterem mores ac maiorum instituta) festgehalten hätten. Gegenüber einer politologischen lässt sich unsere epistemologische Erklärung so beschreiben: Rom wurde groß, nicht weil es eine gute Verfassung hatte, sondern weil die Römer wussten, dass ihre Verfassung die beste ist. Wird die Erklärung der ›Größe Roms‹ einseitig auf das Institutionelle, die republikanische Staatsform, gelegt, so gerät sie mit der Chronologie in Konflikt: das Imperium Romanum zerfällt dann schon ein Viertel Jahrtausend vor seiner größten Machtfülle und geht schon ein halbes Jahrtausend vor seinem Untergang unter. Zudem steht diese Erklärung im Verdacht, ihr gehe es weniger um die Erklärung der Größe Roms als um die Verklärung der Republik: Der römische Staat zerfiel, weil und als die Republik beseitigt wurde. – Unsere Erklärung ist ›flexibler‹ ; sie erklärt die Größe Roms nicht durch die Struktur einer bestimmten Verfassung, sondern eines bestimmten Denkens: die Bindung an die von den maiores gegründete res romana. Ein solches, auf deren Erhalt und Fortdauer gerichtetes Denken schließt unter Umständen Verfassungsänderungen ein. Caesar, Augustus, Tiberius und die römischen Kaiser gelten nicht als ›Zerstörer der res publica‹, sondern als die ›Bewahrer und Restauratoren der res romana‹. Und der Niedergang des römischen Imperiums setzte ein, als die res romana nicht mehr als die »heilige Sache« gewusst wurde, d. h. als für die Römer andere Existenzweisen denkbar wurden. Dieser Wandel aber war kein einmaliges verfassungsänderndes Ereignis, schon geschah allmählich. 78 Für das Verhältnis der Römer zu den Göttern einerseits und den maiores andererseits sind zwei etwa zeitgleiche Episoden bezeichnend: die Einführung des orientalischen Kybele-Kults in Rom und die schon genannte Verbrennung der Bücher Numas. 204 v. Chr., während des Streits über die Frage, wie der Krieg gegen Hannibal zu beenden sei, empfahlen die Sybillinischen Bücher, zur Befreiung Italiens den Kultstein Kybeles, der kleinasiatischen Göttin, nach Rom zu bringen, was noch im selben Jahr mit großem Pomp vollzogen und mit einem Göttermahl und Spielen gefeiert wurde. 191 erhielt sie auf dem Palatin ihr Heiligtum. (siehe: Livius 1980, XXIX, 14; Seibert 1993, 415 f., 426 f.) Diese staatspolitisch motivierte Toleranz in Religionsfragen kontrastiert mit der Entschiedenheit, mit der der Senat die 181 entdeckten »Bücher Numas« behandelte, die belegten, er sei Schüler Pythagoras’ gewesen. Um diesen ›zersetzenden‹ Gedanken zu beseitigen, ließ der Senat, die Bücher verbrennen. (siehe Livius 1980, XL, 29; Cicero, de re publica II, 15, 28 f.; Augustinus, de civitate Dei, VII, 34) – In »de civitate Dei« II, 12 hält Augustinus den Römern vor, sie hätten es bei Todesstrafe verboten, Menschen den A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
313
Die römische Autorität
Götter hat Rom groß gemacht, sondern die Anerkennung der maiores als summa auctoritas und damit die unbedingte Bindung des Römers an den römischen Staat. So verstanden, gilt das historische Faktum des kontinuierlichen Aufstiegs und der Dauer der Herrschaft Roms als Beleg der Annahme, dass im römischen Denken die summa auctoritas nicht den Göttern oder den Vätern zukam, sondern den maiores als den »auctores imperii Romani conditoresque«, und dass dieser auctoritas wegen die sakralen und öffentlichen Regeln von den Römern durch Generationen gewissenhaft beachtet und vollzogen wurden. 79
Schmähungen der Dichter preiszugeben, aber ihr Vergnügen gehabt, wenn über die Götter gelästert wurde. 79 Der Althistoriker J. Vogt kam in seiner Arbeit über »Römischer Glaube und Römisches Weltreich« zu dem Schluss, dass zwar für alle Gemeinwesen des Altertums gegolten habe, »dass sie ihr Leben mit den Göttern führen«, dass es aber »keine Polis in der antiken Welt (gab), in der die Verehrung des Göttlichen in so umfassender Weise verstaatlicht war« (120) wie in Rom. Er lässt es jedoch offen, wie diese Verstaatlichung der Religion zu verstehen ist. Diente sie der Verehrung des Göttlichen, oder diente umgekehrt diese durch ihre Verrechtlichung dem Staat? Was war Zweck, und was Mittel? Die Philosophen Hegel und Schelling stellen, in seltener Einmütigkeit, fest, dass im römischen Denken der Staat der Zweck war. Hegel fasst den römischen Geist als »Religion der Zweckmäßigkeit«, die die individuelle Vorstellungswelt und ihre sittliche Anordnung ausgerichtet habe für den einen Zweck: den römischen Staat. Nicht um Vernunft, Freiheit oder Glück sei es gegangen – »Der Zweck in dieser Religion der Zweckmäßigkeit ist kein anderer als der römische Staat gewesen, so dass dieser die abstrakte Macht über die anderen Volksgeister ist« (Hegel 1969 ff., Bd. 17, 183). Daher »verehren (die Römer) die Götter, weil und wann sie sie brauchen, besonders in der Not des Kriegs.« (ebd., 175) Und für Schelling ist es »ein erhebendes Schauspiel zu sehen, wie Rom seine Bestimmung erfüllt, die ganze Majestät des Staates zur Erscheinung zu bringen. Denn nie ist der Staat mehr um seiner selbst willen gewollt worden, als in Rom, wo … alles ihm untergeordnet war, selbst das Priesterthum eine Staatswürde, Augur und pontifex maximum obrigkeitliche Personen, die mit diesen Würden Bekleideten Mitglieder des Senats waren« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 543). – Beide stimmen nicht nur in der Beschreibung des Zwecks römischen Denkens überein, sondern auch in der geschichtsphilosophischen Deutung: Für Hegel wurde durch die Macht des ›kalten Verstandes‹ zwar die lebendige Vielfalt der antike Götterwelt vernichtet, zugleich aber auch der Boden bereitet für die »wahrhafte, geistige Religion« (Hegel 1969 ff., Bd. 17, 184). Gleichfalls sieht Schelling diese Staatsvergottung über sich hinaus treiben: der römische Staat sei republikanisch nur der Form nach gewesen, monarchisch aber war »im höchsten Sinne der Geist des Staates selbst«; der Staat konnte nicht »Zweck seyn, ohne vom Gedanken der absoluten Ein-, d. h. der Weltherrschaft erfüllt und getrieben zu seyn«. Dieser Gedanke aber konnte nicht der Staat sein: »Wie die Welt ein Reich geworden war, musste der Beherrscher auch Einer, ja er konnte nur ein Gott, ein Princip seyn, das nicht von dieser, d. h. der römischen Welt war. Durch das dunkle
314
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
IV. Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum Kommen wir nach dem ›Umweg‹ über die auctoritas maiorum wieder zur auctoritas patrum zurück. Wir hatten von jener angenommen, dass sie den »Schlüssel« zum Verständnis dieser bietet und erklärt, warum Menschen den Beschlüssen anderer Menschen freiwillig und dauerhaft folgen. Die Antwort, die wir jetzt darauf geben können, ist einfach: die auctoritas patrum galt als Repräsentant der auctoritas maiorum. Wer auctoritas besaß, vertrat in der Gegenwart diejenige auctoritas, die authentisch den maiores, den Gründern Roms, zukam. Die auctoritas patrum war daher immer eine ›abgeleitete Autorität‹. Die Römer, so unsere Deutung, folgten den Willensbekundungen, den Beschlüssen oder Ratschlägen der patres nicht, weil diese Ansehen oder Einsicht besaßen, sondern weil sie in ihrer Person die auctoritas maiorum repräsentierten. Aus der Annahme des Repräsentationscharakters der auctoritas patrum folgt, dass die jeweiligen Träger die Autorität nicht, wie die maiores, schlechthin besaßen, sondern dass sie zum einen erworben wurde und zum anderen die höchste Autorität vertrat. Daher gehen wir zuerst den Regeln nach, nach denen in Rom die auctoritas patrum erworben wurde, dann der Art und Weise, in der diese repräsentative Autorität der Väter wirkte.
Suchen und Tasten nach diesem Nothwendigen und doch ihr Unmöglichen wurde die römische Welt außer sich gesetzt.« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 544). Diesen Erklärungen des »höchsten Zwecks« entspricht auch unsere Rekonstruktion, die im römischen Denken die »res romana« als die »heilige Sache« annimmt. Ihnen fehlt jedoch die Dimension der auctoritas maiorum. Lässt man diese außer Acht, dann muss das Faktum, dass der Staat um seiner selbst willen gewollt wurde, in der Tat als merkwürdig erscheinen und lässt sich nur erklären, wenn ihm ein anderes, tieferes oder höheres, Motiv zugrundegelegt wird. Dies ist für Hegel und Schelling die – christlicheuropäisch verstandene – heilsgeschichtliche Mission des römischen Reiches. Für uns hingegen ist der Staat zwar ebenfalls der höchste Zweck römischen Denkens, aber das Motiv ist die Anerkennung der maiores als Gründer der res romana. Um dieser Gründung willen ordnete der Römer sein Denken und Handeln dem Staat unter. Was daher für Götter galt, dass sie verehrt wurden, wenn die Römer sie brauchten, galt nicht für die maiores; diese wurden nicht dann und wann, sondern schlechthin verehrt. Wir interpretieren den »römischen Geist« nicht aus späterer Perspektive in Hinblick auf seine ›Aufhebung‹ in eine andere, ›höhere‹ Formation, sondern in Hinblick auf das immanent Dauerhafte dieser Formation. Dieses Dauerhafte erklären wir durch das Autoritätsverhältnis, durch das personale Verhältnis der civitas romana zu ihren Gründern. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
315
Die römische Autorität
A. Der Erwerb von Auctoritas So weit wir die römische Geschichte überblicken, finden sich insgesamt zwei Kriterien, die den Besitz von auctoritas regeln und die ihrerseits der Ordnung der civitas romana entstammen: die Familie 80 und die virtus. Der ersten Regel gemäß war die auctoritas im Besitz der alten Familienhäuser, die ihre Anfänge auf die Gründung Roms zurückführten 81 . Die Repräsentation war hiernach durch die streng geordnete Tradition der Familie vermittelt, so dass dem jeweiligen Haupt der Familie, dem pater familias, neben der potestas in der Familie, die auctoritas im zivilen und politischen Leben, als Beistand bei Rechtsgeschäften und als Mitglied des Senats, zukam. Dieser Anspruch der alten Familien auf die Trägerschaft und den Besitz von auctoritas wurde in aufwendigen Selbstdarstellungsfeiern, den pompa funebris, öffentlich zelebriert. Zum Begräbnis des Familienoberhaupts wurden die bewahrten Totenmasken der maiores, die imagines, zur Schau gestellt und vom Nachfolger, dem filius, wurde in der Totenrede der Ämter und der Taten der Vorfahren erinnert und dadurch der Anspruch auf den Besitz der auctoritas demonstriert. 82 Auch wenn diese Regel der Repräsentation qua Familientradition, die in der frühen Zeit so dominierte, dass keiner auctoritas besitzen Die Bewertung der Familie zeigt wohl am schlagendsten die Differenz zwischen griechischer Philosophie und römischem Denken. Während das griechische Logos-Denken die Institution der Familie als ein Hindernis, ja eine Gefahr für das auf die Vernunft gegründete Leben beurteilt und ihr gegenüber die Polis-Gemeinschaft oder die Freundschaft vorzieht, bildet sie im römischen Denken das Fundament des Staates und den primären Ort der Erziehung. Diese Differenz veranlasste Cicero wiederholt zur scharfen Kritik: Platon sei im »Staat« gestrauchelt, wie sonst niemand geirrt habe, weil er wollte, dass allen alles gehört und auch die Frauen und Kinder gemeinsam seien (de re publica IV, 5, 5). Dies aber sei dem Leben der Menschen und ihren Sitten völlig entrückt (II, 11, 21 f.). Ihm gilt als entscheidender Vorzug der Römer, dass die maiores, neben der Ordnung der res publicae, die »res domesticae et familiares« vorbildlich und besser als die Griechen eingerichtet haben (Tusculanae Disputationes 1, 2). – Vgl. auch: Pöschl 1974, 142 ff. 81 Siehe: Mommsen 1864, 9; Engels 1974, 135 ff. 82 »Für die großen Familien steht im Zentrum der Ahnenverehrung die pompa funebris, Selbstdarstellung des Geschlechts bei der Bestattung eines seiner Mitglieder. Alle großen Amtsträger in der Ahnenreihe des Verstorbenen treten im Trauerzuge auf, durch Sklaven oder Schauspieler vorgestellt, die ihre Masken (imagines) und ihre Amtsinsignien tragen. Die biologische, soziale und politische Tradition der Familie wird bei der Bestattung demonstriert; zusammen mit der laudatio funebris ein Politikum ersten Ranges«. (Gladigow 1980, 128 f.) 80
316
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
konnte, der nicht einer der altrömischen Familien entstammte, im Laufe der Zeit relativiert wurde, so hat sich zumindest der Anspruch der altrömischen Familien auf den Besitz von auctoritas andauernd erhalten. – Die zweite Regelung verknüpfte den Erwerb der auctoritas mit der »virtus«. Hier begründete das persönliche Verdienst, das der einzelne in den öffentlichen Ämtern durch seinen Gebrauch der Amtsgewalt für die Erhaltung und die Erweiterung der res romana erbracht hatte, den Anspruch auf den Besitz der auctoritas. Ursprünglich auf die alten Familien beschränkt, wurde dieses Erwerbskriterium verselbständigt und damit die soziale Trägerschaft erweitert. 83 Dementsprechend erfuhr auch der Ausdruck »auctoritas patrum« eine Veränderung: hatte »pater« anfangs die enge biologisch-familiale Bedeutung, wurde er später zu einem Titel, der durch die Verdienste um den römischen Staat erworben und vom Senat verliehen wurde. Interpretieren wir nun diese beiden Erwerbsregeln als Arten der Repräsentation der auctoritas maiorum, so ist diese zum einen an die institutionalisierte Struktur der familialen Sukzession und zum anderen an die ethisch-praktische Norm der Nachahmung der maiores (imitari maiorum) geknüpft. Wer, so lässt sich diese Regelung paraphrasieren, durch seine familiäre Herkunft und/oder durch sein politisch-praktisches Handeln sich als würdig erwies, die auctoritas maiorum zu repräsentieren, dem wurde die auctoritas patrum öffentlich zuerkannt. In dieser Funktion vergegenwärtigte er in der civitas romana die Autorität der Gründer Roms. 84 Zum sozialpolitischen Problem der Erweiterung siehe: Vogt 1926; Hill 1952. – Zum historischen Anlass siehe: Seibert 1993, 211. 84 Die Tragfähigkeit dieses Erklärungsmodells der auctoritas lässt sich an der Person Oktavians, dem Gründer des römischen Prinzipats, prüfen. Lange Zeit dominierte in der Geschichtswissenschaft die Auffassung, Oktavian habe die republikanische Verfassung zugunsten einer monarchisch verfassten Militärdiktatur abgeschafft (so schon Montesquieu, o. J., Kap. XIII). Es wurde kontrovers debattiert, ob dieser Vorgang als Beseitigung der elementaren Freiheitsrechte des römischen Bürgers oder als notwendiger, den Bedingungen des Imperiums angemessener Schritt zu beurteilen sei. Diese Diskussionslage änderte sich, als man näher darauf einging, dass Oktavian in den »res gestae« seine Machtstellung explizit auf seine auctoritas gestützt hatte (»… auctoritate omnibus praestiti«; Heinze 1972, 43 f.). Diese Begründung zwang, die Herrschaftsform des Prinzipats differenzierter zu betrachten, und hat seither zu einer Neubewertung des römischen Prinzipats geführt. Es wird gefragt, ob es als »ein verdecktes Machtsystem« (Christ 1993, 464) zu verstehen sei, oder ob mit Oktavians auctoritas »eine der wesentlichen Grundlagen des Prinzipats« (Rabe 1972, 10) beschrieben wird. Nach unserem Repräsentationsmodell jedenfalls vereinigte Oktavian in seiner Person die Kriterien 83
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
317
Die römische Autorität
B.
Die Funktion der Stellvertretung
Um die Wirkungsweise dieser repräsentativen und abgeleiteten Autorität näher beschreiben zu können, wollen wir auf unsere anfängliche Definition der auctoritas patrum zurückkommen, ihre Fähigkeit, ohne Zwang Verbindlichkeit zu bewirken. Diese Definition können wir jetzt konkretisieren. Gehen wir vom repräsentativen Charakter der auctoritas patrum aus, so kann die Verbindlichkeit, die sie bewirkt, nur auf die res romana bezogen sein und daher nur für den Römer gelten. Denn wenn sie die summa auctoritas repräsentiert, diese aber den maiores als den Gründern der res romana zukommt, dann vertritt sie gegenüber der civitas romana, der römischen Bürgerschaft, dieses Gründungswerk der maiores. In dieser Funktion der Stellvertretung vermittelt die auctoritas patrum gleichsam zwischen den je aktuellen Beschlüssen und Handlungen der civitas romana einerseits und der dauerhaften res romana andererseits, indem durch ihr Wirken die je aktuellen Angelegenheiten der res romana eingegliedert und damit deren Fortbestand gesichert wird. Die auctoritas patrum, so können wir unsere Definition einschränkend konkretisieren, bewirkt Verbindlichkeit nicht schlechthin, sondern vertritt in der civitas romana die gemeinsame, von den maiores gegründete Sache, und stellt in Bezug auf diese Sache Verbindlichkeit her. Ihrer Wirksamkeit liegt das gemeinschaftliche Interesse der civitas romana an der Fortdauer der res romana zugrunde, die durch ihr Wirken garantiert wird. Sie der auctoritas in idealer Weise: er gehörte durch Adoption Caesars der altrömischen Familie der Julier an und erfüllte damit eines der Kriterien, auctoritas zu besitzen; und er erwarb sich durch die umsichtige Art der Beendigung des Bürgerkriegs das Verdienst, auctoritas zu besitzen. Wenn Oktavian in seinen »res gestae« nun schreibt, er habe andere nicht an potestas, aber an auctoritas übertroffen, so lässt sich diese Aussage in unserem Erklärungskontext problemlos deuten: er verweist damit auf die erfolgreiche Durchführung seines Programms der restitutio rei publicae romanae. Demnach war sein politisches Handeln nicht auf die Neuverfassung des römischen Staates gerichtet, sondern auf die Wieder-holung und Wiederherstellung derjenigen res romana, die die maiores gegründet hatten und im Bürgerkrieg verlorenzugehen drohte. Er konnte daher sagen, dass er die auctoritas im höchsten Maß besaß, weil sein Handeln das Gründungswerk der maiores repräsentierte. (Vgl. auch: Fueyo 1968, 219 ff.; Ottmann 2002, 156 ff.) Diese Deutung des Prinzipats stellt nicht das Neue dieser Herrschaftsform in Abrede; sie richtet sich jedoch nicht primär auf die staatsrechtlichen Unterschiede zwischen Republik und Prinzipat, sondern auf die Kontinuität des römischen Imperiums, das durch ein auf die Erhaltung der res romana gerichtetes Handeln erklärt wird.
318
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
wirkt, weil sie von den Römern zwanglos anerkannt wird; und sie wird zwanglos anerkannt, weil der gemeinsame Zweck, die Erhaltung der res romana, als die Bedingung der eigenen Existenz gilt. Auf der Grundlage dieser Deutung der auctoritas patrum als Funktion der Stellvertretung lassen sich nun auch ihre eingangs beschriebenen Wirkungsweisen zwanglos erklären: Auf dem Gebiet des zivilen Rechts war die Zustimmung einer Person eigenen Rechts bei der Besitzübertragung nicht deshalb erforderlich, weil nur sie wusste, dass sie Eigentümer ist; denn dies begründet keine auctoritas. Vielmehr war ihre Zustimmung erforderlich, um die privaten Rechtsgeschäfte als in Einklang mit der öffentlichen Sache, der res publica, stehend gutzuheißen und sie dadurch verbindlich zu machen 85 . Diesen Akt der Integration der privaten Geschäfte in die gemeinsam-öffentliche Sache aber konnte nur vollziehen, wer in seiner Person die auctoritas maiorum repräsentierte. Zu diesem Akt genügte unter Umständen die bloße Anwesenheit, und die auctoritas wirkte hier allein durch die Person, d. h. durch die bloße Gegenwart ihres Trägers. Der Begriff der Stellvertretung vermag auch jene ›okkulte Qualität‹ der gewaltfreien Macht erklären, die der römische Senat ausübte. Denn danach basierte seine Macht weder auf versteckten noch offenen Sanktionsmitteln, sondern auf jener repräsentativen Funktion. Im Rahmen der römischen Verfassung hatte das Volk bzw. die Volksversammlung das Legislativrecht (nicht jedoch das Recht der Gesetzesvorlage) und konnte durch die Volksbeschlüsse dem Magistrat Vorschriften erteilen bzw. dessen Macht beschränken; der Magistrat hingegen hatte das Exekutivrecht und konnte daher in Ausübung dieses Rechts die Bürger mittels Gewalt zum Gehorsam und zur Folgeleistung zwingen. Die libertas des römischen Bürgers und potestas des Magistrats waren gegeneinander gerichtet und schränkten sich gegenseitig ein. Im Gegensatz zu diesen beiden politischen Instanzen hatte der Senat keine solch einschränkende Gewalt, sondern die Funktion, gegenüber diesen Instanzen die res romana als die gemeinsame Sache zu repräsentieren. Die Handlungen des Senats hatten Zum Verhältnis von privatem Eigentum und öffentlicher Sache in Rom bemerkt K. Marx: »Das Individuum ist placed in such conditions of gaining his life as to make not the acquiring of wealth his object, but self-sustainance, its own reproduction as a member of the community; the reproduction of himself as proprietor of the parcel of ground and, in that quality, as a member of the commune … Das Eigentum ist quiritorium, römisches, der Privateigentümer ist solcher nur als Römer, aber als Römer ist er Privateigentümer.« (Marx o. J., 380; H. v. m.)
85
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
319
Die römische Autorität
daher einen anderen Gegenstand. Er war selbst nicht initiativ, weder gesetzgebend wie das Volk noch befehlend wie der Magistrat, sondern stellte die Verbindlichkeit her, indem, nach Beratung, durch seine Beschlüsse die je gegenwärtigen Initiativen der beiden Gewalten zur öffentlichen und gemeinsamen Sache der civitas romana wurden. Die »auctoritas senatus« verlieh diesen Initiativen gleichsam stellvertretend die Zustimmung der maiores, durch die erst die jeweilige Sache zum Bestandteil der gemeinsamen Sache, der res romana, wurde und dieser dadurch Dauer und Beständigkeit verlieh 86 . – Dieser Repräsentativfunktion wegen mussten, nach unserer Erklärung, die Beschlüsse des Senats, die consulta senatus, die Form des bloßen Ratschlags haben; denn durch sie wurde nicht – wie durch die Magistrats- oder Volksbeschlüsse – die Freiheit anderer beschränkt, sondern im Gegenteil die gemeinschaftsbildende ›Kraft‹, die den maiores zuerkannt wurde, vergegenwärtigt. Der Senatsbeschluss spaltete nicht, sondern einte. Ihm nicht zu folgen, hätte daher für den Magistrat und für das Volk keine strafrechtliche Folgen gehabt; aber der Handelnde, dessen Handlung nicht »in auctoritate patrum« gestanden hätte, hätte sich außerhalb der gemeinsamen römischen Sache gestellt. Wenn es also eine historische Tatsache ist, dass die auctoritas patrum nicht versagt hat, dann ist diese Tatsache ein Beweis für die Erklärung, dass im römischen Denken dem Römer eine Existenz außerhalb der res romana nicht vorstellbar war, oder, was dasselbe ist, dass die maiores als die Gründer dieser Sache schlicht als die höchste Autorität anerkannt wurden. Diese Funktion des Senats, in den politischen Aktionen die gemeinsame Sache der Römer zu vergegenwärtigen, erklärt, warum es zur Befolgung der Beschlüsse des Senats keiner Sanktionen bedurfte, der Senat also ohne Zwang Verbindlichkeit bewirkte. Schließlich erklärt dieser Repräsentationscharakter der auctoritas patrum auch die individuelle auctoritas. Ihr Besitz ist weder als Folge einer höheren Einsicht noch eines hohen sozialen Ansehens zu verstehen; diese mögen zum Erwerb beigetragen haben, begründen aber keine auctoritas. Vielmehr wurde umgekehrt dem Träger von auctoritas höhere Einsicht und Ansehen zugeschrieben, weil er geVgl. Meyer 1975, 250: »… So war der Senat gegenüber den jährlich wechselnden Magistraten der feste und dauernde Kern des Staates, der Hort der Regierungserfahrung und der Staatsgrundsätze, das Element, das der Politik Roms ihre Stetigkeit und Festigkeit verlieh.«
86
320
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
genüber anderen die gemeinsame Sache der Römer repräsentierte. Den Rat einer solchen Person begehrten daher die römischen Bürgern nicht aufgrund eines vermeintlichen »Instinkts der Unterordnung«, sondern weil durch ihre Zustimmung garantiert war, dass die jeweiligen res domesticae et familiaris in Übereinstimmung mit der res publica standen. – Die oben zitierten Berichte Ciceros über Paulus, Scipio und Maximus, deren auctoritas sich nicht nur in der Rede, sondern auch im Nicken geäußert habe, und über M. Aemilius Scaurus, der den Erdkreis mit einem ›Wink‹ regiert habe, weisen darauf hin, dass die Wirkungsweise der auctoritas nicht wesentlich diskursiv war, sondern auf den Träger bezogen war, der in seiner Person und durch seine Person die gemeinsame Sache repräsentierte. Sie gründete weder auf der Macht des ›guten Arguments‹ noch auf der Kunst der Überredung, sondern äußerte sich durch die bloße Zustimmung oder Ablehnung 87 . – Und wenn schließlich dem Römer, wie H. Arendt hat, gestützt auf Th. Mommsens Untersuchungen des römischen Staatsrechts, eine überzeugende Parallele zwischen der Wirksamkeit von Autorität und dem römischen Götterglauben hergestellt: So wie im Politischen die Autorität nicht befiehlt oder anleitet, sondern billigt oder missbilligt, so entspricht der »bindenden Kraft dieser Autorität im Politischen … die bindende Kraft der Auspizien, die sich von den griechischen Orakeln dadurch unterscheidet, dass sie nicht den Gang zukünftiger Ereignisse andeuten, sondern nur enthüllen, ob die von den Menschen getroffenen Entscheidungen auf göttliche Billigung oder Missbilligung, auf das zustimmende Nicken der Götter, rechnen können … (Diese) bestätigen menschliches Handeln, sie leiten es nicht.« (Arendt 1957, 155). Dem »Nicken« der Autorität entspricht das »Nicken« der Götter. Von beidem, der bindenden Kraft der Autorität und dem römischen Götterglauben, schreibt Arendt, »dass sie der gleichen Quelle entspringen, dass sie beide durch die Gründung der Stadt gestiftet wurden … Dies ist das Fundament aller, der politischen wie der religiösen Autorität« (ebd.). In dieser Engführung von Politik und Religion liegt die Möglichkeit der ›Vergottung‹. Zunächst auf die römische Familie beschränkt, die ihre maiores als »göttliche Manen« verehrte (vgl. Gladigow 1980, 119–133), wurde dieser Kult mit der Umwandlung des römischen Staates zum Prinzipat auch auf das Oberhaupt des Staates übertragen. Vorgedacht von Cicero in »Scipios Traum«, der dem römischen Staatsmann als schönsten Lohn einen Platz »im Himmel« zuweist (de re publica VI, 13, 13), erhob als erster Oktavian Caesar in die Reihe der Staatsgötter, erlaubte für sich selbst aber nur die öffentliche Verehrung seines ›Genius‹, ließ sich jedoch von Vergil als »Gott unter Göttern« (Georgica I, 24/25) und verheißener »Sproß des Göttlichen« (Divi genus; Aeneis VI, 791–793) feiern. Auch wenn im spätrömischen Kaiserkult dann verschiedene Götter- und Herrschervorstellungen zusammenflossen, so blieb der Autoritätsbegriff doch die spezifisch römische Legitimationsbasis des Kaisertums: der »Augustus divus« vergegenwärtigte in seiner Person die dem römischen Denken ›heilige Sache‹. – Zur möglichen Übernahme von Ciceros Idee durch Oktavian siehe: Reitzenstein 1917, 398–436, 481–498.
87
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
321
Die römische Autorität
Cicero sagt, der Besitz von auctoritas als der »apex senectutis« galt, dann findet dies Ziel in unserem Kontext seine Erklärung ebenfalls nicht darin, dass mit dem Alter eben Erfahrung und Weisheit oder Ansehen und Würde verbunden sind, sondern dass, wie H. Arendt treffend schreibt, die Alten »den Ahnen näher gerückt waren und in der Gegenwart die Vergangenheit lebendig darstellten« (Arendt 1957, 156).
C. Die Auctoritas als »Mehrung« Unsere Erklärung der auctoritas patrum als Repräsentation der auctoritas maiorum gestattet schließlich auch eine plausible Erklärung der Etymologie des Wortes »auctoritas« und, damit verbunden, eine Ergänzung unserer bisherigen Ausführungen. »auctoritas« enthält als Wortstamm die Silbe »aug-«, die eine Tätigkeit des »Mehrens« oder des »Wachsenlassens« bezeichnet; und das Wort bedeutet in diesem etymologischen Sinne die Fähigkeit oder das Vermögen von Personen, durch das eine Mehrung oder ein Wachstum bewirkt wird. Deuten wir nun als den Gegenstand, der dadurch gemehrt wird, das »zu Mehrende« oder »Gemehrte«, nicht als die Natur, wie in einem vielleicht vormaligen Fruchtbarkeitsritual, sondern, nach dem römischen Wortgebrauch, als die res romana, die »römische Sache«, dann bezeichnet das Wort »auctoritas« offenbar die Fähigkeit von Personen, die res romana zu mehren. Aufgrund dieser Wortbedeutung können wir dann eine Reihe anderer Deutungen ausschließen: »auctoritas« bezeichnet dann weder eine soziale Eigenschaft, wie die Würde oder das Ansehen, noch ein epistemisches Vermögen, wie die Kenntnis oder Einsicht, da in beiden Fällen nichts gemehrt wird. Weiterhin lässt sich aufgrund dieser Wortbedeutung ausschließen, dass »auctoritas« im römischen Wortgebrauch die Fähigkeit zur Stiftung eines Gemeinwesens bezeichnet; denn auch in diesem Falle würde nichts gemehrt, sondern eine nicht vorhandene Sache neu gegründet. Insofern entspricht es also der Wortbedeutung, die Fähigkeit auf die schon vorhandene Sache zu beziehen, die res romana, die durch sie gemehrt wird. Und schließlich können wir ausschließen, dass durch den Gebrauch dieser Fähigkeit eine Verbesserung der vorhandenen Sache bewirkt wird; denn einer solchen Wortbedeutung läge die Vorstellung zugrunde, dass die zu mehrende Sache unvollkommen wäre und durch das Wirken der 322
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
auctoritas in einen vollkommeneren Zustand gebracht würde. Auf einen solchen Gebrauch aber passt das Wort »mehren« nicht. Nach seiner etymologischen Bedeutung bezeichnet also »auctoritas« das Vermögen, die res romana zu mehren; und der Ausdruck »auctoritas patrum« das Vermögen der Väter, diese vorhandene Sache zu mehren. Vergleichen wir nun diese etymologische Wortbedeutung mit unseren bisherigen Ausführungen zur auctoritas patrum, so müssen wir sie offensichtlich in einem wesentlichen Punkt ergänzen. Denn bislang haben wir ihre Wirksamkeit nur damit beschrieben, dass sie in den aktuellen, öffentlichen und privaten, Angelegenheiten die Übereinstimmung mit der res romana herstellt und dadurch die Kontinuität und Fortdauer der vorhandenen res romana bewirkt. So aber wäre nur die Bewahrung und Erhaltung der res romana, nicht aber ihre Mehrung das, was Autorität bewirkt. Um also der Wortbedeutung des Mehrens zu entsprechen, müssen wir den Begriff der Repräsentation offenbar erweitern: zum einen die Bewahrung der res romana als der vorhandenen, von den maiores gegründeten Sache; zum anderen aber auch die schöpferische Nachahmung der maiores. Dem Wortsinn des Mehrens nach schließt es offenbar die Funktion der auctoritas patrum, die je aktuellen Angelegenheiten an die instituta maiorum zurückzubinden und damit deren Fortdauer zu garantieren, nicht aus, die Institutionen und Sitten, am Vorbild der maiores, den je neuen Umständen erneuernd anzupassen. Verstehen wir also unter auctoritas diesen doppelten Aspekt des Bewahrens der res romana und ihres Erneuerns, so ist sie die den römischen patres zugesprochene Fähigkeit, durch die Eingliederung der je aktuellen Angelegenheiten in die res publica die gemeinsame Sache, die res romana, nicht nur zu bewahren, sondern diese auch durch ihre Erneuerung den sich ändernden Umständen anzupassen 88 . Die auctoritas patrum wirkt, so können wir zusammenfassend sagen, als ›bewahrende Erneuerung‹ der von den maiores gegründeten res romana. Dieser Doppelaspekt des Mehrens, des Bewahrens und ErneuDieser Doppelaspekt des Bewahrens und Erneuerns entspricht den zwei Erklärungen, die Cicero für die Überlegenheit »unseres Gemeinwesens« gibt: es sei zum einen nicht durch das Ingenium eines einzelnen oder in einer Generation, sondern in einer Reihe von Generationen erbaut worden (de re publica II, 1, 2); zum anderen aber resultiere diese Überlegenheit daraus, dass vieles, was anderswoher genommen wurde, in Rom besser gemacht worden sei (ebd. II, 16, 30; auch Tusculanae disputationes I, 1).
88
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
323
Die römische Autorität
erns, macht in historischer Sicht nicht nur die Tatsache der sukzessiven und allmählichen Erweiterung der res romana von der urbs zum Imperium Romanum verständlich, sondern gibt auch einen Erklärungsrahmen für die verfassungspolitischen Krisen des römischen Staates. Diese lassen sich so als Autoritätskrisen rekonstruieren, in denen diese beiden Aspekte der Repräsentation der auctoritas maiorum zu gegensätzlichen Parteien (partes) wurden: Auf der einen Seite bildete sich im römischen Staatswesen das politische Lager heraus, das in der auctoritas patrum die Fähigkeit zur Bewahrung der instituta maiorum sah; auf der anderen Seite entstand das Lager, das unter der auctoritas patrum die Fähigkeit der Erneuerung der res publica verstand. Die Gewaltsamkeit der inneren Konflikte des römischen Staates lassen sich so in ihrem Kern auf die wechselseitige Monopolisierung des einen der beiden Aspekte zurückführen: Da jedes Lager sich selbst als Repräsentant der auctoritas maiorum und als Garant der res romana verstand, galten die Handlungen der anderen Partei als Ausdruck partikularer Interessen, die die res romana, die gemeinsame Sache, gefährdeten oder zerstörten. 89 Durch diese Gegensätzlichkeit der Autorität aber verschwand die Autorität selbst; sie verlor dadurch das Vermögen, gegenüber den gegensätzlichen Lagern die gemeinsame Sache zu repräsentieren. Das schließlich errichtete Prinzipat lässt sich so als Überwindung der Staatskrise durch die Wiederherstellung der Autorität beschreiben: Octavian gründete nicht nur die neue Herrschaftsform explizit auf seine auctoritas, sondern vereinte in seiner Person auch die beiden Aspekte wieder: er repräsentierte die auctoritas maiorum, weil er durch die Erneuerung der Institutionen zugleich die gemeinsame Sache bewahrte. 90 Für diese restitutio res romanae erhielt er Seit den Gracchen war es der Standardvorwurf der Popularen, dass die gegnerische Partei sich den notwendigen Reformen, insbesondere der Agrargesetze, widersetze und durch ihre Standesinteressen das Wohl des Staates zerstöre. Umgekehrt lautete der Standardvorwurf der Optimaten, die gegnerische Partei strebe, vom Ruhm getrieben, nach der Alleinherrschaft und zerstöre die res publica. – Vgl. dazu: Meyer 1975, 247 ff.; Fuhrmann 1991, 186–307. 90 Siehe dazu die erhellenden Ausführungen E. Meyers: »Augustus selber hat seine Stellung im neuen römischen Staat in autoritativer Weise in dem berühmten Satz des 34. Kapitels seines Tatenberichts umschrieben, in dem er sagt, er habe an auctoritas alle anderen überragt, aber an Amtsbefugnis nicht mehr besessen als auch seine Kollegen im Amt. An diesen Satz haben auch wir uns zu halten. Es ist unmöglich, dass der Kaiser an so hervorragender Stelle in einem Dokument, in dem jedes einzelne Wort aufs sorgfältigste überlegt ist, eine Behauptung aufstellen konnte, die von den Zeitgenossen als 89
324
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die auctoritas patrum: Repräsentation der Auctoritas maiorum
vom Senat den Titel des »augustus«, des »Mehrer des Reiches«, – den der römische Kaiser bis 1453 bzw. 1806 bzw. 1917 innehatte.
krasser Widerspruch zu den Tatsachen oder schamlose Heuchelei empfunden werden musste. Was heißt es also, wenn Augustus selber den altrömischen Begriff der auctoritas als das einzig wesentliche Fundament seiner gesamten Stellung hinstellt? … In seinem Zurückgreifen auf diesen eminent römischen Begriff der auctoritas erklärte Augustus zugleich, dass die Freiheit des römischen Staates und Volkes durch die neue Institution des Kaisertums nicht berührt sein sollte. Das war die römische Lösung der unvermeidlich gewordenen Monarchie, dass sie nicht als Aufhebung, sondern als Ergänzung der römischen Freiheit proklamiert wurde, als ›Principat‹, als die Führung des Staates durch seinen ersten Bürger. So wurde römische Tradition und römisches Staatsgefühl so weitgehend geschont und berücksichtigt, dass der augusteischen Lösung dieser Frage im Gegensatz zu der rücksichtslosen Caesars eine wirkliche Dauer beschieden war. So wurde erst Augustus und nicht bereits Caesar der wahre Begründer des römischen Kaiserreiches.« (Meyer 1975, 361, 365 f.) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
325
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
III Der dreieinige Gott
Einleitung Nach unserer Rekonstruktion der griechischen Philosophie anhand der Idee der Autonomie und des römischen Denkens anhand des Begriffs der Autorität behandelt der folgende Teil die Formierung der Grundlagen des europäischen Denkens. Diese Formierung geschah durch das Christentum, so dass in epistemischer Hinsicht der Glaube an Jesus Christus bzw. das christliche Glaubensbekenntnis gleichsam das ›Nadelöhr‹ war, das das Denken auf dem Weg von der mediterranen Antike zum europäischen Mittelalter passierte. Der christlich bekannte dreieinige Gott wurde zum verbindlichen Code, der der Formierung des europäisch-abendländischen Diskurses zugrundelag und der die Ausgestaltung des Wissens in den Wissenschaften leitete. 1 Unsere Rekonstruktion dieser Grundlagen geht von zwei Thesen aus. Die erste These ist, dass das europäisch-abendländische Denken aus einer eigentümlichen Verbindung des christlichen Glaubens mit dem griechischen Prinzip der Autonomie und dem römischen Prinzip der Autorität entstanden ist. Der Glaube an Jesus Christus als den Sohn Gottes hat in der Konfrontation mit dem griechischen Autonomieprinzip seine Epistemologie gefunden: die Begrifflichkeit, in der der Glaube ausgedrückt wird, die Begründungsstruktur des Glaubens und des Geglaubten sowie den Wahrheitsanspruch des Glaubensinhaltes. Dieser Annahme entspricht, was – ablehnend oder zustimmend – als »Hellenisierung des Christentums« bezeichnet worden ist. In der Auseinandersetzung und mit der Aneignung des römischen Autoritätsprinzips hingegen hat der christliche Glaube seine praktische Verbindlichkeit gefunden: die Katholizität und die Vgl. Schulze 2000, 4: »Europa, das ist jener Teil des zerfallenden Römischen Reichs, der christlich geworden ist und sich dem römischen Papst als geistlichem Haupt unterstellt hat, in erster Linie Italien und Gallien. So kommt die Idee von Europa als christlichem Abendland ins Spiel.«
1
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
327
Der dreieinige Gott
Dauerhaftigkeit des Glaubens sowie die zeitüberdauernde Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Institutionen. Dem entspricht, was man als »Romanisierung des Christentums« bezeichnen kann. Diese These lässt sich in der Form des Satzes ausdrücken: »Jesus Christus est veritas et auctoritas«. In diesem Satz sind die drei genannten Elemente verbunden: der Glaube, dass ein gewisser Mensch, Jesus von Nazareth, zugleich die ›Wahrheit‹ ist, die im Sinne des griechischen Logos-Wissens, und die Autorität, die im Sinne des römischen Denkens als Urheberschaft der christlichen Sache gedeutet wurde. Der Satz verbindet in epistemischer Hinsicht drei Prinzipien: das christliche Prinzip des Glaubens, das griechische Prinzip des Logos-Wissens und das römische Prinzip der Anerkennung von Autoritäten. Dem gemäß stellt sich uns die Aufgabe, wie diese drei heterogenen Prinzipien überhaupt als verbunden gedacht werden können. Dazu soll zuerst auf die »regula fidei« eingegangen werden, nach der der christliche Glaube rechtmäßig bekannt wird; daraufhin wird die Diskussion um die Trinität und damit um die kategoriale Beschreibung des Geglaubten dargestellt, die mit der sogenannten Homousieformel endete; und schließlich wird der Übertragung des Autoritätsbegriffs ins Selbstverständnis des römisch-lateinischen Christentums nachgegangen. Die zweite These, der im Anschluss nachgegangen wird, ist, dass die Vereinigung dieser drei Elemente zu einem verbindlichen Code durch Aurelius Augustinus geschah. Augustin stand nicht nur aus historischer Sicht an der Schwelle zwischen antiker Tradition und christlichem Mittelalter und wurde nicht nur zu dem Kirchenlehrer des Abendlandes, sondern trug auch biographisch die Konflikte zwischen christlichem Glauben, griechischer Bildung und römischer Tradition aus und verarbeitete diese Gegensätze und Widersprüche wie kein anderer. Im Zentrum seines Nachdenkens stand zeitlebens das Verhältnis zwischen griechischer Vernunft und römischer Autorität, zwischen der Begründung des christlichen Glaubens mit den Mitteln der rationalen Einsicht und der Anerkennung der Autoritäten, der Kirche, der biblischen Schriften und Gottes. Dementsprechend werden wir erst darstellen, wie Augustin Vernunft und Autorität in erkenntnistheoretischer Hinsicht als die beiden ›Kräfte‹ konzipiert hat, die zur Erkenntnis des Göttlichen führen. Für unsere Rekonstruktionsabsicht wesentlich ist jedoch, dass Augustin in seiner Lehre vom Göttlichen die Vereinigung der beiden Prinzipien, der ratio und der auctoritas, vollzogen hat. Das untrennbare »Zusammen« von Vater 328
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
und Sohn, das Augustin begründete, bildete den Ausgangspunkt, der das lateinisch-westliche Denken vom griechisch-östlichen Denken trennen sollte. Dessen Rekonstruktion geschieht anhand der Formel »una essentia – tres personae«, die zunächst hinsichtlich des Verhältnisses von Vater und Sohn, dann des Heiligen Geists dargestellt wird.
I.
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
Der folgende Abschnitt vollzieht die epistemische Grundstruktur des christlichen Glaubens anhand eines Drei-Stufen-Modells nach. Dieser Zugang bedeutet, dass es nicht um die historischen Gehalte, den Sinn oder die Erkenntnisqualität des christlichen Glaubens gehen wird. Dies sind Themen der Geschichtswissenschaften, der Geschichtsphilosophie oder -theologie bzw. der Erkenntnistheorie. Auch wird nicht versucht, die Vielfalt der Glaubensauslegungen, der Diskussionen und Kontroversen nachzuzeichnen, die mit der Verbreitung des Christentums bis zur Zeit Augustins stattfanden. Dies sind Aufgaben der Religions- bzw. Kirchengeschichte. Stattdessen werden wir uns auf die Grundstruktur des christlichen Glaubens konzentrieren und deren wesentliche Änderungen anhand des Anfangs, der Glaubensregel und der Trinitätsdiskussion nachzeichnen.
A. Die Glaubensgewissheit Was »christlicher Glaube« genannt wird, lässt sich so definieren: Christ ist, wer weiß, dass Jesus Christus ist. 2 In diesem Wissen sind zwei heterogene Vorstellungen vereinigt: die des historischen Menschen Jesus von Nazareth und die des Christus, des erhofften und erwarteten Sohns Gottes. Im Wissen vom Einssein von Jesus und Christus drückt sich der christliche Glaube aus 3. Fragt man nach der Ursache dieses Glaubens, nach dem also, was Paulus, 1. Korinther 1, 23: »Wir aber verkünden Christus den Gekreuzigten; den Juden Lästerung, den Heiden Unsinn.« (hmei@ de khrussomen Criston estaurwmenon, Ioudaioi@ men skandalon ejnesin de mwrian.) 3 Vgl. H. Gollwitzer 1960, 110: »Der christliche Glaube ist wirklicher Glaube an einen wirklichen, historischen Menschen: Jesus Christus. a) Er ist wirklicher Glaube; d. h., er stellt die ganze Existenz auf Jesus Christus als auf 2
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
329
Der dreieinige Gott
das Wissen vom Einssein von Jesus und Christus anfänglich bewirkt hat, so wird im Neuen Testament die sinnliche Wahrnehmung des auferstandenen Jesu genannt. Im Markus-Evangelium wird das Sehen des Jesus durch Maria Magdalena und die Jünger als diejenige Instanz angeführt, die bewirkt hat, dass sie wissen, dass Jesus Christus ist. 4 Sie gelten als die unmittelbaren Zeugen der Wiederauferstehung Jesu 5 und insofern als die »ersten Christen« 6 . – Analysiert man diese neue Art des Wissens, so wird darin auf der einen Seite die Erfahrung der leiblichen Wiederauferstehung Jesu durch die Annahme erklärt, dass dieser Jesus der Christus, der Sohn Gottes, sei; und auf der anderen Seite findet die Annahme vom Einssein von Jesus und Christus in der Wahrnehmung des wiederauferstandenen Jesus ihre Bestätigung. Der Gedanke des Einsseins von Jesus und Christus und die Wahrnehmung des auferstandenen Jesus bedingen und ergänzen einander und konstituieren das Wissen, dass Jesus der Christus ist. 7 den Weg, die Wahrheit und das Leben; er steht zu Jesus Christus so, wie man nur zu Gott stehen kann. b) Er meint damit aber den wirklichen historischen Menschen Jesus von Nazareth.« 4 Siehe: Markus 16, 9–14. (In Nestle-Aland 1986 sind die Verse 9–20 in Klammern gesetzt; sie werden als möglicherweise unecht angesehen.); Matthäus 28; Lukas 24; Johannes 20, 11–18. – Die Geschichte vom »ungläubigen Thomas« (Johannes 20, 24–29) ergänzt das Sehen um das Tasten als Verifikationsinstanz. 5 Lukas 24, 48: »… und seid des alles Zeugen«. – Auch Lukas 21, 13; Johannes 15, 27. 6 Auf diesen Anfang des christlichen Glaubens ist ein mangelndes Interesse der frühen Christen am Leben und an der Lehre Jesu zurückgeführt worden: »Den Anfang der Christentümer bilden die österlichen Erscheinungen Jesu … Dabei wurden die Erscheinungen des Auferstandenen als Deutung seines Todes interpretiert, nicht etwa als Deutung der Worte und seiner Lehre. Von der Osterbotschaft her wird der Tod Jesu als Heilsereignis verstanden: Jesus ist für uns bzw. für unsere Sünden gestorben.« (Vouga 1994, 24). Siehe auch: Schweitzer 1933, 34; Heitsch 1960, 72. – Im Gegensatz dazu H. J. Schoeps: man kann »ziemlich exakt die Umformung des historischen Jesus in den kerygmatischen Christus aus einem zwingenden Bedürfnis der nachapostolischen Gemeinde beschreiben, die mit der Verzögerung seiner Parusie fertig werden musste« (In: Ristow 1960, 88). Zur Kritik an Schoeps’: Schmidthals 1962, 151 f. 7 Dieses Neue verfehlten die Deutungen, die im Christentum nur einen der vielen Kulte erkannt haben. Exemplarisch zeigt dies Missverständnis die Kritik des Philosophen Kelsos von Alexandrien: ihm fiel es nicht schwer, Jesus in die Menge der damaligen Tugendlehrer, Wundertäter und Weltuntergangspropheten und den christlichen Glauben unter die Vielzahl der sich ausbreitenden orientalischen Kulte einzureihen. Anstößig, weil unbegreiflich, war für Kelsos jedoch die Geschichte von der leiblichen Auferstehung Jesu. Er schloss es als unmöglich aus, der gestorbene Jesus sei seinen Anhängern »im Fleische«, d. h. lebendig-körperlich, gegenwärtig gewesen und von ihnen sinnlich wahrgenommen worden; denn dies sei ›wider die Natur‹ (para yusin)
330
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
Dieser epistemischen Struktur liegt ein anderes und neues Wissenssubjekt zugrunde. Es ist nicht der Logos, der Wissen begründet, und auch nicht die Autorität, der gefolgt wird, sondern der einzelne Mensch ist hier Träger des Wissens. Der Mensch, dem die Erfahrung des wiederauferstandenen Jesus als seine Wahrnehmung zukommt, ist in diesem Fall die Instanz, die jene Annahme als Wissen begründet: er weiß und bezeugt daher, dass Jesus Christus ist, weil und insofern er diese Wahrnehmung gemacht hat. Daraus aber folgt, dass der christliche Glaube nicht nur aufgrund seines Gehalts, dass Jesus Christus ist, sondern auch aufgrund der Instanziierung eines neuen Wissenssubjektes eine geschichtlich neue Art des Wissens darstellt. Die wissensbegründende Instanz ist hier kein vorhandener epistemischer Code, den der Wissende nur vergegenwärtigt, sondern der einzelne Mensch, der aufgrund seiner Auferstehungserfahrung weiß, dass der historische Jesus der erhoffte Christus ist. 8 und daher unmöglich. Kelsos deutete auf Grundlage des griechischen Logos-Prinzips die Auferstehungsgeschichte folgerichtig nicht als historischen Bericht, sondern als Erzählung einer epistemisch irrelevanten Vision eines exaltierten Weibes (gunh paroistro@) oder eines Traums eines der Jesus-Anhänger (siehe: Nestle 1990, 33 f., 58 ff.). Im christlichen Glauben jedoch galt gerade dieses ›Widernatürliche‹ als die wissensbegründende Instanz; es markiert die Grenze zwischen antikem und christlichem Wissen und den Beginn eines neuen epistemischen Diskurses. – Nach dem ›Sieg‹ des christlichen Glaubens wird Augustin (de civitate Dei XXII, 5) an die Philosophen die Frage richten, was denn unglaublicher sei: die Tatsache, dass Jesus im Fleisch auferstanden und zum Himmel fuhr, oder die Tatsache, dass wenige unbekannte, ärmliche und ungebildete Menschen die Welt und sogar die Gelehrten von diesem Unglaublichen überzeugen konnten? Ist die Tatsache der leiblichen Auferstehung Christi unglaublich, dann mehr noch die Tatsache, dass alle Welt dies Unglaubliche glaubt. Wie man es dreht und wendet, – das Unglaubliche wird geglaubt. 8 Die Instanziierung dieses neuen Wissenssubjekts ist nicht nur in der – vor allem durch Paulus bezeugten – Verachtung der »Weisheit dieser Welt« durch die ersten Christen ausgedrückt (1. Kor. 3, 19), sondern ebenso in deren Verachtung durch die nichtchristliche Umwelt. Es war ein ›Standard-Argument‹ von Juden, Griechen und Römern, dass ›einfache Menschen‹, Huren, Fischer oder Zöllner, keine Träger von Wissen und zur Zeugenschaft unfähig, und die ersten Christen daher Schwindler und Lügner, und ihre Anhänger leichtgläubig Verführte seien. In der ersten bekannten Polemik des Rhetors und Lehrers Mark Aurels, M. Cornelius Fronto aus Cirta, heißt es: »Aus der untersten Hefe des Volkes sammeln sie da die Ungebildeten und leichtgläubigen Weiber, die der ihrem Geschlecht eigenen Beeinflussbarkeit wegen [ohnehin] auf alles hereinfallen, bieten ein gemeines Verschwörerpack auf, das sich in nächtlichen Zusammenkünften, bei feierlichem Fasten und menschenunwürdiger Speise nicht etwa durch einen Kult, sondern ein Verbrechen verbrüdert: eine obskure, lichtscheue Gesellschaft, stumm in der Öffentlichkeit, dafür [aber] geschwätzig in den Winkeln … ; selbst halbnackt, verachten sie Ämter und Würden« (Zit. nach: Ritter 1977, 33). A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
331
Der dreieinige Gott
B.
Die Glaubensregel
Die Reflexion auf diese unmittelbare Gewissheit sowie die diskursive Auslegung des Geglaubten erzeugte hinsichtlich der Begründung dieses Glaubens wie des Geglaubten Konflikte und Unsicherheiten. Ist der Glaube an Jesus Christus allein durch die sinnliche Wahrnehmung des wiederauferstandenen Jesus verbürgt, oder ist er nicht viel mehr als eine Einwirkung des göttlichen Geistes zu verstehen, so dass in der Glaubensgewissheit des einzelnen sich zugleich ein geistiges Geschehen offenbart? Was ist demnach das Subjekt des Wissens: der Mensch, der aufgrund seiner sinnlichen Wahrnehmung weiß, dass Jesus Christus ist, oder der Geist, der in dem Menschen diese Gewissheit bewirkt? Und wie verhalten sich diese beiden Ursachen des christlichen Glaubens zueinander: die sinnliche Erfahrung des wiederauferstandenen Jesus und die übersinnliche Einwirkung des Geistes? 9 Und wie schließlich ist dieser Geist und sein Wirken zu deuten? Weiterhin: Wird im Rahmen einer diskursiven Auslegung der Glaubensgewissheit 10 , Jesus, der jüdischen Tradition gemäß, als der im Alten Testament (Jesaia 11) vorhergesagte Messias ausgesagt, als Künder und Herrscher des kommenden Gottesreichs; gilt Jesus, orientalisch-hellenistische Traditionen aufnehmend, als der gekommene Erlöser, der durch seinen Opfertod die Menschen aus Sünde, Angst und Tod befreit hat; oder ist er, der griechisch-philosophischen Dieser Differenz der Wissensbegründung entspricht ein ›konservatives‹, österlichapostolisches Glaubensverständnis, für das der wiederauferstandene Jesus und dessen Bezeugung durch die Jünger im Zentrum steht, sowie ein ›dynamisches‹, pfingstlichpneumatisches Glaubensverständnis, das die eigene Glaubensgewissheit als Ausdruck göttlicher Liebe und Gnade deutet. Dieser epistemologische Unterschied lässt sich exemplarisch an den Aposteln Petrus und Paulus festmachen. Petrus erhielt – nach Matthäus 16, 18 f. – den Verkündigungsauftrag durch den irdischen Jesus, Paulus – nach der Apostelgeschichte 9, 3–6 – durch die Audition und/oder Vision des himmlischen Christus. Paulus erkannte zwar die apostolische Priorität von Petrus, als Jünger Jesu, an (1. Korinther 15, 5–8), wusste sich gleichwohl von ihm unabhängig und selbständig (Galater 2, 6 ff.; 2. Korinther 10, 8; 12, 11), wenn nicht gar überlegen (Galater 2, 11 ff.). Im zweiten Petrus-Brief (3, 16) hingegen – der freilich als nachapostolisch gilt – heißt es, Gott habe Paulus viel Weisheit gegeben, gleichsam väterlich wird aber darauf hingewiesen, Paulus’ Ergüsse seien nicht frei von Missverständlichem. 10 Erste Äußerungen dieser neuen Gewissheit geschahen offenbar in der Art unverständlichen ›Zungenredens‹. Siehe: 1. Korinther 14, 2–4. W. Koehler schließt daraus: »Die älteste Christenheit hat … nicht gedacht. Sie hat nicht einmal logisch geredet, sondern in ekstatischen Lauten gelallt.« (Koehler 1938, 49). Vgl. auch Schneider 1954, 224 ff. 9
332
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
Denkweise entsprechend, der menschgewordene Logos, durch den als das »Licht der Welt« die Wahrheit erkannt wird? Die Konflikte zwischen der, später so genannten, messianisch-eschatologischen, soteriologisch-sakramentalen und philosophisch-theologischen Auslegung des Glaubensinhaltes ist offenbar schon früh entstanden. 11 Dieser Umgang mit der einfachen Gewissheit, dass Jesus Christus ist, brachte, so wollen wir diesen Schritt zusammenfassen, verschiedene Begründungs- und Deutungsmuster hervor 12. In der Reflexion auf diese unterschiedlichen Ausdeutungen ist ein neuer Typ von Glaubensaussagen geschaffen worden: der »kanwn th@ pistew@« oder die »regula fidei«. Durch ihn wurden auf der ›Metaebene‹ verbindliche Regeln festgelegt, nach denen die Auslegung und das Bekenntnis des christlichen Glaubens nicht mehr allein durch den einzelnen, sondern durch die Glaubensgemeinschaft geschieht. 13 Die Differenz zwischen der jüdisch-messianischen und der hellenistisch-soteriologischen Glaubensauslegung reicht aus Sicht der historischen Forschung in die früheste Zeit des Christentums zurück. Während die jüdische Gruppe in der Erwartung der baldigen Wiederkehr des Messias lebte, drängte die hellenistische Gruppe auf die Verkündigung des Heilsereignisses. »Die Urgemeinde bot also kein einheitliches Bild, auch wenn sie oft von späteren Reformbewegungen idealisiert wurde. Soziologisch von unterschiedlicher Herkunft, nahmen die ersten Gläubigen Jesu Botschaft entsprechend ihrer religiösen Anschauungen auf, wobei sich frühzeitig Konflikte abzeichneten, vor allem in der Wertung des Tempels und des Gesetzes.« (Lenzenweger 1986, 26). – Zu diesem Komplex vgl.: die programmatischen Schriften von Baur 1831; Wellhausen 1914; Wetter 1922; Grundmann 1939. Auch: Lietzmann 1953, 63 ff.; Lüdemann 1987, 79–85. Anders verhält es sich mit der Logos-Auslegung. Das sog. »Johannes-Evangelium«, das Jesus als menschgewordenen Logos deutet, war das zeitlich letzte der vier Evangelien, das um 100 n. Chr., vielleicht in Ephesus, entstanden und aus Gemeinden des »Lieblingsjüngers« hervorgegangen ist (vgl.: Becker 2004, 46–67; Vouga 1994, 144–149; 215– 224). Der philosophisch-theologische Charakter dieses Traktats und das Zurücktreten des Legendarischen zugunsten des Lehrhaften weisen darauf hin, dass diese Deutung von Jesus Christus eine reflektierte Auslegung des christlichen Glaubens war, die lange Zeit umstritten war und von den ›Gebildeten‹ rezipiert wurde. Vgl.: Becker 2004, 126– 135; auch: Lietzmann 1953, 246 ff. 12 Mit der Ausbreitung des Christentums entstand eine Vielzahl von Auslegungen. Irenäus nennt Ende des 2. Jahrhunderts 20 christliche Gruppen, Hippolyt zu Anfang des 3. Jahrhunderts 32, und Ende des 4. Jahrhundert führt Philaster von Brescia schließlich 131 Gruppen an. – Vgl.: Bauer 1934, 196 ff.; Deschner 1980, 275. 13 »… die Glaubensbekenntnisse der Christenheit sind niemals staubtrockene Dokumente gewesen … Sie waren theologische Manifeste, durchwirkt mit dogmatischer Bedeutung und manchmal auch tief gezeichnet mit den Spuren der Kontroverse.« (Kelly 1972, 133). Die Bekenntnisbildung ging »offensichtlich … von christologischen Kurzformeln aus, die im Laufe der theologischen Auseinandersetzung zu dreigliedrigen Be11
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
333
Der dreieinige Gott
Das sogenannte »Symbolum Romanum« 14 , das als eines der frühesten kanonisierten Bekenntnisse gilt und wohl Ende des zweiten Jahrhunderts entstand, formulierte drei Regeln, nach denen gewisse Aussagen als authentische und daher rechtmäßige und gemeinschaftlich gültige Glaubensauslegungen beurteilt werden, und die als solche das Wissen von Jesus Christus repräsentieren, während andere Aussagen als unrechtmäßig und irrig gelten. Die erste Regel legte die Rechtmäßigkeit des Glaubens an Gott den Vater fest, der als der Allmächtige (omnipotens) zu bekennen sei; sie richtete sich gegen die christliche Gnosis und die Kirche Markions, die als Ursache ›dieser Welt‹ den neidischen und bösen Schöpfergott des Alten Testaments und in Jesus Christus den Sohn des guten Gottes des Geistes und der Liebe erkannten (Harnack 1921). Die zweite Regel legte den Glauben an Jesus Christus als »seinen einzigen Sohn, unsern Herrn« (filium eius unicum, dominum nostrum), der geboren wurde, am Kreuz gestorben und wiederauferstanden sei, als rechtmäßig fest; sie diente dazu, gnostische Auslegungen, die Christus als körperlos-geistige Erscheinung gedeutet hatten, als häretisch auszuschließen. 15 Die dritte Regel schließlich bezog sich auf die Festlegung der Regeln selbst, so dass dieser gemeinschaftlich ausgelegte und bekannte Glaube als Wirkung des »Heiligen Geistes« festgeschrieben wurde 16 und andere Glaubensrichtungen, wie die der Montanisten, als uninspiriert und häretisch ausgeschlossen wurden 17 . Mit der Festlegung und Anwenkenntnissen erweitert wurden. Das Bekenntnis zum Vater-Gott und Schöpfer wehrte das gnostische Gottesbild ab, die Christusformel schloss jegliche doketische Entleerung aus, und der Artikel über den Heiligen Geist richtete sich gegen den Anspruch des Pneumas außerhalb der Kirche.« (Lenzenweger 1986, 55) – Eine ausführliche Darstellung der »Umprägung des Taufbekenntnisses zur apostolischen Glaubensregel« gibt Harnack 1931, 1. Bd., 354–372. 14 siehe: Kelly 1972, 105. 15 »Die gnostische Tradition verwirft den historischen Jesus, weil sie den Menschen Jesus überhaupt zugunsten des Pneuma-Christus verwirft. Sie bestreitet die Identität von Jesus und Christus.« (Schmidthals 1962, 152) 16 Vgl. Irenaeus von Lyon: »Diese Gabe Gottes wurde der Kirche anvertraut, damit alle Glieder derselben am Heiligen Geist Anteil haben und lebendig gemacht werden können; und niemand kann Anteil an ihm haben, der sich nicht mit der Kirche versammelt, sondern sich selbst um sein Leben betrügt. Denn wo die Kirche ist, da ist der Geist Gottes; und wo der Geist Gottes ist, da ist die Kirche und die Gnade.« (adversus haereses 3, 24, 1; zit. nach: Kelly 1972, 156). 17 Das Symbolum Romanum spricht nur von der »heiligen Kirche«, noch nicht von der »apostolischen Kirche«. Zu deren Begründung führt Tertullian den Begriff der »auctoritas apostolorum« an, den wir eigens im Weiteren behandeln.
334
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
dung dieser drei Regeln trat an die Stelle des einzelnen Menschen als Träger des christlichen Glaubens die Glaubensgemeinschaft, die sich als die »heilige Kirche« verstand und die Glaubensgewissheit der ersten Christen bewahrte und authentisch auslegte 18 .
C. Das Problem der Trinität Im dritten Schritt, nach dem Anfang des Glaubens und der Festlegung seiner Regel, wurden die Aussagen über die drei verschiedenen ›Subjekte‹, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, unter die Bedingung der Einheit gebracht. Der christliche Glaube sollte nicht nur als Gewissheit erfahren und rechtmäßig bekannt, sondern auch als ein einheitliches Ganzes begriffen werden. 19 Mit dieser Suche nach der Einheit der Verschiedenen setzte im Christentum die produktive Auseinandersetzung mit der griechischen Epistemologie ein, und wurde der Versuch unternommen, das bislang Unvereinbare zu vereinbaren. War der Glaube an Jesus Christus bislang durch die, sinnliche wie übersinnliche, Erfahrung bezeugt und in Bekenntnissätzen festgelegt worden, so übernahm das Christentum nun den Grundsatz der griechischen Epistemologie, dass bleibendes Wissen nicht auf der Erfahrung beruhe oder in lehrbaren Sätzen bestehe, sondern im Logos und damit im Gedachtsein begründet sei. Dieses Programm, die Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist durch ihre begriffliche Fassung unter die Bedingung der Einheit zu bringen, brachte schließlich eine neuartige Verbindung von griechischer und christlicher Wissensart hervor. Um das epistemisch Neue dieser Programmatik zu verdeutliAngesichts dieses Wandels des Wissenssubjekts schlug bei dem Kirchenhistoriker A. v. Harnack der Protestant durch: »Unverbrüchlich für jeden Christen soll die ›apostolische lex et doctrina‹ sein. Die Zustimmung zu ihr entscheidet über den christlichen Charakter des Einzelnen. Die christliche Gesinnung und das christliche Leben ist dann ein zweites, das besonderen Bedingungen unterliegt (damit ist das Wesen der Religion gespalten – die verhängnisvollste Wendung in der Geschichte des Christentums!)« (Harnack 1931, 1. Bd., 365). 19 Als Initiator der Bestrebungen, die christliche pisti@ mit der griechischen episthmh zu vereinbaren, gilt Titus Flavius Clemens, der Leiter der Katechetenschule in Alexandria. In den Stromateis 28, 1 gibt er die Begründung: »Nun war vor der Ankunft des Herrn die Philosophie für die Griechen zur Rechtfertigung notwendig; jetzt aber wird sie nützlich für die Gottesfurcht, in dem sie eine Art Vorbildung für die ist, die den Glauben durch Beweise gewinnen wollen.« (Clemens von Alexandria 1936 ff., 31) 18
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
335
Der dreieinige Gott
chen, sei zunächst die Perspektive sowohl der griechischen als auch der christlichen Epistemologie eingenommen. Von jenem Standpunkt aus musste das christliche Trinitätsproblem als unlösbar erscheinen; denn da der Zusammenhang der Vorstellungen von »Gott Vater«, dem »Sohn Gottes« und dem »Heiligen Geist« nur in der Übereinkunft derer besteht, die glauben, dass Jesus Christus sei, fehlt diesen Vorstellungen der Einheitsgrund, der die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ihres Zusammenhangs begründen könnte. Aus dieser Perspektive repräsentieren die Aussagen über die Trias daher kein Wissen (episthmh), sondern nur, wie Porphyrios urteilte, einen »unbegründeten und unbewiesenen Glauben« (alogo@ kai anexetasto@ pisti@) 20 . Vom Standpunkt des christlichen Glaubens hingegen stellte die Suche nach der Einheit einen überflüssigen Zusatz zum Glauben dar; denn da die Aussagen über die drei in der Glaubensgewissheit begründet sind, die durch sie bekannt wird, hängt deren epistemische Geltung nicht vom Gedachtsein ab. Ja, der Einwand lässt sich verschärfen: die Forderung, die in der Glaubensregel ausgesagte Trias als Einheit zu denken, beruht auf dem Zweifel, den der christliche Glaube gerade überwindet; sie widerspricht der Art des christlichen Wissens als einer Gewissheit des Glaubens 21. Wenn nun trotz der Einwände der Unmöglichkeit einerseits und der Unnötigkeit andererseits die Anstrengung unternommen wurde, das Problem der Trinität mit logischen Mitteln zu lösen – und damit den christlichen Glauben auch als ein allgemein einsichtiges Wissen zu begründen –, dann muss es als gerechtfertigt erscheinen, die Lösungen dieses unlösbar scheinenden Problems als Grundlegungen einer neuen Wissensart aufzufassen, die das christlich Geglaubte und das griechisch Gedachte in sich verbindet 22 . Statt die unterschiedlichen Beiträge und die komplexe Diskussion um die Trinität zu referieren, soll zunächst anhand des Methodenproblems nur das
Porphyrios, Fr. 1, 73. Zit. nach: Nestle 1990, 44 f. – Zu den Haupteinwänden der griechischen Philosophen siehe: Nestle 1990. 21 Diese ›antiphilosophische‹ Apologetik ist von Tertullian in »de praescriptione haereticorum« am beredtesten formuliert worden. Er beteuerte die fraglose Gültigkeit der von Christus (!) aufgestellten Glaubensregel (13, 6) und machte die Philosophie für die Häresien verantwortlich (7, 3). »So wir glauben, verlangen wir über den Glauben hinaus nichts mehr. Denn das ist unser oberster Glaubensartikel: dass da nichts sei, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben hätten. (7, 5–13; zit. nach: Ritter 1977, 67). 22 Vgl. dazu: Geyer 1986. 20
336
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
Aporetische der Lösungen nachgezeichnet werden, um dann auf das Ende der Diskussion einzugehen. Für die Suche nach der Einheit der Trias lassen sich zwei gegenläufige Methoden anführen: das Verfahren der Deduktion und das der Subsumtion. Das erste geht vom Prinzip des Einen aus und unternimmt es, die Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist, die der christliche Glauben bekennt, als eine Folge aus dem Einen abzuleiten; das zweite geht von der Unterschiedlichkeit der drei Subjekte aus und sucht, ob und wie das Eine als Prinzip in ihnen enthalten ist. 1.
Die Deduktion
Der deduktiven Methode ist die Religionsphilosophie des Origenes von Alexandrien gefolgt, der, für die christliche Theologie exemplarisch 23 , das erste Modell der Trinität ausformuliert hat. Zwar müsse der christliche Denker, wie Origenes im Vorwort zu »Von den Prinzipien« erklärte, vom Glaubensgut der Kirche ausgehen, die Antwort auf offene Fragen jedoch auf die logische Folgerichtigkeit (akoloujia) stützen 24 . Seine systematische Darstellung der Dreiheit beginnt mit Gott Vater, der als das unwandelbare und selbst körperlose Eine der Urgrund aller Dinge sei; ihm folgt der Sohn, den Origenes als den Logos und als die Weisheit des Vaters deutet, die aus ihm ewig hervorgehe; und schließlich der Heilige Geist als der höchste und vollkommenste der vom Logos geschaffenen Geister. – Statt dieser Deutung der Trias näher nachzugehen und den Folgerungen, die Origenes daraus gezogen hat, soll hier nur nach dem Begriff gefragt werden, der in diesem Modell den Zusammenhang der drei Subjekte stiftet. Origenes selbst verwendet dafür die Ausdrücke des »Hervorgehens« oder »Hervorbringens«, des »Entstehens« oder »Zeugens«, die er jedoch noch nicht klar voneinander unterscheidet; in Hinblick auf die weitere Trinitätsdiskussion lässt sich jedoch sagen, dass für sein Modell der Begriff des »ewigen Hervorgehens« der angemessenste sein dürfte. Nach ihm ist das Dasein des Sohnes und des Geis»Die Apologeten hatten bisher Alles im Christentum klar gefunden; die antignostischen Väter hatten den kirchlichen Glauben und die Glaubenswissenschaft in Eins gesetzt. Origenes hat das Problem und die Probleme erkannt und den Betrieb der christlichen Theologie zu einer selbständigen Aufgabe erhoben, indem er ihn von der polemischen Abzweckung befreit hat.« (Harnack 1931, 1. Bd., 650). 24 Siehe: Origenes 1976, §§ 3 und 10. 23
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
337
Der dreieinige Gott
tes im Sinne der platonischen Philosophie als Folge und unmittelbarer Ausfluss der Güte Gottes zu verstehen. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind die drei Hypostasen (upostasei@) des Grundes, des Logos und des Geistes, die zwar als drei verschiedene Substanzen in unterschiedlicher Weise wirken, jedoch ewigerweise aus dem Einen hervorgehen. Origenes hat so das Prinzip der Deduktion, der notwendigen Folge theo-logisch zur Erklärung der christlichen Trias als eines zeitlos-ewigen Hervorgehens aus dem Einen angewandt. Dieses Unternehmen, die christlich bekannte Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist durch das Modell der Hypostasen zu erklären, konnte zwar ihre innertrinitarische Einheit verdeutlichen; es warf freilich neue Probleme auf, die zum Teil Origenes selbst formuliert hat: das Problem des unwandelbar Einen einerseits und des ›ewig zeugenden‹ Vaters andererseits, an dem sich dann der arianische Konflikt entzündete 25 ; die Frage nach dem Verhältnis des christlichen Bekenntnisses der »Zeugung« des Sohnes durch den Vater zum (neu)platonischen Begriff des »Hervorgehens« des Logos aus dem Guten 26 ; das aus dem Deduktionsverfahren resultierende Problem Für Origenes selbst konnte das Eine nicht ohne das Andere, der Vater nicht ohne den Sohn, gedacht werden: »Wie kann man … meinen oder glauben, dass Gott Vater jemals auch nur den geringsten Augenblick ohne die Zeugung dieser Weisheit existiert habe, wenn man auch nur ein wenig fromm von Gott zu denken gelernt hat? … Daher wissen wir, dass Gott beständig Vater seines eingeborenen Sohnes ist, der zwar aus ihm geboren ist und, was er ist, von ihm erhält, doch ohne jeden Anfang …« (Origenes 1976, I, 2, 2, 125). 26 Der Nachvollzug dieses Problems ist durch zwei Umstände erschwert. Erstens liegt Origenes’ Werk »Von den Prinzipien« fast nur in der lateinischen Übersetzung von T. Rufinus vor, der als Origenes-Anhänger jedoch bemüht war, Textstellen, die er für nicht rechtgläubig hielt, zu übergehen oder zu verändern, und an dunklen Stellen andere Origenes-Texte einfügte (siehe dazu: Origines 1976, 42). Zweitens unterscheiden sich die Begriffe des Entstandenseins und Geborenseins im Griechischen nur durch ein zusätzliches »n«: egenhjh (»ist entstanden«) bzw. egennhjh (»ist geboren«); sie werden ins Lateinische aber mit »generatus« oder »factus est« bzw. mit »natus est« übersetzt. »Diese Wörter«, kommentieren H. Görgemanns und H. Karpf, »werden in den Hss. häufig verwechselt, aber in vornizäischer Zeit auch inhaltlich nicht scharf unterschieden … Nachdem die Unterscheidung durch den arianischen Streit wesentlich geworden war, geriet der Gebrauch von genhto@ bei Or(igenes) in Verdacht …« (ebd., 89, Anm. 9) Was die unterschiedliche Bedeutung von »Zeugen« und »Hervorgehen« betrifft, so ging Origenes zwar von der christlichen Vorstellung der Zeugung des Sohnes durch den Vater aus, schränkte deren Bedeutung jedoch sogleich ein: es sei »unaussprechbar und unerlaubt«, sie mit »irgendeinem Menschen oder sonstigen Lebewesen bei seiner Zeugung zu vergleichen … Es muss sich hier um etwas Besonderes handeln, das Gottes Würde entspricht und wofür sich überhaupt kein Vergleich finden lässt, nicht nur in 25
338
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
der Subordination der Hypostasen des Sohnes und des Heiligen Geistes unter die des Vaters 27, das dann zum Thema des nikaianischen Konzils wurde; sowie schließlich die unzureichende Einordnung des Heiligen Geistes in dieses Schema 28 . Seitens der christlichen Orthodoxie wurde gegen Origenes jedoch vor allem eingewandt, dass das Verfahren selbst – und damit verbunden die philosophisch-allegorische Auslegung der biblischen Schriften – dem christlichen Glaubensinhalt widerspreche. Denn Origenes’ innertrinitarisches Modell konnte zwar das Göttliche der ›Christus-Natur‹ als »ewig gezeugter Logos« erklären, nicht aber die ›Jesus-Natur‹, nach der der Gottessohn als Mensch gelebt und gelitten habe und für die Menschen geder Wirklichkeit, sondern nicht einmal im Denken und in der Vorstellung« (ebd., I, 2, 4; 129 ff.). Er verglich das Undenkbare dann doch: einerseits mit dem platonischen Bild vom »Glanz, der aus dem Licht hervorgeht« (ebd.; auch: I, 2, 7; 137); andererseits mit dem philonischen Begriff des Geistes: »… wie der Wille aus dem Geist hervorgeht, ohne einen Teil des Geistes abzuschneiden und ohne von ihm geschieden oder getrennt zu werden, so habe der Vater den Sohn gezeugt« (ebd., I, 2, 6; 135; auch: IV, 4, 1; 783 ff.). Origenes ließ jedoch offen, ob der Sohn der aus dem Licht hervorgehende Glanz bzw. der aus dem Geist hervorgehende Wille ist, oder ob die Zeugung des Sohnes auf diese Weisen nur gedacht bzw. vorgestellt wird. 27 Am eindeutigsten in Origenes 1976, I, 3, 5, 169 ff.: »Ich glaube, dass Gott Vater, der das All zusammenhält, zu jedem Seienden hindurchdringt (yjanei) und einem jeden aus seinem eigenen (Sein) verleiht zu sein, was es ist. Weniger weit (elattonw@) als der Vater (wirkt) der Sohn, der nur zu den vernunftbegabten Geschöpfen (ta logika) hindurchdringt, denn er steht an zweiter Stelle nach dem Vater; noch weniger weit der heilige Geist, der nur bis zu den Heiligen hindurchdringt. Insofern ist also die Macht des Vaters (dunami@ tou patro@) größer als die des Sohnes und des heiligen Geistes; größer sodann die des Sohnes als die des heiligen Geistes; und die Wirksamkeit des heiligen Geistes ihrerseits übertrifft die von allem, was sonst heilig ist«. 28 Im Vorwort zu »Von den Prinzipien« beschreibt Origenes die Problemlage: »Bei ihm [dem heiligen Geist] wird nicht mehr deutlich unterschieden, ob auch er als Sohn Gottes anzusehen sei oder nicht, sondern dies muss man nach Kräften aus der heiligen Schrift erforschen und durch scharfsinnige Untersuchungen aufspüren.« (Origenes 1976, 91) Er habe jedoch »bis heute keine Stelle in den heiligen Schriften finden können, an der der heilige Geist als Geschöpf des Vaters bezeichnet würde«. Dies müsse daher »auf Grund logischer Folgerungen« angenommen werden, dergemäß alles, außer dem Vater, geworden ist. (ebd., 163) Im später verfassten Johannes-Kommentar (II, 6) formuliert Origenes dann, dass der Heilige Geist das Erste sei, was vom Vater durch den Sohn entstanden sei: »Wir sind daher überzeugt, dass da drei Hypostasen sind, der Vater, der Sohn und der heilige Geist, und glauben, dass nichts anderes ungeboren/ungeworden ist als der Vater. So nehmen wir es denn als das Frömmere und Wahre an, dass alles durch den Logos entsteht, dass der heilige Geist von allem das Wertvollste ist und der Ordnung nach alles vom Vater durch Christus (twn upo tou patro@ dia Xristou) entstanden ist.« A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
339
Der dreieinige Gott
storben sei 29 . Die Folge dieses Drei-Hypostasen-Modells sei es, dass die Erlösungsfunktion Christi, die an seine menschliche Natur gebunden ist, zugunsten der Erkenntnisfunktion als der Weisheit Gottes vernachlässigt werde. Für Origenes sei daher letztlich nicht der Glaubende, sondern der Wissende der vollendete Christ 30 . 2.
Die Subsumtion
Das Verfahren der Subsumtion lag zwei verschiedenen Modellen zugrunde: dem »Modalismus« und dem »Adoptianismus«. Beide gingen einerseits vom christlichen Glaubensbekenntnis an Vater, Sohn und Heiligem Geist aus, andererseits von der logischen Annahme, dass das unwandelbare Einssein nur dem Einen zukommen könne. Sie sind daher »monarchianisch« genannt worden. Der Modalismus schließt daraus nun, dass die drei verschiedenen Vorstellungen vom Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist in Wahrheit nicht als drei selbständig Seiende oder Hypostasen zu verstehen seien, sondern als die drei Erscheinungsweisen, die Modi, des Einen 31 . Auf dieser Grundlage wurde die Trinität vom Theologen Noet von Smyrna und So hat der Sohn Gottes für Origenes nichts Körperliches: »Wenn wir nun ein für allemal die richtige Lehre angenommen haben, dass der eingeborene Sohn Gottes dessen Weisheit ist, die ein selbständiges Dasein als Substanz besitzt, dann sollte unser Denken sich nicht weiter versteigen zu der Vermutung, dass vielleicht eben dieses sein selbständiges Sein [upostasi@] irgend etwas Körperliches habe. Denn alles Körperliche ist durch Gestalt, Farbe und Größe gekennzeichnet; welcher Mensch aber mit gesundem Verstand hätte jemals Gestalt, Farbe oder meßbare Größe bei der Weisheit gesucht, insofern sie Weisheit ist.« (Origenes 1976, I, 2, 1–2, 123 ff.) 30 Diese Kritik wurde am entschiedensten von Epiphanius, dem Urheber des sog. »origenistischen Streits«, in seinem »Arzneikasten« (Panarion haereticorum) vorgetragen. Er sah im Origenismus »die gefährlichste aller Häresien« (Hörmann 1919, V), weil Origenes mit seiner Lehre der Subordination des Sohnes unter den Vater zum »geistigen Vater des Arianismus« (ebd.) geworden sei. Der Origenismus verunsichere nicht nur die Gläubigen, weil er »es verbiete, sich im Gebet an den Sohn zu wenden« (Jedin 1972, 132), sondern spalte auch die Kirche, weil er in ihr zwei Gruppen unterscheide: die »einfältigen« (aplousteroi) und die »vollendeten« (teleioi). – Vgl. dazu auch: Görgemanns 1988, 71 ff. 31 Für die Erscheinungsweisen des Einen ist wohl von Noet der Ausdruck »proswpon« in die Trinitätsdiskussion eingeführt worden. (Siehe: Andresen 1961; auch im Weiteren: III. B. 1. b.) Dieser Begriff ist von der »upostasi@« des Origenes zu unterscheiden; er bezeichnete in der stoischen Philosophie das in die Gemeinschaft eingefügte Individuum und übersetzte das hebräische ›panim‹ (Antlitz) ins Griechische. – Vgl.: Greshake 1997, 78 f. 29
340
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
seinem Anhänger Sabellius als die drei heilsgeschichtlichen Phasen der Offenbarung Gottes gedeutet: als Vater in der Schöpfung und Gesetzgebung, als Sohn im Erscheinen Christi, des Erlösers, und als Heiliger Geist in der Gnade spendenden Kirche 32. Da nach diesem Modell Vater und Sohn ein und derselbe Gott sind, schloss Sabellius, dass im Sohn der Vater selbst gelitten habe und gestorben sei 33 . – Der Adoptianismus hingegen schloss aus der monarchianischen Annahme, dass das Einssein allein dem Vater zukomme und er daher Gott sei, – nicht aber der Sohn und der Heilige Geist. Theodotos von Byzanz und dann der Bischof Paul von Samosata vertraten die Auffassung, Jesus sei als gewöhnlicher Mensch (koino@ anjrwpo@) geboren; er sei jedoch seiner Gesinnung und seines Lebenswandels wegen von Gott als Sohn durch Adoption aufgenommen, d. h. durch den göttlichen Logos als einer »von außen« (exwjen) kommenden und unpersönlichen Kraft (anupostato@ dunami@) zum Christus erhoben, worden 34 . Diese Theorie der Adoption ist von dem alexandrinischen Presbyter Arius schließlich christologisch modifiziert worden: auch er ging vom monarchianischen Grundsatz aus, wonach nur dem Vater, als dem Einen, das Gottsein zukomme; er nahm allerdings an, dass der Sohn nicht seines Lebenswandels wegen, sondern ›vor den Zeiten‹ vom Vater gezeugt wurde und sein Gottsein erhalten habe. Er blieb jedoch bei der Auffassung, dass der Sohn nicht in der gleichen Weise Gott sei wie der Vater: während dieser Gott ist, sei der Sohn erst Gott durch den Willen des Vaters geworden 35 . Diesen Versuchen, die christlichen Vorstellungen von Vater, Siehe: Jedin 1962, 294 ff. Nach A. v. Harnack hat Sabellius argumentiert: »Ist Christus Gott, so ist er gewiss der Vater, oder er wäre nicht Gott. Hat Christus also wahrhaft gelitten, so hat der Gott, der alleine ist, gelitten.« (Harnack 1931, Bd. 1, 744) 34 Siehe: Andresen 1999, 58. 35 Aus Arius’ Glaubensbekenntnis, das er seinem theologischen Gegner Alexander übersandte: »Und zwar ist Gott, sofern er Grund alles Seins ist, absolut allein (monwtato@) ursprungslos. Der Sohn, erzeugt vom Vater außerhalb der Zeit (acronw@), geschaffen und konstituiert vor allen Äonen, war nicht, bevor er erzeugt ward; aber er allein ist, als außerhalb der Zeit [und] vor allen [anderen Geschöpfen] erzeugt, vom Vater [selbst] ins Dasein gebracht. Er ist weder ewig noch gleichewig mit dem Vater, noch teilt er mit ihm das Ungezeugtsein; auch hat er nicht mit dem Vater zusammen das Sein, wie einige mit Blick auf die [aristotelische] Kategorie der Relation (ta pro@ ti) behaupten, womit sie zwei unerzeugte Prinzipien einführen. Vielmehr ist Gott als Einheit (mona@) und Ursprungs allen Seins vor den Dingen …« (Zit. nach: Ritter 1977, 132). 32 33
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
341
Der dreieinige Gott
Sohn und Heiligem Geist dem logischen Prinzip des Einen unterzuordnen, wurde von Seiten der Orthodoxie entgegengehalten, dass durch dieses Verfahren, statt die Einheit der christlichen Glaubenslehre zu bezeugen, die in der Glaubensregel bekannte Dreiheit in eine Ein-Gott-Lehre aufgelöst und so durch das Mittel der Logik der christliche Glaubensinhalt: die Gewissheit, dass Jesus der Christus ist, ausgehöhlt werde. 36 3.
Die Homousie-Formel
Beide Methoden blieben aporetisch: sie begründeten nicht diejenige innere Einheit der drei Subjekte, die der christliche Glaube bekennt. Die Lehre von den drei Hypostasen musste eine solche Einheit ablehnen, weil das Gezeugte bzw. Gewordene doch als verschieden vom Zeugenden bzw. Ungewordenen zu denken ist. Der Monarchianismus hingegen musste sie ablehnen, weil das Eine doch nur einer sein kann. In keinem Fall stimmte also das Verfahren, die Trinität begrifflich zu erfassen, mit dem Glaubensinhalt überein. Diese Aporie deuten wir als Ausdruck des Konflikts zwischen der christlichen Epistemologie, das Wissen auf den Glauben zu gründen, und der griechischen Epistemologie, das Wissen durch das Denken zu begründen. Sein Ende fand der Streit um die Trinität mit der Synode in Nikaia im Jahre 325 37 . Ihr Beschluss sollte für die griechische Ostwie die lateinische Westkirche verbindlich werden. Auf dieser ersten Reichssynode wurde die Homousie-Formel angenommen, in das Glaubensbekenntnis eingefügt und die bisherigen Trinitätsmodelle verworfen. Diesem Beschluss gemäß seien der Vater und der Sohn als zwei zu bekennen, die eines/gleichen Wesens (omoousioi) sind: Die Kritik am, insbesondere in Rom verbreiteten, Modalismus, formulierte Hippolytos in seinem Hauptwerk »Refutatio omnium haeresium«; die Auseinandersetzung mit dem Arianismus, der überwiegend im Ostteil des römischen Reiches Anhänger hatte, führte der Athanasius in den »Orationes contra Arianos« (Athanasius 1913). 37 Aus historischer Sicht ist dies nicht richtig; denn der Streit wurde nach dem Konzil erbitterter geführt als zuvor. Doch die Synode von Nikaia beschloss die Glaubensregel, die 381 dann, unter Einbeziehung des Heiligen Geistes, durch die Synode von Konstantinopel zum Glaubenssymbol der Ost-, 451 auf der Synode in Chalkedon auch der Westkirche und damit zum Glaubensbekenntnis der ›rechtgläubigen‹ Christen erklärt wurde. – Siehe: Jacobs 1987, 30–63. 36
342
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
ungeschaffen und allmächtig. Das Merkwürdige dieses Endes der Trinitätsdiskussion war jedoch die Tatsache, dass die Formel weder als authentischer Ausdruck des christlichen Glaubens betrachtet wurde – sie war vielmehr zuvor als »häretisch« verurteilt worden 38 – noch das konsensuelle Ergebnis des theologischen Gelehrtendisputs war, sondern dass sie der Synode von Kaiser Konstantin gleichsam als ›Kompromissformel‹ vorgelegt und von der Synode beschlossen wurde. Betrachtet man diese Formel in Hinblick auf den christlichen Glauben, so konnte sie wohl geeignet sein, die Beziehung von Vater und Sohn, wie sie nach der Glaubensregel bekannt wurde, angemessen zu bezeichnen. Denn die Funktionen, die der Glaube Jesus Christus zuweist, die Weisheit Gottes, der Erlöser der Menschen und der Herrscher des kommenden Gottesreichs zu sein, können nur dann erfüllt sein, wenn auch dem Sohn die Vollkommenheitsattribute des Vaters zukommen: seine Unwandelbarkeit und Allmacht. Diese Zuordnung vollzieht der Begriff der Homousie von Vater und Sohn 39 ; und sie hatten die Trinitätsmodelle verfehlt, weil sie den Sohn dem Vater entweder untergeordnet oder beide nur als Modi des Einen verstanden hatten. Hinsichtlich der Gewissheit des Glaubens selbst jedoch bedurfte es dieser Formel gar nicht 40 ; denn gerade weil sie um nichts mehr darstellt, als was nach der Glaubensregel bekannt wird, musste sie als ein für den Glauben selbst fremder, unbiblischer und überflüssiger Zusatz erscheinen. In entgegengesetzter Weise wirkte sich die Formel jedoch auf die christliche Theologie und ihre Bemühungen aus, den Glauben durch die vernünftige Einsicht zu begründen. Denn mit ihrer Annahme durch die Synode wurde der denkenden Vernunft ein ihr fremder Grundsatz vorgegeben. Dass das volle Gottsein nach dem Begriff der Homousie nicht einem, sondern zwei Subjekten, dem Vater und dem Sohn, in derselben Weise zukommt, – diese Aussage widerspricht dem Gesetz des Denkens, nach dem das ›volle Einessein‹ nur Siehe: Jacobs 1987, 25; Uthemann 1994, Sp. 66–89. In diesem Sinn ist sie dann von Athanasius, dem »Vater der Orthodoxie«, gebraucht worden. Siehe: Harnack 1931, 2. Bd., 24 ff.; Ricken 1970, 90 ff. 40 Dies war wohl der Grund, warum der lateinische Westen, der sich an der Trinitätsdebatte weitgehend uninteressiert gezeigt hatte und geneigt war, die Theologen des Ostens – in der Tradition Tertullians – unter Häresieverdacht zu stellen, keine Schwierigkeiten hatte, die Homousieformel anzunehmen. Die weitgehende Akzeptanz der Formel im lateinischen Westen hat zur Vermutung Anlass gegeben, dass sie aus dem Westen stamme. Siehe: Jacobs 1987, 28 f. 38 39
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
343
Der dreieinige Gott
Einem, nicht aber Zweien zukommen kann. Der Beschluss von Nikaia löste denn auch im griechischen Osten »große Verlegenheit und Entrüstung« (Kelly 1972, 216) aus: das nach dieser Formel Bekannte kann nicht gedacht werden – und sollte doch für das theologische Denken verbindlich sein. Ihrer Annahme durch die Synode entsprach denn auch die Verurteilung der Theologie sowohl des Origenes, die vom Sohn sagte, er sei von einer anderen Hypostase oder Substanz als der Vater, als auch des Arius, die von ihm sagte, es habe eine Zeit gegeben, »da er nicht war«. Soweit die Berichte eine historische Rekonstruktion dieser ersten Reichssynode zulassen, wurde die Homousie-Formel von keiner theologischen Partei, sondern vom römischen Kaiser Konstantin eingebracht. Dieser drängte, um angesichts der drohenden Kirchenspaltung die Einheit des römischen Reiches und seine eben erworbene Macht zu erhalten und zu festigen, erfolgreich auf ihre Annahme durch die Reichssynode. 41 Aus diesem geschichtlichem Faktum aber Der genaue Verlauf dieser weichenstellenden Reichssynode ist in Dunkel gehüllt, weil entweder keine Protokolle angefertigt oder sie verschollen sind. Ihre Rekonstruktion muss sich daher auf die tendenziösen Berichte der Beteiligten oder auf spätere Erzählungen stützen. So viel dürfte jedoch als gesichert erscheinen: die Homousieformel wurde nicht von einer der theologischen Parteien, sondern vom römischen Kaiser eingebracht; und sie wurde auf dessen Druck hin von der Synode angenommen. Wie die Quellen übereinstimmend berichten, ging die Initiative zur ersten Reichssynode von Kaiser Konstantin aus (Jedin 1972, 1. Bd., 24). Er trug mit ihr seiner Rolle als »Friedensbringer« Rechnung, die er in seinem Brief an die Kontrahenten, Arius und Alexander, beschrieben hatte (Ritter 1977, 133). In der »Vita Constantini« berichtet Eusebius, er habe in Schreiben die Bischöfe des Ostens und Westens als seine persönlichen Gäste in seine Sommerresidenz in Nikaia eingeladen; zur Anreise durften sie sich kostenlos der Staatspost bedienen (Jedin 1972, 24). Bei ihrer Ankunft soll er die Bischöfe umschmeichelt, sie als seine »Freunde« und »geliebten Brüder« tituliert und die Narben der Glaubensmärtyrer geküßt haben (Kraft 1955, 100). – Noch vor der Eröffnung der Synode, schreibt Sozomenos in seiner »Historia Ecclesiastica«, wurden dem Kaiser Bittund Klagebriefe überreicht, in denen anwesende Bischöfe sich gegenseitig auch persönlicher Verfehlungen beschuldigten. All diese Briefe habe der Kaiser zu Beginn der Synode ungeöffnet vor ihren Augen verbrennen lassen (Jedin 1972, 26), »damit keinem Menschen der Streit der Priester bekannt würde« (Deschner 1980, 431). In seiner »mit Sorgfalt formulierte(n) Eröffnungsrede« (Kelly 1972, 211) habe er in lateinischer Sprache ernste und deutliche Worte über die Gefahren des inneren Streits in der Kirche, über die Eintracht der Bischöfe gesprochen und sie zur eigentlichen Aufgabe der Synode ermahnt, Wege zu Versöhnung und Frieden zu finden. Was den Verlauf der anschließenden Beratung der Bischöfe betrifft, sind wir auf drei Quellen angewiesen: Eustathius von Antiochia, der möglicherweise die Debatten als Vorsitzender leitete, berichtet in einem nur bruchstückhaft überlieferten Text, dass zu Beginn die »Formel des Eusebius [d. h. höchstwahrscheinlich von Nikomedien]« (ebd.,
41
344
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
folgt in epistemologischer Hinsicht, dass der Geltungsgrund dieses Bekenntnisses, das Fundament seiner allgemeinen Gültigkeit und Verbindlichkeit, weder die Gewissheit des Glaubens war, die diese 212) vorgelegt wurde, deren Verlesung in der Versammlung ihrer Blasphemie wegen großes Bedauern auslöste. Nachdem man diese »eusebianische Rotte«, wie Eustathius sie nannte, überführt hatte und ihre Schriften zerrissen worden waren, wurde all denen Schweigen auferlegt, die gewöhnt waren, am geschicktesten zu sprechen. – Athanasius aus Alexandrien berichtet – allerdings erst Jahrzehnte später – in seiner Schrift »De decretis Nicaenae synodi«, die Versammlung habe gemeinsam beschlossen, das, was sie als die Wahrheit betrachtete, in der Sprache der Bibel auszudrücken. Da dies jedoch nicht gelang, weil die Partei der Arianer die Wendungen jedes Mal so lange drehte, bis sie mit ihren eigenen Vorstellungen in Einklang waren, habe es keine andere Möglichkeit gegeben, als die, wie er meinte, »präzisen, völlig unzweideutigen, aber nicht biblischen Klauseln ›Vom Wesen des Vaters‹ und ›eines Wesens mit dem Vater‹ einzufügen« (ebd., 213). – Nach dem Bericht des Eusebius, des Bischofs von Caesarea, schließlich, der als Verteidigungsbrief an seine Gemeinde erhalten blieb, hat Eusebius selbst mit seinem Vorschlag in die Debatte eingegriffen, indem er der Versammlung dasjenige Bekenntnis vorlegte, nach dem er selbst getauft und unterwiesen worden sei, und das er als Priester und Bischof gelehrt habe. Dieses Bekenntnis sei von den Bischöfen als durchaus orthodox anerkannt worden. Eusebius fährt nun fort: Nach der Einigung der Versammlung auf diese Glaubenserklärung bezeugte »unser gottgeliebtester Kaiser …, bevor irgend jemand sonst das Wort nahm, dass er [der erklärte Glaube] vollkommen orthodox sei. Er bekannte überdies, dass ihm sein eigenes Empfinden entspräche, und befahl allen Anwesenden an, ihm zuzustimmen …, nur, dass ein einziges Wort, nämlich wesenseins (omoousio@), eingefügt werden müsse.« Nachdem der Kaiser erklärt hatte, wie dieses Wort nicht zu interpretieren sei: »der Sohn sei wesenseins nicht im Sinne körperlichen Erleidens (kata twn swmatwn pajh) und sei aus dem Vater ins Dasein getreten weder zufolge einer Teilung noch einer Trennung«, habe er erklärt: »vielmehr sei es an uns, von solchen Dingen uns einen Begriff zu machen in einer göttlichen und unaussprechlichen Weise.« Die der kaiserlichen Erklärung anschließende Diskussion ging nun dem Sinn dieser Wendungen auf den Grund. Und die Anwesenden »bekannten, dass die Wendung ›aus dem Wesen [des Vaters]‹ anzeige, dass der Sohn sein Sein [tatsächlich] vom Vater habe, ohne ein Teil vom Vater zu sein. Unter der Voraussetzung eines solchen Verständnisses aber hielten wir es für richtig, unsere Zustimmung zu erklären …« (Ritter 1977, 137). – Über das Ende der Synode, die noch andere Punkte behandelt hatte, berichtet Eusebios in seiner »Vita Constantini«, dass der Kaiser ein »glanzvolles Festbankett« gegeben habe (Jedin 1972, 28). Er ließ jedem der Bischöfe zum Abschluss Geschenke überreichen, die sie erfreut entgegennahmen, und ermahnte sie abschließend noch einmal eindringlich, »den Frieden untereinander zu wahren und eifersüchtige Streitereien zu meiden« (ebd., 29). Nach der Synode richtete er an Kirchen im römischen Reich einen ausführlichen Brief, in dem er seine friedensbringende Rolle hervorhob und erklärte: »Was die dreihundert Bischöfe beschlossen haben, ist nichts anderes als Spruch Gottes, da ja der in diesen Männern gegenwärtige Heilige Geist den Willen Gottes sichtbar machte.« (ebd., 30) Betrachtet man diesen Verlauf der ersten Reichssynode, so stellt sie uns keine frei beschließende Versammlung von Kirchenvätern vor, wie Konstantins Erklärung Glauben A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
345
Der dreieinige Gott
Formel nicht braucht und nicht kennt, noch die Gesetze des (logischen) Denkens, denen sie widerspricht, sondern die politische Einigungsmacht des römischen Kaisers. Sie erlangte Verbindlichkeit nicht durch die ›Kraft des Glaubens‹ oder durch ›die Macht der Vernunft‹, sondern durch die ›Gewalt des Staates‹. Mit ihrer Annahme durch die Reichssynode als verbindliches Glaubenssymbol wurden beide, der christliche Glaube und die griechische Vernunft, in eine ›Ehe‹ gezwungen, die von der römischen Staatsmacht bewirkt wurde. macht. Folgen wir Eusebius’ Bericht, so hätte sie sich eventuell auf ein Glaubensbekenntnis einigen können, das die Homousieformel nicht enthielt; Athanasius jedoch bezweifelt dies. Die tatsächliche Beschlussfassung der Synode demonstriert vielmehr das umsichtige und alle überragende Geschick des römischen Kaisers, der die Synode zum ausführenden Organ seines Willens zu machen verstand. Kraft seines Imperiums, seiner diplomatischen Kunst und seines persönlichen Charmes vermochte er die Bischöfe dazu zu bewegen, dass sie, wie Eusebius sagte, »über alle Punkte eines Sinnes und einer Meinung waren« (ebd., 28). Denn abgesehen von zwei Bischöfen der arianischen Partei, die das Bekenntnis nicht unterschrieben, stimmten zwar alle anwesenden Bischöfe der Aufnahme der Homousieformel ins Glaubensbekenntnis zu, viele jedoch nicht aus Überzeugung, sondern um des Friedens willen – mancher, wie Eusebius selbst, vielleicht aus Furcht vor der Verbannung (siehe: ebd.). Nur der Druck des Kaisers macht die Zustimmung erklärbar, weil schon bald nach der synodalen Einigung der Streit der Parteien heftiger denn je entbrannte. In Hinblick auf diese Beschlussfassung erscheinen sowohl die Frage als zweitrangig, woher die vom Kaiser eingebrachte Homousieormel kam – vermutlich von Ossius von Cordoba, dem damaligen Berater Konstantins in Kirchenfragen (Kelly 1972, 248) –, als auch die spätere Debatte, ob diese theologisch umstrittene Formel doch geeignet gewesen wäre, den Sinn und die Meinungen der Bischöfe zu einigen. Der rekonstruierbare Verlauf der Synode zeigt, dass nicht diese Formel selbst die Einigung herstellte, sondern dass sie durch den Willen des Kaisers bewirkt wurde. Dieser Wille aber war, wie Konstantin genügend oft bekannte, nicht auf die Klärung der Frage nach der ›Rechtmäßigkeit‹ des Glaubensbekenntnisses gerichtet – sie erschien ihm als »belanglos«, »banal« und »geringfügig« (Ritter 1972, 133 f.) –, sondern auf die kirchenpolitische Einheit; und die Homousieformel erschien ihm dafür als das geeignete Mittel. Diese Funktion konnte sie jedoch nur aufgrund ihrer Unbestimmtheit, ihrer »überaus großen Vieldeutigkeit« (Kelly 1972, 247), erfüllen, deretwegen der Kaiser in seiner Rede auch forderte, sie »in einer göttlichen und unaussprechlichen Weise« zu gebrauchen, so dass sie keiner der theologischen Parteien als »Erkennungszeichen« dienen konnte (ebd.). Daher lässt sich die Tatsache, dass die Synode beschloss, die Formel als rechtmäßig ins Glaubensbekenntnis aufzunehmen, nur so verstehen, dass die bekundete Übereinstimmung des Willens der Bischöfe – entgegen der Erklärung des Kaisers – nicht durch den Heiligen Geist, sondern durch das Imperium des römischen Kaisers bewirkt wurde. – Es bedurfte erst einer neuen, nachnikaianischen Generation von christlichen Theologen, Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz und Augustin von Hippo, für die die Homousie-Formel kein kaiserliches Diktat mehr war, sondern die fehllose Glaubenslehre der Väter.
346
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der christliche Glaube und das Trinitätsproblem
Der Beschluss von Nikaia stellt so das Paradox dar, dass die Verbindung von christlichem Glauben und griechischem Denken nicht durch sie selbst, sondern durch die potestas bzw. auctoritas des römischen Imperators geschaffen wurde. Der theologische ›Rang‹ des Heiligen Geistes ist im Jahre 381 dann auf der Synode von Konstantinopel festgelegt und beschlossen worden. Nach ihrem Beschluss ist der Heilige Geist »der Herr und Lebensspender« (to kurion kai zwopoion), der weder gezeugt noch geschaffen ist, sondern der aus dem Vater hervorgeht (ek tou patro@ ekporeuomenon) und mit Vater und Sohn zusammen angebetet und gepriesen wird (sun patri kai uiw sumproskunoumenon kai sundoxazomenon). Zwar wird der Heilige Geist nach diesem Bekenntnis wie der Vater und der Sohn verehrt; aber die Synode verwendete für ihn nicht die Formel der Homousie und ließ offen, wie das »Hervorgehen aus dem Vater« und das »Zusammen« der Anbetung zu verstehen seien 42 . Mit der Erhebung dieses Glaubenssymbols zum Gesetz des römischen Staates wurde es schließlich auch staatlich sanktioniert. 43 Es sollte in der Folgezeit zum bestimmenden Code für das europäische Denken im Westen wie im Osten werden, der für das lateinische
Kelly 1972, 337 f.: »Nach den uns vorliegenden Berichten stellte sich das Konzil von Konstantinopel auf den Standpunkt der völligen Wesenseinheit des Heiligen Geistes mit der Gottheit … Dennoch vermeidet diese Klausel sorgfältig den Begriff homoousios und begnügt sich, abgesehen von der Erwähnung der dem Geist geschuldeten Verehrung und Verherrlichung, mit biblischen Wendungen …« Kelly erklärt diese »maßvolle Pneumatologie« mit dem »ernstlichen Versöhnungsversuch« des Kaisers Theodosius gegenüber den Makedonianern (ebd., 338). 43 Durch das Reichsgesetz »cunctos populos« des Kaisers Theodosius erlangte das »nikaia-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis« im Jahre 380, sechs Jahre vor der Bekehrung Augustins, juristische Verbindlichkeit: »Alle Völker, über die wir ein mildes, gnädiges Regiment führen, sollen, das ist unser Wille, die Religion annehmen, die der göttliche Apostel Petrus den Römern gepredigt hat, und der, wie wir sehen, auch Bischof Damasius sich anschließt, sowie Petrus, der Bischof von Alexandrien, ein Mann von apostolischer Heiligkeit; wir meinen damit, dass wir nach der apostolischen Predigt und der evangelischen Lehre eine Gottheit des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes in gleicher Majestät und gütiger Dreieinigkeit im Glauben annehmen. Wer dieses Gesetz befolgt, der soll den Namen eines katholischen Christen führen, die anderen aber, die wir für kopflos und verkehrt erklären, sollen die Schmach ketzerischer Lehre tragen; ihre Versammlungshäuser dürfen nicht Kirchen genannt werden, sie selbst unterliegen der göttlichen Strafe, dann aber auch der, die wir nach dem Willen Gottes zu verhängen uns entschließen.« (zit. nach: Jakobs 1987, 48). 42
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
347
Der dreieinige Gott
Christentum bald darauf von Augustin in maßgebender Weise ausgelegt wurde.
II. Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum Die Trinitätsdebatte hatte die Frage zum Inhalt, wie die Trias des christlichen Glaubens nach Art der griechischen Philosophie gedacht, d. h. durch welche Kategorien sie angemessen erfasst werden kann. Mit der Übernahme des römischen und nicht-biblischen Begriffs der auctoritas 44 hingegen gliederte die Kirche sich in die römische Tradition ein. Da es unbestritten ist, dass dieser Begriff bei der Institutionalisierung der römisch-katholischen Kirche eine zentrale Rolle eingenommen hat und zum festen Bestandteil ihrer Sprache wurde 45, können wir auf die Literatur verweisen, die den kirchenrechtlichen Aspekten nachgeht 46 . Im Folgenden werden wir daher nur den epistemologisch relevanten Aspekten dieser Übertragung, der Formierung des christlichen Glaubens durch den Autoritätsbegriff, nachgehen. »Auctoritas«, haben wir im vorhergehenden Teil gesagt, bezeichnete im römischen Denken das Vermögen, Verbindlichkeit zwanglos zu bewirken. Diese Eigenschaft kam im höchsten Maße den maiores zu, die darin von den Römern als die Urheber der »heiligen Sache«, der res romana, anerkannt wurden, und wurde in der Gegenwart von den patres repräsentiert, die aufgrund ihrer familiären Herkunft und/oder virtus das Gründungswerk der maiores vergegenwärtigten. Betrachtet man die Übernahme der römischen auctoritas ins Christliche zunächst nur hinsichtlich ihrer Struktur, so erscheint diese Übertragung zunächst als problemlos. Es bedarf dazu nur der Substitution der ›res romana‹ durch die ›res christiana‹. Dieser Substitution gemäß kommt die summa auctoritas nicht mehr – wie für die »Weder im Hebräischen noch in der Septuaginta steht ein der auctoritas entsprechendes Wort.« (Lütcke 1968, 52) 45 »Anders … als die Griechen, die kein entsprechendes Wort für auctoritas besassen, wenden bereits die lateinischen Vorgänger des Augustinus diesen typisch römischen Ausdruck auf Gott, die Kirche und die Bibel an.« (Studer 1998, 236) 46 Siehe: Gmelin 1937; Campenhausen 1953; Miethke 1980, 20 ff.; auch: Fueyo 1968, 214–235; Rabe 1972, 11 ff. 44
348
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum
Römer – den maiores als den Gründern Roms, sondern – nun für die Christen – den Gründern der Kirche, Jesus und den Aposteln, zu. Nach diesem Übertragungsmodell wären diese also die ›christlichen maiores‹, denen zum einen als historischen Subjekten die Errichtung und die Einrichtungen der Kirche, der civitas christiana, als Werk zugeschrieben werden, und die zum anderen durch die Gründung dieser civitas zugleich als die Urheber der »heiligen Sache«, der res christiana, gelten. Ihnen käme die summa auctoritas zu und besäßen die epistemisch verbindliche Autorität; und – analog der römischen »auctoritas patrum« – hätten in dieser civitas diejenigen aktuell die auctoritas, die durch ihre Herkunft und/oder Taten das Werk der Gründer unverfälscht repräsentieren. – Da wir davon ausgehen, dass das römisch-lateinische Christentum diese Übertragung tatsächlich vollzogen hat, und die civitas christiana nach diesem Begriff in wesentlichen Elementen strukturiert wurde, soll im Folgenden untersucht werden, ob und inwiefern dadurch auch der Inhalt, der christliche Glaube, geformt und geprägt worden ist.
A. Auctoritas apostolorum 1. »Durch den juristisch gebildeten Kirchenvater Tertullian wurde der Autoritätsbegriff in die Kirchensprache eingeführt.« 47 Dieser römische und nicht-biblische Begriff diente Tertullian, um in der Auseinandersetzung mit den »häretischen Kirchen« die Rechtmäßigkeit derjenigen Christus-Lehre zu begründen, die in der regula fidei festgelegt worden war. Hierzu modellierte er diese Rechtmäßigkeit nach der zivilrechtlichen Bedeutung der römischen auctoritas: so wie nach altrömischem Recht der rechtmäßige Erwerb eines Gutes der Zustimmung des auctors bedurfte, der auctoritas mancipationis, so bedurfte nach Tertullian auch der Besitz der christlichen Glaubenslehre der Auctorschaft 48 . Als die auctores nennt er die Apostel, die die K. Röttgers, Autorität. In: Ritter 1971 ff., Bd. 1, 729. Siehe auch: Gmelin 1937, 81–91; Eschenburg 1965, 32 ff.; Lütcke 1968, 51 ff. 48 Tertullian, de praescriptione haereticorum, 37, 3–5: »Wer seid ihr? Wann und woher kamt ihr? Was habt ihr im Meinigen zu schaffen, da ihr die Meinigen nicht seid? In der Tat, Marcion, mit welchem Recht schlägst du in meinem Wald? Mit welcher Erlaubnis, Valentinus, leitest du meine Quellen um? Mit welcher Ermächtigung, Apelles, versetzt du meine Grenzsteine? Was sät und weidet ihr, die übrigen, nach eurem Gutdünken? Das ist mein Besitz. Ich besitze längst, ich besitze früher; ich habe das Eigentumsrecht 47
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
349
Der dreieinige Gott
Glaubenslehre von Jesus Christus selbst erhalten 49 , bewahrt und unverfälscht den von ihnen gegründeten christlichen Gemeinden (ecclesiae) weitergegeben haben. 50 Für Tertullian folgt daraus, dass allein diejenigen Gemeinden im Besitz der rechtmäßigen Lehre (doctrina) sind, die ihre Existenz nicht auf eigenes Gutdünken (ex suo arbitrio), sondern auf ihre Gründung durch die Apostel Christi zurückführen können. Alle anderen Gemeinschaften, denen diese apostolische Auctorschaft fehlt, sind demnach keine Kirchen. Nun muss diese Übertragung des Begriffs aus dem römischen Handelsrecht auf Fragen des christlichen Glaubens auf den ersten Blick als reichlich derb erscheinen. Es scheint, als habe Tertullian ein geistiges Gut, die christliche Lehre, mit materiellen Gütern, Tieren oder Äckern, gleichgesetzt und die apostolische Sukzession dem Kuhhandel nachmodelliert. Doch diese Sichtweise verfehlt den Sinn der Übertragung. Denn nach der Erklärung, die wir von der auctoritas mancipationis gegeben haben, war die Auctorschaft nicht erforderlich, weil etwa der Eigentümer dem Verkauf einer veräußerbaren Sache zustimmen musste, sondern weil durch die Zustimmung des auctors das private Geschäft zum Bestandteil der öffentlichen und gemeinsamen Sache wurde. Der auctor garantierte mit seiner Zustimmung, dass dieses Geschäft mit der res publica übereinstimmt. Seine auctoritas war daher nicht auf die Veräußerung einer veräußerbaren Sache gerichtet, sondern auf die Bewahrung und Erhaltung der (dem Römer) unveräußerlichen Sache. So verstanden, hat Tertullian jedoch den römischen Autoritätsbegriff nur auf eine andere unvervon eben den Gründern, deren die Sache ist (habeo origines firmas ab ipsis auctoribus quorum fuit res). Ich bin Erbe der Apostel.« (Zit. nach: Ritter 1977, 62 ff.) 49 ebd. 6, 3: »Wir haben die Apostel des Herrn als Auctoren (Apostolos Domini habemus auctores), die nichts nach eigenem Gutdünken wählten, was sie einführten, sondern die die von Christus erhaltene Lehre (acceptam a Christo disciplinam) getreulich den Völkern überbrachten.« – Vgl. auch: Tertullian, adversus Marcionem IV, 2, 1 ff. 50 ebd. 20, 4 ff.: »Die Apostel sind ausgezogen in alle Welt und haben ein und dieselbe Glaubenslehre [wie zuvor den Juden] den Heidenvölkern verkündet. Und so gründeten sie in einer jeden Stadt Gemeinden, von denen sich in der Folge die übrigen einen Ableger (tradux) des Glaubens und Samenkörner der Lehre entlehnten und noch täglich entlehnen, um die Gemeinden (ecclesiae) zu werden. Auf diese Weise dürfen sie selbst als apostolisch gelten, Abkömmlinge (suboles) [jener] apostolischen Kirchen … Ihre Einheit [aber] erweist sich in der wechselseitigen Gewährung der Kirchengemeinschaft (communicatio pacis), im Brudernamen (appellatio fraternitatis) und im Freundschaftszeichen der Gastlichkeit (contesseratio hospitalitatis), drei Vorrechten (iura), welche keinen anderen Grund und kein anderes Richtmaß haben als die eine Überlieferung ein und derselben Glaubensregel (eiusdem sacramenti una traditio).«
350
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum
äußerliche Sache angewandt: die res christiana. Durch die Einführung des Begriffs der auctoritas apostolorum ins kirchliche Recht sollte verhindert werden, dass durch den unautorisierten Gebrauch der christlichen Lehre, durch ihre Auslegung nach eigenem Gutdünken (ex suo arbitrio), die Authentizität des Glaubensgutes beschädigt, entstellt und dadurch verloren geht. Durch die Rückbindung des Gebrauchs dieses Gutes an die auctores sollte der Glaube als die (den Christen) unveräußerliche Sache authentisch und dauerhaft bewahrt werden. Mit dieser Übertragung des Autoritätsbegriffs zeigt schon die erste Artikulation einer spezifisch »lateinischen Patristik« durch Tertullian das eigentümlich römische Interesse an der zeitübergreifenden und dauerhaften Institutionalisierung der gemeinsamen Sache, das sich sowohl vom Enthusiasmus charismatischer Bewegungen als auch von den theologischen Problemstellungen der griechischen Theologie unterschieden hat. 51 So wie es im römischen Denken ausgeschlossen war, dass der Einzelne sich als Urheber der gemeinsamen Sache versteht, oder dass deren Wahrheit durch das Denken zu begründen wäre, so schloss der lateinische Jurist Tertullian als Rechtsgrund der christlichen Glaubensauslegung sowohl die innere Glaubensgewissheit als auch das Gedachtsein, die Vernünftigkeit des Geglaubten, aus; diese Instanzen galten ihm vielmehr als stete Quellen der Häresie. Nach ihm bildete allein die auctoritas apostolorum den rechtsetzenden Maßstab, so dass nur die Auslegung des Glaubens rechtmäßig war, die die Apostel als auctores hatte. Dies, so Tertullian, sei die Weise, in der die christlichen Kirchen ihren Besitzanspruch auf die authentische Lehre belegen 52 . A limine, d. h. ohne Diskussion der Lehren, könne daher über die Rechtmäßigkeit entschieden werden: hat die Gemeinde einen der apostolischen Männer zum Gründer, oder nicht? Hat sie keinen, ist sie keine Kirche 53. Mit dieser Einführung des unbiblischen Autoritätsbegriffs hat Tertullian also nicht Unvergleichbares gleichgesetzt, sondern vielmehr die Bestand, Dauer und Einheit garantierende Funktion der römischen auctoritas auf die civitas christiana übertragen. 2. Sehen wir auf die Form, die der christliche Glaube durch diese »Die Funktion der apostolischen auctoritas ist vor allem die Sicherung der unverfälschten Tradition der Glaubenslehre.« (Ring 1975, 64 f.) 52 Tertullian, de praescriptione haereticorum 32, 1–2. 53 ebd. 37, 1. 51
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
351
Der dreieinige Gott
Begründung erhält, so nimmt er dadurch die Gestalt einer Sache (res) an, die als solche erworben, besessen, bewahrt und übertragen wird. Das Wissen, dass und wie Jesus der Christus ist, gewinnt eine gleichsam objektive Existenz. Es entspringt keiner äußeren oder inneren Erfahrung und ist auch nicht durch die Bindung an die Vernunft begründet, sondern existiert für sich, unabhängig von inneren Überzeugungen oder rationalen Überlegungen. So wie im Römischen die res romana die gemeinsame und unveräußerliche Sache war, als deren Urheber die maiores anerkannt wurden, so gewinnt der christliche Glaube unter dem Autoritätsbegriff die Gestalt eines gemeinsamen und unveräußerlichen Glaubensguts (depositum fidei), als dessen Gründer Christus und die Apostel, die christlichen maiores, anerkannt werden. Der Begriff der auctoritas apostolorum drückt so aus, dass der Christ sich zu derjenigen gemeinsamen und heiligen Sache bekennt, die in Christus ihren Stifter und in den Aposteln ihre Gründer hat, und auf deren Bewahrung und Unversehrtheit das Denken und Handeln der civitas christiana gerichtet ist. Als apostolische Kirche gliederte sich das Christentum auf diese Weise institutionell in die römische Tradition ein 54 . Auch wenn mit dieser Übertragung der römischen auctoritas der christliche Glaube in ein Gut verwandelt wurde, so ist dadurch freilich die Sache der Christen nicht zur Sache der Römer geworden. Was den Inhalt betrifft, mag hier der einfache Hinweis genügen, dass die Sache nicht ›Rom‹, sondern ›das Evangelium‹ war. Und diese Sache existierte nicht in der örtlich gebundenen Stadttextur und in tradierten Handlungsmustern und Institutionen, sondern in der Gestalt der Schrift, in der sie eine allgemeine, übertragbare und reproduzierbare und dennoch dauerhafte Existenz erhielt. Als »Heilige Schrift« (scriptura sancta) codierte der Text das, was den Christen, unverfügbar, Wissen ist 55 ; und seine Aktualisierung vollzog sich durch und im Diese Umwandlung des christlichen Glaubens in ein Gut war ein wesentlicher Grund, dass die westlich-lateinischen Kirchen sich gegenüber charismatischen Bewegungen wie gelehrten Trinitätsdiskussionen als recht resistent erwiesen. Statt einer Bekenntnisoder theologischen Literatur entstand in den lateinischen Kirchen vor allem die aus der römischen Rhetoriktradition übernommene sog. Exempla-Literatur, die anhand biblischer Gestalten oder christlicher Märtyrer das christlich-tugendhafte Leben beispielhaft vorstellte. Ambrosius wird dann einerseits den ›heidnischen‹ maiores die christlichen Vorbilder, andererseits den bloßen verba philosophorum die ›res gestae‹ der christlichen Glaubensväter gegenüberstellen. – Zur Übernahme und Umformung der altrömischen Exempla siehe: Geerlings 1978, 158–168; Consolino 1990, 351–369. 55 Es ist allerdings unklar, welche Schriften Tertullian mit den »scriptura sancta« (etwa 54
352
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Übertragung der »auctoritas« in das Christentum
gemeinsamen Leben der civitas christiana, die darin Christus als den Urheber dieses Wissens anerkannte.
B.
Auctoritas episcopalis
Der weitere – und im Sinne der römischen auctoritas folgerichtige – Schritt war es, auch die aktuelle Repräsentation der apostolischen Autorität kirchenrechtlich zu institutionalisieren. Da die Authentizität der Lehre, zumindest dauerhaft, nicht nur auf der Auctorschaft der Apostel beruhen konnte, musste sie auch durch lebende Personen vergegenwärtigt werden. Diesen Schritt hat Cyprian, der Bischof von Karthago, vollzogen, der den Bischöfen über die Funktion der Bewahrung des gemeinsamen Glaubensgutes auch die Repräsentation der apostolischen Vollmacht zuschrieb. Dabei wurde allerdings der Gehalt des Autoritätsbegriffs vieldeutig und vage. Denn die auctoritas episcopalis bedeutete für Cyprian nicht die fraglose Anerkennung des Bischofs durch die kirchliche Gemeinde, sondern das von der Person unabhängige und an die cathedra gebundene Amt, dem er sowohl die durch den Heiligen Geist bewirkte Vollmacht der Leitungs- und Lehrbefugnis als auch das uneingeschränkte Recht der priesterlichen Löse- und Bindegewalt zuschrieb. Er übertrug so nicht das altrömische Verständnis der auctoritas ins Christliche, sondern den spätrömischen Begriff des Imperiums, in dem die spezifische Bedeutung der auctoritas patrum mit dem staatsrechtlichen Begriff der potestas magistratum und dem kultischen Begriff der divinitas imperatoris 56 eine neuartige Verbindung eingegangen war 57. Hatte Tertullian die auctoApologeticum XXXIX, 18; de ieiunio adversus psychicos VI, 2) meinte. K.-H. Lütcke ist der Auffassung, er habe die »divina auctoritas der Bibel … streng auf die kanonischen Schriften begrenzt« (Lütcke 1968, 55); C. Schneider hingegen, es habe zu dieser Zeit keinen Kanon gegeben: »Überall sind Gegensätze und Widersprüche … Die einen sagen: Gültig ist, ›was in allen Kirchen gelesen wird‹. die anderen: ›was von den Aposteln stammt‹, die dritten unterscheiden sympathischen und unsympathischen Lehrgehalt.« (Schneider 1954, 329 f.). Siehe auch: Zahn 1901, 15 f. – Folgt man dieser Auffassung, dann bestand der Text, der das christliche Glaubensgut codierte, zunächst aus der regula fidei. »Die regula fidei als die Quintessenz des ius divinum ist fraglos anzuerkennen, da sie sich von der göttlichen auctoritas herleitet. Sie heißt principalis auctoritas« (Lütcke 1968, 55). 56 Vgl.: Clauss 1999. 57 Gmelin 1937, 94: »Die Sprache Cyprians verrät deutlich den kirchlichen Praktiker, der in einer politischen Tradition groß wurde. Potestas, honor, dignitas, maiestas, fas, ius, A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
353
Der dreieinige Gott
ritas noch im Sinne des römischen Zivilrechts gebraucht, entnahm Cyprian sie dem römischen Staatsrecht. Im Ausdruck »auctoritas episcopalis« verschmolzen daher die verschiedenen Vorstellungen der frei anerkannten Urheberschaft, der rechtlich höchsten Befugnis und der geistlichen Vollmacht zu einem ununterscheidbaren Knäuel; und der Ausdruck »auctoritas et potestas sacerdotalis« wurde bei Cyprian zu einer »fast stereotypen Formel« (Ring 1975, 97). Bis zu seiner Neubestimmung durch Augustin verlor der Autoritätsbegriff mit der Eingliederung der Kirche in das Imperium Romanum seinen eigentümlichen Bedeutungsgehalt; potestas und auctoritas wurden »im Grunde austauschbare Begriffe« (Mietke 1980, 23).
C. Auctoritas patris Über diesen kirchenrechtlichen Gebrauch hinaus ist der Begriff der auctoritas von Tertullian auch schon theologisch verwendet worden. Neben der Verwendung des Ausdrucks »auctoritas divina«, mit dem er das Wirken der Allmacht Gottes beschreibt 58 , diente er ihm auch, um das innergöttliche Verhältnis zu bezeichnen. In der Auseinandersetzung mit Praxeas, der an der Idee der Monarchie Gottes festgehalten hatte, und dem Vater und Sohn folglich nur Modi des Einen waren 59 , gebrauchte Tertullian den Autoritätsbegriff, um das rechtmäßige Bekenntnis zum Vater und dem Sohn zu verteidigen, ohne darum die Monarchie Gottes preiszugeben. Beide, so Tertullian, seien weder identisch noch verschieden, sondern so, dass das, was der Sohn tut und leidet, aus der Autorität des Vaters (ex auctoritate patris) geschieht, und das Handeln des Sohnes zugleich der Wille des Vaters ist: »Es war nämlich«, schreibt er gegen Praxeas (15, 9), »immer der Sohn, den man sah und mit dem man verkehrte, der aber das, was er tat, aus der Autorität und dem Willen des Vaters tat, weil der Sohn nichts von sich selber tun kann, sondern nur was er den Vater tun sieht.« In dieser Auseinandersetzung hat es Tertullian erstmals unternommen, das innertrinitarische Vater-Sohn-Verhältnis nicht grauitas – derartige Epitheta aus dem Staatsleben werden nun in der Kirche zu lebendigen Begriffen des bischöflichen Amts.« Campenhausen 1953, 330: »Cyprian formuliert das Prinzip der einseitigen Autorität der Bischöfe zum erstenmal mit voller Eindeutigkeit und mit erschreckender Bestimmtheit und Unbefangenheit.« 58 Siehe: Ring 1975, 60 ff. 59 Tertullian, Adversus Praxean, 2, 1.
354
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
durch Begriffe wie den der Hypostase oder der Substanz zu bestimmen, sondern als eine Beziehung von Personen aufzufassen, in der das Handeln des Sohnes nicht, verschieden vom Vater, aus Eigenem geschieht, sondern den Willen des Vaters als des auctors repräsentiert. Damit schließt Tertullian den Kreis zwischen Sohn und Vater: »Göttliche Autorität wird sichtbar in der gewaltigen auctoritas, mit der Christus auftritt, und sie wird wieder zurückgeführt auf die auctoritas Gottes als ihres Urhebers« (Lütcke 1968, 55). In diesem theologischen Sinne hat Tertullian den Autoritätsbegriff freilich nicht in dogmatischer, sondern in apologetischer Absicht gebraucht. Er hat ihn verwendet, um dem Einwand der »ZweiGötter-Lehre«, den die Monarchianer erhoben hatten, etwas entgegenzusetzen. Er hat damit jedoch die Basis für ein personales Verständnis in der lateinische Patristik gelegt, die auch innertrinitarisch auf die spezifisch römische Tradition der auctoritas zurückgreifen konnte. 60
III. Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes Fassen wir unsere bisherige Rekonstruktion des christlichen Trinitätsproblems sowie der Transformation des Autoritätsbegriffs zusammen, so stehen Glaube und Denken in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite sollte das, was der christliche Glaube bekennt, durch die autonome Vernunft theologisch begriffen werden; dieses Unternehmen endete mit der Annahme der Homousie-Formel. Auf der anderen Seite wurde der Glaube durch den Rekurs auf die auctoritas Christi und der Apostel begründet, die die Rechtmäßigkeit der Lehre und die Unversehrtheit des Glaubensgutes bewahren sollte. Während die griechischen Theologen seit Clemens und Origenes in der Logos-Tradition dazu tendierten, den Glauben, die pisti@, als ein unvollkommenes Vermögen zu betrachten, das erst durch die denkende Vernunft in der gnwsi@ oder episthmh zur Vollendung gebracht wird, und daher zwischen den einfachen Gläubigen und den »Vollkommenen« unterschied, stand So auch Ambrosius: »Plura loci huius tractatus exposcit, quibus possimus ostendere auctoritatem patris, proprietatem filii, trinitatis totius unitatem.« (De excessu fratris I, 14. In: Ambrosius 1955, 216). – Siehe: Ring 1975, 174.
60
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
355
Der dreieinige Gott
in der lateinischen Patristik seit Tertullian die Reinheit und Verbindlichkeit des Glaubens und der Kampf gegen die Häresien im Zentrum. Sie unterschied daher die Gläubigen am Maß der fides, der Glaubensstärke. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses zwischen Denken und Glauben und damit zwischen dem griechischen Autonomiediskurs und dem römischen Autoritätsverständnisses war Augustin der erste, der die Frage nach ihrem Verhältnis in Hinblick auf den christlichen Glauben stellte 61. Weil und indem Augustin beide, die Autorität, durch die der Glaube bewirkt und befestigt wird, und die Vernunft, durch die die Erkenntnis bewirkt und begründet wird, als gleich nötig erachtete, konnte er sich sowohl der »häretischen Gefahr« eines Rationalismus widersetzen, der das christlich Geglaubte in reine Vernunfterkenntnis aufzulösen trachtete, als auch der »sektiererischen Gefahr« eines Fideismus entgehen, der die Erkenntnisfrage auf die Sicherheit des Glaubens reduzierte. In seinem Gesamtwerk ist Augustin auf das Verhältnis von ratio und auctoritas in den unterschiedlichsten Kontexten, in philosophischen, sprachtheoretischen, bibelexegetischen, kirchenrechtlichen, eingegangen. Mit Recht ist daher gesagt worden, dass »auctoritas et ratio – die Glaubenserkenntnis und die rationale Erkenntnis … die beiden fundamentalen Kategorien des Systems, oder besser, des Wesens des eigentlich augustinischen Denkens« (Marrou 1991, 62) waren. Im Folgenden werden wir jedoch nur auf drei Themenstellungen eingehen, die dieses Verhältnis behandeln. Der, für Augustin auch zeitlich, erste Themenkreis war die Theorie der Erkenntnis. Auctoritas und ratio haben hier die Funktion, die Erkenntnis, d. h. die Wahrheit der christlichen Lehre, zu begründen. Jene bewirkt, dass die Aussagen durch Rekurs auf die Person für wahr gehalten, d. h. geglaubt, werden. Die ratio hingegen bewirkt die Einsicht in den Sachverhalt; durch sie werden die Aussagen sachlich begründet. – Das, auch zeitlich, zweite Thema war für Augustin die – im heutigen Sprachgebrauch – fundamentaltheologiVor Augustin hatte das Verhältnis von auctoritas und ratio im Christentum keine große Rolle gespielt. »Wenn überhaupt das Thema von Glauben und Wissen angepackt wurde, dann noch ganz im Sinne der durch die alexandrinische Tradition vorgegebenen Begrifflichkeit (credere – intellegere, nicht auctoritas – ratio). An den wenigen Stellen, an denen auctoritas und ratio überhaupt in eine Beziehung gesetzt wurde, stehen die beiden Begriffe kopulativ nebeneinander, ohne dass ein Problem gesehen wurde.« (Lütcke 1968, 58)
61
356
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
sche Erklärung des Glaubens. Hier stehen nicht die Aussagen im Zentrum, die geglaubt oder eingesehen werden, sondern der Glaube an die Person selbst; und die Frage richtet sich nicht darauf, was man warum glaubt, sondern dass man wem glaubt. Die auctoritas, die eine Person besitzt, und die ratio, die Gründe geltend macht, gehen hier dem Akt des Glaubens vorher; und die Ursache des Glaubens selbst sieht Augustin in dem durch die Gnade Gottes bewirkten guten Willen. – Der dritte Themenkreis schließlich ist das Göttliche. Hier, so unsere These, hat es Augustin unternommen, den aus der griechischen Philosophie stammenden Begriff der ratio mit dem römischlateinischen Begriff der auctoritas in einem Konzept vom dreieinigen Gott zu verbinden, das für das abendländisch-europäische Denken prägend und bestimmend wurde.
A. Auctoritas und Ratio als Kräfte der Erkenntnis Seit der klassischen Zeit sind ratio und auctoritas im römisch-lateinischen Bildungssystem zu einem grundlegenden Begriffspaar geworden, in dem sich die Konfrontation wie die Verbindungen der römischen Tradition mit der griechischen Philosophie widerspiegelten. Zwar hatte es Cicero, wie wir sahen, unternommen, das Prinzip der ratio mit der auctoritas maiorum zu verschmelzen, indem er die römische res publica als Verwirklichung der griechischen Idee der Natur darlegte; dennoch blieben beide Begriffe in der Folgezeit weitgehend unverbunden nebeneinander gestellt. Nur im theoretischen Diskurs, in Fragen der Philosophie und der Wissenschaften, konnte die ratio, das Verfahren der Begründung, akzeptiert werden; in praktischen Fragen folgte man der auctoritas. »In bestimmten Bereichen«, fasst K.-H. Lütcke die nachklassische Zeit zusammen, »– und immer ist es der Bereich sittlichen oder religiösen Verhaltens und der Bereich konkreter Entscheidungen – (stellt) der Römer aus Einsicht in die Grenzen der ratio die auctoritas über die ratio … und (folgt) der auctoritas auch ohne eine Begründung – etiam ratione non reddita« (Lütcke 1968, 45). Im lateinischen Christentum hingegen wurden auctoritas und ratio zunächst als entgegengesetzte Prinzipien verstanden. Die Rechtmäßigkeit des Glaubens wurde auf die auctoritas apostolorum gestützt; die ratio hingegen galt als Quelle der Häresien und des Zweifels. Nur wer für seine Lehre keine Autorität anführen könne, A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
357
Der dreieinige Gott
meinte Tertullian, müsse sich um so mehr auf die ratio stützen 62 . Diese Lage änderte sich allerdings nach den konstantinischen Edikten im vierten Jahrhundert, als sich im lateinischen Westen ein einflussreicher Kreis ›neuplatonischer Christen‹ etablierte. Dieser, von dem Rhetor Marius Victorinus angeregte, vor allem von Ambrosius 63 und Simplician in Mailand getragene Kreis erörterte die Frage der griechischen Theologie nach dem Verhältnis des Glaubens zur Einsicht, der Auslegung der biblischen Schriften zur (neu-)platonischen Philosophie, auch im Westen 64 . Der erste freilich, der die Frage nach Glauben und Einsicht als Erkenntnisweisen mit der auctoritas und der ratio als Erkenntniskräften verband, war Augustin. 1.
Die gestufte Erkenntnis: Credere, ut intelligere
1. Bevor wir auf das Verhältnis von auctoritas und ratio eingehen, soll zunächst das, was geglaubt, und das, was eingesehen wird, ›umfangslogisch‹ geordnet werden. In »Über den Lehrer« (11, 37) schreibt Augustin: »Was ich einsehe, das glaube ich auch; aber nicht alles, was ich glaube, sehe ich auch ein. Also weiß ich alles, was ich einsehe, nicht aber alles, was ich glaube.« Das Eingesehene ist also eine ›Teilmenge‹ des Geglaubten. – Näher nun bestimmt Augustin das, was geglaubt, und das, was eingesehen wird, inhaltlich: Auf dem Gebiet des Geschichtlichen werden die Sachverhalte nur geglaubt, ohne eingesehen werden zu können; auf dem Gebiet der Vernunft hingegen, der Logik, Geometrie und Arithmetik, werden die Sachverhalte, sobald sie eingesehen werden, auch geglaubt; auf dem Gebiet der göttlichen Dinge, der res divinae, jedoch seien die Sachverhalte von der Art, dass sie zuerst geglaubt und dann eingesehen werden. 65 Seine Untersuchungen über das Verhältnis von Glauben Tertullian, De ieiunio adversus psychicos 10, 5. – Zum Verhältnis von auctoritas und ratio bei Tertullian siehe: Ring 1975, 80–91. 63 »Dank der ausgezeichneten griechischen Sprachkenntnisse bereitete es Ambrosius keine Schwierigkeiten, die Erkenntnisse der griechischen Theologie in seinen Schriften zu verwerten. Er tat dies so ausgiebig, dass man ihn als den Hauptvermittler der griechischen Theologie im lateinischen Westen bezeichnen kann.« (Ring 1975, 45) 64 »Es war in diesem Milieu ganz natürlich, von den Enneaden [Plotins] zum Prolog des Johannesevangeliums oder zum heiligen Paulus überzugehen.« (Marrou 1991, 26) – Vgl. auch: Fuhrer 2004, 8 ff. 65 de diversis quaestionibus octaginta tribus, 48. 62
358
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
und Einsicht bezieht Augustin also nur auf die Erkenntnis der göttlichen Dinge. Diese sei Aufgabe der Philosophie, weil über sie keine andere Wissenschaft belehren könne. 66 Zur Erkenntnis des Göttlichen beschreibt Augustin nun zwei Wege: der eine sei der Weg des Glaubens, der durch die auctoritas, der andere der Weg der Einsicht, der durch die ratio bewirkt werde 67. Den ersten weist er der »ungebildeten Menge« (imperita multitudo) zu 68 . Er sei ein Kompendium, eine Abkürzung des schwierigen Wegs der ratio, durch die man auch ohne die Einsicht zur Erkenntnis gelange. 69 Im Dialog »Über das glückselige Leben« (4, 35 f.) wird dieser Erkenntnisweg Monnica, der Mutter Augustins, zugestanden: obgleich sie das Göttliche nicht durch die Vernunft erfasst habe, sei sie auf dem Weg des Glaubens und mit göttlicher Hilfe dennoch in den Zustand der Weisheit und der Sittlichkeit gelangt. Dieses Kompendium, hebt Augustin in der Schrift »Über die wahre Religion« (3, 3) hervor, bezeichne den wesentlichen Vorzug des Christentums gegenüber der (platonischen) Philosophie. Während für diese der Weg zur Wahrheit nur den wenigen möglich war, habe Gott sich in der Menschwerdung Christi den einfachen Menschen zugewandt, so dass durch die auctoritas Christi auch die Ungebildeten in den Besitz der Erkenntnis gelangen und Gott haben können. 70 – Den anderen Weg weist Augustin den wenigen Gebildeten (eruditi) zu, die auf dem schwierigen Pfad der ratio zur Erkenntnis des Göttlichen gelangen. Er geht dabei so weit, dass er für die wenigen Weisen diesen Gang auch ohne den vorausgesetzten Glauben als möglich erachtet. Pythagoras und Platon, aber auch Plotin und Porphyrius, die doch den Glauben an die Menschwerdung Gottes strikt abgelehnt haben, seien allein durch die ratio zur Erkenntnis des wahren Gottes gelangt. Nur wenige Worte und Meinungen müssten geändert werden, und sie wären Christen. 71 Vgl. Soliloquia I, 5, 11: »Nullus autem geometres deum se docere professus est.« »Duplex enim est via, quam sequimur, cum rerum nos obscuritas movet, aut rationem aut certe auctoritatem.« (de ordine II, 5, 16) – »quod intelligimus igitur, debemus rationi, quod credimus, auctoritati.« (de utilitate credendi 11, 25) 68 »Sola est auctoritas quae commovet stultos ut ad sapientiam festinent« (de utilitate credendi, 34). 69 »Auctoritate credere magnum compendium est, et nullus labor« (de quantitate animae 12). – Vgl. auch: contra Faustum XXII 19. 70 Vgl. dazu: »Le Christ est le Platon des foules.« (Alfaric 1918, 428) 71 »paucis mutatis verbis atque sententiis christiani fierent« (de vera religione 4, 7). – In den Soliloquia (I, 4, 9) gesteht Augustin Platon und Plotin wahre Sätze, aber kein festes 66 67
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
359
Der dreieinige Gott
Die eigentliche Leistung Augustins besteht jedoch nicht darin, auctoritas und ratio in dieser Weise nebeneinandergestellt zu haben, sondern dass er sie als zwei notwendige und aufeinander verweisende epistemische Instanzen betrachtet hat, durch die man zur Erkenntnis der göttlichen Dinge gelangt. In seiner Schrift »Über die Ordnung« (II, 9, 26) ordnete er sie erstmals folgendermaßen zu: »Ebenso werden wir zum Lernen notwendig auf einem zweifachen Weg geführt, durch Autorität und durch Vernunft. Der Zeit nach hat die Autorität den Vorrang, der Sache nach aber die Vernunft. Denn das Erste in unseren Handlungen ist etwas anderes als das, was wir im Erstreben mehr schätzen. Zwar scheint die Autorität der Guten für die unkundige Menge förderlicher, die Vernunft jedoch für die Wissenden angemessener zu sein; da aber jeder Mensch unerfahren ist, bevor er erfahren wird, ein Unerfahrener aber nicht weiß, wie er sich zu den Lehrern verhalten soll und durch welche Lebensführung er belehrt werden kann, so läuft es darauf hinaus, dass allen, die die großen und verborgenen Güter erkennen wollen, allein die Autorität die Pforte öffnet. Wer ohne Zögern durch sie eintritt, befolgt die Vorschriften des besten Lebens, durch die er, sobald er belehrbar geworden ist, schließlich erkennen wird, wieviel Vernunft sie, denen er vor der Vernunft gefolgt ist, enthalten, und was die Vernunft selbst ist, der er nun, nachdem er die Kinderschuhe der Autorität abgelegt hat, fest und sicher folgt. Er wird begreifen, was der Geist ist, in dem alles ist, oder vielmehr: der selbst alles ist, und was – verschieden von allem – der Ursprung von allem ist. Zu dieser Erkenntnis gelangen in diesem Leben nur wenige; über sie hinaus kann jedoch auch nach diesem Leben niemand gelangen.« In diesem Modell einer gestuften Erkenntnis hat Augustin das Aufstiegsschema vom einfachen Glauben zur schwierigen Einsicht, das der griechisch-alexandrinischen Theologie entstammt, mit dem römisch-lateinischen Begriffspaar von auctoritas und ratio verbunden. In ihm wird die auctoritas nicht mehr, wie in der römischen Tradition, als eine sich selbst genügende epistemische Instanz erachtet, der man auch ohne die Einsicht folgt, sondern als untere Instanz, die durch sich selbst auf die ratio verweist, als »Übergang zu etwas Wissen zu. In de civitate dei (VIII, 4; X, 23) ist er der Auffassung, die Platoniker haben »einigermaßen« den trinitarischen, wenngleich nicht den inkarnierten Gott erkannt (X, 29); Platon aber habe als einziger das Wesen Gottes ontologisch richtig erfasst (VIII, 11). – Zu Pythagoras siehe: Brown 2000, 397.
360
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Besserem« (Duchrow 1965, 105). Augustin transformiert so das bisher horizontale Neben- oder Gegeneinander von auctoritas und ratio in ein vertikales Übereinander. Folglich erhält die auctoritas als die zeitlich erste Instanz auch zwei unterschiedliche Funktionen: sie initiiert den Glauben, und sie bereitet auf die Vernunft vor. 72 Zum einen bewirkt sie, dass der nach Erkenntnis strebende Mensch gewisse Aussagen, die er vernommen hat, aufgrund der Person, die sie lehrt, glaubt; d. h. er hält sie für wahr und nimmt sie als ihn bindende Vorschriften (praecepta) an, ohne sie mithilfe Vernunft geprüft zu haben 73 . Dieses Fürwahrhalten, argumentiert Augustin in römischer Tradition, sei eine lebenspraktische Notwendigkeit. Am Beispiel der Eltern erläutert er, dass wir ihren Aussagen über ihre Elternschaft aufgrund ihrer Autorität ohne irgendeinen Zweifel glauben – trotz der Möglichkeit des Irrtums. Nichts, so sein antiskeptischer Einwand, bliebe in den menschlichen Dingen unversehrt, und wäre das »heiligste Band des Menschengeschlechts« (de utilitate credendi, 12, 26) in Gefahr, entschlösse man sich, nichts zu glauben, dessen man sich nicht sicher ist. Da sich nun aber die menschlichen Dinge leichter erkennen lassen als die göttlichen, müsse bei allem, was heiliger und erhabener ist, gelten: »je mehr Gehorsam und Verehrung wir schulden, um so größer ist der Frevel und die Gefahr, wenn wir hier sündigen.« (ebd.) Daher sei, dass die auctoritas der ratio vorhergehe, ein Gebot, das die Vernunft lehrt. 74 – Zum anderen aber bewirke die auctoritas, indem sie dem Lernenden für die großen und verborgenen Güter »die Pforte öffnet«, eine Belehrbarkeit, d. h. eine Umwandlung und Reinigung der Seele, ihre Hinwendung zu sich selbst und zum Göttlichen. 75 Sie fordere auf, die Welt des Sinnlichen zu fliehen 76 und sich zum Geist »Auctoritas fidem flagitat, et rationi praeparat hominem.« (de vera religione, 24, 45) Vgl. König 1970, 131 f.: »… ›glauben‹ wird … in der Regel dreistellig verwendet: Jemandem eine bestimmte Aussage glauben, heißt, eben diese Aussage (die ein anderer – nämlich die ›auctoritas‹, der ich glaube – behauptet hat) für wahr halten, ohne ihre Wahrheit selbst nachgeprüft zu haben, möglicherweise ohne überhaupt dazu in der Lage zu sein.« 74 Siehe: epistola 120, 1, 3. 75 Sie mahnt: »Noli foras ire, in teipsum redi; in interiore homine habitat veritas« (De vera religione 39, 72). – Lütcke 1968, 89: »Dieser Gedanke des Anstoßes, eines Anstoßes, den die Seele braucht, um bereit zu werden für das Streben zur Weisheit, zieht sich durch alle Schriften Augustins.« 76 Soliloquia I, 14, 24. – Vgl. jedoch die Korrektur in den Retractationes I, 4, 7: »Und wo es heißt: ›diese Sinnenwelt zu fliehen ganz und gar‹, wäre mehr Vorsicht geboten ge72 73
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
361
Der dreieinige Gott
zu erheben, wodurch das menschliche Herz geläutert und für das Licht der höchsten Vernunft empfänglich gemacht wird. Sie bewirkt so die Befreiung vom äußeren Menschen, der im Käfig der sinnlichen Welt gefangen ist, und die Hinwendung zum inneren Menschen und verleiht der Seele die Flügel, um zum Göttlichen aufzusteigen. 77 Daher könne niemand, der nicht zuerst der Autorität gefolgt sei, in göttlichen Dingen zur Erkenntnis gelangen 78 . Die ratio hingegen, die der Autorität zwar zeitlich folgt, der Sache nach aber den Vorrang hat, bewirkt, dass das zunächst nur Geglaubte durch Überlegung begriffen und im Gang der Überlegungen schließlich auch als wahr eingesehen wird. Dabei unterscheidet Augustin drei Bedeutungen von »ratio«: sie ist zum einen das Vermögen der menschlichen Seele, durch das sie zur vernünftigen Einsicht fähig ist, der oberste Seelenteil 79 . Sie ist zum zweiten das Verfahren des diskursiven Denkens, die dianoia oder ratiocinatio, die im sinnlich gegebenen Körperlichen durch Unterscheiden und Verknüpfen die »Ordnung der Dinge«, die intelligibilia oder rationes, auffindet, um zum Geist (intellectus) und dem Einen aufzusteigen, das die Ursache von allem ist 80 . Diesen Aufstieg skizziert Augustin als ein System der Wissenschaften, das von der Grammatik, Dialektik und Rhetorik ausgehend über die Musik zur Geometrie und der Arithmetik fortgeht und in der Philosophie gipfelt, die das Seiende und das Eine zu ihrem Gegenstand hat. 81 Drittens aber und vor allem bezeichnet »ratio« im griechischen Sinn den ewigen logo@ oder intellectus, der die wesen, damit wir nicht in Verdacht kommen, dem Satz des falschen Philosophen Porphyrius zuzustimmen, jeder Leib sei zu fliehen. Ich habe aber nicht ›alle‹ Sinnenwelt gesagt, sondern ›diese‹, d. h. die zerstörbare. Aber das hätte deutlicher gesagt werden müssen, denn die künftige Sinnenwelt im neuen Himmel und auf der neuen Erde des künftigen Zeit wird nicht zerstörbar sein.« 77 enarrationes in psalmos 121, 1: »Ist nämlich die Seele durch die irdische Liebe gebunden, hat sie gleichsam Leim an ihren Federn und kann nicht fliegen. Ist sie aber gereinigt von den niedrigen Leidenschaften dieser Welt, fliegt sie mit ausgebreiteten Federn und zwei von allen Hindernissen befreiten Flügeln: das heißt mit den zwei Geboten der Liebe zu Gott und zum Nächsten.« 78 In de trinitate (IV, 15, 20) dann wirft Augustin den Platonikern Hochmut (superbia) vor, weil sie meinten, sie könnten zur Gottesschau durch eigene Kraft (virtute propria) und ohne die auctoritas gereinigt werden. 79 de ordine II, 11, 31: »homo est animal rationale mortale.« – Zur ratio als oberstem Seelenteil siehe: König 1970, 69–77. 80 Siehe: de quantitate animae, 57, 53. 81 de ordine II, 14; 35–43; Contra Academicos I, 1, 3. – Zu Augustins System der »disciplinae liberales« siehe insbes.: Marrou 1995.
362
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
›Kraft‹ ist, wenn auch nur bei wenigen, die Einsicht zu bewirken. Die ratio in dieser objektiven Bedeutung ist für Augustin die unwandelbare Vernunft, aus der Gott die Welt geschaffen hat, das »Licht der ewigen Vernunft« (Retractationes I, 4, 4), durch das und in dem der menschliche Geist das, was ist, einsieht und in seiner Wahrheit erfasst. Sie ist letztes Ziel menschlicher Erkenntnis: Gott in Ruhe ähnlich zu werden (deificari in otio) 82 . Diesem Erkenntnismodell, das den Glauben und die Einsicht in finaler Weise zum »crede, ut intellegas« ordnet und verbindet, ist nun freilich die Lehre von Christus als dem inkarnierten Wort Gottes vorausgesetzt. Auf dem Gebiet des Geschichtlichen sei Christus der Mensch, der durch seine auctoritas den Glauben an seine Lehren bewirkt und zu der Einsicht vorbereitet, die durch Christus als der ratio, dem ewigen und unwandelbaren Wort Gottes, bewirkt wird. Als der von außen erfahrbaren Person komme Christus, wie Augustin in »Über die Ordnung« darlegt, die höchste Autorität zu, weil er sich durch seine übernatürlichen Wundertaten gegenüber allen anderen als die stärkste und wahrhafte Autorität erwiesen hat, dessen Lehren die Menschen daher auch ohne Einsicht zustimmen und vertrauen können; und weil er durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung die Menschen auf dasjenige Gottesreich verwiesen hat, das allein mit der Vernunft zu erfassen ist 83 . In diesem Reich des Übersinnlichen und Ewigen aber ist Christus, wie er in »Über den Lehrer« schreibt, der Lehrer in uns, durch den als das ewige Wort Gottes die menschliche Seele zur Erkenntnis des Göttlichen geführt wird. Dieses Wort erklinge nicht draußen, sondern drinnen; es ist der Christus, der – nach Epheser 3, 16 f. – im inneren Menschen wohnt. 84 2. Betrachten wir die hier skizzierte Theorie der Erkenntnis des Göttlichen als ein Ganzes, so gelingt es Augustin nur, das Aufstiegsschema vom Glauben zur Einsicht mit dem Begriffspaar von auctoriepistola 10, 2. Zu Augustins Theorie der »auctoritas divina« siehe: Lütcke 1968, 119–148. 84 De magistro, 11, 38. – Dazu L. Wittmann: »Der Geist, der den äußeren Christus vernimmt, bedarf daher immer zusätzlich noch der transzendentalen Offenbarung durch den inneren Christus, den eigentlichen Lehrer, um im transzendentalen Urteil nach den geoffenbarten inneren Prinzipien die Wahrheit der Worte des äußeren Christus als solche zu erfassen. So können auch alle Interpretationen der Offenbarungsworte und alle autoritativen Lehrworte der Kirche immer nur von innen her verstanden werden. Sie bedürfen der kritischen Reflexion, des transzendentalen Urteils nach der inneren Wahrheit selbst; denn anders ist es nicht möglich, die Wahrheit äußerer Aussagen zu erkennen.« (Wittmann 1980, 90) 82 83
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
363
Der dreieinige Gott
tas und ratio zu verbinden, weil er beiden schon eine bestimmte Christologie zugrunde legt: Als geschichtlicher Person kommt Christus die im römischen Sinne verstandene summa auctoritas zu, die im Menschen den Glauben an seine Lehre bewirkt und ihn zugleich auf die Einsicht verweist. Die Kraft zu dieser Einsicht aber, die ratio, versteht Augustin im Sinne der griechischen Theologie als den Christus, der aus Gott als sein Wort oder Licht ewigerweise hervorgeht. Als »Mensch und Gott zugleich« besitzt Christus die zwei Kräfte zur Erkenntnis: die auctoritas, die im Geschichtlichen den Glauben, und die ratio, die im Zeitlosen die Einsicht bewirkt. 85 Mit dieser Christologie ist jedoch das, was in erkenntnistheoretischer Hinsicht mittels des Glaubens und der Einsicht als das Göttliche doch erst erkannt werden soll, in theologischer Hinsicht der Erkenntnis schon vorausgesetzt: die ›wahre Sache‹, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Aus dieser Zirkularität folgt nun aber die Unklarheit darüber, wie denn der Glaube der Sache nach zu verstehen ist. Ist er wirklich nur der zeitliche Beginn, der im Gang der Erkenntnis hinter sich gelassen wird, wie Augustin ihn in obigem Zitat dargestellt hat; und nimmt damit die auctoritas nur die Rolle eines »Platzhalters« (Flasch 1980, 83) ein, die ihren Platz dann für die ratio räumt, weil die Erkenntnis des Göttlichen sich mittels der ratio vollzieht? Oder muss nicht vielmehr der Glaube an Christus als »Gott und Mensch zugleich« die Bedingung sein, unter der jener gestufte Erkenntnisweg überhaupt möglich ist? Im ersten Fall hätte die auctoritas nur die Funktion eines Instruments, das initiierend und induzierend auf die ratio verweist, und dessen Wirksamkeit durch die Erkenntniskraft der ratio überwunden wird; der Glaube wäre so nur der, zwar notwendige, Einstieg in die Philosophie. Im anderen Fall jedoch besitzt die den Glauben bewirkende auctoritas die Funktion eines Fundaments und Firmaments, weil die ›Sache‹, die durch sie geglaubt wird, die Menschwerdung Gottes, mit den Mitteln der ratio zwar verstanden, vertieft und erweitert, niemals aber begriffen werden kann. Hier dient die ratio dem Glauben. 86 »Dem Dualismus von credere und intellegere entspricht die Zweiheit der Naturen in Christus«. (Löhrer 1955, 175) 86 Seit A. v. Harnacks Vortrag über »Augustin’s Confessionen« (Gießen 1895) hatte die ›ältere‹ Augustin-Forschung die Frage zu klären versucht, ob der frühe Augustin als Philosoph oder als Christ zu verstehen sei. In seiner Arbeit über die intellektuelle Entwicklung Augustins kam P. Alfaric zum Ergebnis, Augustins Christentum sei nichts 85
364
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
2.
Auctoritas und Ratio als Bedingungen des Glaubens
1. Dieses Schwanken Augustins über die Rolle des Glaubens 87 beenden, wie er dann selbst sagen wird 88 , seine Kommentare zum Römerbrief und vor allem seine Schrift »An Simplician«. Er hält zwar weiterhin daran fest, dass der Glaube die Einsicht sucht und das Verstehen erhofft, wie er dies in seinen Werken »Über die christliche Lehre« und »Über die Dreieinigkeit« ausführen wird. Aber er gelangt jetzt in erkenntnistheoretischer Hinsicht zu der Auffassung, dass die Erkenntnis der göttlichen Dinge nicht nur wenigen, sondern keinem menschlichen Geist möglich ist 89 . »Wer auch immer denkt«, schreibt er in »de consensu evangelistarum« (III, 10, 20), »dass ein Mensch in anderes als »une adaption populaire de la sagesse platonisienne« (Alfaric 1918, 399; VIII). Dem wurde von Ch. Boyer (Christianisme et néo-platonisme dans la formation de saint Augustin, 1920), J. Nörregard (Augustins Bekehrung, Tübingen 1923) und R. Guardini (Die Bekehrung des heiligen Aurelius Augustinus. Der innere Vorgang in seinen Bekenntnissen, Leipzig 1935) entgegengehalten, Augustins philosophisches Denken sei stets von christlichen Grundlagen ausgegangen und habe die Vernunft dem Glauben untergeordnet. Seit P. Courcelles »Recherches sur les confessions de saint Augustin« (Paris 1950) wird die Alternative »Philosophie oder Christentum« von der ›neueren‹ Forschung als sachlich unangemessen betrachtet: für Augustin waren sie keine Gegensätze. Während Courcelle nur allgemein von einer Synthese von Christentum und (platonischer) Philosophie gesprochen hatte, hat dann vor allem G. Madec (1994) betont, dass Augustin zwar christliches Gedankengut mithilfe neuplatonischer Metaphysik erklärt und Biblisches durch philosophische Begriffe gedeutet, seit seiner Bekehrung jedoch die christliche Religion als Grundlage betrachtet habe. Dieser Ansatz schließt die uns leitende Idee nicht aus, Augustins Denken in seiner Entwicklung zu betrachten, in der sich die Auffassung über die Beziehung von christlichem Glauben und philosophischer Einsicht und damit über das Verhältnis zwischen auctoritas und ratio gewandelt und sein Standpunkt gefestigt hat. 87 E. König gab in seiner Arbeit über den ›frühen Augustin‹ zu bedenken, ob Augustin nicht den Glaubenssatz: »sapientia dei hominem suscepit« zwar als wahr angenommen, ihn jedoch »photinianisch« im Sinne eines überragend weisen Menschen gedeutet hat: »Die Behauptung, der historische Mensch Jesus Christus sei identisch mit Gott, erscheint ihm als philosophisch unhaltbar. Statt jedoch – wie die Mehrzahl der heidnischen Philosophen – die Lehre von der ›Menschwerdung‹ abzulehnen, stellt der junge Augustin wieder die Frage, was mit dieser mythischen Rede vernünftigerweise gemeint ist. Als philosophische Interpretation bietet sich für ihn (vermutlich im Anschluss an Porphyrios) an, den Satz ›sapientia hominem suscepit‹ als sachverhaltsgleich mit ›sapientem fieri per sapientiam dei‹ aufzufassen.« (König 1970, 129) 88 contra Iulianum VI, 23, 70; Retractationes I, 23; I, 26, quaestio 66; II, 1, 1; de praedestinatione sanctorum 3, 7; 4, 8; de dono perseverantiae 20, 52; 21, 55. 89 »Vor der Lektüre des Römerbriefs 396 sieht Augustin in dieser Umwandlung von Glaube in Wissen eine in diesem Leben durchaus lösbare Aufgabe … Nach 396 misstraut Augustin dieser Fähigkeit des Menschen und hält die Umwandlung von Glaube in A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
365
Der dreieinige Gott
diesem sterblichen Leben die Nebelschleier körperlicher und fleischlicher Vorstellungen vertreiben könne, um das unumwölkte Licht wandelloser Wahrheit zu besitzen und ihm im Geiste, der dem gemeinen Lebenswandel ganz entfremdet ist, beständig und unbeirrbar anzuhangen, der versteht weder, was er sucht, noch, wer er ist, der es sucht.« Der menschlichen ratio bleibe das Göttliche als ein undurchdringliches Geheimnis verborgen 90 , und selbst der reinste Geist könne Gott nur berühren, nicht aber begreifen und haben 91 . Die menschliche Weisheit sei daher nur eine »docta ignorantia« (ep. 130, 15, 28) – hoffend, das Geheimnis im künftigen Leben zu schauen. Dies, so fordert Augustin jetzt gegenüber dem »Hochmut« einer rein rationalen Philosophie, habe sich der nach Erkenntnis strebende Mensch bewusst zu machen 92 . Mit diesem grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber der Erkenntniskraft der menschlichen ratio erhält jedoch der Glaube eine andere, zentrale Bedeutung. Er ist jetzt nicht mehr das nur zeitlich Erste, wodurch dem, der nichts weiß, der Zugang zum Wissen eröffnet wird; er ist auch der Sache nach das Erste, auf dem die ratio als ihrem bleibenden Fundament aufbaut. Dieser erkenntnisbegründende Glaube aber lässt sich nicht mehr, wie bisher, als eine dreistellige Relation explizieren, nach der etwas, ein Sachverhalt oder eine Regel, aufgrund einer Person für wahr gehalten wird, sondern bildet eine zweistellige Relation, nach der an diese Person geglaubt wird. Er ist nicht auf die Erkenntnis der Dinge gerichtet, sondern auf die Person selbst, und findet seinen Ausdruck nicht im Wissen vom Göttlichen, sondern in der Liebe dieser Person. Er bringt keine vorläufige, sondern »eine vorbehaltlose und uneingeschränkte Zustimmung zum Ausdruck« (Lehmann 1973, 597). Dieser ›zweistellige Glaube‹ ist gemeint, wenn Paulus im Römerbrief (3, 28) schreibt, dass der Mensch durch den Glauben gerecht werde, und wenn Augustin sagt, der Wissen bzw. von Glaube in Einsicht erst für einlösbar im Jenseits.« (Geerlings 1999, 40) – Siehe auch: Brown 2000, 127. 90 Geschichtlich schließt Augustin mit dieser These von der Unbegreiflichkeit Gottes an die nachnikaianische griechische Theologie an, nach der der Mensch zwar imstande sei, Gottes Dasein zu erkennen, aber sein Wesen ihm verborgen bleibe. Siehe: Studer 1998, 282. 91 sermo 117, 3, 5: »Si enim comprehendis, non est Deus.« – Zu Augustins »negativer Theologie« siehe: Lossky 1954, 578 ff. 92 Von dieser Kritik nimmt Augustin sich selbst nicht aus. Die Studien in Cassiciacum scheinen ihm im Rückblick trotz ihres Gottesdienstes noch der »Schule des Hochmuts« (schola superbiae; Confessiones IX, 4, 7) zu entstammen.
366
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Glaube an den Heiland sei der Anfang des Heils 93. Als diese personale Beziehung ist der Glaube jedoch kein Instrument mehr, das der Erkenntnis dient, sondern das Fundament und der Prüfstein, auf den die Erkenntniswege des Glaubens und der Einsicht bezogen bleiben 94 . 2. Mit diesem neuen Verständnis des Glaubens ändern sich aber auch die Funktionen der auctoritas und der ratio. Denn sie lassen sich jetzt nicht mehr als die zwei ›Kräfte‹ verstehen, die die Erkenntnis der göttlichen Dinge bewirken, sondern sind vielmehr daraufhin zu befragen, ob und inwiefern durch sie diese Liebe der Person bewirkt oder begründet wird. Die »auctoritas Christi« ist nun nicht mehr als das Mittel zu verstehen, das die Erkenntnis des Göttlichen initiiert, sondern als diejenige Kraft, die im Herzen der Menschen die Liebe zu Christus erweckt. Augustin betrachtet sie als die von außen kommende überlegene Macht, deren Unwiderstehlichkeit in der Wahrheit der Worte Jesu oder im Vorbildlichen seines Lebens und Sterbens liegt, welche das Herz zum Glauben bewegen, aber auch als die psychische oder physische Gewalt, durch die sich dieser Glaube Geltung verschafft. So spricht Augustin davon, dass Jesus allein durch Überredung und Mahnung gewirkt 95 und die Autorität seines Wortes die Herzen besiegt 96 habe oder dass er das Vorbild ohne Vorbild sei 97 . Und er gesteht ein, dass er selbst dem Evangelium nicht glauben würde, wenn nicht die Autorität der Kirche ihn dazu bewegt hätte 98. Für den ›späten Augustin‹ jedoch ist die »auctoritas Christi« nicht allein die Macht gewaltloser Überredung, sondern auch die zwingende Gewalt, die schreckt, die Unbelehrbaren belehrbar macht und den Hochmütigen und Verstockten »den Nacken zerbricht« (c. Faustum XII, 2). Jesus, schreibt er in den »Retraktationen« (I, 13, 6), habe die Händler mit Gewalt aus dem Tempel gejagt und die Dämonen nicht durch die Rede, sondern durch die Kraft der Gewalt vertrieben. Und bekanntlich legte Augustin das Liebesgebot auch im Sinne der körperlichen Züchtigung aus (ep. 208, 7). Hier also hat die »auctoritas Christi« für »fides ipsa, in qua salutis … esse videtur exordium.« (de spiritu et littera 31, 53) »Das Bild des Instrumentes ist durch das biblische Bild des Fundamentes abgelöst.« (Lütcke 1968, 83) 95 »Nihil egit vi, sed omnia suadendo et monendo.« (de vera religione I, 16, 31) 96 »Animum eorum iam verbi vinxit auctoritas.« (de doctrina christiana III 15) 97 de trinitate VII, 3, 5. – Vgl. Geerlings 1978, 168–228. 98 contra epistolam Manichaei 5, 6: »Ego vero Evangelio non crederem, nisi me catholicae Ecclesiae commoveret auctoritas.« 93 94
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
367
Der dreieinige Gott
ihn die Bedeutung einer Macht, die, geistig oder physisch, von außen auf die Seele der Menschen einwirkt und in ihr die Liebe zu ihm initiiert. Dieser Rolle der auctoritas entgegen hat Augustin jedoch oft genug betont, dass der wahre Glaube nicht auf blinder Zustimmung (caecus assensus), sondern auf Gründen beruht. Würden die Menschen »nur in Schrecken gesetzt und nicht auch belehrt, so würde dies als eine Art Tyrannei erscheinen« (ep. 93, 1, 3). Das Geglaubte müsse daher auch der ratio einsichtig sein, und müssen Gründe zum Glauben bewegen, die er vor allem in seiner Schrift »Über den Nutzen des Glaubens« angeführt hat. Er verweist zudem darauf, dass man das, was man glaubt, zuvor doch verstanden haben müsse 99 , und niemand glauben könnte, wenn er keinen denkenden Geist hätte 100 . Er fordert weiterhin, dass Auslegungen der biblischen Schriften der ratio nicht widersprechen dürfen; sie ansonsten nichts Wahres enthalten, sondern nur die Meinung des Exegeten 101 . Insofern ist der wahre Glaube für Augustin in der Tat ein »vernünftiger Glaube« (Löhrer 1955, 172) 102 , dem einsichtige Gründe vorausgehen müssen. Doch gerade deshalb kann der Glaube selbst weder durch die auctoritas noch durch die ratio bewirkt sein; denn da er in eben der vorbehaltlosen Zustimmung zu dem besteht, was nicht zuerst eingesehen und dann geglaubt wird, sondern umgekehrt erst geglaubt werden muss, um dann eingesehen zu werden, können so wenig wie äußerer Zwang einsichtige Gründe den Glauben bewirken. Der Glaube an Christus lässt sich weder befehlen noch beweisen. 103 Daher nennen auctoritas und ratio nur die Bedingungen, denen der Glaube unterliegt; sie sind jedoch nicht Ursache des Glaubens. 104 3. Da nun weder die auctoritas als eine Macht, die von außen (foris) wirkt, noch die ratio als eine Kraft, die innen (intus) wirkt, enarrationes in psalmos 118, 18, 3. epistola 120, 1, 3: »cum etiam credere non possemus, nisi rationales animas haberemus.« 101 de genesi ad litteram I, 18, 37. 102 Auch Lorenz 1955 f., 223: »Glaube im Sinne Augustins ist keine ohne Grund in mir aufbrechende Gewissheit.« 103 epistola 137, 2, 8. 104 »… alle Begründungen, die Augustin für die christliche Autorität anführt, (können) nur Stützen dieser Autorität, keine zwingenden Beweise sein … Sie sollen an einen Punkt führen, an dem die Größe der christlichen Autorität erkennbar wird, aber sie können den Sprung von diesem Punkt zur Anerkennung der Autorität nicht ersparen.« (Lütcke 1968, 176) 99
100
368
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
den Glauben im Sinne jener uneingeschränkten Liebe bewirken, muss als dessen Ursprung offenbar eine dritte und eigenständige Instanz jenseits von auctoritas und ratio angenommen werden. Diese Instanz ist für Augustin der Wille des Menschen, so dass ohne den Akt des Willens kein wahrer Glaube entsteht. In seiner Schrift »Über den freien Willen« schreibt er, dass nichts so sehr in unserer Macht liege als der Wille selbst 105 , der zustimmt oder ablehnt, bejaht oder verneint. Folglich könne nicht glauben, wer nicht will: »credere non potest nisi volens« 106 . Da nun aber dieser Wille das dem Menschen Eigenste ist, wäre es wider seine Natur, ihn – sei es durch die Macht der auctoritas oder durch die Kraft der Gründe – zum Glauben zu zwingen. Es bedarf des freien Entschlusses, der jene Zustimmung bewirkt. 107 Diese Annahme des freien Willens als Ursprung des Glaubens hat nun aber zur Folge, dass sich unser bislang rekonstruierter Zusammenhang von auctoritas und ratio gleichsam ›auflöst‹. Denn beide Instanzen gehen dem Glauben zwar als Bedingungen vorher; sie bewirken ihn aber nicht. Hatte Augustin die Erkenntnis der göttlichen Dinge in der Weise konzipiert, dass die auctoritas, die in römischer Tradition zur Zustimmung bewegt, und die ratio, die in griechischer Tradition die Zustimmung bewirkt, in jenem gestuften Modell verbunden sind, wird hinsichtlich des Glaubens an die Person dieses Zusammenwirken der beiden ›Kräfte‹ durch den freien Willen ›durchbrochen‹. Denn dieser Glaube gründet im freien Entschluss des einzelnen, das für sich als bindend anzunehmen, zu was die auctoritas mahnt und was die ratio lehrt 108 . Es bedarf folglich des »Sprunges«, durch den und in dem der Glaube entsteht. Dieses Prinzip aber, auf das die Analyse des Glaubens führt, entnimmt Augustin weder der römischen Tradition der auctoritas, sich den Urteilen anderer Personen zu fügen, noch der griechischen Tradition der ratio, allein begründete Meinungen als wahr anzunehmen. Es ist vielmehr das spe105 De libero arbitrio I, 12, 26: »Quid enim tam in voluntate, quam ipsa voluntas sita est?« – ebd. III, 3, 8: »Voluntas igitur nostra nec voluntas esset, nisi esset in nostra potestate. Porro, quia est in potestate, libera est nobis.« – De civitate Dei 14, 6: »Voluntas est quippe in omnibus; immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt.« 106 In evangelium Ioannis tractatus, 26, 2. 107 Wenn Augustin den Glauben definiert, er sei »nichts anderes als ›mit Zustimmung denken‹« (nihil aliud est, quam cum assensione cogitare; de praedestinatione sanctorum 2, 5), dann ist diese Zustimmung offenbar als Akt des freien Willens zu verstehen. 108 de libero arbitrio II, 38: »foris admonet, intus docet«.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
369
Der dreieinige Gott
zifisch Christliche, von dem Paulus gesagt hatte, es sei den Juden Gotteslästerung und den Heiden Unsinn 109 , und von dem wir zu Beginn des Kapitels angenommen haben, es sei die innere Glaubensgewissheit des einzelnen, dass Jesus der Christus ist. 3.
Autonomie des Menschen oder Autorität Gottes
1. Mit dieser Erklärung des Glaubens durch den freien Willen verschiebt sich jedoch das Ursprungsproblem auf eine andere, ›höhere‹ Ebene. Denn Augustin stellt sich nun die Frage, ob diese Freiheit, das liberum arbitrium, ein Vermögen ist, wodurch der Mensch sich selbst zum Glauben entschließt, so dass er selbst der »Anfang des Heils« ist; oder ob in diesem Entschluss Gott als der Urheber dieses Entschlusses anzusehen ist. Ist es folglich die »Autonomie des Menschen«, durch die er sich frei zum erlösenden Glauben bestimmt; oder ist es die »Autorität Gottes«, die im Menschen die Liebe zu Christus bewirkt? Und wie sind diese beiden Begriffe, die die Beziehung des Willens zu seiner Ursache beschreiben, zu explizieren? Augustin hat diese Frage bekanntlich verschieden beantwortet. Nachdem er in seiner frühen Schrift »Über den freien Willen« (388/ 91) die Frage nach dessen Ursache nur ins Unendliche hat führen sehen (III, 17, 48), deutet er in seiner »Auslegung des Römerbriefs« (394/5) dann den Glauben gleichsam ›paritätisch‹ als eine Kooperation von Mensch und Gott. Der Glaube selbst, so seine Unterscheidung, sei die Leistung des Menschen, der von Gott gerufen wird; das Tun des Guten aus diesem Glauben jedoch sei die durch den Heiligen Geist vermittelte Sache Gottes. 110 Bald darauf gibt er dieses Kooperationsmodell jedoch auf. »Wir haben uns«, kommentiert er rückblickend in den »Retraktationen« (II, 1, 1), »um die Freiheit des menschlichen Willens bemüht; gesiegt aber hat die Gnade Gottes.« In seiner Schrift »An Simplician« (397) führt Augustin schließlich aus, dass nicht nur das Tun des Guten, sondern auch der Glaube selbst durch die Gnade Gottes bewirkt sei. Die Tatsache, dass zwar alle 109 1. Korinther 1, 23. – Vgl. auch: Tertullian, de carne Christi 5, 4: »certum est, quia impossibile.« 110 »Quod ergo credimus, nostrum est, quod autem bonum operamur, illius, qui credentibus in se dat spiritum sanctum.« (expositio quarumdam propositionum ex epistula ad Romanos, 52, 60) – Vgl. auch: ebd., 53, 61.
370
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Menschen von Gott berufen sind, aber nur einige der Berufung folgen, sei nicht durch die Freiheit des menschlichen Willens zu erklären, sondern durch eine gewisse »Eignung« zum Glauben, durch die sie von Gott auserwählt wurden. 111 In den nachfolgenden Kontroversen mit Pelagius und seinem Schüler Julian, die beide die Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens vertraten, tadelt Augustin den frevelnden Hochmut, wenn der Mensch sich das zuschreibe, was doch nur das Werk Gottes sei. Wiederholt zitiert er aus Paulus’ erstem Korintherbrief (4, 7): »Oder wird einer, wenn er das Apostelwort hört: ›Wer erlöst dich?‹, antworten: ›Mein guter Wille, mein Glaube, meine Gerechtigkeit‹ ? Wird er nicht sofort das Wort hören: ›Was hast du, das du nicht empfangen hast? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als habest du es nicht empfangen?‹« (ep. 188, 3) Und gegen Julian argumentiert er: Wäre mein Wille tatsächlich die Ursache meines Glaubens, dann wäre Christus umsonst gestorben 112 , und auch das Erlösungswerk der Kirche wäre überflüssig 113 . Der Anfang des Heils sei daher: »erstens Demut, zweitens Demut, drittens Demut« (ep. 118, 3, 22). 2. Fragen wir angesichts dieser erbittert geführten Kontroverse um den Ursprung des Glaubens 114 nach der leitenden Idee, die den gegensätzlichen Erklärungen zugrunde liegt, so ist es im einen Fall die griechische Idee der Autonomie. Nach ihr besitzt der Mensch die Vernunft als Kraft zum Guten und bestimmt daher sich selbst zum Glauben. Zwar sei dem Menschen, wie Pelagius ausführt, das Vernunftvermögen, das Gute zu erkennen und ihm gemäß zu handeln, von Gott gegeben; aber dass er es tatsächlich erkennt und nach ihm 111 »Viele sind berufen, wenige auserwählt, denn wie viele auch auf eine bestimmte Weise berufen sind, es würden doch – weil nicht alle auf dieselbe Weise davon berührt sind – nur jene der Berufung folgen, die sich als geeignet erweisen, sie anzunehmen … Auserwählt sind jene, die zu ihrer Berufung passten; jene aber, die nicht zu ihrer Berufung passten und ihr nicht folgten, sind nicht auserwählt. Sie sind zwar berufen, aber sie sind nicht gefolgt. Also ist wahr: So kommt es nicht auf den Wollenden oder Laufenden an, sondern auf den sich erbarmenden Gott, denn auch wenn er viele beruft, so erbarmt er sich doch nur derer, die er so beruft, wie es für sie angemessen ist, damit sie ihrer Berufung folgen.« (de diversis quaestionibus ad Simplicianum I, 2, 13) 112 contra Iulianum IV, 3, 17. 113 epistola 175, 2; 5. – Zu diesem Brief an den Bischof von Rom siehe: Wermelinger 1975, 95. 114 Nach A. v. Harnack hat es »vielleicht keine zweite, gleich bedeutsame Krisis in der Kirchengeschichte gegeben, in welcher die Gegner so klar und rein die Prinzipien, um die es sich handelte, zum Ausdruck gebracht haben.« (Harnack 1931, Bd. 3, 167)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
371
Der dreieinige Gott
handelt, dies sei allein die Sache des Menschen. 115 Der Mensch sei daher der Urheber seiner Zustimmung zu den Geboten Gottes und ihrer Befolgung wie auch seiner sündhaften Ablehnung und Übertretung. Wenn der Mensch wolle, könne er ohne Sünde sein 116 ; und weil ihm diese Vollkommenheit möglich ist, sei sie für ihn auch verpflichtend. Da nun aber der Mensch für sein Handeln verantwortlich ist, müsse ihm der Glaube als sein Verdienst zugerechnet werden, durch das er sich der göttlichen Gnade als würdig erweist. 117 Dieser Erklärung des Glaubens qua Autonomie und der damit verbundenen Selbstverantwortung des einzelnen ist nun freilich die These vorausgesetzt, dass der Mensch von Natur das Vermögen zum Guten besitzt, so dass es ihm möglich sei, das Gute nicht nur zu erkennen, sondern auch zu tun. Diese These vom Guten in der menschlichen Natur aber gründet ihrerseits im Prinzip der spätantiken stoischen Philosophie, wonach der logo@ dem Menschen als Gattungswesen unverlierbar innewohne, und es deshalb die Bestimmung des Menschen sei, dieser Vernunftnatur gemäß zu handeln 118 . Aus diesem Prinzip des Guten als ursprünglicher Anlage folgern Pelagius und Julian, dass das Wesen des christlichen Glaubens im vernunftgemäßen Handeln besteht, das dadurch zum gottgefälligen Leben wird. Für sie ist daher das Ziel des Glaubens die Vervollkommnung des einzelnen, die er seines Verdienstes wegen durch die Gnade 115 Pelagius, pro libero arbitrio 3: »Quod possumus bene agere, Dei est; quod autem agimus, nostrum est« (zit. nach: de gratia Christi I, 25, 26) – In de gratia Christi I, 4, 5 referiert Augustin ausführlicher aus Pelagius’ Werk: »Wir, sagt er, unterscheiden diese drei und teilen sie wie in eine bestimmte Ordnung gegliedert ein: An die erste Stelle stellen wir das Können, an die zweite das Wollen und an die dritte das Sein. Das Können setzen wir in die Natur, das Wollen in die Entscheidungskraft und das Sein in die Wirkung. Jenes Erste, das Können, bezieht sich im eigentlichen Sinne auf Gott, der es seinem Geschöpf zugeteilt hat; aber die zwei übrigen, das Wollen und das Sein, sind auf den Menschen zu beziehen, weil sie der Quelle seiner Entscheidungskraft entspringen.« 116 »… potest homo, si voluerit, esse sine peccato«. (zit. nach: de gestis Pelagii 30, 54) – »Wegen dieser These ist Pelagius der Häresie verdächtigt, denn es scheint, dass dieser Satz die göttliche Gnadenhilfe ausschließt.« (Wermelinger 1975, 80) 117 Pelagius, Epistola ad Innocentium: »Hi vero remunerandi sunt, qui bene libero utentes arbitrio merentur Domini gratiam, et eius mandata custodiunt.« (zit. nach: de gratia Christi I, 31, 34) 118 Auf dieser Grundlage argumentierte Julian gegen Augustins Lehre von der Erbsünde: »ac per hoc, quod ratio arguit, non potest auctoritas vindicare« (nach: imperfectum opus II, 16). Siehe dazu: Wermelinger 1975, 265 f. – »Julian«, urteilt P. Brown, »repräsentiert den Gipfel römischer Zivilisation. Was er in Gott verteidigte, das war die Vernunftmäßigkeit und allgemeine Kraft des Gesetzes.« (Brown 2000, 343)
372
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
des gerechten Gottes erlangt. Und das Wesen der Kirche besteht für sie in der Gemeinschaft der sündlosen »Kinder Gottes«, einer Institution »ohne Makel und Runzel« 119 . So deutlich sich in dieser Erklärung des Glaubens die Autonomie als leitende Idee der Willensbestimmung zeigt, so schwierig ist es freilich im Fall der Gnade Gottes, die ihr der ›späte Augustin‹ entgegensetzt. Denn wenn wir seine Erklärung im Sinne einer logischen Entgegensetzung verstehen, dann würde Augustin die Freiheit des Willens und die Selbstverantwortung des Menschen schlicht zugunsten der Heteronomie und des Determinismus verneinen. In diesem Sinne hat denn auch Julian gegen Augustins Lehre von der sündhaften Natur des Menschen eingewandt: »Du fragst mich, weshalb ich nicht der Idee zustimme, dass es eine Sünde gibt, die Teil der menschlichen Natur ist? Ich antworte: weil das keine Wahrscheinlichkeit, geschweige denn Wahrheit hat, weil es keine Gerechtigkeit und keine Spur von Frömmigkeit zeigt und weil es den Teufel zum Schöpfer des Menschen zu machen scheint. Weil es die Willensfreiheit schwächt und zerstört …, wenn gesagt wird, die Menschen seien eben keiner Tugend fähig, da sie schon im Mutterleibe mit längstvergangenen Vergehen erfüllt würden … Du bildest dir eine so große Macht dieser Sünde ein, dass sie nicht nur die natürliche Unschuld vertreibt, sondern danach auch zu allen Lastern zwingt.« 120 Im Falle der logischen Entgegensetzung gehorchte Augustins Lehre vom Glauben durch Gnade in der Tat einer »Logik des Schreckens« (Flasch 1990), nach der alles menschliche Wollen und Laufen vergebens ist, weil es allein auf den erbarmenden Gott ankommt (Römer 9, 30). Diese Lehre setzte dem spätantik optimistischen Menschenbild des Pelagius und Julian das pessimistische entgegen, dass vom Menschen nichts Gutes kommt. 121 119 Aus dem Verhandlungsprotokoll des Konzils von Diospolis 415: »Die gegenwärtige Kirche sei ohne Makel und Runzel. Pelagius: Dies habe ich zwar gesagt, aber in dem Sinne, dass durch die Taufe die Kirche von jeder Makel und Runzel gereinigt wird und der Herr wünscht, dass sie so bleibe. Synode: Auch wir billigen diese Ansicht.« (zit. nach: Wermelinger 1975, 73). 120 Zit. nach: imperfectum opus III, 67–71. 121 W. Geerlings sieht darin einen »nicht überbrückbaren Gegensatz zweier theologischer und spiritueller Konzeptionen«: »Zum einen der Optimismus eines Pelagius, der überzeugt ist, dass die sittlichen Fähigkeiten des Menschen aufgrund der Schöpfungsgnade ausreichen, so dass er sich weiterhin zum Guten für fähig halten kann … Auf der anderen Seite vermag der tiefe Pessimismus Augustins die menschliche Natur nur noch als verdorben zu begreifen und unterstreicht deshalb in bisher nie gekanntem Maße die
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
373
Der dreieinige Gott
Nun finden wir bei Augustin in der Tat mannigfache und bislang ungehörte Aussagen, die dieser »Logik des Schreckens« folgen. So wenn er erklärt, die Menschheit habe aufgrund der bösen Tat des ersten Menschen den freien Willen verloren 122 , und der Mensch habe daher »aus sich nichts als die Lüge und die Sünde« 123 ; wenn er in der Menschheit nichts als »einen einzigen Klumpen Dreck« und einen »Haufen der Sünde« 124 erkennen kann, da ihre Natur zerstört sei: »verwundet, verletzt, gequält, verloren ist sie; wahres Eingeständnis, nicht falsche Verteidigung hat sie nötig.« 125 Oder wenn er ausmalt, wie Gott an den Strafen der Verdammten den »Gefäßen seines Erbarmens« (vasa misericordiae) zeigt, was ihnen aus unverdienter Gnade verliehen wurde (ep. 186, 7, 26). Aber diesem unbestreitbaren Pessimismus widerspricht, dass Augustin, paradox, weiterhin am Prinzip der menschlichen Willensfreiheit festhält. So führt er in der Schrift »Über Geist und Buchstaben« (30, 52) aus, dass mit der göttlichen Gnade der freie Wille keineswegs verschwindet, sondern gefestigt wird, weil die Gnade den Willen heiligt. Er folgt in den Auseinandersetzungen um Pelagius dem Glaubenssatz, an dem die katholische Kirche schon immer festgehalten habe, dass es, auch wenn er der göttlichen Hilfe bedarf, einen freien Willen gibt (ep. 186, 9, 33). In seiner Kontroverse mit Julian hebt er ebenfalls hervor, dass die Gnade die Freiheit keineswegs beseitigt; und vertritt auch noch in seinen spätesten Schriften die Auffassung, dass der Anfang und das Wachstum des Glaubens von der Gnade Gottes und von unserem Willen bewirkt sei. 126 Bis Notwendigkeit der Gnade«. (Geerlings 1999, 81) – K. Flasch spricht angesichts dessen von der Zerstörung des antiken Kosmos: »Damit zerstört Augustin die moralische Konzeption der Welt, die seit Platon die Philosophie geprägt hat: Naturhaftes Leben soll seinen Sinn darin haben, richtige Entscheidungen und wahre Einsichten zu ermöglichen – für jeden, der das Gute und die Wahrheit will. Augustin löst die innere Verbindung von menschlicher Natur und Freiheit, Freiheit verstanden als Wille zum Guten.« (Flasch 1980, 216.) 122 »ita cum libero peccaretur arbitrio victore peccato amissum est et liberum arbitrium.« (Enchiridion 9, 30) 123 »Nemo habet de suo, nisi mendacium et peccatum.« (in evangelium Ioannis tractatus V, 1) 124 »et omnes una massa luti facti sumus, quod est massa peccati.« (de diversis quaestionibus octaginta tribus, 68, 3) 125 de natura et gratia 53, 62. – siehe auch: contra Gaudentium I, 19, 20. 126 »et utrumque ipsius est, quia ipse praeparat voluntatem; et utrumque nostrum, quia non fit nisi volentibus nobis.« (de praedestinatione sanctorum, 3, 7) – Vgl. dazu: Fuhrer 2004, 47 ff.
374
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
zuletzt hält Augustin an beidem fest: »das eine wie das andere [der Glaube und das Handeln] ist also unsre Sache aufgrund der Entscheidung des Willens, und dennoch ist beides gegeben durch den Geist des Glaubens und der Liebe« (Retractationes I, 23, 2). 3. Angesichts dieser Paradoxie der Glaubenserklärung erscheint es uns als angemessener und konsistenter, wenn wir den logischen Deutungsrahmen von Autonomie versus Heteronomie verlassen – in dem Augustins Aussagen über die Willensfreiheit letztlich nur als ein Fremdkörper in seiner Gnadenlehre verstanden werden können – und erneut auf die römische auctoritas als leitende Idee zurückgreifen, nach der die Freiheit des Willens und die Gnade Gottes keine Gegensätze bilden 127 . Freilich kann diese auctoritas jetzt nicht mehr als diejenige ›Kraft‹ Christi verstanden werden, die den Menschen von außen zum Glauben ermahnt oder zwingt, sondern ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu verstehen: als freiwillige Anerkennung. Denn im Unterschied zur potestas, der necessitas oder dem imperium als Arten einer äußeren und zwingenden Macht bedeutet »auctoritas« die Eigenschaft einer Person, Macht durch ihre Anerkennung auszuüben. Der Grund ihrer Macht ist jedoch nicht, wie gesehen, dass sie überragende Weisheit (sapientia) oder hohes Ansehen (dignitas) besitzt, sondern weil sie als Urheber (auctor) der »heiligen Sache« anerkannt wird. Da diese Sache als Fundament der eigenen Existenz gilt, wird ihrem Urheber freiwillig, d. h. ohne äußeren Zwang und ohne vorhergehende Begründung – ratione non reddita –, gefolgt. Für die Römer war diese »heilige Sache« die res romana; für die Christen das Evangelium. Nach dieser ›Logik der auctoritas‹ besteht also zwischen der Freiheit des Willens und dem Gehorsam gegenüber der Autorität kein Gegensatz; sie sind vielmehr durch die »heilige Sache« verbunden. Legt man der Glaubenserklärung Augustins diese Idee der auctoritas dei zugrunde, dann stehen die Freiheit des menschlichen Willens und die Gnade Gottes weder in einem Gegensatz noch als zwei kooperative Faktoren nebeneinander. Nach ihr ist der Glaube vielmehr als derjenige Willensakt zu verstehen, in dem der Mensch die Macht Gottes als umso größer anerkennt, je freier sein Wille ist. vgl. auch K.-H. Lütcke: »Erkennt man hinter dem Gegensatz von auctoritas und ratio den Gegensatz von Gott und Mensch, so wird es möglich, einen Zusammenhang mit Augustins Gnadenlehre zu sehen. Die auctoritas divina ist eine Weise des göttlichen Gnadenhandelns.« (Lütcke 1968, 186)
127
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
375
Der dreieinige Gott
Hier besteht die Freiheit des Willens in der bedingungslosen und unbedingten Hingabe des Menschen an den Gott, den er als den alleinigen Urheber der guten und heiligen Sache, als summa auctoritas, anerkennt. Diese Willensfreiheit ist freilich nicht jenes positive Vermögen, sich selbst zum Guten zu bestimmen, wie Pelagius und Julian sie in griechischer Tradition verstanden haben; sie ist vielmehr diejenige negative Freiheit von allen äußeren Bedingungen und inneren Gründen, die den Willen bislang zur Zustimmung bewegt haben. Daher gilt: je freier, d. h. je bedingungsloser und grundloser, der Wille des Menschen ist, desto unbedingter und grenzenloser ist die Macht Gottes, und desto mehr ist er das »Gefäß« des erbarmenden Gottes. 128 Diese römische Art der Bejahung resultiert weder aus einem Gefühl der Abhängigkeit, der Schwäche oder der Furcht, noch entspringt sie der ›Robustheit‹ eines autonomen Individuums, sondern geht aus der haltlosen Offenheit einer menschlichen Seele hervor, die Gott als die Person will, die der Ursprung alles Guten und das Ziel alles Wollens ist. Freilich folgt aus diesem Glaubensverständnis umgekehrt, dass der Mensch, dem dieses Bedingungslose des Willens und das Unbedingte der Hingabe fehlt, nicht das Heil der göttlichen Gnade erlangt; er ist aus dieser Beziehung ausgeschlossen und zur Heillosigkeit verdammt. Nach dieser Idee der auctoritas lassen sich Augustins scheinbar paradoxe Aussagen über die Ursachen des Glaubens zwanglos rekonstruieren. Denn für ihn besteht der Anfang des Glaubens in der Tat, wie er in den »Bekenntnissen« (VIII, 11–12) darlegt, in jener Befreiung des Willens von allen bisherigen Zwängen und Gründen. Er schildert ihn hier als den Todeskampf des alten Menschen und die Geburt des neuen Menschen in der bedingungslosen Liebe zum erlösenden Wort Gottes. – An anderer Stelle erläutert er das untrennbare Zusammen von freiem Willen und göttlicher Gnade: Die Gottesliebe, schreibt er, geht sowohl aus dem Willen hervor, der aus sich selbst Gott sucht und will – da doch niemand liebt, wenn er nicht will –, als auch aus der Gnade Gottes, durch die, wer liebt, diese Liebe hat. Denn der Wille würde nicht bewegt werden, wenn nicht etwas da 128 H. Jonas beschreibt dies als »Selbstverzicht des Willens«: »Die Erfahrung unter dem Gesetz führt also zu einem Selbstverzicht des Willens in der Zuwendung zum Erlöser – und dieser Selbstverzicht in Einheit mit dem positiven Korrelat der Hinwendung ist nichts anderes als der Glaube. Diesem aber wird als Gnadengeschenk der ›Geist‹ und durch ihn die ›Liebe‹ zuteil, ›ausgegossen in unsere Herzen‹, die erst die eigentliche Freiheit zum Guten gibt.« (Jonas 1965, 35)
376
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
wäre, was die Seele erfreut und einlädt 129 . Daher habe der Wille selbst zwar die Möglichkeit, sich zu widersetzen; aber dass er es nicht tut, dies sei die Wirkung der Gnade 130. Folglich sei der Wille selbst in der Macht des Menschen; aber dass er Gott liebt, d. h. das Gute von ganzem Herzen will, diese Liebe stehe nicht in seiner Macht, sondern sei durch die Gnade Gottes bewirkt. 131 In dieser Gottesliebe sind also Freiheit und Gnade untrennbar verbunden: das »aus sich selbst« des freien Willens, der die Zustimmung initiiert, und das »durch Gott«, das diesen Willen zieht, trägt und erhält. 132 Daher vollziehe sich die Umwandlung des »alten und irdischen Menschen« in den »neuen und himmlischen Menschen« (de vera rel. 26, 48 f.) durch den freien Willen, für den darin zugleich Gott der Ursprung und der Grund seines Willens ist. Durch ihn werde der Mensch der Finsternis entrissen und einer der Söhne Gottes, die »schon mit unerschütterlicher Festigkeit im Gedächtnis ihres Vaters eingeschrieben waren« (de correptione et gratia 9, 20). Nach diesem Glaubensverständnis kann nun aber der Gott, den 129 »Sed voluntas ipsa, nisi aliquid occurrerit quod delectet atque invitet animum, moveri nullo modo potest. Hoc autem ut occurrat, non est in hominis potestate.« (de diversis quaestionibus ad Simplicianum I, 2, 22) 130 Vgl.: »The will can refuse but it will not.« (Clark 1958, 105) 131 Im Johanneswort (Joh. 6, 43): »Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater ihn zieht, der mich gesandt hat« deutet Augustin das »Ziehen« (trahere) nicht als Zwang, sondern als Erweckung der Freude: »… Wenn also Dinge, die irdische Freude und Lust bereiten, sobald sie Liebenden gezeigt werden, ziehen – denn es ist wahr: ›jeden zieht seine Lust‹ –, zieht dann nicht auch der vom Vater geoffenbarte Christus?« (in evangelium Ioannis tractatus XXVI, 5). 132 E. Gilson verweist auf die Gefahr, dass durch die Freude, die delectatio, erneut ein heteronomes Element eingeführt wird, das den Willen determiniert und die Freiheit untergräbt: »La différence fondamentale entre les deux doctrines, sur ce point, nous semble être que, pour Jansenius, la délectation est cause de la volition …, au lieu que selon saint Augustin, la délectation n’est que l’amour, qui n’est lui même que le poids intérieur de la volonté, laquelle n’est à son tour que le libre arbitre même.« (Gilson 1929, 204 f.) Augustin unterscheidet jedoch durchaus zwischen freiem Willen und Freude. Diese ist zwar nicht die Ursache, aber auch kein »inneres Gewicht« des Willens, sondern eine Empfindung, die als solche nicht in der Macht des Willens steht. (vgl. Wittmann 1980, 672). Wir sehen die Freiheit des Willens und die durch die Gnade bewirkte Freude in der Idee der auctoritas verbunden: das ›subjektive‹ Element der Freiheit und das ›objektive‹ Element des Bewirktseins des Willens. Die Zustimmung geschieht aus Freiheit, weil es ohne Freiwilligkeit keine Autorität gibt; sie ist aber zugleich bewirkt, weil ohne dies die Autorität nicht anerkannt würde. Diesen ›dialektischen‹ Zusammenhang hat R. Spaemann treffend beschrieben: »Die Anerkennung weiß sich selbst als geschuldet, aber dieses Wissen geht dem Akt der Anerkennung nicht voraus, sondern ist wiederum eins mit ihm.« (Spaemann 1996, 195).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
377
Der dreieinige Gott
Augustin liebt, nicht jene furchtbare und unbegreifliche Macht sein, wie sie Julian unterstellt hat; denn diese Macht wäre potestas, dominatio oder imperium, nicht aber auctoritas. Er ist jedoch auch nicht der ›Gott der Philosophen‹, den der Mensch aufgrund seiner ratio als Ursache von allem erkennt und begreift; denn so folgte der Glaube der Einsicht und wäre nicht aus freiem Willen. Er ist aber auch nicht jener »gerechte Gott« des Pelagius, der durch das Verdienst des Glaubens zur Gnade und Rechtfertigung verpflichtet wäre. Der Gott Augustins ist vielmehr das »ganz Andere« (valde aliud; Conf. VII, 10, 16), die absolute Person, die im Glauben als alleiniger Ursprung alles Guten und Gerechten anerkannt wird. Sein Gott ist daher allem menschlichen Urteil entzogen, so dass es nicht Sache des Menschen ist, über seine Güte und Gerechtigkeit zu richten, weil er doch selbst der Ursprung alles Guten und Gerechten ist. Rekonstruiert man folglich Augustins Gnadenlehre und den Konflikt um die Erklärung des christlichen Glaubens nicht auf der Basis des Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie, sondern auf dem Hintergrund der epistemologischen Differenz zwischen dem griechischen Autonomieprinzip und dem römischen Prinzip der auctoritas, dann ist zwar der Inhalt der Kontroverse derselbe: die freie Bejahung des Guten. Nach dem Autonomieprinzip ist jedoch der Mensch kraft seiner Logosnatur der Urheber seines guten Willens; nach der auctoritas hingegen ist es Gott, den der Mensch frei als den Urheber seines Willens anerkennt. Pelagius und Julian sehen daher im Glauben das Verhältnis des Menschen zu seinem Willen, ein Selbstverhältnis; für Augustin hingegen ist der Glaube das personale Verhältnis von Mensch und Gott zugleich. Hier sind der Glaube und die Beständigkeit des rechten Tuns nicht menschliches Verdienst, sondern sind, verdienstlos, das »Geschenk Gottes« (donum dei). – So verstanden, setzt also Augustins Gnadenlehre an die Stelle der griechischen Idee der Autonomie, der reflexiven Begründung und Selbstverantwortung des eigenen Tuns durch das »rationem reddere«, nicht das Prinzip der Unterwerfung des sündhaften Menschen unter die Gebote Gottes, sondern die entlastende Funktion der römischen auctoritas, nach der der Mensch sich im Glauben zugleich ›geborgen‹ weiß. Aus ihr folgt denn auch ein Kirchenverständnis, das sie nicht als Gemeinschaft der Heiligen betrachtet, sondern in ihren Einrichtungen und Handlungen das heilsgeschichtliche Wirken Gottes erkennt 133 . 133
378
An diese Deutung des Glaubens als Wirkung Gottes lässt sich problemlos der
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Diese Erklärung der Glaubenswirklichkeit als ein solches »Geschenk Gottes« verweist nun aber auf eine Theologie, welche den »Schenker« dieses Glaubens zu erkennen und zu begreifen sucht. Sie hat die Fragen zu beantworten, was das Geschenk ist, ob es verschieden ist vom Schenker oder ihm gleich; und wer der oder die sind, die dieses Geschenk schenken. Die Beantwortung dieser Fragen hat Augustin in seinem systematischen Werk »Über die Dreieinigkeit« unternommen. Hier, so wollen wir unsere Rekonstruktion im Voraus zusammenfassen, versteht Augustin nicht allein den Vater als den Schenker dieses Geschenks, sondern Vater und Sohn zusammen als die Schenker, die gemeinsam den Heiligen Geist schenken. Diese Trinitätslehre, die das untrennbare »Zusammen« von Vater und Sohn begründet, ist im griechischen Osten kaum rezipiert worden; sie hat aber »einen überwältigenden Einfluss auf die gesamte seitherige Trinitätstheologie des westlichen Christentums ausgeübt« 134 .
B.
Der dreieinige Gott: Una essentia – Tres personae
Vorbemerkungen 1. Augustin hatte bekanntlich nicht nur ein Thema: die menschliche Seele, was sie ist, was sie zu erkennen vermag und was sie erstrebt, sondern zwei: die Seele und Gott. Auch wenn der Glaube an Christus für ihn die Bedingung der Erkenntnis des Göttlichen und das Fundament des Seelenheils ist, so strebt die Seele doch danach, das Geglaubte zu begreifen. »Manche«, schreibt er zu Beginn seiner Untersuchung »Über die Dreieinigkeit« (I, 5, 8), »stoßen sich an diesem Glauben, wenn sie hören, der Vater sei Gott, der Sohn sei Gott und der Heilige Geist sei Gott, und doch seien diese Dreieinigkeit nicht drei Götter, sondern nur ein Gott. Sie fragen, wie man das begreifen soll«. Über diese Fragen Klarheit zu gewinnen, geschehe gleichwohl nicht nur, um Leuten zu antworten, die uns damit auf die Nerven gehen, sondern Grundgedanke des Werks »Vom Gottesstaat« anschließen, das die Glaubenswirklichkeit heilsgeschichtlich darstellt: Die Tatsache, dass ›auf Erden‹ an Christus geglaubt wird, entspringt nicht menschlichem Bemühen, sondern ist Ausdruck des Heilswirkens Gottes in der Welt, dessen Ende und Ziel das ewige Reich Gottes ist. 134 R. Kany, Typen und Tendenzen der De Trinitate-Forschung seit F. Chr. Baur. In: Brachtendorf 2000, 24. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
379
Der dreieinige Gott
weil wir selbst uns zur Suche nach der Wahrheit herausgefordert sehen. Sie verlangen also mit Recht, dass wir ihnen antworten. Von dieser Suche nach der Trinität nehmen wir an, dass sie nicht nur aus der Struktur und Beschaffenheit des menschlichen Geistes auf eine göttliche Dreieinigkeit schließt, dass sie also nicht nur eine »psychologische Trinitätslehre« darstellt. Weiterhin gehen wir davon aus, dass Augustins theologisches Werk den katholischen Glauben nicht nur apologetisch aus den biblischen Schriften zu rechtfertigen und verständlich zu machen sucht, sondern dass es ihm vor allem um die Erkenntnis desjenigen Gottes geht, der als das »ganz Andere« und als der »Schenker des Glaubens« zugleich das Maß aller Erkenntnis und alles Wissens ist. Methodisch nimmt diese Suche ihren Ausgang vom christlichen Glaubensbekenntnis, wie es von den Konzilien von Nikaia und Konstantinopel als Resultat der Trinitätsdebatte beschlossen worden war. Augustin schließt sich daher der Formel »una essentia – tres personae« (ein Wesen – drei Personen) an, welche den gemeinsamen christlichen Glauben auf die angemessene Weise zum Ausdruck bringe. Die damit gestellte Aufgabe ist folglich, das Einssein Gottes in der Dreiheit der Personen bzw. das Dreisein der Personen in der Einheit Gottes mit der Vernunft, d. h. durch Begriffe, zu erfassen. 2. Um die Perspektive unserer Rekonstruktion zu kennzeichnen, seien vorab drei Problemfelder genannt, die Gegenstand der Interpretation und Kritik des augustinischen Trinitätsmodells waren: 1. Im Unterschied zur griechischen Theologie, die die drei Personen mit dem Begriff der Hypostase beschrieben und sie daher als drei verschiedene Substanzen verstanden hatte, hielt Augustin in lateinischer Tradition am Gedanken der Einheit Gottes fest. Aufgrund dieser Betonung der Einheit konnte seine Trinitätslehre »modalistisch« gedeutet werden, nach der die drei Personen Modi des Einen seien. 2. Infolge des Einheitsgedankens führte Augustin die Kategorie der Relation in die christliche Theologie ein, nach der die drei Personen ein bezügliches Sein haben, denen damit aber, so die Kritik, das Substanzielle fehlt, das der christliche Glaube in ihnen bekennt. 3. Als Folge dieser Einheit hat Augustin eine Untrennbarkeit der drei Personen angenommen, die jedoch mit den Aussagen der biblischen Schriften, die von drei verschiedenen Personen sprechen, nicht zu vereinbaren sei. Den Interpretationen des augustinischen Trinitätsmodells hat sich daher das logisch-begriffliche Problem gestellt, wie die Idee der 380
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
substanziellen Einheit Gottes mit der relativen Dreiheit auf kohärente Weise gedacht werden kann. Denn wenn die Einheit Gottes der Substanz nach besteht, dann scheint das relative Sein der drei Personen Gott nur in akzidentieller Weise zuzukommen; sie wären in der Tat nur Modi des Einen. Demgegenüber hat Augustin jedoch ausdrücklich hervorgehoben, dass die Dreiheit der Personen zum Wesen Gottes gehört, – dann aber kann das Wesen Gottes nicht in der substanziellen Einheit bestehen. Aus dieser Aporie – und der Undenkbarkeit des Begriffs einer »substantiellen Relation« – wurde geschlossen, dass menschliches Erkennen hier aufhört und die Dreieinigkeit Gottes unbegreifbar bleiben muss. Von dieser Aporie ausgehend unternehmen wir es, das Trinitätsmodell Augustins nicht mithilfe des ontologischen Begriffs der Substanz, der der griechischen Philosophie entstammt, sondern auf der Grundlage des römisch-lateinischen Begriffs der »Person« zu rekonstruieren. Diese Sichtweise auf Augustins Theologie rechtfertigen wir vorab mit drei Argumenten, die im Weiteren erklärt werden: 1. Augustin erklärt das Faktum des Glaubens als das Geschenk desjenigen Gottes, der im Glauben geliebt wird. Gott ist für ihn daher kein ›Seiendes‹, das durch Begriffe erkannt, sondern die ›Person‹, die verstanden wird. 2. In der lateinischen Patristik ist das Wort »persona« nicht nur verwandt worden, um exegetisch die drei Sprecher in den biblischen Schriften zu bezeichnen; es diente auch dazu, die Einheit Gottes in der Differenz von Vater und Sohn theologisch zu rechtfertigen. 3. Der lateinische Begriff der ›persona‹ umfasst, was in der griechischen Tradition getrennt wird: das substanzielle und das akzidentielle oder bezügliche Sein. Diesem Verständnis folgt Augustin, wenn für ihn die Person das ist, was sie untrennbar hat. Diese Einheit von substantiellem Sein und relationalem Haben kann freilich nicht gedacht, aber vom Menschen anerkannt und ihre Unbegreiflichkeit verstanden werden. Auf der Grundlage des Begriffs der Person wird es uns also darum gehen, die wesensmäßige Einheit, die Augustin in Gott annimmt, als ein solch untrennbares Verhältnis zu rekonstruieren, worin jede der drei Personen das ist, was sie hat: der Vater den Sohn, der Sohn den Vater, und der Heilige Geist beide zusammen.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
381
Der dreieinige Gott
1.
Una essentia – Tres personae
Augustin legt seiner Untersuchung das Glaubensbekenntnis an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist in der Gestalt zugrunde, wie es auf den Synoden in Nikaia und Konstantinopel beschlossen worden war. »Dies,« bekennt er, »ist auch mein Glaube, weil es der katholische Glaube ist.« 135 Nach diesen Beschlüssen sind Vater und Sohn als wesensgleich (omoousioi) zu bekennen und der Heilige Geist als Spender des Lebens (zwopoion), der vom Vater ausgeht (ek tou patro@ ekporeuomenon) und mit Vater und Sohn zusammen verehrt wird (sumproskunoumenon). Dieses Glaubensbekenntnis ist von den nachnikaianischen Theologen, insbesondere von Basilius von Caesarea, anhand des Schemas »mia ousia – trei@ upostasei@« ausgelegt worden. Danach bezeichnet der Ausdruck »mia ousia« das Gemeinsame (to koinon) von Vater, Sohn und Heiligem Geist, das also, worin sie ununterschieden Ein Wesen sind; der Ausdruck »trei@ upostasei@« hingegen das Besondere (to kaj’ ekaston), das also, wodurch Vater, Sohn und Heiliger Geist verschieden sind 136 . Das Besondere des Vaters ist das Ungezeugtsein, das des Sohnes sein Gezeugtsein und das des Geistes das Hervorgehen. Die Trinität wurde von Basilius also in der Weise gedeutet, dass die Gleichheit der drei in der Einheit des Wesens begründet ist, ihre Verschiedenheit jedoch in dem je Besonderen, wodurch sie nicht Eines, sondern drei Hypostasen sind. 137 Dieses Schema »mia ousia – trei@ upostasei@« ist von der lateinischen Theologie übernommen und ins Lateinische mit der Formel »una essentia – tres substantiae vel personae« übersetzt worden. Da Augustin sich angesichts der Alternative zwischen dem Ausdruck »substantia«, der das griechische »upostasi@« übersetzt, und dem Wort »persona«, das die lateinische Theologie gebrauchte, für das 135 de Trin. I, 4, 7. Aus »de Trinitate« wird zitiert nach: A. Augustinus: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit, 1. und 2. Bd., hg. von M. Schmaus, München 1936 [de Trin.]. 136 Siehe: Basilius von Caesarea, Brief an Amphilochius, 236, 6. In: Ritter 1977, 176 f. 137 Obwohl es in der Logik der Sache läge, den Terminus »omoousio@« auch auf den Heiligen Geist anzuwenden, und obgleich das Konzil von Konstantinopel dessen Homousie angenommen zu haben scheint, hat es auf den Ausdruck verzichtet. Das Konzil scheint dem Sprachgebrauch Basilius’ gefolgt zu sein, der von »jener gesunden Lehre« gesprochen hatte, nach welcher der Sohn als omoousio@ mit dem Vater bekannt, der Heilige Geist aber gleichwürdig (omotimw@) mit ihnen zusammen verehrt werde (sunlatreuetai). – Siehe Kelly 1972, 334 ff.
382
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
letztere entschied – ohne dadurch, wie er hinzufügt, für unsere Anschauung Partei zu ergreifen (ne nobis uideatur suffragari; de Trin. VII, 6, 11) –, legen wir unserer Rekonstruktion der augustinischen Trinität die Formel: »una essentia – tres personae« zugrunde und gehen zunächst der Bedeutung der beiden Ausdrücke nach. a.
»Una essentia«
In dieser Formel scheint der Ausdruck »una essentia« zunächst Unproblematisches zu bedeuten. Er benennt das wahrhaft Seiende, das, ohne Entstehen und Vergehen, einfach und unwandelbar ist, und das allein durch das reine Denken erfasst wird. Dieses einfache und unwandelbar Seiende könne daher, wie Augustin zu Recht einwendet, nicht als »Substanz« bezeichnet werden, weil an ihm dann eine Bestimmtheit als ihrem Träger haften würde und es so nicht einfach wäre 138 , sondern könne folglich nur als »ein Wesen«, una essentia, benannt werden. So verstanden trifft Augustin also mit der Verwendung dieses Ausdrucks die theologische Aussage, dass der christlich bekannte Gott seinem Wesen nach ein unwandelbar Seiendes ist; weder zeugend, hervorbringend und schaffend wie der Vater, noch leidend und erlösend wie der Sohn, noch Leben spendend wie der Geist. In dieser Hinsicht scheint der christliche Gott zunächst dasselbe einfache und unveränderliche Seiende zu sein, das die griechischen Philosophen als das wahrhaft Seiende angenommen haben: das »Ist«, das durchs reine Denken erkannt wird. Doch fasst Augustin den Gott der Christen in dieser Hinsicht tatsächlich als das unwandelbar Seiende? Müßte ihm dieser Gott nicht vielmehr der Grund alles Seienden sein, so dass er kein Seiendes ist – auch nicht das ›einfachste‹ oder ›vollkommenste‹ – und daher auch nicht durch das Denken erfasst werden kann, sondern das ›Überseiende‹, das alles Gedachte transzendiert? In diesem Fall aber wäre das Wesen Gottes nicht begreifbar, sondern – gemäß dem Satz: »si enim comprehendis, non est Deus« (Sermo 117, 3, 5) – der unbegreifbare Grund alles Begreifbaren; und der Ausdruck »una essentia« bezeichnete nicht, dass Gott ist, sondern das ›Überseiende‹ als den Grund alles Seienden. Lassen wir die Entscheidung zunächst offen und bemerken nur, 138 »Deus autem si subsistit ut substantia proprie dici possit, inest in eo aliquid tamquam in subiecto, et non est simplex …« (de Trin. VII, 5, 10)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
383
Der dreieinige Gott
dass im letzteren Fall unsere Rekonstruktion von der Ebene der Ontologie auf die Metaebene der Epistemologie übergehen müsste. Denn Augustins Untersuchung der Trinität wäre dann keine Ontologie, die lehrte, was Gott ist, sondern die Suche nach den Bedingungen und Gründen, unter denen gewisse Gedanken und Begriffe überhaupt ein Wissen von dem, was ist, repräsentieren. Sie bewegte sich auf der Ebene, die – vor aller denkenden Erkenntnis dessen, was ist – nach dem Subjekt fragt, das Wissen begründet, nach dem »Wissen selbst«, und gäbe auf diese Frage eine neue, eine christlich-lateinische Antwort. b.
Zum Begriff: »Persona«
Da Augustin den griechischen Ausdruck »trei@ upostasei@« mit dem lateinischen »tres personae« übersetzt, der Begriff der Person in theologischer Hinsicht jedoch unklar und sein Gebrauch umstritten war, soll zunächst den Bedeutungen dieses Wortes nachgegangen werden. 1. In der römisch-lateinischen Tradition bezeichnete der Ausdruck »persona« zunächst die Maske: zum einen die Maske, die der Schauspieler im Theater trug, zum anderen die Maske, die den Charakter dargestellte 139 . Seit Cicero wurde er aber auch im übertragenen Sinne einer festumschriebenen, sozialen und politischen Rolle verwendet 140 und diente dazu, in ethischen oder rhetorischen Diskursen die Träger von Aufgaben, Pflichten und Rechten beziehungswei139 H. Rheinfelder unterschied dementsprechend zwei Auffassungen: die »theatertechnische, kritische Auffassung«, die hinter der Maske den darstellenden Schauspieler erkennt; und die »naive Auffassung« des Zuschauers, der in der Maske den dargestellten Charakter erkennt. Aus der kritischen Perspektive erscheint die persona als »ein Täuschungsmittel, etwas, das nur den äußeren Schein wiedergeben soll, während der Kern unberührt bleibt; der Schauspieler bleibt im Grunde trotz seiner persona, was er ist; persona ist die Hülle, die über etwas liegt, wozu sie von vornherein nicht gehört, die also den Kern verbirgt«. Aus der naiven Perspektive hingegen erscheint die persona als das, was der Gegenstand ist: »Wenn etwa z. B. eine als Ödipus maskierte Gestalt auftritt, … [so sieht der] naive Zuschauer … in jenem auftretenden Mann nicht einen maskierten Schauspieler, sondern den wahrhaftigen Ödipus, und er denkt an die persona nicht als an etwas, was der Schauspieler angelegt hat, sondern als an etwas, was dieser Ödipus nicht ablegen darf, wenn er Ödipus bleiben will; ihm wird also persona geradezu das Wesentliche in dem auftretenden Ödipus … So wird persona aus der Schale zum Kern der Sache.« (Rheinfelder 1928, 7 f.) – Vgl. auch Joachim 1911, 10 ff. 140 In de officiis (I, 107–125) bezeichnet Cicero mit »persona« die vier ›Rollen‹ des römischen Bürgers: die Rolle der allen gemeinsamen Vernunft, des individuellen Cha-
384
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
se die Rolle der Sprecher zu bezeichnen 141 . – Das Eigentümliche des Bedeutungsgehaltes dieser Verwendungsweisen besteht nun darin, dass im römischen Denken offenbar nicht zwischen dem Individuum, das jemand ist, und der ›sozialen Rolle‹, die er hat, unterschieden worden ist, dass also der Begriff der Person weder die ›Maske‹ oder ›Rolle‹ bezeichnete, ›hinter‹ der zugleich eine davon unterschiedene individuelle Substanz anzunehmen wäre, noch den Träger von inneren oder natürlichen Werten und Rechten, die ihm unabhängig von seiner ›Rolle‹ zukäme, die er hat, sondern dass im Begriff der Person die ›Rolle‹, die jemand hat, und das, was er ist, zusammenfallen. Dignitas zu haben und dignus zu sein, bedeuteten dasselbe 142. In diesem Sinne scheint nun aber das Wort »persona« – über das Theater hinaus 143 – auf eine ursprüngliche Bedeutung hinzuweisen, die es in Verbindung bringt mit dem altrömischen Kult der Ahnenmaske, der imago maiorum, in der das unsichtbare Wesen des Toten zugleich anwesend und sichtbar war. 144 Dieser Zusammenhang des rakters, der Herkunft und des sozialen Milieus sowie die selbst gewählte des Berufs. – Vgl. auch Dahrendorf 1964, 14 ff. 141 Zur Bedeutungsgeschichte von persona als »Rolle« siehe: Rheinfelder 1928, 6–17; Fuhrmann 1979, 83–106; Fuhrmann 1971 ff., 269–274. 142 Diese Übereinstimmung von Sein und Haben im Begriff der Person beschreibt M. Fuhrmann zutreffend: »Die Identität, um die es hierbei geht, ist … offensichtlich keine subjektive oder individualistische Kategorie, keine Einheit des Erlebens oder Bewusstseins; sie ist vielmehr eine vom ›Stellenplan‹ der Gesellschaft aus betrachtete Größe, eine konventionelle Gegebenheit, kurz, die perpetuierte soziale Rolle.« (Fuhrmann 1971 ff., 271). 143 So fand denn auch der spätrömische Staatsmann Boethius die Herleitung des Worts aus dem Komödiantischen unpassend. Siehe: Borst 1979, 620. 144 In diese Richtung weist auch die Etymologie des Wortes. Heutzutage werden die früheren Erklärungen abgelehnt, die persona im Kontext des Schauspiels von per-sonare (durchtönen) oder von per-zonare (umgürten) abgeleitet, oder die das Wort als Umbildung des griechischen proswpon betrachtet haben (siehe Walde 1972, Bd. 2; ausführlich: Rheinfelder 1928, 18–23). Im Unterschied zu diesen Ableitungen ging zunächst J. van Wageningen davon aus, persona liege das altlateinische *persum zugrunde; es sei daraus mit dem Suffix -ona wie matr-ona gebildet worden und habe die Bedeutung von »Kopf«. Demgegenüber vertrat dann O. Skutsch die Auffassung, persona stamme von dem etruskischen Wort »yersu« ab. Diese Auffassung gilt heute als die wahrscheinlichste (siehe Wahrig 1979, 2783; Langenscheidt 1963, 392; auch Fuhrmann 1971 ff., 269; Sève 1990, 658). Skutsch kam zu dieser Auffassung auf Grund von zweier Bilder in der »Tomba degli Auguri« in Tarquinia, die jeweils eine maskierte Gestalt mit der Beischrift »yersu« sowie einen fliegenden Vogel zeigen. Unklar blieb jedoch, worauf »yersu« bezogen ist: auf die Gestalt, die Maske, den Kopf oder den Vogel. Von dem Althistoriker F. Altheim stammt nun die Erklärung, nach der für das etruskische yersu das griechische perseyonh das Vorbild abgegeben habe. »yersu« bezeichne einen Gott A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
385
Der dreieinige Gott
»anwesenden Wesens« im Personbegriff reicht zum einen offenbar weit in die Anfänge römischen Denkens zurück; zum anderen gibt das schillernde Changieren zwischen der substanziellen und der relationalen Einheit der Person einen Anhaltspunkt, wie er theologisch zur Beschreibung der christlichen Trinität verwendet werden konnte bzw. verwendet wurde. 145 der Unterwelt oder einen Dämonen, der die Seele des Verstorbenen empfangen und in die Unterwelt geleitet hatte. Das lateinische persona habe daher ursprünglich »kleiner yersu« bedeutet. (Altheim 1929, 35–52.) Altheims Deutung des etruskischen yersu als Gott der Unterwelt kann nun jene Bilder sinnvoll erklären: der Vogel war das Symbol dieses Todesgottes: der Tod ist in der Maske anwesend. So gedeutet, entspricht das etruskische Bild dem altrömischen Glauben an die Anwesenheit der Ahnen, den Polybios in den »Historien« (VI 53) geschildert hat. Danach herrschte im römischen Adel der Brauch, den verstorbenen patres familias vor ihrer Bestattung die Totenmaske abzunehmen und in einem Schrein im Atrium des Hauses aufzubewahren. Diesem Brauch liegt der vielfach bezeugte altrömische Glaube zugrunde, dass der Tote als Maske weiterlebt (siehe: Bömer 1943, 104–123; Gladigow 1980, 128 ff.; Rheinfelder 1928, 8). Auf der Bestattungsfeier, der pompa funebris, wurden diese Masken öffentlich zur Schau gestellt. Diese, wie Th. Mommsen es nennt, »wunderliche Auferstehung der Todten« (Mommsen 1856, 1. Bd., 838) stellte dem römischen Volk den politischen Herrschaftsanspruch der alten Familien vor Augen. »Die eigentliche Bestimmung der Masken aber war,« so Mommsen, »bei den Leichenzügen die verstorbenen Vorfahren zu repräsentieren« (Mommsen 1889, Bd. 1, 446). Auch wenn für diese Ahnenmasken das Wort »persona« nicht überliefert ist – nur Sueton nennt in diesem Zusammenhang die Maske »persona« (Vita divi Vespasiani XIX) –, so vermag diese Tradition die eigentümliche Einheit von ›Wesen‹ und ›Rolle‹ im römisch-lateinischen Begriff der Person erklären. 145 Diese Undeutlichkeit des Personbegriffs hat D. Henrich treffend herausgearbeitet und zudem auf die damit verbundenen Unterschiede und Konflikte christlichen Glaubensverständnisses hingewiesen. In der geläufigen Bedeutung des Wortes verstehe man darunter »etwas, von dem man als Letztem, auf sich Beruhendem und aus sich Verständlichem seinen Ausgang nehmen kann« (Henrich 1979, 613). Er fasst dies in der Tradition des jüdisch-monotheistischen Gottesverständnisses als »letztbestimmtes, frei handelndes Aktzentrum« (613). Dieser Gedanke habe jedoch auch unabhängig von der jüdischen Kultur das antike Denken geprägt; die auf ihn gegründeten Reden von Selbstbewusstsein, Gewissen, Individualität und vernünftiger Verantwortlichkeit hatten ihre Wurzeln in der griechisch-philosophischen Tradition, insbesondere im stoischen Denken. Von ihm sagt Henrich, er habe sich im Christentum gegen Widerstände, »den römischen Personbegriff unhintergangen festzuhalten« (614), durchsetzen müssen. Diesem Personbegriff hafte, in der Bedeutung von Maske oder Rolle, Oszillierendes an: »Der Sinn von Personalität selbst schillert von Beginn an geheimnisvoll zwischen eigentlicher Wirklichkeit und bloßem Antlitz, von denen jede für sich genommen ebensowohl verhüllt wie ausdrückt« (613). Hier sei die göttliche Person nicht ein Letztbestimmtes, sondern müsse »notwendigerweise in dieser doppelten kategorialen Perspektive gedacht werden, – als Relationalität und Substanzialität in Einem« (615). Unter dem Begriff der Person als Rolle sei daher das Göttliche nichts aus sich Verständ-
386
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Um diese Bedeutung von »persona« bestimmter zu fassen, sei sie von derjenigen abgegrenzt, die – zeitlich nach Augustin – Boethius gegeben hat und die der neuzeitlichen Bedeutung der Person als vernünftigem Wesen zugrunde liegt. Zwar ging auch Boethius davon aus, dass das Wort von den Masken (personis) herstammt, die im Theater die Menschen, um die es ging, repräsentierten (repraesentaliches, sondern erscheine die göttliche Trinität »als von heiligem Geheimnis umgeben« (615). Entweder, so spitzt Henrich diese Bedeutungsalternative zu, meint Personalität ein auf sich gegründetes Handlungszentrum, dann kann dessen Verständlichkeit »nicht davon abhängen, dass es aus irgendwelchen Relationen gedacht wird, in den es immer schon steht und lebt« (615); oder aber sie meint jene Relationalität und Substanzialität in Einem, dann ist das Aktzentrum aufgelöst, und die Person kommt »beinahe ebenso in die Schwebe wie die Gesichter des Hausgottes Janus oder die Rollen der Puppen und Spieler, denen ein Akteur eine Stimme leiht« (613). Auch wenn Henrich dies Mehrdeutige in Hinblick auf die Trinität Gottes dahingehend einschränkt, dass hier die Rollen als Vater, Sohn und Heiliger Geist umrissen und bestimmt sind, so bleibe doch der Gegensatz, dass Gott im einen Fall als »letztbestimmtes, frei handelndes Aktzentrum«, im anderen Fall als das »heilig-geheimnisvolle Eine, das in allen drei Gottespersonen zugleich besteht« (613), gedacht wird. Zwar verbindet Henrich die Darstellung dieser Alternative mit der Kritik am römischen Personbegriff, weil hier das wahre Person-Sein als »Selbstpreisgabe« (616) zugunsten des Füreinander, der Mitteilung und Liebe, der Kommunikation und des Wechselbezug, verstanden würde, und damit »nicht nur das moderne, sondern auch das aus der klassischen griechischen Philosophie erwachsene Bewusstsein als Endpunkt eines Irrwegs« (616) aufgegeben würde. Für uns ist jedoch von Interesse, ob – jenseits aller Kritik – es dieser römische Personbegriff war, der am Ende der Antike im Westen dominierte und am Beginn des sogenannten ›lateinischen Abendlandes‹ dessen Theologie prägte. Wenn dem so ist, dann hat gerade das schwebend Geheimnisvolle, das dieser Begriff bezeichnet, den dauerhaften und hinreichend festen, verbindenden und verbindlichen, ›katholischen‹ Rahmen abgegeben, in dem in unterschiedlicher Weise die Trinität Gottes gedacht werden konnte. Henrich scheint dem zuzustimmen, wenn er schreibt, dass es erst später zum Konflikt kam: »Wenn dann aber aufgrund einer durch zivilisatorischen Fortschritt und durch eine reicher gewordene Erfahrung vom Subjektcharakter des Handelns und der Eigentümlichkeit des bewussten Lebens ›Person‹ nur noch als letztbestimmtes Subjekt gedacht werden kann, das von sich selbst her tätig wird, kann das Symbol der Trinität leicht zu einem Gedanken wider alle Vernunft werden« (615). Dieser »zivilisatorische Fortschritt« entstand aber nicht am Anfang des abendländisch-europäischen Denkens, sondern am Ende des römisch-lateinisch geprägten Mittelalters. Unter der Bedingung jedoch, dass die Trinität Gottes nicht nach dem Begriff der Person als Aktzentrum, sondern als jene so genannte »Relationalität und Substantialität in Einem« oder, wie wir sagen, als Einheit von Sein und Haben gedeutet wurde, und solange sie so gedeutet wurde, ist das Göttliche zwar in ein letztlich unbegreifliches Geheimnis gehüllt. Aber zwischen dem substanziellen Einssein und der relationalen Dreiheit der Personen besteht kein Widerspruch, weil er durch jenes schwebend Oszillierende des Personbegriffs gerade ermäßigt wird. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
387
Der dreieinige Gott
bant); aber er definiert dann als Person: ›naturae rationabilis individua substantia‹. 146 Diese Definition stimmt mit jener Bedeutung nun darin überein, dass die Person als eine Einheit dessen, was sie ist (individua substantia), und dessen, was sie hat (natura rationabilis), verstanden wird; in ihr fallen jedoch das Sein und das Haben nicht, wie im römischen Denken, zusammen, sondern werden durch die Begriffe der Substanz und der Natur kategorial unterschieden. Das Sein der Person wird – im Sinne der aristotelischen prwtera ousia – als eine individuelle Substanz verstanden, als ein Ding, dem die Rationabilität als Eigenschaft zukommt 147 . Demnach bezeichnet »Person« der Substanz nach ein Einzelnes; der Bestimmung nach aber ein Allgemeines. Mit dieser Definition setzt Boethius zum einen den wesentlichen Inhalt der Person nicht mehr in die bestimmte Maske oder Rolle, die das Wesen vorstellt, sondern, abstrakter, in die »vernunftbegabte Natur«, die dem Individuum eignet 148 ; zum anderen jedoch wird durch das Formale der Definition jenes charakA. M. S. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium. In: Boethius 1988, 74 ff. Vgl. Th. Kobusch: »Auch die berühmte Persondefinition des Boethius: Persona est naturae rationabilis individua substantia, ist nur unter der Voraussetzung der so verstandenen aristotelischen Ontologie zu verstehen. Bei Boethius – wo, wie später auch noch vereinzelt im 12. Jh., der persona-Begriff mit der alten Vorstellung der Maske, nicht aber der Rolle in Verbindung gebracht wird – wird die Person ontologisch und metaphysisch wie ein Naturding angesehen und behandelt.« (Kobusch 1997a, 28) 148 Entgegen der Annahme, Boethius sei es um einen allgemeinen Begriff der Person gegangen, diente er ihm vielmehr zur Klärung des christologischen Frage nach den zwei Naturen in einer Person: »de duabus naturis et una persona Christi«. Zudem resultierte seine Definition aus der Auseinandersetzung mit der Zweinaturen-Lehre des Nestorius und der Einnatur-Lehre des Eutyches. Boethius wollte präzisieren, inwiefern konsistent von Jesus Christus als von einer Person, aber von zwei Naturen, göttlicher und menschlicher, gesprochen, wie also dessen Einssein von seinen zwei Naturen unterschieden werden kann. Dies gelingt ihm, indem er die Person zu der individuellen Substanz erhebt, von der dann die zwei rationalen Naturen ausgesagt werden. Dies, sagt er, sei »der mittlere Weg zwischen zwei Irrlehren« (Boethius 1988, 107). Doch diese Verquickung des allgemeinen Personbegriffs mit dem christologischen Problem der zwei Naturen bringt es mit sich, dass man nicht recht weiß: bezeichnet »persona« die Einheit von individueller Substanz und rationabler Natur oder aber die individuelle Substanz im Unterschied zu dieser Natur? Hinzu kommt, dass sich aus dieser Definition unlösbare trinitätstheoretische Probleme ergeben; denn wenn nicht nur der Sohn, sondern auch der Vater und der Geist Personen sind, dann sind sie nach dieser Definition drei individuelle Substanzen. In seiner Trinitätsschrift »utrum pater et filius et spiritus sanctus de divinitate substantialiter praedicentur« (Boethius 1988, 28–33) vermeidet Boethius dann auch diese Definition und erklärt, dies Wort »erstrecke sich nicht auf die Substanz« (30). 146 147
388
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
teristische, mythisch-magische Zusammenfallen von Sein und Haben negiert oder ›vergessen‹, das »persona« im römischen Sprachgebrauch bedeutet hat. Boethius gräzisierte gleichsam den römischen Personbegriff, in dem er das Sein vom Haben und das Haben vom Sein kategorial trennt. 2. In die christliche Theologie ist der Ausdruck »persona« von Tertullian und den »Modalisten« eingeführt worden, wo er die ursprüngliche Bedeutung der ›Maske‹ oder ›Rolle‹ hatte. Er diente Tertullian in der Auseinandersetzung mit den Monarchianern, die den christlichen Glauben an die Trinität als unvereinbar mit der Ein-GottLehre behauptet hatten, um die Einheit von Vater und Sohn auszudrücken: So wie die Monarchie gewahrt bleibe, auch wenn sie durch nahestehende Personen (proximas personas) verwaltet wird, so werde die Monarchie Gottes auch dann gewahrt, wenn im christlichen Glauben der Vater und der Sohn bekannt werden. 149 Dieses, zum Zweck der Apologie aus der römisch-kaiserlichen Verwaltung entlehnte, Bild der Partizipation wurde jedoch weder von Tertullian noch von den Nachfolgern theologisch verdeutlicht. Der Ausdruck »persona« diente im Weiteren als ›terminus technicus‹, um gegen den Monarchianismus die Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist bezeichnen zu können. 150 – Neben dieser apologetischen Funktion wurde »persona« jedoch auch gebraucht, um das ›häretische‹ modalistische Trinitätsmodell zu beschreiben. Hier behielt der Ausdruck die Bedeutung von »Maske« und diente dazu, die Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist als die drei Erscheinungsweisen des Einen Gottes zu bezeichnen. 151 Schließlich ist er dann auch prosopographisch verwendet worden, um bibelexegetisch Vater, Sohn und Heiligen Geist als die drei Sprecher (tres personae) aufzusuchen. 152 149 Tertullian, Adversus Praxean 3, 2–3: »Doch keine Herrschaft kommt, sage ich, so sehr einem einzigen zu, ist so ausschließlich, so sehr Monarchie, dass sie nicht auch durch andere, ihr nahestehende Personen verwaltet werden könnte, die sie selbst zu Beamten bestimmt: Hat nun derjenige, der die Monarchie innehat, einen Sohn, dann wird sie nicht sofort geteilt und hört auf, eine Monarchie zu sein, wenn der Sohn als Teilhaber hinzugezogen wird; sie gehört vielmehr nach wie vor hauptsächlich demjenigen, der seinen Sohn daran teilhaben lässt, und ist, solange sie ihm zukommt, nach wie vor Monarchie, wenn zwei, die so eng miteinander verbunden sind, sie ausüben.« 150 Zur Bedeutung von persona als »terminus technicus« der lateinischen Theologie siehe: Rheinfelder 1928, 161 f. 151 Zu diesem ›häretischen‹ Wortgebrauch siehe: Andresen 1961, 3 f. 152 Aus dieser Verwendungsweise des Personenbegriffs in den lateinischen Kirchen folgt, dass die klassisch gewordene Formel »tres personae« nicht allein das griechische
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
389
Der dreieinige Gott
So konnte also ein und derselbe Ausdruck dazu dienen, einerseits die Verschiedenheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist als dreier Wesen (upostasei@) auszusagen, und sie andererseits doch als die drei ›Masken‹ oder ›Rollen‹ (proswpa) eines Wesens zu verstehen. Dieser unterschiedliche Gebrauch des Wortes verhinderte lange, den Begriff der Person theologisch zu verwenden 153 . »Persona« wurde zwar gebraucht, um die christlich bekannte Trinität zu bezeichnen; es blieb aber unklar und umstritten, was er bedeutet. Er konnte im ›häretischen‹ wie im ›orthodoxen‹ Sinne verstanden werden. Einerseits, so können wir die Situation zusammenfassen, war die Verwendung des Wortes im lateinischen Sprachraum schon standardisiert; andererseits aber blieb sein begrifflicher Gehalt unklar und missverständlich. c.
»Tres personae«
Obwohl Augustin die Formel »una essentia – tres personae« als den angemessenen Ausdruck betrachtet, den christlichen Trinitätsglauben zu bekennen, äußert er Bedenken hinsichtlich der Verwendung von »tres personae«. Denn zum ersten finde sich diese Formulierung nirgends in den biblischen Schriften (de Trin. VII 4, 8), so dass ihr Gebrauch, wenn nicht verboten, doch Willkürliches an sich habe; trei@ upostasei@ oder trei@ proswpa übersetzte, sondern auch eigenständig gewonnen wurde. – Über Tertullian schreibt C. Andresen: »Die exzeptionelle Stellung des Nordafrikaners beruht darauf, dass er als erster Theologe den Begriff der ›tertia persona‹ exegetisch ableitete und so zu seiner Formel: ›una substantia – tres personae‹ kommen konnte.« (Andresen 1961, 38). Während die trinitarische Debatte des Ostens vornehmlich theologisch-systematischer Struktur war, und die Exegese nur die Rolle einer ›ancilla theologiae‹ gehabt habe, konnte im lateinischen Westen »der trinitarische Personbegriff sich aufs engste mit der Schriftexegese verbinden … und (wurde) hier stets als theologisch legitim empfunden …, weil für seine Begründung nicht die spekulativen Methoden einer theologischen Metaphysik aufgeboten zu werden brauchten.« (ebd., 28). 153 H. Drobner hat zwar behauptet, dass der Personbegriff »dem [lateinischen] Westen sozusagen mühelos einen zweihundertjährigen theologischen Vorsprung vor der östlichen, griechischen Theologie verschaffte« (Drobner 1986, 210). Er räumt dann aber ein, dass die lateinische Theologie davon keinen Gebrauch machte, weil »der personaBegriff noch zu stark die Bedeutung von ›Rolle‹ durchdringen lässt und noch zu schwankend ist.« (ebd.). – So zögerte auch Ambrosius von Mailand, diesen Ausdruck zu verwenden, wie sein Bedenken in »de spiritu sancto« (III, 11, 81; Ambrosius 1955) zeigt: »– si tamen dignum hoc verbum est maiestatis expressione divinae –« (wenn denn dieses Wort [Person] würdig ist, die göttliche Majestät auszudrücken).
390
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
zum zweiten sei »Person« im normalen Sprachgebrauch ein Gattungsname, so dass man, wenn man von Gott als von »drei Personen« spricht, in die Verlegenheit kommt, nicht einen Gott, sondern drei Götter auszusagen (de Trin. VII 4, 8); und schließlich könne man, wenn in Gott Sein und Personsein identisch sind, statt von drei Personen auch von einer Person reden (de Trin. VII, 6, 11). Augustin schließt daraus, dass der Ausdruck »tres personae« unter dem Zwang verwendet werde, über die Dreieinigkeit nicht schweigen zu müssen und den Häretikern antworten zu können 154 . Angesichts dieser Ungereimtheit, einerseits anzunehmen, dass der christlich-katholische Glauben nach jener Formel richtig bekannt wird, andererseits einzuwenden, dass der Ausdruck »tres personae« in Hinblick darauf unpassend sei, sollen die vorgebrachten Einwände zunächst auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden. Zweifellos ist es richtig, dass sich der Ausdruck »tres personae« in den biblischen Schriften nicht findet. Dort wird zwar der Ausdruck »persona domini« verwendet, der aber nicht zur Bezeichnung des Eigenseins dient, sondern des »Antlitz des Herrn« 155 . Gälte jedoch dieser Einwand, dann träfe er auch auf Ausdrücke wie »una essentia«, »substantia« oder »trinitas« zu, die sich gleichfalls nicht in den biblischen Schriften finden, sondern aus den Bemühungen resultieren, den Glauben in Begriffe zu fassen. Bezöge Augustin sein Bedenken auch darauf, wäre die Folge der Verzicht auf die begriffliche Aneignung des Glaubens. Dass Augustin dies nicht tut, zeigt, dass sein Bedenken für ihn kein Hinderungsgrund ist. – Auch der zweite Einwand gegen die Verwendung des Ausdrucks überzeugt nicht. Denn wenn die Übertragung von Gattungsnamen auf das theologische Bedeutungsfeld verboten wäre, dann wären auch Ausdrücke »Vater« und »Sohn« unbrauchbare Begriffe, da man jederzeit von »Vätern« und »Söhnen« reden kann. Ließe Augustin diesen Einwand gelten, so wäre das Schweigen die Konsequenz. Dass Augustin nicht schweigt, zeigt an, dass der ›normale Sprachgebrauch‹ für ihn kein hinreichender Hinderungsgrund ist. – Der dritte Einwand schließlich führt nicht äußere Gründe an, sondern bezeichnet das Trinitätsproblem selbst: wie nämlich konsistent vom Einen Wesen und den drei Personen gesprochen 154 Siehe: de Trin. VII, 6, 11; de Trin. VIII, 1; de Trin. VII, 4, 9. – Diese Äußerungen haben dazu geführt, den Personbegriff in Augustins Theologie für unwichtig zu erachten. Siehe: Schmaus 1927, 147; Wittmann 1980, 155; Flasch 1980, 361 f. 155 Zur biblischen Wortgeschichte siehe: Fuhrmann 1971 ff., Bd. 7, 274 f.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
391
Der dreieinige Gott
werden kann. Diese die Schwierigkeit ist für Augustin jedoch kein Hinderungsgrund, sondern benennt die Herausforderung, das, was nach jener Formel geglaubt wird, zu begreifen. Die Bedenken, die Augustin gegen die Verwendung des Ausdrucks »tres personae« vorträgt, sind deshalb wohl eher einesteils als rhetorische Gesten zu verstehen, die dem Umstand Rechnung tragen, dass er sich weder auf die geforderte »auctoritas scripturi« noch hinreichend auf einen »consensus eruditorum« berufen kann. Andernteils artikulieren sie die Aufgabe, das mit der Formel Gemeinte von den Missverständnissen und -deutungen des normalen Sprachgebrauchs zu reinigen – eingedenk dessen, dass es menschlicher Vernunft prinzipiell unmöglich sei, Gott angemessen zu begreifen. Wir sehen daher in den genannten Einwänden keinen zureichenden Hinderungsgrund, Augustins Trinitätsmodell auf der Grundlage dieser Formel zu rekonstruieren 156 . d.
Die Problemstellung
Als Grundlage des augustinischen Trinitätsmodells betrachten wir also das Schema »una essentia – tres personae«. Es expliziert die Homousieformel, der gemäß Vater, Sohn und Heiliger Geist als drei Personen eines Wesens bekannt werden. Hinsichtlich des Ausdrucks »una essentia« ließen wir offen, ob Augustin mit ihm das Seiende oder den Grund des Seienden beschreibt. Im einen Fall, sagten wir, wäre sein Trinitätsmodell eine Lehre von dem, was wahrhaft ist, im 156 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch W. Geerlings: »Das Kapitel [de Trin. VII 4, 7–8] lässt erkennen, dass Augustin keinen Grund sieht, den Personbegriff zu verwerfen, ›quod enim de personis secundum graecorum consuetudinem ea quae diximus oportet intelligi‹, 259. Vgl. de Trin. VX 7, 11 CCL 50 A, 475: ›et tres personae sunt essentiae non sicut singulus quisque homo una persona.‹« (Geerlings 1978, 52) – M. Schmaus scheint in seiner Einleitung zu Augustins »de trinitate« sein früheres Urteil vom Personbegriff als »leerem Wort« (Schmaus 1927, 147) zu revidieren. Hier heißt es: »So sehr Augustinus die Einfachheit des Seins betont, so führt das doch nicht zu einer Erlahmung seiner Überzeugung von der Personendreiheit.« (XXVI f.) – Auch L. Wittmann handelt erst pflichtgemäß ab, dass »die Rede von drei Personen lediglich eine Notlösung« (Wittmann 1980, 155) sei, um im Folgenden Augustins »rationale Begründung der göttlichen Trinität« (154) darzulegen, die den Begriff der Person ganz ins Zentrum rückt. – Nicht zuletzt die kritiklose Übernahme jener Einwände gegen den Ausdruck »tres personae« hat dazu geführt, Augustin entweder als Vertreter der sabellianischen Eingottlehre (Harnack 1931, Bd. 2, 307; Bd. 3, 63, Anm. 1; Seeberg 1965, Bd. 2, 406) oder als Vorläufer einer »negativen Theologie« misszuverstehen.
392
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
anderen Fall die Suche nach dem epistemischen Grund einer solchen Lehre. Hinsichtlich des Ausdrucks »tres personae« nahmen wir an, dass die Bedenken Augustins gegen seinen Gebrauch die Schwierigkeiten betreffen, ihn theologisch zu verwenden, aber nicht prinzipieller Natur sind. Auf dieser Grundlage ergibt sich die folgende Fragestellung: wie sind Vater, Sohn und Heiliger Geist drei Personen und ein Wesen? Denn für Augustin sind die drei Aussagen unproblematisch, dass Vater, Sohn und Heiliger Geist unwandelbar ein Wesen sind, dass sie drei Personen sind, und dass sie beides, ein Wesen und drei Personen, sind. Dies, sagt Augustin, ist »mein Glaube, weil es der katholische Glaube ist.« (de Trin. I, 4, 7) Die Aufgabe kann also nur darin bestehen, das »wie« zu klären, d. h. diejenige ›Struktur‹ zu rekonstruieren, mit der Augustin diesen Glauben erklärt 157 . Mit dieser Fragestellung treffen wir jedoch eine Vorentscheidung. Wir betrachten Augustins Werk »Über die Dreieinigkeit« nicht als eine heilsökonomische Theorie, die anhand der biblischen Schriften Gott als den Schöpfer, Erlöser und Heilsbringer in der geschichtlichen Welt expliziert, sondern als Untersuchung derjenigen Dreieinigkeit Gottes, die ›vor aller Erfahrung‹ liegt. 158 Wir gehen damit auch nicht der erkenntnistheoretischen Frage nach, wodurch dem Menschen die Erkenntnis der Trinität Gottes möglich ist, da Augustins Ausgangspunkt nicht die Erkenntnisvermögen des Menschen sind, sondern der katholische Glaube bzw. jene Formel, die diesen Glauben ausdrückt 159 . Und schließlich kann es uns auch nicht 157 Am Ende von »de trinitate« (XV, 28, 51) bekennt Augustin: »Nach dieser Glaubensregel richtete ich mich in meinem Beginnen, und von ihr aus habe ich, so gut ich es vermochte, so gut du mir das Vermögen gabst, dich gesucht, habe mit der Vernunft zu schauen verlangt, was ich glaubte, und viel habe ich erörtert und viel mich gemüht.« 158 Dieser Auffassung scheint zu widersprechen, dass Augustin insbesondere im 2. und 3. Buch von »de trinitate« ausführlich auf das göttliche Handeln eingeht, von dem das Alte und Neue Testament berichtet. Doch dies ist in »de trinitate« nicht das Thema; diese Aussagen nennen die Bedingungen und formulieren die Probleme, unter denen die Dreieinigkeit des Handlungssubjekts zu begreifen ist. 159 Gegen unseren Ausschluss der erkenntnistheoretischen Dimension lässt sich einwenden, dass Augustin ausführlich, vom 8. bis zum 14. Buch, die Frage behandelt, wie der Mensch, qua Selbsterkenntnis, die Trinität Gottes erkennen kann; und dieser Teil gilt als der eigentlich philosophische gegenüber den bibelexegetischen und theologischen Teilen. Doch bei aller Analogie, die Augustin zwischen der Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes und der Trinität Gottes feststellt, bleibt es hierbei dennoch bloß bei einem »schwachen Ahnen« (XV, 23, 44), das nicht an die Trinität Gottes heranreicht. Diese aber ist das Thema von »de trinitate«.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
393
Der dreieinige Gott
allein um die Klärung der onto-logischen Frage gehen, wie die Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist zugleich als Ein Seiendes bzw. das Eine Seiende als Dreiheit von Vater, Sohn und Heiliger Geist gedacht werden kann, da die vernünftige Einsicht, wie Augustin sagt, nicht hinreicht, diese Dreieinigkeit zu erkennen. Unsere leitende Frage nach dem »Wie« der Wesenseinheit und Dreipersonalität in Augustins Trinitätsmodell richtet sich also nur auf das ewige und unwandelbare Fürsichsein Gottes, der als solcher rein immanent und ohne Bezug zu anderem ist. 160 Dieses Fürsichsein deuten wir als dasjenige Absolute, von dem Augustin sagt, dass in ihm Sein und Wissen dasselbe sind, das also als das onto-logische Objekt seiner Trinitätsuntersuchung zugleich das epistemo-logische Subjekt ist, das in dem, was es ist, zugleich codiert, was Wissen überhaupt ist. Indem daher Augustin der Art des Seins von Vater, Sohn und Heiligem Geist als den drei Personen nachgeht, wie sie der christliche Glaube bekennt, fragt er zugleich nach dem epistemologischen Verhältnis zwischen dem Vater als dem Grund alles Wissens, dem Sohn als dem Gesetz, das Wissen überhaupt ermöglicht, und dem Heiligen Geist als der Kraft, die das Wissen bewirkt. In diesem Sinne werden wir Augustins Untersuchungen der Trinität onto- und epistemologisch rekonstruieren, weil die ›Seinsstruktur‹ für ihn zugleich codiert, was Wissen ist. Der erste Teil geht der trinitarischen Seinsstruktur nach: zuerst den Verhältnissen von Vater und Sohn, die dem Reden über Gott zugrunde gelegt werden, dann dem ›trinitarischen Ort‹, den der Heilige Geist in Augustins Trinitätsmodell einnimmt. Dabei wird das »untrennbare Zusam160 Mit dieser Interpretation schließen wir uns dem an, was von Kritikern als weltferne Transzendenz und verschlossene Immanenz der augustinischen Trinitätslehre bezeichnet wurde. So urteilte A. v. Harnack: »Diese Speculation, welche die immanenteste unter den immanenten Trinitäten zu construiren und die Dreiheit zur Einheit zu sublimiren versucht, entfernt sich eben damit von jeder geschichtlichen religiösen Grundlage und verliert sich in paradoxen Distinctionen und Speculationen, während sie ihren neuen und wertvollen Gedanken doch nicht rein auszudrücken vermag.« (Harnack 1931, Bd. 2, 306) Im gleichen Sinne urteilte auch H. Arendt, der Gott Augustins sei »nicht für andere, … nur für sich selbst« (Arendt 1929, 22); und W. Geerlings stellte fest, dass die »systematische Geschlossenheit« der augustinischen Trinitätslehre »mit einem Verlust an heilsgeschichtlicher Dynamik bezahl(t)« werde (Geerlings 1978, 58). Wir verstehen diese ›transzendente Immanenz‹ allerdings nicht als philosophischen Ballast, sondern sehen in ihr die lateinische Antwort auf das nachnikaianische Problem, wie unter der Bedingung der Homousie konsistent vom Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist gesprochen werden kann.
394
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
men« von Vater und Sohn im Zentrum stehen, das als Autoritätsverhältnis expliziert wird. Der zweite Teil stellt die trinitarische Wissensstruktur dar: die Beziehung des ewigen Worts zu seinem Ursprung und der ihm innewohnenden Kraft. 2.
Die Beziehungen von Vater und Sohn
Beginnen wir, vom Schema »una essentia – tres personae« ausgehend, mit der Aussage, die der christliche Glaube über den Unterschied von Vater und Sohn macht: das Ungezeugtsein des Vaters und das Gezeugtsein des Sohnes. Diese Aussage kann nun aber auf die beiden nicht als einfache Wesen zutreffen, da sonst die polytheistische Annahme von zwei Göttern folgte, nach der Vater und Sohn nicht ein Wesen wären, sondern jeder der beiden ein Wesen und ein Gott. Der Unterschied kann aber auch nicht als ein akzidentieller aufgefasst werden, weil so die modalistische Annahme folgte, dass das Ungezeugtsein des Vaters und das Gezeugtsein des Sohnes Eigenschaften des Einen Gottes seien. Die erste Annahme widerspricht dem Glauben an den Einen Gott; die zweite hingegen widerspricht sich selbst, weil im Unwandelbaren nichts Wandelbares sein kann. 161 Wie aber lässt sich dieser Unterschied dann begreifen? a.
Die Vater-Sohn-Relation
Den Typ von Aussagen, die den Vater im Unterschied zum Sohn betreffen, bestimmt Augustin nun als Aussagen der Relation, nach der etwas, wie Aristoteles in den »Kategorien« (6a) gesagt hat, das, was es dem Begriffe nach ist, im Vergleich zu einem anderen oder in irgendeinem sonstigen Verhältnis zu einem anderen beigelegt wird. Demgemäß werde der Vater »Vater« genannt, nicht weil er Vater ist, sondern weil er den Sohn hat, der nicht der Vater ist. Er wäre nicht Vater ohne den Sohn, da er weder selbst noch sich selbst, sondern dem Sohn der Vater ist. Dieser aber ist ein anderer als jener: der Sohn ist nicht der Vater; in dieser Vater-Sohn-Beziehung ist der Vater Nicht-Sohn. Das Vater-Sein ist daher keine Bestimmung des Wesens, sondern eine bezügliche Eigenschaft: der Vater ist Vater, weil er einen 161 »In Gott kann jedoch keine Aussage ein Akzidens betreffen, weil in ihm nicht wandelbar ist.« (de Trin. V, 4, 5)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
395
Der dreieinige Gott
Sohn hat, der nicht er selbst, sondern ein anderer ist. – Entsprechend werde der Sohn »Sohn« genannt, nicht weil er Sohn ist, sondern weil er den Vater hat, der nicht der Sohn ist. Ohne diesen wäre er nicht der Sohn. Das Sohnsein ist also gleichfalls bezüglich: der Sohn ist Sohn im Verhältnis zum Vater, der nicht der Sohn ist. Die Bestimmungen Vater und Sohn, sagt Augustin, »betreffen nicht das Wesen, sondern eine Beziehung« (V, 5, 6: non secundum substantiam dicuntur sed secundum relatiuum). Damit also ist weder der Vater noch der Sohn für sich das, was jeder ist, sondern nur im Verhältnis zum anderen, so dass das Sein des einen das Sein des anderen bedingt. »Vater« und »Sohn« bezeichnen demnach ein je bezügliches Sein. Diese Einführung der Kategorie der Relation erlaubt es Augustin in theologischer Hinsicht, zwischen der Zwei-Götter-Lehre auf der einen Seite und der modalistischen Lehre auf der anderen Seite zu ›vermitteln‹. Denn auf dieser Grundlage sind die Aussagen über Vater und Sohn, das Ungezeugtsein des Vaters und das Gezeugtsein des Sohnes, keine Aussagen über sie als einfache Wesen, weil nach ihr ja weder der Vater für sich Vater noch der Sohn für sich Sohn ist; sie treffen aber auch keine Aussagen über Akzidentielles, weil nicht ein und dasselbe Wesen einmal ungezeugter Vater, einmal gezeugter Sohn ist, sondern weil der Vater immer ungezeugt und der Sohn immer gezeugt ist und bleibt. Sie machen vielmehr Aussagen über Bezügliches, nach dem der Vater nur Vater ist im Verhältnis zum Sohn, den er hat, und der Sohn nur Sohn ist im Verhältnis zum Vater, den er hat. 162 In trinitätstheoretischer Hinsicht jedoch löst die Einführung dieser Kategorie nichts. 163 Sie erlaubt es Augustin zwar, eine katholische Antwort auf den ›ketzerischen Irrtum‹ der Arianer zu geben, für die allein der Vater – weil ungezeugt – Gott sei, nicht aber – weil gezeugt – der Sohn. Doch die kategoriale Unterscheidung, die Au162 »… die Bestimmungen Vater und Sohn betreffen nicht die Substanz, sondern eine Beziehung. Die Beziehung ist aber kein Akzidenz, weil sie nicht wandelbar ist.« (de Trin. V, 5, 6). 163 Man hat oft hervorgehoben, es sei Augustins Leistung gewesen, die Trinität relationslogisch verstanden und damit gegenüber der vorherrschenden Substanz-AkzidenzOntologie die Bezüglichkeit rehabilitiert zu haben. Er habe, wie K. Flasch feststellt, »die Trinitätslehre zur Gegenkraft gegen die Dingontologie« gemacht (Flasch 1980, 354). Unseres Erachtens hat Augustin damit zwar in der Tat jene Subordination des Sohnes unter den Vater vermieden, die das Konzil von Nikaia verdammt hatte, aber zugleich das Problem aufgeworfen, wie die Bezüglichen dennoch eines Wesens sein können.
396
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
gustin zwischen der Einfachheit Gottes als Wesen und der Zweiheit von Vater und Sohn als Bezügliche fällt, erlaubt es nicht, die geglaubte Einheit von Vater und Sohn zu verstehen. Denn Vater und Sohn sind nur in der einen Hinsicht ein und dasselbe: als das einfache und unwandelbare Wesen; aber nicht als Vater und Sohn. Hier wird vom Vater- und Sohnsein abstrahiert und darauf gesehen, worin der Sohn dem Vater gleich ist. In der anderen Hinsicht sind sie zwei und bezüglich: der Vater dem Sohn, der Sohn dem Vater; aber nicht Ein Gott. In diesem Fall wird von der Einfachheit des Wesens abgesehen und darauf geachtet, worin Vater und Sohn verschieden sind 164 . Auf der Grundlage dieser kategorialen Trennung zwischen Wesen und Relation lässt sich sogar die Paradoxie formulieren, dass, sofern der Vater das ist, was er selbst ist, er ein einfaches und unwandelbares Wesen ist und nicht der Vater; dass er jedoch, sofern er nicht ist, was er selbst ist, sondern ein bezügliches Sein, der Vater ist. Das Gleiche gilt vom Sohn, der in dem, was er selbst ist, nicht der Sohn, aber in dem, was er nicht selbst ist, der Sohn ist. Dieser Differenz zwischen dem einfachen und dem relativen Sein wegen kann Augustin zwar unterscheiden zwischen Aussagen über Gott, die das eine Wesen, »una essentia«, betreffen, und Aussagen, die den Vater bzw. den Sohn als zwei Personen betreffen. Aber er kann nichts über die geglaubte Einheit von Vater und Sohn, um die es zu tun wäre, aussagen. 165 Dieses Ungenügen formuliert Augustin selbst: Anlass gebe das Paulus-Wort (1. Kor. 1, 24), Christus sei die Kraft und Weisheit Gottes. Hier versagt das Schema. Denn nähme man an, dieser Satz träfe 164 Vgl.: »Weil jedoch der Sohn nicht in Beziehung steht zum Sohne, sondern zum Vater, so ist er nicht in seiner Beziehung zum Vater diesem gleich. Also ist er ihm im Bereich des Absoluten gleich. Jede absolute Bestimmung betrifft indes die Substanz, also ist er ihm hinsichtlich der Substanz gleich.« (de Trin. V, 6, 7) 165 Diese Verlegenheit lässt sich auch an Augustins Interpretation des biblischen Satzes (Jo 10, 30) verdeutlichen: »Der Vater und ich sind untrennbar eins.« In den früheren »Soliloqui« (I, 1, 4) hatte Augustin den Satz so gedeutet, dass »Erzeuger und Erzeugter eins ist«. Diese Deutung entspricht der Unterscheidung von Wesen und Relation: sehen wir auf das eine und unwandelbare Wesen Gottes, so ist Vater und Sohn eins. In den Retractationen (Augustin 1976, 21) kritisiert er diese Aussage: »Und wo ich vom Vater und Sohn gesagt habe: ›In dem Erzeuger und Erzeugter eins ist‹ sollte es heißen: eins sind, so wie es die Wahrheit selbst deutlich sagt: Ich und der Vater sind eins (Jo 10, 30).« Dieser Selbstkritik aber liegt die Klärung des Problems zugrunde, dass nach dem katholischen Glaubensverständnis Vater und Sohn eben weder eins ist noch zwei sind, sondern dass sie eins sind.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
397
Der dreieinige Gott
eine Aussage über das Wesen, wonach der Eine Gott mächtig und weise sei, so wäre das Paulus-Wort nicht richtig, nach dem diese Eigenschaften Christus, also dem Sohn, zukommen. Nähme man hingegen an, der Satz mache eine Aussage über den Sohn im Unterschied zum Vater, so würde ihm, nicht aber dem Vater, die Kraft und Weisheit Gottes zugesprochen. Wir wären, wie Augustin schreibt, »in die Verlegenheit versetzt, entweder zu behaupten, dass Christus nicht die Kraft und Weisheit Gottes ist, und so sich verwegen und gottlos gegen den Apostel zu stellen, oder zuzugeben, dass Christus die Kraft und Weisheit Gottes ist, aber zu verneinen, dass sein Vater der Vater seiner Kraft und Weisheit ist – keine geringere Gottlosigkeit« (de Trin. VII, 1, 2). Denn nähme man – in Übereinstimmung mit dem Paulus-Wort – das letztere an, so würde aus der Verneinung folgen, dass der Vater entweder nicht der Vater seines Sohnes wäre, da dieser ja die Macht und Weisheit Gottes ist, oder aber dass das Sein des Vaters etwas anderes als das Mächtig- und Weisesein und er damit nicht eines einfachen Wesens wäre, oder schließlich, dass der Vater kein einfaches und unwandelbares Sein wäre, weil er Vater nur relativ zum Sohn ist, der selbst und allein die Macht und Weisheit Gottes ist. Wie dem auch sei, es bedarf zur Lösung dieses Problems einer anderen Konzeption als der bisherigen, nach der »Vater« und »Sohn« nur ein bezügliches Sein bezeichnen. Um das Paulus-Wort zu verstehen, dürfen über Vater und Sohn nicht nur relative Aussagen, es müssen auch absolute, das Wesen betreffende, Aussagen gemacht werden können. b.
Das personale Verhältnis von Vater und Sohn
Aus dieser Problemlage ergibt sich uns als Lösung der Begriff der Person. Denn das Problem entstand, weil Augustin auf der einen Seite den Grundsatz übernommen hat, dass Gott das eine und unwandelbare Wesen ist, das die Griechen »ousia« genannt und die Lateiner als »essentia« übersetzt haben; weil er auf der anderen Seite zum Verständnis von Vater und Sohn die (aristotelische) Kategorie der Relation, das pro@ ti, verwendet hat. Nach dieser Unterscheidung zwischen den Kategorien der ousia und des pro@ ti können zwar die Aussagen über das Wesen Gottes, seine Kraft, Weisheit und Güte, von denen über das Bezügliche, das Ungezeugtsein des Vaters und das Gezeugtsein des Sohnes, getrennt werden; aber sie müssen auch getrennt werden. Man gerät daher, wie gesehen, in die »Verlegen398
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
heit«, zu verneinen, was doch bejaht werden muss. Es bedarf daher eines Begriffes, der den Unterschied zwischen dem wesentlichen und dem relativen Sein Gottes nicht kategorial befestigt, sondern vereinigt, der also die Unterscheidung von wesentlichem und relativem Sein gleichsam ›übergreift‹, ohne dass die zwei Seinsarten des Wesentlichen und des Bezüglichen im Vereinigungstaumel einer mystischen Union von Vater und Sohn verschwinden oder in der dialektischen Denkbewegung des einen im anderen ›aufgehoben‹ werden. 166 Der Begriff aber, der diese Einheit des Wesens Gottes und des Bezüglichseins von Vater und Sohn leistet, ist der lateinische Begriff der Person. Er gestattet es, den christlichen Gott als ein Subjekt anzunehmen, das nicht entweder als einfaches Wesen oder als bezügliches Sein begriffen wird, sondern das beides ist: einfach und bezüglich. Wir betrachten also den in der römischen Tradition wurzelnden Begriff der Person als Lösung des durch die Art des griechischen Denkens nicht lösbaren Problems, wie der Glaube an das Einssein von Vater und Sohn verstanden werden kann. Dabei bedeutet der Personbegriff zunächst nichts anderes, als dass das einfache Wesen 166 Die Erklärungen, die für das Verhältnis der Wesenseinheit Gottes und der personalen Dreiheit bei Augustin gegeben worden sind, sind eher Paraphrasen als Rekonstruktionen. So etwa wiederholt I. Chevalier in seiner Analyse die Aussagen Augustins nur, wenn er von den Personen schreibt: »… les distinctions des personnes sont des distinctions de relatifs et non pas d’absolute.« (Chevalier 1940, 382). Er erläutert aber nicht, wie diese Unterschiede dennoch Unterschiede des Einen sein können. Schmaus 1927 fasst den essentiellen Charakter des Einen Gottes und den relativen Charakter der drei Personen im Ausdruck der »substantialen Relationen« (149) zusammen. Er erläutert aber nicht, was darunter zu denken sei? Hatte Aristoteles noch gefragt, ob Substanzen auch relativ seien (Kategorien, 8 b), mutet Schmaus zu, substantiale Relationen, unbezügliche Beziehungen, zu denken. Wittmann 1980, 156 f. springt in seiner Darstellung des Verhältnisses der Einheit und Dreiheit hin und her: Zunächst schreibt er: »Die drei Personen besagen demnach ›reale immanente Relationen im göttlichen Sein‹.« Dann aber, diese Verschiedenheit bestehe »nur, wenn man die drei Personen in ihrer wechselseitigen Beziehung betrachtet.« Er lässt die Frage, ob die Verschiedenheit nun im göttlichen Sein oder in der Betrachtungsweise bestehe, offen und wendet sich zum »Beispiel des Geistes«, an dem man sich das Verhältnis der Einheit des Wesens und der Verschiedenheit der Relationen vorstellen könne. Flasch 1980, 353 macht es sich einfach. Er schreibt: »Von der göttlichen Wesenheit können die Differenzen der Personen nicht kommen, denn diese haben sie gemeinsam. Von den Akzidentien her auch nicht, denn in Gott gibt es keine zusätzlichen Eigenschaften. Die Unterschiede kommen von den Beziehungen – Vatersein, Sohnsein, Hervorgehen aus Vater und Sohn –, die in Gott keine Eigenschaft, sondern Substanz sind.« Und als Beleg nennt er die Stelle in de trinitate (V, 5, 6), – an der das gerade Gegenteil steht: »Denn die Bestimmungen Vater und Sohn betreffen nicht die Substanz, sondern eine Beziehung«.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
399
Der dreieinige Gott
Gottes und das relative Sein von Vater und Sohn nicht als zwei getrennte Seinsarten gedacht werden müssen, sondern als vereinbar verstanden werden. a. Augustins Kritik des Begriffs der »Person« 1. Nun steht dieser Lösung des Problems allerdings die Kritik entgegen, die Augustin an der Verwendung des Personbegriffs geübt hat. Im VII. Buch stellt er fest, dass der Ausdruck »Wesen« (ousia, essentia) das einfache Sein Gottes (de Trin. VII, 6, 11: esse ad se) bezeichnet; der Ausdruck »persona« hingegen auf die Frage antwortet, was die drei, Vater, Sohn und Heiliger Geist, sind. Er erörtert daraufhin kritisch drei verschiedene Möglichkeiten, von Vater, Sohn und Heiligem Geist als »Personen« zu sprechen. Versteht man unter »Person« eine Relation, so wie unter »Freund«, dann wäre, so wie bei drei Freunden jeder der Freund der beiden anderen ist, jeder die Person der anderen. Der Vater wäre die Person des Sohnes und des Heiligen Geistes vice versa. Dazu stellt Augustin lapidar fest: »Der Ausdruck Person wird nirgends in dieser Weise verwendet.« (ebd.) »Drei Personen« könne nicht wie »drei Freunde« verwendet werden; denn »Person« bezeichne keine Beziehung, sondern die Bezogenen selbst: »in bezug auf sich selbst heißt er [der Vater] Person, nicht in seiner Beziehung zum Sohne oder zum Heiligen Geiste …« (ebd.). Für den Vater sei »ein und dasselbe das Sein und das Personsein« (ebd.). – Versteht man unter »Person« hingegen keine Relation, sondern die Art, so dass das einfache Wesen Gottes die Gattung, das Personsein die Art und Vater, Sohn und Heiliger Geist die Individuen wären, so bezeichnete »drei Personen«, so wie »drei Pferde«, drei verschiedene und selbständige Individuen. Dieser Gebrauch von »Person« als Art widerspricht jedoch der Annahme des einen und einfachen Wesen Gottes. Überhaupt sei es so, stellt Augustin fest, dass die Bezeichnungen »Gattung«, »Art« und »Individuum« nicht passen, um die Formel »una essentia – tres personae« auszudrücken. 167 – Näher als diese Verwendungsweisen liege vielleicht diejenige, die das eine Wesen Gottes als »natura« auffasst, die drei Personen hingegen als Exemplare 168 ; so wie denn auch früde Trin. VII, 6, 11; vgl. auch de Trin. VII, 4, 7–8. Augustin verwendet diesen Ausdruck nicht. Er nennt keinen Begriff, der dem der »natura« korrespondiert, sondern umschreibt ihn mit einem Beispiel: »Oder können wir etwa, wie wir von drei bestimmten Menschen, die dasselbe Geschlecht, dieselbe Körper167 168
400
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
her, bevor das griechische Verfahren üblich geworden sei, das Wesen Gottes mit dem lateinischen Ausdruck »natura« bezeichnet worden sei. Augustin expliziert dieses Verhältnis am Beispiel dreier Statuen, die aus einem und homogenem Gold gemacht sind. Hier könne man sagen: die drei Statuen bestehen aus Einem Gold. Sie gelten nicht als drei Dinge eigenen Wesens, sondern aus einem Wesen, aus einer Natur. Doch in Bezug auf die Dreieinigkeit Gottes sei auch dieses Verhältnis ungenügend. Denn zwischen der einen Natur (Gold) und den drei Exemplaren (Statuen) besteht kein innerer Zusammenhang; aus Einem Gold können drei, aber nochmal drei Statuen gemacht werden. In diesem Fall ist das Natursein und das Exemplarsein verschieden: »etwas anderes ist ja dabei das Goldsein, etwas anderes das Statuesein.« (ebd.). Im dreieinigen Gott jedoch bestehe zwischen dem einen Wesen und den drei Personen ein innerer und untrennbarer Zusammenhang: »in jenem Wesen der Dreieinigkeit … kann in keiner Weise irgendeine weitere Person aus demselben Wesen in selbständigem Dasein bestehen.« (ebd.) In ihm sind das einfache und unwandelbare Wesen und die drei Personen Eines, so dass sie »zusammen jeder einzelnen gleich« sind (ebd.: aequales sunt singulis). Dies, so endet Augustin, »versteht freilich der irdisch gesinnte Mensch (animalis homo) nicht« (ebd.). Soweit Augustins Untersuchung des Verhältnisses von »una essentia« und »tres personae«. Und soweit ich sehe, ist diesbezüglich dies auch sein letztes Wort: Unter »Person« könne in Bezug auf Gott weder eine Relation verstanden werden, noch passt das logische Schema »Gattung-Art-Individuum« noch genügt der Ausdruck »aus einer Natur«. Er schließt mit der Feststellung, dass in der Dreieinigkeit Gottes zwischen dem einen Wesen und den drei Personen ein solch inniger Zusammenhang besteht, den keine der Bedeutungen auszudrücken vermag. 2. Diese kritische Darstellung des Gebrauchs des Worts »persona« lässt sich nun mit guten Gründen als Kritik der christlichen Theologie deuten: Augustin weist die Versuche, die Dreieinigkeit Gottes begrifflich zu erfassen, als unangemessen zurück und führt als Begründung für jene innere und untrennbare Einheit des Einen Wesens und der drei Personen den Glauben an, der diese Dreieinig-
beschaffenheit, dieselbe Seele haben, sagen, sie seien eine Natur – sie sind nämlich drei Menschen, aber eine Natur – … ?« (VII, 6, 11). A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
401
Der dreieinige Gott
keit bekennt. Und in der Tat fährt Augustin fort: der Mensch solle, »bis er von dieser Unreinheit [immunditia] gereinigt wird, … glauben an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, den einen, alleinigen, großen, allmächtigen, guten, gerechten, barmherzigen Gott …« (VII, 6,12; H. v. m.) Wäre dieser Rekurs auf den Glauben jedoch tatsächlich die letzte Begründung, so endete Augustins Untersuchung da, wo sie anfing, bei der Frage nämlich, wie die Formel »una essentia – tres personae«, die den katholischen Glauben ausdrückt, zu verstehen sei. Denn dass sie ihn ausdrückt, war der Untersuchung ja vorausgesetzt. Endete sie mit der Feststellung, dies müsse eben geglaubt werden, so wäre sie nur im Kreis geführt worden: Der Glaube an den dreieinigen Gott führt zur denkenden Erkenntnis; deren Scheitern aber führt zurück zum Glauben. Die Dreieinigkeit wäre somit wieder die Sache des Glaubens, weil das Denken denjenigen Zusammenhang zwischen dem einen Wesen und den drei Personen nicht herzustellen vermag, der den Glauben ausdrückt. Augustin hätte damit den Häresieverdacht der früheren christlichen Apologeten gegenüber dem Hochmut des Denkens erneuert: die Dreieinigkeit Gottes muss, gerade weil sie nicht gedacht werden kann, nur in Demut geglaubt werden. So aber hätte es Augustin nicht unternommen, die Gewissheit des Glaubens mit der Einsicht in den Glauben zu verbinden; er hätte, im Gegenteil, beide wieder getrennt. Die Alternative zu dieser Deutung ist, dass das, was Augustin als Resultat seiner Untersuchung anführt, nämlich der innere Zusammenhang zwischen dem einen Wesen Gottes und der Dreiheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist, das ist, was die Person ihrem Begriffe nach ist: der dreieinige Gott als Einheit des wesentlichen und des bezüglichen Seins. Mit dieser Einheit aber ist das Resultat der denkenden Erkenntnis nicht wieder nur der Anfang, sondern ein ›Drittes‹ ; und die Kritik verbleibt nicht in der Entgegensetzung: »Hochmut des Denkens – Demut des Glaubens«. So verstanden hat Augustin mit dem Begriff der Person als untrennbarer Einheit von wesentlichem und bezüglichem Sein der Trinitätslehre eine Struktur gegeben, die das Gott suchende Denken mit der inneren Gewissheit des Glaubens verbindet, indem sie das zu Begreifende und das Unbegreifliche ›umgreift‹. Dass das Wesen Gottes als unwandelbares und einfaches Sein und die Trias von Vater, Sohn und Heiliger Geist als bezügliches Sein zwei verschiedene Arten des Seins sind, dies ist zu begreifen; dass die drei aber untrennbar Eines sind, dies ist zu glau402
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
ben. Als Person jedoch ist der dreieinige Gott beides: das Begreifliche und das Unbegreifliche. Nach dieser Deutung des Verhältnisses von denkender Erkenntnis und gläubiger Gewissheit gewinnt die Trinitätslehre in dem Maße, in dem anerkannt wird, dass das Trinitätsproblem zwar durch das Denken nicht zu lösen ist, dass aber das Resultat nicht allein die innere Gewissheit ist, dass dem so ist, sondern dass die Anerkennung des dreieinigen Gottes als Person denjenigen sicheren und beständigen Halt zu geben vermag, den weder das Denken allein noch der Glaube allein geben. Vielmehr kann von hier aus der Theologie und dem Bekenntnis ihr jeweiliger ›Ort‹ zugewiesen werden. Nach diesem Verständnis war Augustin nicht nur der geistreiche Apologet des christlichen Glaubens, sondern der lateinische Theologe, der das En der griechischen Philosophie und die Trias des christlichen Glaubens unter dem römischen Begriff der Person verbunden hat. Er hat – am Beginn des abendländisch-europäischen Denkens – die kritische Reflexionskultur der Griechen und die erregte Bekenntniskultur der Christen auf der Grundlage der sich selbstverstehenden Tradition der Römer zusammengeführt: Gott ist weder nur der einfache und reine Gedanke noch das bloß innerlich Bekannte, sondern die Person, die in ihrem bezüglichen Sein als das in sich ruhende Wesen anerkannt wird. b. Die Person: Einheit von Sein und Haben Angesichts dieser Alternative fällt uns die Entscheidung leicht. Wir werden Augustins Modell der Dreieinigkeit im Weiteren unter dem Begriff der Person rekonstruieren. Dazu bedarf es jedoch vorab der Erklärung, wie er zu verstehen ist. Sieht man zunächst vom theologischen Bezug ab, so ist eine der Bedeutungen, unter »Person« einen Wert an sich zu verstehen. Ihr gemäß bezeichnet »Person« keine Beziehung, sondern das, was etwas für sich zukommt. Diesem Fürsichsein entsprechend können wir »Person« nennen, was – nach der Definition von Boethius – eine individuelle Substanz von geistiger Natur ist (z. B. Menschen, Götter, Engel). Wir können dieses Fürsichsein auch ›dynamisieren‹ und sagen, dass Personen keine Substanzen, sondern geistige Subjekte sind, sich zu sich verhaltende Selbstzwecke (Selbstbewusstseine, Iche). Doch diese Bedeutung des Personbegriffs, sei es als Substanz oder Subjekt, genügt nicht unserem Vorhaben. Denn im ersten Fall gilt der Einwand Augustins, dass der Begriff der Substanz auf Gott nicht A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
403
Der dreieinige Gott
passt; im zweiten Fall wäre die Trinität als ein selbstbezügliches Verhältnis des Einen Gottes verstehen, nicht aber als Verhältnis dreier Subjekte. Die entgegengesetzte Bedeutung ist, unter »Person« eine Beziehung der gegenseitigen Anerkennung zu verstehen. Nach ihr ist die Person nichts für sich, sondern was auf der Anerkennung durch andere beruht und aus ihrer Gegenseitigkeit hervorgeht. Ich und Du, so ließe sich dies beschreiben, sind Personen, weil und indem ich dich als Ich anerkenne und du mich als Ich anerkennst. In diesem Fall ist der Grund des Personseins die Anerkennung durch andere und die Ursache das gegenseitige Anerkennen. Doch für unser Vorhaben ist auch diese Bedeutung unbrauchbar, da sie nur ein relatives und bedingtes Sein bezeichnet, aber kein wesentliches, wie es für die Beschreibung Gottes nötig wäre. 169 Hier wird das Ich – qua Anerkennung – zur Person, aber ist nicht Person. Während also in der ersten Bedeutung das Personsein als ein wesentliches Sein gefasst wird, so dass es in dem, was es ist, Person ist und das Personsein nicht relativerweise hat, ist es in der zweiten Bedeutung umgekehrt so, dass das Personsein als ein relatives Sein gefasst wird, so dass es das Personsein, qua Anerkennung, hat, aber in dem, was es ist, nicht Person ist. Diesen gegenüber verwenden wir im Folgenden eine dritte Bedeutung, die beide verbindet. Nach ihr bedeutet »Person« die Einheit von wesentlichem Sein und relativem Sein, so dass unter dem Begriff der Person ein Sein gefasst wird, das das, was es ist, zugleich hat und das, was es hat, zugleich ist. Dieses Verständnis schließt aus, die Person als ein nur relatives und bedingtes Sein zu bestimmen, wie umgekehrt, es als ein bloßes Fürsichsein aufzufassen. Als Person ist es vielmehr die untrennbare Einheit von Sein und Haben, so dass etwas das, was es hat, zugleich ist. 170 169 In theologischer Hinsicht hat die Verwendung dieser Bedeutung zur Folge, dass der Sohn zur Person wird durch die Anerkennung des Vaters und umgekehrt. Ihr entspricht die Theorie des Adoptianismus, nach der Jesus vom Vater als Sohn angenommen und der Vater dadurch zum Vater wurde. Gegen sie ist eingewandt worden, dass Vater und Sohn nicht werden, sondern ›ewiger Weise‹ sind. 170 R. Spaemann hat in »Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹« (Spaemann 1996) den Begriff der Person herausgearbeitet und dabei ebenfalls das »Haben« ins Zentrum seiner Untersuchung gerückt. Auch für ihn ist es so, dass zwar die Anerkennung durch andere zur Personalität gehört, dass aber Personen dies nicht durch die Anerkennung werden, sondern dass sie anerkannt werden, weil sie Personen sind. Dass Menschen als Personen gelten, setze voraus, »dass Personen zwar a priori in einer auf Anerkennung basierenden wechselseitigen Beziehung stehen, aber dass diese
404
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Für diese dritte Bedeutung hat Augustin im XI. Buch (Kap. 10) des »Gottesstaats« eine gedrängte Darstellung gegeben, wenngleich er sie nicht mit dem Wort »Person« bezeichnet. Er nennt hier Gott das Gut, das allein einfach und unwandelbar ist. Dieser Einfachheit aber widerspreche nicht, dass es eine Dreiheit sei. »Denn nicht deswegen nennen wir dies wesenhafte Gut einfach, weil es etwa nur Vater ist oder nur Sohn oder nur Heiliger Geist, auch nicht deswegen, weil es etwa nur dem Namen nach und ohne personhaften Wesensunterschied eine Dreiheit ist, wie die ketzerischen Sabellianer meinten. Sondern darum heißt es einfach, weil es ist, was es hat (quoniam quod habet hoc est), abgesehen von der Beziehung einer jeden Person auf die anderen. Denn gewiss hat der Vater den Sohn, aber er ist nicht selbst der Sohn, und der Sohn hat den Vater, aber ist nicht selbst der Vater. Spricht man also vom Vater, wie er an sich ist, und nicht im Verhältnis zu einem anderen, ist er das, was er hat. So nennt man ihn ja auch an sich lebendig, weil er das Leben hat und selbst dies Leben ist.« (Augustinus 1978, 18) Diese Einheit von Sein und Haben, führt Augustin weiter aus, komme jedoch weder Körpern noch Seelen zu, da hier ein Unterschied zwischen Sein und Haben bestehe. Vom Körper kann etwa die Farbe, die er hat, getrennt werden; selbst im Falle der Annahme der Unverweslichkeit des Leibes sei der Leib selbst etwas anderes als die Eigenschaft der Unverweslichkeit, so dass er nicht ist, was er hat. Auch für die Seele gelte, dass sie, im günstigsten Falle, die unwandelbare Weisheit hat; aber sie besitzt diese nur durch Teilnahme und ist nicht selbst die Weisheit. Nur bei dem, schließt Augustin, »was ursprünglich und wahrhaft göttlich ist« (ebd., 20), gebe es diesen Unterschied von Wesen (substantia) und Eigenschaft (qualitas) nicht.
Anerkennung nicht dem Personsein als dessen Bedingung vorausgeht, sondern auf einen Anspruch antwortet, der von jemandem ausgeht … Personen sind in einem unvergleichlichen Sinn Individuen.« (11) Personen, so Spaemann, sind nicht einfach, sondern sie haben ihr Sein, ihre Natur. »Und dieses Haben ist ihr Sein.« (40) Näher nun drückt für Spaemann dieser Begriff des »Habens« auf der einen Seite die ontologische Differenz, die Nichtidentität zwischen dem, der hat, und dem Gehabten aus, zwischen dem singulären Individuum und seiner Natur, aus; auf der anderen Seite sei dieses »Haben« als Vollzug die Existenzweise, in der der Mensch als diese Person lebt. Für ihn folgt daraus, dass alle Menschen – und möglicherweise auch Delphine (264) – Personen sind, nicht nur weil sie die menschliche Natur haben, sondern weil dies »Haben« je ihre Existenzweise ist. Menschen sind daher »jemand«, nicht »etwas«. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
405
Der dreieinige Gott
Gott habe die Weisheit und sei die Weisheit. Nur hier sind Sein und Haben eines. 171 g. Das untrennbare Zusammen von Vater und Sohn Begonnen hatte Augustin, wie gesehen, damit, das Sein und das Haben zu unterscheiden, weil Aussagen über Gott selbst das einfache Wesen, über Vater und Sohn jedoch die Beziehung beider betreffen. Er ging über diese Unterscheidung jedoch hinaus, wenn er sagte, dass von Vater und Sohn auch Aussagen gemacht werden müssen, die nicht nur ihr bezügliches, sondern auch ihr wesentliches Sein betreffen. »Vater« und »Sohn« können daher nicht nur das relative Sein, sondern müssen auch das wesentliche Sein Gottes bezeichnen, so dass sowohl der Vater als auch der Sohn in dem bezüglichen Haben zugleich ein wesentliches Sein sind. In dieser Einheit des Bezüglichen und des Wesens aber sind sie Gott als die Eine Person. Wie ist jedoch diese Einheit zu verstehen? 1. Die Einheit, führt Augustin aus, lässt sich zunächst so deuten, dass Vater und Sohn nichts anderes sind als Bezügliche, dass also ihr Haben – der Vater den Sohn wie der Sohn den Vater – das wesentliche Sein Gottes ist. So gesehen wäre der Vater nichts als für den Sohn und der Sohn nichts als für den Vater, und jeder der beiden wäre für den anderen. Beide gingen gleichsam in dem, was sie haben, auf; in ihrem Füreinandersein wären sie untrennbar das einfache Wesen Gottes. Hier also wäre Gott die Person, in der das gegenseitige Haben von Vater und Sohn das Wesen Gottes wäre. – Doch gegen diese Deutung wendet Augustin ein, dass aus ihr sich nur der »Unsinn« (inopinatissimus sensus) ergäbe, »dass das Wesen nicht Wesen ist, oder dass wenigstens mit dem Begriff Wesen nicht das Wesen, sondern eine Beziehung gemeint ist.« (VII, 1, 2) Denn wenn im Falle des Füreinanderseins von Vater und Sohn »Wesen als eine beziehentliche Wirklichkeit verstanden wird, dann hört es auf, Wesen zu sein.« (ebd.) Daher muss, wie es scheint, das Verhältnis von wesentlichem und bezüglichem Sein umkehrt werden. Nicht so also, dass das bezügliche Haben von Vater und Sohn das Wesen ist, sondern so, dass 171 In »de Trinitate« unterscheidet Augustin im Sinne dieser Einheit die Dreiheit des menschlichen Geistes von der Trinität Gottes: die drei Funktionen des menschlichen Geistes, Gedächtnis, Verstand und Wille, können zwar »von einer Person ausgesagt werden, welche diese drei hat, [aber] nicht diese drei ist.« (XV, 22, 42; H. v. m.)
406
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
jeder, der Vater und der Sohn, das ist, was er hat. In diesem Fall wäre das Vater-Sein bzw. das Sohn-Sein zugleich ihr wesentliches Sein, und jeder der beiden wäre in seinem So-Sein selbst ein einfaches Wesen. Damit wäre jeder von beiden eine Person, da das bezügliche Vater- bzw. Sohn-Sein ihr wesentliches Sein ist. – Doch diese Auffassung von Vater und Sohn als einfachen Wesen widerspricht dem Bekenntnis, nach dem nicht von den beiden, sondern nur von Gott selbst das einfache Wesen ausgesagt wird. Zwar sind Vater und Sohn in diesem Fall Personen, weil das bezügliche Sein ihr wesentliches Sein ist; aber zugleich sind sie nicht Ein Gott, sondern zwei Götter. Aussagen von Gott jedoch, die das Wesen betreffen, wendet Augustin ein, gelten zwar für jede Person; doch »alles, was von den einzelnen Personen in bezug auf sie selbst ausgesagt wird, (darf) von ihnen zusammen nicht in der Mehrzahl, sondern nur in der Einzahl ausgesagt werden« (V, 8, 9) 172 . Beide Male ist es also so, dass Gott nicht als die Eine Person begriffen wird, die das relative Sein von Vater und Sohn und das einfache wesentliche Sein vereinigt. Denn im Füreinandersein von Vater und Sohn wird das einfache Wesen in das bezügliche Sein ›aufgelöst‹ ; und im Fürsichsein von Vater und Sohn ›zerfällt‹ das einfache Wesen Gottes in zwei Personen: Vater und Sohn. Es scheint daher nicht möglich zu sein, Gott als die eine Person zu begreifen, weil das Wesen Gottes, worin er als einfach und unwandelbar gedacht wird, und das bezügliche Sein, worin er als der Vater und der Sohn bekannt wird, zwar als untrennbare Einheit geglaubt wird, die gedachte Art dieser Einheit aber dem Glauben widerspricht. 2. Sehen wir jedoch darauf, wodurch dieser Widerspruch zwischen der geglaubten Einheit einerseits und den beiden gedachten Einheiten des Füreinanderseins bzw. Fürsichseins von Vater und Sohn andererseits entstanden ist, dann ist es offenbar das Verfahren, zuerst das einfache Wesen Gottes und das bezügliche Sein von Vater und Sohn als verschieden anzunehmen, um dann die so unterschiedenen Seinsarten ineinszusetzen. Das eine Mal wird von der Bezüglichkeit von Vater und Sohn ausgegangen, die dann als das wesentliche Sein gesetzt wird, das andere Mal wird vom Wesen ausgegangen 172 »Wie nämlich«, fährt Augustin fort, »der Vater Gott ist, der Sohn Gott ist, der Heilige Geist Gott ist, so – niemand zweifelt daran, dass es sich hier um Aussagen hinsichtlich der Substanz handelt –, so heißen wir diese erhabene Dreieinigkeit doch nicht drei Götter, sondern nur einen Gott.« (de Trin. V, 8, 9)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
407
Der dreieinige Gott
und dieses in das bezügliche Sein gesetzt. Beide Male steht das Resultat im Widerspruch zum Glauben. Dieser Widerspruch entsteht aber dann nicht, wenn statt von der Verschiedenheit der Seinsweisen von der ursprünglichen Einheit dieser Seinsweisen ausgegangen wird, wenn also die Einheit Gottes als Person der Unterscheidung von Wesen und Bezüglichem schon vorausgeht. In Gott wird dann nicht mittels der Kategorien des »Wesens« und des »Relativen« der Unterschied zwischen dem einfachen Sein und dem bezüglichen Sein befestigt, sondern er wird als die Eine Person verstanden, die je schon das wesentliche Einssein und das bezügliche Vater- und Sohnsein in sich vereinigt. Das Haben ist so untrennbar vom Sein. Und die Einheit ist dann nicht das Produkt eines Denkens, das zuerst die Seinsarten unterscheidet und sie dann ineinssetzt, sondern ist dem Denken je schon vorgegeben. In diesem Fall werden Vater und Sohn nicht als bezüglich Seiende gedacht, sondern sind in einem ursprünglichen Verhältnis zueinander, das daher einfach, untrennbar und unauflöslich ist. Das Sohn-Haben und das Vater-Haben ist so das einfache Wesen Gottes. Damit aber werden Vater und Sohn nicht als Seiende gedacht, die eine Beziehung haben, sondern als dasjenige untrennbar personale Verhältnis, worin jeder, Vater und Sohn, je schon – ›ewig‹ und ›unauflöslich‹ – das ist, was er hat. Hier gibt es kein logisches ›zuerst‹ und ›dann‹ ; nur das ›je schon‹. In diesem ursprünglichen Verhältnis aber ist Gott die Person, deren einfaches Wesen dieses Vater-Sohn-Verhältnis ist: der Eine Gott in beiden Personen. 173 173 In seiner Untersuchung »Der dreieine Gott« geht G. Greshake auf diesen Aspekt des Personbegriff bei Augustin ein. Für ihn ist entscheidend, dass Augustins Begriff der Person zwar beides, Wesen und Relation, umfasst, dass er aber deren Einheit verfehlt: »Wenn also auch der Begriff persona als solcher für Augustinus keine Relation besagt, so veranlasst ihn doch der Glaube der Kirche dazu, in Gott Personen zu bekennen, die ›relatae ad invicem‹ sind. Allerdings bringt er den der Person eigenen Selbstand und das Relationsein als solches nicht zusammen, sondern behauptet es nur.« (Greshake 1997, 96) Greshake setzt dabei die bekannte These voraus, dass für Augustin in theologischer Hinsicht die Person ›eigentlich‹ nur die »Einheit des göttlichen Wesens« bezeichne; »sie bildet gewissermaßen den Fixpunkt aller trinitätstheologischen Überlegungen.« (95) Dementsprechend nimmt er an, dass der Glaube der Kirche Augustin gleichsam ›gezwungen‹ habe, doch von »drei Personen« relativerweise zu reden; – und er folglich beides, Theologie und Bekenntnis, nicht zusammengebracht habe. Demgegenüber machen wir geltend, dass Augustin in die Trinitätslehre die spezifisch römische Tradition des Person-Verständnis einbringt, die von dem ›Zusammen‹ ihren Ausgang nimmt, und der die kategoriale Trennung von Wesen und Relation, von Selbst- und Bezüglichsein, fremd und gezwungen erscheint.
408
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Wenn wir also von diesem »untrennbaren Zusammen« von Vater und Sohn als dem einfachen und unwandelbaren Wesen Gottes ausgehen, dann müssen wir zeigen, dass die Erörterungen Augustins über die Dreieinigkeit, sowohl über das Begreifliche als auch das Unbegreifliche, in der Tat auf diese Einheit des wesentlichen und bezüglichen Seins hinführen, dass für ihn also das Wesen des Gottes, den der christliche Glaube bekennt, in dem personalen Verhältnis von Vater und Sohn besteht, worin sie untrennbar eines sind. d. Vater und Sohn als Personen 1. Legt man diese Einheit von wesentlichem und bezüglichem Sein zugrunde, dann lässt sich die Formel: »una essentia – tres personae« nicht mehr, wie bisher, hinsichtlich dieser zwei Seinsarten unterscheiden. Vielmehr ist in Hinblick auf den Sohn anzunehmen, dass er das, was er in relativer Weise ist, auch in absoluter Weise ist; dass der Sohn also weder nur in Bezug zum Vater das Sohn-Sein hat noch für sich selbst der Sohn ist, sondern dass er der Sohn ist, weil er durch den Vater ist. Das Gezeugtsein, wodurch er vom Vater verschieden ist, ist sein wesentliches Sein. Diese Einheit von bezüglichem und wesentlichem Sein drückt Augustin nun in der Aussage aus, dass »der Sohn dem Geborenwerden [durch den Vater] nicht nur sein Sohnsein, sondern sein Sein überhaupt verdankt« (V, 15, 16: filius non hoc tantum habet nascendo ut filius sit sed omnino ut sit; H. v. m.) 174 . Der »Sohn der Zeugung« besage nicht nur »ein beziehentliches Sein …, sondern sein Sein überhaupt« (ebd.) Folglich kommt dem Sohn das Geboren- oder Gezeugtsein nicht als eine Eigenschaft zu, die er relativ zum Ungezeugtsein des Vaters hat, sondern bezeichnet das Sein des Sohnes selbst. Das Vater-Haben ist vom Sein des Sohnes nicht verschieden: Er ist der (durch den Vater) gezeugte Sohn; was er ist, ist er durch den Vater, den er hat. So lässt sich vom Sohn widerspruchsfrei sagen, dass er Person ist; denn was er relativerweise ist und was er wesentlich ist, wird nicht mehr nach zwei Arten des Seins unterschieden, sondern als Ein Sein verstanden. Der Sohn ist Gott, weil das Sohn-Sein sein einfaches und unwandelbares Wesen ist. Aber er ist zugleich »Gott von 174 Vgl. auch de Trin. VI, 10, 11: »… und bin zu der Meinung gekommen, dass er [Hilarius] mit dem Worte Ewigkeit nichts anderes sagen will, als dass der Vater keinen Vater hat, der ihm die Existenz verleiht, der Sohn aber vom Vater die Existenz und die gleiche Ewigkeit wie dieser empfängt.«
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
409
Der dreieinige Gott
Gott«; er ist die ›unselbständige Person‹, weil der Sohn weder schlechthin noch durch sich selbst ist, sondern weil er das, was er ist, durch den Vater ist, der nicht der Sohn ist. Der Sohn wäre nicht, wäre der Vater nicht. 2. Gilt diese Einheit von wesentlichem Sein und bezüglichem Haben auch für den Vater? Lässt sich von ihm sagen, dass er in gleicher Weise Vater ist, wie der Sohn Sohn ist? Oder muss nicht, anders als beim Sohn, angenommen werden, dass er als der Erzeuger des Sohnes sein wesentliches Sein ›außerhalb‹ der Beziehung zum Sohn hat? Denn wenn der Vater den Sohn zwar zeugt, er selbst aber ungezeugt ist, dann scheint diese Zeugung den Vater als das einfache Wesen vorauszusetzen, das als solches nicht zeugt. Einfach gesagt: Der Vater wäre, auch wenn der Sohn nicht ist. Dieser Frage geht Augustin in seiner Kritik am Arianer Eunomios nach, indem er den Widerspruch in dessen Begriff vom »Vater« aufzeigt. Eunomios hatte, monarchianisch, den Vater als den Einen Gott angenommen, der, selbst ungezeugt, den Sohn zeugt. Er ging also vom Vater als dem einen und unwandelbaren Wesen aus, um aus ihm das Dasein des Sohnes ›abzuleiten‹. Was ihm diesen ›Ausgang‹ vom Einen ermöglichte, war der Begriff des Willens, durch den der Vater sich zur Zeugung des Sohnes bestimmt habe. Eunomios, schreibt Augustin, »wollte damit behaupten, dass Gott einen Willensentschluss fasse, durch den er den Sohn zeuge« (XV, 20, 38). Augustin verweist nun auf das Widersprechende: der Vater, der den Sohn zeugt, sei ein anderer als der, der das unwandelbar Eine ist. Damit aber sei er nicht unwandelbar, sondern wandelbar, »was in Gott anzunehmen uns ferne sei.« (ebd.) Zwar löst Augustin in seiner Erwiderung diesen Widerspruch dadurch auf, dass er erneut zwischen dem wesentlichen und dem relativen Sein unterscheidet: das unwandelbar Eine sei nicht der Vater, sondern Gott; der Vater hingegen bezeichne ein bezügliches Sein. Aber er verschiebt hier nur das Problem, wie, dem Bekenntnis gemäß, der Vater als Gott verstanden werden kann. Greifbar wird die Lösung dieses Problems in Augustins Deutung der Bekenntnisformel »Gott von Gott«. Diese drücke aus, dass das Verhältnis von Vater und Sohn eben nicht nur als bezügliches, sondern als ein wesentliches aufzufassen ist. Denn nach ihr sind der eine Gott, der Vater als Erzeuger des Sohnes, und der andere Gott, der Sohn als das vom Vater Gezeugte, nicht als zwei Götter zu verstehen, sondern so, dass der eine nichts ohne den anderen ist. Sie besage, dass 410
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
»der Sohn so ewig ist wie der Vater« (VI, 2, 3), dass also beide zusammen als eine unwandelbare Wirklichkeit bekannt werden 175 . – In dieser Deutung der Formel »Gott von Gott« ist der Unterschied der Seinsarten aufgehoben; denn hier gilt weder, dass Gott das Eine ist im Unterschied zum Vater, noch dass der Vater im Unterschied zum Sohn das einfache Wesen ist, sondern dass beide, Vater und Sohn, zusammen das einfache und unwandelbare Wesen Gottes sind. »Ich und der Vater sind eins«, deutet Augustin das Bibel-Zitat, »bedeutet nämlich: Was der Vater ist, bin ich auf Grund des Wesens, nicht der Beziehung« (VI, 2, 3). Diese Art der Wesenseinheit von Vater und Sohn lässt sich mit dem Ausdruck ›je schon‹ bezeichnen: Vater und Sohn haben kein eigenes Wesen; sie sind ineinander (in inuicem) und keiner ist ohne den anderen; der Vater ist ›je schon‹ der Erzeuger seines Sohnes. Es gibt hier kein ›vorher‹ und ›nachher‹, keinen Wandel, nur ›ewig‹. 176 Der Sohn wird nicht, sondern ist vom Vater gezeugt; und daher wird dieser auch nicht Vater, sondern ist Vater. Nach dieser Formel »Gott von Gott« deutet Augustin also den Vater weder als ein nur relatives noch als das nur einfache Sein, sondern fasst ihn als dasjenige Wesen auf, das ewig sohnzeugend ist bzw. den Sohn je schon gezeugt hat. Und da diese Einheit des bezüglichen Seins mit dem wesentlichen Sein die Person bezeichnet, ist auch der Vater Person. Er ist die Person, der das Sohn-Haben wesentlich ist, weil er ›je schon‹ den Sohn zeugt. Als dieser »Urgrund« (principium) des Gezeugten 177 aber muss der Vater relativ zum Sohn als die »selbständige Person« bezeichnet werden, weil er von sich selbst ist, was er 175 »Die Formeln: Gott von Gott, Licht vom Lichte und ähnliche haben den Sinn: Die Wirklichkeit, die der Sohn nicht ohne den Vater ist, stammt von einer Wirklichkeit, welche der Vater nicht ohne den Sohn ist, das heißt das Licht, welches der Sohn nicht ist ohne den Vater, stammt von jenem Lichte, welches der Vater nicht ist ohne den Sohn. Das Wort Gott, unter dem man nicht den Sohn ohne den Vater zu verstehen hat, und das Wort ›von Gott‹, worunter man nicht den Vater ohne den Sohn verstehen darf, sollen also vollkommen klar erkennen lassen, dass der Erzeuger nicht früher ist als der Erzeugte.« (de Trin. VI, 2, 3) 176 vgl. de Trin. VI, 7, 9: »Freilich kann man nicht ersehen, welchen Sinn der Ausdruck ›der Vater allein‹ oder der ›Sohn allein‹ haben soll, da immer und unlöslich (semper atque inseparabiliter) der Vater mit dem Sohne und der Sohn mit dem Vater verbunden ist, nicht als ob beide Vater und beide Sohn wären, sondern weil sie immer ineinander (in inuicem) und keiner allein ist.« 177 »Innerhalb der Dreieinigkeit selber jedoch ist, wenn der Zeugende Urgrund des Gezeugten ist, der Vater Urgrund des Sohnes, weil er ihn zeugte.« (de Trin. V, 14, 15) – Siehe auch: XV, 17, 29; XV, 26, 47.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
411
Der dreieinige Gott
ist. Denn es ist, so Augustin, »ja nur der Vater nicht von einem anderen. Deshalb wird er allein ungezeugt genannt« (XV, 26, 47). Fassen wir zusammen, dann können sowohl »Sohn« als auch »Vater« nicht nur ein bezügliches Sein bezeichnen, sondern sind als Personen aufzufassen, die das, was sie relativerweise haben, zugleich sind. Der Sohn ist die »Sohn-Person«, weil er dem Vater nicht nur sein Sohnsein, sondern sein Sein überhaupt verdankt. Als der von Gott gezeugte Gott ist er die unselbständige Person. Der Vater hingegen ist die »Vater-Person«, weil er nichts ist als der »Urgrund des Sohnes«; als der je schon Gott zeugende Gott ist er die selbständige Person, weil er, ungezeugt, nicht von anderem ist. c.
Das Vater-Sohn-Verhältnis als Autoritätsverhältnis
1. Betrachtet man das Verhältnis dieser beiden Personen, dann lässt es sich angemessen nur als Autoritätsverhältnis beschreiben, weil in ihm die eine Person, der Sohn, ihr Dasein der anderen Person, dem Vater, verdankt. Und in der Tat verwendet Augustin zur Beschreibung dieser Beziehung von Vater und Sohn die Begriffe der »auctoritas« und der »nativitas«: »… insinuatur nobis in Patre auctoritas, in Filio nativitas, in Spirito Sancto Patris Filiique communitas.« (Sermo 71,18) Er schließt mit dieser innertrinitarischen Verwendung des Ausdrucks »auctoritas« an Tertullian an, der mit der »auctoritas patris« die Urheberschaft des (unsichtbaren) Vaters in den (sichtbaren) Handlungen des Sohnes beschrieben hatte, während Augustin mit ihm jedoch die Urheberschaft des Vaters für das Sein des Sohnes als der geborenen oder gezeugten Person bezeichnet. 178 178 In seiner kenntnisreichen Studie über »›Auctoritas‹ bei Augustin« analysiert und beschreibt K.-H. Lütcke die verschiedenen Weisen und Kontexte, in denen Augustin den Ausdruck »auctoritas« gebraucht. Er kommt zum Ergebnis, Augustin habe der menschlichen Autorität die ratio, dieser aber die göttliche Autorität übergeordnet (Lütcke 1986, 118). Die Fragestellung, die Lütcke vor allem verfolgt, ist, wie diese göttliche Autorität für den Menschen sein könne: »Aber wie kann Gottes Autorität dem Menschen erfahrbar sein, und das heißt, nimmt man das Verständnis von auctoritas als Geschehen zwischen Personen ernst, wie kann Gott Autorität sein für den Menschen?« (119). Er stellt so das Autoritätsproblem in das Zentrum seiner Untersuchung der augustinischen Texte, nämlich wie Autorität überhaupt erfahrbar wird. – Dem innertrinitarischen Gebrauch der »auctoritas« ist Lütcke nur am Rande nachgegangen. Er schreibt: »Ganz außerhalb liegt der Gebrauch des auctoritas-Begriffs für das innertrinitarische Verhältnis: für die ›Urheberschaft‹ des Vaters gegenüber dem Sohn und dem Geist. Vgl. serm. 71,18: Insinuatur nobis in Patre auctoritas, in Filio nativitas, in Spirito Sancto
412
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Doch mit dieser bloßen Bezeichnung ist über das Verhältnis von Vater und Sohn noch nichts ausgesagt. Soll es durch den Begriff der auctoritas tatsächlich erfasst werden, dann muss den beiden Personen, dem Vater als auctor und dem Sohn als natum, ein Gemeinsames zukommen, durch das sie nicht nur in dieser Beziehung stehen, sondern auch im Wesen verbunden sind. So wie im römischen Denken der Römer den maiores die höchste auctoritas zusprach, weil er ihnen schlechthin sein Dasein als Römer verdankte, und wie der Gläubige sich nach Augustin mit Gott verbunden weiß, dem er überhaupt seinen Glauben verdankt, so müssen Vater und Sohn so verbunden sein, dass der Sohn nichts ist ohne den Vater, der Vater aber nichts ist ohne den Sohn, und keiner ein Dasein außerhalb dieser Beziehung hat. Dieses Gemeinsame, durch das der Vater Vater und der Sohn Sohn ist, ist nun aber nichts anderes das ewige Zeugen des Sohnes durch den Vater, durch das beide, Vater und Sohn, immer und untrennbar (semper atque inseparabiliter) verbunden und unwandelbar ein Wesen sind. Wird also, wie Augustin sagt, im Vater die auctoritas und im Sohn die nativitas erkannt, dann muss die Zeugung dasjenige Verbindende sein, das das Verhältnis von Vater und Sohn als ein Autoritätsverhältnis konstituiert. 2. Nun sind auf die Frage nach dem Ursprung der Vater-SohnBeziehung von der christlichen Theologie im wesentlichen zwei Antworten gegeben worden: wo man der jüdischen Tradition des Einen Gottes folgte, wurde der Ursprung im ›Willen‹ des allmächtigen Vaters gesehen, seinen Sohn zu zeugen; wo man der griechischen Tradition folgte, sah man ihn in der ›Natur‹ des Vaters, den ihm wesensgleichen Sohn zu zeugen. Die Zeugung war mithin nicht das Erste und Ursprüngliche, sondern Folge, des Willens oder der Natur des Vaters. Angesichts dieser Debatte über den Ursprung schließt Augustin, wie gesehen, es aus, den Willen des Vaters als Anfang der Zeugung Patris Filiique communitas.; c. serm. Arian. 4: … propter ipsam auctoritatem solus Pater non dicitur missus. (Ähnlich schon Hil. syn. 47). – Die Stellen machen auch deutlich, dass bei Gottes auctoritas mit an die Bedeutung der Urheberschaft, auctor-Sein gedacht ist. Gott als auctor des Seins (conf. III 15) ist oberste auctoritas.« (127, Anm. 618). – Ebenso lapidar schreibt Th. G. Ring: »Gesondert muss man jene Aussagen behandeln, in denen auctoritas eine innertrinitarische Relation bezeichnet. Augustin versteht in diesem Fall unter auctoritas die ›Urheberschaft‹ des Vaters gegenüber dem Sohn und dem Geist.« (Ring 1975, 228). Leider haben weder Lütcke noch Ring diesen innertrinitarischen Wortgebrauch Augustins behandelt. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
413
Der dreieinige Gott
anzunehmen. Im unwandelbaren Wesen Gottes einen Willensentschluss anzunehmen, machte Gott zu einem wandelbaren Wesen. Es scheint daher, als schlösse er sich der Auffassung an, es liege in der Natur des Vaters, das ihm gleiche Wesen, den Sohn, zu zeugen. So wendet er in der Auseinandersetzung mit den Arianern ein, es sei ein Irrtum anzunehmen, der Sohn sei nicht aufgrund der Natur Gottes gezeugt: »[Eunomios] konnte nicht verstehen und wollte nicht glauben, dass das eingeborene Wort Gottes, durch das alles geworden ist, der durch die Natur, das heißt von der Substanz des Vaters, gezeugte Sohn Gottes ist, und sagte daher, dass er nicht der Sohn der Natur oder des Wesens oder der Substanz sei, sondern der Sohn des Willens Gottes« (XV, 20, 38). Deutet man diese Kritik in der Weise, dass Augustin der Annahme des »Willlens Gottes« die These von der »Natur Gottes« als Ursprung der Zeugung entgegensetzt, so nähme er an, es liege in der Natur des Vaters, den Sohn zu zeugen. Doch Augustin sagt dies nicht. Er kritisiert vielmehr beide Erklärungsweisen als unangemessen: Geht man vom Willen des Vaters als dem Ursprung der Zeugung aus, so folgt, dass Vater und Sohn nicht eines Wesens sind; dies aber stehe im Gegensatz zum Bekenntnis der Wesensgleichheit von Vater und Sohn. Sieht man hingegen die Ursache der Zeugung in der Natur des Vaters, so erklärt man zwar die Wesensgleichheit von Vater und Sohn, aber dann, so Augustins Einwand, »ergäbe sich sofort die törichteste Armseligkeit Gottes« (XV, 19, 38); denn der Vater täte etwas, was nicht seinem Willen entspringt, sondern aus seiner Natur hervorgeht. Das eine wie das andere von Gott anzunehmen, sei daher unangemessen. 179 Augustin entzieht sich der Alternative: freier Wille oder Naturnotwendigkeit. Was als Antwort bleibt, ist die Auskunft: der Ursprung des ewigen 179 Vgl.: »Eine wirklich scharfsinnige Antwort gab jemand [Gregor von Nazianz, Oratio 29, 6–7] dem Häretiker, der die verschlagene Frage stellte, ob Gott seinen Sohn mit oder ohne Willen zeugte – würde man nämlich sagen: ohne Willen, dann ergäbe sich sofort die törichteste Armseligkeit Gottes; sagte man: mit Willen, dann würde er unverzüglich gleichsam durch eine unwiderlegliche Verstandesüberlegung schließen, was er beabsichtigte, dass das Wort nämlich nicht der Sohn der Natur, sondern des Willens sei. Aber jener hat schlagfertig die Gegenfrage gestellt, ob Gott Vater mit oder ohne Willen Gott ist; würde der Häretiker antworten: ohne Willen, so würde sich die gleiche Armseligkeit ergeben, die von Gott anzunehmen ein großer Unverstand ist; würde er sagen: mit Willen, dann könnte man ihm antworten: Also hat auch Gott ein Dasein durch seinen Willen, nicht durch seine Natur. Was blieb also dem Häretiker übrig, als zu verstummen und zuzusehen, wie er durch seine eigene Frage sich in einer unlöslichen Fessel gefangen hatte?« (de Trin. XV, 19, 38)
414
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Zeugens des Sohnes durch den Vater ist unerkennbar; er lässt sich nur glauben und bekennen. 180 3. Verstehen wir diese Auskunft Augustins nun in der Weise, dass der Ursprung der Zeugung aus dem Grund unerkennbar ist, weil sie eben der ursachelose göttliche ›Urakt‹ ist, in dem der Vater den Sohn ›je schon‹ zeugt, dann kann er als das absolut Erste in der Tat nicht seinerseits wieder begründet oder erklärt, sondern nur geglaubt werden. Im Sinne dieses Ersten aber ist der Vater der auctor seines Sohnes und ist der Sohn das natum seines Vaters; und es gibt nichts, was außerhalb dieser Beziehung als Anfang dieser Beziehung zu denken wäre. Die Annahme der Zeugung als des voraussetzungslos ersten und daher unerkennbaren Urakts Gottes drückt so den Glauben an denjenigen Gott aus, der in seinem unwandelbaren Wesen das ewige Zeugen des Sohnes durch den Vater ist. Dieser Gott ist so die eine Person, die im Bezüglichen des Zeugens das eine und unwandelbare Wesen ist. So gesehen, dienen die Ausdrücke »auctoritas patris« und »nativitas filii« dazu, das ursprüngliche und wesentliche Verhältnis von Vater und Sohn zu bezeichnen, das im ewigen Zeugen begründet ist. Augustin geht folglich nicht nach Art der Griechen vom Einen oder Vater aus, um nach der Ursache, der aitia oder ratio, für das Dasein des Sohnes zu suchen und sie im Willen oder in der Natur Gottes zu finden; er setzt vielmehr die Zeugung selbst als die ewige Seinsweise Gottes voraus. Diese Beziehung von Vater und Sohn drückt aber in der Tat angemessen nur der römisch-lateinische Begriff der »auctoritas« aus, weil nach ihm gedacht werden kann, dass der Vater nichts ist als der auctor seines Sohnes, und dieser sein Dasein überhaupt dem Vater verdankt, dass also »keiner allein« (neuter solus; VI, 7, 9) ist. Er fasst das einfache Wesen des Gottes zusammen, worin Vater 180 Vor »de trinitate« hat Augustin offenbar noch beweisen wollen, dass der Vater den Sohn ewig zeugt: weil Gott ewig weise sei, habe er seine ewige Weisheit bei sich (de fide et symbolo 4, 5: quoniam sempiterne Deus sapiens, sempiternam secum habet sapientiam suam), d. h. zeuge er die ewige Weisheit (vgl. auch: de diversis questionibus octaginta tribus, 23). Aber mit demselben Recht lässt sich auch das Gegenteil beweisen; denn wenn Gott ewig weise ist, dann muss er sie nicht bei sich haben, weil er selbst weise ist. Geht man also von der Prämisse aus, dass Gott allein weise ist, dann stellt sich sofort die Frage, warum das Weise Weises zeugen, warum eine einfache Substanz sich verdoppeln muss. In »de Trinitate« argumentiert Augustin nicht mehr: die Zeugung des Sohnes durch den Vater wird nicht bewiesen oder deduziert, sondern ist als ewige Zeugung selbst das Voraussetzungslose. Dies aber kann nicht erkannt, sondern muss geglaubt werden. – Vgl.auch: Schmaus 1927, 130; de Trin., Einleitung, XXVII.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
415
Der dreieinige Gott
und Sohn als zwei Personen zugleich Eines sind. Diese Beziehung von Vater und Sohn kann freilich nicht begriffen, aber sie kann geglaubt werden. Angesichts dieses Unbegreiflichen redet Augustin auch nicht mehr über Gott; aber er schweigt auch nicht, sondern betet: »So will ich denn nun endlich dies Werk lieber mit einem Gebete als mit einer wissenschaftlichen Darlegung schließen.« (XV, 27, 50). Dies Gebet deuten wir als den Glauben an Gott als die Person, die unwandelbar das »untrennbare Zusammen« von Vater und Sohn ist. 3.
Der Heilige Geist: die »gemeinsame Sache« von Vater und Sohn
Nun spricht Augustin freilich nicht nur von zwei, sondern von drei Personen, die ein Wesen sind: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Wenn daher dem Verhältnis von Vater und Sohn noch eine weitere, dritte Person hinzuzufügen ist, dann scheint es, als sei entweder unsere, bloß auf das Vater-Sohn-Verhältnis konzentrierte Rekonstruktion einseitig und der notwendig trinitarischen Theologie Augustins unangemessen, oder resultiere der Zusatz aus einer Akkommodation Augustins an das Glaubensbekenntnis, die in seinem Gottesverständnis jedoch keinen selbstverständlichen Ort findet. In beiden Fällen jedenfalls scheint in dem einfachen und innigen Verhältnis von Vater und Sohn für eine dritte Person kein Platz zu sein. – Andererseits könnte unsere bisherige Interpretation gewinnen, wenn uns der Nachweis gelingt, dass die Aussagen Augustins über den Heiligen Geist dem Vater-Sohn-Verhältnis nichts hinzufügen, sondern nur explizieren, was in ihm schon enthalten ist. a.
Der Geist als »Geschenk von Vater und Sohn«
1. Die Einordnung des Heiligen Geistes in die Trinitätslehre der christlichen Theologie hat bekanntlich große Schwierigkeiten gemacht. Er bildete lange Zeit das gleichsam ›anarchische Prinzip‹ im Christentum und war die Berufungsinstanz der verschiedensten christlichen Sektenbewegungen 181 . Er wurde nach der Glaubensregel zwar als Gott bekannt und galt biblischen Aussagen gemäß als der »Geist des Lebens« (Röm. 8, 2: pneuma th@ zwh@), der »Lebendig181
416
Vgl. Schweizer 1978, 9; Kelly 1972, 154 f.; 333–339.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
macher« (Joh. 6, 63: zwopoioun, 2. Kor. 3, 6: to pneuma zwopoiei) und das den Glauben bewirkende »Geschenk Gottes« (Joh. 4, 10: dwrea tou jeou). Aber was dieser Geist sei, und wie, wodurch und worin er wirkt, darüber herrschte Unklarheit. Das erste und einflussreichste Modell, das sich um dessen Einordnung bemühte, war das Hypostasenkonzept von Origenes, das den Heiligen Geist als den vollkommenen und als den ersten der geschaffenen Geister deutete. Doch Origenes konnte oder wollte die Subordination nicht vermeiden, nach der der Heilige Geist eine Hypostase von minderer Kraft als der Vater und der Sohn und in der Hierarchie der drei Hypostasen die gewissermaßen ›weltnächste‹ sei (Origenes 1976, 169 ff.). Aus dieser Subordination hatten dann die sogenannten »Pneumatomachen« gefolgert, dass wenn der Geist vom Vater hervorgebracht worden sei, er der »Bruder des Sohnes« genannt werden, wenn aber vom Sohn, der Vater des Sohnes der ›Opa (pappo@) des Geistes‹ heißen müsse 182. Dieser Subordinationstheorie gegenüber wurde dann insbesondere von Marius Victorinus die Erklärung gegeben, dass der Heilige Geist nicht geschaffen, sondern vielmehr das »Band« (copula) sei, durch das Vater und Sohn verbunden sind, und das die Geistsubstanz der Trinität bezeichne 183 . Doch diese innertrinitarische Deutung des Geistes warf die Frage auf, ob sie mit den biblischen Aussagen über das »Geschenk Gottes« kompatibel sei. Auf der Synode von Konstantinopel 381 wurde schließlich eine Kompromissformel beschlossen. Nach ihr sei der Heilige Geist der Herr, der lebendig macht (to kurion kai zwopoion), der weder gezeugt noch geschaffen sei, sondern aus dem Vater hervorgehe (ek tou patro@ ekporeuomenon) und mit Vater und Sohn zusammen angebetet und gepriesen wird (sun patri kai uiw sumproskunoumenon kai sundoxazomenon) 184 . Nach diesem Bekenntnis wird der Heilige Geist zwar wie Vater und Sohn als Person verehrt; aber es verwendet nicht die Formel der Homousie und lässt offen, wie das »Hervorgehen aus dem Vater« und das »Zusammen« der Anbetung zu verstehen seien. – Da Augustins Untersuchungen der Trinität von diesem Glaubensbekenntnis ausgehen, soll es im Folgenden darum Siehe: Athanasius, Briefe an Serapion 1, 15. In: Ritter 1977, 163 f. »Steh uns bei, Heiliger Geist, Band des Vaters und des Sohnes! In der Ruhe bist du Vater, im Hervorgang Sohn, und alles zu einem verbindend bist du Heiliger Geist.« (zit. nach: Ritter 1977, 157). – Siehe auch: Benz 1932, 127 ff. 184 Siehe: Kelly 1972, 334 ff. 182 183
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
417
Der dreieinige Gott
gehen, wie sowohl das »Hervorgehen« (ekporeuesjai) des Geistes, das den Unterschied zum Gezeugtsein des Sohnes bezeichnet, als auch jenes »Zusammen« des Heiligen Geistes mit Vater und Sohn von Augustin gedeutet wird. 2. Geht man von dieser Diskussionslage um den Heiligen Geist aus, so besteht das erste Problem der Bestimmung seines innertrinitarischen Ortes offenbar darin, dass er als aus dem Vater hervorgehend bekannt wird, dass die biblischen Schriften jedoch sein Wirken in der geschichtlichen Welt beschreiben. Er ist der Geist Gottes, der in den Propheten gewirkt hat und in der christlichen Glaubensgemeinschaft wirkt. Wenn nun aber der Homousieformel gemäß der Vater und der Sohn als eines Wesens ›vor allen Zeiten‹ zu bekennen sind, der Geist Gottes jedoch ›in den Zeiten‹ wirkt, wie ist es dann möglich, dass der Heilige Geist – nach der Formel »una essentia – tres personae« – mit dem Vater und dem Sohn zusammen eines Wesens ist? Diese Frage stellt Augustin, indem er die biblische Aussage aufgreift, der Heilige Geist sei das »Geschenk Gottes« (donum dei). Ist, so fragt er, ein Geschenk auch Geschenk, bevor es geschenkt ist? Kann man also sagen: der Heilige Geist ist, bevor er wirkt? Denn wenn es so wäre, dass der Heilige Geist »nur hervorgeht, indem er geschenkt wird, dann würde er zweifellos nicht hervorgehen, bevor jemand existiert, dem er geschenkt wird« (V, 15, 16); er würde nur durch das Geschenktwerden existieren, wäre nicht ewig und damit nicht Vater und Sohn gleich. Oder aber: »Ist der Hervorgang des Heiligen Geistes doch ein immerwährender, und geht nicht in der Zeit, sondern von Ewigkeit hervor, und war er schon dadurch, dass er als schenkbar hervorging, Geschenk, auch bevor er tatsächlich geschenkt wurde?« (ebd.) Augustin antwortet: So ist es. »Etwas anderes bedeutet ja Geschenk, etwas anderes geschenkt. Geschenk (donum) kann etwas sein, auch bevor es tatsächlich gegeben wird; geschenkt (donatum) aber kann es erst heißen, wenn es gegeben ist.« (ebd.) Der Heilige Geist, der als hervorgehend bekannt wird, sei »immerfort Geschenk, wird aber in der Zeit geschenkt« (V, 16, 17: sempiterne spiritus donum, temporaliter autem donatum). Wie der Sohn durch das ewige Zeugen ewig Sohn ist, so ist der Heilige Geist durch das ewige Schenken ewig Geschenk. Durch diese Unterscheidung von »temporaliter donatum« und »sempiterne donum« erhebt also Augustin den Heiligen Geist als die dritte Person in die innertrinitarische Einheit Gottes: als das ewige Geschenk ist er dem Vater und dem Sohn wesensgleich. Die Homo418
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
usie, die das konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis aussparte, wendet Augustin auf den Heiligen Geist an: »… Vater, Sohn und Heiliger Geist, von einer und derselben Substanz, (bezeugen) durch ihre untrennbare Gleichheit die göttliche Einheit … und (sind) daher nicht drei Götter …, sondern ein Gott« (I, 4, 7) 185 . Welchen innertrinitarischen Ort aber hat nun dieses »Geschenk Gottes«? Oder besser: mit welchen Kategorien erfasst Augustin den Heiligen Geist im Rahmen der Trinität? Ausschließen können wir, dass er den Geist als das Wesen Gottes versteht, da er eine der drei Personen ist. Der Geist hat für ihn jedoch auch kein Fürsichsein; denn wenngleich der Name »Heiliger Geist« keine Beziehung zu anderem ausdrückt wie die Namen »Vater« und »Sohn«, so sei das so Benannte doch nichts für sich. »Heiliger Geist« sei zwar der Eigenname der dritten Person, jedoch eine »beziehentliche Bezeichnung, da der Heilige Geist eine Beziehung zu Vater und Sohn in sich schließt« (V, 11, 12). Diese Beziehung drücke der Name zwar nicht aus; verwendet man stattdessen aber »die Worte Geschenk eines Schenkers und Schenker eines Geschenkes …, dann wird jedesmal die gegenseitige Beziehung sichtbar.« (ebd.) Der Heilige Geist ist also zunächst – wie Vater und Sohn – ein bezügliches Sein; das Geschenk ist, weil es einen Schenker hat. 3. Stellt man nun die Frage nach dem Schenker des Geschenks, so ist Augustins Antwort nicht, dem orthodoxen Glaubensbekenntnis entsprechend, dass der Vater es sei, aus dem der Heilige Geist hervorgeht: ek tou patro@ ekporeuomenon. Er erklärt dieses Hervorgehen vielmehr aus dem »Zusammen« von Vater und Sohn: »Der Heilige Geist aber geht nicht vom Vater in den Sohn aus, und nicht geht er vom Sohne aus zur Heiligung der Schöpfung. Er geht vielmehr von beiden zugleich (simul de utroque) hervor …« (XV, 27, 48) Und als Beleg seiner abweichenden Erklärung führt er Zitate aus dem Neuen Testament an, die aber nur einmal den Vater, einmal den Sohn als Urheber des Geistes bezeichnen 186 . Sie belegen, dass der Heilige 185 Augustin behauptet, dies hätten »alle mir erreichbaren katholischen Erklärer der heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testaments, welche vor mir über die Dreieinigkeit, welche Gott ist, schrieben« (ebd.), lehren wollen. Ihm war die »Pneumatomachie« zur Zeit der Synode von Konstantinopel 381 offenbar unbekannt oder wollte sie nicht wahrhaben. Eustathius von Sebaste scheint für viele gesprochen zu haben, wenn er sagte: »Für meinen Teil bin ich weder dafür, den Heiligen Geist Gott zu nennen, noch maße ich mir an, ihn ein Geschöpf zu nennen.« (zit. nach: Kelly 1972, 336). 186 de Trin. V, 11, 12: »Er ist nämlich das Geschenk des Vaters und Sohnes, da er ›vom
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
419
Der dreieinige Gott
Geist von beiden ausgeht; aber nicht, dass Vater und Sohn zusammen die Schenker des Geschenks sind, dass also das Schenken eine gemeinsame und untrennbare Handlung (operatio inseparabilis) von Vater und Sohn ist. Diese Abweichung vom konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis mag als eigenwillige Auslegung verstanden werden, die in der eigentümlichen Frömmigkeit des afrikanischen Theologen begründet ist oder seine Unvertrautheit mit aktuellen theologischen Diskussion zeigt 187 . Aus historischer Sicht erscheint jedoch die grundsätzlichere Erklärung angemessener, die in dieser Abweichung die Konsequenz der lateinischen Patristik und das aufschlussreichste Beispiel für den Einfluss sieht, »den der große Afrikaner auf das lateinische Christentum ausübte.« 188 Denn während die jüdische und die griechische Tradition am Prinzip des Einen festgehalten haben, an dem »Ich bin, der ich bin« (,ehje ,ascher ,ehje) als dem Allmächtigen bzw. an der einen Ursache (to aition) als dem Grund von allem, aus dem allein der Sohn und der Geist herzuleiten sind 189 , war in der Tradition der lateinischen Patristik die Rede vom »Vater allein« von Beginn an suspekt 190 . Das augustinische »simul de utroque« zieht aus diesem Vorbehalt die Konsequenz: nur durch das »Zusammen« von Vater und Sohn könne der christliche Glaube an den Heiligen Geist angemessen bekannt werden. Dieser Unterschied zwischen dem »a Vater ausgeht‹, wie der Herr sagt (Joh. 15, 26), und weil, wie der Apostel sagt (Röm. 8, 9), der, ›welcher den Geist Christi nicht hat, nicht zu ihm gehört‹. Dieses Wort gilt zweifellos vom gleichen Heiligen Geiste.« – Vgl. auch de Trin. XV, 26, 45: »Durch viele andere Zeugnisse der göttlichen Worte wird erhärtet, dass er der Geist des Vaters und des Sohnes (patris et filii spiritus) ist, er, der in der Dreieinigkeit den Eigennamen Heiliger Geist hat.« 187 So räumt Augustin ein, »im Griechischen … keine solche Kenntnisse (zu besitzen), dass wir Bücher mit derartigem Inhalt zu lesen und zu verstehen uns irgendwie in der Lage sähen. Aufgrund der wenigen Texte, die uns aus der griechischen Literatur übersetzt wurden, zweifle ich freilich nicht, dass sie alles Wissenswerte enthalten.« (de Trin., III, 1) 188 Kelly 1972, 353. 189 Dies Prinzip des Einen, das zu Sohn und Heiligem Geist im Verhältnis der Ursache steht, hatte nachdrücklich der kappadokische Theologe Gregor von Nyssa in seiner Schrift an Ablabius »Quod non sunt tres dii« herausgearbeitet: »every operation which extends from God to the Creation, and is named according to our variable conceptions of it, has its origin from the Father, and proceeds through the Son, and is perfected in the Holy Spirit.« (zit. nach: www.catholicculture.org/library/fathers/) 190 Vgl. dazu schon den Brief des römischen Bischofs Dionys von 262, der vor der Aufteilung der »göttlichen Monas« warnte: In: Ritter 1972, 105. Auch: Jacobs 1987, 28 f.
420
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
patre per filium« der griechisch-orthodoxen Kirche und dem »de utroque« bzw. dem »a patre filioque« der römisch-katholischen Kirche ist denn auch zu der dogmatisch-theologischen Differenz zwischen der ›abendländischen‹ und der ›morgenländischen‹ Kirche und Augustins »de utroque« zum »Gemeingut der abendländischen Theologie« 191 geworden. In unserem Kontext sehen wir in dieser fundamentalen Abweichung vom orthodoxen Glaubensbekenntnis und in der daraus resultierenden Trinitätskonzeption jedoch insbesondere die Konsequenz aus dem augustinischen Verständnis des Vater-Sohn-Verhältnisses und eine Bestätigung unserer bisherigen Rekonstruktion. Denn weil Augustin die Vater-Sohn-Beziehung nach der römischen Idee der auctoritas als eine wesentliche und damit unauflösliche Beziehung von Vater und Sohn, von Zeuger und Gezeugtem, und diese als das Wesen des christlichen Gottes begreift, kann keiner für sich der Schenker des Geschenks sein, sondern müssen beide zusammen das Geschenk schenken. Da jeder der beiden allein in diesem Verhältnis ist, was er ist, ist es a priori ausgeschlossen, dass einer der beiden für sich – außerhalb dieses Verhältnisses – etwas wäre, was der andere nicht ist. Wäre der Vater allein der Schenker, wie das orthodoxe Glaubenssymbol bekennt, oder wären beide, jeder für sich, Schenker, wie die biblischen Schriften nahelegen, dann wären Vater und Sohn nicht untrennbar Eines; der eine wäre Schenker – ohne den anderen. Aufgrund der wesentlichen Beziehung, die Augustin annimmt, muss er also sagen, dass der Heilige Geist nicht vom Vater allein, sondern von beiden zusammen ausgeht. Er bekennt daher, dass »Vater und Sohn der Urgrund (principium) des Heiligen Geistes sind; nicht zwei Urgründe (duo principii), sondern wie Vater und Sohn ein Gott sind …, so sind sie in bezug auf den Heiligen Geist ein Urgrund (unum principium).« (V, 14, 15) Unter der Voraussetzung jener Untrennbarkeit von Vater und Sohn ist es also konsequent, den Heiligen Geist als diejenige dritte Person anzunehmen, die als das gemeinsame Geschenk aus Vater und Sohn zusammen hervorgeht.
191 M. Schmaus, Einleitung. In: de Trin., XXXII. – Darüber hinaus wurde das »filioque« zu einer »der explosivsten Streitfragen zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens«, das Karl der Große bei seiner Restauration des weströmischen Reiches »als eine der Trumpfkarten gegen das oströmische Reich ansah«. (Kelly 1972, 352, 359)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
421
Der dreieinige Gott
b.
Der Heilige Geist: »die Liebe«
Über das Bezügliche des Heiligen Geistes als gemeinsames Geschenk hinaus stellt sich jedoch die Frage nach dem Sein dieses Dritten. Denn die Aussagen darüber, dass und von wem geschenkt wird, sagen nicht aus, was geschenkt wird. Nimmt man nun naheliegenderweise an, diese dritte Person sei der Geist, dann bezeichnet der Ausdruck »Heiliger Geist« zwar nicht das Bezügliche dieser Person, aber das, was sie ist. Doch diese Annahme erscheint nur dann als sinnvoll, wenn vorausgesetzt wird, dass Vater und Sohn selbst nicht der Geist sind, den sie vielmehr als ein Drittes hervorbringen und schenken. Damit aber würden der Vater und der Sohn zum nicht-geistigen Urgrund des Geistes erklärt, was in Hinblick auf Augustins Theologie zweifellos zu absonderlichen und unpassenden Konstruktionen und Bildern führen würde. Oder aber man nimmt umgekehrt mit Augustin 192 an, dass nicht er allein Geist ist, sondern auch der Vater und Sohn, weil Gott selbst Geist ist 193 . Dann aber wird nicht mehr einsichtig, warum aus Vater und Sohn das hervorgehen sollte, was sie selbst schon sind. »Geist aus Geist« erscheint als eine leere Iteration, nach der hervorgebracht wird, was schon da ist; das Bekenntnis zum Heiligen Geist als dritter Person wäre so nur eine formelle Pflichtübung. Würde man jedoch sagen, dass in diesem Fall zum Zeugen des Sohnes das Schenken des Geistes hinzukomme, so drückt das Schenken nur das Bezügliche aus. Gezeugt oder geschenkt aber würde dasselbe: Geist. Würde man also die dritte Person schlicht als »Geist« auffassen, so entspräche die Hinzufügung der dritten Person zwar der christlichen Glaubensregel, führte aber zu absonderlichen Konsequenzen oder wäre ohne rechten Sinn. Wenn es nun so ist, dass hinsichtlich des Hervorgehens der Heilige Geist von Augustin als gemeinsames Geschenk von Vater und Sohn erklärt wird, sich hinsichtlich seines Seins jedoch keine sinnvolle Begründung findet, die das Hinzukommen der dritten Person erklärt, dann bleibt die Annahme, dass der Heilige Geist nicht hinzukommt, sondern mit Vater und Sohn schon vorhanden ist. Dieses Dritte aber, das mit beiden vorhanden ist, ist die Beziehung beider; 192 »Ebenso ist er ja in dieser Dreieinigkeit nicht allein Geist oder heilig, da auch der Vater und der Sohn Geist und da auch der Vater heilig und der Sohn heilig ist, was frommer Sinn nicht bezweifelt.« (de Trin. XV, 19, 37) 193 Vgl.: de Trin. XV, 5, 7; XV, 17, 27.
422
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
denn diese ist weder der zeugende Vater noch der gezeugte Sohn, sondern ein Drittes, das aber nicht hinzukommt, sondern mit Vater und Sohn vorhanden ist. Ließe sich nun darlegen, dass in Augustins Trinitätsmodell die dritte Person in der Tat nichts anderes ist als diejenige Beziehung, die wir als das untrennbare Vater-Sohn-Verhältnis rekonstruiert haben, dass also der Heilige Geist, der als gemeinsames Geschenk von Vater und Sohn ausgeht, diese Beziehung selbst ist, dann wäre zum einen der Heilige Geist nichts, was hinzukommt, und wäre zum anderen die Probe auf unsere Rekonstruktion der Vater-Sohn-Beziehung. Der Heilige Geist stellte als dritte Person die untrennbare Beziehung des Vaters als ›selbständiger Person‹ und des Sohnes als ›unselbständiger Person‹ dar. Augustin nennt den Heiligen Geist bekanntlich »die Liebe« (amor, caritas). Sie ist das, was Vater und Sohn gemeinsam schenken. Unsere Aufgabe ist es daher zu untersuchen, ob und in welchem Sinn das, was Augustin mit dem Ausdruck »Liebe« bezeichnet, nichts anderes ist als die Beziehung von Vater und Sohn. Dazu gehen wir zuerst auf Augustins Begriff der Liebe ein, um anschließend diejenige Liebe zu rekonstruieren, von der er sagt, sie gehe als Geschenk aus beiden zusammen, Vater und Sohn, hervor. a. zum Begriff der Liebe Traditionell drückte der Begriff der Liebe ein bestimmtes Verhalten oder Streben zu etwas aus. So wurde in der griechischen Philosophie der Erw@ als das Streben des Getrennten nach Vereinigung gedeutet; bei Empedokles als Bindungskraft der Elemente, bei Platon als Streben der Seele nach dem Schönen 194 . In der biblischen Tradition wurde die Liebe als ein Geschehen zwischen Gott und seinem Volk verstanden, das sich im gegenseitigen Handeln verwirklicht 195 . Und in der 194 Platon, Symposion 203 ff. – Auch: Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 1094a 1 f.; 1095a 16.; Plotin 1961, Bd. Va, 183: »erw@ de energeia vuch@ agajou orignwmenh@.« 195 Casper 1973 f., 861 f.: »Ist für das griechische Verständnis Liebe letztlich Liebe zu einem ontw@ on, welches das weniger Seiende nicht lieben kann, so geht das biblische Verständnis davon aus, dass Gott durch die freie Tat liebend den Anfang der Liebe setzt … Liebe wird verstanden als die gegenseitige Tat der Freiheit, welche einerseits die erwählende Freiheit Gottes meint. Dieser Freiheit aber antwortet in der Gegenliebe die Freiheit des Menschen, der als Erwählter auf den Bund eingeht und so in freier antwortender Selbstverwirklichung die Geschichte gestaltet. Das Grundmodell des Verständnisses von Liebe ist hier das Verhältnis zwischen Personen, in welchem sich Liebe als Erwählung und Treue ereignet. Dieses Geschehen wird dann jeweils für beide Partner zu dem alle Wirklichkeit einbegreifenden und bestimmenden Geschehen.«
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
423
Der dreieinige Gott
römischen Tradition entsprach diesem Verhalten am ehesten wohl die pietas, die Bindung des Handelns des Römers an die Götter und Vorfahren. Doch all diese Verwendungsweisen des Liebesbegriffs können offenbar nicht das bezeichnen, was Augustin meint. Denn wenn er die Liebe vom Heiligen Geist als der dritten Person Gottes aussagt, dann kann dieser Begriff weder das innere Streben von etwas noch eine bestimmte Art des Geschehens oder Handelns bezeichnen. Denn in diesem Fall wäre die Liebe eine innere Kraft oder ein gewisses Geschehen; sie wäre aber nicht das Sein des Heiligen Geistes als dritter Person. Augustin unterscheidet denn auch zwischen dem, was liebt und was geliebt wird und dem, was die Liebe ist: »Ich, das, was ich liebe, und die Liebe selbst.« (IX, 2, 2: ego et quod amo et ipse amor.) Diese sei etwas anderes als das Lieben oder das Geliebtwerden: das, durch das das Liebende das Geliebte liebt. Gäbe es, so können wir das Gemeinte paraphrasieren, diese »Liebe selbst« nicht, so gäbe es weder ein Liebendes noch ein Geliebtes. Sie ist für Augustin also in dem, was sie ist, kein Verhalten oder Geschehen, sondern ein Drittes gegenüber dem Liebenden und dem Geliebten. Dieses Dritte nun, die Liebe selbst, fasst Augustin zunächst als ein bezügliches Sein, das nichts für sich sei, sondern nur dadurch, dass anderes, das nicht sie selbst ist, liebt und geliebt wird. Weder, so können wir sagen, liebt die Liebe sich selbst, noch ist sie, ohne dass Liebendes Geliebtes liebt. In dieser Hinsicht »gibt (es) keine Liebe, wo nicht geliebt wird.« (ebd.) Dieses Bezügliche der Liebe beschreibt Augustin so, dass die Liebe »die Liebe eines Liebenden (ist), und durch die Liebe … etwas geliebt (wird).« (VIII, 10, 14) Daher enthalte der Begriff der Liebe drei Momente: das Liebende, das Geliebte und die Liebe selbst. Ist die Liebe also da, so ist sie selbst nur, wenn mit ihr zusammen eines ist, was liebt, und eines ist, was geliebt wird, d. h. wenn sie dreifach ist 196 . In dieser Bezüglichkeit der Liebe sind die drei daher nicht drei verschiedene, sondern ein Wesen. Dieses Wesen der dreigliedrigen Liebe selbst lässt sich jedoch im Grunde nur umschreiben: Freude (dilectio), Genießen (frui), Vereinigung (copula). Sie sei nichts anderes »als 196 Augustin diskutiert zwar den Fall der Selbstliebe (de Trin. IX, 2–3, 2–3), in dem scheinbar nur zwei vorhanden seien: die Liebe und der Geist als das, was sich liebt. Aber da der Geist sich nur liebe, wenn er sich kennt, das Gekannte aber ein anderes sei als das, was kennt, so sei auch in diesem Fall das Liebende und das Geliebte verschieden, und die Liebe dreifach.
424
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
eine Art Leben, welches zwei miteinander vereint oder zu vereinen trachtet (copulans uel copulari appetens), den Liebenden und das Geliebte« (VIII, 10, 14). b. Die Liebe als die gemeinsame Sache von Vater und Sohn 1. Nach diesem Begriff der dreigliedrigen Liebe ist nun für Augustin der Heilige Geist, den der christliche Glaube als dritte Person bekennt, die Liebe selbst; und wir wollen darauf sehen, wie sich sagen lässt, dass diese Liebe aus beiden, Vater und Sohn, zusammen hervorgeht, und wie dieses »zusammen« zu verstehen ist. 197 Nimmt man zunächst an, dass diesem Begriff der Liebe gemäß der Heilige Geist die Liebe selbst ist, dann ist es offenbar so, dass 197 Leider ist H. Arendts »Der Liebesbegriff bei Augustin« für unseren Zweck unergiebig. Denn Arendt befasst sich nicht mit dem Begriff der Liebe selbst, sondern mit dem der menschlichen Liebe. Dementsprechend geht sie von einer Definition der Liebe aus, von der sie sagt, sie sei »die einzige …, die Augustin von dem amor gegeben hat«: ›Nihil enim est amare, quam propter se ipsam rem aliquam appetere.‹ (Arendt 1929, 5; Augustin, De diversis quaestionibus octaginta tribus, 35, 1, auch 2), und diskutiert auf dieser Grundlage den Liebesbegriff allein in Hinblick auf die Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu Gott und zum Nächsten. Demgemäß gilt ihr auch jede Liebe als ein Streben bzw. Begehren: »Jeder amor ist eingespannt in dieses Um-Willen, d. h. er liebt das summum bonum propter se ipsum und die bona, sofern sie zu dem summum bonum bringen können.« (22) Aber sie thematisiert nicht den Begriff der Liebe, den Augustin seinem Trinitätsmodell zugrunde legt, und der nicht als ein Streben nach …, sondern als Vereinigung zu verstehen ist. Arendt führt zwar das Zitat aus de Trin. VIII, 14 an: »Quid est ergo amor, nisi quaedam vita duo aliqua copulans vel copulare appetens?« (13, Anm. 3); sie zieht jedoch daraus nicht den Schluss, dass, wenn für Augustin Gott die »wahre Liebe« ist, diese Liebe kein Streben sein kann, sondern die Vereinigung selbst sein muss. Sie betrachtet den Gott Augustins nur als das summum bonum, als Endzweck des menschlichen Handelns, von dem sie kritisch feststellt, dass er »nicht für andere, … nur für sich selbst« (22) sei. Dass Augustin Gott aber nicht nur in ethisch-praktischer Hinsicht als das höchste Gut für den Menschen, sondern dass er ihn in theologischer Hinsicht an sich als die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist bestimmt und den Heiligen Geist »die Liebe« nennt, wird von ihr nicht einmal erwähnt. – Demgegenüber hat K. Flasch treffend festgestellt: »Aber als Augustin sein Werk über die Dreieinigkeit verfasste, bedurfte er doch eines anderen Begriffs der Liebe: Er löste die Gleichsetzung von Liebe und Begehren. Die Liebe kann auch im genießenden Haben des wesensgemäßen Guten bestehen. Eine weitere Neuerung des späten Augustin war es, die Liebe ausdrücklich als ein Verhältnis zweier Personen zu verstehen; er definierte nun ›Liebe‹ als ein ›gemeinsames Leben, das zwei Wesen vereint oder zu vereinen strebt‹. Doch dabei sprach er von der Liebe zwischen den Personen der Dreieinigkeit …« (Flasch 1980, 137). Flasch scheint – ohne es näher auszuführen – in dieser neuen Definition der Liebe als »genießendem Haben« eher einen Mangel zu sehen, als eine folgenreiche Neubestimmung dessen, was Liebe sei.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
425
Der dreieinige Gott
durch sie, als Drittes, der Vater und der Sohn vereint sind. Das wesentliche Sein des Geistes ist die Liebe selbst, das bezügliche Sein aber die Liebe von Vater und Sohn. Die Liebe selbst bezeichnet Augustin als »eine Art gleichwesentlicher Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes« (XV, 27, 50: communio quaedam consubstantialis patris et filii), wodurch beide »eine gewisse unaussprechliche Gemeinschaft« (V, 11, 12: ineffabilis quaedam patris filiique communio) sind. Im Geist als dritter Person fallen damit sein wesentliches und sein bezügliches Sein zusammen, so dass er seinem Wesen nach das ist, was Vater und Sohn gemeinsam sind. Er ist als die Liebe selbst zugleich die ›communio ineffabilis‹ von Vater und Sohn 198 . – So verstanden hat Augustin mit seinem Begriff der Liebe eine in der Tat überzeugende Lösung des Dreieinigkeitsproblems gegeben. Denn weil er annimmt, dass die Liebe trinitarisch ist, und dass der Heilige Geist die Liebe selbst ist, ist der Heilige Geist die dritte Person, durch die das Verhältnis von Vater und Sohn eine gemeinschaftliche und unauflösliche Beziehung ist. In der Liebe wären in der Tat »jede [Person] in jeder, sind alle in jeder, ist jede in allen, sind alle in allen, und alle sind eins.« (VI, 10, 12) Unter dem Begriff der trinitarischen Liebe wären also Vater, Sohn und Heiliger Geist tatsächlich drei Personen Eines Wesens: »tres personae – una essentia«; und der dreieinige Gott selbst wäre – nach 1. Joh. 4, 16 – die Liebe. 2. Doch so verstanden, ist der Geist. Augustin sagt jedoch ausdrücklich und in Übereinstimmung mit dem Glaubensbekenntnis, dass der Heilige Geist nicht ist, sondern hervorgeht. Er ist zwar Gott, aber ›aus Gott‹ 199 . Daraus folgt jedoch, dass der Heilige Geist nicht diejenige Liebe sein kann, durch die Vater und Sohn ihre Gemeinschaft haben, sondern dass er umgekehrt als das ›Produkt‹ verstanden werden muss, das aus Vater und Sohn zusammen hervorgeht. Er ist nicht die »communio«, sondern stellt die »communio ineffabilis« von Vater und Sohn als dritte Person dar. »Weil [H. v. m.] er nämlich den beiden anderen gemeinsam ist, deshalb heißt er gesondert für sich, 198 Augustin erläutert diese Einheit, indem er vom Heiligen Geist sagt, dass er »im eigentlichen Sinne (proprie) genannt (wird), was die beiden anderen in einem allgemeinen Sinne (communiter) heißen. Geist ist ja auch der Vater, Geist ist der Sohn, heilig ist der Vater, heilig ist der Sohn. Um also einen Namen zu gebrauchen, der Vater und Sohn gemeinsam ist und daher den Heiligen Geist als die Gemeinschaft der beiden darzutun vermag, heißt das Geschenk der beiden Heiliger Geist.« (de Trin. V, 11, 12; H. v. m.). 199 »Die Liebe also, die aus Gott (ex deo) ist und Gott ist, wird als Eigenname für den Heiligen Geist verwendet« (de Trin. XV, 18, 32)– Siehe auch: XV, 19, 37.
426
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
was die beiden anderen gemeinsam genannt werden.« (XV, 19, 37: Quia enim est communis ambobus, id uocatur ipse proprie quod ambo communiter.) Damit aber muss sich die Auffassung des innertrinitarischen Verhältnisses ändern, da der Heilige Geist nicht ist, sondern hervorgeht, und da es dieses Hervorgehen ist, das ihn als Person vom Vater und vom Sohn unterscheidet. Was das »Hervorgehen« des Geistes im Unterschied zum »Zeugen« des Sohnes meint, erläutert Augustin am Beispiel des menschlichen Geistes und seinen unterschiedlichen Funktionen, dem Erkennen und dem Wollen. Das Erkennen sei als Leistung des menschlichen Geistes ein Vorstellen. Wenn wir erkennen, schauen wir, was der denkende Geist gezeugt hat; und dies Geschaute sei ein Bild des Denkens. Augustin stellt den Erkenntnisvorgang als einen Zeugungsvorgang dar, in dem das, was vorher im Gedächtnis war, jetzt als Vorstellung für den schauenden Geist ist; und die Vorstellung sei »ein ganz ähnliches Abbild jenes Denkens (imago simillima cognitionis), welches das Gedächtnis enthielt.« (XV, 27, 50) Der Wille jedoch ist ein anderes Vermögen des Geistes; denn er stelle nichts vor, sondern erstrebe das zu Erkennende oder genieße das Erkannte. Von diesem Genießen des Erkannten sagt Augustin: »Der Wille oder die Liebe eint dabei diese beiden, gleichsam also den Ursprung und den Sprossen (uelut parentem ac prolem), als Drittes.« (ebd.) Zwar gehen beide, das Erkennen und das Wollen, aus dem Geist hervor, und das eine sei nicht ohne das andere; aber ihre Funktionen seien verschieden: jenes erzeugt, dieses genießt das Bild. Insofern seien Zeugen und Hervorgehen so verschieden wie Erkennen und Wollen. – Dieser Unterschied, den Augustin an den Funktionen des menschlichen Geistes erläutert, lässt sich auch am Beispiel der Zeugung selbst verdeutlichen: Wenn Eltern Kinder zeugen, dann ist das, was zusammen mit dem Gezeugten entsteht, ohne selbst gezeugt zu sein, die ElternKind-Beziehung, die aus Eltern und Kindern gemeinsam hervorgeht. Zu zeugen, ohne dass als Drittes zugleich eine Beziehung zwischen Erzeugern und Erzeugtem hervorgeht, ist nicht möglich. Und so wie mit der Zeugung des Kindes, neben den Eltern und dem Kind, das Eltern-Kind-Verhältnis hervorgeht, so fragt doch niemand sinnvoll, ob nicht auch dieses gezeugt wurde, und ob es ein Kind sei. Wenn also der Heilige Geist nicht ist, sondern auf diese Weise aus Vater und Sohn zusammen hervorgeht, dann ist er offenbar konkreter zu fassen, und es sind drei Arten der Liebe zu unterscheiden: die Vaterliebe, durch die der Erzeuger das Gezeugte liebt; die SohnesA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
427
Der dreieinige Gott
liebe, durch die das Gezeugte den Erzeuger liebt; und die Liebe selbst, die gemeinsam aus Vater und Sohn hervorgeht. »Einer, der den durch ihn Bestehenden liebend umfängt [Vater], einer, der den ihm die Existenz Begründenden liebend umfängt [Sohn], und die Liebe selbst [Heiliger Geist].« (VI, 5, 7: unus diligens eum qui de illo est, et unus diligens eum de quo est, et ipsa dilectio.) Dann aber ist die Liebe selbst die dritte Art, die aus den zwei anderen Arten der Liebe, der Vater- und der Sohnesliebe, hervorgeht. 200 In diesem Fall jedoch ist die Liebe nicht ›dreieinig‹, sondern ›zusammengesetzt‹, weil sie aus drei Arten der Liebe besteht. Wie aber ist es unter dieser Bedingung zu verstehen, dass aus der Vater- und der Sohnesliebe die Liebe selbst hervorgeht, die als dritte Person dennoch ein einfaches Wesen sein soll? 3. Diese Liebe selbst kann jedenfalls nicht die Vaterliebe sein, da sie die Liebe des Erzeugers zum Gezeugten ist und folglich nicht aus beiden hervorgeht. Sie kann auch nicht die Sohnesliebe sein, da sie gleichfalls nicht aus beiden hervorgeht. Die Liebe also, die aus beiden hervorgeht, muss gegenüber den beiden Arten der Liebe ein Drittes sein, das weder die Vater- noch die Sohnesliebe ist. Dieses Dritte, das zum einen aus Vater und Sohn hervorgeht, das zum anderen aber ein einfaches Wesen ist, muss offenbar als die eine »gemeinsame Sache« (res communis) verstanden werden, in der Vater und Sohn geeint sind. Als diese Sache ist sie das einfache Wesen, das zugleich aus Vater und Sohn gemeinsam hervorgeht, und in der beide untrennbar verbunden sind. Sie ist die dritte Person, weil sie weder der Vater noch der Sohn ist, die aber auch nicht die Liebe selbst ist, sondern aus Vater und Sohn gemeinsam hervorgeht. Wie aber ist dieses Hervorgehen der gemeinsamen Sache verstehen? Nun scheint eine Möglichkeit des Verständnisses zu sein, dass diese gemeinsame Sache aus der Übereinkunft von Vater und Sohn hervorgeht. Denn die Übereinkunft wäre in der Tat das, was aus beiden hervorgeht und sie bindet und eint. Das aber bedeutet, dass in diesem Fall neben der Vater- und der Sohnesliebe noch eine dritte Art der Liebe angenommen werden müsste: der Vater liebte nicht nur 200 Vgl. de Trin. VI, 5, 7: »… klar ist, dass er [der Heilige Geist] nicht einer von den beiden ist, da durch ihn die beiden verbunden sind, da durch ihn der Erzeugte vom Erzeuger geliebt wird und seinen Erzeuger liebt, da sie in ihm die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens wahren, nicht auf Grund von Teilnahme (participatione), sondern auf Grund ihres Wesens (essentia), nicht kraft der Gabe eines Höheren, sondern kraft ihrer eigenen Gabe.«
428
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
seinen Sohn und der Sohn seinen Vater, sondern jeder der beiden liebte noch die ihnen gemeinsame Sache. Der Vater genösse nicht nur den Sohn, den er zeugt, und der Sohn nicht nur den Vater, der ihn zeugt, sondern beide genössen den gemeinsamen Genuss. Dieser Genuss (dilectio) wäre als die gemeinsame Sache der Heilige Geist beider. Doch diese gleichsam ›paritätische‹ Erklärung des Hervorgangs des Heiligen Geistes »a patre filioque« muss Augustin ebenso verwerfen, wie er schon die ›monarchische‹ Erklärung »a patre« verworfen hat. Denn da die Annahme einer solchen Übereinkunft von zwei Urhebern des Heiligen Geistes ausgeht, widerspricht auch sie der Wesenseinheit von Vater und Sohn. Denn nach ihr liebt jeder, der Vater und der Sohn, die gemeinsame Sache, die daher zwar aus beiden hervorgeht, aber nicht aus beiden zusammen. Sie hängt davon ab, dass jeder für sich, über die Liebe des Vaters zum Sohn und die Liebe des Sohnes zum Vater hinaus, noch die gemeinsame Sache liebt. So verstanden wären jedoch Vater und Sohn zwei Wesen, die die gemeinsame Sache dadurch hervorbringen, dass jeder für sich sie liebt. Eine solche ›paritätische‹ Erklärung des »a patre filioque« widerspricht jedoch nicht nur dem Glauben, der Vater und Sohn als ein unwandelbares Wesen bekennt, sondern auch der Erklärung Augustins, dass nämlich der Sohn die Person ist, die allein durch den Vater ist. Würde daher der Sohn für sich selbst als Urheber des Heiligen Geistes angenommen, so wäre er weder mit dem Vater wesenseins noch wäre er der Sohn, der alles, was er ist, durch den Vater ist. Er hätte ein Sein für sich. Wie anders aber als durch Übereinkunft könnte der Heilige Geist aus Vater und Sohn hervorgehen? c.
Die Liebe als die Eine Sache
1. Um zu verstehen, wie Augustin sagen kann, dass der Heilige Geist aus Vater und Sohn zusammen hervorgeht, wollen wir auf die Ergebnisse unserer bisherigen Rekonstruktion zurückgreifen. Danach können wir es ausschließen, dass der Heilige Geist zu Vater und Sohn hinzukommt, da er aus beiden hervorgeht. Wir können es gleichfalls ausschließen, dass der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht, weil er aus beiden zusammen hervorgeht. Wenn nun unsere These richtig ist, dass Augustins Aussagen über den Heiligen Geist dem Verhältnis von Vater und Sohn nichts hinzufügen, was in ihm nicht schon enthalten ist, dann muss sich in diesem Verhältnis die A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
429
Der dreieinige Gott
Erklärung dafür finden, wie der Heilige Geist aus Vater und Sohn zusammen hervorgehen kann. Nun haben wir oben gesehen, dass das unwandelbare Wesen Gottes für Augustin in der ewigen Zeugung des Sohnes durch den Vater besteht, wodurch beide Personen untrennbar ein Wesen sind. In ihr kommt dem Vater die »auctoritas«, dem Sohn die »nativitas« zu. In dieser, als »Autoritätsverhältnis« bezeichneten, Beziehung ist es ausgeschlossen, dass ein Drittes ›hinzukommt‹, das dieses Verhältnis ›trübte‹, wie es gleichfalls ausgeschlossen ist, dass der Sohn ein Sein hat, das nicht durch den Vater ist. Daraus folgt nun aber, dass der Heilige Geist als dritte Person nichts anderes sein kann als diese innere Beziehung, jene »communio ineffabilis«, die aus beiden, Vater und Sohn, zusammen hervorgeht; dass aber die Ursache dieses Hervorgehens nicht der Sohn sein kann, da er nichts ist, was er nicht durch den Vater ist. Dieser allein ist aus sich. Demnach kann es nur so sein, dass der Heilige Geist zwar die Sache ist, die aus beiden, Vater und Sohn, zusammen hervorgeht, dass aber die Ursache dieses Hervorgehens der Vater allein ist, weil nur dieser, als auctor, aus sich ist. Diese Erklärung des Hervorgehens des Heiligen Geistes entspricht nun aber genau der Aussage Augustins, die wir als sein ›letztes Wort‹ in dieser Frage verstehen: »Und wer das Wort des Sohnes: ›Wie der Vater das Leben in sich selbst hat, so gab er dem Sohne, das Leben in sich selbst zu haben‹, [Joh. 5, 26], im wahren Sinne zu verstehen vermag, … : der möge einsehen, dass der Vater, wie er in sich den Grund hat, dass der Heilige Geist von ihm hervorgeht, so es auch dem Sohn verlieh, dass der gleiche Heilige Geist von ihm hervorgeht, und dass beides zeitlos geschieht, dass es ebenso vom Heiligen Geiste deshalb heißt, er gehe vom Vater hervor, weil es der Sohn vom Vater empfing, dass auch vom Sohne der Heilige Geist hervorgeht.« (de Trin. XV, 26, 47) 201 . 201 Vgl. auch: »Der Heilige Geist aber geht nicht vom Vater in den Sohn aus, und nicht geht er vom Sohne aus zur Heiligung der Schöpfung. Er geht vielmehr von beiden zugleich hervor, wenngleich der Vater es dem Sohne verlieh (dederit), dass der Heilige Geist wie von ihm, so auch vom Sohne hervorgeht.« (de Trin. XV 27, 48) – »Der Sohn aber ist vom Vater geboren, und der Heilige Geist geht urgrundhaft (principaliter) vom Vater und, da dieser es ohne irgendeinen zeitlichen Abstand verleiht, von beiden gemeinsam (communiter de utroque) hervor.« (XV, 26, 47) – »Von demjenigen aber, von dem der Sohn sein Gottsein hat – er ist ja Gott von Gott –, von dem empfing er, dass der Heilige Geist auch von ihm hervorgeht. Und so hat der Heilige Geist, dass er auch vom Sohne ausgeht, wie er auch vom Vater ausgeht, ebenfalls vom Vater.« (XV, 27, 48)
430
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Weil, so interpretieren wir die Aussage über das Hervorgehen des Geistes, der Sohn als das durch den Vater ewig Gezeugte diejenige Liebe empfängt, die vom Vater ausgeht, ist diese Liebe nicht nur die gemeinsame Sache von Vater und Sohn; sie ist vielmehr die Eine Sache, die aus Vater und Sohn zusammen hervorgeht. Denn da der Sohn das, was er ist, durch den Vater ist, der Vater aber allein aus sich ist, ist er der Ursprung der Liebe, so dass es durch ihn ist, dass sie auch vom Sohn ausgeht. Der Sohn liebt folglich nicht, weil er aus sich liebt – so wäre er nicht bloß Sohn –, sondern weil er als je schon liebender Sohn gezeugt ist. 202 Aus dieser Einheit der gemeinsamen Sache aber folgt: der Heilige Geist kann nicht als die Liebe selbst eine dritte Person sein, die zu den zweien hinzukommt; er kann aber auch nicht als die dreiartige Liebe angenommen werden, die in die Vater-, die Sohnesliebe und die Liebe selbst unterschieden ist. Er ist nur die eine Liebe, die von Vater und Sohn zusammen in der beschriebenen Weise hervorgeht. In ihm sind, als dritter Person, Vater und Sohn unaussprechlich Eines. In dieser Drei-einigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist nun Gott in der Tat die eine Person, die wesentlich das ist, was sie beziehentlich hat: una essentia – tres personae. 2. Was für Augustin allerdings als unauflösliches Rätsel bleibt, ist, dass der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn (a patre filioque) hervorgeht, aber dennoch nur einen Ursprung (unum principium) 202 An dieser Stelle drängt sich die Parallele zu Augustins Gnadenlehre auf: so wie der Sohn nicht aus sich den Vater liebt, sondern die Liebe vom Vater empfängt, so ist die Gnade Gottes nicht durch das eigene Tun des Menschen erwirkt, sondern, verdienstlos, durch Gott bewirkt. In beiden Fällen zielt Augustin darauf, die Möglichkeit eines paritätischen Verhältnisses abzuweisen. Zwar zieht Augustin, so weit ich sehe, diese Parallele nicht; unterstellt man jedoch, dass er in dieser innertrinitarischen Vater-Sohn-Beziehung das Vorbild der ›wahren Gottesliebe‹ gesehen hat, so wird nicht nur sein Konflikt mit den Pelagianern, sondern auch seine Entschiedenheit in diesem Streit einsichtig. Das Nicht-Paritätische hat auch H. Jonas in seiner Schrift »Augustin und das paulinische Freiheitsproblem« als Kern des pelagianischen Streits hervorgehoben: »Wenn [für den Menschen] der Glaube die gottgefällige Haltung ist, der die Gnade zugesichert ist, so wäre, unbeschadet dessen, dass die verheißene Gnade ein freies Geschenk Gottes ist, doch ein praecedens von menschlicher Seite da – jenes fatale ›Beginnen‹ (und wir sahen, dass ein solches ›praecedens‹ sich in der Diskussion immer unversehens in ein ›meritum‹, ein Verdienst verwandelt) –: und damit nun das ›umsonst‹ der Gnade (gratia gratis data) gewahrt bleibt, muss auch dies ›Vorhergehende‹ schon von Gott gewirkt – also auch der Glaube schon ›inspiriert‹ sein.« (Jonas 1965, 69) Jonas zieht jedoch nirgends den Vergleich mit dem Sohn, der, dass er den Vater liebt, ›umsonst‹ vom Vater hat.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
431
Der dreieinige Gott
hat. Dieses Rätsel, meint Augustin, könne vom Menschen nur geglaubt werden; erst in der ewigen Seligkeit (felicitas sine fine) werde sein Geist es »ohne jede Schwierigkeit schauen und in vollster Klarheit und Sicherheit (clarissima et certissima) genießen« (XV, 25, 45). Aus unserer Sicht jedoch ist dieses Rätsel der Dreieinigkeit im Paradox der Idee der Autorität selbst begründet. Denn sie bezeichnet das Verhältnis zweier Personen, die gerade dadurch untrennbar ein Wesen sind, dass sie nicht gleichursprünglich sind. In ihm ist die eine Person der auctor der anderen, so dass die eine Person selbständig, die andere jedoch unselbständig ist. Und es ist dieser »unüberbrückbar qualitative Unterschied der Personen« 203 , der dem Autoritätsverhältnis die ihm eigene Stabilität verleiht. Dass also für Augustin der Heilige Geist als »Geschenk Gottes« weder monarchianisch aus dem Vater (a patre) noch paritätisch aus dem Vater und dem Sohn (a patre filioque) hervorgeht, sondern dass er, paradox, das untrennbare Zusammen von Vater und Sohn (ab utroque) in der Urheberschaft des Vaters (unum principium) begründet sieht, deuten wir als notwendige Folge, die christliche Trinität nach der Idee der Autorität auszulegen. In dieser römischen Tradition der auctoritas gewinnt die Dreiheit der Personen ihre wesensmäßige Festigkeit gerade dadurch, dass sie nur eine Person als ihren auctor hat. 4.
Zusammenfassung
Aus unserer Rekonstruktion der Aussagen Augustins über die christliche Trias von Vater, Sohn und Heiligem Geist folgt in historischer Hinsicht, dass mit Augustins Trinitätslehre die römisch-lateinische Theologie den Schritt vollzogen hat, der sie von der ›juden-‹ wie der ›griechenchristlichen‹ Theologie abtrennt. Die Idee der Dreieinigkeit Gottes, die schon vor Augustin der Hintergrund des westlich-lateinischen Gottesverständnisses war, und die man durch die theologische Reflexion gefährdet sah, ist durch Augustin explizit gemacht worden. Denn der Gott Augustins ist nicht der Allmächtige, der sich frei zur Zeugung seines Sohnes bestimmt, damit aber als das unbegreifliche Zentrum ›hinter‹ seinem Beschluss verborgen bleibt; er ist aber auch nicht das Gute, das, dem Licht gleich, in die Hypostasen ausfließt und darin dennoch vollkommen bei sich bleibt. Für das augustinische 203
432
Einleitung, III.B.2.a.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Gottesverständnis ist nicht die Unterscheidung des allmächtigen Vaters und seines gesandten Sohns das Wesentliche, aber auch nicht die Idee der Emanation der Hypostasen aus dem Einen, sondern die Einheit der Seinsweisen Gottes unter dem Begriff der Person. Im Bekenntnis zu der Person, die untrennbar ist, was sie hat, sind der Gedanke des einfachen und unwandelbaren Seins Gottes und der christliche Glaube an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist zusammengefasst. Hier wird nicht bekannt, dass der Sohn sein Dasein dem freien Willen des allmächtigen Vaters verdanke; und auch nicht erkannt, dass des Guten wegen der Sohn so notwendig wie der Vater sei; sondern geglaubt, dass der Sohn je schon und unauflöslich, vor allem Wollen und Müssen, ›Gott von Gott‹ sei. Dieses »Je schon« aber ist nichts, was ›blind‹ geglaubt oder durchs Denken erkannt wird, sondern worin Gott schlicht als Person anerkannt wird. Dem theokratischen Eifer, dem Sohn als Ausdruck des Willens Gottes blind zu folgen, wie den theologischen Bemühungen, darin den notwendigen Hervorgang aus dem Einen zu erkennen, stellt Augustin die Einheit des Wesens Gottes in der Bezüglichkeit der Personen gegenüber, die weder nur bekannt noch nur erkannt, sondern schlicht anerkannt wird. Im römisch-lateinischen Begriff der Person ist damit das Unruhe stiftende »Hinter« gleichsam aufgehoben. Gott ist weder ›der Eine‹ des Alten Testaments, dem zu gehorchen ist; er ist auch nicht ›das Eine‹ der griechischen Theologie, das im reinen Denken geschaut werden will; als Person ist er vielmehr das eine unwandelbare Wesen, das in seinem Bezüglichsein von Vater, Sohn und Heiligem Geist beständig in sich ruht und vertrauend anerkannt wird. So gesehen, nimmt Augustins römisch-lateinische Theologie der Person dem Glauben sowohl die beunruhigende Gottesfurcht als auch den asketischen Zwang zum Denken 204 . Dieser Gottesglaube ist im Letz204 In »de trinitate« (IV, 15, 20) tadelt Augustin einige (quidam), »die glauben, sie könnten durch ihre eigene Kraft für die Schau Gottes und das Hangen an Gott entsündigt werden … [Sie] versprechen sich deshalb Entsündigung aus eigener Kraft, weil manche von ihnen mit Scharfsinn die Wirklichkeit jenseits aller Schöpfung zu erblicken und das Licht der unwandelbaren Wahrheit ein wenig zu berühren vermochten, während viele Christen, wie sie spöttisch feststellen, die einstweilen nur aus dem Glauben leben, das bisher nicht vermochten.« – M. Schmaus meint, damit seien Neuplatoniker, besonders Plotin gemeint (ebd.). Hält man sich jedoch vor Augen, dass die Theologen Clemens und Origenes gleichfalls die Unterscheidung zwischen den »Vollendeten« und den »Einfacheren«, gemacht haben, so ist nicht recht einzusehen, warum Augustins Kritik an »einigen« sich nur gegen den (nicht-christlichen) Neuplatonismus gerichtet
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
433
Der dreieinige Gott
ten: die zwanglos-selbstverständliche Anerkennung der Person, die schon die Römer ihren maiores entgegenbrachten.
C. Das Wissen als das »Wort Gottes« Im vorhergehenden Teil haben wir uns strikt an die Formel »una essentia – tres personae« und damit an die Ausdrücke »Vater«, »Sohn« und »Heiliger Geist« gehalten. Unsere Absicht war, Augustins Lösung des Trinitätsproblems zu rekonstruieren. Im folgenden Teil gehen wir davon aus, dass Augustin die onto-logische Frage der Dreieinigkeit Gottes mit dem epistemo-logischen Problem der Wissensbegründung verbunden hat, dass sein Trinitätsmodell also die Frage nach dem, was Wissen ist, mit der Frage nach dem, was Gott ist, verknüpft. Mit dieser Verknüpfung von Theologie und Epistemologie gibt Augustin, so unsere These, auf das epistemologische Problem eine spezifisch römisch-katholische Antwort. 1.
Der dreieinige Gott als epistemologisches Subjekt
Für Augustin ist Gott nicht nur das Wesen, das in seinem unwandelbaren Sein zugleich das unauflösliche Verhältnis der drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist darstellt, sondern ist auch die Instanz, die begründet, was Wissen ist. Gott, so Augustin, habe nicht »die Weisheit sich angeeignet, so dass er durch sie weise wäre, sondern er ist selbst Weisheit« (de Trin. XV, 5, 7) 205 . Oder in unserer Sprache: der dreieinige Gott ist das Subjekt, das Wissen codiert. Diese Vereinigung von Sein und Wissen deuten wir zunächst so, dass Augustin den drei Personen, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, die drei epistemischen Funktionen zuordnet. Der Vater erhält die Funktion des Grundes: er ist die Person, die allein durch haben soll. Dass Augustin selbst sich von solcher Einstellung nicht frei weiß, erzählt er in den »Bekenntnissen« (Augustin 1970, 287 ff.). 205 Augustin schließt dies aus der Aussage (Joh. 4, 24), dass Gott Geist sei. Wenn Gott dem Wesen nach Geist ist, dann seien »ewig«, »weise« und »selig« nicht Eigenschaften, sondern »von der Substanz oder vom Wesen zu verstehen« (XV, 5, 8). Er schließt damit aus, dass der Sohn allein als »die Weisheit Gottes« (1. Kor. 1, 24) zu verstehen sei, da dies bedeute, dass die drei Personen nicht gleichen, sondern verschiedenen Wesens seien.
434
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
sich ist und daher zugleich der in sich seiende und bleibende Grund des Wissens oder das Wissen selbst ist. Von ihm sagt Augustin, er sei »weise durch die Weisheit, die er selbst ist« (de Trin. XV, 7, 12). Der Sohn hingegen hat die Funktion des epistemischen Gesetzes, das für Augustin jedoch nicht der Logos oder die ratio ist, sondern das »Wort Gottes« (verbum dei): das vom Wissen gezeugte Wissen. Der Heilige Geist schließlich hat die Funktion der epistemischen Kraft, die jedoch nicht im Zeitlichen wirkt, sondern zeitlos das Wissen und das Wort eint; sie ist die »aus der Weisheit hervorgehende Weisheit« (XV 7, 12: sapientia procedens de sapientia) 206 . Für Augustin ist also der dreieinige Gott nicht nur das Objekt, das der Glaubende zu begreifen sucht, sondern auch das Subjekt, das Wissen codiert: in ihm ist kein Zweifel, kein Irrtum und keine Täuschung möglich, weil er das Wissen selbst ist. a.
Augustins Lösung der epistemologischen Aporie
Bevor wir den Beziehungen zwischen den drei Funktionen nachgehen, soll zunächst das Eigentümliche dieser Konzeption anhand des Vergleichs mit der griechischen Epistemologie hervorgehoben werden. Nach unserer Darstellung hatte diese in der Aporie geendet, das Logos-Wissen nicht verbindlich machen zu können. Das ›Projekt Autonomie‹ hatte einerseits ein von allem getrenntes Subjekt als wissensbegründende Instanz vorausgesetzt, andererseits aber angenommen, es sei zugleich die ›Kraft‹, die aller sinnlichen Erfahrung das Gesetz gibt. Dem einen Konzept lag die Behauptung zugrunde, durch diese wirkende Kraft, die anagkh, geschehe alles gesetzmäßig; dem anderen jedoch, sie sei der nou@, der alles aufs Beste ordnet. Diesem Projekt fehlte mithin das einige ›Band‹, das das eine Subjekt als den epistemischen Grund mit der epistemischen Gesetzgebung verbunden hätte. Es setzte zwar voraus, dass das Eine es sei, das selbst gesetzgebend ist, konnte aber das eine Gesetz nicht finden, und fand daher (mindestens) zwei. Das ›Projekt Autonomie‹ verblieb daher im Antagonismus zweier Systeme und zerfiel in der Folge in unterschiedliche philosophische Richtungen. Diese Aporie haben wir dadurch erklärt, dass die griechische Epistemologie nicht nur ein Wissen vom immer Seienden, sondern 206 Augustin nennt sie »jene Kraft (firmitas), in der die Wahrheit nicht falsch sein kann.« (XV, 14, 23).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
435
Der dreieinige Gott
ein im Logos begründetes Erfahrungswissen zu konzipieren suchte; dass aber zwischen dem rein gedachten Seienden und dem sinnlich gegebenen Veränderlichen, zwischen dem logisch Konsistenten und dem empirisch Kontingenten, eine epistemologisch unüberbrückte Kluft blieb. Ob daher das Eine nach Art der anagkh herrscht oder nach Art des nou@, blieb unentscheidbar. Dieser Aporie wegen konnte der Christ Augustin dann den griechischen Philosophen vorhalten, sie haben kein Wissen begründet, sondern nur so viele Denksysteme aufgestellt, wie es Philosophen gab 207. Die griechische Philosophie suchte zwar Wissen zu begründen, konnte es aber nicht. Die Philosophen waren Denkende, keine Wissenden. 208 207 Am prononciertesten formuliert Augustin diese Kritik in »de civitate Die« XIX, 1 ff. Dort hält er der Philosophie, auf Varro rekurrierend, vor, dass sie auf die Frage, was »das Gute« sei, 288 verschiedene Antworten gebe. Auch wenn diese nicht alle gelehrt wurden, so hätten sie doch gelehrt werden können. 208 Diese epistemologische Aporie zeigt auch die Lehre Plotins, die Platons Philosophie systematisiert hat. Sie geht zwar vom Grundsatz aus, dass das Gute in allem herrscht, so dass das Wissen darin besteht, in allem das Gute zu erkennen. Aber was ist »das Gute«? Einerseits ist es das Eine, das als dieses nur negativ bestimmbar ist. Ihm gebührt, wie Plotin sagt, »kein Name, wenn mans denn aber benennen muss, so wird man es passend gemeinhin das Eine nennen, freilich nicht als sei es sonst etwas und dann erst Eines« (Plotin 1958, 73). Es ist das absolut Eine. Andererseits ist das Gute jedoch die Ursache von allem: »Alles Seiende ist durch das Eine ein Seiendes, sowohl das was ein ursprünglich und eigentlich Seiendes ist wie das was nur in einem beliebigen Sinne als vorhanden seiend bezeichnet wird« (ebd., 67; H. v. m.). Als solches ist es die unerschöpfliche Quelle alles Seienden, »die Notwendigkeit und das Gesetz der anderen Dinge« (ebd., 77), das relativ Eine. – Wie aber kann das Gute beides sein? Ist es gut, weil es das absolut Eine ist, dann kann es nicht auch die Ursache und das Gesetz aller anderen Dinge sein; denn als jenes ist es absolut; als dieses aber relativ. Ist das Gute hingegen gut, weil es die Ursache und das Gesetz aller anderen Dinge ist, dann kann es nicht, weil relativ, das absolut Eine sein. Ist schließlich das Gute gut, weil es beides ist, absolut und bezüglich, dann ist das Gute beides, aber nicht Eines. Plotin verbleibt in derselben Aporie des Einen, die Platon im ›Parmenides‹ aufgezeigt hatte. W. Beierwaltes hat in »Denken des Einen« das weitschichtige Werk Plotins zusammengefasst und vor allem die Grundstruktur seines Denkens rekonstruiert. Plotin, so Beierwaltes, schließt an eine Grundfrage der griechischen Philosophie an: die Frage »nach einer einigenden und begründenden Einheit in der Vielheit« (Beierwaltes 1985, 38). Seine Lehre bedenke das Erste als das Eine oder das Eine als das Erste in sich selbst, sowie dessen Bezug zum Vielen, als das Eine, das sich im Modus der Andersheit entfaltet. Differenz und Identität seien für diese Entfaltung des Einen zum All-Einen konstitutiv. »Bei sich selbst seiend (sunon autw)«, beschreibt Beierwaltes die Grundstruktur des plotinischen Denkens, »ist das Eine auf eminente oder absolute Weise ›immer schon‹ dasjenige, was nach seiner Entfaltung ihm gegenüber als Anderes, aber dennoch als auf es Bezogenes, eben als sein Anderes in sich besteht. So ist das Eine in Allem (dennoch) in sich selbst: pantacou estai ey’ eautou.« (52) – So differenzierend Beierwaltes die
436
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
Augustin hingegen, weil er das Problem der Wissensbegründung an den Glauben an den dreieinigen Gott und damit an die Wesensgleichkeit der drei Personen bindet, überwindet diese Aporie. Denn für ihn ist die wissensbegründende Instanz zwar gleichfalls das eine, von allem getrennte Subjekt, aber zugleich der dreieinige Gott. In dieser Dreieinigkeit jedoch ist das epistemische Gesetz keine Regel, die sinnlich gegebene Vorstellungen in Wissen transformieren soll, sondern ist – jenseits aller Regel – das ewige Wort Gottes 209. kreisförmige Bewegung des Denken des Einen im plotinischen System auch nachzeichnet, – was in der Darstellung zu kurz kommt, ist die epistemische Dimension dieses Denkens. Plotin greift nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Einem und Vielem wieder auf, sondern will mit seiner Lehre vom All-Einen auch ›diese Welt‹, die antikhellenistische Kultur, gegen ihre gnostischen, und wohl auch christlichen, Widersacher verteidigen. Er wandte sich gegen die, für die »von allem Irdischen … nichts … werthaft (ist), sondern ein Andres, nach dem sie dereinst einmal streben werden« (Plotin 1958, 173. – Vgl. auch: Ritter 1937, insb. 28). Den Anspruch, ›diese Welt‹ als im Prinzip »gut« darzustellen, kann Plotin aber von seinen eigenen Prämissen her nur einlösen, wenn er dem Denken des Einen das Gute als das Eine zugrunde legt. Denn nur dann repräsentiert das Denken des Einen zugleich »wahres Wissen«. Doch, so gefasst, stellt sich erneut die Frage: was ist dies Eine, durch das das Denken des Einen Wissen ist? Nehmen wir an, für Plotin ist dies Eine das ›bei sich selbst Seiende‹, das im Anderen als seinem Anderen in sich besteht, dann ist es das Denken des Einen: das im Anderen Beisichbleibende; nicht aber das Eine, das dieses Denken des Einen als Wissen begründet. Oder aber wir nehmen an, das Eine, das das Denken des Einen als Wissen begründet, ist für Plotin das absolut Eine, jenseits aller Bestimmtheit, dann kann es nicht Anderes, das Denken des Einen, als Wissen begründen. In epistemologischer Hinsicht überwindet also auch Plotin nicht die Aporie: entweder wird das wissenbegründende Eine gedacht, dann gerät man in den Zirkel, dieses Gedachtsein des Einen als Wissen begründen zu müssen; oder es wird dem Denken das absolut Eine vorausgesetzt, dann aber kann dieses Eine das Denken des Einen nicht als Wissen begründen. Zwischen dem unvordenklich Einen und dem Denken des Einen besteht eine unüberwindliche Kluft; und doch können nur beide zusammen, dies Denken als Wissen begründen. 209 In »de vera religione« bezeichnet Augustin noch das »Wort Gottes« als das »Gesetz (lex), … [das] völlig unwandelbar (omnino incommutabilis) ist« und das der Mensch durch den Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren finden kann: »Denn alles, was nach Einheit strebt, hat die Wahrheit zur Regel oder zur Form oder zum Vorbild, oder wie man es sonst wahrheitsgemäß ausdrücken mag. Denn sie allein besitzt die vollkommene Gleichheit mit dem, von dem sie ihr Sein empfing …« (Augustin 1983, XXXI, 58; 97 ff.) – Während Augustin hier noch beides, das ›relative Sein‹ des Gesetzes, das allem, was nach Einheit strebt, zur Regel dient, und dessen ›absolutes Sein‹ in der Gleichheit mit Gott verbindet, sagt Augustin in »de Trinitate« dann, dass »das Wort Gottes bestehen konnte, ohne dass ein Geschöpf existierte« (XV, 1, 20). Hier thematisiert er nicht, wie der menschliche Geist durch den Aufstieg vom Sichtbaren zum Unsichtbaren das unwandelbare Gesetz erkennt, sondern wie der allem Erkennen vorausgehende Glaube an den dreieinigen Gott auszulegen sei. Er bezeichnet als »Gesetz« (lex) nun die Gebote A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
437
Der dreieinige Gott
Dieses Wort jedoch klingt nicht ›draußen‹, sondern ist das dem Vater wesensgleiche Gesetz. Dieser Verankerung des epistemischen Gesetzes im dreieinigen Gottes wegen ist es für Augustin nichts von seinem Geltungsgrund Verschiedenes, sondern, in die Person des dreieinigen Gottes gleichsam ›eingeschlossen‹, eins mit seinem Grund. Diese Art innertrinitarischer Gesetzgebung, die Augustin damit vornimmt, kann freilich weder durch das Denken erfasst werden, das doch das Gesetz von seinem Grund unterscheidet, noch kann es aus der Erfahrung gewonnen werden, die nur Vergängliches zeigt. Sie setzt vielmehr dem Denken und der Erfahrung den Glauben an die Person des dreieinigen Gottes voraus, die als solche je schon die Einheit von Grund und Gesetz ist. Sie ist in ihrem unwandelbaren Fürsichsein der gleichsam ›verschlüsselte‹ Schlüssel des Wissens. Anders als in der Tradition der griechischen Philosophie ist für Augustin daher der Glaube an den dreieinigen Gott und das heißt, an die Wesensgleichheit der drei Personen, die Bedingung, unter der ein Wissen überhaupt möglich ist. Dieser Glaube ist insofern ›höher‹ als alles Denken und Erfahren und kann durch nichts begründet werden, weil durch ihn doch erst Wissen begründet wird. Eben dieser Glaube aber hat der griechischen Philosophie gefehlt. 210 b.
Die Unterordnung des Wissens unter den Glauben
Betrachtet man nun die Beziehungen der drei epistemischen Funktionen, die Augustin beschreibt, so scheint es, als wiederhole er nur, des Alten Testaments, insbesondere die mosaischen Gesetze (XV, 17, 30), nicht aber den Sohn Gottes. Das Gesetz ist für ihn jetzt nur noch der »Schatten der Wahrheit«; erst im Ewigen werde der Mensch »mit dem vom Schleier des Gesetzes – es ist der Schatten des Zukünftigen – entblößten Antlitz die Herrlichkeit des Herrn schauen« (XV 11, 20). 210 Aus kritischer Perspektive ist dieses Konzept der Untrennbarkeit der Funktionen von Grund und Gesetz freilich »dogmatisch« zu nennen. Während die griechische Philosophie der Aporie wegen eine Vielzahl von Lehren im Spannungsfeld zwischen dem »Materialismus« Demokrits und dem »Idealismus« Platons ermöglichte (Epikureer, Stoiker, Aristoteliker, Neuplatoniker etc.), ist mit Augustins ›Lösung‹ diese Vielfalt ausgeschlossen und nur die eine Lehre möglich, die in Jesus Christus als dem Sohn zugleich das Eine und unwandelbare ›Wort Gottes‹ weiß. – Der Unterordnung des Wissens unter den christlichen Glauben entspricht in historischer Hinsicht die – etwa zeitgleiche – Erhebung des katholischen Glaubensbekenntnisses zum römischen Reichsgesetz durch den Kaiser Theodosius. Sie markieren den Abschied von der Pluralität der ›heidnischen Antike‹ und den Eintritt in die Konkordanz des ›christlichen Mittelalters‹ (vgl. dazu Pfister 1972, 137–141).
438
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
was er über das Sein Gottes gesagt hat: so wie Vater, Sohn und Heiliger Geist ein unwandelbares Wesen sind, so sind sie in gleicher Weise ein Wissen 211 . Es sei nicht so, dass der Vater das Wissen erst durch den Sohn oder den Geist sei, oder der Sohn das Wort durch den Vater oder den Geist, oder der Heilige Geist die Kraft der Weisheit erst durch die beiden anderen, sondern »alle zusammen (sind) eine Weisheit …, wie ein Gott und ein Wesen« (XV, 6, 9). Und so wie Augustin die Einigkeit der drei Personen als Autoritätsverhältnis expliziert, so scheint es, als expliziere er dasselbe Verhältnis nur mit anderen Worten: auch wenn diese drei Ein Wissen sind, so unterscheiden sie sich doch funktional dadurch, dass das »Wort Gottes« und die »Kraft der Weisheit« nicht dasselbe bezeichnen wie dasjenige, dessen Wort und Kraft sie sind. So sei das Wort zwar verschieden von Gott, aber ihm zugleich wesensgleich, weil es nichts als dessen Wort sei. Es ist, wie Augustin sagt, die »geborene Weisheit« (VII, 2, 3), so dass für das Wort nichts anderes gilt als für den Sohn: das vom Wissen ewig gezeugte Wissen. Der »Geist« hingegen drücke als Eigenname die Kraft des untrennbaren Einesseins von Wissen und gezeugtem Wort aus; so wie die Person des Heiligen Geistes die Liebe sei, die aus Vater und Sohn zusammen hervorgeht, so sei der Geist die »von der Weisheit hervorgehende Weisheit« (XV 7, 12), worin Wissen und Wort Ein Wissen sind. Was also Augustin in onto-logischer Hinsicht von Gott als dem einen Wesen und den drei Personen gesagt hat, scheint er in epistemo-logischer Hinsicht nur zu wiederholen: Gott ist in seiner Dreieinigkeit der wissende Erzeuger seines ihm wesensgleichen Worts. Doch der Charakter der Wiederholung verschwindet, wenn man die Parallele von Sein und Wissen nicht nur als ein Verfahren der Analogie versteht, sondern als bewusst vollzogene Unterordnung des epistemologischen Problems unter die Auslegung des Trinitätsglaubens. Denn Augustin vergleicht nicht die epistemischen Funktionen des ›Grundes‹, des ›Gesetzes‹ und der ›Kraft‹ mit den drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, sondern ersetzt sie durch die Ausdrücke »Gott«, »Wort« und »Geist«. Augustin, so deuten wir diese Unterordnung, sucht nicht, problemlösend, nach dem autonomen Subjekt, das die drei epistemischen Funktionen vereinigt, 211 Vgl.: »In der wunderbaren Einfachheit dieser Natur ist ja nicht etwas anderes das Weisesein, etwas anderes das Sein (Wesen), sondern was das Weisesein ist, das ist auch das Sein …« (de Trin. XV, 13, 22)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
439
Der dreieinige Gott
sondern setzt den dreieinigen Gott als die epistemische Autorität voraus und legt das innertrinitarische Verhältnis von Vater, Sohn und Geist epistemologisch aus. Daher bilden in der Person des dreieinigen Gottes die drei epistemischen Funktionen eine untrennbare Einheit. Mit dieser Unterordnung der Epistemologie unter den Glauben an den dreieinigen Gott ändern sich jedoch die Begriffe, die die epistemischen Funktionen erfassen. Denn unter dieser Bedingung kann die wissensbegründende Instanz nicht mehr das Eine sein, das weiß, sondern ist in der Person des Vaters das Wissen, das sich im Wort ausspricht; das epistemische Gesetz ist nicht mehr die Regel, nach der das Erfahrungswissen statthat, sondern in der Person des Sohnes das ewige Wort Gottes; und die ›epistemische Kraft‹ wirkt nicht auf anderes oder in anderem, sondern ist in der Person des Geistes das ›Band‹, das Wissen und Wort eint. ›In Wahrheit‹, so deuten wir diese augustinische Subsumtion, liegt den epistemischen Funktionen des Grundes, des Gesetzes und der Kraft das personale Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist zugrunde. Daher ist das Subjekt, das Wissen begründet, der dreieinige Gott, der als die eine und unwandelbare Person das Wissen hat, das er selbst ist. 2.
Das Sprechen des Wortes
Auf der Grundlage dieser Lösung des epistemologischen Problems durch den Glauben erscheint es nur als folgerichtig, wenn Augustin die drei epistemischen Funktionen nicht auf das Denken bezieht, sondern auf das Sprechen; denn Gott denkt nicht, sondern er spricht. Zwar nennt Augustin den Grund des Wissens, das Wissen selbst, normalerweise einfach »Gott«; es dürfte jedoch aus Gründen der Rekonstruktion zulässig sein, wenn wir den, der das Wort spricht, als den »Sprecher« bezeichnen 212 . Das Gesetz hingegen begreift Augustin nicht als den »logo@« oder die »ratio«, sondern als das »verbum«, das Wort, das nicht der Sprecher ist, sondern das, was der Sprecher spricht. Und die Kraft schließlich ist nicht der »nou@« oder die »anagkh«, sondern lässt sich als das ›Band‹ bezeichnen, durch das dieses Wort als Wort Gottes ›wahr‹ ist. Diese sprachpragmatische Struktur des Wissens, die Augustin 212 Vgl.: »Wort besagt ja keine in sich ruhende Wirklichkeit, sondern nur eine Beziehung zu dem, der spricht, wie Sohn zum Vater.« (de Trin. VII, 2, 3)
440
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
konzipiert, lässt sich – auch wenn er in dieser Hinsicht nicht so konsequent verfährt wie bei der Beschreibung der personalen Struktur – in ihren wesentlichen Zügen und für unseren Zweck hinreichend rekonstruieren. a.
Die Einheit des Sprechers mit seinem Wort
Betrachtet man zunächst das von Augustin dargestellte Verhältnis des Sprechers zu seinem Wort, so ist ausgeschlossen, dass Gott als der Sprecher das Wort vorfindet. Denn so wie der Vater nicht durch die Weisheit weise ist – weil sonst »nicht er die Weisheit, sondern die Weisheit … ihn gezeugt (hätte)« (VII, 1, 2) –, so wird auch nicht der Sprecher erst durch den Gebrauch des Wortes zum Sprechenden. Das Wort Gottes kann daher nicht vorhanden sein, etwa als das Element einer Sprache, ohne dass es gesprochen wird; und umgekehrt kann Gott als der Sprecher nicht sein (etwa schweigend), ohne das Wort zu sprechen. Das Wort Gottes ist für Augustin also kein schon vorhandener bedeutungsvoller Code, der durch das Sprechen des Sprechers aktualisiert würde. – Ebenso ist ausgeschlossen, dass Gott als der Sprecher des Wortes etwas anderes wäre als Sprecher. Es sei daher falsch anzunehmen, Gott habe erst den Gedanken und spreche dann das Wort aus, oder das Wort sei das Resultat oder Produkt des Denkens Gottes. Denn auf das Wort Gottes treffe weder zu wie für das menschliche Wort, dass draußen erklingt, was drinnen leuchtet (XV, 10, 19), noch, dass es durch das Denken geformt und gestaltet sei (XV, 15, 25). Dieses Wort ist für Augustin also weder das äußere Zeichen (signum) eines innerlich Gedachten noch ein Begriff (notio), der durch das Denken geformt ist 213 . Denn in beiden Fällen würde 213 In seiner Einleitung zu »de Trinitate« (LVI) vertrat M. Schmaus die Auffassung, Augustin bezeichne mit »Wort Gottes« keine Rede, sondern das ›geistige Wort‹. Es sei »das innere Wort, das Wort des Geistes. Es ist der geformte und gestaltete Gedanke«. Darauf lässt sich freilich mit Recht fragen, warum dann »jenes göttliche Denken nicht schlicht ›Denken‹ heißt, sondern in seinem Namen an die unreine, verwirrende, sinnliche Rede der Menschen erinnert.« (Flasch 1980, 126). Die Unterscheidung von ›innerem Gedanken‹ und ›äußerer Rede‹ trifft offenbar nicht das Gemeinte. Denn das Wissen Gottes besteht für Augustin eben nicht im Denken des Gedankens, sondern im Sprechen des Wortes. Der Sohn ist für ihn nicht der ewige Gedanke, den Gott denkt, sondern das ewige Wort, das er spricht; Gott denkt nicht, er spricht. Augustin weist es ab, das Wort Gottes als Gedanke Gottes aufzufassen; denn das Denken sei eine gestaltende Bewegung, durch die Gestaltbares gestaltet wird. In Gott aber sei weder Gestaltbares noch Bewegung, sondern nur einfach Gestalt: »Nicht also heißt der Sohn Gottes Gedanke
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
441
Der dreieinige Gott
mit dem Wort »Wort« nur das geschaffene Wort verstanden, das als ein solches auf anderes verweist, das nicht es selbst ist: auf seine Bedeutung oder den Gedanken. Da das Wort Gottes jedoch nichts Geschaffenes sei, verweist es auf nichts. Es kann daher nicht mehrdeutig oder dunkel sein, sondern ist eindeutig und klar, weil es nichts als das Wort ist, das Gott spricht. Zwischen dem Wort Gottes und Gottes Sprechen des Wortes kann daher keine Differenz angenommen werden. Weil also das Wort Gottes nicht geschaffen ist, sondern es als das von Gott gezeugte Wort aufzufassen ist, müsse es als eines mit dem verstanden werden, der es spricht. Denn da der Sohn nichts ohne den Vater ist, der ihn zeugt, und der Vater nichts ohne den Sohn, den er zeugt, der Vater mithin schlicht und ewig der Erzeuger seines Sohnes ist, kann auch das Wort Gottes nichts sein ohne den, der es spricht, und der Sprecher nichts ohne das Wort, das er spricht. Daher sind im Sprechen des Wortes der Sprecher und das Wort vereint, und sind das Sprechen durch den Sprecher und das Gesprochensein des Wortes untrennbar Eines. Was also hinsichtlich des Seins Gottes die ewige Zeugung des Sohnes durch den Vater ist, ist hinsichtlich des Wissens Gottes das ewige Sprechen des Wortes durch den Sprecher. 214 Das Wissen Gottes ist daher – ewig das Wort sprechend. Diese sprachpragmatische Deutung des epistemischen Gesetzes als Wort Gottes schreibt dem Sprechen (loqui) und dem Wort (verbum) offenbar diejenige Rolle zu, die in der griechischen Epistemologie das Denken (noein) und der logo@ eingenommen hatte. Da nun aber für Augustin das Gesetz nichts von seinem Grund Verschiedenes, nicht das Zeichen eines Anderen sein kann, ersetzt das Wort, was für die griechische Philosophie der »logo@« war. Durch diese Substitution aber ist es so, dass Gott nicht der logo@ oder die ratio zuGottes, sondern Wort Gottes. Unser Denken freilich ist, wenn es an einen Gegenstand gerät, den wir kennen, und wenn es von daher geformt wird, unser wahres Wort. Und deshalb muss man einsehen, dass das Wort Gottes ohne Denken Gottes (uerbum dei sine cogitatione dei) besteht, so dass man in ihm eine einfache Gestalt sieht, die nichts Gestaltbares besitzt, das auch ungestaltet sein könnte.« (de Trin. XV, 16, 25; H. v. m.). Augustin identifiziert nicht – nach Art der Griechen – das »Wort Gottes« mit dem »Gedanken Gottes«; vielmehr ersetzt er den Ausdruck »Denken Gottes« durch das »Sprechen Gottes«, den »Gedanken« durch das »Wort«. – Vgl. auch: Kuypers 1934, 75 f. Obwohl diese Arbeit dem Wortbegriff Augustins gewidmet ist, wird der Begriff des »Wort Gottes« leider nur en passant erwähnt. 214 Vgl: »Mithin zeugte der Vater, indem er gleichsam sich selbst aussprach, sein ihm in allem gleiches Wort.« (de Trin. XV, 14, 23)
442
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
kommt, sondern dass er selbst das Wort ist, das er hat, weil im Sprechen des Wortes das Gesetz untrennbar eins ist mit seinem Grund: das Wort Gottes ist Gottes Wort. 215 Mit dieser Ersetzung des Denkens durch das Sprechen bzw. des Gedankens durch das Wort ordnet Augustin die Epistemologie jedoch nicht nur der Theologie unter, sondern bindet sie zugleich in die lateinische Tradition ein. Denn so wie seine Trinitätslehre das »untrennbare Zusammen« der drei Personen im Rückgriff auf die römische Idee der auctoritas expliziert, so ist es für ihn im Epistemologischen nicht das reflektierende Denken, das Wissen begründet, sondern die verbindliche Handlung des einen Gottes. Diese Handlung ist freilich keine geschichtliche Tat – wie die Gründung Roms 215 Es liegt nahe zu fragen, was das Wort sei, das Gott ewig spricht. Antwortet man mit dem Neuen Testament, es sei der Sohn, so gibt man auf die lexikalisch gemeinte Frage eine kausal-genetische Antwort: das Wort Gottes sei eben das, was der Vater zeugt. Antwortet man hingegen mit dem Alten Testament, wonach Gott durch das Wort schafft, so gibt man eine teleologische Antwort: das Wort Gottes sei eben das, wodurch alles geworden ist. Gegen diese Erklärung wendet Augustin ein, dass zwar in der Tat der Anfang der Welt das Wort Gottes ist, dass dieses aber bestehen konnte, »ohne dass ein Geschöpf existierte« (XV, 11, 20). Denn, so das Argument, wäre das Wort Gottes zugleich der Schöpfungsanfang, so wäre entweder das Geschaffene so ewig wie das Wort Gottes oder dies Wort wäre so zeitlich wie das Geschaffene. Dies aber widerspricht dem (nikaianischen) Glaubensbekenntnis, nach dem das Wort Gottes gezeugt, nicht geschaffen, die Welt aber geschaffen, nicht gezeugt sei. Daher kann auch die teleologische Erklärung die Frage nicht beantworten. Antwortet man schließlich mit Augustin, das Wort Gottes sei das, worin nur Wahrheit ist, so lässt diese Antwort unbefriedigt, weil man ja gerne wüßte, welches dieses Wort denn sei. Augustin gibt allerdings einen Hinweis: das Wort der menschlichen Sprache »ja, ja; nein, nein« (est, est; non, non) bilde, so gut es gehe, das ewige Wort Gottes ab (ebd.). Schließt man aus diesem »Abbildhafte(n) des geschaffenen Bildes« (ebd.) auf das »geborene Bild«, so besteht das Wort Gottes offenbar in der ursprünglich-ewigen Unterscheidung von sein und nichtsein bzw. wahr und falsch. Der Vater, so Augustin, »zeugte …, indem er gleichsam sich selbst aussprach, sein ihm in allem gleiches Wort. Er hätte sich ja nicht vollständig und vollkommen ausgesprochen, wenn er weniger oder mehr in seinem Worte ausgesprochen hätte, als in ihm ist. Hier erfüllt sich im höchsten Maße das Wort: ›Ja, ja; nein, nein.‹ Deshalb ist dies Wort wahrhaftig Wahrheit. Denn was immer in dem Wissen ist, von dem es gezeugt ist, das ist auch in ihm; was aber in jenem nicht ist, das ist auch nicht in ihm. Einen falschen Inhalt kann dieses Wort nie haben, weil es sich unwandelbar so gehabt, wie sich jener gehabt, von dem es ist« (XV, 14, 23). In diesem Sinne hat das Wort Gottes eine rein epistemologische Bedeutung: das Wort, das Gott spricht, trennt das Wissen vom Nichtwissen; und dieses Trennen selbst ist wahr, weil in ihm Gott, der das Wissen selbst ist, sich ausspricht. Das ewige Wort Gottes kann daher nicht lügen, »weil in ihm nicht sein kann ja und nein, sondern nur ja, ja; nein, nein.« (XV, 15, 24). Es ist – in unserer Sprache – der ›Code‹, der festlegt, was Wissen ist, weil es das Wissen selbst ist.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
443
Der dreieinige Gott
durch die maiores oder der Kirche durch Christus und die Apostel –, sondern ist das ewige Sprechen Gottes, das die epistemische Verbindlichkeit herstellt. Aber es ist eben nicht, wie in der griechischen Philosophie und Theologie der logisch-diskursive Fortgang vom Einen zum anderen, vom auton zum eteron, vom Vater zum Sohn, vom Einen zum Gesetz, der die Wahrheit und Verbindlichkeit bewirkt, sondern der lokutionäre Akt des ›Wortzeugens‹ Gottes, der diese Wahrheit und Verbindlichkeit bewirkt. Wir werden dies im Weiteren näher betrachten. b.
Die Wahrheit des Wortes
Was die dritte Funktion, die epistemische Kraft, betrifft, so fällt es angesichts des ›innigen‹ Verhältnisses des Sprechers zu seinem Wort, das Augustin beschreibt, schwer, ihr im Rahmen dieser sprachpragmatischen Deutung den rechten trinitarischen Ort zuzuweisen. Denn während es im Rahmen der Rede von Vater und Sohn, von Erzeuger und Gezeugtem, Sinn macht, von der Liebe als einem Dritten zu reden, in dem beide verbunden sind, scheint der Ausdruck »Geist« für diese Kraft nur zu wiederholen, was über die Einheit von Sprecher und Wort im Sprechen schon gesagt wurde. So fehlt denn auch bei Augustin eine deutliche sprachpragmatische Bestimmung dieses Dritten. Es dürfte jedoch nicht falsch sein, den »Geist« auch hier nicht als ein hinzukommendes Drittes aufzufassen – etwa als den Geist, der zum Buchstaben noch hinzukommt –, sondern als die Bestätigung und Beglaubigung, dass Gott und das Wort ›in Wahrheit‹ Ein Wissen sind. Als dieses Dritte drückt der Geist die einfache Glaubensgewissheit aus, dass das Wort Gottes zugleich Gottes Wort ist, dass also in dem Wort, das Gott spricht, in der Tat das Wissen ist, das Gott ist. So gesehen lässt sich der Heilige Geist als die eine »epistemische Sache« verstehen, die der Sprecher und das Wort gemeinsam hervorbringen: die Wahrheit, worin Gott als das Wissen und das Wort, das er spricht, unauflöslich Eines sind. 216 Betrachtet man diese innertrinitarische Zuordnung des Geistes 216 Das Wort kann daher nicht lügen: »Und wenn wir gestehen, dass wir lügen, dann sagen wir die Wahrheit. Wir sagen dabei nämlich, was wir wissen. Wir wissen ja, dass wir gelogen haben. Das Wort aber, das Gott ist und das mächtiger ist als wir, kann dies nicht« (de Trin. XV, 15, 24). Wenn man dieses ›Nicht-Lügen-Können‹ nicht als Mangel, sondern mit Augustin als das Vermögen (potentia) dieses Wortes auffassen, dann lässt sich sagen: das ›Nicht-Lügen-Können‹ ist die ›Sache‹, die das Wort mit Gott eint.
444
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
als der dritten epistemischen Funktion aus einer kritisch-vergleichenden Perspektive, so beendet das augustinische Wissensbegründungsmodell in der Tat die Zeit der antiken Epistemologie und beginnt einen neuen Diskurs, der die Frage nach dem Wissen auf den Glauben an denjenigen dreieinigen Gott gründet, den Augustin gemäß der Formel »una essentia – tres personae« expliziert hat. Denn mit der Einbindung des Heiligen Geistes in das unwandelbare Wesen Gottes äußert sich die epistemische Kraft des Geistes nicht mehr in der, allemal geschaffenen, Seele des Menschen, wo sie über das Meinen hinaus ein Wissen bewirkt, sondern ist in der Wesensgleichheit mit Vater und Sohn nichts als die Bestätigung der Wahrheit, die dem Wort Gottes innewohnt. Alle drei epistemischen Funktionen sind so in der einfachen und unwandelbaren Einheit Gottes eingeschlossen, der als der Sprecher des Worts allein Wissen ist. Mit dieser Unwandelbarkeit der »epistemischen Sache« ist ausgeschlossen, dass dem Menschen, was antiker Konsens war, das Vermögen der Einsicht von Natur zukommt, und er von ihm Gebrauch machen soll, um in seinen Vorstellungen selbst die Verbindlichkeit herzustellen. Denn in der Epistemologie Augustins kommt der menschlichen Seele das Vermögen der Einsicht allein durch die Gnade Gottes zu; sie besitzt es aber nicht von Natur, weil es allein dem Wort Gottes zukommt, das eben dieser heilige Geist ist. Was der ›frühe‹ Augustin als Philosoph noch erstrebt hatte, durch die Erkenntniskräfte der auctoritas und der ratio zur Erkenntnis dessen zu gelangen, was der Ursprung von allem ist, schließt der ›späte‹ Augustin als Theologe aus: der endliche menschliche Geist ist aus sich zur Erkenntnis nicht fähig, weil der Heilige Geist, wesensgleich, die Sache des Wortes Gottes ist. Daher sind dem Menschen sowohl die Einsicht in das wahrhaft Gute als auch das Handeln nach dem Guten aus eigener Kraft verwehrt; sie sind nur als das »Geschenk Gottes« verstehen, der in der Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist allein wissend ist 217 . Mit dieser Einbindung des Geistes ins Wesen des dreieinigen Gottes beendet Augustin das antike Streben nach der Er217 Würde man aus dieser Grundlegung des Wissens den Schluss ziehen, Augustin behaupte, Gott schenke nicht mit Gründen, sondern willkürlich, wäre nicht gerecht, sondern despotisch, so vollzöge der Schluss einen unstatthaften Ebenenwechsel. Denn aus dem Glauben an das unwandelbare Wissen Gottes folgt, dass der Mensch nicht weiß, wie Gott schenkt. Würde also Augustin behaupten, wie gesagt wurde, Gott entscheide grundlos und willkürlich, so nähme er ein Wissen an, das er zugleich doch ausschließt. Nach Augustin, so deuten wir seine Gnadenlehre in diesem Kontext, vermag der
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
445
Der dreieinige Gott
kenntnis und macht, im lateinischen Westen, den Weg frei für einen Diskurs, dem der Glaube an den dreieinigen Gott als Bedingung von Erkenntnis vorausgesetzt ist. 3.
Autonomie des Wissens – Autorität der Person
Augustins sprachpragmatische Lösung der epistemologischen Frage legt es nahe, zur Bezeichnung dieser Art selbstbezüglicher Wissensstruktur auf den Begriff der Autonomie zurückzugreifen. Denn gerade weil Augustin das Denken durch das Sprechen ersetzt, lässt sich Gott in seiner Dreieinigkeit als das selbstgesetzgebende Subjekt verstehen. Sprechend gibt Gott das Gesetz, das daher nichts von ihm Verschiedenes, sondern sein Gesetz ist. Das Subjekt, das weiß, und das epistemische Gesetz, das es gibt, codieren untrennbar ein Wissen. Was die griechische Epistemologie als ›Projekt‹ zwar verfolgt hatte, aber nicht einlösen konnte, weil sie in der Antinomie der Gesetzgebungen endete, löst Augustin ein: Sprechend sind das unwandelbar Eine als epistemischer Grund und das epistemische Gesetz nicht verschieden, sondern ein autonomes Subjekt. Doch diese Auflösung der Antinomie beruht auf Voraussetzungen. Denn Augustin kann nur sagen, das epistemische Gesetz heiße nicht der »Gedanke Gottes, sondern Wort Gottes«, und man könne nicht vom »Denken Gottes« (cogitatio Dei) sprechen, damit das Wort nicht »gleichsam als etwas in Gott Kreisendes« (quasi volubile in Deo) erscheine (XV, 16, 25), weil er das epistemologische Problem der Theologie und damit die ›Macht des Denkens‹ der ›Kraft des Glaubens‹ unterordnet. Augustin gibt keine Antwort auf die Fragen, warum das von allem getrennte Subjekt sich überhaupt zur Gesetzgebung bestimmt, und warum es sich dieses Gesetz gibt. Er behauptet schlicht die untrennbare Einheit von Subjekt und Gesetz, weil nur dies dem katholischen Glauben entspricht. Diese Art der Selbstgesetzgebung ist daher nicht selbstbezüglich und nicht durch das Denken erschlossen und begründet, sondern beruht auf dem Glauben an Gott als der Person, in der das Bezügliche, Gott und das Wort, eines Wesens sind. Damit aber ist das Ideal der Autonomie, das die griechische Epistemologie zu erreichen suchte, dadurch verwirklicht, Mensch zu glauben und soll, so lange er lebt, nach Erkenntnis streben und hoffen; aber er kann nicht wissen. – Vgl. McGrath 1983, 312–319.
446
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
dass ihm die römische Idee der auctoritas vorausgesetzt ist. Denn es ist eben die Idee einer solch unbefragten Urheberschaft, die garantiert, dass das Wort, das Gott spricht, niemals verschieden ist von Gott selbst, weil er in ihm selbst spricht. a.
Der Handlungscharakter des Wortes
Dieser Begründungszusammenhang wirft auch Licht auf den Charakter, den das Wort Gottes für Augustin hat. Denn weil das Wort eins ist mit seinem Sprecher, kann es nicht den Charakter eines bedeutungsvollen Zeichens haben, das der geäußerte Ausdruck des inneren Gedankens ist, da so das Bezeichnete etwas anderes wäre als das Wort und nicht die Wesensgleichheit mit dem Sprecher hätte. Das Wort kann aber auch nicht als Befehl oder Gebot verstanden werden, in dem sich der Wille Gottes zeigte. Denn auch in diesem Fall hätte das Wort Gottes den Charakter eines Zeichens: es wäre der sprachliche Ausdruck, der den Willen Gottes manifestiert. So aber bliebe der Sprecher gleichsam ›hinter‹ dem Wort verborgen und beide wären gleichfalls nicht eines Wesens. Daraus aber folgt, dass das Wort Gottes für Augustin nicht den Charakter der Repräsentation haben kann, weder des Gedankens noch des Willen, weil es so von dem, was es repräsentiert, verschieden wäre. Um den Charakter dieses Worts angemessen beschreiben zu können, wollen wir gleichfalls auf den Begriff der auctoritas zurückgreifen, nach dem das Wort bzw. das Sprechen als eine ursprüngliche Handlung verstanden werden kann. So wie in römischer Tradition das Wissen den Personen zugesprochen wurde, die in ihrer Person Denken und Handeln in einer Weise vereinigt haben, die keine Differenz zwischen beiden anzunehmen erlaubt, die also aufgrund ihrer Handlung selbst auctoritas besitzen, so lässt auch Augustin im Sprechen des Wortes keine Differenz zwischen innerem Denken und äußerem Sprechen zu. Es ist die Sprechhandlung selbst, durch die das Wort Gottes für Augustin Gottes Wort ist. Und so wenig für die Römer die maiores wissend waren, weil sie – wie nach Art der Griechen – ›die Wahrheit‹ erfasst oder ›das Beste‹ gewollt hatten, sondern weil die Römer in ihnen die Urheber der ›guten Sache‹ anerkannten, so wenig ist für Augustin der dreieinige Gott wissend, weil er denkt oder will, sondern weil er handelnd das Wort spricht 218 . Das Wort 218
Wenn für Augustin die epistemisch verbindliche Handlung nicht mehr das Erbauen A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
447
Der dreieinige Gott
Gottes hat daher den Charakter einer Handlung, die schlicht durch sich selbst verbindlich ist. In ihr lässt sich nichts Inneres und Äußeres unterscheiden; sie ist das Wissen selbst. Mit dieser Einbindung der sprachpragmatischen Wissensstruktur in die Tradition des römischen Denkens lässt sich zum einen nachvollziehen, dass der ›späte Augustin‹ das Wort Gottes nicht mehr – wie noch in »de vera religione« – als das Zeichen auffasst, aus dem das Wesen Gottes zu erschließen sei, weil dies Verständnis doch dem Glauben an die Wesensgleichheit widerspricht. Zum anderen aber lässt sich mit dieser Einbindung Klarheit darüber gewinnen, dass auch für den ›späten Augustin‹ – trotz mancher Formulierungen – das Wort Gottes nicht den Charakter eines Befehls haben kann, weil die Differenz von Wort und Wille gleichfalls diesem Glauben widerspricht. Augustins Begriff vom Wort Gottes entzieht sich gerade dieser Alternative. Es hat weder eine deiktische Funktion, nach der es auf anderes verweist, noch eine deontische Funktion, in der sich ein normgebender Wille ausdrückt. Es besitzt vielmehr einen autoritativen Charakter, so dass das Wort seine Verbindlichkeit allein dadurch erhält, dass der Sprecher es spricht. Dieses Charakters wegen aber ist das Wort Gottes selbst die epistemische Kraft, durch die es ohne Begründung und ohne Zwang und daher schlechthin Verbindlichkeit bewirkt. Im Wort-Sprechen ist das Wort nichts von Gott Verschiedenes, auf das es verweist, sondern eins mit ihm, das Wissen selbst. 219 der res publica, sondern das Sprechen des Worts ist, so lässt sich diese Differenz aus den kulturellen Veränderungen erklären, die zur Abwertung des Bauens (cultura) zugunsten der Rede (oratio) geführt haben. – Zur Bedeutung der Rede im römischen Reich siehe insbesondere: Marrou 1995; auch Oesterreich 1994, 88–101. 219 Gegen diese Deutung des Worts Gottes als einer grund- und zwanglos wirkenden Macht lässt sich einwenden, dass Augustin etwa in »de magistro« von Christus als dem ›inneren Lehrer‹ spricht, der zur Wahrheit hinführt, und dem Wort Gottes in den »Confessiones« den Charakter des Befehls zuschreibt: »Da, quod iubes, et iube, quod vis.« (X, 29). Nicht zuletzt dieser Satz trug zu dem Bild unantik-christlicher Selbstverachtung bei, das F. Nietzsche dann so beredt beschrieben hat: »die Mischung demütiger Servilität mit einer hoffärtig-pöbelhaften Zudringlichkeit, mit der sich z. B. der heilige Augustin in seinen Confessionen vor Gott wälzt, erinnert daran, dass der Mensch vielleicht nicht allein unter den Tieren das religiöse Gefühl hat. Der Hund hat für den Menschen ein ähnliches ›religiöses Gefühl‹.« (zit. nach: Marrou 1991, 164).– Zu Augustins Begründung der Gewalt siehe: Epistola 95, 3–4; 185, 6–7. Vgl. auch: Flasch 1980, 164–172. Wenngleich sich dies unbestreitbar bei Augustin findet, so geht es uns hier um den Charakter des unwandelbaren Wortes selbst. Für Augustin nimmt es den Charakter eines hindeutenden Zeichens bzw. eines zwingenden Befehls erst unter den zeitlichen
448
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
b.
Die Differenz des Wortes Gottes und der menschlichen Sprache
Aus dieser Einordnung des Wortes Gottes in die unwandelbare Person des dreieinigen Gottes, die Augustins Trinitätslehre vollzieht, folgt nun aber, dass die Wörter der menschlichen Sprache niemals hinreichen, das ewige Wort zu erfassen. Zwar repräsentieren die biblischen Schriften für Augustin die wahre Lehre und waren ihre Autoren schreibend vom Heiligen Geist inspiriert; für den menschlichen Geist jedoch verweisen ihre Wörter als Zeichen immer nur wieder auf Zeichen. Zwischen dem Bezeichnenden der biblischen Schriften und dem Bezeichneten, dem ewigen Wort Gottes, sieht Augustin daher eine für das menschliche Erfassen unüberwindliche Kluft 220 . DieBedingungen der sündhaften Natur des Menschen an. Erst im Zustand der Gottesferne kann das Wort Gottes als Zeichen dienen und muss als ein Befehl verstanden werden. Wie ersichtlich, geht es uns jedoch um den Charakter, den Augustin dem ›ewigen Wort‹ Gottes zuschreibt, das der Homousieformel des christlichen Glaubensbekenntnisses entsprechend weder als ein »Zeichen für …« noch als ein »Befehl zu …« verstanden werden kann. 220 Trotz der Sprachpragmatik ist Augustin zum Ahnherr einer ›naiven‹ Semantik avanciert. Am Beginn seiner »Philosophischen Untersuchungen« zitiert L. Wittgenstein aus den »Bekenntnissen« Augustins, in denen dieser beschreibt, wie er als Kind sprechen gelernt habe (I, 8). Diese Beschreibung gebe ein bestimmtes Bild vom »Wesen der menschlichen Sprache«, wonach die Wörter Gegenstände benennen. In diesem Bild fänden wir die Wurzeln der Idee: »Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.« (Wittgenstein 1971, 15). Und sicher ist es nicht falsch, wenn man annimmt, dass Wittgenstein mit diesem Anfangszitat Augustin zum Ahnherrn der eigenen Sprachtheorie macht, die er jetzt kritisiert (vgl. Fann 1971, 65 ff.). Doch diese Idee, von der Wittgenstein sagt, sie sei die Augustins, stimmt mit unserer Interpretation nicht überein, nach der für Augustin das Wort keinen Gegenstand bedeutet. Wie ist diese Differenz zu erklären? Die einfache Erklärung ist: Wittgenstein hat sich geirrt. Augustin gibt im angeführten Zitat kein Bild vom »Wesen der menschlichen Sprache«, sondern beschreibt, wie Kinder sprechen lernen, nämlich dadurch, dass Erwachsene durch allerlei Gebärden und Laute das Kind dazu bringen, bestimmte Dinge, die es sieht, mit bestimmten Lauten und Lautfolgen zu verbinden. Will man darin überhaupt eine Theorie der Sprache sehen, dann gründet sie nicht in der Idee der Korrespondenz von Wort und Gegenstand, sondern in der Funktion, dass der Sprecher sein Inneres (Vorstellungen, Gefühle, Wünsche oder Gedanken) ausdrückt und der Umgebung mitteilt (siehe auch: de doctrina christiana, II, 2, 3). Auch wenn der ›frühe Augustin‹ der Ansicht war, dass Wörter Gegenstände benennen, so hatte er schon in »de magistro« – lange vor den »Bekenntnissen« – kein solches Vertrauen mehr in die Macht der Wörter. Hier schreibt er, dass die Wörter der menschlichen Sprache keine Gegenstände bezeichnen, sondern dass diese im Inneren zu suchen seien: »Über alle Gegenstände unserer Erkenntnis aber befragen wir nicht die Wörter, die außen ertönen, sondern die Wahrheit im Inneren, die unseren Geist lenkt, obgleich A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
449
Der dreieinige Gott
se Schriften, bemerkt er, seien mit Absicht dunkel gehalten, so dass es für die menschliche Erkenntnis keine ›richtige‹, wahre und verbindliche, Deutung des Wortes Gottes gebe, sondern immer nur das fortwährende Bemühen, den in den Schriften intendierten Sinn (sententia) zu erschließen. 221 Auf der Grundlage dieser ›epistemologischen Differenz‹ zwischen dem ewigen Wort Gottes, das das Wissen selbst ist, und den geschaffenen Wörtern der menschlichen Sprache, die immer nur verweisen, wendet Augustin sich sowohl gegen die gelehrten Bemühungen, aus den biblischen Schriften durch Vernunft das Wesen Gottes zu erschließen und dadurch an die Stelle des Glaubens die Einsicht zu setzen, als auch gegen den Glaubenseifer, in den Schriften unmittelbar den Willen Gottes zu erkennen. In seiner Dreieinigkeit ist Gott selbst für Augustin das zu glaubende Geheimnis, das die menschliche Vernunft zu erkennen strebt, von ihr aber nicht zu erkennen ist 222 . Mit dieser Trennung des Wortes Gottes von der menschlichen Sprache und der Einbindung der drei epistemischen Funktion in das allein göttliche Wissen entfernt Augustin Gott nicht vom Menschen, wie heilsökonomisch oft eingewandt wurde. Er nimmt vielmehr dem Christentum sowohl das Schweifende, Unsichere und Zweifelnde, das entsteht, wo der Glaube auf die epistemische Kraft der menschlichen Rede und der reflexiven Vernunft gegründet wird, als auch das wir vielleicht durch die Wörter dazu angeregt werden.« (de magistro, 11, 38; vgl. auch: Kuypers 1934, VI. Kap.: Zeichen, Institut und Kulturbegriff, 77–86; Marrou 1995, 295 f.). – Nun zieht Augustin aus dieser Unzulänglichkeit der Wörter, Dinge zu benennen, freilich nicht die Konsequenz Wittgensteins, ihr Wesen sei nur ihr Gebrauch, sondern deutet sie moraltheologisch. In »de genesi contra Manichaeos« II, 4, 5 erklärt er die unüberbrückbare Differenz zwischen dem sinnlich-äußeren Wort und seiner Bedeutung als Folge und Ausdruck der Sünde, d. h. der Entfernung des Menschen vom ewigen Wort Gottes (vgl. Flasch 1980, 121–126). Ohne diese Theorie der menschlichen Sprache hier weiter zu vertiefen, so ist doch klar, dass sie nicht am Vorbild des kindlichen Lernens orientiert ist, sondern aus der von Augustin angenommenen Differenz der menschlichen Sprache zum ›ewigen Sprechen Gottes‹ zu verstehen ist. 221 Vgl.: Pollmann 1996. 222 »Augustin plädiert also für eine offene, pluralistische Methode der Textauslegung. Seine Position kann insofern als skeptisch bezeichnet werden, als hier die menschliche Fähigkeit, mittels des Texts zur Erkenntnis der göttlichen sententia vorzudringen, als beschränkt gesehen wird; sie aber doch dogmatisch in dem Sinn, dass von der Existenz der Wahrheit ausgegangen wird, ja dass diese behauptet wird. Dieses Faktum muss der Grundsatz jeder Interpretation sein, da jede sententia des Interpreten daraufhin angelegt sein muss, die sententia des biblischen Autors zu erschließen, um sich diese zu eigen machen zu können.« (Fuhrer 2004, 153 f.)
450
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Augustin: Die Dreieinigkeit Gottes
zwanghaft Unbedingte, das entsteht, wo in den Sätzen der menschlichen Sprache die epistemische Kraft des Wortes Gottes erkannt wird. Beides, so Augustins Einwand, macht die Gewissheit des Glaubens abhängig: das eine Mal vom Vermögen des Menschen, diskursiv zur Einsicht ins Wesen Gottes zu gelangen, das andere Mal vom Maß der inneren Kraft, gewissen Sätzen als göttlichen Geboten zu folgen. Indem Augustin die menschliche Sprache vom Wort Gottes trennt, bestreitet er nicht nur, dass ihr die epistemische Verbindlichkeit zukommt, sondern gründet zugleich den Glauben auf die freie Anerkennung Gottes als der alleinigen Autorität, die diese Verbindlichkeit besitzt. Durch diese Art epistemischer Monopolisierung des Sprechens im Wort Gottes legt Augustin dem westlich-lateinischen Christentum das Fundament für eine zeitübergreifende Dauerhaftigkeit und skrupellose Selbstverständlichkeit, die in geschichtlicher Hinsicht nur mit der Selbstverständlichkeit vergleichbar ist, mit der die Römer ihre maiores als höchste Autorität anerkannt haben. In der auf diese Dreieinigkeit konzentrierten Gestalt ist der christliche Glaube zum dauerhaften und bleibenden Bezugpunkt geworden, der das Denken epistemologisch auf seinem Weg von der Pluralität der Wissenssysteme in der heidnisch-mediterranen Antike zur Konkordanz des christlich-europäischen Mittelalters geprägt hat. Der Glaube an den dreieinigen Gott wurde als epistemischer Code zum Maßstab, um wahre Sätze von falschen, das Wissen vom Nichtwissen, zu unterscheiden. Er begründete, die geistliche Welt des Glaubens von der profanen Welt des Verstandes, das Sacerdotium vom Imperium, zu unterscheiden und doch in Beziehung zu setzen.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
451
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
IV Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Einleitung 1. Descartes gilt als Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Er steht nicht nur exemplarisch für den Bruch mit der mittelalterlichen Scholastik, die die denkende Erkenntnis mit dem Glauben an den dreieinigen Gott zu verbinden suchte, sondern vollzieht diesen Bruch selbst. Descartes baut nicht auf vorhandenen Fundamenten weiter, sondern reißt sie ein, um die Philosophie neu aufzurichten. Hatte bislang nur das als Wissen gelten können, was auf den dreieinigen Gott als maßgebende Instanz bezogen war, so ist mit Descartes das sich gegenwärtige »Ich« zur Begründungsinstanz von Wissen geworden 1 . Was unter diesem Ausdruck auch verstanden werden mag, – jedenfalls gründen die neuzeitlichen Wissenschaften nicht mehr in der Frömmigkeit des Denkens gegenüber dem Sein, sondern bestehen im »rechten Gebrauch des menschlichen Verstandes«. Seit Descartes gilt in der abendländisch-europäischen Tradition, dass das Wissen eine Veranstaltung sei, dessen Akteur und Regisseur der Mensch ist, und dass das Drehbuch der Wissenschaften der menschliche Verstand schreibt. Und seither besteht der moderne und vertraute Gegensatz von Autonomie und Autorität: abzulehnen, was der Verstand nicht billigen kann. Auch wenn die Kritik an ›Descartes’ Irrtümern‹ noch so heftig war; sie hat sie meist mit den Waffen bekämpft, die Descartes selbst geschmiedet hatte. Denn dass er den Verstand ›zu wenig‹ oder ›nicht richtig‹ gebraucht habe, war Anlass der Kritik; nicht aber, dass er ihn gebrauchte. Dort aber, wo die Kritik auf eben diesen Verstandesgebrauch zielte, griff sie auf Konzepte der Tradition zurück, die gerade durch ihn fragwürdig geworden sind. InsoSo auch dezidiert der Theologe H. Küng: »Mit Descartes hat das abendländische Bewusstsein in einer kritischen Entwicklung einen epochalen Wendepunkt erreicht: Der Ort der ursprünglichen Gewissheit ist von Gott in den Menschen verlegt worden. Das heißt: nicht mehr mittelalterlich von der Gottesgewissheit zur Selbstgewissheit, sondern neuzeitlich von der Selbstgewissheit zur Gottesgewissheit.« (Küng 1978, 36)
1
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
453
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
fern bleibt Descartes über alle Kritik hinweg der Begründer der neuzeitlichen Philosophie 2. Welche Folgen die cartesische ›Erfindung‹ des Ich in moralischer und politischer Hinsicht für das europäisch-abendländische Selbstverständnis auch gehabt hat, – uns soll im Folgenden nur die Epistemologie interessieren, d. h. Descartes’ Auszeichnung und Begründung gewisser Sätze als epistemische Grundsätze. Während Descartes der Tradition darin folgt, dass Sätze, die sich auf sinnlich Gegebenes beziehen, kein dauerhaftes und wahres Wissen repräsentieren, und an den christlichen Glauben anschließt, wo die geoffenbarte Wahrheit zum Glauben zwingt, bricht er dort mit der Tradition, wo er annimmt, dass der Besitz von wahrem Wissen keinen jenseitigen oder zukünftigen Zustand beschreibt, sondern dass der menschliche Verstand ein Vermögen sei, das durch sein sich kontrollierendes Verfahren selbst wahres Wissen zu konstituieren vermag. Philosophie ist für ihn daher nicht mehr die ›Liebe zur Wahrheit‹, sondern die Grundlegung von Wissen. Um die Rekonstruktion dieser epistemologischen Kernthese soll es im Folgenden gehen. Descartes’ Grundlegung des Wissens ist – zustimmend oder ablehnend – in der Weise beurteilt worden, dass mit ihr der neuzeitliche Mensch sich zur »Bezugsmitte des Seienden als solchen« (Heidegger 1963, 81) gemacht habe. Mit ihr habe die Apotheose des Menschen begonnen, da der Ort des Wissens nicht mehr das Göttliche sei, sondern in den menschlichen Geist selbst gelegt wurde. Das »Ich denke« als epistemologisches Prinzip bezeichne so den Bruch zwischen mittelalterlicher Christlichkeit und neuzeitlicher Aufklärung. Diesem Urteil entgegen geht unsere Rekonstruktion davon aus, dass Descartes’ Grundlegung nicht auf einem Prinzip, sondern auf zwei Prinzipien beruht. Zwar werden die Wissenschaften in der Tat auf dem Grundsatz des »Ich denke« aufgebaut, so dass nur das als Wissen anerkannt wird, was der menschliche Verstand geprüft und klar und deutlich eingesehen hat. Auf der anderen Seite aber bedarf ihre Grundlegung des Grundsatzes, dass Gott existiert, um das vom Verstand klar und deutlich Eingesehene als wahres Wissen annehmen zu können. Descartes’ Neubegründung des Wissens geht daher von zwei Vgl. Schnädelbach 2000, 194: »Und selbst die hartnäckigsten Anti-Cartesianer, die die Neuzeit und die Moderne nur als ein Verhängnis zu sehen bereit sind, bezeugen jenem Projekt Respekt, solange auch sie auf ihrem Recht beharren, aus eigener Einsicht zu urteilen und selbst zu entscheiden, wo und wie sie Partei ergreifen.«
2
454
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
ganz verschiedenen Tatbeständen aus, dem denkenden Ich und dem existierenden Gott. Diese Differenz deuten wir jedoch nicht als Inkonsequenz, die zeige, dass Descartes mit dem einen Bein in eine neue Zukunft aufbricht, mit dem anderen jedoch noch fest in der Vergangenheit steht, sondern als eine innere und notwendige Einheit. Die Idee der Autonomie des Ich und die Idee der Autorität Gottes zusammen, so unsere These, geben dem cartesischen Programm der Neubegründung der Wissenschaften erst ihren Sinn und ihre Bedeutung. Sie lassen den Aufbau der neuen Wissenschaften nach den Kriterien der Klarheit und der Deutlichkeit nicht als Hypertrophie der menschlichen Autonomie, sondern als einen von Gott gewollten und dem Menschen gegebenen Auftrag verstehen 3 . 2. Unserer Rekonstruktion der cartesischen Wissensbegründung schicken wir zwei Thesen zum Vorverständnis voraus. Die erste ist, dass wir unter dem genannten »Ich« als Prinzip nur das verstehen werden, was Descartes auch den »Geist« (l’esprit, mens) nennt, und den er vom Begriff der »Seele« (l’âme, anima) unterscheidet. Diese Trennung von »Geist« und »Seele« hält Descartes selbst nicht konsequent aufrecht und verwendet den Ausdruck »Seele« oft doppeldeutig; dennoch meint beides Verschiedenes. 4 Darüber hinaus unterscheiden wir klar zwischen »Geist« und »Bewusstsein«, die Descartes gleichfalls doppeldeutig verwendet. So spricht er vom Denken nicht nur als der »ursprünglichsten Tätigkeit« (actus primus) des Geistes, sondern auch in einem weiten Sinne von den »cogitationes«, die alle möglichen Zustände des Bewusstseins, Einsehen, Wollen, Einbilden oder Empfinden, umfassen 5 , derentwegen Descartes als der »Erfinder Wir folgen damit nicht der Interpretation, die in der Selbstgewissheit und Autonomie des cartesischen Ichs das »fundamentum inconcussum« erkennt und in Descartes’ Annahme der Existenz Gottes folglich nur ein ›Instrument‹ oder ›Moment‹ des Selbstvollzugs des Subjekts entdecken kann. (Vgl. Schulz 1957, 22 ff.; Küng 1978, 23–63; Greshake 1997, 129 ff.) Diese Zuordnungen verfehlen unseres Erachtens die Pointe der cartesischen Grundlegung, die zu ihrer Begründung zweier Prinzipien bedarf: Ich und Gott, die Transparenz der Einsicht und die Beständigkeit der Gottesliebe. Descartes’ Philosophie gilt uns daher nicht als Anfang und Ursprung einer gottesfernen Moderne, sondern, wie wir darzulegen versuchen, als Grundlegung eines gottgegebenen Auftrags. 4 Diese Verwendung präzisiert Descartes in der Antwort auf P. Gassendi, der ihm diese »Doppeldeutigkeit des Wortes ›Seele‹« vorgehalten hat. Siehe: Descartes 1972 [Im Folgenden: Med.], 327 f. – Vgl. auch Med. 146. – Es ist daher missverständlich, wenn gesagt wird, der »Leib-Seele-Dualismus« gehe auf Descartes zurück, da er vom Leib den »Geist« unterscheidet. 5 Siehe: Med. 21; 145; Descartes 1692, I, 9. 3
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
455
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
des Mentalen« bezeichnet werden konnte. Statt einem solch weitgefassten Begriff vom Denken nachzugehen und darin das Neue der Philosophie Descartes’ zu sehen 6 , gehen wir von der prinzipiellen Unterscheidung zwischen einem Empfindungen, Einbildungen und Gedanken habenden Bewusstsein und dem Geist, der bloß denkt, aus. Allein dieser, so nehmen wir an, bezeichnet im cartesischen Wissensbegründungsprogramm das Prinzip. 7 Unter diesem »Geist, der R. Rorty hat in »Der Spiegel der Natur« seine Kritik der Philosophie auf die »Idee des Mentalen« konzentriert, die Descartes erfunden habe. Mit seiner Auffassung des privilegierten Zugangs zu den »ideas«, den Bewusstseinsinhalten, habe er der Philosophie, einen – gegenüber den Naturwissenschaften – eigenständigen Bereich zugesichert, der dann unter dem Namen »Erkenntnistheorie« zur Fundamentalwissenschaft erklärt worden sei. Die Idee des Mentalen, so die Kritik, sei »zu einer unhinterfragten Voraussetzung der Philosophie« (Rorty 1985, 62, Anm. 18) geworden, die mit Descartes jedoch einen durchaus kontingenten Ursprung habe. In der Zeit vor Descartes habe es weder einen solchen inneren Raum des Bewusstseins noch gar dessen Privilegierung gegeben (58 ff.). Rortys Plädoyer richtet sich darauf, diese Idee fallen zu lassen. Mit dieser These hat sich Rorty beträchtliche Schwierigkeiten eingehandelt. So hatte schon G. Ryle, der in ähnlicher Weise den »Geist in der Maschine« als »Descartes’ Mythos« bezeichnete, in einer »Geschichtliche(n) Schlussbemerkung« angefügt: »Descartes’ Theorien … waren bloß Neuformulierungen damals schon weitverbreiteter theologischer Doktrinen über die Seele. Die Privatheit des Gewissens der Theologen wurde zur Privatheit des Bewusstseins der Philosophen, und was vormals das Schreckgespenst der Prädestination war, tauchte nun wieder als das Schreckgespenst des Determinismus auf.« (Ryle 1969, 24). Folgt man Ryle, so zeugt die These, Descartes sei der Erfinder des Mentalen, allenfalls von philosophiehistorischer Unkenntnis. Rorty trägt denn auch diesem Einwand Rechnung und räumt ein: »Sollte [dies] zutreffen, so gäbe es in der Geschichte der philosophischen Diskussion dieser Fragen viel weitergehende Kontinuitäten, als die von mir vorgetragene Geschichte einräumt.« (Rorty 1985, 65). Und in der Tat ist Rortys These nach L. Blanchets Studie »Les antécédents historiques du ›Je pense, donc je suis‹« (Paris 1920) und E. Gilsons »Etudes sur le Rôle de la Pensée Medievale dans la Formation du Système Cartesien« (Paris 1930) schwerlich aufrechtzuhalten. Hatte doch schon Augustin das Argument des »privilegierten Zugangs« zum Mentalen gekannt und verwendet, wenn er gegen die Skeptiker schrieb: »Illud dico, posse hominem, cum aliquid gustat, bona fide jurare se scire palato suo illud suave esse, vel contra, nec ulla calumnia graeca ab ista scientia posse deduci.« (contra Academicos III, 11, 26). Leider diskutiert Rorty nicht die Folgen, die sich aus diesen Einwänden für seine Kritik der Philosophie ergeben. Jedenfalls lässt sich begründeterweise sagen, dass die »Idee des Mentalen« nicht das Neue der cartesischen Philosophie ist. 7 Wir räumen ein, dass Descartes’ Philosophieren in diesem Wissensbegründungsprogramm nicht aufgeht. So hat F. Alquié im Streit mit M. Gueroult um die angemessene Descartes-Interpretation zu Recht darauf hingewiesen, dass Gueroults Deutung der Philosophie Descartes’, die der »apriorischen Ordnung« ohne Rückgriff auf die Erfahrung folge, weder den Texten noch der Person gerecht wird. Descartes rekurriere nicht nur ausdrücklich auf die Erfahrung und, näher, seine Erfahrungen, sondern bringe auch seine Gefühle zum Ausdruck und erlaube sich, »sich als einsam, am Ende, zweifelnd, 6
456
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel: »Das Klare ist das Wahre«
denkt« verstehen wir freilich weder ein metaphysisches Ding, das in Descartes’ Leib ortlos herumspukt, noch das Bewusstsein René Descartes’, sondern das epistemische Subjekt, das Descartes zum Akteur der neuen Wissenschaft macht, dem also das Zweifeln und Wünschen, das Einsehen und Fürwahrhalten als epistemische Zustände zukommen. Mit dem sogenannten »Geist« errichtet Descartes eine Instanz, die das Haben von Vorstellungen der epistemischen Kontrolle unterwirft. Wir interpretieren also den Ausdruck »Geist« nicht als Term in einem Aussagesatz, sondern als den Referenten oder das Signifikat, das in dem Satz »X weiß (zweifelt etc.), dass p« den Ausdruck »X« bezeichnet. Die zweite Vorbemerkung betrifft unser Vorgehen. Descartes hat drei Grundsätze aufgestellt, auf denen die Wissenschaften basieren: »ich denke also bin ich«, »Gott existiert« und »Körper sind ausgedehnt«. Von der Untersuchung des letzten Satzes werden wir absehen; denn dieser Satz formuliert kein Prinzip, das Wissen begründet, sondern ein begründetes Wissen. Er sagt aus, was Körper sind, aber begründet nicht, was Wissen ist. Unter dieser Voraussetzung nehmen wir – in Abweichung von Descartes’ Darstellung in den »Meditationen« – nun an, dass nicht jeder der zwei Sätze: »ich denke also bin ich« und »Gott existiert« für sich wahr sind, sondern dass beide zusammen begründen, was »wahres Wissen« ist. 8
I.
Die epistemische Regel: »Das Klare ist das Wahre«
1. In den »Meditationen« stellt Descartes seine Grundlegung der Wissenschaften so dar, dass seine Untersuchung zwar damit beginne, an allem zu zweifeln, dass aber der erste Grundsatz der Satz »ich wünschend, bewundernd, besänftigt, ausgesöhnt, fröhlich zu verstehen« (Alquié 1993, 37). Dennoch stimmen wir mit Gueroult überein, dass das Neue und Epochale der Philosophie Descartes’ nicht dessen Selbstreflexionen und das Expressive ist, sondern die Erhebung dessen, was er »l’ordre des raisons« nennt. – Vgl. dazu: Gueroult 1953; Gueroult 1993, 51–64. 8 Wenn Descartes im »Vorwort an die Leser« schreibt, er wolle »auf diese Fragen über Gott und die menschliche Seele eingehen und zugleich die Grundlagen der gesamten ersten Philosophie behandeln« (Med. 5), so deuten wir das »zugleich« in dem Sinne: nicht wird erst die eine Frage abgehandelt und dann die andere, sondern beide zusammen bilden die Grundlagen der »gesamten ersten Philosophie«. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
457
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
denke also bin ich« sei. Dieser Satz drücke das unbezweifelbar Gewisseste aus und bilde daher das Fundament der Wissenschaft. Auf diesem Fundament folgt dann der Beweis (oder die Beweise) von der Existenz Gottes, dem sich die Begründung der Sätze anschließen, dass die Körper ausgedehnt und Geist und Körper zwei verschiedene Substanzen sind. Diese Darstellungsweise folgt dem Plan, den Descartes seinen Meditationen vorausschickt. Folgen wir ihr, so müssten wir sagen: Descartes’ Grundlegung fängt voraussetzungslos an. Er beginnt zwar mit dem Vorsatz, an allem Bisherigen zu zweifeln; aber der Zweifel führt zu der selbst unbezweifelbaren Tatsache, dass denkend ich bin. Diese ist somit das voraussetzungslos Erste seiner Philosophie. Sie rekurriert weder auf die Erfahrung, noch ist sie logisch erschlossen, sie legt auch keinen Glauben zugrunde, sondern ist selbstevident. So gesehen, hätte Descartes mit diesem ersten Grundsatz in der Tat das Fundament für eine neue Art zu wissen gelegt, weil die Evidenz dieser Tatsache das, was Wissen ist, begründet und das Muster abgibt, dem jegliches Wissen nachzubilden sei. Was solcher Evidenz nicht entspricht, ist bezweifelbare Meinung, kein Wissen. Begönne Descartes seine Grundlegung mit dieser Tatsache, so wäre es richtig zu sagen, der Ursprung und das Fundament des neuzeitlichen Denkens sei das autonome, sich seiner selbst gewisse Ich; denn was Wissen überhaupt sein kann, gründete auf nichts als der mir unbezweifelbaren Tatsache, dass denkend ich bin. Descartes hätte, wie Schelling diesen Anfang beschreibt, durch die Radikalität seines Zweifels an allem die »entschiedenste Losreißung von aller Autorität« vorgenommen, – »damit war die Freiheit der Philosophie errungen, die sie von diesem Augenblick an nicht wieder verlieren konnte«. 9 Er habe das Voraussetzungslose in dem archimedischen Punkt des Ich denke also bin ich gefunden, »wo Denken … und Seyn unmittelbar in eins zusammenfallen … Im Cogito ergo sum glaubte Cartesius Denken und Seyn als unmittelbar identisch erkannt zu haben.« (ebd., 9) Auch wer dieses »Ineinszusammenfallen« von Denken und Sein nicht als den lichten Anfang einer neuen Philosophie 9 Schelling 1856 ff., Bd. I/10, 8. – Ähnlich Schopenhauer o. J., Bd. 6, 9: »Cartesius gilt mit Recht für den Vater der neuern Philosophie, zunächst und im Allgemeinen, weil er die Vernunft angeleitet hat, auf eigenen Beinen zu stehn, indem er die Menschen lehrte, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen, für welchen bis dahin die Bibel einerseits und der Aristoteles andererseits funktionierten …«
458
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel: »Das Klare ist das Wahre«
preist, sondern ihn als eine unverständliche Konstruktion 10 beurteilt oder in ihm »eine Reihe von verwegenen Behauptungen« (Nietzsche 1968 ff., Bd. VI/2, 24) aufdeckt, geht von der dadurch bewirkten Freiheit der Philosophie aus und macht mit der Art seiner Kritik von ihr Gebrauch. Doch diese Beurteilungen richten sich nur auf den Grundsatz der cartesischen Philosophie; sie stellen aber nicht die Frage, was für Descartes – vor allem Wissen – Wissen überhaupt ist. Die Konzentration auf diesen Satz und die Prüfung, ob er so voraussetzungslos und gewiss ist, wie Descartes behauptet, blendet die Frage nach dem Maßstab aus, an dem überhaupt festgestellt werden kann, ob und dass dieser Satz Wissen repräsentiert. Auf die Frage nach einem solchen Maßstab gibt nun Descartes selbst eine eindeutige Antwort. Im »Discours de la méthode« führt er sie als die erste von insgesamt vier Vorschriften an: »Die erste Regel war, niemals etwas als wahr anzunehmen, was ich nicht klar [évidemment] als solches erkannte, d. h. … nichts mehr in meine Urteile aufzunehmen, als was sich so klar und so deutlich meinem Geist darbieten würde, dass ich keine Veranlassung haben würde, es in Zweifel zu ziehen.« (Descartes 1964, 30). Diese Vorschrift, nur das klar Eingesehene als wahr anzunehmen, werden wir im Folgenden Descartes’ »epistemische Regel« nennen, weil sie – im Unterschied zu den folgenden drei – nicht vorschreibt, wie Wissen erworben wird, sondern festlegt, was Wissen ist. Sie erlaubt es, gewisse Sätze epistemisch als »wahr« auszuzeichnen. – Ohne hier schon zu erörtern, was die beiden Ausdrücke »klar einsehen« (certò & evidenter cognoscere) und »als wahr annehmen« (verum admittere) bedeuten, und was das eine mit dem anderen zu tun hat, so können wir es anhand dieser Regel schon ausschließen, dass für Descartes der epistemische Maßstab das rein Gedachte oder das sinnlich Wahrgenommene ist, sondern dass er das Wissen an eine gewisse ›Verfasstheit‹ des Bewusstseins knüpft, die er »klare Einsicht« nennt. Ob diese Verfasstheit allerdings dasselbe meint wie jenes »Zusammenfallen« von Denken und Sein, von dem Schelling gesprochen hat, lassen wir noch offen. So eindeutig also Descartes’ Antwort auf die Frage nach dem Vgl. Stegmüller 1969, 19: »Trotz der außerordentlich angewachsenen Literatur darüber [den Satz: »cogito ergo sum«] hat mich bisher keine Interpretation befriedigt. Ich kann heute dazu nur sagen, dass es mir nicht klar ist, wie dieser Satz des Descartes zu deuten ist.«
10
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
459
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Maßstab ist, so unklar ist allerdings, welchen Ort diese Regel innerhalb des Systems seiner Grundlegung einnimmt. Dient sie dazu, nachdem Descartes den Grundsatz »ich denke also bin ich« aufgestellt hat, andere Sätze nach Maßgabe dieses Grundsatzes als »wahr« zu beurteilen, so dass die Bedeutung des Ausdrucks »klar einsehen« in diesem Satz enthalten ist? So jedenfalls scheint er die Regel sowohl im »Discours de la méthode« als auch in den »Meditationen« zu verwenden. 11 Oder aber setzt Descartes seiner Untersuchung diese Regel voraus, so dass er die Untersuchung überhaupt nur anstellt, weil er – auf der epistemologischen Ebene – schon weiß, dass das klar Eingesehene das ist, was als wahr anzunehmen ist, er aber – auf der epistemischen Ebene – noch nicht weiß, was dies klar Eingesehene ist; und ist der Satz »Ich denke also bin ich« für ihn also deshalb wahr, weil er klar eingesehen ist? 12 Im ersten Fall folgte die Regel dem ersten Grundsatz – und Descartes’ Grundlegung finge in der Tat voraussetzungslos mit diesem Satz an. Im zweiten Fall jedoch stünde dieser Grundsatz schon unter der vorausgesetzten Regel; er wäre nicht voraussetzungslos, sondern als erster Grundsatz wahr, weil er, der Regel gemäß, klar ist. Für unsere Rekonstruktion werden wir uns die zweite Auffassung zu eigen machen. Wir nehmen nicht an, Descartes gründe seine Philosophie voraussetzungslos auf die unbezweifelbare Tatsache, dass denkend ich bin – und folglich nicht auf die Autonomie des »Ich denke«; wir gehen vielmehr davon aus, dass er seiner Grundlegung jene Regel voraussetzt, nach der allein das, was klar eingesehen wird, als wahr anzunehmen sei, und dass daher ein Unterschied zwischen der Klarheit der Einsicht und der Annahme der Wahrheit besteht. Unter dieser Voraussetzung unterscheidet sich unsere Rekonstruktion jedoch von der Darstellung, die Descartes in den »Meditationen« gibt. Während diese eine Abfolge der Grundsätze bildet, soll unser Descartes 1980, 31 f.; Med. 9. So auch B. Williams: »… es ist das wesentliche Merkmal dieser Regel, dass sie, wenn sie nur radikal genug angewandt wird …, die Basis für eine Kritik allen Wissens und folglich für eine genuin philosophische Untersuchung bereitstellen kann. Die anderen Regeln spielen eine Rolle bei dieser Untersuchung, wie sie sie bei jedem methodisch vernünftigen Entwurf spielen, aber die erste Regel hat die besondere Eigenschaft, diese Untersuchung überhaupt zu initiieren. Sie verleiht Descartes’ Untersuchung der Erkenntnis den besonderen Charakter, und das Verfahren, das der Philosoph bei dieser Untersuchung anwendet, indem er dieser Regel bis zu ihren Grenzen folgt, ist allgemein bekannt als der ›methodische Zweifel‹.« (Williams, 1996, 16)
11 12
460
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel: »Das Klare ist das Wahre«
Vorgehen ihren Zusammenhang rekonstruieren, indem es expliziert, was mit der Regel gemeint ist, das Klare sei das Wahre. 2. So wie Descartes diese Regel beschreibt, scheint sie zunächst Selbstverständliches zu bedeuten. Sie nennt, was redlicherweise dem, der philosophiert, zu unterstellen ist, dass ihm nämlich das, was er als wahr annimmt, auch einsichtig ist. Thales, so ließe sich im Rückblick sagen, sah die tradierten Ursprungserzählungen nicht mehr ein und nahm stattdessen an, das Wasser sei die Ursache von allem, weil dies ihm einleuchtete; Anaximander wiederum sah den Satz vom Wasser nicht ein und nahm das Apeiron als Ursache von allem an, weil dies ihm einleuchtete; Anaximenes schließlich … So verstanden würde Descartes’ Vorschrift, nichts als wahr anzunehmen, was nicht klar eingesehen ist, nur darstellen, was wir das ›Projekt Autonomie‹ genannt haben. 13 Insofern scheint Descartes mit der Aufstellung dieser Regel nur Vergangenes wiederzuholen. Betrachten wir die Regel jedoch nicht als eine Vorschrift über den Bewusstseinszustand, in dem der Philosoph sich befinden soll, wenn er philosophiert, sondern als eine Regel, durch die – vor aller Einsicht oder Annahme – festgelegt wird, was Wissen überhaupt ist, d. h. als eine epistemische Regel, dann ist sie nicht selbstverständlich. Denn jene Sätze wie der »Satz vom Wasser« sind von ihren Autoren nicht als wahr angenommen, weil sie einleuchteten; vielmehr leuchteten sie ein, weil sie für wahr gehalten wurden. Sie waren Sätze, die unabhängig von ihrer Repräsentation im Bewusstsein als wahr galEs sei denn, Descartes nimmt für sich in Anspruch, was er für andere nicht gelten lässt, und unterstellt, sie hätten als wahr angenommen, was ihnen selbst nicht klar war. Diese Unterstellung macht Descartes in der Tat, wenn er über Platon und Aristoteles sagt: »Sie unterscheiden sich nur dadurch, dass der erstere, indem er den Spuren seines Meisters Sokrates nachfolgte, ganz freimütig bekannt hat, dass er noch nichts Gewisses habe finden können, und sich so begnügt hat, das zu schreiben, was ihm wahrscheinlich vorkam, indem er zu diesem Zwecke gewisse Prinzipien annahm, durch die er von den anderen Dingen Rechenschaft abzulegen versuchte. Aristoteles dagegen besaß weniger Freimut; denn wenngleich er zwanzig Jahre Platons Schüler gewesen war und auch keine andern Prinzipien als dieser besaß, so griff er doch zu einer ganz anderen Art und Weise der Darbietung, und stellte sie als wahr und richtig hin, obgleich er selbst sie wahrscheinlich niemals dafür gehalten hat.« (Schreiben an Picot. In: Descartes 1997, 280) – Dieses Urteil über Aristoteles ist nicht anders zu erklären, als dass, weil Descartes nicht einleuchtet, was Aristoteles als wahr annahm, es diesem auch nicht habe einleuchten können. In diesem Fall jedoch hält Descartes Aristoteles entweder für einen Lügner – wenn »Lügen« ist, anderes für wahr hinzustellen als was man dafür hält – oder pflegt die Attitüde des Philosophen, den Bewusstseinszustand der Vorgänger – im Unterschied zum eigenen – als getrübt und verworren darzustellen.
13
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
461
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
ten. Wenn Descartes nun die Regel, wahr sei, was einleuchtet, im epistemologischen Kontext gebraucht, dann kehrt er diesen Zusammenhang von Wahrheit und Klarheit um. Für ihn ist die Einsicht des Philosophen keine Folge oder Wirkung des an sich Wahren, sondern umgekehrt gilt ihm die Klarheit als Bedingung der Wahrheit und diese als Folge der Klarheit. Denn nach dieser Regel wird das, was als wahr anzunehmen sei, in Abhängigkeit von der klaren Einsicht gesetzt. Diese Bestimmung der Klarheit, nicht als Kennzeichnung eines angemessenen Bewusstseinszustands, sondern ihre Erhebung zum Kriterium der Wahrheit ist in der Tat neu. 14 Sie disqualifiziert alle bisherige Epistemologie, die nicht das Klare, sondern das Wahre als Begründungsinstanz des Wissens angenommen und es – im Fall des Glaubens an die Trinität Gottes ausdrücklich – von der Klarheit der Einsicht unterschieden hat. 3. Akzeptiert man diese Deutung von Descartes’ epistemischer Regel als eines solch apriorischen Bedingungsverhältnisses von Klarheit und Wahrheit, so stellt sich die Frage, ob die Gültigkeit dieser Regel überhaupt begründet werden kann. Denn da dieses Bedingungsverhältnis sich nicht von selbst versteht, und Descartes auch nicht auf traditionelle Begründungsmuster zurückgreifen kann und will, muss die Annahme eines solchen Verhältnisses von Klarheit und Wahrheit als willkürlich und unbegründet erscheinen 15 . Zumindest wäre das Kontra-Intuitive aufzulösen, dass durch die Bindung der ›Wahrheit‹ an einen gewissen Bewusstseinszustand »etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften« (Med. 11) gefunden werden könne. Da wir andererseits jedoch annehmen, dass Descartes diese Regel seiner Untersuchung voraussetzt, kann sie in der Untersuchung nur angewandt, nicht aber selbst untersucht werden, ohne in einen Begründungszirkel zu geraten. Dieses Dilemma zwischen der Begründungspflichtigkeit der epistemischen Regel einerseits und ihres Voraussetzungslosigkeit andererseits lösen wir nun auf, indem wir annehmen, dass Descartes’ erster Grundsatz »Ich denke also bin ich« nicht schon von dieser ReVgl. Kant L IX, 32: »Ein nicht geringes Verdienst um dieselbe [die speculative Philosophie] erwarb sich Descartes, indem er viel dazu beitrug, dem Denken Deutlichkeit zu geben durch sein aufgestelltes Kriterium der Wahrheit, das er in die Klarheit und Evidenz der Erkenntniss setzte.« – Vgl. auch: Cassirer 1995, 25. 15 G. W. Leibniz konnte deshalb spotten, dass Descartes’ Regeln denen des Chemikers entsprächen: »Sume quod debes et operare ut debes, et habebis quod optas.« (Leibniz 1978, Bd. 4, 329) 14
462
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
gel Gebrauch macht, sondern nur paradigmatisch expliziert, was das Kriterium der Klarheit bedeutet: die Einsicht, dass denkend ich bin, oder, wie Descartes auch sagt: die »Idee meiner selbst« (Med. 42; idea meî ipsius). Dies wird im folgenden Kapitel dargestellt. – Dass aber das klar Eingesehene, der Regel gemäß, auch als wahr angenommen werden darf, dazu bedarf es erst des zweiten Grundsatzes »Gott existiert«. Diesen Grundsatz verstehen wir so, dass er Descartes’ epistemische Regel sowohl expliziert als auch begründet: als bewiesener Satz expliziert er, was es bedeutet, eine klar eingesehene Idee auch als wahr anzunehmen; als unbedingtes Prinzip aber begründet er, warum das klar Eingesehene auch als wahr anzunehmen ist. Dies wird im Weiteren ausgeführt. Was Descartes also in den »Meditationen« als einen, recht unvermittelten, Übergang vom Grundsatz »ich denke also bin ich« in der zweiten Meditation zum Grundsatz »Gott existiert« in der dritten Meditation darstellt, wollen wir als einen wechselseitigen Bedingungs- und Begründungszusammenhang der beiden Grundsätze rekonstruieren, der Descartes’ epistemische Regel sowohl erklärt als auch begründet. Wir tragen damit dem Umstand Rechnung, dass in der cartesischen Grundlegung der neuzeitlichen Wissenschaften die Annahme der Wahrheit von Sätzen und die Annahme der Existenz Gottes keine zwei getrennte epistemische Gebiete begründen, sondern einander in bestimmter Weise bedingen und ergänzen.
II. Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum« Obwohl Descartes’ Untersuchung vom Prinzip ausgeht: »de omnibus esse dubitandum« (Descartes 1692, I, 1), besteht sein erster Grundsatz nicht darin, dass das Zweifeln nicht bezweifelt werden kann 16 , sondern in der Einsicht, dass ich, der ich zweifle, bin. Im »Discours de la méthode« heißt es knapp: »… so fasste ich demgemäß den Entschluss, zu fingieren, dass alle Dinge, die je in meinen Geist gelangt waren, nicht wahrer seien als die Trugbilder meiner Träume. – Sogleich darauf bemerkte ich jedoch, dass, während ich so denken wollte, dass alles falsch sei, es notwendig erforderlich war, dass ich, der es H. Brands (1982, 62 f.) weist zu Recht auf die »Reflexionsstruktur« des cartesischen Zweifels hin, der daher nicht das Feste und Bleibende sein könne.
16
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
463
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
dachte, etwas sei. Da ich mir nun darüber klar wurde, dass diese Wahrheit ›ich denke, also bin ich‹ so fest und sicher war, dass selbst die überspanntesten Annahmen der Skeptiker nicht imstande waren, sie zu erschüttern, so urteilte ich, dass ich sie unbedenklich als erstes Prinzip der von mir gesuchten Philosophie annehmen konnte« (Descartes 1980a, 31). Diesen ›Schluss‹ von meiner Tätigkeit des Zweifelns auf mein Sein nennt Descartes hier das erste Prinzip, auf das er die Philosophie unbedenklich gründen könne. Dieser Schluss ›vom Denken aufs Sein‹ ist das wohl meistdiskutierte und umstrittenste Thema der cartesischen Philosophie. Er soll hier jedoch weder einer logisch-kritischen Prüfung unterzogen noch sollen die Motive verstanden werden, die Descartes veranlasst haben könnten, diesen Satz als Grundsatz seiner Philosophie aufzustellen. Wir werden ihn vielmehr so deuten, dass er expliziert, was Descartes’ epistemologischer Begriff der ›Klarheit‹ als Kriterium der ›Wahrheit‹ bedeutet. Hierzu unterstellen wir, dass es ein ›weiter Weg‹ ist von jenem ersten »Bemerken«, wie Descartes sagt, dass ich, der ich zweifle, notwendig etwas sei, hin zu dem wahren Urteil, dass ich, der ich denke, bin. Dabei werden wir so vorgehen, dass der Satz zunächst unter zwei verschiedenen Bedeutungen rekonstruiert wird: der empirischen und der apriorischen. Im ersten Fall drückt der Satz die mir unbezweifelbare Gewissheit aus, denkend zu sein; im zweiten Fall die klare Einsicht in die Idee meiner selbst. 17 Daraufhin gehen wir der Frage nach, wie diese beiden Bedeutungsebenen, die empirische Gewissheit und die apriorische Klarheit, im cartesischen Modell Unsere Unterscheidung von »empirisch« und »apriorisch« trifft sachlich mit der Deutung von F. P. Maine de Biran (1920 ff., Bd. 8/9, 123–131) überein. Er verweist auf eine empirisch-psychologische und eine rational-metaphysische Bedeutung des cartesischen »cogito«. Nach jener komme dem »je pense« der temporale Aspekt zu (125) – er nennt es »le fait de conscience« (123) und »le premier axiome psychologique« (565) –, und das »je« bezeichne das »sujet phénoménal« (125). In der rational-metaphysischen Bedeutung hingegen komme dem »je pense« der Aspekt des Notwendigen zu; diese chose qui pense bezeichnet Maine de Biran in kritischer Absicht als eine »chose indéterminée« (Bd. 14, 47) und nennt das »je« das »sujet réel« (Bd. 8/9, 125). Mit Recht weist er darauf hin, dass aus dem empirischen Satz »ich denke jetzt« nicht auf den apriorischen Satz »es ist notwendig, dass ich denke« geschlossen werden kann (Bd. 14, 293), dass also beide Sätze ganz verschiedenes bedeuten. Maine de Birans anschließender Kritik an der rational-metaphysischen Bedeutung von Descartes’ »cogito«, die er als eine »imagination« bezeichnet (Bd. 8/9, 127), und der er seine eigene Grundlegung der Psychologie, die vom »homme concret« (Bd. 14, 47) auszugehen habe, unterlegt, werden wir allerdings nicht folgen.
17
464
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
verbunden sind. Erst dann werden die Bedingungen untersucht, unter der die klare Einsicht in das, was ich bin, auch als ein wahres Urteil angenommen kann.
A. »Cogito, ergo sum« als empirischer Satz 1. Descartes gebraucht den Satz »cogito, ergo sum« in zwei verschiedenen Weisen. Im einen Fall, den wir zuerst erörtern und als »ich denke, also existiere ich« formulieren wollen, wird der Satz »ich denke« als ein Erfahrungssatz aufgefasst, und auf dieser Basis wird auf den Satz »ich existiere« geschlossen. Hier drückt das »ich denke« die empirische Tatsache aus, dass ich, wenn ich denke, denke. Der Satz ist in diesem Fall weder überhaupt wahr noch notwendigerweise wahr, sondern er ist dann wahr, wenn ich denke. 18 Descartes bringt diese empirisch-zeitliche Bedeutung des Satzes in der zweiten Meditation zum Ausdruck: »ego sum, ego existo; certum est. Quandiu autem? Nempe quandiu cogito; nam forte etiam fieri posset, si cessarem ab omni cogitatione, ut illico totus esse desinerem.« 19 In diesem Argument setzt Descartes das »ego sum, ego existo; certum est.« in Abhängigkeit vom »cogito«, das »cogito« aber vom »quandiu cogito«. Der Satz: »cogito« ist daher wahr, wenn und solange ich denke. Unter dieser empirischen Bedingung verstehen wir nun den Satz »ego sum, ego existo« als selbstverständliche Folge der Tatsache, dass ich denke: es ist mir nicht möglich, zu denken, ohne zu existieren. 20 Dies, sagt Descartes, sei »etwas ›durch sich selbst Bekanntes‹« (res per se nota) 21 . Diesem empirischen »ich denke« entspricht, was in Schillers Gedicht »Die Philosophen« der Lehrling sagt: »Denk ich, so bin ich. Wohl! Doch wer wird immer denken. Oft schon war ich und hab’ wirklich an gar nichts gedacht.« (Schiller, o. J., Bd. 1, 250). – Vgl. auch A. J. Ayers Untersuchung des »non-cogito«: »But can ›I am not thinking‹ ever be true? Yes, very easily, so long as the personal pronoun is understood descriptively. If I am unconscious, I am not thinking; if I do not exist, I am not thinking. And while I am in fact conscious at this moment, I very well might not be: I might not exist even though I do.« (In: Keutner 1993, 251 f.) 19 Descartes 1642, II, 6. Vgl. auch: ebd., II, 3. – Zur deutschen Übersetzung siehe: Fn. 25. 20 Vgl. J. G. Fichte: »man denkt nicht notwendig, wenn man ist, aber man ist notwendig, wenn man denkt.« (Fichte 1845, Bd. I, 100) 21 Med. 127; auch: Med. 366. – Was spricht dagegen, den Satz in dieser Bedeutung als so selbstverständlich anzunehmen, wie Descartes ihn offenbar gemeint hat. Diese »Seinserfahrung« ist wohl die schlichteste, die man macht. Die Versuche, den Satz »ich denke, also existiere ich«, entgegen der Erklärung Descartes’, als einen mit den Regeln der 18
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
465
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Gegen diesen »Schluss« ist nun eingewandt worden, dass ebenso wie der Satz »ich denke, also existiere ich« die Sätze »ich laufe, also existiere ich« oder »ich verdaue, also existiere ich« zum Grundsatz Logik begründbaren Satz zu interpretieren, fördern letztlich nicht mehr als dies »durch sich selbst Bekannte« zutage. So ist dieser Satz seit H. Scholz’ Arbeit »Über das cogito, ergo sum« (Scholz 1931) im Rahmen der aristotelischen Logik interpretiert worden. Hierzu wird der Satz »ich denke« unter das Aussageschema P(a) gebracht, so dass »a ein Zeichen für Ich, P ein Zeichen für denke« (137) ist. Wird nun den Satz »ich existiere« nach der Formel (Ex) (a = x) gedeutet, der gemäß zumindest ein Individuum x existiert, das mit a identisch ist, so lässt sich das Implikationsgesetz anwenden: [1] P(a) -> (Ex) (a = x), sodass [1’] P(a) -> (Ex) (a = x ^ (P(x)) gilt. Setzt man nun für P »denke« und für a »Ich« ein, so wird der Satz »ich denke, also existiere ich« bzw. »Ich denke, also existiert ein mit mir identisches Individuum, das denkt« zu einem wahren und beweisbaren Satz. Durch dieses Beweisverfahren, so Scholz, gewinne man die Einsicht, dass der Satz nicht die von Descartes behauptete »Unbesiegbarkeit« besitzt, sondern den Regeln der Logik entspricht. Diese »Descartes’sche Intuition (kann) unter ausschließlicher Benutzung der Mittel der Aristotelischen Logik in einen beweisbaren Satz übergeführt werden.« (147) Gräbt man jedoch tiefer, so wird im Grunde das, was mit diesen Mitteln bewiesen werden soll, nämlich der Satz »ich existiere«, doch nur wieder vorausgesetzt. Denn wie H. Scholz selbst feststellt, gilt in »dieser Logik … nämlich der Satz, dass ein Prädikat P einem Individuum a nur dann zukommt, wenn ein mit a identisches Individuum existiert.« (137) In ihr gilt die Regel: »non entis nulla sunt praedicata« bzw. der Satz des Aristoteles: »twn ousiwn aneu ouk esti ta pajh« (Met 1071a 1f). In der Sprache der modernen Logik heißt dies, dass der Term, der in [1] das Zeichen a ersetzt, nicht leer sein darf, bzw. dass der für a eingesetzte Name ein Designat haben muss (vgl. Borkowski 1977, 181). Was aber heißt: »nicht leer sein dürfen« oder »ein Designat haben müssen«? In seiner Studie »cogito, ergo sum«: Inference or performance weist J. Hintikka darauf hin, dass diese Logiksysteme auf, wie er sie nennt, »Existentialpräsuppositionen« aufgebaut sind. »They make more or less tacit use of the assumption that all the singular terms with which we have to deal really refer to (designate) some actually existing individual. In our example this amounts to assuming that the term which replaces a in (1) must not be empty.« (Hintikka 1993, 258) Das aber bedeutet, dass man, um für a »ich« einsetzen zu können, schon wissen muss, dass der Ausdruck »ich« auf ein aktuell existierendes Individuum verweist, d. h. dass ich existiere. »… since the term in questions is »I«, this is just another way of saying that I exist. It turns out, therefore, that we in fact decided that the sentence »I exist« is true when we decided that the sentence »I think« is of the form B(a) (for the purposes of the usual systems of functional logic).« (259) Auf der rechten Seite des Schlusses kommt heraus, was auf der linken schon hineingesteckt wurde. Worauf gründet sich nun aber das Recht, für a »ich« einsetzen zu dürfen, d. h. anzunehmen, dass das Designat von »ich« ein aktuell existierendes Individuum ist? Machen wir dazu einen Umweg und setzen für a in »a denkt« Shakespeares »Hamlet« ein, wie Hintikka es tut (259). Folgt nun aus der Tatsache, dass Hamlet vieles und tiefes dachte, dass er existierte? Wenn ich nun darauf insistiere, dass Hamlet zumindest nicht in der Weise existiert, wie ich meine, dass ich existiere, – worauf anderes gründet sich dann meine Annahme, ich sei kein Produkt der Literatur, sondern existiere aktuell, und der Ausdruck »ich« habe daher ein existierendes Individuum als Designat, als auf jenen
466
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
der Philosophie erhoben werden könnten 22 . Denn jener Satz unterscheidet sich weder in logisch-syntaktischer noch in wahrheitsdefiniter Hinsicht von diesen. Sie beschreiben erstens gewisse, mir mögliche Handlungen; sie sind zweitens wahr, wenn ich die Handlung vollziehe; und da ich drittens die jeweilige Handlung, Denken, Laufen, Verdauen, trivialerweise nicht vollziehen kann, ohne zu existieren, folgt jedes Mal, dass ich existiere. Sie sind alle von der gleichen Art 23 . Es sei daher weder einsichtig, dass der Satz »cogito, ergo sum« dieser Grundsatz ist, noch wie Sätze dieser Art überhaupt als Grundsätze angenommen werden können. Nun verwahrt sich Descartes jedoch gegen diese Gleichsetzung. Und seine Antwort auf die Einwände zeigt, dass es ihm im Falle des »ich denke, also existiere ich« gar nicht um die Wahrheit dieses Satzes, sondern um die Gewissheit dessen geht, was er aussagt. Zwar »einfachen Einblick« (mentis intuitus), von dem Descartes spricht? Wie anders als durch diese sich selbst verstehende ›Seinserfahrung‹ soll ich diese Einsicht gewinnen? Daraus folgt aber, dass man, um den Satz »ich denke, also existiere ich« in einen beweisbaren Satz überführen zu können, schon von dem »durch sich selbst Bekannten« ausgeht, dass ich, der denkt, existiert. Über diese Präsupposition der Existenz hinaus mag diese Art der logischen Interpretation zwar erhellen, dass der Grundsatz des Descartes den Regeln der Logik nicht widerspricht, aber sie erklärt nicht das Spezifische dieses Satzes, das ihn zum ersten Grundsatz der cartesischen Philosophie macht. Sie ist, wie Hintikka einwirft, »completely beside the point« (259). Denn zum einen gilt dasselbe, was für den Satz »ich denke, also existiere ich« gilt, auch für den Satz »ich laufe, also existiere ich«, da die Beweisbarkeitsregeln, die verwendet werden, nichts mit dem spezifischen Prädikat »denke« zu tun haben. Scholz hat denn auch große Mühe, das Besondere des cartesischen »cogito, ergo sum« angeben zu können, dem er meint, entgegen dem Wortlaut des Satzes, nur durch die Transformation des »farblosen, konstruktiv unverwendbaren Cogito, ergo sum« in das »schöne plastische Dubito, ergo sum« Rechnung tragen zu können; und muss gleichzeitig einräumen, nicht sagen zu können, warum Descartes dies nicht getan hat (Scholz 1931, 143). Zum anderen kann in historischer Hinsicht diese logische Interpretation nicht klären, worin denn der Unterschied zwischen dem »cogito, ergo sum« des Descartes und dem »si enim fallor, sum« des Augustin (de civitate Dei XI, 26) besteht. Denn, wenn es um die Beweisbarkeit der Sätze geht, dann sind beide Sätze in derselben Weise »wahr«: wenn P(a) wahr ist, dann ist (Ex)(x = a) wahr. 22 Siehe: Med. 234. – Vgl. auch Schelling 1856 ff., Bd. I/10, 12: »das Ich denke könnte nicht mehr auf sich haben als der Ausdruck, dessen ich mich ja ebensowohl bediene: Ich verdaue, ich mache Säfte, ich gehe, oder ich reite; denn es ist doch nicht eigentlich das denkende Wesen, das geht oder das reitet.« 23 »Logisch-syntaktisch unterscheiden sich die Sätze ›Ich denke, also bin ich‹ und etwa ›Ich gehe spazieren, also bin ich‹ in gar keiner Weise. In beiden Fällen folgt die Existenz des Ich trivialerweise, wenn die Sätze ›Ich denke‹ bzw. ›Ich gehe spazieren‹ wahr sind.« (Pacho 1980, 23) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
467
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
sind die Sätze, »ich denke, …« oder »ich laufe, …« oder »ich verdaue, also existiere ich«, so können wir seine Erwiderung referieren, sowohl hinsichtlich ihrer Syntax als auch ihrer Wahrheitsdefinitheit gleich; sie sind es aber nicht in epistemischer Hinsicht. Denn wenngleich auch der Vordersatz jeweils wahr ist, wenn der Fall ist, was er aussagt, so besteht im Falle des Laufens oder Verdauens die Möglichkeit des Irrtums: ich kann mich täuschen, wenn ich – etwa im Traum – annehme, ich liefe, oder wenn ich annehme, ich verdaute nicht, obgleich ich verdaue. An Sätzen dieser Art ist zu zweifeln. Allein im Fall des Denkens sei dieser Irrtum ausgeschlossen; denn wenn ich denke, dass ich denke oder dass ich laufe oder dass ich verdaue, – in jedem Fall bin ich mir gewiss, dass ich denke. 24 Hier, im Denken, fällt die Vorstellung von der Handlung, die der Satz beschreibt, und die tatsächliche Handlung zusammen. Ich kann (jetzt) nicht denken, ich dächte (jetzt) nicht. Für Descartes folgt daraus, dass allein im Fall des Satzes »ich denke« Gewissheit darüber besteht, dass dieser Satz wahr ist; und dass daher – im Unterschied zu anderen Sätzen wie »ich laufe, also existiere ich« – nur über die Wahrheit des Satzes »ich denke, also existiere ich« Gewissheit besteht. 25 2. Gehen wir davon aus, dass für Descartes allein im Falle, dass ich denke, die Gewissheit besteht, dass ich bin, so stellt sich im nächsten Schritt die Frage, was diese »Gewissheit« bedeutet und insbesondere, ob sie dasselbe wie »Klarheit« meint. Machen wir hierfür die plausible, aber voraussetzungsvolle Annahme, dass ich von allem meine Vorstellungen am besten kenne. Ob der Stab dort im Wasser gekrümmt oder gerade ist, ob Jesus Christus Gott oder Mensch ist, ob »Denn wenn ich sage: ›ich sehe oder: ich gehe, also bin ich‹, und ich dies von dem Sehen oder Gehen, das vermittels des Körpers erfolgt, verstehe, so ist der Schluss nicht durchaus sicher [absolutè certa]; denn ich kann glauben, ich sähe oder ginge, obgleich ich die Augen nicht öffne und mich nicht von der Stelle bewege, wie dies in den Träumen oft vorkommt; ja, dies könnte geschehen, ohne dass ich überhaupt einen Körper hätte. Verstehe ich es aber von der Wahrnehmung selbst oder von dem Bewusstsein (conscientia) meines Sehens oder Gehens, so ist die Folgerung ganz sicher, weil es dann auf den Geist bezogen wird, der allein wahrnimmt oder denkt, er sähe oder ginge.« (Descartes 1997, 294) – Siehe auch: Med. 324. 25 A. Buchenau übersetzt: »ego sum, ego existo; certum est. Quandiu autem? Nempe quandiu cogito.« folgendermaßen: »Ich bin, ich existiere, das ist gewiss. Wie lange aber bin ich? [H. v. m.] Nun, so lange, als ich denke …« (Med. 20). Wir halten dem entgegen, dass das »quandiu autem?« sich nicht auf »ego sum, ego existo« bezieht, sondern auf »certum est«. Wir interpretieren: solange ich denke, ist gewiss, dass ich bin. Im Falle, dass ich laufe, ist es zwar wahr, dass ich bin; aber es ist mir nicht gewiss, dass ich laufe. 24
468
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
jemand das, was er sagt, auch denkt, selbst ob ich die Organe habe, die ich habe – all diese Dinge sind mir ferner und unvertrauter als die Ideen, die ich davon habe, und die Gedanken, die ich darüber mache. Diese sind, so wollen wir sagen, das mir Vertrauteste, so dass ich keine Vorstellungen oder Gedanken haben kann, ohne dass ich sie zugleich als meine Vorstellungen oder Gedanken habe. Diese innige Art des Habens der Ideen nennt Descartes das Bewusstsein (cogitatio, pensée), das alles das befasst, »was so in uns ist, dass wir uns seiner unmittelbar bewusst werden.« (Med. 145) Während ich etwa Bilder sehen kann, ohne mir ihrer bewusst zu sein, oder sie im Bewusstsein haben kann, ohne sie zu sehen, ist dies im Falle der Ideen nicht möglich. Die Einheit des Bewusstseins macht es mir unmöglich, Ideen (aktuell) zu haben, ohne dass ich sie so vorstelle oder denke, wie ich sie habe. Mit dieser Annahme über die Einheit des Bewusstseins begründet Descartes offenbar, dass der Satz »ich denke, also existiere ich« gewiss ist, bzw. dass ich mir der Wahrheit dieser Aussage gewiss bin. Sie ist gewiss, 1) wenn ich sage: »ich denke, also existiere ich«; 2) wenn ich tatsächlich denke; 3) weil ich, wenn ich denke, auch existiere; und 4) weil ich, der Sprecher, mir – aufgrund der Einheit meines Bewusstseins – gewiss bin, dass, wenn ich denke, ich denke. Ich und zwar ich allein, so die Folgerung, habe aufgrund jenes innigen Habens die Gewissheit, ob und dass der Satz »ich denke, also existiere ich« wahr ist. Er ist unter diesen Voraussetzungen und Bedingungen selbstverifizierend und unkorrigierbar. 26 In dieser Hinsicht ist der Satz »ich denke also existiere ich« für Descartes der einzige Erfahrungssatz, der – trotz seiner empirischen Bedeutung – unbezweifelbar gewiss ist. Während ich in allen anderen Fällen etwas, Dinge oder Handlungen, auch anders vorstellen kann, ist dies im Fall, dass ich denke, nicht möglich. Wenn ich denke, bin ich zugleich gewiss, dass ich denke. Da Descartes jedoch diese Gewissheit zum einen auf die bloß empirische Tatsache, dass, wenn und solange ich denke, ich denke, gründet, und da er sie zum anderen auf die Hypothese der »Einheit des Bewusstseins«, d. h. die AnnahVgl.: Williams 1996, 53. – Im strikten Sinne geht es Descartes unseres Erachtens nicht um die Verifikation von Behauptungen, sondern um die Certifikation des Behaupteten. Das heißt: für Descartes ist nicht entscheidend, dass die Behauptung »cogito« »notwendig wahr« ist, sondern dass (allein) der Satz »cogito« die Eigenschaft hat, dass, ich, wenn ich etwas tue, gewiss bin, dass ich es tue.
26
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
469
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
me, dass gegenüber allem anderen meine Ideen das mir Vertrauteste seien, stützt, kann, so unser Fazit, der Satz »ich denke, also existiere ich« nicht derjenige erste Grundsatz seiner Philosophie sein, der ausdrückt, was sich »meinem Geist klar und deutlich darbietet«. Denn da diese Gewissheit sowohl von der empirischen Tatsache abhängt, dass ich denke (was der Fall oder nicht der Fall sein kann), als auch auf der bloß plausiblen Hypothese beruht, dass die Vorstellungen und Gedanken, die ich habe, zugleich meine Vorstellungen und Gedanken sind 27 , so kann die Gewissheit, denkend zu existieren, nicht das gesuchte klar Eingesehene sein 28 . Das Problem, das Descartes hier erörtert, ist, wie oder in welchem Fall das, was empirisch wahr ist, mir Auf das bloß Hypothetische dieser Annahme trifft die Kritik Schellings zu, die Gewissheit des eigenen Denkens sei eine »empirische« (Schelling 1856 ff., Bd. I/10, 12) und eine »bloß subjektive(.) Gewissheit« (ebd., 5). Daher lasse sich die Wissenschaft nicht auf das cartesische »Ich bin« gründen, weil »es doch nur ein, zwar nicht mir, der es ausspricht, aber an sich zweifelhaftes Seyn ausdrückt.« (ebd, Bd. II/1, 301). Er hebt auch das Problematische der »Einheit des Bewusstseins« hervor: »Da es also zweierlei ist, das Denkende und das auf dieß Denkende Reflektirende und es als eins mit sich Setzende, oder da es ein objektives, von mir unabhängiges Denken gibt, so könnte ja dieses in jener vermeinten Einheit, oder, indem es das ursprüngliche Denken sich zuschreibt, eben darin könnte es sich täuschen, und das Ich denke könnte nicht mehr auf sich haben als der Ausdruck, dessen ich mich ja ebensowohl bediene: Ich verdaue, ich mache Säfte, ich gehe, oder ich reite … Es denkt in mir, es wird in mir gedacht, ist das reine Faktum, gleichwie ich auch mit gleicher Berechtigung sage: Ich träumte, und: Es träumte mir.« (ebd., Bd. I/10, 11 f.) Übrigens scheint Schelling sein Urteil über die cartesische Philosophie revidiert zu haben. Hatte er in den Vorlesungen »Zur Geschichte der neueren Philosophie« darauf abgehoben, dass Descartes des »an sich Zweifelhaften« der subjektiven Gewissheit wegen sucht, »aus dem Subjektiven ins Objektive zu kommen« (ebd., 13), und festgestellt, Descartes sei weitaus »durch die Aufstellung des ontologischen Beweises … für die ganze Folge der neueren Philosophie bestimmend geworden« (ebd., 14; H. v. m.), trat später die Auffassung in den Vordergrund, durch Descartes sei das »Selbst-Denken« dominierend geworden sei. In den »Berliner Vorlesungen« notiert er: »Seit Descartes wird das sich selbst Denken, selbst bewusst Begr|eifen| als das erste Sein, als das alles Dominierende angesehen. Aber«, so wendet Schelling ein, »das eauton noein ist selbst erst das Resultat der großen Prinzipien des Seins.« (Schelling 1990, 164). Ohne dass er diese Schlussfolgerung zieht, lässt sich annehmen, dass er jetzt nicht mehr den ontologischen Gottesbeweis, sondern das Autonomieprinzip des sich gewissen Ich als »das alles Dominierende« der neueren Philosophie beurteilt. – Zu den über die Epistemologie hinausgehenden, politik- und sozialphilosophischen Konsequenzen siehe: Schraven 1989. 28 Von dieser Gewissheit sagt M. Gueroult, sie sei nur eine »certitude psychologique inébranlable et définitive en fait« (Gueroult 1955, 83). – Vgl. auch seine Polemik gegen die »Mehrheit der Interpreten«, die die Meditationen »als eine Art rationaler Psychologie (versteht), die von der Selbstreflexion ausgeht«. (Gueroult 1993, 52). 27
470
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
auch gewiss ist; er thematisiert aber nicht diejenige Klarheit, die, gemäß seiner Regel, die Bedingung der Wahrheit ist. Das Kriterium der Klarheit muss daher einen anderen epistemischen Status haben als diejenige Gewissheit, dass, solange ich denke, ich bin.
B.
»Cogito, ergo sum« als apriorischer Satz
Von dieser Art empirischer Gewissheit wollen wir die apriorische Bedeutung des Satzes »cogito, ergo sum« unterscheiden, nach der das, was wir als das »Ich« und das »Denken« bezeichnen werden, als schlechterdings untrennbar angenommen wird, so dass das »Ich« von vornherein als nichts anderes als denkend gilt. Denn, so unsere Annahme, nur auf der Grundlage dieser Apriorität des »cogito« ist es Descartes möglich, ein solches epistemisches Subjekt zu konzipieren, das in dem, was es ist, nicht vom Haben irgendwelcher Ideen und auch nicht vom Faktum, das es denkt, abhängt, sondern das sich unabhängig von und gleichsam gegenüber all diesen Ideen etabliert, und das als diese unabhängige Instanz die Ideen, die es hat, – wie wir eingangs sagten – epistemisch zu kontrollieren vermag. Dieses ›Ich, das bloß denkt‹ meint – selbstverständlich – nicht den konkreten Menschen oder die psychische Entität, die als »René Descartes« bezeichnet wird, sondern eine epistemische Entität, die Descartes den »Geist« nennt, der immer denkt 29 , und die wir als das Subjekt der von Descartes konzipierten neuen Wissenschaft verstehen. Von dieser Bedeutung des Satzes erwarten wir, dass der ›Schluss‹ vom »cogito« auf das »sum« nicht, wie im vorigen Fall, auf der Trivialität des »durch sich selbst Bekannten« beruht, sondern dass er erklärt, was Descartes mit der von ihm gesuchten klaren Einsicht meint. Um die apriorische Bedeutung des »cogito, ergo sum« als des ersten Grundsatzes der cartesischen Philosophie nachvollziehen zu können, gehen wir zuerst auf die logisch-syntaktische Struktur des Satzes ein und ziehen hierzu drei mögliche Deutungen heran: die Identität, die Implikation und die Äquivalenz.
In diesem Sinne antwortet Descartes dem Theologen G. Gibieuf, dass es ihm »leichter sein würde, zu glauben, die Seele höre zu existieren auf, wenn man sagt, sie höre zu denken auf, als zu begreifen, dass sie ohne Gedanken sei«. »Die Seele denkt immer« (l’âme pense toujours). (Brief, 19. 1. 1642, AT III, 472 ff.)
29
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
471
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
1.
Die spekulative Identität
Descartes’ Behauptung, das »ich denke also bin ich« sei der Grundsatz der Philosophie, hat zu der Ansicht geführt, er habe das »ich denke« und das »ich bin« identifiziert. Descartes schließe nicht vom Denken aufs Sein – weil durch den Schluss die Unmittelbarkeit des ersten Grundsatzes aufgehoben würde –, sondern: Sein ist Denken, Denken ist Sein. »Das Denken«, so formuliert etwa Hegel diese gemeinte Einheit, »ist das innere Beimirsein, die Unmittelbarkeit bei mir, – es ist das einfache Wissen selbst. Diese Unmittelbarkeit ist aber eben dasselbe, als was Sein heißt.« (Hegel 1969 ff., Bd. 20, 130) So verstanden, drückt das »ergo« keine Folge aus der Wahrheit des Satzes »ich denke« aus, sondern die einfache Einheit von Denken und Sein. 30 Nach dieser Interpretation sei Descartes der Begründer der neueren Philosophie, weil er nicht nur den Grundsatz der Philosophie: »Sein ist Denken« erneuert habe, sondern weil er diesen Vereinigungspunkt ins »Ich« gesetzt habe. 31 Diese Auffassung von der unmittelbaren Einheit von Denken und Sein kann zwar erklären, warum Descartes den »cogito, ergo sum«-Satz als den ersten Grundsatz der Philosophie bezeichnet; sie erklärt aber nicht, warum Descartes dies so nicht formuliert. Er sagt nicht: »in me intelligere et esse idem est«, sondern: »cogito, ergo sum«. Wir nehmen daher an, dass für Descartes zwischen Denken und Sein, genauer: zwischen »cogito« und »sum« durchaus eine ›Vermittlung‹ besteht, die das »ergo« ausdrückt. Der Satz: »cogito, ergo sum« ist daher zwar der erste Grundsatz, den Descartes aufstellt, aber nicht als das absolute, schlechterdings unbegründbare und vermittlungslose Erste, weil Descartes ihm, wie wir angenommen haben, die epistemische Regel voraussetzt, nach der (nur) das klar Ein»Zu einem Schlusse gehören drei Glieder, hier ein Drittes, wodurch Denken und Sein vermittelt wäre; so ist es aber nicht, – nicht Ich denke, also so bin ich. Dies Also ist hier nicht als das Also des Schlusses; es ist nur der Zusammenhang gesetzt von Sein und Denken.« (§ Hegel 1969 ff., Bd. 20, 131 f.) 31 Feuerbach 1976, 185: »ich denke: ich bin – ist ununterscheidbar, ist eins.« Er wendet von seinem anthropologischen Standpunkt aus ein, Descartes habe das »Ich« ›einseitig‹ bloß als »Geist« gefasst: »Das Ich in dem Cogito bei Cartesius hat darum an sich, ursprünglich, in der Idee nicht die Bedeutung der Person, des Individuums, des Ichs in dem Sinne, in welchem einer auf die Frage: wer da? antwortet: ich, wo das: ich den Namen dieses Menschen vertritt, … sondern es hat die Bedeutung des Geistes.« (Feuerbach 1974, 59 f.) 30
472
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
gesehene als wahr anzunehmen sei. Diesen Zusammenhang von klarer Einsicht und wahrer Annahme aber macht eine solche ›Identitätsdeutung‹ des Satzes nicht einsichtig. 32 Auch wenn wir Hegels Auffassung nicht teilen, der Satz »cogito ergo sum« drücke die Identität von Denken und Sein aus, so können wir uns dem Vorwurf nicht anschließen, seine Descartes-Interpretation sei einer rationalen Rekonstruktion überhaupt nicht zugänglich, wie ihn H. Brands in seiner Studie zum Cogito ergo sum erhoben hat. Er behauptet in, zugegebenermaßen, polemischer Weise, Hegels Deutungen seien »schlechterdings Unsinn« und »in einem Maße unverständlich und nichtssagend, dass sie nicht einmal den Rang eines offenbaren Irrtums einnehmen können.« (Brands 1982, 151) Bündelt man die Einwände, so konzentriert sich die Kritik auf Hegels Deutung des cogito ergo sum-Satzes: »Denken und Sein ist so darin unzertrennlich verbunden.« (Hegel 1969 ff., Bd. 20, 131) Was bei Schelling, den Brands schätzt, fast gleichlautend so formuliert wird, dass Descartes den Punkt finden wollte, »wo Denken … und Seyn unmittelbar in eins zusammenfallen« (Schelling 1856 ff., Bd. I/10, 9), wird bei Hegel zum Stein des Anstoßes. Statt vom »cogito« und vom »sum« zu sprechen, hypostasiere Hegel in »realistischer Manier« (Brands 1982, 152) ›das Denken‹ und ›das Sein‹ ; der Ausdruck »unzertrennlich verbunden« sei von einer – »wie Hegel gerne sagte« – »nichtssagende(n) … Seichtigkeit« (166), über die er nicht hinauskomme; er habe jener realistischen Manier wegen »das ›ich‹ gänzlich vergessen« (156); und offenbare in der anschliessenden Abweisung der Ansicht, das cogito ergo sum sei ein Schluss, seine Ahnungslosigkeit in Sachen ›Logik‹. Brands hält dem entgegen, dass Hegel bei Kenntnis der Logik hätte erkennen müssen, dass der Satz »cogito ergo sum« durchaus ein Schluss sei; zwar kein, aus drei Sätzen bestehender, Syllogismus, aber ein »unmittelbarer Schluss« mit nur einer Prämisse. Nimmt man nämlich das logische Gesetz F(x) -> Vy(y = x) als allgemeingültige Regel an, so ist seine Formulierung in einem Obersatz »überflüssig« (162). Wird nun für ›F(x)‹ ›D(ich)‹ (= ›ich denke‹) eingesetzt, so folgt nach jener Regel unmittelbar: Vy(ich = y) = ›ich bin‹. »Nach diesem Gesetz«, zitiert Brands, »folgt aus der Aussage ›ich denke‹ die Aussage ›es gibt ein solches x, so dass x mit mir identisch ist‹, also die Aussage ›ich existiere‹.« (162) Es scheint, als missverstehe Brands Hegel mit Absicht; denn der Text, auf den die Kritik sich bezieht, enthält »Ich« insgesamt sieben Mal. Wendet man nur geringe Mühe auf, wird klar, dass Hegel Descartes in der Weise interpretiert, dass dieser im Ich Denken und Sein als unmittelbar oder unzertrennlich verbunden sieht. Wie kann man behaupten, Hegel habe das »ich« vergessen, wo er gerade sagt, es sei für Descartes das »absolute Fundament aller Philosophie« (Hegel 1969 ff., Bd. 20, 131)? – Wenn diese Kritik unhaltbar ist, so ist zu fragen, welche der beiden Interpretationen ›näher‹ am cartesischen Grundsatz ist: Hegels spekulative Deutung, die jene »Unzertrennlichkeit« von Denken und Sein im Ich als Fundament der Philosophie Descartes’ deutet, oder Brands’ Deutung des Satzes, die das »ich« formallogisch als einen singulären Terminus (Brands 1982, 156) verwendet? Angesichts der vehementen Kritik überrascht es dann doch, wenn Brands einräumt, dass seine formalisierende Rekonstruktion des Satzes nicht mit dem Verständnis übereinstimmt, das Descartes selbst von seinem ersten Grundsatz hatte (65 ff.). Wollte man gleichfalls polemisch sein, könnte man sagen, dass ein solch sprachontologischer Dogmatismus, wie Brands ihn präsentiert, ein Rückfall hinter die cartesische Begründungsproblematik von Wissen ist, und dass das Fehlen jeglicher Beißhemmung
32
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
473
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
2.
Die logische Implikation
Eine andere Version deutet den Satz nicht als den Vereinigungspunkt von Denken und Sein, sondern fasst den Satz »sum« als eine logische Implikation von »cogito« auf. Jenes sei in diesem enthalten. Kant nennt deshalb das cogito, ergo sum »tautologisch« (KrV A 355), Schopenhauer ein »analytisches Urteil« 33 . Hier gilt die Aussage des Satzes nicht, wie im Fall der empirischen Bedeutung, als etwas »durch sich selbst Bekanntes«; er drückt auch nicht den spekulativen Gehalt der Identität von Denken und Sein aus; der Satz wird vielmehr als logisch wahr beurteilt: aus »cogito« folgt »sum«, weil in dem Satz »cogito« ›versteckterweise‹ das »sum« schon enthalten sei. Allerdings bedarf es zu dieser Deutung des Satzes als eines analytischen Urteils zweier Bedingungen: die erste ist, dass die sprachlichen Ausdrücke »cogito« und »sum cogitans« als synonym aufgefasst werden und daher dasselbe bezeichnen, so dass jener Ausdruck durch diesen ersetzt werden kann 34 ; die zweite Bedingung ist, dass das »sum« in »ergo sum« nicht die Existenz aussagt, sondern dass es, wie in »sum cogitans«, die Bedeutung der Kopula hat 35 . Unter diesen beiden Bedingungen ist der Satz tautologisch bzw. analytisch: »(cogito =) sum cogitans, ergo sum«. Während es im Fall der Identitätsannahme zwar möglich ist, den gegen die Reflexionskultur, die Hegel repräsentiert, letztlich nur psychologisch erklärbar ist. 33 Schopenhauer o. J., Bd. 3, 39: »Cogito, ergo sum ist ein analytisches Urteil: Parmenides hat es sogar für ein identisches gehalten: to gar auto noein esti te kai einai (nam intelligere et esse idem est, Clem. Alex. Strom. VI, 2 § 23). Als ein solches aber, oder auch nur als analytisches, kann es keine besondere Weisheit enthalten; wie auch nicht, wenn man, noch gründlicher, es als einen Schluss, aus dem Obersatz non-entis nulla praedicata ableiten wollte.« 34 So schon Leibniz 1978, Bd. 5, 391: »Et de dire: je pense, donc je suis, ce n’est pas prouver proprement l’existence par la pensée, puisque penser et être pensant est la même chose; et: dire: je suis pensent, est déjà dire: je suis.« – Auch Spinoza 1925, 153: »Quare hoc enunciatum Cogito sive sum Cogitans unicum & certissimum est fundamentum totius Philosophiae.« 35 J. G. Fichte, der den cartesischen Satz »cogito, ergo sum« zwar in den Satz »sum, ergo sum« auflöst – weil, wie er sagt, das Denken »nur eine besondere Bestimmung des Seyns« (Fichte 1845, Bd. I, 100) ist –, gibt der Kopula in dem unvollständigen Satz »ich bin« einen bestimmten Sinn: »Das ursprünglich höchste Urtheil dieser Art ist das: Ich bin, in welchem vom Ich gar nichts ausgesagt wird, sondern die Stelle des Prädikats für die mögliche Bestimmung des Ich ins Unendliche leer gelassen wird.« (116). – Vgl. auch die kritischen Ausführungen von B. Bolzano zur Kopula in: Bolzano 1970, 191.
474
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
Status des »cogito, ergo sum«-Satzes als Grundsatz der Philosophie zu erklären, jedoch auf Kosten des Schlusscharakters des Satzes, so ist es im Fall der Implikationsannahme umgekehrt zwar möglich, den Schlusscharakter des Satzes zu erklären: »sum cogitans, ergo sum«, aber nicht den Status eines Grundsatzes der Philosophie 36. Er ist, weil logisch wahr, so wahr wie der Satz: »ambulans sum, ergo sum« oder wie der Schluss: »si lucet, lucet: lucet autem: ergo lucet« (Huet 1971, 14). Diese Deutung des Satzes dient denn meist auch dazu, den cartesischen Anfang der Philosophie des analytischen Charakters wegen als nichtssagend, folgeleer und nutzlos, und Descartes’ vermeintlichen ›Schluss‹ vom Denken auf die Existenz als unzulässig zu kritisieren. 37 Da es uns jedoch nicht darum geht, die Leerheit des Satzes einzusehen, sondern um dessen Rekonstruktion als des ersten Grundsatzes der cartesischen Philosophie, so können wir offenbar jene zwei Interpretationsbedingungen, die Synonymie von »cogito« und »sum cogitans« sowie die Deutung von »sum« als Kopula, nicht einfach übernehmen. 3.
Die Äquivalenzbeziehung
1. Um beidem, dem Grundsatz- und dem Schlusscharakter des »cogito, ergo sum«, zu entsprechen, wollen wir das Verhältnis der zwei Sätze: »cogito« und »sum« in formaler Hinsicht als Äquivalenzbeziehung deuten. Diese Deutung ist allerdings nur möglich, wenn wir den unvollständigen Satz »sum« ergänzen: »sum cogitans«. Wir nehmen damit jene aussagenlogische Bedingung auf, die es erlaubt, den Ausdruck »cogito« in »sum cogitans« zu transformieren; wir ersetzen aber nicht den Ausdruck »cogito« durch: »sum cogitans«, sonDiese Differenz verdeutlicht Schopenhauers ›Beziehung‹ zum cartesischen »cogito ergo sum«. Auf der einen Seite bildet der Satz für ihn ein analytisches Urteil, das, wie er sagt, »keine besondere Weisheit« enthält. Andererseits sagt er: »Eigentlich aber hat Cartesius damit die große Wahrheit ausdrücken wollen, dass nur dem Selbstbewusstsein, also dem Subjektiven, unmittelbare Gewissheit zukommt.« (Schopenhauer o. J., Bd. 3, 39). Und an anderer Stelle: »Genau betrachtet ist sein berühmter Satz das Aequivalent dessen, von welchem ich ausgegangen bin: ›die Welt ist meine Vorstellung‹.« (Schopenhauer o. J., Bd. 6, 10). – Beides passt nicht zusammen: die logische Beurteilung als ›Allerweltssatz‹ und das erkenntnistheoretische Urteil als »große Wahrheit«. 37 Vgl. Kant, KrV B 422: »Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satze: Ich denke, als gefolgert angesehen werden, wie Cartesius dafür hielt, (weil sonst der Obersatz, alles, was denkt, existiert, vorausgehen müsste), sondern ist mit ihm identisch.« 36
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
475
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
dern ergänzen den unvollständigen Satz »ergo sum« zu: »ergo sum cogitans«. In diesem Fall sind die beiden Sätze: »cogito« und »sum cogitans« in logischer Hinsicht äquivalent: wenn gilt: ich denke, so gilt: ich bin denkend; vice versa. Wir akzeptieren also die Interpretation, die das »sum« bzw. das »bin« als Kopula deutet, verstehen aber »cogito« und »sum cogitans« nicht als synonyme Ausdrücke, sondern als äquivalente Sätze. 38 Mit dieser Interpretation des »cogito, ergo sum« als einer Äquivalenzbeziehung tragen wir dem Grundsatzcharakter des Satzes Rechnung. Denn da wir das »cogito« nicht durch den Ausdruck »sum cogitans« ersetzen, ordnen wir das »cogito, ergo sum« nicht dem aussagenlogischen Kalkül unter – mit der Folge, den Satz bloß als irgendeine logische Implikation zu verstehen; vielmehr heben wir den syntaktischen Unterschied zwischen dem Satz »cogito« und »sum cogitans« hervor. Hinsichtlich ihres Designats zwar sind beide Sätze äquivalent und bezeichnen dasselbe; hinsichtlich ihrer Semantik jedoch, so nehmen wir an, verweist der Unterschied der Syntax auf einen Unterschied der Bedeutung, der uns den Grundsatzcharakter des »cogito, ergo sum« zu erhellen vermag. Denn syntaktisch gehören die beiden Sätze »cogito« und »sum cogitans« zwei ganz verschiedenen Satztypen an: der Satz »cogito« beschreibt meine Handlung; der Satz »sum cogitans« hingegen ordnet mir eine gewisse Eigenschaft zu. 39 Auf diesen unterschiedlichen Typus der beiden SätSchon Spinoza verwendet den Äquivalenzbegriff: »… praeterquam quod non esset certa conclusio: nam eius veritas dependeret ab universalibus praemissis, quas dudum in dubium Autor revocaverat: ideoque Cogito, ergo sum, unica est propositio, quae huic, ego sum cogitans, aequivalet« (Spinoza 1925, 144.). Seine Behauptung, zwischen den beiden Sätzen »cogito, ergo sum« und »ego sum cogitans« bestehe Äquivalenz, setzt, wie er es tut, voraus, den ersteren Satz nicht als einen Schluss zu interpretieren (ebd.: »cogito, ergo sum, non esse syllogismum«), sondern als die Proposition »cogito«, in der das »sum« schon analytisch enthalten ist. Unter dieser Voraussetzung ist das »cogito« dem »ego sum cogitans« äquivalent. Allerdings unterscheidet sich seine Deutung von der unseren darin, dass Spinoza schließt, der Satz »cogito, ergo sum« müsse, weil keine Konklusion, dem Satz »ego sum cogitans« äquivalent sein, während wir das »cogito, ergo sum« selbst als eine Äquivalenzbeziehung von »cogito« und »sum cogitans« deuten. 39 Diesen semantischen Unterschied bringt die lateinische Grammatik deutlicher zum Ausdruck. »Die Bedeutung des ›Ich‹ im cartesischen cogito«, schreibt hierzu R. Spaemann, »ist zunächst die einer reinen Form. Im Unterschied zu den meisten lebenden europäischen Sprachen benennt das lateinische Verb in der ersten Person sein Subjekt gar nicht ausdrücklich. Es steckt in der Form des Verbs. Und wenn das Bewusstsein nur aus einer einzigen Art intentionaler Akten oder sogar nur aus einem einzigen inten38
476
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
ze soll es uns im Weiteren ankommen. 40 Dabei erscheint es für diese Beziehung der beiden Sätze zunächst als gleichgültig, ob wir den cogito ergo sum-Satz in seiner empirischen oder apriorischen Bedeutung nehmen; denn aus der empirischen Tatsache, dass ich jetzt denke, folgt, dass ich jetzt denkend bin, vice versa; sowie aus der a priori-Annahme, dass ich schlechthin denke, folgt, dass ich schlechthin denkend bin, vice versa. Hinsichtlich der apriorischen Bedeutung dieses Satzes erwarten wir jedoch, dass uns seine Interpretation als einer Äquivalenzrelation zwischen »ich denke« und »ich bin denkend« zu verstehen hilft, was Descartes mit der »klaren Einsicht« meint, die offenbar weder im Sinne der Identitätsphilosophie als spekulative Einheit von Sein und Denken noch im Sinne des Aussagenkalküls als eine logische Implikation verstanden werden kann. 2. Nun weicht diese Interpretation des »cogito, ergo sum« ganz offensichtlich sowohl vom Wortlaut des Satzes als auch vom Kontext ab, in dem Descartes ihn verwendet. Denn wir können so zwar auf der einen Seite des Satzes den Wortlaut des »cogito« erhalten, müssen auf der anderen Seite aber das »ergo sum« ergänzen: »ergo sum – cogitans«. Dieser Ergänzung aber scheint zu widersprechen, dass Descartes – zumindest in den »Meditationen« – es als die erste Einsicht darstellt, dass, wenn und solange ich denke, ich existiere. Erst im Anschluss an diese Einsicht bemerkt er: »Noch erkenne ich aber nicht zur Genüge, wer ich denn bin, der ich jetzt bin …« (Med. 18; H. v. m.) und kommt erst im Weiteren zu der Erkenntnis: »Ich bin also genau tionalen Akt bestünde, dann bliebe es bei dieser rein formalen Struktur. Das Bewusstsein wäre sich seiner als Bewusstsein bewusst, ohne dass es Sinn hätte, aus ihm so etwas wie ein Subjekt zu extrapolieren.« (Spaemann 1996, 111). In der Übertragung des »cogito« in »ich denke« aber geschieht genau diese Extrapolierung: hier wird das Ich als das Satzsubjekt festgehalten, dem die Tätigkeit des Denkens prädiziert wird. 40 Wir stimmen H. H. Holz zu, wenn er »den Vorwurf, dem man [näher: H. Scholz] Descartes und in seiner Nachfolge Spinoza und sogar Leibniz gemacht hat, sie hätten den Bruch zwischen dem funktionalen und substanzialen Aspekt in der Grundstruktur des cogito-Argument nicht gesehen«, für unberechtigt hält: »… gerade die Sorgfalt, mit der Descartes das ›ich existiere‹ aus dem ›ich denke‹ herauspräpariert und damit zu einem identischen Substrat der Denkfunktion kommt, (weist) darauf hin …, dass ihm die Gleichsetzung von cogito und res cogitans nicht unproblematisch war und die realitas oder Substanzialität des denkenden Ich eines umständlichen Aufweises bedürftig erschien.« (Holz 1997, 162). Wir meinen allerdings nicht, dass dieser »Übergang von der Funktion zur Substanz« als Übergang von einer kritischen Erkenntnistheorie zur Ontologie zu verstehen ist, sondern deuten ihn zunächst nur als einen von der Funktion des ›cogito‹ zur Substanz der ›res cogitans‹ oder, wie wir sagen werden, vom reinen Denken zur klaren Einsicht. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
477
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
nur ein denkendes Ding (res cogitans)« (Med. 20). Demnach scheint es offenbar unstatthaft zu sein, Descartes’ ersten Grundsatz als eine Äquivalenzbeziehung zwischen den Sätzen »cogito« und »ego sum (res) cogitans« zu deuten. Descartes unterscheidet die erste Einsicht, dass ich bin, von der anschließenden Einsicht, was ich bin. Um unsere Deutung des Satzes vor diesem Einwand zu retten, wollen wir wieder auf unseren Interpretationsrahmen zurückgreifen, nach dem wir erstens davon ausgehen, dass Descartes seinem Wissensbegründungsverfahren die epistemische Regel voraussetzt, nach der nur das klar Eingesehene als wahr anzunehmen ist, und wir zweitens unterstellen, dass Descartes in seiner Darstellung nicht hinreichend deutlich zwischen der empirischen Bedeutung des »cogito, ergo sum«-Satzes und dessen apriorischer Bedeutung unterschieden hat. Im Falle der empirischen Bedeutung, so haben wir gesagt, formuliert der Satz in der Tat die Einsicht, dass, wenn und solange ich denke, ich existiere. Hier beruht die Einsicht auf dem »durch sich selbst Bekannten«, nicht denken zu können, ohne zu existieren. Im Falle der apriorischen Bedeutung des Satzes jedoch erscheint es uns als ausgeschlossen, dass Descartes annimmt, aus dem reinen »Ich denke« folge die Existenz seiner selbst. Denn zum einen weist Descartes selbst die Auffassung im Weiteren ausdrücklich zurück, dass seine Existenz von ihm selbst abhinge 41. Zum anderen aber – und dies ist unser Hauptargument – widerspräche der Schluss vom reinen »Ich denke« auf die Existenz der vorausgesetzten epistemischen Regel, nach der nicht das, was existiert, eingesehen wird, sondern vielmehr umgekehrt das, was klar und deutlich eingesehen ist, auch existiert. Dieser Regel entspricht es, wenn Descartes in seiner Antwort auf die Einwände von Caterus feststellt: »… nach den Gesetzen der wahren Logik darf man bei keiner Sache jemals fragen, ›ob sie ist (an sit)‹, wenn man nicht zuvor einsieht, ›was sie ist (quid sit)‹« (Med. 97; H. v. m.). Auf das fragliche Ich angewendet, kann dieses »Gesetz der wahren Logik« nur heißen, dass ich zuerst klar und deutlich eingesehen haben muss, was ich bin, nämlich denkend; um dann zu fragen: ob ich bin, nämlich existiere. Auf dieser Grundlage sehen »Da ich nämlich nichts anderes bin, als ein denkendes Ding oder da wenigstens für jetzt genau nur von dem Teile von mir, der ein denkendes Ding ist, die Rede ist, so müsste ich, wenn eine solche Kraft in mir wäre, mir zweifellos ihrer bewusst sein. Indessen ich habe keine Erfahrung einer solchen Kraft, und eben daraus erkenne ich aufs klarste, dass ich von irgendeinem von mir verschiedenen Wesen abhänge.« (Med. 40)
41
478
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
wir uns berechtigt, das »cogito, ergo sum« in seiner apriorischen Bedeutung nicht als einen Schluss von »cogito« auf »existo«, sondern als eine Äquivalenzbeziehung der beiden Sätze »cogito« und »ego sum cogitans« zu rekonstruieren. a.
»Ich denke«
Auf der Basis unserer Interpretation des »cogito, ergo sum« als formaler Äquivalenz wollen wir nun das »cogito« in seiner apriorischen Bedeutung als »Ich denke« und das »sum cogitans« als »ich bin denkend« bezeichnen und uns zunächst dem »Ich denke« zuwenden. In dieser Bedeutung beantwortet der Satz »Ich denke« weder die empirischen Fragen nach dem, was ich tue oder wessen ich mir gewiss bin, dass ich tue, noch die ›Sachfrage‹ nach dem, was ich bin; er antwortet vielmehr auf die epistemische Frage nach dem, der denkt, nach dem Subjekt meines Denkens. So verstanden, formuliert der Satz »Ich denke« die Apriori-Annahme der cartesischen Epistemologie, dass das Ich es ist, das denkt. Wenn ich daher denke, dann ist es weder so, dass ich gedacht werde, noch so, dass anderes in mir denkt, sondern so, dass Ich selbst das Subjekt meiner Gedanken bin. Meine Tätigkeit zu denken ist meine Handlung. Hier beschreibt der Satz keine mögliche Erfahrung, sondern formuliert – ›vor aller Erfahrung‹ – Descartes’ Annahme über das Verhältnis meiner Denktätigkeit zu mir, dergemäß Ich selbst denke, d. h. dass das Ich das Subjekt meines Denkens ist: mein Denken ist ›je schon‹ mein Denken. – In dieser Bedeutung verstehen wir das »Ich denke« so, dass der Satz die epistemologische Bedingung nennt, unter der die gesuchte Klarheit der Einsicht überhaupt möglich ist. Denn nur unter der Voraussetzung, dass Ich selbst das Subjekt meines Denkens bin und daher meine Gedanken gleichsam zu kontrollieren vermag, kann irgend Vorgestelltes überhaupt von mir klar und deutlich eingesehen werden. Nähmen wir dieses »Ich denke« nicht als apriorische Bedingung an, so wäre Descartes’ Konzept eines auf die klare Einsicht gegründeten Wissens nicht möglich. Man wüßte gar nicht, was es heißt: »etwas bietet sich meinem Geist klar und deutlich dar«. Dieses Autonomieprinzip, das der Satz »Ich denke« ausdrückt, nennt daher die Bedingung, unter der für mich eine klare Einsicht überhaupt möglich ist. Diese epistemologische Funktion des »Ich denke« lässt sich anhand des Einwandes verdeutlichen, den Th. Hobbes (Med. 156 f.) gegen Descartes’ »cogito« gerichtet hat. Sein Einwand besteht darin, A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
479
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
dass aus der Gewissheit, dass, wenn ich denke, ich bin, nicht darauf geschlossen werden kann, ich sei auch das Subjekt meines Denkens. Hobbes stimmt Descartes zwar zunächst hinsichtlich der empirischen Bedeutung des »cogito, ergo sum« zu: »Es ist ja äußerst gewiss, dass die Kenntnis des Satzes: ›ich existiere‹ mit dem: ›ich denke‹ gegeben ist, wie Descartes ganz richtig gelehrt hat«. Er folgt ihm auch noch bei der Frage nach dem Subjekt des Denkens, da, wie er schreibt, »für uns eine Tätigkeit ohne ihr zugehöriges Subjekt etwas Unbegreifliches bleibt …« Doch nun schließt Hobbes aus der Gewissheit des »cogito, ergo sum« nicht darauf, dass Ich selbst das Subjekt des Denkens sei, sondern dass vielmehr umgekehrt das, was denkt, etwas Körperliches sein müsse. Denn, so sein Argument, »wie es scheint, sind alle Subjekte von Tätigkeiten als etwas Körperliches, Materielles aufzufassen …« Hobbes endet: »Da also die Kenntnis des Satzes: ›ich existiere‹ abhängt von der des anderen Satzes: ›ich denke‹ und die Kenntnis dieses Satzes davon, dass wir das Denken nicht von einer denkenden Materie abtrennen können, so dürfte wohl eher zu schließen sein, dass die denkende Sache materiell, als dass sie immateriell ist.« 42 Nun scheint uns Descartes’ Erwiderung auf diesen materialistischen Einwand von Hobbes nicht nur über Gebühr hilflos, sondern auch unzutreffend zu sein. Denn er entgegnet Hobbes, dessen Annahme sei ihrerseits »ohne jeden Grund und gegen allen Sprachgebrauch und alle Logik« (Med. 158 f.). Was er jedoch für seine Auffassung anführt, ist kein Argument, sondern nur das Referat, dass »auch die Logiker, wie jeder sonst, geistige und körperliche Substanzen anzunehmen« (159) pflegen, verbunden mit der Belehrung, es sei »sehr vernunftgemäß und auch üblich« (ebd.), das Denken dem Geist, dem Körper aber die Ausdehnung zuzuschreiben. Im übrigen habe er dies ganz unbestimmt gelassen bis zur sechsten Meditation, in der er bewiesen habe, dass das denkende Ding eine immaterielle Substanz ist. Lassen wir offen, was Descartes in der sechsten Meditation beweist 43 , und stellen nur fest, dass seine Erwiderung auf den Einwand Auf dasselbe zielt M. Mersennes Frage an Descartes: »Du sagst: ich bin ein denkendes Ding; aber woher weißt Du, ob Du nicht die Bewegung eines Körpers oder ein bewegter Körper bist?« (Med. 111, H. v. m.) – Ähnlich auch P. Gassendi: Med. 238. 43 B. Williams (1996, 80 ff.) hat überzeugend gezeigt, dass hinsichtlich der Argumentation für den substanziellen Unterschied zwischen Geist und Körper in der sechsten Me42
480
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
von Hobbes unzutreffend ist, weil dieser nicht nach der Substanz fragt, der das Denken als Attribut zukommt, sondern nach dem Subjekt, das denkt, und darauf antwortet, dies sei wohl eher als eine denkende Materie anzunehmen. Auf diese Frage müsste Descartes’ Erwiderung sich beziehen, und die seinem Programm angemessene Antwort müsste heißen: »nicht: ›Materielles denkt‹, sondern: ›Ich denke‹«. Da nun aber diese Antwort, so sagten wir, auf einer AprioriAnnahme beruht, lässt sie sich gar nicht beweisen, sondern kann gegenüber dem Hobbes’schen Einwand nur verteidigt werden. Eine solche Strategie der Verteidigung im Sinne Descartes’ wäre das Argument der sprachpragmatischen Inkonsistenz gegenüber der Hobbes’schen Behauptung, das die von uns gemeinte epistemologische Funktion des »Ich denke« gut erläutert. Wenn, so das Argument, Hobbes behauptet: »Materielles denkt«, dann kann seine Behauptung nicht seine Behauptung sein. Denn der Aussage gemäß kann seine Äußerung nichts sein, was Hobbes selbst behauptet, sondern nur ein gewisser materieller – modern gesprochen: neuronaler – Vorgang. Wenn also Hobbes das, was er äußert, behauptet, so behauptet er, dass nicht er bzw. er nicht behauptet. Das Behauptete widerspricht der Behauptung. Dies aber ist pragmatisch inkonsistent. 44 Wer, so die Schlussfolgerung, eine Behauptung, d. h. eine sprachliche Äußerung mit epistemischem Anspruch, macht, der setzt sich je schon als das Subjekt seiner Äußerung voraus: Ich behaupte, dass … So gesehen lässt sich die epistemologische Funktion des »Ich denke« im cartesischen Kontext in der Weise verstehen, dass sie eine neue Art von Wissenschaft konstituiert, in der mein Denken nicht als Repräsentation schon vorhandener Wahrheiten oder Wirklichkeiten gilt, sondern als eine autonome Veranstaltung, die als Subjekt das Ich hat. Durch dieses apriorische »cogito« wird nichts erkannt; aber es konstituiert einen neuen epistemischen Diskurs, der das Ich zum Kontrolleur seiner Gedanken hat. Es bildet das praktisch-moralische Fundament einer ›neuen Wissenschaft‹, das der Hobbes’schen Annahme vom Subjekt des Denkens zutiefst widerspricht.
ditation nichts hinzukommt, was nicht schon in der zweiten Meditation vorhanden ist. – Vgl. auch die Kritik Arnauds: Med. 180 f. 44 Descartes nennt P. Gassendi – in Entgegnung von dessen Bezeichnung »Du Geist« – »verehrtes Fleisch« (Med. 325). Diese Benennung Gassendis kann nicht ernst gemeint sein. Denn wie könnte Descartes mit einem, auch noch so verehrten, Fleisch sinnvoll, d. h. mit epistemischem Anspruch, Argumente austauschen und kommunizieren? A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
481
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
b.
»Ich bin ein denkendes Ding«
Was nun den anderen Satz: »ich bin denkend« betrifft, so wollen wir ihn hinsichtlich seiner apriorischen Bedeutung so auffassen, wie er von Descartes üblicherweise verwendet wird: »ich bin ein denkendes Ding« (ego sum res cogitans; je suis une chose qui pense). So verstanden, macht der Satz eine Aussage über das, was ich bin: ein denkendes Ding oder ein Ding, das denkt. Präzisieren wir diese Bedeutung, so beschreibt der Satz keinen empirischen Sachverhalt, der sein oder nicht sein kann, und dieses Ding nicht als eine ›Sache‹, die auch denkt und sein könnte, wenn sie nicht denkt, sondern er enthält die Behauptung eines notwendigen – und in diesem Sinne ›meta-physischen‹ – Zusammenhangs von Ich und Denken. Diesen Zusammenhang beschreibt Descartes mithilfe des Kategorienpaars von Substanz und Attribut, wofür wir statt des recht hölzernen Ausdrucks »Attribut« das schönere und auch passendere Wort des »Einwohnens« verwenden wollen. Die Substanz, der das Denken ›einwohnt‹, nennt er den »Geist« (mens). An der Stelle der Substanz setzt Descartes also den Ausdruck »ich« (»ego«) und an der Stelle des Einwohnens den Ausdruck »denkend« (»cogitans«) ein, so dass der Satz mit dem »bin« (»sum«) als Kopula vom Ich den notwendigen ›Seins-Zusammenhang‹ mit dem einwohnenden Denken aussagt. In diesem Sinne lässt sich der Satz präzisieren: »ich bin Geist«. Diesem, weitgehend unproblematischen, Verständnis des cartesischen Satzes wollen wir zwei Anmerkungen beifügen. Die erste ist, dass dieser Satz über das, was ich bin, als ein Grundsatz nicht zu beweisen ist. Denn der Versuch, diesen Satz etwa mithilfe der Gewissheit zu beweisen, dass allein das Denken »von mir nicht getrennt werden (kann)« (Med. 20), schlägt fehl, da aus der Gewissheit, dass, wenn ich denke, das Denken von mir nicht zu trennen ist, nicht folgt, dass mir das Denken notwendig »einwohnt«. Die von Descartes angenommene »notwendige«, »substantielle«, »wesentliche« Einheit von Ich und Denken gilt uns daher nicht als ein beweisbarer Satz, sondern als Prinzip, als ein Grundsatz. 45 – Die zweite Anmerkung ist, War Descartes wirklich der Auffassung, in der Zweiten Meditation (Med. 20) einen Beweis zu führen, oder ist seine Darstellung nicht eher protreptisch als Hinführung zu seinem Grundsatz zu verstehen, ich sei ein denkendes Ding? Der Ebenenwechsel von der empirischen Gewissheit, dass, wenn und solange ich denke, ich das Denken von mir nicht abtrennen kann, zu der ›metaphysischen‹ Aussage, ich sei – ganz unabhängig von dieser Art der Gewissheit – nichts als ein denkendes Ding, ist so offensichtlich, dass man
45
482
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
dass der Satz »ego sum res cogitans« keine Aussage über die Existenz enthält. Er sagt aus, was ich bin; nicht, dass ich das, was ich bin, bin. In Descartes’ Terminologie ausgedrückt: dieser Satz formuliert bloß die Idee meiner selbst; aber nicht das Urteil, diese Idee als wahr anzunehmen. Denn, so unsere Annahme, um sie als wahr anzunehmen, muss sie, Descartes’ epistemischer Regel gemäß, erst klar und deutlich eingesehen sein. c.
Die klare Einsicht
Nach dieser Deutung der zwei Sätze, »Ich denke« und »ich bin denkend«, als apriorischer Bestimmung des Ich als des Subjekts meines Denkens und der Idee meiner selbst als Geist wollen wir uns nun dem Satz »cogito, ergo sum« zuwenden, den wir in formaler Hinsicht als eine Äquivalenzbeziehung der beiden Sätze beschrieben haben. Den Satz in dieser Bedeutung verstehen wir als den ersten Grundsatz der cartesischen Philosophie, weil er das Paradigma für das abgibt, was das epistemische Kriterium der klaren Einsicht bedeutet. Es wird uns daher darauf ankommen zu klären, worin die Äquivalenz dieser beiden Sätze besteht, und wie sie dieses Kriterium expliziert. 1. Als evident erscheint uns zunächst, dass die Äquivalenzbeziehung, wie erörtert, nicht jene triviale Folge ist, die in dem »durch sich Bekannten« gründet, nicht denken zu können, ohne zu existieren. Denn in seiner apriorischen Bedeutung beschreibt weder der Satz »cogito« die empirische Tatsache, dass ich, wenn ich denke, denke, noch drückt das »sum« im zweiten Satz die Existenz aus. Vielmehr ist, wie wir annehmen, der Apriori-Satz »Ich denke« dem ›metaphysischen‹ Satz »ich bin eine denkende Substanz« äquivalent. Um dieser Äquivalenzbeziehung nachzugehen, wollen wir zuerst zwei Einwände anführen, die das »ergo«, den ›Übergang‹ vom einen Satz zum anderen, als einen unzulässigen ›Ebenenwechsel‹ interpretieren. Der eine wurde von Arnaud, der andere von Kant formuliert. Der Arnaud’sche Einwand behauptet, dass aus der Gewissheit, dass ich am Denken selbst nicht zweifeln kann, und daher das »ich denke« unbezweifelbar gewiss ist, nicht auf den Sachverhalt geDescartes möglicherweise unrecht tut, wenn man sagt, er habe die Differenz zwischen der nur aktuellen Nicht-Trennbarkeit und der substantiellen Untrennbarkeit nicht erkannt. In den »Principia Philosophiae« (I, 8) jedenfalls schreibt er, dies sei nur der »beste Weg« (optima via), die Natur des Geistes zu erkennen. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
483
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
schlossen werden kann, dass ich eine Substanz sei, die denkt, bzw. dass ich Geist bin. 46 Der ›Übergang‹ von der einen Aussage, der Gewissheit zu denken, zu der anderen Aussage, ich sei ein Ding, das denkt, sei keine notwendige Folge; er sei vielleicht, vermutet Arnaud (Med. 185), durch das Interesse Descartes’ bewirkt, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. – Allein, dieser Einwand bestünde zu Recht, wenn der Satz »cogito« tatsächlich auf diese Gewissheit referierte. Nach unserer Interpretation jedoch beschreibt er keine Art der (inneren) Erfahrung, sondern formuliert die cartesische Apriori-Annahme, dass das Ich je schon das Subjekt meines Denkens sei. Naheliegender erscheint da schon der Einwand Kants. Denn dieser geht – wie wir – davon aus, dass der Satz »cogito« sich nicht auf die Tatsache, dass ich denke, bezieht, sondern auf jenes ursprüngliche »Ich denke«. Aber, so Kants Einwand, in beiden Sätzen seien die Satzsubjekte ganz verschieden. Das Ich des »Ich denke« und das Ich des »ich bin eine denkende Substanz« bezeichnen nicht ein und dasselbe; der Ausdruck »Ich« werde in beiden Sätzen in verschiedener Bedeutung gebraucht. Im ersten Satz wird er im Sinne der ersten Person verwendet und bezeichnet das denkende Subjekt selbst; im zweiten Satz hingegen wird er im Sinne der dritten Person gebraucht und bezeichnet ein Objekt, dem das Denken als Eigenschaft zugeschrieben wird. Der eine Satz bezeichnet meine Handlung; der andere trifft eine Aussage über mich. 47 Der ›Schluss‹ vom »Ich denke« auf »ich bin eine denkende Substanz« sei daher ein Paralogismus, der fälschlich die Identität der beiden ›Iche‹, als Handlungssubjekt und als Aussageobjekt, unterstellt. Die Äquivalenz der beiden Sätze sei daher nur scheinbar. 48 Doch dieser Einwand macht eine Annahme, die auf unseren Fall nicht zutrifft. Zwar beschreibt er, in Übereinstimmung mit unserer Interpretation, die Äquivalenz der beiden Sätze mithilfe der UnterSiehe: Med. 182. – Dieser von Arnaud bemerkte ›Bruch‹ zwischen der Gewissheit, ein denkendes Ding zu sein, und der Erkenntnis, (nur) ein solches zu sein, ist ideologiekritisch als (unerlaubter) »Sprung« von der phänomenologischen Gewissheit in die ontologische Wahrheit gedeutet worden. Descartes ›verdingliche‹ rationalistisch die reflexive Gewissheit seiner selbst zu einer starren Substanz. Vgl. dazu: J. Pacho 1980, 37. 47 Siehe Kants Ausführungen zu den »Paralogismen der reinen Vernunft« (KrV B 407 f.): Im ersten Fall sei das »Ich der Apperzeption« ein Singular und der Satz »ich denke« ein analytischer Satz; im anderen Fall sei das denkende Ich eine einfache Substanz, und der Satz wäre ein synthetischer Satz. 48 Übrigens sieht auch Kant (KrV B 490 ff.) als Ursache dieses Fehlschlusses das Interesse, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. 46
484
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
scheidung des denkenden Ichs als des Subjekts einerseits und als eines Objekts andererseits; aber wir verstehen den Satz »ich bin eine denkende Substanz« ausdrücklich nicht als ein Urteil, das die Erkenntnis enthielte, das Ich existierte als diese Substanz. Dieser Satz fällt kein Urteil, sondern formuliert nur, wie wir mit Descartes sagen, die Idee meiner selbst als Geist. Er beschreibt, was ich bin; nicht dass ich bin. Würde er als ein Urteil verstanden, so wäre der Einwand des Paralogismus berechtigt, weil so fälschlich aus der bloßen AprioriAnnahme des »Ich denke« auf die Erkenntnis geschlossen würde, als was ich existiere, und damit, wie Kant sagt, »die mögliche Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewusstsein einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst« (KrV B 427) verwechselt würde. Da nun aber zu der bloßen Idee, um sie im Urteil als wahr anzunehmen und damit ihre Existenz zu behaupten, etwas anderes erfüllt sein muss – für Descartes, wie wir sehen werden, die Existenz Gottes; für Kant das Gegebensein in der sinnlichen Anschauung –, der Satz »ich bin als denkende Substanz« jedoch kein Urteil, sondern nur die Idee meiner selbst ausdrückt, trifft der Einwand des Paralogismus auf diesen Fall nicht zu. Fassen wir die Diskussion beider Einwände zusammen, so können wir präzisieren: eine Äquivalenzbeziehung zwischen den beiden Sätzen kann nur dann bestehen, wenn das »cogito« nicht auf die Gewissheit, ein denkendes Ding zu sein, referiert, sondern auf die Apriori-Annahme des »Ich denke«, und wenn das »sum cogitans« kein Urteil fällt, sondern die Idee meiner selbst als denkendes Ding formuliert. Unter diesen Bedingungen nehmen wir an, dass der Satz »cogito, ergo sum cogitans« ausdrückt, was für Descartes das Kriterium der klaren Einsicht meint: das spezifische Verhältnis des Denkens als meiner Handlung zu der Idee, die ich davon habe. In der Äquivalenz der beiden Sätze ist die ›Klarheit‹ ausgedrückt, die in diesem Verhältnis besteht. Insofern gilt uns der Satz »cogito, ergo sum cogitans« als der erste Grundsatz der cartesischen Philosophie, weil er zeigt, was, der epistemischen Regel gemäß, das epistemologische Kriterium der Klarheit als Bedingung der Wahrheit bedeutet. 2. Wenden wir uns auf der Grundlage dieser Interpretation des Satzes nun diesem Kriterium zu, so kann es sich offensichtlich nicht auf das im Satz »cogito« ausgedrückte Ich denke beziehen; denn dieser Satz formuliert bloß die apriorische Annahme, das Ich sei das Subjekt meines Denkens, die keine Einsicht ist, die klar einzusehen A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
485
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
wäre, sondern durch die sich das Ich, wie wir sagten, je schon zum ›Kontrolleur‹ seiner Ideen macht. Er nennt die Bedingung, unter der eine klare Einsicht überhaupt möglich ist. Daher bleibt nur übrig, das Kriterium der Klarheit auf die im Satz »ego sum res cogitans« ausgedrückte Idee meiner selbst als einer Substanz, der das Denken »einwohnt«, zu beziehen. Was aber kann in Hinsicht auf diese Idee die Klarheit der Einsicht bedeuten? Nehmen wir zunächst an, die Einsicht, die der Satz »ego sum res cogitans« ausdrückt, wäre klar, weil diese Idee einfach ist. Ich kann, so ließe sich diese Einsicht beschreiben, von all den Ideen, die ich von mir habe, absehen, außer von der Idee, dass ich denke. In diesem Sinne formulierte der Satz eine klare Einsicht, weil die Idee, dass ich denkend bin, einfach ist; und sie ist einfach, weil sie nicht weiter analysierbar ist 49 . Doch in diesem Falle wären all diejenigen Ideen klar, die einfach sind, wie die des Punktes oder des Unteilbaren; nicht aber genau die Idee, die ich von mir selbst habe. – Würde man hingegen annehmen, dass die Einsicht in die Idee meiner selbst deshalb klar wäre, weil sie unmittelbar einsichtig und durch sich selbst klar ist, dann würde aus ihrer ›Selbstklarheit‹ folgen, dass, zumindest in Hinblick auf das Kriterium der Klarheit, die bisherigen Erörterungen über das Bezweifelbare und das Gewisse überflüssig und insbesondere der Schluss vom »cogito« auf das »sum cogitans« unnötig gewesen wären. Wenn also zum einen das Kriterium der Klarheit sinnvoll nur auf die Einsicht der Idee bezogen werden kann, die der Satz »ich bin eine denkende Substanz« ausdrückt, zum anderen jedoch nicht dieser Satz allein, sondern der Schluss »cogito, ergo sum cogitans« der erste Grundsatz der cartesischen Philosophie ist, dann muss die Klarheit der Einsicht, ich sei eine denkende Substanz, offensichtlich von dem »Ich denke« abhängen. Sie muss Folge der Annahme sein, das Ich sei das Subjekt seines Denkens. Beides, die Annahme, die der Satz »cogito« ausdrückt, und die Einsicht, die der Satz »sum res cogitans« formuliert, müssen zusammengehören, damit das Kriterium der Klarheit erfüllt ist. Diese Abhängigkeit der Einsicht in das, was ich bin, besteht, soweit wir sehen, in zwei verschiedenen Beziehungen. Einmal forEin solches Verfahren folgte Descartes’ zweiter und dritter Regel: der Analyse und dem Beginn »bei den einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Gegenständen« (Descartes 1980a, 20).
49
486
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
muliert der Satz »Ich denke« die schon angeführte Bedingung, unter der eine Einsicht überhaupt dem Kriterium der Klarheit entsprechen kann. Ohne die Apriori-Annahme, das Ich sei das Subjekt, das seine Gedanken kontrolliert, bleibt demnach jede Einsicht, die es hat, ohne die von Descartes gewünschte Klarheit. In dieser Hinsicht setzt die klare Einsicht in die Idee meiner selbst als »Geist« voraus, dass ich mich – vor aller Einsicht – zu mir als dem Subjekt meines Denkens verhalte. – Zum anderen aber gibt der Satz »Ich denke« offenbar auch die Begründung dafür an, warum die Einsicht, dass dem Ich das Denken einwohnt, klar ist. Der Satz führt gleichsam die ratio cognoscendi der Idee meiner selbst als Geist an: weil das Ich sich je schon – vor aller Einsicht – als rein denkendes Subjekt gesetzt hat, ist die Einsicht, es sei nichts als denkende Substanz, klar. Dass das Ich selbst es ist, das denkt, begründet demnach die Klarheit der Einsicht, nichts als Geist zu sein. Aus diesem Begründungszusammenhang der klaren Einsicht aber folgt, dass umgekehrt von demjenigen, der seinem Denken das »Ich denke« nicht ›je schon‹ voraussetzt, diese Idee seiner selbst niemals klar eingesehen wird. Er weiß nicht, was es bedeutet, eine Idee klar einzusehen. 50 Die Annahme einer solch begründenden Funktion des »cogito« kann den Streit zwischen Descartes und seinen Opponenten um die Klarheit der Einsicht, eine denkende Substanz zu sein, erklären: Weil seine Opponenten die Prämisse nicht teilen, sich, vor aller möglichen Einsicht, als reines Verstandeswesen vorauszusetzen, ist ihnen diese klare Einsicht auch nicht möglich. Sie können Descartes zwar zustimmen, ein Ding zu sein, das denkt; doch den für Descartes entscheidenden Schritt, dies als ein Substanzverhältnis einzusehen, können sie bestenfalls als problematisch beurteilen. Am eindringlichsten verdeutlicht diesen Konflikt die lebhafte Auseinandersetzung zwischen Descartes und P. Gassendi. Dieser hält Descartes vor, statt »die Dinge wie sie sind, … ganz offen und einfach auszusprechen«, durch sein Verfahren, alle bisherigen Erkenntnisse für falsch zu erklären, nicht dazu beizutragen, Vorurteile abzubauen, sondern nur wieder in ein neues Vorurteil zu geraten, und mit dieser Erklärung einfach unglaubwürdig zu sein (Med. 322 f.). Descartes antwortet ihm konsequenterweise, dass er ihn überhaupt nicht verstanden habe: »Du nimmst nämlich an, ich sei nicht ernst zu nehmen, wo es mir voller Ernst ist … Wenn ich nämlich behauptet habe, ›die Zeugnisse der Sinne hätten für ungewiss, vielmehr sogar für falsch zu gelten‹, so ist das völliger Ernst, und zum Verständnis meiner Meditationen so unentbehrlich, dass, wer es nicht gelten lassen will oder nicht kann, überhaupt nicht fähig ist, eine der Beantwortung werte Einwendung gegen sie zu machen.« (Med. 323; H. v. m.) Und in der Antwort auf den Einwand von M. Mersenne, man habe sich oft in dem getäuscht, was man klar zu wissen glaubte, entgegnet Descartes, dass dies unter einer Voraussetzung niemals möglich sei: »Denn wir bemerken niemals, und es kann auch niemals von jemand bemerkt werden, dass das denen begegnet ist, die die Klarheit ihrer Auffassung in der bloßen Verstandeseinsicht suchen, sondern bloß denen, die sie aus den Sinnen oder aus einem falschen Vorurteil
50
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
487
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Seine Begründungsfunktion erhält der Satz »Ich denke« nun dadurch, dass er das als meine Handlung beschreibt, was der Satz »sum res cogitans« als das Resultat, als die unmittelbare Folge dieser Handlung beschreibt: Ich denke, also bin ich (nichts als) denkend. Die Einsicht, dass ich denkend bin, folgt dem Ich denke unmittelbar, und ist dieser Unmittelbarkeit wegen ›klar‹. 51 – Diese Deutung der Klarheit der Einsicht als unmittelbarer Folge meiner Handlung erklärt, warum Descartes die beiden Sätze weder identisch setzt noch sie durch einen Obersatz zu einem logischen Schluss ›vermittelt‹ (da für diesen Satz ja seinerseits das Kriterium der Klarheit gelten müsste), sondern er den Satz »ich bin eine denkende Substanz« unmittelbar aus dem Satz »Ich denke« folgen lässt: die Einsicht in das, was jener Satz formuliert, ist das Resultat der Handlung, die dieser Satz bezeichnet; und dieser Zusammenhang von Denken und Einsicht begründet die Klarheit der Einsicht. Diese Art der ›Verknüpfung‹ von Denken und Einsicht erfüllt, so nehmen wir an, das epistemologische Kriterium der Klarheit; und daher gilt der Satz »cogito, ergo sum cogitans« als der erste Grundsatz, der sich jedem, der ›ordnungsgemäß‹ philosophiert, als der erste Satz darbietet. 3. Versteht man also die Äquivalenzbeziehung der beiden Sätze »cogito« und »sum cogitans« als die einander ergänzenden ›Aspekte‹ der klaren Einsicht in die Idee meiner selbst, so gibt sie zugleich Aufgeschöpft haben.« Würde dies jemand in Zweifel ziehen, indem er sich ausdenkt, »dies erschiene Gott oder einem Engel falsch«, so wäre das Unsinn; denn »die Evidenz unseres Erfassens erlaubt uns nicht, auf den, der sich solches ausdenkt, zu hören.« (Med. 132; H. v. m.) 51 Was wir als unmittelbare Folge der Handlung beschreiben, vergleicht J. Hintikka mit der Beziehung eines Prozesses zu seinem Produkt: »In Descartes’ argument the relation of cogito to sum is not that of a premise to a conclusion. Their relation is rather comparable with that of a process to its product.« (Hintikka 1993, 265) Die Funktion des Worts cogito sei, auf einen Denk-Akt (thought-act) zu verweisen, durch den die existenzielle Selbstverifizierbarkeit (existential self-verifiability) des »ich existiere« sich manifestiert. Der Satz sei daher unbezweifelbar, weil und in so fern er aktiv gedacht wird (because and in so far as it is actively thought of). – Diese Deutung von Descartes’ Satz, nicht als eines syllogistischen Schlusses oder Enthymems, sondern als einer Relation von process und product stimmt mit der unseren überein. Allerdings meinen wir, dass es zur Erklärung des »cogito, ergo sum« als des ersten Grundsatzes der cartesischen Philosophie nicht des empirischen cogito bedarf (das sein kann oder auch nicht), sondern des apriorischen »Ich denke« als ursprünglicher Handlung; dass es in diesem Fall auch nicht um die Begründung der Existenz, sondern der Essenz meiner selbst geht; und dass schließlich das epistemische Kriterium nicht die Unbezweifelbarkeit (indubitability) der Wahrheit, sondern die Klarheit (clarity) der Einsicht ist.
488
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
schluss, wofür dieser Grundsatz das Paradigma bildet. Damit die Einsicht einer Idee das Kriterium der Klarheit erfüllt, erfordert es offenbar der die Einsicht begründenden Handlung des Denkens. Da nun aber das Denken, für sich, nur eine Tätigkeit ist, ein diskursiver Vorgang des Trennens und Verbindens, bedarf es der Ausrichtung des Denkens auf das Ziel: der Einsicht als dem Resultat des Denkens. Das »Ich denke« ist daher kein bloßes Tun, sondern eine Handlung, so dass dem Denken die Einsicht folgt. Das »ergo« drückt aus, dass das »Ich denke« keine Veranstaltung ist, die sich selbst genügt, sondern die intentional auf die Einsicht gerichtet ist. Umgekehrt aber erfüllt die Einsicht das Kriterium der Klarheit offenbar nicht durch das bloße Haben oder Erfassen einer Ideen, sondern wird durch das Denken begründet und erst dadurch klar. Ohne das begründende Denken bliebe die Einsicht bloße Versicherung; ohne die abschließende Einsicht liefe das Denken leer. Zu dem, was klar eingesehen ist, gehört daher zweierlei: das Denken als meine Tätigkeit als Praxis sowie der abschließende Akt der Einsicht als Theorie. Im Denken wird die Einsicht gleichsam ›innerlich‹ vollzogen; in der Einsicht findet das Denken seinen ›gegenständlichen‹ Ausdruck. Diesen zwei Aspekten, dem praktischen des Denkens und dem theoretischen des Einsehens, entsprechen die beiden durch »ergo« verbundenen Satztypen: »cogito« und »sum cogitans«. Wenden wir diese Folge-Beziehung von begründendem Denken und klarer Einsicht abschließend auf das von Descartes oft gebrauchte Beispiel des Dreiecks an, so besteht die Klarheit der Idee des Dreiecks offenbar darin, dass ich zum einen die Summe der drei Winkel – durch Zerlegen, Vergleichen und Zusammensetzen – als übereinstimmend mit der Summe von zwei rechten Winkel denke, und dass ich zum anderen dies Übereinstimmende als Gleichheit der beiden Winkelsummen einsehe. Ohne mein Denken läge das Eingesehene, die Gleichheit der beiden Summen, nur äußerlich vor, etwa als eine »ewige Wahrheit«; ohne die Gestalt der Proposition hingegen bliebe das Vergleichen ein hermetischer, bloß innerlicher Vorgang. Um also die Idee des Dreiecks klar einzusehen, muss sowohl die Gleichheit der Summen gedacht, als auch das als übereinstimmend Gedachte vorgestellt sein.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
489
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
C. Die Apperzeption Nachdem wir zur Rekonstruktion des »cogito, ergo sum« als des ersten Grundsatzes der cartesischen Philosophie zwei Verwendungsweisen, die empirische und die apriorische, unterschieden haben, soll nun dem »Übergang« von der einen Ebene zur anderen nachgegangen werden: von der Gewissheit, denkend zu existieren, zu der klaren Einsicht, eine denkende Substanz zu sein, – zumal Descartes’ Darstellung ihn zu verwischen scheint. Dieser Wechsel der Ebenen kann jedenfalls nicht logischer Natur sein, weil aus der unbezweifelbaren Gewissheit, dass ich bin, nicht die klare Einsicht folgt, was ich bin. Da Descartes jedoch am Beginn seiner Grundlegung der Philosophie diesen Schritt vollzieht, stellt sich die Frage, wie dieser ›Sprung‹ zu erklären ist, der aus der trivialen Gewissheit zu existieren zu der nicht-trivialen Einsicht führt, nichts als Geist zu sein. Dazu nehmen wir an, dass dieser Übergang von der empirischen zur apriorischen Ebene aufgrund einer Erfahrung bzw. einer Art von Erfahrung geschieht: indem ich mir gewiss bin, dass ich, wenn ich denke, existiere, erfahre ich, dass ich ein Ding bin, das bloß denkt. Im »Discours de la méthode« beschreibt Descartes ihn so: »Aus dem allem erkannte ich, dass ich eine Substanz war, deren ganze Wesenheit oder Natur nur im Denken besteht, und die, um zu sein, keines Ortes bedarf, noch auch von irgendeinem materiellen Ding abhängt.« (Descartes 1980a, 31). Was Descartes hier als eine »Erkenntnis aus dem allem« bezeichnet, deuten wir als eine Art der Erfahrung, in der sich die empirische Bedeutung des Satzes in die apriorische umwandelt. Was aber kann der Ausdruck »Erfahrung« in diesem Kontext bedeuten? Nähmen wir an, »Erfahrung« bezeichnete ein inneres Geschehen, das ein gewisser René Descartes zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort erlebt hat, so lässt sich der Annahme unschwer entgegenhalten, dass ein solches Geschehen zwar für ihn selbst wichtig gewesen sein mag, aber für eine allgemeine Grundlegung der Philosophie nicht taugt. Sollte »Erfahrung« hingegen einen Akt der Erleuchtung bezeichnen, in welchem Descartes, in der Gewissheit, denkend zu existieren, sich zugleich als eine bloß denkende, zeitund ortlose Substanz erkannte, so mag dieser Erkenntnisakt in biographischer und vielleicht auch in historischer Hinsicht von Relevanz sein, dürfte aber ebenfalls kaum von allgemein philosophischem In490
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der erste Grundsatz: »Cogito ergo sum«
teresse sein. 52 Wäre jedoch mit dem Ausdruck »Erfahrung« ein Vorgang gemeint sein, den jeder macht, wenn er nur gewiss ist, dass, wenn er denkt, auch existiert, so wäre dieser zwar in der Tat von allgemeinem Interesse; es lassen sich dieser Annahme jedoch genügend andere Erfahrungen entgegenhalten, wie die zahlreichen Einwände gegen diesen Schritt belegen. Wenn nun all diese Bedeutungen von »Erfahrung« ausgeschlossen werden können, so dürfte schließlich diejenige dem Gemeinten entsprechen, die das »aus dem allem erkannte ich, dass …« weder als ein bloß individuelles noch als ein allgemeines Ereignis versteht, sondern als einen Vorgang, den im Prinzip jeder machen kann, wenn er ihn machen will. 53 Wenn er will, macht jeder die Erfahrung, dass er, wenn er sich aufgrund seines Denkens gewiss ist, zu existieren, auch einsieht, dass er ein Ding ist, das bloß denkt. 54 In diesem Fall jedoch bezeichnet das Wort »Erfahrung« kein Geschehen oder Ereignis, sondern eine willentliche und bewusst vollzogene Handlung, in der jeweils ich mein Denken zu meinem Denken erhebe und ich mich zum Subjekt meines Denkens mache, so dass ich mich als das Ding erkenne, das bloß denkt. Hier ist also der »Sprung« von der Gewissheit zu existieren zur Einsicht, nichts als ein denkendes Ding zu sein, diejenige Handlung, in der und durch die ich mich zum Subjekt meines Denkens mache. Durch diese gewollte Handlung tritt der, der sie macht, gleichsam aus dem ›Laien-‹ in den cartesischen Philosophenstand und verwandelt sich aus einem heteronomen Normalmenschen in den autonomen Verstandesmenschen. 55 Dieser Übergang vollzieht Zu den drei Träumen Descartes’, von denen A. Baillet berichtet, und die auf eine solche ›Erleuchtung‹ hinweisen, vgl.: Specht 1989, 17 ff.; Röd 1982, 19 ff. 53 Ähnlich Cassirer 1995, 32: »(Der cartesische Zweifel) beruht auf einem freien Entschluss, den einmal im Leben jeder fassen muss, der zur wahrhaften Gewissheit gelangen will. Die richtige innere Verfassung des Geistes, die ihn zur Gewinnung der Wahrheit befähigt, kann nur auf Grund eines solchen Entschlusses gewonnen werden: die ›bona mens‹ beruht auf dieser ›bona voluntas‹. 54 Descartes selbst äußert sich skeptischer: Im »Widmungsschreiben an die Sorbonne« meint er, dass die von ihm angeführten Beweise wohl von vielen nicht verstanden werden, »weil sie einen von Vorurteilen gänzlich freien Geist voraussetzen, der sich selbst leicht vom Zusammenhange mit den Sinnen loszulösen vermag. Und in der Tat finden sich weniger Leute auf der Welt, die für metaphysische Studien geeignet sind, als für geometrische.« (Med. XIV) – Und Arnaud gegenüber äußert Descartes, dass dieser Standpunkt nicht für die »Fassungsgabe aller Geister geeignet ist«, dass er ihn aber dennoch für so notwendig halte, dass ohne ihn »niemals etwas Festes und Bleibendes in der Philosophie aufgestellt werden kann.« (Med. 223 f.) 55 H. Schrödter nennt dies die »Einstellungsänderung, die den Geist von der Sinnes52
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
491
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
diejenige Trennung des ›Geistes‹ von der ›Seele‹, von der wir einleitend sagten, dass Descartes sie seiner Grundlegung der Philosophie voraussetzt. 56 Lassen wir das damit aufgeworfene Problem von Können und Wollen hier noch außer Acht und suchen für diese ursprüngliche Handlung der Aneignung meines Denkens als meines Denkens zunächst nur ein prägnanteres Wort als das unspezifische der »Erfahrung«, so dürfte der Begriff der »Ad-Perzeption« ein passenderer Ausdruck sein. Zwar wird dieses Wort von Descartes nicht verwendet und ist erst durch Leibniz und Kant in die Philosophie eingeführt worden. Sehen wir jedoch von diesen jeweiligen Kontexten ab, so trifft es gut das hier Gemeinte: die Aneignung meiner Denktätigkeit als meiner Tätigkeit, in der ich mich als rein denkend voraussetze und mich daher zu mir – jenseits von allem Körperlich-Leiblichen – nur als Geist verhalte 57. Mittels der und durch die Apperzeption wandelt sich die empirische Bedeutung, die der cogito ergo sum-Satz hat, erkenntnis ›wegführt‹ und damit zugleich von allen Vorurteilen, um vom ›vorphilosophischen‹ zum ›philosophischen‹ Menschen überzugehen.« (Schrödter 2000, 105) – Diese ›Einstellungsänderung‹ entspricht Descartes’ grundsätzlicher Unterscheidung zwischen einer Art des Denkens, das sich am »Handeln im Leben« (usum vitae) orientiert, und einer Art des Denkens, das die »Wahrheit erforscht« (contemplationem veritatis). Siehe: Med. 323. – Zum Begriff des »withdrawal of the sense« und der unterschiedlichen Bedeutung des »ich denke« in der traditionellen Erkenntnistheorie und der modernen Epistemologie siehe: Carriero 1990. 56 Diese ›Trennung‹ des Geistes von der Seele verstehen wir nicht als Reflexion auf das eigene Denken, sondern als Setzung eines neuen, eigentümlichen Subjekts. M. Heidegger deutet sie als Erhebung des neuzeitlichen Menschen zum Subjekt: »Nicht dass der Mensch sich von den bisherigen Bindungen zu sich selbst befreit, ist das Entscheidende, sondern dass das Wesen des Menschen überhaupt sich wandelt, indem der Mensch zum Subjekt wird.« (Heidegger 1963, 81; H. v. m.) Im Weiteren wollen wir zeigen, dass dieser Wandel nicht im Sinne der Autonomie zu verstehen ist, sondern als Annehmung eines Auftrags, zu dem dieses Subjekt sich berufen weiß. 57 Leibniz, der im Unterschied zu Descartes einen graduellen Übergang von der Perzeption zur Apperzeption, von der Empfindung zum Bewusstsein, annimmt, wirft den Cartesianern diesen »Sprung« vor: »Das hat sie auch zu der Annahme geführt, dass allein die Geister Monaden seien, und dass es weder Tierseelen noch andre Entelechien gebe.« (Leibniz 1996, § 14, 16). Kant nennt das »Ich denke« die »ursprüngliche Apperzeption« (KrV B 131 ff.). Für ihn ist sie jedoch keine gewollte Handlung, sondern der Einheitspunkt, der der Erkenntnis je schon vorausgesetzt ist. Während Descartes, am Beginn der Neuzeit, sich – »einmal im Leben« (Med. 11) – vom »Handeln im Leben« trennt und sich als reines Verstandeswesen setzt, geht Kant, eineinhalb Jahrhunderte später, schon wie selbstverständlich von dieser ›wissenschaftlichen Existenzweise‹ als Normalzustand aus.
492
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
in die apriorische Bedeutung um, nach der ich mir meiner Existenz nicht nur als dies und das denkend gewiss bin, sondern mich als schlechthin denkend erkenne. Ich setze mich als das Subjekt meines Denkens und erkenne mich daher nur als denkendes Ding. Diese Handlung, durch die ich, wenn ich will, mich als das denkende Subjekt setze, entspricht dem, was wir oben die als Apriori-Annahme bezeichnet haben, die Descartes macht. Sie formuliert die Bedingung, unter der überhaupt eine klare Einsicht möglich ist, und begründet zugleich die klare Einsicht, nichts als Geist zu sein.
III. Der zweite Grundsatz: »Gott existiert« 1. Hat Descartes mit der Explikation des Begriffs der Klarheit auch schon etwas über die Wahrheit gesagt? Impliziert die von uns rekonstruierte Einheit des »Ich denke« mit der Einsicht in die Idee meiner selbst, dass ich als denkende Substanz auch existiere? Anders gefragt: Schließt der Alles-Bezweifler Descartes aus der Einsicht in das, was ich bin, naiverweise darauf, dass ich bin, und spricht in einem gleichsam ›existentiellen Sprung‹ der Idee seiner selbst die Existenz zu? Nun argumentiert Descartes tatsächlich und wiederholt in dieser Weise. So heißt es in der »Zweiten Meditation« kurz und bündig: »Ich bin aber ein wahres und wahrhaft existierendes Ding, aber was für ein Ding? Nun, ich sagte es bereits – ein denkendes« (Med. 20). Und im »Discours de la méthode« gründet er auf diese Existenz sogar seine epistemische Regel: »Da ich bemerkte, dass in dem Satz ›ich denke, also bin ich‹ mich nichts dessen Wahrheit versichert, als dass ich aufs Klarste einsehe, dass man, um zu denken, existieren muss, so glaubte ich, es als allgemeine Regel aufstellen zu können, dass alles, was ich klar und deutlich erfasse, wahr ist.« 58 Hier also behauptet Descartes, dass der Satz »ich denke, also bin ich« wahr ist, weil das, was er aussagt, klar eingesehen ist. Mit Recht ist daher eingewandt worden, Descartes unterscheide – zumindest hier – nicht zwischen »Et quia notabam, nihil planè contineri in his verbis, Ego cogito, ergo sum, quod me certum redderet eorum veritatis, nisi quod manifestissimè viderem fieri non posse ut quis cogitet nisi existat, credidi, me pro regulâ generali sumere posse, omne id quod valde dilucidè & distinctè concipiebam verum esse.« (Descartes 1692, 21)
58
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
493
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
dem »ich bin« als Kopula in der Aussage und als einer Existenzbehauptung. 59 Nach unserer Interpretation hingegen umfasst diese epistemologische Differenz zwischen der Klarheit, die Descartes im ersten Grundsatz seiner Philosophie als Einsicht in die Idee meiner selbst bestimmt, und der Wahrheit, die er, wie wir sehen werden, als ein Urteil über dies klar Eingesehene bestimmt, den Inhalt der »Meditationen«. Erst am Ende, in der sechsten Meditation, kann Descartes begründeterweise als wahr annehmen, dass ich als die denkende Substanz, als die ich mich klar einsehe, auch existiere. – Wenn Descartes daher schon vorher, in der zweiten Meditation, behauptet, das klar Eingesehene sei wahr, so wendet er seine epistemische Regel an, ohne jedoch ihre Gültigkeit begründet zu haben. Er folgt hier, wie er einmal sagt, der »große(n) Neigung in meinem Willen«, die aus der »großen Klarheit, die meinem Verstande aufleuchtete«, entspringt 60 . Aber diese »Neigung« ist keine Begründung; es gilt, sie epistemologisch zu rechtfertigen und zu begründen. Für uns ergibt sich daraus, dass im Rahmen der cartesischen Epistemologie das Ich zwar das Vermögen der klaren Einsicht und – vielleicht auch – die »Neigung« hat, das klar Eingesehene als wahr anzunehmen; dass aber das Ich selbst nicht die ›epistemische Kraft‹ hat, durch die klar Eingesehenes auch existiert. 61 Es bedarf daher eines weiteren, zweiten Grundsatzes, der sowohl die Bedingung enthält als auch die Begründung formuliert, dass klar Eingesehenes vom Ich auch als wahr angenommen werden kann. 2. Dieser zweite Grundsatz ist: deus est; Gott existiert. Die EinVgl. Brands 1982, 64. Med. 49. – An H. Regius schreibt Descartes: »Kaum … sehen wir etwas ein, ohne zugleich etwas zu wollen.« (AT III, 372) – W. Röd unterscheidet zwischen der »Urteilsnötigung« als subjektiver Gewissheit und der »Wahrheit« als objektiver Gültigkeit. Für jene »gibt es zunächst keine andere Erklärung als die, dass gewisse Urteile infolge unserer psychischen Veranlagung unvermeidlich gefällt werden müssten« (Röd 1982, 92). Davon sei jedoch der Begriff der Wahrheit zu unterscheiden, der »nicht definitiv im Sinne der Zustimmungsnötigung bestimmt werden könne.« (ebd.) Vgl. auch Röds zutreffende Kritik an G. Nakhnikians Versuch, Descartes’ Wahrheitsbegriff auf das »aufmerksam Glauben« zu reduzieren (ebd., 199). 61 In der Dritten Meditation schreibt Descartes lapidar: »Indessen ich habe keine Erfahrung einer solchen Kraft« (Med. 40). – Wäre es so, wie Descartes behauptet, dass er als das, als was er sich klar und deutlich einsieht, auch existiert, dann hätte er gestern diese ›Kraft‹ gehabt; heute aber, wo er Gott klar und deutlich einsieht, fehlt ihm diese Kraft. Descartes’ Ich hätte so von einem Tag auf den anderen eine Wesensänderung vollzogen. 59 60
494
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
führung dieses Satzes stellt Descartes in den »Meditationen« so dar, dass er zuerst, in der zweiten Meditation, die Existenz des denkenden Ich beweist, und danach, in der dritten Meditation, dass Gott existiert. Wäre diese Darstellung jedoch auch das Verfahren der epistemologischen Grundlegung, dann wäre der Einwand berechtigt, Descartes finde nach dem Beweis der Existenz des Ich ›irgendwie‹ auch noch die Idee Gottes. Von Seiten der Theologie wäre er dem Vorwurf des zumindest ›temporären Atheismus‹ ausgesetzt, weil er die Existenz des Ich autonom, bloß durch sich selbst, begründete; und philosophischerseits träfe die Kritik zu, dass sein Übergang vom ersten Prinzip zum zweiten, vom Ich zu Gott, kaum verständlich und letztlich willkürlich und zusammenhanglos sei. Dieses »erst Ich – dann Gott« betrachten wir als Verfahren, das sich aus dem Diskursiven des Vortrags ergibt, das aber nicht der Systematik der Grundlegung entspricht. Denn Descartes selbst sagt wiederholt, dass, ohne dass Gott existiert, nichts als wahr anzunehmen sei. Er führt dazu am Beginn der dritten Meditation den sogenannten »metaphysischen« oder, wie wir sagen, »epistemischen Zweifel« an, es könnte einen bösen Gott geben, der »mir eine solche Natur (verliehen hat), dass ich mich auch in dem täuschte, was mir am alleroffenbarsten (manifestissima) zu sein schien. So oft aber«, fährt Descartes fort, »diese vorgefasste Meinung von der Allmacht Gottes mir aufstößt, kann ich nicht umhin, einzugestehen, dass es ihm, wenn er nur will, ein Leichtes sei, zu bewirken, dass ich mich selbst in dem irre, was ich auf das klarste (evidentissime) mit den Augen des Geistes zu durchschauen glaube.« (Med. 28; H. v. m.) Zur Behebung dieses Zweifels formuliert er als Aufgabe: »Um aber auch ihn zu heben, muss ich, sobald sich nur die Gelegenheit dazu bietet, untersuchen, ob es einen Gott gibt, und wenn, ob er ein Betrüger sein kann. Denn solange ich das nicht weiß, scheint es nicht, dass ich über irgend etwas jemals völlig gewiss sein kann« (Med. 29; H. v. m.). Da dieser metaphysische oder epistemische Zweifel sich nun nicht nur auf Dunkles und Ungewisses erstreckt, sondern auch auf das, was »auf das klarste« eingesehen wird, und da doch auch das Ich »irgend etwas« ist, nämlich ein denkendes Ding, so folgt aus der Natur dieses Zweifels, dass ich, ohne zu wissen, dass Gott existiert, nicht annehmen kann, dass ich als das denkende Ding, als das ich mich »auf das klarste« einsehe, auch existiere. Hier also ist die Regel, nach der das Klare das Wahre sei, nicht in der Weise zu verstehen, dass – auch wenn ich es wünsche – etwas allein deshalb als wahr angenommen A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
495
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
werden kann, weil es klar und deutlich eingesehen ist; vielmehr muss der Behebung des Zweifels und damit dem ›Übergang‹ von der klaren Einsicht zum wahren Urteil erst der Satz vorausgehen: Gott existiert. 62 Von diesem Satz nehmen wir deshalb an, dass er zum einen die Bedingung nennt, unter der überhaupt, gemäß der Regel, das klar Eingesehene als wahr angenommen werden kann; dass er zum anderen aber auch die Begründung liefert, dass allein dem klar Eingesehenen die epistemische Eigenschaft zukommt, wahr zu sein. Die Existenz Gottes verstehen wir also als das Prinzip, das dem Ich den ›Übergang‹ von der klaren Einsicht zum wahren Urteil gestattet und garantiert.
A. Der aitiologische Gottesbeweis Nun setzt Descartes in den »Meditationen« den Satz »Gott existiert« nicht als ein solches Prinzip voraus, sondern führt bekanntlich zwei Beweise für die Existenz Gottes. Im Folgenden werden wir uns jedoch nur auf den ersten Beweis beziehen, den Descartes als »meinen Hauptbeweis« (Med. 9) 63 bezeichnet und den wir den »kausalen« oder besser: den »aitiologischen Gottesbeweis« nennen wollen 64 . UnVgl. Holz 1997, 165: »Descartes war sich darüber im klaren, dass das, was objektiv in einer Idee enthalten ist, nicht deshalb schon außerhalb der Idee wirklich vorhanden zu sein braucht.« Allerdings nimmt Holz davon die Idee meiner selbst aus und gelangt daher zu der beliebten Annahme, Descartes habe in der »Konstruktion Gottes« die Möglichkeit gesehen, »die solipsistische Eingrenzung des cogito aufzusprengen und von dem Ich, meinem Ich, das immer nur seiner (= meiner) gewiss ist, zur äusseren Welt überzugehen.« (ebd.) Wir interpretieren diesen Übergang jedoch nicht existentialistisch als Ruf des einsamen Ich nach Welt oder einem Du, sondern als notwendiges Element im Rahmen der cartesischen Grundlegung von Wissen. 63 Vgl. auch Descartes’ Erwiderung auf A. Arnaud: »Dass übrigens die Betrachtung der wirkenden Ursache das erste und vorzügliche, um nicht zu sagen das einzige Mittel ist, das wir haben, um die Existenz Gottes zu beweisen, ist, wie ich denke, allen klar.« (Med. 215 f.) 64 Um der Konnotation eines mechanisch verstandenen Ursachebegriffs zu entgehen, verwenden wir statt des lateinischen Ausdrucks »causa« den griechischen »aitia«. Dass dieser Gebrauch nicht unangemessen ist, erhellt Descartes’ Bemerkung gegenüber Arnaud: »Ich weiß, dass die lateinisch schreibenden Theologen das Wort Ursache nicht in göttlichen Fragen anwenden, wenn es sich um den Ursprung von Personen der höchstheiligen Dreieinigkeit handelt, und dass sie dort, wo die griechisch schreibenden Theologen unterschiedslos von ›Ursache und Anfang‹ (aition und arch) gesprochen haben, es vorziehen, nur den ganz allgemeinen Ausdruck ›Prinzip‹ zu gebrauchen.« (Med. 215) – Vgl. auch Med. 219. 62
496
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
sere Absicht ist es zu zeigen, dass dieser Beweis das zu Beweisende dann beweist, wenn das zu Beweisende dem Beweis schon als Bedingung vorausgesetzt ist, dass er also in bestimmter Weise zirkulär ist. Die Konzentration auf diesen Beweis – und damit die Nicht-Beachtung des anderen, des sogenannten »ontologischen Gottesbeweises« – begründen wir damit, dass nur der aitiologische Beweis die genannte Begründung der epistemischen Regel zum Inhalt hat 65 , und dass nur er diese Zirkularität aufweist. – Im Anschluss daran gehen wir der Bedingung nach, die dem Gottesbeweis vorausgesetzt ist, und die als solche das Dasein Gottes verbürgt. Descartes trägt diesen Beweis als einen Syllogismus vor. In seiner einfachsten Gestalt hat er als erste Prämisse den Obersatz: alles hat eine Ursache. Die zweite Prämisse, der Untersatz, sagt aus: ich habe die Idee eines vollkommenen Wesens. Der Schlusssatz lautet: die Ursache dieser Idee ist das vollkommene Wesen – Gott. Diesem Beweis gemäß gehen wir erst auf den Begriff der Ursache ein; daraufhin untersuchen wir, wie der Ausdruck »Idee eines vollkommenen Wesens« zu verstehen ist; und schließlich fragen wir, inwiefern die Konklusion den zweiten Grundsatz beweist: Gott existiert. 1.
Der Begriff der Ursache
1. Betrachtet man Descartes’ dritte Meditation, die vom »Dasein Gottes« handelt, so drängt sich der Eindruck eines gänzlich neuen Anfangs auf. Nach seinem Eingangssatz, dass an allem zu zweifeln sei, und seiner Begründung der klaren Einsicht ins Ich durch das bloße »Ich denke« fällt Descartes hier in eine ganz traditionelle Erörterung zurück. Er übernimmt unkritisch – unter Berufung auf die sogenannDemgegenüber vertrat W. Röd die Auffassung, dass der aitiologische Beweis zwar zuerst an erster Stelle gestanden habe und der ontologische gefolgt sei; »(b)ald jedoch ändert sich das Verhältnis der beiden Gottesbeweise … In seinem systematischen Hauptwerk, den ›Prinzipien der Philosophie‹ (1644, franz. 1647), steht der apriorische Beweis ebenfalls an erster Stelle.« (Röd 1992, 60) Dieser apriorische Beweis ist der ontologische. Doch auch wenn Röd seine Auffassung von Descartes’ Revision damit belegt, dass die »Prinzipien« drei Jahre nach den »Meditationen mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen« erschienen sind, so heißt es in der französischen Ausgabe von 1647 dennoch weiterhin: »Dans la troisième Méditation, il me semble que j’ai expliqué assez au long le principal argument dont je me sens pour prouver l’existence de Dieu.« (AT, IX, 11) Dass Descartes diesen Wortlaut trotz Revision seiner Auffassung hätte veröffentlichen lassen, erscheint als unwahrscheinlich. 65
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
497
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
te »natürliche Einsicht« (lumen naturale) – den ontologischen Grundsatz, nach dem alles, was ist, eine Ursache habe, oder, in einer einschränkenden Formulierung, »(k)ein Ding existiert, bei dem man nicht fragen könnte, was denn die Ursache seiner Existenz sei« (Med. 149). Er spezifiziert diesen Grundsatz – ebenfalls mit Rekurs auf die »natürliche Einsicht« – im Sinne der Scholastik dahingehend, »dass zum mindesten ebenso viel Realität in der gesamten wirkenden Ursache (causa efficiens) vorhanden sein muss, wie in der Wirkung eben dieser Ursache« (Med. 32). Descartes, so scheint es, versteht den Begriff der Ursache ganz im Rahmen einer hierarchisch gestuften und dynamischen Seinsordnung, wie sie der christliche Aristotelismus, insbesondere Thomas von Aquin, konzipiert hatte. Ja, betrachten wir seine Antwort auf die Einwände Arnauds (Med. 213–221), gewinnt man den Eindruck, als wiederhole er nur den traditionellen kosmologischen Gottesbeweis, der mittels des Kausalitätsbegriffs von der Existenz der endlichen Dinge auf die Existenz Gottes geschlossen hat. Mit seinen unkritischen Aussagen über das, was die Dinge sind und haben, scheint Descartes sich vom Programm einer radikal neuen Grundlegung des Wissens offenbar zu entfernen. Es mag deshalb gerechtfertigt sein, diesen ontologischen Gebrauch des Ursachebegriffs als einen ›Rückfall‹ Descartes’ in die scholastische Metaphysik zu beurteilen und nach den Gründen und Motiven zu fragen, die zu diesem Argumentationsbruch geführt haben 66 . Angemessener erscheint uns jedoch ein Vorgehen, an Descartes’ Verwendung des Begriffs der Ursache das spezifisch Neue herauszuarbeiten, indem wir ihn in den Kontext der epistemologischen Aufgabenstellung seiner Neubegründung von Wissen einordnen. Hierfür wollen wir erstens das, was Descartes von den »Dingen« sagt, im Sinne seines kritischen Verfahrens bloß auf die »Ideen«, d. h. B. Williams nennt ihn »ein Beispiel scholastischer Metaphysik«, das »eines der eindrucksvollsten Anzeichen für den historischen Bruch (ist), der zwischen dem Denken von Descartes und unserem eigenen existiert trotz der Aktualität, die vieles andere was er geschrieben hat, auch heute noch für uns besitzt. Die Kluft, die uns von ihm trennt, besteht darin, dass er unerschrocken dieses nicht-intuitive und kaum begreifliche Prinzip als selbstevident im Lichte der Vernunft akzeptieren kann. Die Lehre von den Graden der Realität oder des Seins ist Teil der mittelalterlichen Ordnung, die mehr als jede andere der Gedankenbewegung des siebzehnten Jahrhunderts erlag, zu der Descartes in hohem Maße beitrug.« (Williams 1996, 107) Sie seien »im Grunde nicht-assimilierte Überbleibsel in Descartes’ metaphysischen Ansichten, zu denen seine eigenen in Wirklichkeit in fundamentalem Widerspruch stehen.« (ebd., 108) – Zu den Problemen dieser Beurteilung siehe: Röd 1982 205 f.; auch R. A. Bast, Einleitung. In: Cassirer 1995, XXX ff.
66
498
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
die Bewusstseinsinhalte (cogitationes, des pensée), einschränken, so dass also das, von dem er sagt, es habe eine Ursache, bloß die Ideen sind 67 ; zweitens wollen wir aus systematischen Gründen, soweit möglich, den Umfang der Ideen auf die Idee des Ich beschränken, von der allein Descartes sagt, sie sei bislang klar und deutlich eingesehen 68 ; und drittens schließlich – und vor allem – werden wir die Bedeutung des Ursachebegriffs im Sinne der epistemologischen Aufgabenstellung bloß auf den Begriff der Wahrheit beziehen, von dem wir annehmen, dass er durch den der Ursache expliziert werden soll. Dem entsprechend stellen wir der Einführung des Ursachebegriffs in den Kontext unserer Rekonstruktion die Frage voran: unter welcher Bedingung und wodurch ist die klare Idee meiner selbst auch wahr? 2. In der zweiten Meditation hatte Descartes die Kategorie der Substanz bzw. des »Einwohnens« eingeführt, um anhand des »Ich denke« den Begriff der Klarheit zu explizieren. In der dritten Meditation führt er nun, um den Begriff der Wahrheit zu explizieren, die Kategorie der Ursache ein: Solange wir einsehen, betrachten wir die Ideen nur an sich selbst, in unserem Verstande; »(sie) können …, wenn man sie nur an sich betrachtet und sie nicht auf irgend etwas anderes bezieht, nicht eigentlich falsch sein« (Med. 29). Jetzt aber »dürfte die Ordnung es erfordern«, alles, was mir bewusst ist, in gewisse Klassen einzuteilen und genau zu prüfen, »in welchen von diesen Bewusstseinsarten eigentlich die Wahrheit oder die Falschheit liegt.« (ebd.) Diese Klasse, worin Wahr- und Falschheit liegt, sei die der Urteile. Sobald wir urteilen, d. h. sobald wir die Ideen als wahr annehmen, betrachten wir sie nicht mehr an sich, sondern beziehen sie auf etwas anderes, in Bezug auf das wir annehmen, sie seien wahr. Sehe ich ein, um beim Bisherigen zu bleiben, dass ich eine denkende Substanz bin, so betrachte ich die Idee meiner selbst nur hinsichtlich dessen, was ich bin; urteile ich jedoch, dass ich eine denkende Substanz bin, so beziehe ich diese Idee auf etwas anderes, hinsichtlich dessen ich annehme, dass ich bin. Erst dieses Beziehen der Ideen, die Vgl. Schrödter 2000, 110 f.: »Descartes verwendet die scholastische Terminologie ›realitas formalis sive actualis‹ jedoch ›revolutionär‹ : Bezeichnete sie in der Seinsmetaphysik den Bezug auf das denkunabhängige Wesen als Gegenstand einer ›intentio‹, kennzeichnet sie jetzt, dass dieses auch von den Ideen des denkenden Subjekts abhängt. Damit löst der Ideengedanke den Seinsgedanken als metaphysischen Grundbegriff ab. Descartes ist sich dieser für die Neuzeit maßgeblich werdenden ›Revolution‹ bewusst«. 68 Diese Beschränkung erlaubt uns insbesondere, Descartes’ Raisonnement über die »materiale Falschheit« der Ideen (Med. 35; auch: 187 f., 210 ff.) außer Acht zu lassen. 67
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
499
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
wir haben, auf etwas anderes im Urteil macht nach Descartes den Irrtum möglich und daher die Untersuchung über die Wahrheit und Falschheit unserer Annahmen nötig. Denn ohne diese Beziehung »würden sie mir gewiss kaum irgendeinen Stoff zum Irrtum geben.« (Med. 30). Dieses »etwas anderes«, auf das die Ideen in Urteilen bezogen werden, wollen wir nun mit dem Begriff der Ursache fassen, und zwar zunächst in einem weiten und allgemeinen Sinne, so dass in Hinblick auf die Klasse der Urteile dieses andere der Ideen als die Ursache dafür aufgefasst wird, dass wir die Idee, die wir haben, haben. Was auch immer unter dieser »Ursache der Ideen« verstanden werden mag, – in Verbindung mit der Klasse der Urteile jedenfalls hat der Ursachebegriff hier keinerlei ontologische, sondern eine epistemologische Bedeutung 69 : er spezifiziert nur, was unter der »Wahrheit« in Urteilen zu verstehen sei. Während Descartes also im Falle der Einsicht die Klarheit der Idee mit dem Begriff der Substanz bzw. des »Einwohnens« fasst, bestimmt er im Falle des Urteils die Wahrheit der Idee mit dem Begriff der Ursache. Auf der Grundlage dieser allgemeinen Bestimmung der Wahrheit in Urteilen wollen wir nun in einem zweiten Schritt den Begriff der Ursache mit Descartes als »formale Ursache« präzisieren, wonach in der Ursache der Ideen so viel Realität enthalten sei wie als objektiver Gehalt in diesen selbst. Von diesem Begriff sagt Descartes, dass man ihn als »Axiom so notwendig annehmen muss, dass von diesem einen die Erkenntnis aller Dinge, der wahrnehmbaren ebenso wie der nicht wahrnehmbaren abhängt.« (Med. 150; H. v. m.) – Zwar knüpft Descartes mit dieser bestimmteren Fassung des Ursachebegriffs, wie schon gesagt, an den scholastischen Sprachgebrauch an; Dass auch Descartes den Begriff der Ursache in einer solch allgemeinen Weise fasst, nach der man bei allem nach der Ursache fragen kann, macht seine Antwort auf die Einwände von J. Caterus deutlich. Caterus versteht unter dem Begriff der Ursache sogleich eine äußere Ursache, die »einen realen und aktuellen Einfluss aus(übt)« (Med. 82), von der dann zu sagen sei, dass man von ihr nichts wissen könne, weil sie außerhalb unseres Verstandes sei. Etwas könne »zwar im Denken gesetzt werden, aber nie und nimmer verursacht werden.« (Med. 83) Hierauf erwidert Descartes: »Schon richtig; aber, um im Denken gesetzt zu werden, hat es doch gewiss eine Ursache nötig, und um diese allein handelt es sich … es würde uns nicht befriedigen, wenn uns einer erklärte, dass diese Idee außerhalb des Verstandes nichts sei, und dass sie infolgedessen nicht verursacht werden, sondern eben nur im Denken gesetzt werden könnte; denn hier handelt es sich um nichts anderes als um die Ursache, weshalb sie im Denken gesetzt wird.« (Med. 93).
69
500
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
wir deuten die Verwendung dieses »Axioms« jedoch so, dass Descartes damit keine Aussage über die Ordnung des Seienden macht, sondern dass es ihm dazu dient, die rein erkenntnistheoretische Frage zu beantworten, was denn jenes Andere der Ideen sei, hinsichtlich dessen die Ideen, die wir haben, als wahr angenommen oder als falsch beurteilt werden können 70 . Wir deuten also den Ausdruck »so viel Realität … wie« in der Weise eines Äquivalenz- oder Entsprechungsverhältnisses: das andere, auf das die Idee eines Dings im Urteil bezogen wird, muss (in einem wahren Urteil) dieser Idee ›entsprechen‹. 71 Wenn Descartes nun über das »Formale« der Ursache hinaus den Begriff der »Eminenz« einführt, wonach in der Ursache mindestens ebenso viel Realität als in der Wirkung vorhanden sei, so nimmt er damit zwar in der Tat »verschiedene Grade der Realität oder des Seinsgehaltes« (Med. 150) an, aber wir verstehen auch diese Einführung nicht als eine Aussage über eine Hierarchie des Seienden, sondern deuten sie als eine legitime Abkürzung der erkenntnistheoretischen Untersuchung: Statt in jedem einzelnen Fall zu untersuchen, was die Ursache der jeweiligen Idee sei, wird die Untersuchung in der Frage nach der Substanz zusammengefasst, die ihnen zugrundeliegen könnte. Hierfür kommen für Descartes drei Möglichkeiten in Betracht: Entweder nimmt man an, die Ideen kommen von außen in uns (ideae adventitiae), dann sind das Andere der Ideen äußere Dinge, die sie in uns hervorrufen, und so wäre die Natur die Substanz, die ihnen zugrunde liegt; oder man nimmt an, sie seien die Produkte unserer Einbildungskraft (ideae factitiae), dann gilt unser Vorstellungsvermögen als die Ursache dafür, dass wir die Ideen haben, und unser Ich wäre die Substanz; oder wir nehmen drittens an, die Ideen seien uns eingeboren (ideae innatae), dann wäre Gott die Ursache dafür, dass wir sie haben. Insofern ›verkürzt‹ Descartes’ Rede von Descartes’ Unterscheidung von ›formal‹ und ›material‹ zeigt, dass es ihm nicht um die psychologische Frage geht, wodurch die Vorstellung, die wir aktuell haben, verursacht ist, sondern um die erkenntnistheoretische Frage, wodurch Ideen wahr oder falsch sind. – Vgl. dazu: Lensink 1992, 75 ff. 71 vgl. Holz 1997, 167: »Nun ist klar, dass die Frage, ob einer Vorstellung (wie genau sie auch ausgearbeitet sei) eine wirkliche Sache ausser ihr entspricht und ob dann auch noch deren Merkmale sich den Merkmalen der Vorstellung zuordnen lassen, dass sie eine formale Äquivalenz besitzen und daher die einen als realistische Repräsentationen der anderen aufgefasst werden dürfen – dass diese Frage sich nicht allein von den Vorstellungen her beantworten lässt.« 70
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
501
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
»Graden der Realität« die Untersuchung, indem sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht die Frage nach dem Anderen der Ideen auf das Wesentliche, Natur, Ich, Gott, reduziert. 3. Nach dieser Bestimmung des Begriffs der Ursache von Ideen geht Descartes zuerst auf die materialistische oder naturalistische Theorie der Wahrheit ein. Diese nimmt an, dass die Natur uns lehre, an die Wahrheit der Ideen zu glauben, weil »gewisse von mir verschiedene Dinge (existierten), welche ihre Ideen oder ihre Abbilder durch Vermittlung der Sinnesorgane oder in irgendeiner anderen Weise in mich hineinsenden.« (Med. 32) Descartes verwirft diese Theorie der Wahrheit, da er meint, sich zu oft getäuscht zu haben, wenn er annahm, den Ideen entsprächen äußere Dinge, weil sie von ihnen herstammen. Die Annahme, die Natur sei die Ursache der Ideen, gilt ihm eher als eine Quelle der Irrtümer als die der Wahrheit der Urteile. Zum anderen jedoch – und dies ist für uns der wichtigere Gesichtspunkt – vermag diese Theorie es nicht, die klare Einsicht, dass ich, rein denkend, ein rein denkendes Ding bin, mithin den ersten Grundsatz der cartesischen Philosophie, zu erklären. Denn, so heißt es in den »Regeln zur Leitung des Geistes«: »… (es) lässt sich keine körperliche Idee ausdenken, die uns eine Vorstellung davon gäbe, was Erkenntnis, Zweifel, Unwissenheit, imgleichen, was die Tätigkeit des Willens, die man Willenshandlung nennen mag, und dergleichen ist« (Descartes 1980, 116). Die naturalistische Wahrheitstheorie, so wollen wir Descartes’ Einwand zusammenfassen, mag zwar für die Lebensführung taugen, wo an sich Zweifelhaftes als wahr geglaubt wird; sie ist aber kein Modell, auf das ein festes und bleibendes, d. h. auf klarer und deutlicher Einsicht basierendes, Wissen gegründet werden kann. Nachdem Descartes so die »Natur« als die Ursache der Ideen ausgeschlossen hat, wendet er sich der, wenn wir so sagen dürfen, »subjektivistischen« Theorie der Wahrheit zu, nach der nicht die Natur, sondern Ich selbst die Ursache der Ideen, die ich habe, bin. Dazu stellt Descartes zunächst fest, dass ich – »außer der (Idee), die mir mein eigenes Ich vergegenwärtigt« (Med. 34) – viele Ideen habe, die mir körperliche wie unkörperliche Dinge vorstellen. Von allen diesen Ideen nun, weil sie entweder ebenso viel oder weniger objektive Realität haben als die Idee, die ich von mir selbst habe, gebe es keinen Grund nicht anzunehmen, ich selbst könnte in formaler oder eminenter Weise deren Urheber sein. Ich kann sie bilden, »wenn es selbst außer mir keine Menschen, Tiere oder Engel in der Welt gäbe.« 502
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
(Med. 35) In ihnen »bietet sich … nichts so Großes dar, das nicht aus mir selbst hätte hervorgehen können.« (ebd.) Nun scheint es, als bliebe in systematischer Hinsicht übrig zu untersuchen, ob jene Idee, »die mir mein eigenes Ich vergegenwärtigt«, und die Descartes als Maßstab dieser Prüfung gebraucht hat, ebenfalls aus mir selbst hervorgehen kann, oder ob sie mir eingeboren ist, und daher Gott als ihre Ursache angenommen werden muss. Doch Descartes untersucht diese Frage hier nicht. Er klammert sie aus, um sich stattdessen der Idee Gottes zuzuwenden: »Es bleibt daher einzig die Idee Gottes, bei der zu erwägen ist, ob sie etwas ist, das nicht aus mir selbst hervorgehen konnte.« (Med. 36) Den Grund für die Ausklammerung der Frage nach der Ursache der Idee meiner selbst vermuten wir in Descartes’ Annahme, dass die Ursache dieser Idee nicht gefunden werden kann, wenn nicht zuerst die Idee Gottes und deren Ursache untersucht worden ist. Erst sie kann klären, ob Ich selbst oder Gott die Ursache der Idee meiner selbst ist. Fassen wir unsere bisherige Rekonstruktion des cartesischen Ursachebegriffs zusammen, der in erkenntnistheoretischer Hinsicht das Andere bezeichnet, auf das die Ideen in Urteilen bezogen sind, so sieht Descartes keinen Grund nicht anzunehmen, dieses Andere, auf das all meine Ideen in Urteilen bezogen werden, sei ich selbst als denkendes Wesen. Sie alle bieten objektiv, in ihrem »Seinsgehalt«, nichts so Großes dar, als dass nicht ich selbst in formaler oder eminenter Weise der Urheber meiner Ideen sein könnte. Allein die klare Idee meiner selbst als denkender Substanz sowie die Idee Gottes scheinen von der Art zu sein, dass zu erwägen sei, ob sie auch von mir selbst gemacht sein können, oder ob sie mir eingeboren sind, ob also ich selbst oder Gott die Ursache ist, dass ich sie habe. 2.
Die Idee der vollkommenen Substanz
1. So wie Descartes in der dritten Meditation die Idee Gottes einführt, scheint er die gestellte Frage nach der Ursache dieser Idee mit einem Schlag zu beantworten: »Unter dem Namen Gottes verstehe ich eine Substanz, die unendlich, unabhängig, von höchster Einsicht und Macht ist, und von der ich selbst geschaffen worden bin, ebenso wie alles andere Existierende, falls es nämlich existiert.« (Med. 36) Deuten wir nun das, was Descartes unter dem Namen Gottes anführt, zugleich als das, worin die Idee Gottes ausgedrückt ist, dann A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
503
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
muss man annehmen, Gott selbst sei die Ursache dieser Idee. Denn es ist nicht möglich, diese Idee Gottes klar und deutlich einzusehen und zugleich anzunehmen, Gott sei nicht ihre Ursache. Würde man nämlich annehmen, sie sei von mir gemacht, dann widerspricht die Annahme der Einsicht in diese Idee, nach der ich selbst von Gott geschaffen bin. Daher kann die Ursache dieser Idee nur Gott selbst sein. Wie Descartes also die Idee Gottes hier benennt, enthält sie in sich selbst schon die Lösung: Gott ist als Ursache dieser Idee anzunehmen. Doch in diesem Fall hätte Descartes die Untersuchung der Ursache der Idee Gottes mit einem ›Trick‹ beendet; denn unter dem »Namen Gottes« würde in einer Idee epistemologisch ganz Verschiedenes zusammengefasst. Denn von der Kategorie der Substanz haben wir gesagt, sie erfülle das Kriterium der Klarheit, so dass also der Idee Gottes als unendlicher Substanz die Klarheit der Einsicht zukommt; von der Kategorie der Ursache hingegen, dass sie das Kriterium der Wahrheit expliziert, wodurch die Idee auf etwas anderes verweist, als sie selbst ist. Dieses Andere der Idee kann nun aber niemals selbst eine Idee sein, weil es ja als die Instanz gilt, durch die Ideen als wahr angenommen werden können. Was Descartes unter dem »Namen Gottes« anführt, beruht folglich auf der Vermischung zweier epistemologisch ganz verschiedener Ebenen: der Klarheit der Einsicht in die Idee einerseits und der Wahrheit dieser Idee andererseits. Eine solche Idee könnte daher niemals klar eingesehen werden; sie kann bestenfalls auf einer Art ursprünglicher Einsicht oder göttlicher Offenbarung beruhen. Da Descartes für das Dasein Gottes jedoch keine solche Erkenntnisart in Anspruch nimmt, sondern einen Beweis führt, können wir beides ausschließen; und der von ihm angeführte Name Gottes kann nicht die klare Idee Gottes sein. 2. Statt des Namens gebraucht Descartes im Rahmen seines Beweises für die Idee Gottes denn auch nur Ausdrücke wie die des »höchst vollkommenen und unendlichen Wesens« oder der »Substanz, die alle Vollkommenheiten enthält«. In den »Gedanken zum Beweise des Daseins Gottes« gibt er als Definition: »Die Substanz, die wir als die höchst vollkommene einsehen und in der wir offenbar uns nichts vorstellen, das einen Fehler oder eine Beschränkung der Vollkommenheit einschlösse, heißt Gott.« (Med. 147) Da uns manche der Eigenschaften und Bezeichnungen, die Descartes anführt, als missverständlich und für unseren Zweck auch als unnötig erscheinen, wollen wir uns im Folgenden nur auf die Idee konzentrieren, 504
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
von der wir annehmen, dass sie nach Descartes »im höchsten Grade klar und deutlich« (Med. 37) ist: die Idee einer vollkommenen Substanz. 72 Von dieser Idee nehmen wir an, dass sie – neben der Idee meiner selbst als denkender Substanz – klar und deutlich eingesehen wird. Wenn wir nun nicht sogleich nach der Ursache dieser Idee fragen, sondern zunächst nur danach, ob sich die Klarheit ihrer Einsicht auch begründen lässt, dann müsste sich auch für sie eine – dem ›Schluss‹ vom »Ich denke« auf »ich bin eine denkende Substanz« entsprechende – Begründung finden lassen. Denn wenn die Klarheit der Idee meiner selbst darin besteht, dass die Einsicht, ich sei eine denkende Substanz, der Tätigkeit des »Ich denke« unmittelbar folgt, dann müsste auch der Idee einer vollkommenen Substanz, damit sie das Kriterium der Klarheit erfüllt, eine ›Tätigkeit‹ vorausgehen, welche die klare Einsicht begründet; und so zwar, dass nicht mehr oder anderes klar eingesehen wird, als was aus dieser Tätigkeit folgt. Nimmt Descartes nun eine solche, die Klarheit der Einsicht in diese Idee begründende, Tätigkeit an; und wenn ja, welche? Nun scheint es, als ginge Descartes – zumindest in den »Meditationen« – einfach davon aus, dass ich die Idee einer vollkommenen Substanz habe. Ja, er behauptet sogar, dass, weil in der unendlichen Substanz »mehr Realität« enthalten sei als in der endlichen, »der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d. i. der Gottes dem meiner selbst in gewisser Weise vorhergeht.« (Med. 37) Würden wir nun aber die Weise dieses ›Vorhergehens‹ so verstehen, als sei das Haben Descartes ist, wie uns scheint, mit den anschließenden Erwiderungen eine Debatte aufgenötigt worden, die von anderen Voraussetzungen ausgeht und das zur Rede Stehende eher verdunkelt. So etwa, wenn Th. Hobbes einwendet, »wir haben kein Bild, keine Idee von Gott,« und das Bilderverbot (Med. 163) anführt, und Descartes ihm mit Recht antwortet, er verstehe nicht, worum es geht. Oder wenn M. Mersenne auf den ›Widerspruch‹ verweist, Gott »nur in inadäquater Weise« zu erfassen, dennoch »klar und distinkt genug geforscht (zu haben), was Gott wohl ist« (Med. 116). Descartes erwidert darauf, dass es ihm gar nicht darum gehe zu erforschen, was Gott sei, sondern um diejenige Idee Gottes, die klar und deutlich eingesehen werden kann. In diesem Sinne sei »es offenbar, dass die Natur Gottes, so wie ich sie beschrieben habe, möglich ist, weil ich nur das angenommen habe, wovon wir klar und distinkt wahrnehmen, dass es zu ihr gehört, so dass es dem Denken nicht widerstreiten kann.« (Med. 136) Was aber das ›höchst Inadäquate‹ unseres Erfassens ausmache, so sei klar, dass dies nicht klar und deutlich zu erfassen ist. Das stehe aber nicht dem entgegen, das zu erfassen, was klar und deutlich zu begreifen ist. In diesem Sinne verstehen wir die Idee der vollkommenen Substanz. – Vgl. auch Med. 125. 72
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
505
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
der Idee Gottes ›ursprünglicher‹ als das der Idee meiner selbst, oder gehe die Einsicht in jene Idee der Einsicht in diese Idee vorher, so würde dieses Verständnis unsere bisherige Systematik sprengen. Descartes träfe damit eine Aussage, die seinen ersten Grundsatz wieder zur Disposition stellt: ich müsste, um mich als denkende Substanz klar einzusehen, erst die Idee Gottes klar eingesehen haben; dem Ersten, der Idee meiner selbst, ginge ein Vorhergehendes, die Idee Gottes, voraus, und das Erste wäre so nicht das Erste. – Descartes’ anschließende Äußerungen machen jedoch deutlich, dass er hier keine Aussage über die Ordnung des Habens oder der Einsicht von Ideen macht, sondern dass er das ›Vorhergehen‹ des Begriffs des Unendlichen vielmehr auf meine Tätigkeit bezieht: »Wie sollte ich es sonst auch verstehen, dass ich zweifle, dass ich etwas wünsche, d. i. dass mir etwas mangelt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn gar keine Idee eines vollkommeneren Wesens in mir wäre, durch dessen Vergleichung ich meine Mangelhaftigkeit erkenne?« (Med. 37) Hier, so interpretieren wir, begründet die Tätigkeit meines Zweifelns und Wünschens, dass ich die Idee eines vollkommeneren Wesens klar einsehe, so wie das Haben dieser Idee erklärt, dass ich zweifle und wünsche. Akzeptieren wir diesen Zusammenhang der Tätigkeit des Zweifelns und Wünschens und der Einsicht in die Idee der vollkommenen Substanz als Begründung, die Descartes für die Klarheit dieser Idee gibt, so kommt es offenbar darauf an, was unter dieser Tätigkeit zu verstehen ist. Würde man das Zweifeln und Wünschen im empirischen Sinne auffassen, wonach an allem zu zweifeln sei, Descartes aber Gewissheit wünscht, dann stellte diese Art des Zweifelns und Wünschens keinen Begründungszusammenhang zur klaren Idee Gottes her. Denn wenn das Dasein Gottes bezweifelt wird, dann wird nicht klar eingesehen; und wer Gewissheit sucht, braucht – nach Descartes – nicht die Idee Gottes. Die klare Einsicht in diese Idee als vollkommene Substanz kann daher nicht von empirischen Umständen abhängen. – Fassen wir das Zweifeln und Wünschen jedoch im Sinne des sogenannten »epistemischen Zweifels«, der es dem Ich nicht erlaubt, selbst das, was es auf das Klarste einsieht, auch als wahr anzunehmen, es dies aber aufgrund einer »große(n) Neigung in meinem Willen« (Med. 49) doch wünscht, dann folgt aus diesem Zweifeln und Wünschen in der Tat die Idee einer Substanz, der die Vollkommenheit ›einwohnt‹, die also den Mangel, den das Ich hat, nicht hat 73 . Sie 73
506
Siehe: »Achte ich nun darauf, dass ich zweifle, d. h. dass ich ein unvollkommenes und
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
ist die Idee eines Vollkommenen, in dem – im Unterschied zum Ich als bloß denkender Substanz – das Klare und das Wahre, die Idee und die Existenz, in substanzieller Einheit gedacht wird, in dem also kein Irrtum möglich ist. Diese Idee drückt als unmittelbare Folge des Zweifelns und Wünschens demnach aus, was für Descartes ›wahres Wissen‹ ist: die untrennbare Einheit des Klaren und des Wahren, die das Ich wünscht, weil es sie nicht hat, und nicht hat, weil es sie wünscht. 74 So verstanden, fügen sich Descartes’ Aussagen über die Idee Gottes in unsere Rekonstruktion der Systematik der klaren Ideen ein: rein denkend sieht das Ich sich klar als eine denkende Substanz ein; zweifelnd und wünschend jedoch hat es die klare Idee einer vollkommenen Substanz, der nicht nur das Denken, sondern das Denken und die Existenz, die klare Einsicht der Idee und die Wahrheit des Urteils ›einwohnen‹. Diese Idee impliziert nun in der Tat den Begriff des Unendlichen, der dem des Endlichen, wie Descartes sagt, vorhergeht; denn sie ist der Maßstab, um einzusehen, dass das Ich, zweifelnd und wünschend, selbst nicht vollkommen, sondern als ein bloß denkendes Ding ein endliches Wesen ist; und dass daher die vollkommene Substanz ein vom Ich verschiedenes Wesen ist. 75 Demnach ist, so können wir zusammenfassen, die Idee einer vollkommenen Substanz klar, weil das Ich zweifelt und wünscht und daher selbst nicht vollkommen ist. Diese Idee ist aber auch nur insofern klar, als sie durch den epistemischen Zweifel begründet ist: sie ist die Idee eines Wesens, das nicht zweifelt und wünscht, d. h. dem die Idee und die Existenz untrennbar ›einwohnen‹. Während abhängiges Ding bin, dann bietet sich mir eine ganz klare und deutliche Idee eines unabhängigen und vollkommenen Wesens – d. i. Gottes – dar.« (Med. 44; H. v. m.). 74 B. Williams weist auf die »umfassende Voraussetzungen« hin, dass Descartes’ »Streben nach Erkenntnis in Wirklichkeit korrekterweise als Streben nach Gottes Zustand der vollkommenen Erkenntnis betrachtet werden kann.« (Williams 1996, 117) Dies beschreibt in der Tat, was Descartes wünscht; es unterschlägt jedoch, dass für Descartes dies ein Streben, d. i. ein Zustand unvollkommener Erkenntnis, ist und bleibt. Ohne diese Annahme wird Descartes’ Idee Gottes als eines vom Ich verschiedenen Wesens nicht verständlich. 75 Der Rekurs auf den epistemischen Zweifel macht unseres Erachtens den Vorwurf des Zirkelarguments hinfällig, Descartes begründe die Einsicht in die eigene Endlichkeit mit der Unendlichkeit Gottes, die Erkenntnis der Existenz Gottes aber mit der Einsicht in die eigene Endlichkeit (Vgl.: Williams 1996, 117). Denn das »Zweifeln und Wünschen« begründet beides: die Einsicht in die eigene Endlichkeit und die Idee Gottes als des unendlichen Wesens. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
507
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Descartes also mit der Idee meiner selbst als denkender Substanz festgelegt hat, was die »Klarheit« der Einsicht bedeutet, legt er mit der Idee der vollkommenen Substanz fest, was »Wahrheit« bedeutet: Das untrennbare Einssein von Idee und Existenz 76 . 3.
Der Schluss: »das vollkommene Wesen existiert«
1. Nach unserer Deutung der ›formalen Ursache‹ als eines erkenntnistheoretischen Begriffs und der ›Idee Gottes‹ als der vollkommenen Substanz wenden wir uns nun dem aitiologischen Gottesbeweis zu bzw., zunächst allgemeiner, der »Erwägung«, wie Descartes sagt, ob die klare Idee Gottes, die ich habe, »etwas ist, das nicht aus mir selbst hervorgehen konnte.« (Med. 36) Dazu greifen wir, als erste Prämisse des Schlusses, auf Descartes’ Annahme zurück, dass bei jeder Idee, die ich habe, nach der Ursache gefragt werden kann; sie wird dadurch auf etwas anderes bezogen, das das jeweilige Urteil ›wahr‹ oder ›falsch‹ macht. Als zweite Prämisse des Schlusses führt Descartes an, dass ich die klare Idee Gottes als der vollkommenen Substanz habe. Der Gottesbeweis beruht also auf der »Erwägung«, was als die Ursache dieser Idee anzunehmen sei. – Da Descartes es im Falle dieser Idee, wie gesehen, ausschließt, dass ihre Ursache die Natur sei, weil diese nicht die Idee des Vollkommenen gebe, bleibt nur übrig, dass entweder Ich selbst oder Gott ihre Ursache ist. Im ersten Fall wäre das Urteil »das vollkommene Wesen existiert« als wahr anzunehmen, wenn und weil Ich selbst das vollkommene Wesen bin; im anderen Fall hingegen wäre das Urteil als wahr anzunehmen, wenn und weil Gott das vollkommene Wesen ist. Also ist das Urteil: »das vollkommene Wesen existiert«, unter den gesetzten Prämissen, wahr; entweder weil die Ursache der Idee des Vollkommenen ich selbst bin oder aber Gott ist. Nun schließt Descartes jedoch den Fall aus, dass das Ich das vollkommene Wesen sei. Denn, so das Argument, zweifelnd und wünschend sehe ich mich klar und deutlich nur als ein unvollkommenes Im Sinne dieser Untrennbarkeit kontert Descartes den Einwand von A. Arnaud, die Idee Gottes könnte, wie etwa die der Kälte material falsch sein, d. h. sich auf etwas beziehen, was es nicht gibt. Denn: »Es verhält sich mit der Idee Gottes nicht ebenso, wenigstens nicht mit der, die klar und deutlich ist, weil man nicht von ihr sagen kann, dass sie sich auf irgend etwas bezieht, dem sie nicht konform wäre.« (Med. 211). Die Idee Gottes ist, so interpretieren wir, diese Konformität.
76
508
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
Wesen ein, dem als solchem die Vollkommenheit fehlt, die Ursache meiner klaren Idee einer vollkommenen Substanz zu sein. Hätte ich die ›Kraft‹, mir diese Vollkommenheit zu geben, so besäße ich sie. Nun besitze ich sie nicht, also fehlt mir die ›Kraft‹. 77 – Folglich kann nur Gott dasjenige vollkommene Wesen sein, das die Ursache meiner Idee der vollkommenen Substanz ist 78 ; und das Urteil »das vollkommene Wesen existiert« ist wahr, weil Gott die Ursache dieser Idee ist. Legt man also erstens den Begriff der Ursache zugrunde, wonach bei jeder Idee gefragt werden kann, was (in formaler oder eminenter Weise) ihre Ursache sei, und nimmt man zweitens an, dass ich die klare Idee einer vollkommenen Substanz habe, so folgt daraus drittens, dass Gott als das vollkommene Wesen die Ursache ist, dass ich sie habe, oder: »Gott existiert demnach« (Med. 152). Dieser Schluss lässt sich als der zweite Satz der cartesischen Philosophie verstehen: der Beweis, dass Gott existiert. 2. Gegen diesen Beweis sind nun zahlreiche Einwände erhoben worden: von skeptischer Seite gegen Descartes’ Kausalitätsprinzip, dass die Ideen, die ich habe, eine Ursache hätten 79 ; von materialistischer und empiristischer Seite die Annahme des Besitzes einer klaren und deutlichen Idee des vollkommenen Wesens 80 ; sowie von humaIn den »Gedanken zum Beweise des Daseins Gottes«, Satz III, Beweis argumentiert Descartes: »Wenn ich die Kraft hätte, mich selbst zu erhalten, hätte ich noch viel eher die Kraft, mir die Vollkommenheiten zu geben, die mir fehlen (nach Axiom 8 und 9); diese sind nämlich nur Attribute der Substanz, ich aber bin Substanz. Nun aber habe ich nicht die Kraft, mir diese Vollkommenheiten zu geben, denn sonst besäße ich sie schon (nach Axiom 7). Also habe ich nicht die Kraft, mich selbst zu erhalten.« (Med. 152) 78 Ein möglicher Einwand wäre, dass die Ursache meiner Idee des vollkommenen Wesens nicht Gott sein muss, sondern auch eine Art ›Unter-Gott‹, ein Geist oder ein Bote, sein kann, der in mir diese Idee bewirkt. Descartes würde hierauf erwidern, dass diese Ursache mindestens ebenso viel objektive Realität haben müsste wie das, was in der Idee des vollkommenen Wesens gedacht wird. Und »so wird es sich wiederum … fragen, ob sie durch sich oder durch eine andere existiert, bis man schließlich zur letzten Ursache gelangt, die Gott sein wird.« (Med. 41). 79 So schon J. Caterus: »… Also habe ich zwar Ideen, habe aber keine Ursache derselben, und erst recht keine, die größer als ich und unendlich ist.« (Med. 82) 80 Th. Hobbes führt das ›Bilderverbot‹ an: »Ebenso steht es mit dem verehrungswürdigen Namen Gottes, denn wir haben kein Bild, keine Idee von Gott, darum wird uns ja auch verboten, Gott unter einem bestimmten Bilde anzubeten, damit wir nicht den Anschein haben, den, der unvorstellbar ist, uns vorzustellen.« (Med. 163) – P. Gassendi: »… da der menschliche Verstand nicht ausreicht, die Unendlichkeit zu fassen, besitzt er auch deshalb weder, noch berücksichtigt er eine Idee, die ihm ein unendliches Ding vergegenwärtigt. Daher legt auch der, der etwas als unendlich bezeichnet, einem Dinge, das er nicht fasst, einen Namen bei, den er nicht versteht …« (Med. 262 f.) 77
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
509
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
nistischer Seite, dass diese Idee Gott als Ursache habe 81. Statt diesen Beweis einer weiteren Kritik zu unterziehen und die Einwände ihrerseits zu prüfen, erscheint es uns ergiebiger, ihn im Rahmen der epistemologischen Grundlegung Descartes’ zu rekonstruieren. Wir suchen daher nicht nach ›Descartes’ Irrtum‹, sondern fragen vielmehr nach der Bedingung, unter der dieser Schluss von der klaren Idee einer vollkommenen Substanz auf das wahre Urteil, dass das vollkommene Wesen existiert, seine Gültigkeit hat. Von dieser Bedingung nehmen wir an, wie wir oben sagten, dass sie den aitiologischen Gottesbeweis zirkulär macht: er ist schlüssig, wenn das Bewiesene, die Existenz Gottes, dem Beweis schon vorausgesetzt ist. Um diese Bedingung aufzufinden, sollen zunächst die zwei Begriffe, auf denen die Beweisführung beruht, der vollkommenen Substanz und der formalen Ursache, hinsichtlich ihrer epistemologischen Funktion unterschieden werden: Den Begriff der vollkommenen Substanz bezieht Descartes auf die Idee von einem Wesen, worin Idee und Existenz als in substantieller Einheit enthaltend gedacht sind. Diese Idee ist klar, weil sie unmittelbar aus dem epistemischen Zweifeln und Wünschen des Ich folgt. Den Begriff der formalen Ursache hingegen verwendet Descartes, um dasjenige zu bezeichnen, auf das die Ideen im Urteil bezogen werden, das also keine Idee ist, sondern, cartesisch gesprochen, den objektiven Seinsgehalt der Idee, die ich habe, bewirkt. Während der Klasse der Ideen die epistemischen Eigenschaften der Klarheit bzw. Dunkelheit der Einsicht zukommen, besitzt die Klasse der Urteile, weil in ihnen die Ideen auf etwas anderes bezogen werden, die Eigenschaften der Wahrheit bzw. Falschheit. – Wenn Descartes nun in seinem aitiologischen Gottesbeweis diese zwei Klassen, die der Ideen und die der Urteile, so verknüpft, dass im Falle der Idee der vollkommenen Substanz das vollkommene Wesen selbst die Ursache dieser Idee ist, so unterstellt diese Verknüpfung die Vereinbarkeit von Verschiedenem: L. Feuerbach 1976, 206, Anm.: »Sosehr C[artesius] sich zu beweisen bemüht, dass die Idee Gottes nicht vom Menschen abstammen könnte, so verrät er selbst doch sehr deutlich den menschlichen Ursprung und Sinn derselben. So sagt er z. B. ›Diss. de Meth.‹ IV: ›Ich sah ein, dass weder Zweifeln noch Unbeständigkeit noch Traurigkeit und dergleichen Gott zukommt, denn ich selbst wäre gern davon frei gewesen, egomet illis libenter caruissem.‹ Aber gilt das nicht ebenso von den übrigen Prädikaten? Bin ich nicht ebenso gern frei von Abhängigkeit, Sterblichkeit, Endlichkeit? Was ist also das unendliche Wesen anders als das ›egomet ipse‹ ohne alle die Beschaffenheiten oder Schranken, deren ich selbst gern entledigt bin?«
81
510
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
dass dieses Wesen seiner Substanz nach vollkommen, seinem Vermögen nach aber die Ursache dieser Idee ist. Während nun aber dessen Vollkommen-Sein klar und deutlich einzusehen ist, ist dessen Ursache-Sein jedoch, weil es etwas anderes als die Idee ist, keine Idee und ist daher niemals klar und deutlich einzusehen. Das UrsacheSein dieses Wesens ist – verschieden vom Vollkommen-Sein – vielmehr als ein inneres Vermögen oder als eine ›Kraft‹ zu verstehen, die bewirkt, dass ich die Idee einer vollkommenen Substanz habe, die aber, weil keine Idee, nicht klar einzusehen ist. Nun setzt jedoch der Übergang aus der Klasse der Ideen in die Klasse der Urteile, den Descartes’ Gottesbeweis vollzieht, nämlich von der Idee der vollkommenen Substanz zum Urteil, dass das vollkommene Wesen existiert, als Bedingung die Vereinbarkeit des Vollkommen-Seins des Wesens mit dem Ursache-sein meiner Idee voraus. Würde man einwenden, dass dem Vollkommen-Sein das Ursache-für-anderes-Sein (für die Idee der vollkommenen Substanz, die ich als unvollkommenes Wesen habe) widerspricht, dann hätte zwar meine Idee der vollkommenen Substanz eine Ursache (weil voraussetzungsgemäß jede Idee, die ich habe, eine Ursache hat), aber diese Ursache kann nicht das vollkommene Wesen selbst sein. 82 Die Gültigkeit des Beweises hat also zur Voraussetzung, dass die vollkommene Substanz, die ich klar einsehe, und die Ursache dieser Idee, die ich nicht klar einsehe, miteinander vereinbar sind. Erst diese Voraussetzung garantiert, dass das vollkommene Wesen als die Ursache meiner Idee existiert, und dass die klar und deutlich eingesehene Idee der vollkommenen Substanz auch als ein wahres Urteil angenommen werden kann. Was aber kann diese Bedingung sein, die der Wahrheit des Urteils vorausgesetzt werden muss?
Descartes hebt selbst die ›Nicht-Umkehrbarkeit‹ hervor: »Schließlich ist zu bemerken, dass es eine große Anzahl von notwendigen Sätzen gibt, deren Umkehrung zufällig ist. Denn wenngleich ich z. B. daraus, dass ich bin, mit Gewissheit schließe, dass Gott ist, so kann man dennoch nicht darum, dass Gott ist, behaupten, dass auch ich existiere.« (Regeln zur Leitung des Geistes, XII, 18: Descartes 1980b, 118). Demnach folgt zwar aus der Tatsache, dass ich die Idee des vollkommenen Wesens habe, dass die Ursache dieser Idee das vollkommene Wesen selbst ist; aber es folgt nicht das Umkehrte, dass das vollkommene Wesen diese Idee in mir verursacht. – Vgl. dazu Williams 1996, 114.
82
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
511
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
B.
Die Wahrheitsbedingung des Gottesbeweises
Als Bedingung für die Gültigkeit des aitiologischen Gottesbeweises kommen insgesamt vier Möglichkeiten in Betracht: die logische Form des Schlusses; die epistemische Regel, nach der das Klare das Wahre ist; das absolute Wesen, das alles umfasst; oder aber schließlich die Annahme der Existenz Gottes. 1.
Die logische Form des Schlusses
Eine Möglichkeit ist, als Bedingung, unter der der Übergang von der Idee der vollkommenen Substanz zum Urteil über die Existenz Gottes gültig ist, das ›Logische‹ des Schlusses anzunehmen: Gesetzt erstens, dass jede Idee in formaler oder eminenter Weise eine Ursache hat, dass ich sie habe; gesetzt zweitens, dass ich die klare Idee einer vollkommenen Substanz habe; so folgt, dass die Ursache dieser Idee das vollkommene Wesen selbst ist, dass es also existiert. Hiernach besteht die Gültigkeit des Übergangs von der Idee zum Urteil in der korrekten Anwendung der Schlussregel. – Doch auch wenn man mit Descartes die Gültigkeit dieser Schlussregel annimmt, so ist dieser Schluss nur unter der Voraussetzung des Obersatzes gültig, dass nämlich jede Idee eine Ursache hat. In dieser Prämisse wird nun aber schon die Allgemeingültigkeit des Übergangs von den Ideen zu Urteilen formuliert, so dass aus ihr zwangsläufig folgt, dass auch im Fall des vollkommenen Wesens von der klaren Einsicht in die Idee zu dem Urteil übergegangen werden kann, dass es ist. Von der Voraussetzung des Obersatzes aber haben wir gesagt, dass die Ursache gar keine Idee, sondern das Andere der Idee ist und als solche nicht klar und deutlich eingesehen werden kann. Nimmt man daher an, dass im Fall des vollkommenen Wesens der Schluss von der klaren Idee auf die Existenz einen Widerspruch erzeugt, weil das Vollkommen-Sein das Ursache-Sein ausschließt, dann fällt die Voraussetzung, dass jede Idee eine Ursache hat. Zwar ließe der Obersatz sich einschränkend so umformulieren, dass bei jeder Idee gefragt werden kann, was denn ihre Ursache sei; im Falle der Idee der vollkommenen Substanz aber ließe sich darauf keine zweifelsfreie Antwort geben. Soll also der aitiologische Gottesbeweis gelten, dann muss über das Logische der Schlussregel hinaus die Widerspruchsfreiheit des Vollkommen-Seins mit dem Ursache-Sein vorausgesetzt 512
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
sein. – Allgemein gesagt: der Gebrauch logischer Regeln allein kann den epistemischen Zweifel nicht beheben, weil aus dem ›Was‹ nicht das ›Dass‹ folgt. 2.
Die epistemische Regel
Eine andere Möglichkeit ist, als Bedingung des Übergangs von der Idee der vollkommenen Substanz zum Urteil über die Existenz des vollkommenen Wesens die epistemische Regel Descartes’ anzunehmen, nach der das, was klar eingesehen wird, auch als wahr anzunehmen sei. Nach dieser Regel wäre der Satz: »das vollkommene Wesen existiert« als ein wahres Urteil anzunehmen, wenn und weil die Idee des vollkommenen Substanz klar eingesehen ist. Der Übergang aus der Klasse der Ideen in die der Urteile geschähe so nach dieser epistemischen Regel. Doch auch diese Möglichkeit ist auszuschließen. Denn in diesem Fall hätte die Beweisführung nicht die Gestalt des aitiologischen Gottesbeweises. Sein Obersatz wäre die epistemische Regel: »Alles, was ich klar einsehe, ist als wahr anzunehmen«; der Untersatz: »Ich sehe die Idee der vollkommenen Substanz klar ein«; und der Schluss: »Folglich ist diese Idee als wahr anzunehmen«. Darüber hinaus kann auch dieser Obersatz nicht als wahr angenommen werden, da er nicht klar eingesehen wird, sondern aussagt, dass das klar Eingesehene auf etwas anderes bezogen wird, das nicht klar eingesehen wird. Seine Geltung gründet daher nur in jener »große(n) Neigung in meinem Willen« (49), immer dann, wenn meinem Verstande etwas in großer Klarheit aufleuchtet, es auch als wahr anzunehmen. Aber diese »Neigung« des Willens gilt es zu begründen, und die Regel kann daher nicht als Obersatz eines Beweises dienen. Da wir zudem annehmen und im Weiteren ausführen werden, dass es erst der Existenz Gottes bedarf, um die Gültigkeit dieser Regel zu begründen, so würde durch sie das bewiesen, durch das sie doch erst begründet wird. Der Satz: »Gott existiert« kann folglich nicht aus der Anwendung der epistemischen Regel erschlossen werden, wenn er als Grundsatz die Gültigkeit dieser Regel begründet. 83 Descartes’ Antwort auf den diesbezüglichen Einwand von A. Arnaud ist nicht stichhaltig. Arnaud schreibt: »Nur ein Bedenken bleibt mir noch, ob er nicht einen Zirkelschluss gemacht hat, wenn er sagt, ›es steht uns aus keinem anderen Grunde fest, dass
83
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
513
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
3.
Das absolute Wesen
Eine dritte Möglichkeit wäre die Annahme eines absoluten Wesens, dem sowohl meine klare Idee der vollkommenen Substanz als auch das Vollkommensein ›einwohnen‹. Im Sinne dieses umfassenden Wesens lässt sich die Aussage Descartes’ verstehen, dass unsere Seele »une émanation de la souveraine intelligence« (AT IV, 608) sei. Diese höchste Intelligenz wäre in epistemischer Hinsicht die Instanz, die den ›Übergang‹ von der Idee der vollkommenen Substanz zur Existenz des vollkommenen Wesens erlaubt, weil sie die Übereinstimmung meiner Idee mit diesem Wesen garantiert. Da nun diese Intelligenz beides, das Vollkommensein und mein Haben dieser Idee, in sich enthält, wäre das Urteil begründet, dass die klare Idee, die habe, auch wahr ist. 84 Die Annahme einer solchen Intelligenz als der Bedingung des ›Übergangs‹ würde jedoch die Gesamtstruktur unserer bisherigen Rekonstruktion in Frage stellen; denn unter der Voraussetzung eines solchen Wesens wäre die Idee einer vollkommenen Substanz nicht meine Idee, die ich zweifelnd und wünschend klar und deutlich einsehe, sondern müsste als Modus der Substanz dieses Wesens verstanden werden. Nicht ich hätte diese Idee (und suchte nach der Ursache, das, was wir klar und deutlich erfassen, wahr ist, als dadurch, dass ›Gott ist‹. Aber es kann uns nicht feststehen, dass Gott ist, es sei denn, dass es von uns klar und evident erfasst wird. Also bevor es uns feststeht, dass Gott ist, muss es uns feststehen, dass wahr ist, was immer von uns klar und evident erfasst wird.« (Med. 194) – Descartes’ Antwort ist: erst stünde uns fest, dass Gott existiert; »dann aber genügt es, dass wir uns erinnern, irgend etwas klar erfasst zu haben, um gewiss zu sein, dass es selbst wahr ist« (Med. 222; H. v. m.). Dies mag so sein; aber es ist keine Antwort auf Arnauds Einwand der Zirkularität der Begründung. – Siehe dazu auch: Röd 1982, 105 f. 84 Auf dieser Annahme beruht die Interpretation der cartesischen Philosophie von D. J. Marshall jr. (1979), die, wie er sagt, vom »Standardverständnis« (24) abweicht. Marshall geht davon aus, dass es für Descartes nicht drei Substanzarten: Körper, endliche Geister und Gott gebe, sondern nur zwei. »Wollen wir bloß ihre Zweizahl betonen, nennen wir sie ›res cogitans‹ und ›res extensa‹. Wollen wir hervorheben, dass sie der Art nach zwei sind, nennen wir sie einfach ›Denken‹ und ›Ausdehnung‹. In der Alltagssprache nennen wir sie Gott und Materie. Beide sind Substanzen im eigentlichen Wortsinn, d. h. gleichewig und ungeschaffen. Nur diese sind Substanzen.« (25) In Marshalls Interpretation hat der cartesische Gottesbeweis daher »etwa die folgende Struktur: Die Schlussfolgerung ›Ich denke, deshalb existiert Denken‹ gilt. Aber der umgekehrte Schluss gilt nicht. Daher bin ich keine Substanz, wohl aber das Denken. Diese Substanz nennen wir Gott.‹« (79) Dies Argument gilt, weil ich als denkendes Ding – nach Marshall – keine (endliche) Substanz, sondern ein Modus Gottes bin, oder: »Gott ist … meine Substanz.« (77)
514
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der zweite Grundsatz: »Gott existiert«
dass ich sie habe); vielmehr hätte diese Idee mich. Dies aber würde bedeuten, dass Descartes’ epistemischer Zweifel, aus der Klarheit der Einsicht nicht auf deren Wahrheit schließen zu können, je schon aufgehoben wäre in einem Absoluten, in dem meine klaren Ideen Zustände der einen Substanz und die klaren Ideen daher je schon wahr wären. – Descartes trägt seinen Gottesbeweis jedoch nicht als ›substanz-‹, sondern als aitiologischen Beweis vor und beharrt darauf, dass die Existenz des vollkommenen Wesens nicht a priori, sondern nur aposteriori, d. h. aus seiner Wirkung, erkannt werden könne; und dass dieser Beweis sogar »das einzige Mittel ist, das wir haben, um die Existenz Gottes zu beweisen« (Med. 216). 4.
Die Existenz des guten Gottes
1. Wenn nun für den aitiologischen Gottesbeweis die logische Form des Schlusses nicht hinreicht, die Existenz Gottes zu erschließen, auch Descartes’ epistemische Regel nicht als Obersatz des Beweises angenommen werden kann, und schließlich die Annahme eines absoluten Wesens dem Beweis widerspricht, so bleibt nur, die Bedingung, die den ›Übergang‹ von der klaren Idee der vollkommenen Substanz zum wahren Urteil über die Existenz Gottes ermöglicht, in einer ursprünglichen Annahme zu sehen, die das Dasein Gottes selbst betrifft. Diese Annahme schließt aus, dass das VollkommenSein, dessen Idee ich klar einsehe, und das Ursache-Sein dieser Idee, das ich nicht klar einsehe, einander widersprechen. Descartes führt sie in der Dritten Meditation unter dem »Namen Gottes« an, der das in epistemischer Hinsicht Verschiedene vereint: die Idee der vollkommenen Substanz und das Ursache-Sein dieser Idee. Wir bezeichnen ihn als den »guten Gott«, weil er in sich das Vollkommen- und das Ursache-Sein vereint. – Unter der Bedingung dieser Annahme nun muss Descartes’ aitiologischer Gottesbeweis, wie uns scheint, als gültig angenommen werden. Denn durch sie wird der Zweifel behoben, dass Gott zwar das vollkommene Wesen ist, weil ich diese Idee klar einsehe, aber nicht das Ursache-Sein meiner Idee, weil ich dies nicht klar einsehe. Diese Annahme erlaubt daher den Übergang von der klaren Idee der vollkommenen Substanz zum wahren Urteil, dass das vollkommene Wesen existiert. In dieser ursprünglichen Annahme, dass der gute Gott existiert, sehen wir das tragende Fundament des aitiologischen GottesbeweiA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
515
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
ses. Sie formuliert das zweite Prinzip der cartesischen Epistemologie: deus est. Es beruht, als Prinzip, nicht auf der Klarheit der Idee und ist auch nicht aus der Deutlichkeit des Begriffs erschlossen; aber es erlaubt den Übergang aus der Klasse der klaren Ideen in die Klasse der wahren Urteile. Denn erst unter diesem Prinzip lässt sich zweifelsfrei schließen, dass das vollkommene Wesen die Ursache seiner Idee ist. Es übernimmt die Garantie, von der klaren Einsicht in die Idee Gottes zu dem wahren Urteil, dass Gott existiert, überzugehen und damit das klar Eingesehene auch als wahr annehmen zu können. 2. Nach diesem Verständnis erscheint der cartesische Gottesbeweis in einer Hinsicht zweifellos als so zirkulär, wie er von Arnaud (Med. 194) schon verstanden wurde. Denn es muss schon feststehen, dass Gott existiert, um als wahr annehmen zu können, dass Gott existiert. Der Beweis scheint so in der Tautologie zu bestehen, dass unter der Voraussetzung, dass Gott existiert, zu beweisen ist, dass er existiert. In einer anderen Hinsicht ist er jedoch nicht zirkulär. Denn wir haben angenommen, dass nicht die Existenz des guten Gottes, sondern die Existenz des vollkommenen Wesens bewiesen wird, da nur diese Idee, zweifelnd und wünschend, vom denkenden Ich klar eingesehen wird. Die Annahme des guten Gottes hingegen wird nicht bewiesen, sondern ist dem Beweis als Bedingung seiner Gültigkeit vorausgesetzt, und bildet – neben dem »cogito, ergo sum« – das zweite Prinzip der cartesischen Epistemologie. – Nun sind jedoch die Existenz des vollkommenen Wesens zu beweisen und die Existenz des guten Gott anzunehmen zwei ganz verschiedene Handlungen: der Beweis ist eine Handlung des Denkens, die sich nach den Kriterien der Klarheit der Einsicht und der Deutlichkeit der Begriffe vollzieht; jenes Annehmen jedoch ist eine Handlung des Willens, durch die etwas bejaht oder verneint wird. In dieser Hinsicht ist also der Beweis nicht zirkulär, weil die Existenz des vollkommenen Wesens zu beweisen und den guten Gott zu bejahen nicht dasselbe sind. 85 Unsere Rekonstruktion des aitiologischen Gottesbeweises ist in gewisser Weise analog zu Schellings Darstellung des ontologischen Beweises von Descartes. Schelling weist zunächst Kants Kritik zurück, man könne aus dem Begriff des vollkommenen Wesens nicht dessen Existenz herausklauben. Descartes, so Schelling, habe dies nicht getan. »Sein Argument lautet vielmehr so: der Natur des vollkommenen Wesens würde es widerstreben, bloß zufällig zu existiren …, also kann das vollkommenste Wesen nur nothwendig existiren.« (Schelling 1856 ff., Bd. I/10, 15) Gegen dieses Argument sei nichts einzuwenden. (Dass übrigens Kant auch diese Deutung des Beweises vertreten
85
516
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
In einer dritten Hinsicht lässt sich Descartes’ aitiologischer Gottesbeweis freilich doch als ein großer Zirkel verstehen. Denn das, was in ihm bewiesen wird, nämlich die Existenz desjenigen vollkommenen Wesens, das zugleich die Ursache dafür ist, dass ich die Idee von ihm habe, ist nichts anderes als der gute Gott, dessen Annahme dem Beweis als Bedingung seiner Gültigkeit vorausgesetzt ist. Im Sinne dieser Zirkularität lässt sich der Gottesbeweis als die Explikation dessen verstehen, was für Descartes unter dem »Namen Gottes« der gute Gott ist: Es ist die Güte Gottes, dass das denkende Ich die klare Idee der vollkommenen Substanz als Folge des Wirkens Gottes besitzt; dass also der Besitz dieser Idee »das Zeichen« ist, wie Descartes sagt, »das der Künstler seinem Werke aufgeprägt hat.« (Med. 42) Weil dem so ist, kann das Ich diese klar eingesehene Idee getrost auch als ein wahres Urteil annehmen.
IV. Das personale Verhältnis von Ich und Gott Unsere bisherige Rekonstruktion der cartesischen Grundlegung des Wissens bestand in der Analyse der zwei Sätze: »cogito, ergo sum« und »deus est«. Den ersten Satz haben wir als den Grundsatz gedeutet, der das Kriterium der Klarheit der Einsicht expliziert: aus der Handlung des »Ich denke« folgt unmittelbar die Einsicht, dass ich ein denkendes Ding bin. Der zweite Satz »deus est« hingegen explihat, zeigt K. Cramer in: Cramer 1996, 139 ff.). Descartes schließe jedoch, dass Gott, weil er als das vollkommenste Wesen notwendig existiert, auch existiert: »Aber es ist etwas ganz anderes, ob ich sage: Gott kann nur nothwendig existiren, oder ob ich sage: er existirt nothwendig. Aus dem Ersten (er kann nur nothwendig existiren) folgt nur: also existirt er notwendig NB. wenn er existirt, aber es folgt keineswegs, dass er existirt. Darin liegt also der Fehler des Cartesianischen Schlusses.« (ebd.) Als Beleg für diesen »Fehler« zitiert Schelling Descartes: »Also ist es wahr von Gott zu sagen, die Existenz sey in ihm eine nothwendige, oder (setzt er hinzu) Er existire. Das Letzte,« kommentiert Schelling, »ist nun aber etwas ganz anderes als das Erste und kann nicht als gleichgeltend mit diesem angesehen werden, wie durch das Oder angedeutet wird« (ebd., 16). Dieser Darstellung entspricht unsere Deutung des aitiologischen Gottesbeweises: Der Schluss, Gott muss die Ursache meiner Idee des vollkommenen Wesens sein, ist »etwas ganz anderes als« die Aussage, Gott ist die Ursache dieser meiner Idee. Allerdings sehen wir darin keinen »Fehler«, sondern ein notwendiges Element. Diese Aussage ist erforderlich, um die Regel zu begründen, dass das klar Eingesehene auch als wahr angenommen werden kann. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
517
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
ziert die Wahrheit bzw. den ›Übergang‹ von der klaren Einsicht zum wahren Urteil. Diesen Übergang trägt Descartes in den »Meditationen« in der Form des aitiologischen Gottesbeweises vor, als Schluss von der klaren Idee der vollkommenen Substanz auf das wahre Urteil, dass Gott existiert. Da nun aber die Gültigkeit des Schlusses und damit der Übergang von der Klasse der Ideen in die der Urteile davon abhängt, dass der gute Gott existiert, setzt er die Anerkennung des Daseins Gottes voraus. In diesem Sinne sagt Descartes, dass niemand sich eines Urteils sicher sein könne, »wenn er nicht erst das Dasein Gottes anerkennt.« (Med. 128) Diese Anerkennung als Bedingung des Übergangs von der klaren Idee zum wahren Urteil ist nun aber selbst keine Handlung des denkenden Verstandes als Vermögen der klaren Einsichten und deutlichen Begriffe, sondern ein Akt des Willens als Vermögen der Bejahung und Verneinung, der in diesem Akt das Dasein Gottes bejaht. Da Descartes in den »Meditationen« jedoch, abgesehen von der vierten Meditation »Über Wahrheit und Irrtum«, das Verhältnis von Ich und Gott als ein Verhältnis von »Verstandesdingen« beschreibt, dem endlichen Geist als denkender Substanz und dem unendlichen Wesen als vollkommener Substanz, sind wir zur Rekonstruktion des Satzes »Gott existiert« im Sinne der willentlichen Anerkennung vor allem auf die Erwiderungen Descartes’ auf Einwände sowie auf seine brieflichen Erklärungen und Erläuterungen angewiesen. 86 Um dieser Beziehung zwischen dem Willen des Ich und dem Dasein Gottes nachgehen zu können, müssen wir einen Wechsel der Perspektive vornehmen. Denn Ich und Gott lassen sich jetzt nicht mehr als Ideen in einem denkenden Verstand verstehen, die durch Kategorien beschrieben und unterschieden werden, sondern müssen offenbar als Personen aufgefasst werden, die eine willentliche Beziehung der Anerkennung haben. In Hinblick auf diesen Perspektivenwechsel hat E. Cassirer nicht unpassend von einer ›Umkehr der Maßstäbe‹ gesprochen: »Wir können der Wahrheit unserer Ideen und Urteile, auch wenn sie für uns die höchste Klarheit und Evidenz besitzen, nicht eher vertrauen, als wir sie in einem metaphysischen Grund, im Sein Gottes begründet und verankert haben. Die ›veracitas Dei‹ ist der Ursprung und die Röd 1982, 112: »Es fällt auf, dass diese Auffassung in ihrer radikalen Form nie in den systematischen Schriften des Philosophen, sondern immer in Briefen oder in der Auseinandersetzung mit Einwänden zur Sprache kommt.« – So auch Cassirer 1995, 302 f.
86
518
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
Bedingung für alle Wahrheit, die auf menschlichem Wege gewusst und erworben werden kann. Aber damit kehren sich alle bisherigen Maßstäbe um. Denn jetzt ist es nicht mehr die Selbstgewissheit des Intellekts, die allem anderen Wissen Halt und Bestand gibt. Der Intellekt ist von einer anderen Macht abhängig geworden, die außerhalb seiner steht und ihn schlechthin transzendiert. Die ›Autonomie‹ der Vernunft … scheint sich damit endgültig in Heteronomie aufgelöst zu haben. Descartes versucht vergeblich, dieser neuen Problematik Herr zu werden. Denn er steht hier vor einer unlösbaren Aufgabe, vor einem logischen Zirkel, der nicht zu vermeiden ist. Das Sein Gottes kann nicht anders als auf Grund der klaren und deutlichen Idee, die wir von ihm besitzen, bewiesen werden; aber auf der anderen Seite steht die Evidenz dieser Idee nicht fest, bevor dieses Sein gefunden und in seiner Beschaffenheit erkannt ist.« (Cassirer 1995, 36 f.) Während das auf die »Autonomie der Vernunft« gegründete Prinzip vom Dasein Gottes ein ›rationalistisches‹ Konzept vom Wissen entwirft, das die Wahrheit des Urteils von den Kriterien der Klarheit und der Deutlichkeit abhängig macht, scheint das auf die »Heteronomie« gegründete Prinzip ein ›fideistisches‹ Modell zu entwerfen, das die Wahrheit der Urteile vom Glauben abhängig macht, dass Gott existiert. Wir meinen allerdings, entgegen Cassirers Urteil, dass Descartes damit nicht vor einer »unlösbaren Aufgabe« steht, sondern dass sich diese beiden Prinzipien in seinem Wissensbegründungskonzept ergänzen und bedingen: wahre Urteile hängen in spezifischer Weise sowohl rationalistisch vom Kriterium der Klarheit der Einsicht als auch fideistisch von der Anerkennung der Existenz Gottes ab 87. Dazu bedarf es jedoch zunächst der Klärung des Verhältnisses von Ich und Gott als zweier Personen, das sich uns nicht als ein Verhältnis der Heteronomie, sondern der Autorität ergeben wird.
Wenn Cassirer in der Folge die Antinomie dadurch ermäßigt, dass er den Begriff der Wahrheit (veracitas) zum »eigentliche(n) Absolutum« (ebd., 37) der cartesischen Lehre erklärt, so dass beide, Ich und Gott, »kein Sein außer und über der Vernunft« (ebd., 38) haben, so erscheint uns diese Ermäßigung als unangemessen. In Descartes’ Epistemologie können beide nicht nur Vernunftwesen sein, sondern müssen, um wahres Wissen zu begründen, ›auch‹ freier Wille sein.
87
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
519
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
A. Ich und Gott als zwei Personen Versteht man den Satz »Gott existiert« in dem Sinne, dass er, wie Descartes sagt, die »erste und ewigste aller Wahrheiten« bezeichnet, aus der »alle anderen hervorgehen« 88 , dann kann diese Wahrheit aus keiner Verstandeseinsicht folgen. Sie ist kein begründetes Urteil, sondern entspringt dem Willen als Vermögen der Bejahung. Als das begründungslos Erste setzt dieses Urteil folglich das Ich nicht als ein Wesen voraus, das denkt, sondern als ein Subjekt, das will; und in ihm wird Gott nicht als ein Wesen erkannt, sondern als Person anerkannt. Daher drückt sich in dem Urteil »Gott existiert« zunächst nur allgemein ein Verhältnis zweier Personen, Ich und Gott, aus. 1.
Das Ich als Person
Um nun das cartesische Ich nicht nur, wie bislang, als ein Ding, das denkt, sondern als eine solche Person aufzufassen, greifen wir zunächst auf den Anfangsakt zurück, den wir »Apperzeption« genannt haben. Dieser Akt war diejenige willentliche Handlung, in der ich mein Denken zu meinem Denken und mich so zum Subjekt meines Denkens mache. Durch diese apriorische Handlung, so haben wir gesagt, trennt sich das Ich vom empirisch bestimmten »Handeln im Leben« und verwandelt sich der heteronome Normalmensch in den autonomen Verstandesmenschen. Durch sie stoße ich, womit Descartes seine »Meditationen« beginnt, »alles von Grund aus« (Med. 11) um; das Ich setzt sich als reines »Ich denke« aller Einsicht und Erkenntnis voraus und macht sich zum epistemischen ›Kontrolleur‹ all der Ideen, die es hat. Was auch immer die Motive dieser anfänglichen Setzung sein mögen, – wir müssen jedenfalls annehmen, dass dieses setzende Ich verschieden ist vom denkenden Ich. Denn die Setzung ist eine willentliche Handlung, die auf keiner Einsicht beruht, weil sie ja als Bedingung aller Einsicht vorausgeht; sie lässt sich daher nur als eine freie Handlung des Ich verstehen, durch die es sich, »einmal im Le-
»l’existence de Dieu est la premiere la premiere & la plus eternelle de toutes les veritez qui peuuent estre, & la seule d’où procedent toutes les autres.« (Brief an Mersenne, 6. 5. 1630. AT, I, 150)
88
520
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
ben« (Med. 11), als bloß denkend setzt. Damit aber ist das cartesische Ich nicht nur das »Ich denke«, dem die klare Einsicht folgt, eine denkende Substanz zu sein; es ist davon auch notwendigerweise verschieden, weil es sich als das, was es ist, selbst setzt. Diese Differenz im Ich, zwischen seiner rein ›denkenden Natur‹ und seiner ›freien Setzung‹, zwischen dem, was es ist und doch auch nur hat, wollen wir mit dem Begriff der Person fassen: das cartesische Ich ist nicht nur ein Ding, das denkt; es verhält sich auch dazu und hat daher diese denkende Natur 89. Sie hängt von der eigenen Setzung als einer willentlichen Handlung ab. Von dieser Einheit von Sein und Haben nehmen wir an, dass sie sich mit dem Begriff der Person angemessen erfassen lässt: Im Ich sind Wille und Verstand, das freie Setzen und das reine Denken, unterschieden und doch verbunden. 2.
Gott als Person
Was hingegen den Gebrauch des Personbegriffs in Bezug auf den cartesischen Gott betrifft, so mag es fürs erste genügen, wenn wir in ihm dieselbe Differenz finden, nach der er nicht nur das vollkommene Wesen ist, sondern dieses Wesen auch hat, nach der also das Sein Gottes auch als von seinem Wesen verschieden angenommen werden muss. Hierzu verweisen wir nur die schon genannte Differenz, die Descartes unter dem »Namen Gottes« anführt, und die wir den »guten Gott« genannt haben, dass er nämlich nicht nur das vollkommene Wesen ist, das klar eingesehen wird, sondern dass er auch als die Ursache von allem angenommen wird, die nicht eingesehen wird. Als jener ist Gott Vernunftwesen, als dieser aber handelndes Subjekt. Wie auch immer Descartes diesen Zusammenhang zwischen dem Vollkommensein und dem Ursachesein Gottes näher bestimmt, – wir schließen daraus zunächst, dass auch der cartesische Gott Person ist, weil er das vollkommene Wesen ist und es zugleich hat. »Gott als Person« soll also bedeuten, dass er vom Verstand in dem, was er
In Sinne dieser Differenz erwidert Descartes auf den Einwand Hobbes’, ihm seien Denken und Ich dasselbe, und er falle damit in die scholastische Ausdrucksweise zurück, dass der Verstand versteht, der Wille will etc.: »Ich leugne nicht, dass ich, der ich Bewusstsein habe, mich von meinem Bewusstsein unterscheide«. Er fasst diesen Unterschied dann allerdings nicht als den der Person, sondern kategorial: »wie eine Sache von einem Modus« (Med. 160 f.).
89
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
521
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
ist, zu begreifen ist; aber dass er ist, wird vom Verstand nicht erkannt, sondern vom Willen anerkannt. 90 3.
Die Differenz der Personen: Das Durch-sich-Existieren Gottes
1. Sehen wir nun auf die Differenz beider Personen, so kann ihre Verschiedenheit nicht darin bestehen, dass Gott etwa ›mehr‹ Person wäre als das Ich; denn als Personen sind sie gleich, weil jede das, was sie ist, durch sich selbst ist. Es ist denn auch diese Freiheit des Willens, von der Descartes im Brief an Christine von Schweden schreibt, dass »sie uns in gewisser Weise Gott gleich macht« 91 . In ihr werde das Ich inne, heißt es in der vierten Meditation, »von keiner äußeren Gewalt dazu bestimmt (zu sein)« (Med. 48). – Die Differenz beider Personen kann aber auch nicht darin liegen, dass Gott als das vollkommene Wesen mehr ›Seinsgehalt‹ hätte als das Ich als bloß denkendes Wesen. Denn dieser Unterschied betrifft den Vergleich der Ideen, die das Ich von sich und von Gott hat; er bezieht sich aber nicht auf das ›Person-Sein‹ beider. Die wesentliche Differenz zwischen beiden sieht Descartes vielmehr darin, dass Gott das, was er ist, schlechthin durch sich selbst ist. Diese Personalität Gottes kann uns Descartes’ Changieren zwischen der Begreifbarkeit Gottes und dessen Unbegreifbarkeit erklären. Wenn etwa B. Williams tadelt, »Descartes’ Verfahren, sich zwischen diesen beiden Polen zu bewegen, besteh(e) im wesentlichen darin zu behaupten, dass er klar und deutlich begreifen kann, dass Gott aktuelle Unendlichkeit zueignet, aber nicht, wie er dieses Attribut manifestiert« (Williams 1996, 115; H. v. m.), so unterstellt er, dass der Gott Descartes’ begreifbar sei oder sein müsse. Von dieser Voraussetzung aus erscheint Williams’ Vergleich mit einem Erfinder plausibel, der zwar die »Idee einer wunderbaren Maschine (habe), die die Hungrigen dadurch ernährt, dass sie Proteine aus Sand gewinnt«, der aber »keine Vorstellung oder nur eine sehr verschwommene Vorstellung davon hat, wie eine solche Maschine funktionieren könnte« (ebd.). Von einer solchen Idee, meint Williams könne man kaum beeindruckt sein. – Beeindruckend aber wäre es demgegenüber, wenn jemand eine solche Sand-Protein-Maschine erfände, die funktioniert, es aber ganz unbegreiflich wäre, dass sie funktioniert. Dieser Vergleich entspricht unseres Erachtens dem cartesischen Gott. Für den Erfinder einer solchen Maschine gälte, was Descartes über Gott sagt: »Dass wir ihn aber für unbegreiflich (incomprehensible) halten, lässt uns ihn mehr achten; ebenso wie ein König mehr Majestät besitzt, wenn er von seinen Untertanen in weniger vertrauter Weise gekannt wird, vorausgesetzt jedoch, dass sie deswegen nicht glauben, ohne König zu sein, und dass sie ihn genügend kennen, um nicht an ihm zu zweifeln.« (Brief an Mersenne, 15. 4. 1630; AT, I, 145) 91 »… qu’il nous rend en quelque facon pareils à Dieu« (AT, V, 81–86). 90
522
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
Im Unterschied zum Ich ist Gott das unendliche Wesen, weil er allein durch sich existiert, er »durch die reale Unermeßlichkeit seiner Macht« (Med. 100) selbst die Ursache der Vollkommenheit ist, die er hat. 92 Dieses Durch-sich-selbst-Existieren aber fehlt dem Ich. Es besitzt zwar die Idee des Vollkommenen; mir fehlt aber, wie Descartes sagt, »die Kraft »mir die Vollkommenheiten zu geben, die mir fehlen« (Med. 152; H. v. m.). Und das Fehlen dieser Kraft drückt sich in dem für das Ich unüberwindlichen epistemischen Zweifel aus: im Wunsch, vollkommen zu sein, es aus Eigenem aber nicht zu können. Das Durch-sich-selbst-Existieren ist daher gleichsam das ›Monopol‹ Gottes, das die Differenz der beiden Personen bezeichnet. Wenn folglich Descartes Gott als das (aktual) unendliche, das Ich hingegen als das endliche Wesen bestimmt und sagt, dass »der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d. i. der Gottes dem meiner selbst in gewisser Weise vorhergeht«, (Med. 37), dann bezeichnet dieser Unterschied den der Personen: Gott als das unendliche Wesen ist selbst die Ursache seiner Existenz, das Ich als das endliche Wesen nicht. Daher existiert das Ich als die denkende Substanz, als die es sich klar einsieht, nicht durch sich, sondern durch Gott als ein von ihm verschiedenes Wesen. 93 Für diese Differenz zwischen Gott und Ich verwenden wir nun die Ausdrücke der »selbständigen« bzw. der »unselbständigen Person«: zwar ist jede Person; aber weil Gott das, was er ist, durch sich selbst ist, ist er die selbständige Person; und weil das Ich nicht durch sich selbst existiert, ist es die unselbständige Person. 2. Akzeptieren wir diese Beschreibung von Ich und Gott als Personen, dann zeigt sie in historischer Sicht einen entscheidenden Unterschied zum Modell der Dreieinigkeit, das Augustin am Beginn des Mittelalters formuliert hatte. Denn für Augustin war – gemäß der Das »Durch sich« Gottes expliziert Descartes nicht in den »Meditationen«, wo es ihm um den Beweis der Existenz Gottes geht. Erst auf die Einwände von Caterus und Arnaud hin bestimmt er Gott als Ursache seiner selbst, als »causa sui«. Zu dieser Debatte siehe: J. Caterus: Med. 84 ff.; Descartes’ Antwort: Med. 97–100; A. Arnaud: Med. 188 ff.; Descartes’ Antwort: Med. 213–222. 93 Descartes erklärt am Schluss der dritten Meditation, die Einsicht in die aktuale Unendlichkeit Gottes erhalte ihre »ganze zwingende Kraft« dadurch, »dass ich anerkenne, dass ich selbst mit dieser meiner Natur, – insofern ich nämlich die Idee Gottes in mir habe, – unmöglich existieren könnte, wenn nicht Gott auch wirklich existierte« (Med. 42 f.). Hier geht Descartes nicht vom »existo« aus, um auf die Existenz Gottes zu schließen, sondern umgekehrt von der Anerkennung der Existenz Gottes als der Bedingung für die Existenz des Ich als endliches Wesen. 92
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
523
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Formel »una essentia – tres personae« – der Sohn Gottes diejenige Person, die nicht durch sich, sondern als das Gezeugte allein durch den Vater ist, die aber in dieser ewigen Zeugung mit dem Vater untrennbar ein Wesen und ein Wissen ist. Descartes setzt nun in bestimmter Weise an die Stelle des Sohnes das Ich. Das Ich ist zum einen Person aufgrund der Freiheit seines Willens, und ist in dieser Hinsicht Gott gleich; aber es ist nicht ein Wesen und ein Wissen, sondern als endlicher Geist, als bloß denkende Substanz, das unvollkommene Wesen, das existiert, weil es durch Gott, das vollkommene Wesen, geschaffen ist. Beide sind daher als Personen gleich, aber dem Wesen und der Natur nach verschieden. Mit dieser Bestimmung von Gott und Ich als Personen ersetzt Descartes seinem Programm gemäß zum einen die ›dunkle‹ Idee des dreieinigen Gottes, der drei Personen eines Wesens, durch die zwei ›klaren‹ Ideen des Ich als der Substanz, die denkt und einsieht, und Gottes als der vollkommenen Substanz, in der kein Irrtum ist 94 ; zum anderen aber erhebt Descartes das Ich in den Stand der Person, die zwar nicht hinsichtlich des Wesens, aber hinsichtlich des Willens Gott gleich ist 95 . Was von Augustin am Beginn des Mittelalters als In der Diskussion mit A. Arnaud unterscheidet Descartes die »göttlichen Fragen« über den »Ursprung der Personen der höchstheiligen Dreieinigkeit« von der Frage über den Ursprung, »wo keine solche Gefahr des Irrtums vorliegen kann«. In diesem Fall aber handele es sich »nicht um den dreieinigen, sondern nur um den einigen Gott.« (Med. 215; H. v. m.) Allein von diesem sei ein irrtumsfreies Wissen möglich. – Vgl. auch: Med. 219. 95 Th. Kobusch ist in seiner Arbeit »Die Entdeckung der Person« der Geschichte des Personbegriffs nachgegangen und hat darauf verwiesen, dass die Anfänge seiner Anwendung auf den Menschen nicht erst in der Neuzeit, sondern schon im Mittelalter, im 13. Jahrhundert, liegen. Sie resultieren, wie er zeigt, aus den Diskussionen um den Sohn Gottes, näher um die soteriologische Funktion der Menschwerdung Christi, und werden aus ihnen verständlich. Alexander von Hales habe erstmals zwischen dem subiectum, dem individuum und der persona Christi unterschieden. Während der Begriff des Subjekts das esse naturale bezeichnet, nach der Christus aus Leib und Seele bestehe, und der des Individuums das esse rationale, nach der er dieser bestimmte Mensch sei, bezieht Alexander den Begriff der Person auf das esse morale, wonach Christus eine Würde (dignitas) zukommt, die in der Freiheit gründe. Leider erläutert Kobusch die Übertragung dieses christologisch gebrauchten Begriffs auf den Menschen nicht hinreichend – obgleich er in ihr doch den Ursprung des modernen Freiheitsbegriffs sieht. Sehe ich richtig, so geschieht diese Übertragung durch eine Theorie der Menschwerdung Christi. Weil Christus als Person die menschliche Natur angenommen hat, so kommt auch dieser das ens morale der Person zu: »Durch die Verbindung der Person Christi mit der menschlichen Natur kommt dieser dieselbe unendliche Würde zu, die jegliche Würde eines Geschaffenen übersteigt.« (Kobusch 1997a, 30) »Der unendliche Wert der durch 94
524
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
eine innergöttliche untrennbare Einheit der drei Personen verstanden worden ist, ›löst‹ Descartes am Beginn der Neuzeit gleichsam ›auf‹ und ordnet das Verhältnis der Personen neu: Gott ist die eine selbständige Person, die durch sich selbst das vollkommene Wesen und das Wissen ist; die unselbständige Person aber ist – wesensverschieden – das Ich als endlicher Geist. Der »Heilige Geist« jedoch wird, wie wir sehen werden, zu der ›Kraft‹ – Descartes nennt sie die »wahre Gottesliebe« –, die beide Personen verbindet und bewirkt, dass das Ich das, was es klar einsieht, auch als wahr annehmen kann.
B.
Die Anerkennung Gottes als Bedingung des wahren Wissens
Descartes stellt, wie gesagt, das Verhältnis von Ich und Gott in zweifacher Weise dar. Die eine, die ontologische, beschreibt es als ein kausales Verhältnis von Dingen oder Substanzen. Dieser Darstellung folgt Descartes in den »Meditationen«, wenn er Gott das vollkommene Wesen nennt, das im Ich die Idee der vollkommenen Substanz bewirkt. Die andere, die eher in den Erläuterungen und brieflichen Erklärungen zur Sprache kommt, stellt das Verhältnis als ein personales dar, das seinen Ursprung nicht im Verstand, sondern im Willen hat, der daher ein anderes, inniges Verhältnis von Ich und Gott begründet. Um dieses, auf den Willen gegründete Verhältnis nachvollziehen zu können, soll zuerst nach der Bedeutung gefragt werdie Erlösungstat Christi geadelten menschlichen Person liegt in ihrer Freiheit.« (31) Durch Christi Menschwerdung wird also der Mensch gleichsam in den Stand des Personseins erhoben, der in der Freiheit gründet. Nun bleibt jedoch während des ganzen Mittelalters dieses ens morale an die christliche Gnadentheologie gebunden, der gemäß der Mensch nicht, wie Christus, Person ist, sondern Person wird. Auch wenn Kobusch verdienstvollerweise zeigt, dass schon in der mittelalterlichen Ontologie eine Aufwertung des Menschen als Person geschieht, so bleibt dieses Person-Sein letztlich (auch bei Wilhelm von Occam und Suárez) ein relatives Sein, das auf die Person Christi und die göttliche Gnade bezogen ist. Sie bewegt sich in den durch die christliche Heilsgeschichte vorgegebenen Bahnen. Nach unserer Deutung geschieht der Umschlag da, wo das Personsein nicht mehr von der Einsicht in die Struktur des Seienden abhängt, sondern wo das Ich diesen gegebenen Rahmen sprengt und sich aller Einsicht voraussetzt. In diesem Fall ist das Person-Sein des Menschen nicht mehr ein bedingtes, sondern ein unbedingtes Sein ist. Diesen ›Umschlag‹ bezeichnet das cartesische Ich, das sich in dem, was es ist, nicht mehr an der Person Christi orientiert, sondern sich in bestimmter Weise an deren Stelle setzt. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
525
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
den, die es in der cartesische Epistemologie hat, um dann dem Willensakt nachzugehen, der dieses personale Verhältnis konstituiert. 1.
Das »Atheisten-Argument«
In seiner Erwiderung auf M. Mersenne führt Descartes das »Atheisten-Argument« an. Auf den Einwand Mersennes, dass doch eine klare und deutliche Einsicht nicht von der Einsicht abhängen könne, dass Gott existiert, weil doch auch ein Atheist, der die Existenz Gottes leugnet, klar und deutlich einsieht, dass etwa die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei Rechten sind (Med. 113), erwidert Descartes: »(Dies) leugne ich nicht; aber ich behaupte nur, dass diese seine Erkenntnis nicht ein wahres Wissen ist, weil doch wohl keine Erkenntnis, die zweifelhaft gemacht werden kann, ein Wissen genannt werden darf. Da nun jener als ein Atheist angenommen wird, kann er dessen nicht gewiss sein, dass er sich nicht täuscht, selbst in dem was ihm am meisten einleuchtend scheint, wie zur Genüge dargetan, und wenn ihm vielleicht der Zweifel nicht aufstößt, so kann er ihm doch aufstoßen, wenn er die Sache prüft oder sie von einem anderen vorgebracht wird, und er wird nie davor sicher sein, wenn er nicht erst das Dasein Gottes anerkennt.« (Med. 128) Descartes fährt fort, dass der Atheist bloß glaube, er habe Beweise, dass Gott nicht existiert. Da diese aber nicht wahr seien, könne man ihm die Fehler zeigen; »und sobald das geschieht, bringt man ihn von seiner Meinung ab.« (ebd.) So verstanden bedeutete die Anerkennung des Daseins Gottes, dass man dessen Dasein erst bewiesen haben muss, um mathematische Urteile als wahr anzunehmen. – Nimmt man jedoch an, dass Mersennes Einwand sich nicht nur auf das genannte mathematische Beispiel bezieht, sondern auf die Wahrheit von klaren und deutlichen Ideen überhaupt, dann erhält Descartes’ Aussage, ein wahres Wissen sei nicht möglich, »wenn nicht erst das Dasein Gottes anerkannt wird«, einen anderen Sinn. Denn nun fällt auch der Gottesbeweis unter dieses Argument: selbst wer den Gottesbeweis klar und deutlich einsieht, kann nicht sicher sein, dass Gott existiert, »wenn nicht erst das Dasein Gottes anerkannt wird«. Während im Fall des Gottesbeweises die Anerkennung der Existenz Gottes als eine notwendige Folge aus der klaren und deutlichen Einsicht verstanden wird, ist im anderen Fall unter der Anerkennung der Willensakt zu verstehen, der vorausgeht, damit die klare Einsicht 526
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
auch ein wahres Wissen ist. Descartes präzisiert das Argument denn auch im Weiteren, wenn er in der Erwiderung auf die sechsten Einwände erklärt, dass ein Atheist sich auch in dem täuschen könne, »was ihm am evidentesten scheint, und er wird sich von diesem Zweifel niemals befreien können, wenn er nicht zuvor erkennt, dass er von Gott geschaffen worden ist, der wahrhaftig und keiner Täuschung fähig ist.« (Med. 371; H. v. m.) In diesem Sinne bedeutet das »Atheisten-Argument«, dass ohne die Anerkennung der Existenz Gottes zwar klare Einsichten möglich sind, jedoch kein wahres Wissen. Dieser vorausgehende Akt der Anerkennung ist freilich keine Einsicht und er gründet auf keiner Einsicht; er begründet allererst die Einsicht als wahres Wissen. Um diesen wissensbegründenden Akt zu verdeutlichen, der den Theisten vom Atheisten unterscheidet, sei er zunächst von anderen Handlungen abgegrenzt. Der Akt ist mit Sicherheit nicht in dem Sinne zu verstehen, dass Descartes hier dunkle und daher unbegreifliche Gründe, etwa ein ›religiöses Gefühl‹ oder zu glaubende Wahrheiten, anführt, die den Willen zur Annahme bewegen, dass Gott existiert. Denn in diesem Fall weicht die Handlung von der epistemischen Regel ab, nach der allein das als wahr anzunehmen sei, was klar eingesehen ist. Dieser Akt lässt sich aber auch nicht so verstehen, dass in ihm die klare und deutliche Idee Gottes als wahr angenommen wird. Denn dieses Fürwahrnehmen bedeutete, dass von dieser Regel schon Gebrauch gemacht wird, nicht aber, dass sie dadurch begründet wird. – Statt in diesem wissensbegründenden Akt eine Urteilshandlung zu sehen, der dunkle Gründe oder klare Einsichten vorhergehen, ist er vielmehr als eine Handlung zu verstehen, die auf keiner Einsicht beruht, sondern ein freier Akt des Ich als Person ist. In diesem Sinne heißt: »erst das Dasein Gottes anzuerkennen«, dass das Ich sich frei, zwang- und grundlos, als ein abhängiges und endliches Wesen setzt und sich als die ›unselbständige Person‹ annimmt, indem es zugleich Gott als die von ihm verschiedene, allein ›selbständige Person‹ anerkennt, so dass, wie Descartes sagt, »meine ganze Existenz in jedem Augenblick von ihm abhängt« (Med. 44; H. v. m.). Dieser Akt gründet einerseits auf der Freiheit des Ich als der Person, die von keiner äußeren Gewalt dazu bestimmt und darin Gott gleich ist; andererseits konstituiert er das personale Verhältnis, worin das Ich sein eigenes Dasein von Gott abhängig macht. Erst auf diesem, das Dasein selbst betreffenden Akt des freien Willens beruht also für Descartes diejenige zweifelsfreie Erkenntnis, A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
527
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
die »ein wahres Wissen« genannt werden kann. Er erst erlaubt den Übergang von der klaren Einsicht zum wahren Urteil. Während dem Atheisten die autonome Setzung des »Ich denke« und damit die Klarheit der Einsicht auch möglich ist, ist ihm die Wahrheit des Urteils nicht möglich, weil er nicht zuerst das Dasein Gottes anerkannt hat. Dieses »zuerst« ist demnach der Grund, warum das Verhältnis von Ich und Gott nicht hinreichend als ein rationaler Diskurs beschrieben werden kann, sondern als ein personales, das Dasein selbst betreffendes Verhältnis aufzufassen ist. 2.
Die Wahrheit und der Irrtum
1. Diesen freien Willensakt als Voraussetzung des wahren Urteils charakterisiert Descartes näher in der Vierten Meditation über die Wahrheit und den Irrtum. Unter »Irrtum« versteht Descartes nicht, dass gewisse Propositionen fälschlicherweise für wahr gehalten werden; der Irrtum bestehe vielmehr darin, dass an sich bezweifelbare Ideen als wahr angenommen werden. Denn, so das Argument, halte ich für wahr, was falsch ist, so irre ich; halte ich umgekehrt für wahr, was wahr ist, »so treffe ich zwar zufällig auf die Wahrheit, bin aber darum nicht von Schuld frei, da mich ja die natürliche Einsicht lehrt, dass das Verstandeserfassen stets der Willlensbestimmung vorhergehen muss.« (Med. 50) Das aber heißt, dass der Irrtum für Descartes nicht darin besteht, Falsches für wahr zu halten, sondern im Abweichen von der epistemischen Regel, die vorschreibt, allein das als wahr anzunehmen, was klar und deutlich eingesehen wird. Und die »Wahrheit« besteht dementsprechend darin, dieser Regel zu folgen. Fügen wir dieser Wahrheitstheorie nun hinzu, was sich aus dem »Atheisten-Argument« ergeben hat, so irrt offenbar nicht allein der, der an sich Bezweifelbares als wahr annimmt, sondern auch der, der das, was er klar und deutlich einsieht, nicht als wahr annimmt, der also dem »Verstandeserfassen« nicht die »Willensbestimmung« folgen lässt, wie der Atheist, der die Idee Gottes zwar klar und deutlich einsieht, dennoch dessen Existenz verneint. Denn wenn der Irrtum in der Abweichung von der epistemischen Regel besteht, dann irrt nicht nur der, der als wahr annimmt, was er nicht klar und deutlich eingesehen hat, sondern auch der, der das, was er klar und deutlich eingesehen hat, nicht als wahr annimmt. Beide, sowohl der ›lebensprakti528
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
sche Normalmensch‹, der Bezweifelbares für wahr annimmt, als auch der ›skeptische Atheist‹, der Unbezweifelbares nicht als wahr annimmt, weichen von der Regel ab; sie befinden sich daher im Irrtum. Um zu irren bzw. wahr zu urteilen, führt Descartes nun näher aus, bedarf es des »gleichzeitigen Zusammenwirken(s) zweier Gründe (concours de deux causes)« (Med. 47). Der eine Grund sei der Verstand (intellectus), d. h. das theoretische Vermögen der Einsicht bzw. der Bildung von Propositionen; der andere Grund sei der Wille (voluntas), d. h. die praktische Fähigkeit zur Wahl, »dass wir dasselbe entweder tun oder nicht tun können – d. h. es bejahen oder verneinen, befolgen oder meiden« (Med. 48). Da nun aber der Verstand nicht irren kann, weil er nur einsieht, nicht aber urteilt; der Irrtum jedoch auf der Abweichung von der epistemischen Regel beruht, ist allein der Wille, d. h. die Freiheit zu wählen, die Quelle sowohl des Irrtums als auch der Wahrheit. Folgt die Bestimmung meines Willens, gemäß der epistemischen Regel, der Verstandeseinsicht, so ist mein Urteil wahr; folgt mein Wille jedoch anderen, dunklen Gründen oder folgt er nicht der Verstandeseinsicht, so irre ich. Daher ist diese Freiheit der Wahl, der epistemischen Regel zu folgen oder nicht zu folgen, die eigentliche Quelle der Wahrheit wie des Irrtums. 2. Wie aber ist diese Freiheit der Wahl zu verstehen? Denn die Freiheit, der Regel zu folgen oder nicht zu folgen, kann ja nicht demjenigen Willen entspringen, der dieser Regel folgt oder nicht folgt, sondern muss diesem Willen als ihn bestimmend vorausgehen. Sie kann folglich nur diejenige Freiheit des Willens sein, von der Descartes sagt, »dass ich keine Idee einer größeren zu fassen vermag, so dass sie es vorzüglich ist, durch die ich erkenne, dass ich gleichsam ein Abbild (imago) und ein Gleichnis (similitudo) Gottes bin.« (Med. 48) Sie ist das Ich als Person, das der Wahl der Wahrheit oder des Irrtums vorausgeht. Damit beruht die ›bona mens‹, d. h. diejenige Verfassung meines Geistes, die mich zu wahren Urteilen befähigt, auf der ›bona voluntas‹, dem rechten Entschluss meines Willens 96. In Hinblick auf diese Wahl zwischen der Wahrheit und dem Irrtum führt Descartes nun aus: »… wenn ich alles, was in mir ist, von Gott habe, und er mir gar keine Fähigkeit zu irren gegeben hätte, so scheint es, als ob ich niemals irren könnte. Und solange ich demnach nur an Gott denke und mich ganz zu ihm hinwende, entdecke ich keinen Grund zu Irrtum und Falschheit. Wende ich mich aber her96
Vgl. Cassirer 1995, 32. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
529
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
nach zu mir selbst zurück, so mache ich die Erfahrung, dass ich trotzdem unzähligen Irrtümern ausgesetzt bin …« (Med. 45) – Verstehen wir nun dieses Denken an und Hinwenden zu Gott nicht in der Weise, dass der Wille der klaren Idee Gottes folgt, sondern so, dass das Ich in dieser Hinwendung Gottes Existenz bejaht, d. h. ihn als den Urheber seiner selbst anerkennt, so dass »ich alles, was in mir ist, von Gott habe«, dann ist in dieser Beziehung der menschliche Geist in einer solchen Verfassung, dass er keinen Grund zu Irrtum und Falschheit entdeckt. In diesem Zustand ist alles, was in mir ist, wahr, weil ich es von Gott habe. Wendet das Ich sich hernach jedoch zu sich selbst zurück, und verstehen wir diese Rückwendung als den Akt der Bejahung seiner selbst und als Verneinung Gottes, dann erfährt es sich »unzähligen Irrtümern ausgesetzt«. Dies, meint Descartes, sei auch nicht verwunderlich; denn das Ich sei ein unvollkommenes Wesen, das als ein Mittleres am Höchsten und Niedersten teilhabe (Med. 45). Daher lenkt diese Wahl »leicht vom Wahren und Guten ab, und so irre und sündige ich.« (49) Und, setzen wir das »Atheisten-Argument« hinzu, so verfehlt das Ich in dieser Verfassung nicht nur oft die Wahrheit, sondern verfehlt ganz den Grund der Wahrheit. Descartes’ Theorie über die Wahrheit und den Irrtum als der freien Wahl des Ich, entweder Gott oder sich selbst zu bejahen, erklärt so, was die Freiheit des Willens in Bezug auf die Wahrheit oder die Falschheit des Urteils bedeutet: die Bejahung Gottes als des Urhebers meiner selbst bewirkt einen solchen Zustand des Geistes, in dem der Wille, wie er soll, der klaren Einsicht folgt und daher allein wahre Urteile fällt; die Verneinung Gottes hingegen bewirkt einen solchen Zustand des Geistes, in dem er sündigt und irrt. 97
Anders als E. Cassirer sehen wir Descartes’ Freiheit der Wahl nicht nur darin, die epistemische Regel anzuwenden oder nicht. Sie ist nicht nur der anfängliche »freie(.) Entschluss, den einmal im Leben jeder fassen muss, der zur wahrhaften Gewissheit gelangen will« (Cassirer 1995, 32). Es geht daher nicht nur um die »richtige innere Verfassung des Geistes, die ihn zur Gewinnung der Wahrheit befähigt« und die »nur auf Grund eines solchen Entschlusses gewonnen werden (kann)« (ebd.). Diese Freiheit der Wahl geht über das Methodische hinaus; denn sie überwindet den »metaphysischen Zweifel« an dieser Methode. Dieser Zweifel aber kann nicht durch ihren Gebrauch behoben werden, sondern nur, wenn Gott bejaht, »wenn … erst das Dasein Gottes anerkannt wird.«
97
530
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
3.
Die »wahre Gottesliebe«
Was Descartes in der Vierten Meditation nur recht allgemein als »Hinwendung zu Gott« beschreibt, führt er in seinen Erwiderungen und Briefen dann näher als die »wahre Gottesliebe« aus. Diese bestehe nicht darin, dasjenige als wahr anzunehmen, wozu der Wille des Menschen durch dunkle Gründe veranlasst wird, aber auch nicht durch die Einsicht des Verstandes, sondern in der freien Zustimmung zu Gott als der Person, die der Ursprung des Wahren sei. Was diese Zustimmung meint, verdeutlicht Descartes in seiner Erwiderung des theologischen Einwandes, dass nach der biblischen Schrift Paulus gesagt habe, »dass wir nichts wissen können« (Med. 360) und daher glauben müssen. Diese Aussage, erwidert Descartes, beziehe Paulus nur auf ein »Wissen, das nicht mit Liebe verbunden ist« (Med. 372), d. h. auf das vermeintliche Wissen des Atheisten. Er deutet das Zitat so, dass nicht gemeint sei, »dass es überhaupt kein Wissen geben könne, wenn [der Apostel] erklärt, wer Gott liebt, erkennt ihn, d. h. hat ein Wissen von ihm; sondern er sagt nur, wer keine Liebe hat und infolgedessen Gott nicht genügend kennt, der weiß … nicht, wie er wissen soll, weil er nämlich mit der Erkenntnis Gottes beginnen muss und dann die Erkenntnisse aller andern Dinge dieser einen unterzuordnen sind, wie ich ja in meinen Meditationen dargelegt habe.« (ebd.; H. v. m.). Hier widerspricht Descartes sowohl einem Fideismus, der die Gottesliebe in einem Glauben sieht, der dem Wissen entgegengesetzt ist, als auch einem Rationalismus, dem der Glaube aus der Einsicht folgt. Er erkennt die wahre Gottesliebe vielmehr in der Liebe, die allem Wissen vorhergeht, weil sie dieses Wissen erst ermöglicht. Hinsichtlich des Ursprungs macht Descartes indes klar, dass die wahre Gottesliebe nicht als ein verdienstloses Geschenk Gottes, wie in der Tradition Augustins, verstanden werden kann, das die Hinwendung zu Gott bewirkt, sondern dass sie ein Akt des freien Willens ist. Denn da der Mensch, wie ihn Descartes voraussetzt, als endliches Wesen allein dadurch Person und darin Gott gleich ist 98 , dass sein Wille frei ist zu wählen, wäre ohne diese Wahl die Hinwendung zu »… denn nur wegen der von dem freien Willen abhängenden Handlungen können wir mit Grund gelobt oder getadelt werden. Dieser Wille macht uns gleichsam Gott ähnlich (Deo similes), indem er uns zum Herrn über uns macht«. (Über die Leidenschaften der Seele, III, 152: Descartes 1980c, 308).
98
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
531
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Gott keine wahre Gottesliebe, weil der Wille vorbestimmt und nicht frei wäre. Hinsichtlich des Gegenstandes freilich ist diese Liebe für Descartes keineswegs beliebig, sondern zeigt sich gerade in der Festigkeit und Beständigkeit, mit der der Wille auf das gerichtet ist, was wahr und gut ist. Dieses Wahre und Gute ist jedoch dem Willen vorgegeben: nämlich die Bestimmung des Willens allein der Verstandeseinsicht folgen zu lassen. Somit besteht für Descartes die wahre Gottesliebe in dem frei gewählten Entschluss, dieser Regel zu folgen, als deren Urheber das Ich Gott anerkennt. Sie geht aus der – vom Atheisten nicht vollzogenen – Bejahung Gottes hervor und richtet sich auf das – dem ›Normalmenschen‹ verschlossene – höchste Gut, allein das als wahr anzunehmen, was der Verstand klar und deutlich erfasst hat 99 . In dieser Liebe, so ließe sich sagen, verliert das Ich als Person zwar seine Freiheit zu wählen; aber es gewinnt in der Festigkeit seines Willens, dem Gesetz zu folgen, das, was er wünscht: wahres Wissen 100 .
C. Die Autorität Gottes Descartes’ Theologie, wie sie sich bislang ergeben hat, scheint ein offenkundiges Dilemma zu enthalten. Da, wo die Existenzannahme In seiner Erwiderung auf M. Mersenne setzt Descartes die »wahre Gottesliebe« mit dem »rechten Gebrauch des Verstandes« in eins: »Und wenn die Türken oder andere Ungläubige die christliche Religion nicht annehmen, so sündigen sie gewiss nicht deswegen, weil sie dunkeln Dingen, da sie nun einmal dunkel sind, nicht zustimmen wollen, sondern entweder weil sie sich der göttlichen Gnade, die sie innerlich ergreift, widersetzen oder weil sie in anderen Dingen sündigend, sich der Gnade unwert machen. Und ich behaupte kühn, dass ein Ungläubiger, der von aller übernatürlichen Gnade verlassen und in völliger Unkenntnis darüber wäre, dass unser Christenglaube von Gott geoffenbart ist, und der dennoch dieselben Glaubenssätze, obwohl ihm selbst dunkel, infolge irgendwelcher falschen Gedankengänge annähme, darum nicht gläubig werden würde, sondern vielmehr darin sündigen würde, dass er seinen Verstand nicht richtig gebraucht.« (Med. 134) 100 Dennoch hält Descartes daran fest, dass die Freiheit so weit gehen müsse, »dass selbst, wenn ein sehr augenscheinlicher Grund uns zu einer Sache drängt, bei der es moralisch gesprochen schwierig ist, das Gegenteil zu tun, wir es dennoch absolut gesprochen zu tun vermögen; denn es steht uns immer frei, uns selbst daran zu hindern, ein Gut zu verfolgen, das uns klar bekannt ist, oder eine augenscheinliche Wahrheit zuzugeben, wofern wir nur glauben, dass es ein Gut darstellt, um damit die Freiheit unseres freien Willens (la liberté de notre franc-arbitre) zu bezeugen.« (AT, III, 379.) – Vgl. auch: Brief an Christine; AT, V, 81–86. 99
532
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
Gottes der Freiheit des Willens entspringt, wird anerkannt, dass Gott existiert, nicht aber, als was er existiert. Gott könnte demnach ein Betrüger sein, der das Ich darin täuschte, wenn es der Regel folgt, es sei das als wahr anzunehmen, was klar und deutlich eingesehen ist. Da hingegen, wo die Existenzannahme durch den denkenden Verstand erschlossen ist, wird erkannt, was Gott notwendig ist, aber nicht, dass er existiert. Es könnte demnach sein, dass Gott nicht das Wesen ist, als das ihn der Verstand erkennt. Und doch ist es so, dass in Descartes’ Epistemologie die beiden Existenzweisen Gottes nur zusammen wahres Wissen begründen. Denn ohne die freiwillige Anerkennung Gottes als selbständiger Person, der das Ich sein Dasein verdankt, ist ebenso wenig ein wahres Wissen möglich wie ohne die verständige Erkenntnis Gottes als des höchst vollkommenen Wesens. Beide Existenzweisen scheinen hinsichtlich ihres Ursprungs, der freien Wahl und der klaren Einsicht, ganz verschieden zu sein und sollen einander doch ergänzen. 101 101 Diesem Dilemma der Gotteskonzeption entsprechen zwei verschiedene DescartesRezeptionen. Die Mehrheit der Interpreten sieht in Descartes den »Vater des Rationalismus« (F. Nietzsche). Seinem Vorhaben, Gott in der klaren Idee des vollkommenen Wesens zu erfassen und dessen Existenz mit den Mitteln des Denkens zu beweisen, liege der neuzeitliche Anspruch zugrunde, die Vernunft – gegen Glaube und sinnliche Erfahrung – auf den Richterstuhl zu heben. Descartes’ Gottesbegriff formuliere das Ideal menschlicher Vernunft: »die vollkommene Durchsichtigkeit des Wissens« (Schelling 1856 ff., Bd. II/1, 320) Dieser Sichtweise entspricht, dass sein ontologischer Gottesbeweis ins Zentrum gerückt wird, der das Dasein Gottes nicht aposteriori aus seinen Wirkungen, sondern aus dem reinen Vernunftbegriff beweist. Dies Argument, schreibt D. Henrich, »musste sich durch seine logische Struktur einer Zeit empfehlen, die daran ging, das System des philosophischen Wissens nach axiomatischer Methode aufzubauen. Verspricht es doch, die höchste Einsicht, die Erkenntnis von Gottes Dasein, auch als erste und einfachste zu vermitteln. In ihm scheint der Übergang von der bloßen Begriffsbestimmung zur reellen Erkenntnis unmittelbar und gänzlich apriori möglich zu sein. Für diesen Beweis muss man nicht einmal voraussetzen, dass irgendetwas existiert, sei es auch nur das Ego cogito.« (Henrich 1960, 2). – Diesem Descartes-Bild gegenüber haben sich die Interpreten schwer getan, die auf »La Pensée religieuse de Descartes« (H. Gouhier) verwiesen haben. Diese ›Seite‹ Descartes’ wurde vor allem durch französische Gelehrte des 19. und 20. Jahrhunderts wie E. Boutroux, A. Koyré, J. Laporte, H. Gouhier oder F. Alquie wiederentdeckt. Man hob hervor, dass der Mensch Descartes sich zeitlebens als treuer Anhänger seiner Kirche wusste, dem die Glaubenswahrheiten der christlichen Religion gewiss waren; man verwies auf das traditionelle, thomistischscholastische Erbe seiner Metaphysik sowie auf seine Lehre des freien Willens, und präsentierte Descartes als einen lebendigen und ›existentiellen Denker‹, dem sich der Gottesglaube aus der Fragwürdigkeit der eigenen Existenz erschloss. Angesichts dieser zwei Descartes-Bilder soll es uns hier nicht um einen Beitrag zu einem geschichtlich adäquaten Descartes-Bild gehen. Wir betrachten ihn nur als den »Begrün-
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
533
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Bevor wir Descartes’ Weg zur Auflösung dieses Dilemmas nachvollziehen, sollen die zwei Prinzipien einer »rationalen Theologie« wie einer »praktischen Theologie« zunächst möglichst klar von einander unterschieden werden. 1.
Die zwei Existenzweisen Gottes
Im Fall einer rationalen Theologie hängt der Grundsatz: »Gott existiert« von der klaren und deutlichen Verstandeseinsicht ab. Gott wird hier als das vollkommene Wesen begriffen, aus dessen Idee Descartes in den »Meditationen« erst im aitiologischen Beweis die Existenz Gottes als Ursache der Idee des Vollkommenen, dann im ontologischen Beweis die Existenz als notwendiges Attribut des vollkommenen Wesens ableitet. Der Satz begründet als ein notwendiges Urteil eine rationale Theologie, die Gott als dem notwendig vollkommenen Wesen alle Vollkommenheiten zuschreibt. Er ist gleichsam der Gott des reinen Verstandes. Was in diesem Fall die Wahrheit des Satzes vom Dasein Gottes verbürgt, ist die Anwendung der epistemischen Regel, nach der das, was der Verstand nach logischen Regeln klar und deutlich eingesehen hat, vom Willen auch als wahr angenommen werden kann. – Im Fall einer praktischen Theologie hingegen ist der Satz: »Gott existiert« kein Urteil, das einer Einsicht folgt, sondern drückt die Bejahung Gottes als der selbständigen Macht aus, als deren Geschöpf das Ich sich in seiner Existenz weiß. Diese Bejahung beschreibt Descartes in den »Meditationen« als Hinwendung zu Gott und erläutert sie später als Gottesliebe. Hier hat der Satz den Charakter eines assertorischen Urteils, weil er nicht Einsichten folgt, sondern die willentliche Zustimmung als Bekenntnis zur Existenz Gottes als höchster Macht ausdrückt. Was im Fall einer praktischen Theologie die Wahrheit des Satzes »Gott existiert« verbürgt, ist also nicht die epistemische Regel, sondern der freie und zugleich feste Wille, dass Gott sei. Sehen wir auf den wesentlichen Unterschied der zwei Existenzder der neuzeitlichen Philosophie«, dessen Grundlegung uns Aufschluss über die Struktur des europäisch-neuzeitlichen Denkens und seine Motive geben soll. Wenn sich daher in Descartes’ Denken die zwei gegensätzlichen Gotteskonzeptionen finden, so sind sie für uns nur insoweit von Interesse, als sie sich als notwendige Elemente seiner Neubegründung des Wissens verstehen lassen.
534
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
weisen Gottes, dann ist in einer rationalen Theologie die Existenz Gottes darin begründet, dass das Ich der epistemischen Regel folgt, und daher der Wille das als wahr annimmt, was der Verstand klar und deutlich eingesehen hat; in einer praktischen Theologie hingegen ist die Existenz nicht in dieser Regel begründet, sondern in der Zustimmung des Willens, die der Freiheit des Ich als Person entspringt. Während also einmal die Existenzannahme der epistemischen Regel folgt, die dadurch aber nicht begründet wird, ist sie das andere Mal der Regel entgegen, weil sie nicht der Einsicht folgt, sondern der Freiheit entspringt. – Und doch sollen beide Existenzannahmen zusammen erst wahres Wissen begründen. So wie es nach Descartes’ Theorie der Wahrheit des »concours de deux causes«, des Verstandes und des Willens, bedarf, so müssen offenbar diese zwei verschiedenen Existenzweisen Gottes ›zusammenstimmen‹, um die Gültigkeit der epistemischen Regel zu begründen. Wie aber sollte ein solches Zusammenstimmen möglich sein, wenn es weder der Verstand einzusehen noch der freie Wille zu bewirken vermag? 2.
Die »paradoxe Vernunft«
Descartes hat die Frage nach der Einheit der zwei Existenzweisen nicht systematisch behandelt. Ja, es scheint eher, dass er zur Antwort auf diese Frage durch die Einwände gegen seine Neubegründung des Wissens herausgefordert und gezwungen wurde 102. Wir beziehen uns daher zur Rekonstruktion dieser Antwort auf die Ausführungen, die er als Erwiderungen auf diesbezügliche Einwände formuliert hat, und nennen sein Verfahren, diese Einheit zu begründen, die »paradoxe Vernunft«, weil es, wie sich zeigen wird, das Nichtzubegründende zum Grund des zu Begründenden macht. Das Resultat dieses Verfahrens werden wir die »auctoritas dei« nennen, weil darin beides, das zu Begründende und das Nichtzubegründende, in eins gedacht werden. 102 Daraus kann nicht geschlossen werden, dass der sogenannte »Wahrheitskreationismus« ein nachgeschobenes Argument Descartes’ auf Einwände gegen die »Meditationen« wäre. Dies zeigt sein Brief an M. Mersenne aus dem 1630: »Es hieße in der Tat von Gott wie von einem Jupiter oder Saturn sprechen und ihn dem Styx oder dem Schicksal unterwerfen, wollte man sagen, dass diese Wahrheiten von ihm unabhängig seien.« Gott habe die Gesetze vorgeschrieben »so wie ein König in seinem Reich Gesetze erlässt« (AT, I, 145). – Vgl. auch: Brief an Arnaud, 29. 7. 1648; AT, V, 223 f.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
535
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
a.
Die Indifferenz in Gott
Dem Einwand, seine Theorie der Wahrheit stoße die Freiheit Gottes um, weil nach ihr Gott das vollkommene Wesen sei, zu dem ein freier Wille nicht passt (Med. 360 f.), antwortet Descartes, dass in Hinblick auf das Vollkommene die Willensfreiheit des Menschen von der Willensfreiheit Gottes zu unterscheiden sei. Während der Mensch »das Wesen des Guten und Wahren von Gott bestimmt« (Med. 375) vorfindet und diesem sein Wille folgt, sei es bei Gott umgekehrt: Gott finde dieses Wesen nicht vor; vielmehr sei sein Wille selbst der Ursprung des Wahren und Guten. Man könne sich »kein Gutes oder Wahres … ausdenken, dessen Idee im göttlichen Verstande gewesen, bevor sein Wille sich entschlossen, zu bewirken, dass es so wäre« (Med. 374). Dieses »bevor« freilich sei weder im Sinne eines zeitlichen »früher« zu verstehen noch einer »Priorität der Ordnung oder der Natur«. Im Gegenteil: weil Gott es von Ewigkeit her so gewollt hat, sei das Gute gut und das Wahre wahr, sei die Welt in der Zeit geschaffen und seien die Dreieckswinkel gleich zwei Rechten. Diesen freien Willen Gottes als Ursprung des Guten und Wahren nennt Descartes die »höchste Indifferenz in Gott«, die der »höchste Beweis für seine Allmacht« ist (Med. 375). Sie sei es, dass »der Grund für die Güte der Dinge … davon ab(hängt), dass er sie hat gerade so machen wollen.« (Med. 377) Gott, so deuten wir dieses Selbstverhältnis Gottes, ist nicht das vollkommene ›Wesen‹, sondern hat als Person die Vollkommenheit durch den Willen, der er selbst ist. Die Annahme einer solchen Differenz in Gott zwischen freiem Willen und vollkommener Natur lässt sich als Argument in Descartes’ Grundlegungsprogramm verstehen, das die Funktion hat, die Gültigkeit der epistemischen Regel zu begründen. Denn würde man annehmen, dass das »Wesen des Guten und Wahren« nicht vom Willen Gottes abhängt, sondern er es umgekehrt vorfindet und seinen Willen dem gemäß bestimmt, so würde er – wie der Mensch – der Regel folgen, nach der »der Willensbestimmung das Verstandeserfassen vorhergehen muss« (Med. 50). Dann jedoch könnte Gott nicht die Instanz sein, die die Gültigkeit dieser Regel begründet, da er ihr folgt. Wenn also ihre Gültigkeit durch den Rekurs auf Gott begründet werden soll, dann muss in Gott die höchste Indifferenz angenommen werden, so dass durch ihn das, was gut und wahr ist, bestimmt ist. Nur als autonomer Gesetzgeber kann Gott die Geltung dieser Regel garantieren. Im Sinne dieser Autonomie sagt Descartes 536
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
denn auch, man dürfe nicht glauben, »dass ›die ewigen Wahrheiten vom menschlichen Verstand oder von andern existierenden Dingen abhängen‹, sondern allein von Gott, der sie von Ewigkeit als höchster Gesetzgeber angeordnet hat« (Med. 378). Nun erzeugt die Annahme einer solchen Differenz in Gott jedoch eine erneute Unsicherheit, die der Begründungsabsicht widerspricht. Denn wenn die Geltung der epistemischen Regel in der Weise vom Willen Gottes abhängt, nach dem er die Dinge »hat gerade so machen wollen« (Med. 377), dann ist nicht ausgeschlossen, dass die Regel, das Klare als das Wahre anzunehmen, zwar heute gilt, aber morgen eine andere, die vielleicht das Starke als das Wahre annimmt, oder aber, dass der »von Ewigkeit« höchste Gesetzgeber diese Regel zwar gibt, sie aber nicht das ›wahre Gesetz‹ ist, das nur er weiß. Die Annahme einer Indifferenz in Gott kann folglich nicht ausschließen, dass er auch eine andere Regel gibt oder dass die gegebene Regel nicht das ›wahre Gesetz‹ ist. Während also die Idee der Autonomie der höchsten Gesetzgebers die Gültigkeit der Regel begründet, gefährdet die Annahme der Indifferenz in Gott diese Gültigkeit wieder. Antwortete Descartes darauf, dass die Annahme einer Willensänderung oder eines ›Betrugs‹ sich nicht mit der Güte Gottes vertrage, so würde er den Willen Gottes wiederum von seinem Wesen abhängig machen, was er jedoch zurückweist. 103 Descartes’ Begründung scheint sich daher in der Aporie zu verfangen: sagt er, Gott muss das Wahre und Gute wollen, dann setzt er dem Willen Gottes die Einsicht in seine Natur voraus, und so ist Gott nicht frei und durch sich selbst; sagt er, Gott setzt frei das Wahre und Gute, fehlt dem so Gesetzten die Notwendigkeit. Das eine Mal fehlt das Argument, das die epistemische Regel begründet; das andere Mal das Argument, das diese Regel begründet. b.
Das Unbegreifliche des Begreiflichen
Nachdem Descartes ausgeführt hat, dass Gott der Urheber des Gesetzes sei, »genau wie ein König der Schöpfer des Gesetzes ist« (Med. 103 Wenn Descartes gegen den Einwand der Theologen, er stelle die Möglichkeit der Täuschung durch Gott in Abrede (Med. 359 f.), argumentiert, dass »das Wesen der Täuschung ein Nichtseiendes ist, in welches das höchste Seiende nicht übergehen kann« (Med. 371), dann nimmt er hier an, was er ansonsten bestreitet: dass nämlich der Wille Gottes von seinem Wesen abhängt und daher nicht frei ist.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
537
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
378), erklärt er: man müsse gar nicht fragen, »wie Gott hätte von Ewigkeit bewirken können, dass 2 x 4 = 8 und dergl. nicht wahr gewesen wäre.« Denn, so sein Argument: »Ich gestehe nämlich ein, dass das von uns nicht erfasst werden kann.« (ebd.; H. v. m.) Zwar, so interpretieren wir das Argument, ist die Tatsache wahr, dass Gott die epistemische Regel ›von Ewigkeit her‹ als sein Gesetz gibt; aber diese Tatsache ist nicht deshalb wahr, weil der Verstand sie klar und deutlich eingesehen hat, da sie ›von uns nicht erfasst werden kann‹. 104 Sie ist vielmehr als wahr anzunehmen, ohne dass diese Annahme der Regel folgt, nach der allein das klar und deutlich Eingesehene als wahr anzunehmen ist. Die Annahme, Gott sei der Urheber dieser Regel, ist demnach kein Urteil, dem eine klare Einsicht vorhergeht; es ist dennoch wahr. Angesichts der Zuspitzung auf die Tatsache der Gesetzgebung Gottes, die von uns jedoch nicht erfasst werden kann, führt Descartes nun das unseres Erachtens entscheidende Argument zu ihrer Begründung an: »aber es wäre doch unvernünftig, aus dem Grunde, weil wir manches weder begreifen, noch erkennen, dass wir es begreifen müssten, an dem, was wir richtig begreifen, zu zweifeln.« (Med. 378; H. v. m.) Diese Paradoxie des ›unbegreiflich Begreiflichen‹ verstehen als die Auflösung der Aporie zwischen der angenommenen Freiheit in Gott und der Notwendigkeit seiner Gesetzgebung, indem sie das Unbegreifliche als Begreifliches erklärt. Um diese Auflösung zu verdeutlichen, soll das Argument auf die Tatsache der göttlichen Gesetzgebung bezogen und positiv umformuliert werden: »aber es ist doch vernünftig, diese Gesetzgebung, auch ohne sie zu begreifen, zu begreifen«. Oder ausführlicher: »es ist vernünftig, die Regel, nach der das, was der Verstand klar und deutlich einsieht, durch den Willen als wahr anzunehmen ist, als wahr anzunehmen, ohne diese Wahrheit klar und deutlich einzusehen oder auch nur einzusehen, dass sie klar und deutlich einzusehen ist.« Was ist nun unter diesem Ausdruck »es ist vernünftig, …« zu 104 Siehe auch: »Mir aber scheint, dass man von keiner Sache je sagen dürfe, sie könne von Gott nicht bewirkt werden. Da nämlich der Grund der Wahrheit oder des Guten von seiner Allmacht abhängt, würde ich nicht einmal zu sagen wagen, Gott könne nicht bewirken, dass es einen Berg ohne Tal gebe, oder dass eins und zwei nicht drei seien, sondern ich sage nur, dass er mir einen solchen Geist verliehen habe, dass von mir ein Berg ohne Tal nicht begriffen werden kann, oder eine Verbindung von eins und zwei, die nicht drei ergäbe usw., und dass derartiges einen Widerspruch in meinem Denken einschließt.« (Brief an Arnauld, 29. 7. 1648; AT, V, 223 f.)
538
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Das personale Verhältnis von Ich und Gott
verstehen? Oder: was meint Descartes mit dieser »Vernunft«? Sie kann jedenfalls nicht der Verstand als Vermögen der klaren Einsicht sein, da sie sich ja ausdrücklich auf etwas bezieht, was nicht klar einzusehen ist. Sie kann aber auch nicht diejenige Vernunft sein, der gemäß es vernünftig ist, das, was klar und deutlich eingesehen ist, auch als wahr anzunehmen, nach der also die Willensbestimmung dem Verstandeserfassen zu folgen hat. Denn diese »Vernunft« verlangt ja gerade das als wahr anzunehmen, das nicht klar einzusehen ist, ja nicht einmal einzusehen ist, dass es einzusehen ist. Diese »Vernunft« scheint zu verlangen, was Descartes sonst von Dingen der Offenbarung sagt, dass es »nicht Sache des Verstandes, sondern des Willens ist« (Descartes 1980b, 77). Es bleibt daher nur, dass diese Vernunft das Paradoxe verlangt: die epistemische Regel, die Descartes seiner Untersuchung der Wahrheit vorausgesetzt hat, ist als das Gott gegebene und daher wahre Gesetz anzunehmen, ohne doch einzusehen, dass diese Regel dieses Gesetz ist. Sie schreibt vor, Gott als ihren Gesetzgeber anzunehmen, ohne irgend einsehen zu können, wie er in der Indifferenz seines Willens zugleich Urheber dieses Gesetzes ist. Diese Vernunft widerspricht daher, indem sie fordert, die epistemische Regel als das wahre Gesetz anzunehmen, der Regel; aber indem sie ihr widerspricht, begründet sie zugleich diese Regel als das wahre Gesetz. Um also die Regel zu begründen, dass der Bestimmung des Willens die klare Einsicht des Verstandes vorhergehen muss, fordert die »paradoxe Vernunft« einen der Einsicht entzogenen Akt, Gott frei als den Urheber dieser Regel anzuerkennen. 3.
Die »auctoritas dei«
In diesem Begründungsverfahren, das endet, die epistemische Regel auch ohne Einsicht als wahr anzunehmen, wird nun Gott als höchste Autorität (auctoritas) anerkannt. Denn diese Anerkennung ist nicht darauf gerichtet, Gott als die höchste Macht (potestas) anzuerkennen; denn aus ihr folgt nur die Annahme der Indifferenz Gottes. Sie ist aber auch nicht darauf gerichtet, in Gott das vollkommene Wesen zu erkennen; denn daraus folgt nur die Begreiflichkeit Gottes. Die paradoxe Vernunft verbindet vielmehr die zwei Existenzweisen Gottes zu der einen gesetzgebenden Person, die das Vollkommene durch sich selbst hat. Diese Verbindung der beiden Existenzweisen aber A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
539
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
kann vom Verstand nicht begriffen werden, sondern wird durch jene »paradoxe Vernunft« schlicht als wahr und untrennbar anerkannt. Die Anerkennung Gottes als diese Person verstehen wir als den höchsten Punkt und gleichsam als den Schlussstein der cartesischen Grundlegung, weil in ihr die zwei verschiedenen Theologien, die rationale und die praktische, vereinigt sind: Gott wird als die höchste und durch sich existierende Macht anerkannt, die zugleich das als ihr Gesetz gibt, allein das klar Eingesehene als wahr anzunehmen. In dieser angenommenen Untrennbarkeit des Willens und Wesens ist nun aber Gott schlechterdings der ›auctor‹ der Regel und wird als die höchste Autorität schlicht – etiam ratione reddita – anerkannt, da sie vom Verstand nicht begriffen und dennoch angenommen wird 105 . Daher verbietet es die »paradoxe Vernunft« nach Gründen zu fragen, warum Gott diese Regel als Gesetz gibt, wie sie ausschließt, daran zu zweifeln, ob Gott nicht hätte ein anderes Gesetz geben können. So wie in der römisch-lateinischen Tradition die Autorität als der Maßstab schlechthin galt und daher jedes Raisonnement über Gründe und jeder Zweifel am Tun ausgeschlossen war, so ist Descartes’ paradoxe Vernunft die Instanz, die in Gott als dem Gesetzgeber das Suchen nach Gründen und das Zweifeln beendet. Durch sie ist die Gewähr gegeben, das das klar Eingesehene vom Ich auch als wahr anzunehmen ist. Indem daher das Ich Gott auf diese Weise als Autorität anerkennt, hat es in dieser personalen Beziehung die untrügliche und unbezweifelte Sicherheit, dass genau das, was von ihm mit dem Verstand klar und deutlich eingesehen ist, in der Tat das wahre Wissen ist. 106 105 Descartes verwendet den Ausdruck »auctoritas dei« nicht. Wo Descartes von der »auctoritas divina« spricht, bezieht sie sich auf Dinge, die uns durch Gott offenbart sind (a Deo revelata sunt). Ihr müsse man vertrauen; – aber wo der göttliche Glaube nicht belehrt, zieme es dem Philosophen nicht, etwas für wahr zu halten, was er nicht als wahr erkannt hat: »Sed in iis, de quibus fides divina nihil nos docet, minimè decere hominem philosophum, aliquid pro vero assumere, quod verum esse nunquam perspexit« (Descartes 1692, I, 74). – Wir verwenden den Ausdruck der »auctoritas dei« freilich nicht im Sinne einer Zumutung an den Verstand, dem Urteil dunkle Gründe zugrundezulegen; aber wir bezeichnen damit die Instanz, von der Descartes selbst sagt, sie sei für wahr zu halten, ohne sie als wahr erkannt zu haben. 106 »Könnte nicht jenes ›reine Licht der Vernunft‹«, referiert E. Cassirer »diese letzte Grundlage allen Wissens«, »das sich über unsere logische, unsere mathematische und über bestimmte Teile unserer metaphysischen Erkenntnis ausbreitet, selbst verdunkelt und verfälscht sein? Wie – wenn Gott dem Menschen die Wahrheit verschließen und verweigern wollte, und wenn er ihn daher dazu verurteilt hätte, auch dort zu irren, wo
540
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
Vergleicht man diese als den höchsten Punkt angenommene auctoritas dei mit dem dreieinigen Gott des christlichen Glaubens, so formiert Descartes einerseits zwar den Unterschied der drei Personen, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, zur einen Person, die andererseits aber in sich die drei epistemischen Faktoren enthält: Gott ist erstens der Grund alles Wissens; er gibt zweitens das Gesetz, das nicht er selbst ist, das aber drittens eins ist mit dem Grund, weil Gott weder lügen noch irren kann 107 . Darüber hinaus aber löst Descartes, wie schon gesagt, die Homousie der drei Personen gleichsam auf, so dass Gott nicht ewig das Wort spricht, das er selbst ist, sondern dass er dem Ich als endlichem Geist und Person verschiedenen Wesens sein Gesetz als die Regel gibt, nach dem es selbst Wissen hat. Die autoritas dei spricht sich daher nicht, wie für Augustin, in seinem ewigen Wort aus, das der menschliche Geist nicht zu erfassen vermag, sondern teilt sich in der Untrüglichkeit und Verbindlichkeit der epistemischen Regel mit, nach der das, was der menschliche Geist mit seinem Verstand erfasst, wahres Wissen ist. Die Regel ist daher als das »Zeichen« zu verstehen, in dem sich Gott dem Ich mitteilt.
V. Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes« Wir sind in unserer Rekonstruktion der cartesischen Epistemologie davon ausgegangen, dass Descartes seiner Neubegründung des Wissens die epistemische Regel voraussetzt, nach der das klar Eingesehene als wahr anzunehmen sei. Das »cogito, ergo sum« expliziert als der eine Grundsatz das Kriterium der Klarheit der Einsicht; das »deus est« als der andere Grundsatz expliziert zum einen die Wahrheit des er nicht den Sinnen und der Einbildungskraft, sondern der reinen intellektuellen Anschauung, dem intuitus purus vertraut? … Um dieser Absurdität zu entgehen, müssen wir das ›Licht der reinen Vernunft‹ wieder in sein Recht einsetzen; ihm misstrauen, hieße Gott misstrauen.« (Cassirer 1995, 203) – Sehe ich recht, so beschreibt Cassirer dasselbe wie wir: um der denkbaren »Absurdität« zu entgehen, die Natur Gottes sei nicht vollkommen, müssen wir vertrauen, dass Gott vollkommen ist. Das aber heißt, dass für die ›letzte Grundlage allen Wissens‹ gilt: Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist besser. 107 Dieses Einssein meint Descartes offenbar, wenn er behauptet, »dass es völlig unmöglich sei, dass er [Gott] lügt.« Dies sei »gewisser … als alles Licht der Natur (lumen naturae) und oft sogar, wegen des Lichts der Gnade, einleuchtender.« (Med. 134) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
541
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Urteils und begründet zum anderen die Wahrheit der Regel. Unsere Rekonstruktion endete damit, dass mit dieser Begründung zugleich die Autorität Gottes anerkannt wird. Da nun aber diese Autorität nicht allein die Funktion hat, die Regel als ›wahr‹ zu begründen, sondern auch Handlungen vorschreibt, wird durch sie nicht nur in theoretischer Hinsicht begründet, was das Wahre ist, sondern auch in praktischer Hinsicht bestimmt, was das Gute ist. Dieser praktischen Bedeutung der epistemischen Regel wird im Folgenden nachgegangen. Wir verstehen sie als das Dritte, das die beiden Personen, Ich und Gott, verbindet. Denn indem das Ich nach der Regel handelt, das als wahr anzunehmen, was klar eingesehen ist, folgt es dem Gesetz, als dessen Urheber es Gott anerkennt. Die Regel ist folglich als die ›gemeinsame Sache‹ verstehen, worin der Wille Gottes als Gesetzgeber und der Wille des Ich als endlicher Geist verbunden sind. Sie ist mithin das Zeichen, in dem sich die Autorität Gottes mitteilt, und durch das sich das Ich im Folgen dieser Regel zugleich zu diesem Handeln ›berufen‹ weiß. Um diese praktische Bedeutung der Regel zu explizieren, soll zuerst erläutert werden, was unter dem »Zeichen Gottes« zu verstehen ist, und welche Funktionen es hinsichtlich der Grundlegung der Wissenschaft hat, um daraufhin der Frage nach dem Motiv nachzugehen, welches das Ich veranlasst, der Regel zu folgen.
A. Das »Zeichen Gottes« Es liegt nahe, die von Descartes am Beginn der Untersuchung aufgestellte Regel als etwas Selbstverständliches zu betrachten: zwar sei es dem ›Normalmenschen‹ im Alltagsleben nicht möglich, ihr zu folgen, weil in ihm auch Bezweifelbares als wahr angenommen werden muss; an und für sich jedoch leuchte die Regel unmittelbar ein. Es sei das »natürliche Licht« (lumen naturale, lumière naturelle), das uns lehre, »dass das Verstandeserfassen stets der Willensbestimmung vorhergehen muss« (Med. 50). Der menschliche Geist scheint daher diese Regel ›von Natur‹ zu besitzen. In diesem Sinne spricht Descartes in den »Meditationen« von der »großen Neigung in meinem Willen« (Med. 49), dem klar Eingesehenen zu folgen, und davon, dass, »sobald wir meinen, etwas klar zu erfassen, … wir uns ganz von selbst (überreden), dass dies wahr ist.« (Med. 131) Während also das natürliche Licht uns dies lehre, bewirke das göttliche »Licht der Gna542
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
de« (lumen revelationis), Dinge als wahr anzunehmen, ohne sie klar und deutlich einzusehen 108 . Insofern scheint Descartes die Befolgung dieser Regel als eine Fähigkeit zu verstehen, die dem Geist als ›natürliche Kraft‹ (vis naturalis ingenii nostri 109 ) innewohnt. Der Annahme eines solchen ›natürlichen Besitzes‹ steht freilich die Erklärung gegenüber, dass das Ich zwar über den Verstand als Vermögen der klaren und deutlichen Einsicht verfügt, und dass es jene »große Neigung in meinem Willen« hat, dass ihm aber der ›Übergang‹ zur Wahrheit des Urteils aus eigener Kraft unmöglich ist. Das Fehlen dieser ›Kraft‹ bewirkte denn auch den epistemischen Zweifel, selbst das, was aufs Klarste eingesehen wird, nicht als wahr annehmen zu können. Das ›Atheisten-Argument‹ und Descartes’ Theorie der Wahrheit und des Irrtums machten deutlich, dass aus der klaren und deutlichen Einsicht allein noch kein wahres Wissen folgt. Der Besitz dieser Regel kann daher nichts sein, was dem Ich ›von Natur‹ einwohnt; er hängt vielmehr von jener dem Wissen vorausgehenden Gottesliebe ab, die nicht das Ich, sondern Gott als den Urheber dieser Regel anerkennt. Ihr Besitz ist deshalb als ›Geschenk Gottes‹ zu verstehen, als das »von Gott uns verliehene Erkenntnisvermögen« (cognoscendi facultas à Deo data 110 ). Da nun aber Gott, so folgert Descartes, »mit Recht ein Betrüger genannt werden (müsse), wenn er uns jenes Vermögen derart gegeben hätte, dass wir, wenn wir uns seiner richtig bedienen, das Falsche für das Wahre hielten« (Descartes 1997, 301), muss die Erkenntnisregel als die Gabe des guten Gottes angenommen werden, der sich in ihr selbst mitteilt. Diese Gabe deuten wir als das Zeichen des guten Gottes. Zwar verwendet Descartes den Ausdruck »Zeichen« (nota, marque) explizit nur für den Besitz der Idee Gottes, die »der Künstler seinem Werk aufgeprägt hat« (Med. 42), und spricht hinsichtlich der Wahrheit der Urteile nur im Allgemeinen von einer »Mitwirkung Gottes« (Med. 51). Gehen wir jedoch davon aus, dass die höchste gesetzgebende Instanz für Descartes die auctoritas dei ist, und dass für ihn die Urteile dann wahr sind, wenn ihnen die klare und deutliche Einsicht vorhergeht, dann wäre es unverständlich, wenn diese Erkenntnisregel nicht 108 »Credenda esse omnia quae à Deo revelata sunt, quamvis captum nostrum excedant.« (Zu glauben ist alles, was von Gott offenbart ist, auch wenn es unsere Fassungskraft übersteigt; Descartes 1692, I, 25:) – Vgl. auch Med. 133. 109 Ebd. 110 Ebd., I, 30.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
543
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
das dasjenige Zeichen wäre, in dem sich Gott als epistemischer Gesetzgeber dem menschlichen Geist mitteilt. Weder, so folgern wir daraus, besitzt der menschliche Geist von Natur die epistemische Kraft, wahres Wissen zu begründen, noch bedarf es des Lichts der Gnade, um Dinge als wahr zu anzunehmen, sondern das Ich hat an dieser Regel das ›Siegel Gottes‹, dass das, was es aus Eigenem klar einsieht, auch tatsächlich wahr ist.
B.
Die drei Funktionen der epistemischen Regel
Auf der Grundlage dieser Deutung der epistemischen Regel als Zeichen Gottes lassen sich in Hinsicht auf die Bestimmung des Willens drei Bedeutungen oder Funktionen der Regel unterscheiden: eine restriktive, die die Bedingung benennt, unter der ein Urteil als Erkenntnis möglich ist; eine legitimierende Funktion, die in sich die Garantie enthält, was als ein wahres Urteil angenommen werden darf; und drittens schließlich eine praktische Funktion, die die Erzeugung und Herstellung von wahrem Wissen als Aufgabe vorschreibt. 1.
Die restriktive Funktion
In ihrer einschränkenden Bedeutung ist die epistemische Regel als Vorschrift verstehen, nichts als wahr anzunehmen, was nicht klar und deutlich eingesehen ist. Ihr entspricht die Aufstellung des Kriteriums der Klarheit am Beginn der cartesischen Untersuchung, der anschließende Zweifel an allem sowie jene Setzung des reinen »Ich denke«, die wir »Apperzeption« genannt haben. Erschien diese Vorschrift am Beginn der Untersuchung jedoch als eine Bedingung, die Descartes ihr vorausgesetzt hat, um seinem Wunsch zu entsprechen, »endlich einmal etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften aus(zu)machen« (Med. 11), hat sie nun die Bedeutung eines Zeichens, in dem Gott sich mitteilt. Als ein solches Zeichen aufgefasst, kann aber Vorsatz Descartes’, an allem zu zweifeln, nicht mehr allein aus seinem Wunsch resultieren, »einmal im Leben alles von Grund aus umzustoßen« (Med. 11), um etwas Festes auszumachen; denn dieser Wunsch entspringt nun selbst dem Willen, allein der von Gott gegebenen Vorschrift zu folgen. Und gleichfalls lassen sich seine radikale Abkehr vom »Handeln im Leben« und 544
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
die apriorische Setzung des reinen »Ich denke« so nicht mehr nur als autonome Setzungen verstehen, durch die sich das Ich zum ›Kontrolleur seiner Gedanken‹ macht, sondern sind die Folgen seiner freien Wahl, in dieser Abkehr und Setzung zugleich Gott als den wahren Gesetzgeber anzuerkennen und in der Bestimmung des Willens allein seinem Gesetz zu folgen. In dieser Hinsicht gründet der anfängliche Vorsatz, nichts als wahr anzunehmen, was nicht klar und deutlich eingesehen ist, in der wahren Gottesliebe. Die Abwendung des Ich von aller sinnlich-leiblichen Erfahrung und von allem irgend Zweifelhaften ist zugleich die Hinwendung zu dem Wahren und Guten, in dem kein Grund zu Irrtum oder Falschheit zu finden ist. Was daher am Beginn der Untersuchung nur negativ als ein hypertropher Zweifel an den Sinnen und Autoritäten, an den ›ewigen Wahrheiten‹ und selbst am Dasein Gottes erschien, erweist sich jetzt als der radikale Ausdruck der Hinwendung des Ich zu dem guten Gott, den das Ich als den Urheber und Garanten der Erkenntnisregel anerkennt. 111 2.
Die legitimierende Funktion
Die legitimierende Funktion der Regel hingegen ist als die ›Erlaubnis‹ zu verstehen, all das, was ich klar und deutlich einsehe, auch als wahr annehmen zu dürfen. In dieser Bedeutung instantiiert sie das Recht, das Vermögen zu urteilen nach Maßgabe der klaren Verstandeseinsicht auch als ein Vermögen der Erkenntnis zu gebrauchen. Von diesem Recht macht Descartes, wie gesehen, desöfteren wie selbstverständlich Gebrauch. So wenn er in der zweiten Meditation darlegt, dass allein aus der klaren Einsicht, dass ich eine denkende Substanz bin, die Annahme folgt, dass ich als diese existiere; oder wenn er in der dritten Meditation dem Beweis, dass die Ursache der Idee Gottes Gott selbst sei, die Annahme folgen lässt, dass Gott auch existiert. Diesen selbstverständlichen Gebrauch, den Descartes von der Regel macht, haben wir so erklärt, dass er »eine große Neigung in meinem Willlen« bemerkte, die aus der großen Klarheit folgt, »die 111 Vgl. dazu H. Rosenau: »Wird somit auch das reformatorische ›extra nos‹ durch ein neuzeitliches ›in me‹ abgelöst, so wird dieses eigene Selbst dennoch nicht trotzig gegen Gott gesetzt, sondern im Vertrauen auf das von Gott gegebene ›lumen naturale‹ ergriffen, das bei Descartes als die philosophische Umsetzung der theologischen ›imago dei‹-Vorstellung verstanden werden kann.« (Rosenau 2000, 127)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
545
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
meinem Verstand aufleuchtete« (Med. 49). Aber das Recht so zu verfahren bzw. die epistemologische Begründung für diese »große Neigung« gibt erst die Deutung dieser Verfahrensregel als Zeichen Gottes, der sich in ihr als die gesetzgebende Autorität mitteilt. Denn erst dann kann die Verfahrensregel so verstanden werden, dass sie nicht nur eine ›natürliche Neigung‹ ist, der der Wille folgt, sondern dass das Ich immer dann, wenn es dieser Neigung folgt, tatsächlich ein wahres Wissen besitzt. 112 112 In seinem Aufsatz »Die Bezweifelbarkeit der eigenen Existenz« (Kemmerling 1996) hat A. Kemmerling, neben dem Problem der Selbstgewissheit, die Differenz zwischen dem Wissen des Atheisten und des Theisten ins Zentrum gestellt. In Übereinstimmung mit Descartes stellt Kemmerling zunächst fest, dass hinsichtlich der Evidenz der Perzeptionen zwischen beiden kein Unterschied besteht. »Beide haben dann eine Einsicht, die auf natürlichem Wege nicht zu korrigieren ist; beide haben dann eine Einsicht, der sie – zumindest sobald und solange sie ihnen präsent ist – unweigerlich zustimmen; beide befinden sich – während der Momente, zu denen sie auf ihre Perzeptionen aufmerksam sind – in einem Gewissheitszustand höchster Intensität … Sie haben alles, was sie sich vernünftigerweise wünschen können.« (120). Die von Descartes gemeinte Differenz beider Wissensarten interpretiert Kemmerling nun als »eine erkenntnistheoretisch interessante Unterart des metaphysischen Wissens« (121). Descartes treffe die Unterscheidung zwischen einer inneren Seite des Wissens, der höchsten Gewissheit, und der äußeren Seite, dem vollkommenen Wissen. »Vollkommenes Wissen besitzt ein Denker nur dann, wenn er nicht nur höchste Gewissheit über eine Sache besitzt, sondern darüber hinaus auch noch höchste Gewissheit um die göttlich garantierte Wahrheit seiner klaren & deutlichen Perzeptionen.« (121) Der Atheist jedoch, weil er, »den Gottesbeweis noch nicht vollzogen hat, kann einen bestimmten irrigen Zweifel an seinem Wissen nicht ausräumen, den metaphysischen nämlich; und selbst wenn er diesen Zweifel de facto nicht hegt, dann tut dies nichts zur Sache, sobald es darum geht, ob sein Wissen vollkommen ist.« (121) Der Atheist habe zwar alles, was er vernünftigerweise sich wünschen kann, aber keine Gewissheit, die unerschütterlich wäre. Und Kemmerling schließt mit der gelungenen Pointe: »Kurz, der Atheist bleibt für Descartes selbst in dem, was ihm momentan am gewissesten ist, letztlich epistemisch ungeborgen. Und damit mag er Recht haben, sowohl Descartes als auch der Atheist.« (122) Kemmerlings süffisante Darstellung von Descartes als Gottesstreiter überzeugt, weil sie trivialisiert. Wenngleich einzuräumen ist, dass Descartes oft selbst der Versuchung unterliegt, den Unterschied zwischen dem Theisten und dem Atheisten so darstellen, als habe dieser den Gottesbeweis noch nicht vollzogen, so impliziert diese Differenz mehr. Denn für Descartes ist die Annahme der Existenz Gottes keine Folge der klaren & deutlichen Einsicht, sondern ein Akt des freien Willens, der bewirkt, diese auch als wahr anzunehmen. Für ihn ist daher die Differenz zwischen Theist und Atheist keine des Gewissheitszustand, sondern des Willens: Hinwendung zu Gott als Theist oder Abwendung von Gott als Atheist. Wissen, so scheint Kemmerling ganz unproblematisch vorauszusetzen, sei eine gewisse psychische Verfasstheit des Denkers: der »Gewissheitszustand höchster Intensität« (120). So gesehen, muss dann Descartes’ »vollkommenes Wissen« in der Tat als eine interessante Unterart des metaphysischen Wissens und als
546
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
3.
Die praktische Funktion
Mit der Darstellung dieser beiden Funktionen könnte die Rekonstruktion der cartesischen Grundlegung des Wissens abgeschlossen sein. Denn die Deutung der Erkenntnisregel als Zeichen Gottes begründet, was nach Descartes wahres Wissen ist: die auf die klare und deutliche Einsicht gegründeten Urteile. Und da wir nicht untersuchen, was solche Urteile sind, sondern wie Descartes sie als Wissen begründet, wäre unsere Rekonstruktion beendet. Mit diesem Ende könnte Descartes’ Grundlegung jedoch als eine Veranstaltung verstanden werden, die nur die gleichsam transzendentalen Bedingungen der Wissenschaft untersucht. Die neue Wissenschaft stünde nur unter der Bedingung, dass in ihr alles klar und deutlich eingesehen sein muss. Damit käme jedoch das Motiv, das zu dieser Art der Wissenschaft den Anlass gibt, anderswoher. Descartes’ Annahmen über das Ich als denkende Substanz und über das Dasein Gottes hätten so einen nur instrumentellen Charakter: sie dienten dazu, wie R. Rorty sie charakterisiert, »die intellektuelle Welt für Kopernikus und Galilei gefahrlos zu machen« (Rorty 1985, 149); eigentlich aber wäre, wie B. Pascal schon angemerkt hatte, Descartes »in der ganzen Philosophie gern ohne Gott ausgekommen« (Pascal 1988, 420). Descartes’ Grundlegung wäre nur eine post-festum-Veranstaltung, die eine schon vorhandene Wissenschaft unter eine Regel bringt und sie erkenntnistheoretisch legitimiert. 113 Damit aber wäre seinem merkwürdigen Geborgenheitswunsch entspringend erscheinen. Aber was Kemmerling als selbstverständlich annimmt, ist für Descartes gerade das Problem: wie nämlich angesichts der Instanziierung von Wissen im Bewusstsein des Denkers als Gewissheit dennoch im epistemischen Sinn von Wissen gesprochen und nicht nur über dessen Bewusstseinszustände berichtet werden kann. Hier setzt Descartes’ Theismus ein: um Gewissheitszustände auch als Wissen auszeichnen zu können, bedarf es der Annahme der Existenz Gottes als dem Garanten von Wissen. Fehlt, wie bei dem Atheisten, diese Annahme, ist es diesem unmöglich, seine Gewissheiten nicht nur als Wunscherfüllung oder als Glückszustände, sondern epistemisch zu qualifizieren. Wenn Kemmerling daher mit der Pointe endet, dass beide Recht haben, so betrifft dieses Recht doch verschiedenes. Seit Descartes hat – in der neuzeitlich-europäischen Tradition – jeder das Recht, nicht mehr anzunehmen, als ihm selbst in höchstem Grade gewiss ist. Die Frage stellt sich jedoch anders, wenn es darum geht, die Inhalte dieser Gewissheiten zu ›objektivieren‹, um sie etwa als Grundlagen der Wissenschaften oder des Rechts zu institutionalisieren. In diesen Fällen dürfte der Hinweis auf den Intensitätsgrad, dessen der Denker seiner Perzeptionen bewusst ist, wenig ausrichten. Hierauf gibt Descartes’ Theismus eine Antwort. 113 So C. F. v. Weizsäcker: »Ich möchte mich der These anschließen, das eigentliche Ziel A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
547
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
unser Urteil über die cartesische Philosophie als epistemologische Neubegründung falsch, und insbesondere wäre unsere Rekonstruktion des Ich-Gott-Verhältnisses als einer personalen Autoritätsbeziehung überflüssig gewesen. Es bleibt daher die Frage nach dem Beweggrund oder dem Motiv, das zu der neuen, auf den Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit aufgebauten Wissenschaft Anlass gibt. Ist das Motiv ein Zweck, der der epistemologischen Grundlegung äußerlich ist, weil er ihr vorgegeben ist und über sie hinausweist; oder ist er in ihr selbst enthalten? Im einen Fall vollzöge sich die neue Wissenschaft nach der epistemischen Regel, die so die Bedingung für die Ausgestaltung der neuen Wissenschaft wäre. Im anderen Fall jedoch geschähe sie aufgrund dieser Regel, die daher nicht nur eine legitimierende Funktion, sondern auch eine praktische Funktion, eine Sollensforderung enthielte. Sie wäre als der ›Auftrag Gottes‹ zu verstehen, dem das Ich, indem es die neue, nach den Kriterien der Klarheit und der Deutlichkeit aufgebaute Wissenschaft betreibt, nachfolgt und erfüllt.
C. Das Motiv der »neuen Wissenschaft« Um diese Frage nach dem Motiv klären zu können, sollen abschließend die Beweggründe untersucht werden, die dazu in Betracht kommen. Sehen wir von psychologischen Erklärungen ab, die Descartes’ wissenschaftliche Arbeit auf sein Streben nach Ruhm oder seine Suche nach Gewissheit zurückführen, und halten uns an seine eigenen Erklärungen, so nennt er drei Gründe, die die neue Wissenschaft motivieren: der Wunsch nach Wissen, der durch diese Wissenschaft befriedigt wird, das Wohl des Menschen, dem sie dient, und der Wille, recht zu tun, der sich in ihr verwirklicht. 1.
Die Weisheit als das höchste Gut
Im Vorwort zu den »Principia Philosophiae« stellt Descartes als Frucht seiner Philosophie in Aussicht, in allen Dingen besser urteilen seiner [Descartes’] Philosophie sei es gewesen, ein festes Fundament für die mathematische Naturwissenschaft zu legen.« (zit. nach: Specht 1989, 162) – Siehe auch: Weizsäcker 1977, 174 ff.)
548
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
zu können und weiser zu werden. Durch sie gelange man zu immer neuen Erkenntnissen und letztlich zur höchsten Stufe der Weisheit. Diese aber sei das höchste Gut (summum bonum), da das höchste Gut nichts anderes sei als die Erkenntnis der Wahrheit durch ihre ersten Ursachen. Ihr Studium sei die Philosophie und ihre Erkenntnis die Weisheit (sapientia). Hier stellt Descartes seine Philosophie als den richtigen Weg zur Erforschung der Wahrheit vor; und insofern er diesen Weg selbst geht, strebt er nach der Weisheit als dem höchsten Gut und sieht sich auf dem Weg zur Wahrheit. 114 Nun scheint diese Beschreibung des Motivs der Philosophie jedoch nicht mit seiner Neubegründung von Wissen übereinzustimmen. Denn sie sieht in der Weisheit das erstrebte und gesuchte Ziel der Wissenschaft, das im Fortgang von einer wahrheitsfernen Unwissenheit zur Erkenntnis der Wahrheit erreicht wird; sie nimmt aber nicht ihren Ausgang vom Wissen, nach dem allein das als wahr angenommen werden kann, was klar und deutlich eingesehen ist. Nach dieser Darstellung erinnerte Descartes’ Motiv eher an das Weisheitsstreben antiker Philosophen 115 oder die Gottessuche mittelalterlicher Denker als an die Neubegründung der Wissenschaften. Descartes reihte sich ein in eine lange Reihe von Philosophen, die auf unterschiedliche Weise die Wahrheit gesucht und die Weisheit erstrebt haben. Er wäre aber nicht der Epistemologe, der – vor allem Wissen – das Kriterium des Unbezweifelbaren und Klaren aufgestellt und begründet hat, dem alles Wissen zu genügen habe. Die Struktur einer solchen wahrheitsuchenden Wissenschaft entspräche eher der Architektur einer himmelstrebenden Kathedrale als dem Bild des festverwurzelten Baumes, das Descartes für sein System der neuen Wissenschaften angeführt hat (Descartes 1997, 287). 114 So deutet auch B. Williams Descartes’ Philosophie: »Die Methode, an allem zu zweifeln, bis man zu etwas gelangt, das nicht bezweifelt werden kann, wird als Strategie, als systematische Methode dargeboten, um Descartes’ grundlegendes Ziel zu erreichen: Dies ist die Erforschung der Wahrheit.« (Williams 1996, 18). Er widerspricht damit der Auffassung H. Frankfurts (1970, insb. 24 ff.), Descartes sei es nicht um die Erforschung der Wahrheit, sondern um die Rechtfertigung der Möglichkeit von Erkenntnis gegangen. Er führt als Beleg u. a. den Dialog an, den Descartes mit »Recherche de la Verité« betitelt hat. (Williams 1996, 270). Williams’ weiteres Verfahren besteht im Nachweis, dass sich Descartes’ »Suche nach ›bloßer‹ Wahrheit in eine Suche nach dem Unbezweifelbaren kehrt.« (ebd.) 115 Diese Suche nach Wahrheit scheint Christine von Schweden an Descartes – unzutreffend, wie wir meinen – als unchristlich und abstoßend empfunden zu haben. Vgl. Behn 1957, 23–30.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
549
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Vor allem aber widerspricht das genannte Ideal der Weisheit (sapientia) als des höchsten, durch die Philosophie zu erreichenden Guts der klaren Idee, die Descartes dem Gottesbeweis und seiner Wahrheitstheorie zugrunde legt, dass nämlich das Ich selbst ein endliches, irrendes und wünschendes Wesen sei, dem das Vollkommene notwendig ein anderes Wesen ist. Das Ziel, die Weisheit, wäre demnach vergeblich. 2.
Das Wohl des Menschen als das oberste Gut
Näherliegend erscheint es, auf ein anderes Motiv zu verweisen, das Descartes im »Discours de la méthode« anführt: der Mensch – als »maître & possesseur de la nature« oder das Wohl des Menschen. Von diesem Motiv ist denn auch eher zu erwarten, dass es mit dem neuzeitlichen Verständnis vereinbar ist, das die Wissenschaft auf den Nutzen ihrer Erkenntnisse zielen sieht. Im letzten Teil des »Discours« schreibt Descartes die bekannten Sätze: »Sobald ich aber zu einigen allgemeinen Begriffen in der Physik gelangt bin und, da ich sie bei verschiedenen besonderen Schwierigkeiten zu erproben begann, bemerkt habe, bis wohin sie führen können und wie weit sie von den Prinzipien abweichen, deren man sich bis jetzt bedient hat, habe ich geglaubt, man könne sie nicht verborgen halten, ohne gewaltig gegen das Gesetz zu verstoßen, nach dem wir, soweit es uns möglich ist, verpflichtet sind, für das allgemeine Wohl aller Menschen zu sorgen. Sie haben mir nämlich gezeigt, dass es möglich ist, zu Erkenntnissen zu gelangen, die für das Leben recht nützlich sind und an Stelle einer spekulativen Philosophie, wie man sie in den Schulen lehrt, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und Wirkungen des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, des Himmelsgewölbes und aller übrigen Körper, die uns umgeben, so genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Tätigkeiten unserer Handwerker kennen, so dass wir sie in derselben Weise zu allen Zwecken, wozu sie geeignet sind, verwenden und uns auf diese Weise gleichsam zu Meistern und Besitzern der Natur machen können« (Descartes 1980a, 52 f.). Diese Sätze lassen sich als Darlegung des Motivs der neuen Wissenschaft verstehen, die, anders als die unfruchtbaren ›Meinungen der Schulen‹, für den Menschen einen praktischen Nutzen hat. Danach verfolgt das Verfahren, Erkenntnisse allein auf die klare und 550
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
deutliche Einsicht zu stützen, nicht das Ziel der Weisheit, sondern die Herrschaft des Menschen über die Natur zu erlangen, die Descartes als eine dem Handwerk ähnliche Technologie beschreibt. Descartes hätte hier das Motiv enthüllt, von dem man annimmt, das es seither die neuzeitliche Wissenschaft treibt: durch klare und deutliche Begriffe zur Herrschaft des Menschen über die Natur zu gelangen. 116 Doch diese Deutung gibt der Text nicht her. Denn Descartes schildert nur, dass, nachdem er zu den allgemeinen Begriffen der Physik gelangt sei, es sich gezeigt habe, dass die Ergebnisse dieses Verfahrens für den Zweck, die Natur zu beherrschen, recht nützlich sind. Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse können nützlich sein; der Nutzen aber ist nicht der Beweggrund dieser Wissenschaft. Ähnliches gilt auch für das »allgemeine Wohl aller Menschen«, das Descartes als das oberste Gut für den Menschen anführt, und das nahelegt, es als das Motiv der neuen Wissenschaft zu verstehen. So führt er im Anschluss an obiges Zitat aus, dass die Herrschaft über die Natur nicht nur wegen der »Erfindung einer unendlich großen Anzahl von Kunstgriffen zu wünschen« sei, die uns die Früchte der Erde ohne alle Mühe genießen lassen, »sondern hauptsächlich um der Erhaltung der Gesundheit willen, die zweifellos das erste Gut und die Grundlage aller anderen Güter dieses Lebens ist«. Das rechte Mittel dazu sei aber nirgendwo anders als »in der Medizin (zu) suchen« (Descartes 1980a, 53). Und in der Tat findet sich eine Vielzahl von Belegen für Descartes’ Interesse an der Medizin 117 , – das offenbar so groß war, dass er, statt die erhoffte Unsterblichkeit zu erreichen (Röd 1982, 175), sich den Tod zuzog und in der Öffentlichkeit als medizinischer Scharlatan fortlebte 118 . Dies belegt jedoch nur, dass eine Wissenschaft, deren Begriffe allein den Kriterien der Klarheit und der Deutlichkeit genügen, offenbar kein geeignetes Mittel ist, das allgemeine Wohl des Menschen 116 Vgl. W. Pauli: »Ich glaube, dass dieser stolze Wille, die Natur zu beherrschen, tatsächlich hinter der neuzeitlichen Naturwissenschaft steht und dass der Anhänger reiner Erkenntnis dieses Motiv nicht ganz leugnen kann.« (in: Dürr 1986, 200) 117 »La conservation de la santé a été de tout temps le principal but de mes études, & je ne doute point qu’il n’y ait moyen d’acquerir beaucoup de connoissances, touchant la Medecine, qui ont été ignorées jusqu’à present.« (Brief an den Marquis von Newcastle, Oktober 1645; AT, IV, 329) 118 Leibniz kommentierte bissig: »Et par un grand malheur pour la physique et pour la Medecine, Mons. Des Cartes a perdu sa vie, en se croyant trop habile en medecine et differant d’ecouter les autres et de se faire soigner lors’qu’il tomba malade en Suede.« (Leibniz 1926, 503).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
551
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
zu befördern. 119 Wäre daher das genannte »erste Gut« tatsächlich das Motiv der neuen Wissenschaft, dann wäre daraus zu schließen, dass das cartesische Programm gescheitert ist; denn zwischen der Klarheit der Begriffe und dem empirischen Dasein des Menschen besteht offenbar eine unüberwindliche Kluft. Die Annahme, das Motiv der neuen Wissenschaft sei das Wohl der Menschheit, ist nur ein erhaben-trauriger Mythos, der ganz Unvereinbares, die klaren Ideen des Geistes und die dunklen Vorstellungen vom Wohl des Menschen, zusammenspannt. Für Descartes, so nehmen wir an, lag die treibende Kraft zur neuen Wissenschaft nicht in diesem Zweck. 3.
Das höchste Gut: »Der feste Wille, recht zu tun«
Weder die Weisheit noch das Wohl des Menschen kann das Motiv der neuen Wissenschaft sein. Denn wenn die Idee der Weisheit als das höchste Gut klar und deutlich eingesehen wird, dann ist sein Besitz für Descartes dem Menschen nicht möglich. Das Wohl des Menschen hingegen ist eine dunkle Idee, die wohl für das »Handeln im Leben« als das oberste Gut angenommen werden muss, nicht aber die Leitidee der neuen Wissenschaft sein kann. Das Motiv kann folglich weder die klare Idee der Weisheit noch die dunkle Idee des Menschen sein. Daher bleibt nur, dass die treibende Kraft zu dieser Wissenschaft die epistemische Regel selbst ist, die die neue Wissenschaft nicht nur methodisch reguliert, sondern auch praktisch motiviert. Sie enthält nicht nur das Kriterium für die Wahrheit von Urteilen, sondern bestimmt auch, indem sie dem Willen die Verstandeseinsicht voraussetzt, was das Gute ist. Da Descartes’ Ausführungen über diese praktische Funktion der Regel und über das Gute, abgesehen von 119 Schreibt Descartes noch im Oktober 1645, die Erhaltung der Gesundheit sei das erste Ziel (principal but) seiner Studien, heißt es ein knappes Jahr später: »Anstatt Mittel zur Erhaltung des Lebens zu finden, habe ich ein anderes, viel leichteres und sichereres Mittel gefunden, das darin besteht, den Tod nicht zu fürchten.« (Brief an Chanut, 15. 6. 1646, AT, IV, 441 f.). – Dieselbe Unsicherheit besteht in der Frage nach der »höchsten Wissenschaft«. Im Discours de la méthode von 1637 ist sie offenbar die Medizin (Descartes 1990a, 53 f.). Das Schreiben an Picot, mit dem dieser 1647 die französische Übersetzung der »Prinzipien der Philosophie« einleitet, nennt die Ethik »die letzte und höchste Stufe der Weisheit« (Descartes 1997, 287). Dem entspricht, wenn Descartes 1645 an Elisabeth schreibt, dass »glücklich leben« (vivre heureusement) nicht »lange leben« heiße, sondern »einen völlig zufriedenen und in seinen Wünschen zufriedengestellten Geist zu haben.« (Brief, 4. 8. 1645, AT, IV, 264).
552
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
allgemeinen Aussagen in den »Meditationen«, recht spärlich sind, soll zuerst untersucht werden, wo und wie sich Descartes über das höchste Gute äußert, um dann zu sehen, ob und inwiefern es die neue Wissenschaft motiviert. Im Brief an Christine von Schweden vom 20. 11. 1647 (AT, V, 81–86) äußert sich Descartes explizit zur Frage nach dem höchsten Gut. Er zeigt zunächst, dass es keine klare oder dunkle Idee sein kann. Zwar sei es einfach zu erkennen, was, »die Sache an sich betrachtet«, das höchste Gute sei: Gott; anders aber stelle sich die Frage nach dem höchsten Gut »für uns«. Dieses Gut könne weder die Erkenntnis sein, weil sie »oft über unsere Kräfte hinaus(geht)«, noch das Wohl, weil dessen Besitz nicht allein uns abhängt. »(D)as höchste Gut eines jeden einzelnen aber«, fährt er fort, »scheint mir etwas ganz anderes zu sein und nur in einem festen Willen, recht zu tun (en une ferme volonté de bien faire), und in der dadurch erzeugten Befriedigung zu bestehen.« Denn, so die Begründung, allein der Wille stehe vollständig in der Macht eines jeden; daher sei der freie Wille »das Edelste …, was in uns sein kann« (le libre arbitre est de soy la chose la plus noble qui puisse estre en nous). Diese Autonomie des Willens sei es, die den Handlungen des Menschen erst ihren Wert gibt und die ihn zur Person macht 120 . Freilich bestehe diese Autonomie nicht in der bloßen Indifferenz des Willens. Eine solche Gleichgültigkeit freien Wählens sei, wie er an anderer Stelle sagt, nur der »niedrigste Grad der Freiheit«, weil sie der Festigkeit des Willens im rechten Tun widerspricht 121 . Das höchste Gut sei vielmehr der »feste(.) und beständige(.) Entschluss …, genau die Dinge zu tun, die man für die besten hält, und alle Kräfte seines Geistes darauf zu verwenden, sie richtig zu erkennen. Darin allein bestehen alle Tugenden; das allein verdient, genau gesprochen, Lob und Ruhm; und daraus allein ergibt sich stets die größte Befriedigung des Lebens. Daher halte ich dafür, dass darin das höchste Gut besteht.« Diese Freiheit der Wahl und Festigkeit des Entschlusses nennt Descartes den »Edelmut« (généroVgl. auch: Cassirer 1995, 217 ff. Im Brief an Mersenne (AT, III, 278–382) führt Descartes aus, dass »die Gleichgültigkeit (l’Indifference) mir im eigentlichen Sinne jenen Zustand zu bedeuten scheint, in dem der Wille sich befindet, wenn er nicht aus der Kenntnis dessen heraus, was wahr und was gut ist, geneigt ist, eher für das eine als für das andere Partei zu ergreifen; und in diesem Sinne habe ich es verstanden, wenn ich sagte, dass der niedrigste Grad der Freiheit (le plus bas degré de la liberté) darin bestände, sich für Dinge entscheiden zu können, denen gegenüber wir gänzlich gleichgültig sind.« 120 121
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
553
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
sité), den er vom »Großmut« (magnanimité) der Schulphilosophie unterschieden wissen will (Descartes 1980c, 313 f.). Sehen wir in diesen Aussagen über den autonomen Willen den Kern der cartesischen Ethik, die »das höchste Gut eines jeden einzelnen« darlegt, so folgt daraus für Descartes selbst als Philosophen und Wissenschaftler, dass was er selbst für das Beste hält, seine Maxime ist, nur das als wahr anzunehmen, was sein Verstand klar eingesehen hat, und das höchste Gut für ihn demnach im festen und beständigen Beschluss besteht, seine Kraft zu verwenden, dieser Maxime zu folgen. 122 So gesehen ist der »brennend große Wunsch, das Wahre vom Falschen unterscheiden zu lernen« (Descartes 1990a, 13), wie auch der Entschluss »endlich einmal etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften aus(zu)machen« (Med. 11), nicht durch das Ziel motiviert, das Wahre oder etwas Festes zu besitzen, sondern durch die Befriedigung, die sich aus diesem frei gewählten und zugleich beständigen Tun des Unterscheidens und Suchens selbst ergibt. Nun ist freilich diese Ethik Descartes’, für sich genommen, wenig interessant. Sie gilt für jeden, der die Maximen seines Handelns frei wählt und beständig verfolgt. Interessant ist sie, weil die Handlungsregel, die Descartes wählt, nicht nur für ihn das Beste ist, sondern weil sie ihm als die epistemische Regel gilt, nach der überhaupt die Wissenschaften möglich sind. Diese Regel ist zwar von ihm frei gewählt; aber sie hat ihren Sitz nicht in diesem Leben, sondern hat ihren Grund und Ursprung in Gott, im »guten Gott«, der sich in ihr als epistemischer Gesetzgeber mitteilt. Damit aber stellt Descartes sein Handeln als Philosoph und Wissenschaftler, das Unterscheiden des Wahren vom Falschen und die Suche nach dem Beständigen, unter ein Gesetz, als dessen Urheber er nicht sich, sondern Gott anerkennt. Diese Anerkennung haben wir die »Gottesliebe« genannt, ohne die eine wahre Wissenschaft nicht möglich sei. Da nun aber 122 Der Annahme scheint zu widersprechen, dass Descartes in praktischer Hinsicht nicht diese Regel für das Beste hält, sondern andere Maximen formuliert. Im »Discours de la méthode« (III, 1–4) führt er drei Regeln als Maximen an: erstens den »Gesetzen und Sitten meines Vaterlandes« zu gehorchen, zweitens einmal gefasste Entschlüsse nicht umzuwerfen und drittens überhaupt nur die eigenen Gedanken unter eigener Kontrolle zu wissen. – Er macht jedoch klar, dass diese Maximen nur ›das Beste‹ für das »Handeln im Leben« sind, aber nicht ›das Beste‹ für die Wissenschaft. Während jenes Beste dem Bau einer Notunterkunft gleicht, »um in ih(r) während der Bauzeit bequem untergebracht zu sein«, gleicht dieses dem Bau des eigentlichen Hauses (Descartes 1980a, 23 ff.). – Vgl. dazu W. Röd (1982, 33 f.), der mit Recht auf die revolutionäre Energie dieses nur scheinbaren Konformismus der cartesischen Moral verweist.
554
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
nach Descartes’ Ethik das höchste Gute im festen Handeln nach dem Besten besteht, in der Wissenschaft aber das Beste jene epistemische Regel ist, die das Wahre vom Falschen zu unterscheiden erlaubt, kann und darf in und für die Wissenschaft das treibende Motiv nur das Handeln nach dieser Regel sein. Die Befriedigung, die der wissenschaftlich Handelnde erfährt, liegt daher nicht außerhalb, sondern in diesem Handeln selbst, weil er darin das wahre, von Gott gegebene Gesetz anwendet oder, in unserer Sprache, den »epistemischen Code« aktualisiert. Legt man also der Frage nach dem Motiv der neuen Wissenschaft Descartes’, in der Tat spärliche, Aussagen zur Ethik zugrunde, so kann man ausschließen, dass das Prinzip, das die neue, auf das Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit aufgebaute Wissenschaft motiviert, das alte antike Ideal der Weisheit wäre, das sie befördert; dass es aber auch nicht das menschliche Wohl oder der Nutzen ist, der durch sie gefördert wird. Letztlich ist die auf die Kriterien des reinen Verstandes, der Klarheit und der Deutlichkeit der Ideen, gestützte Wissenschaft in dem personalen Verhältnis des Ich zu Gott gegründet, in dem sich das Ich als endlicher Geist in der festen und beständigen Ausrichtung seines Willens am Kriterium der Klarheit der Einsicht als der Vollstrecker des göttlichen Willens weiß. Und es ist dieses recht Tun, das als das höchste Gut für die Wissenschaft das treibende Motiv ist. 123
D. Die neue Wissenschaft als Gottesdienst 1. Wenn nun aber dieses recht Tun das Motiv ist, dann kann die neue Wissenschaft ihrem Wesen nach weder als eine profane Veranstaltung begriffen werden, die dem Wohl des Menschen dient und dessen 123 »Descartes«, schreibt W. Dilthey, »ist die Verkörperung der auf Klarheit des Denkens gegründeten Autonomie des Geistes. In ihm lebt eine originale Verbindung von Freiheitsbewusstsein mit dem Machtgefühl des rationalen Denkens. Und hierin liegt wohl die äußerste Steigerung des Souveränitätsbewusstseins, zu der sich je ein Mensch erhoben hat.« (Dilthey 1977, 349). Wir können Dilthey zustimmen, allerdings mit dem Zusatz, dass dieses Souveränitätsbewusstsein im Wissen ruht, dem guten Gott zu dienen. Von diesem Gottesdienst behauptet Descartes gegenüber seinem Freund Chanut »kühnlich, dass (er) im Hinblick auf dieses Leben die hinreißendste und fruchtbarste Leidenschaft (la plus ravissante & utile passion) ist, die wir fühlen können.« (Brief, 1. 2. 1647, AT, IV, 607)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
555
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Nutzen mehrt, noch kann sie als ein System menschlicher Hybris angesehen werden, in dem sich der menschliche Geist durch Vermehrung seines Wissens an die Stelle Gottes setzt. Sie ist vielmehr als der »wahre Gottesdienst« zu verstehen, weil die neue Wissenschaft nach einer Regel verfährt, deren Grund und Ursprung nicht der Mensch selbst ist, sondern als deren epistemischen Grund und Ursprung sie den »guten Gott« anerkennt, der allein die klaren Ideen als wahr qualifiziert. Die Wissenschaft unterstellt sich damit einem Gesetz, das nicht ihr eigenes ist, und verwirklicht, indem sie nach ihm handelt, zugleich ›auf Erden‹ dies wahre Gesetz. Dieses Gesetz ist daher als das Dritte zu verstehen, durch das beide verbunden sind: die nach Klarheit strebende Gemeinschaft der wissenschaftlich Tätigen, die nach diesem Gesetz verfährt; und der »gute Gott«, der darin als gesetzgebend anerkannt wird und der garantiert, das das von ihr klar Eingesehene auch als wahr angenommen werden kann. Es stellt das Gemeinsame und Einigende des Willens beider dar: der ›scientific community‹, die frei gewählt ihr Handeln fest und beständig nach diesem Gesetz ausrichtet; Gottes, der als der höchst vollkommene epistemische Gesetzgeber dies Gesetz als sein Gesetz gibt. Dieses Dritte ist freilich, da es aus dem Willen beider hervorgeht, weder eine klare noch eine dunkle Idee; es ist vielmehr als die gemeinsame Sache zu verstehen, in der ihr Wille geeint ist. Sie lässt sich passend als die »praktische Vernunft« bezeichnen, weil sie zum einen der Wissenschaft vorschreibt, dass ihren Urteilen die klare Idee, oder, wie Descartes sagt, »das Verstandeserfassen stets der Willensbestimmung vorhergehen muss« (Med. 50); und weil sie zum anderen als Grund und Ursache diejenige Instanz anerkennt, die wir, in der Einheit von Wille und Verstand, als »auctoritas dei« beschrieben haben. Das Ganze der Wissenschaft, worin die klaren und deutlichen Ideen im Verstand endlicher Geister durch die Autorität Gottes zugleich als wahre Urteile gelten, lässt sich demnach als das gemeinsame ›Reich der Vernunft‹ auffassen, in dem nur das als existent gilt, was, der Vernunft gemäß, auf die klare und deutliche Verstandeseinsicht gegründet ist. In diesem Reich ist Gott der »König« (Med. 378), der als höchster Gesetzgeber codiert, was wahres Wissen ist; und die Wissenschaft Treibenden sind seine ›Diener‹, die in ihrem Streben nach klarer Einsicht dem Vernunftgesetz gemäß handeln und den Sinn solcher Praxis im Dienst an der Instanz finden, die sie in ihrem Handeln nach diesem Gesetz zugleich als die höchste verehren. 556
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
2. Haben wir einleitend gesagt, seit Descartes, dem Begründer der neuzeitlichen Philosophie, sei in der abendländisch-europäischen Tradition das Wissen eine Veranstaltung, deren Akteur und Regisseur der Mensch ist, so können wir dies jetzt wieder aufnehmen und präzisieren. Diese Veranstaltung unterscheidet sich nach unserer Rekonstruktion von Descartes’ Epistemologie vom vormaligen Selbstverständnis der Wissenschaften nicht dadurch, dass sie an die Stelle des dreieinigen Gottes als maßgebende Instanz nun den Menschen und an die Stelle des Glaubens die menschliche Vernunft gesetzt hätte. Denn wie sollte menschliches Denken durch sich selbst Wahres erkennen? Sie unterscheidet sich vielmehr dadurch, dass mit Descartes’ Neubegründung des Wissens dem Menschen bzw. der res cogitans die Regel gegeben ist, die ein wahres und verbindliches Wissen ermöglicht und garantiert. Das Maß des Wissens ist kein jenseitiger Code, der menschlicher Einsicht unbegreiflich, in der Dreieinigkeit Gottes als dem »Wissen selbst« eingeschlossen ist, und die Wissenschaften daher im Streben nach Wissen besteht. Die neue Wissenschaft hat vielmehr an der Klarheit der Verstandeseinsicht das epistemische Kriterium, so dass für sie die Wahrheit und Falschheit der Urteile kontrollierbar werden, und alles bloß Wahrscheinliche oder aus dunklen Gründen Angenommene aus diesem Reich der Vernunft ausgeschlossen werden kann. 124 124 In seinem Aufsatz »Die Zeit des Weltbildes« hat M. Heidegger das neuzeitliche Weltverständnis beschrieben. Er beschreibt das, was wir als Differenz zwischen Wahrheitssuche und Regelbefolgung bezeichnen, als Differenz zwischen Erkennen und Forschen. Im Mittelalter, so Heidegger, war die »höchste Erkenntnis und Lehre … die Theologie als Auslegung des göttlichen Wortes der Offenbarung, das in der Schrift niedergelegt ist und durch die Kirche verkündet wird. Erkennen ist hier nicht Forschen, sondern das rechte Verstehen des maßgebenden Wortes und der es verkündenden Autoritäten.« (Heidegger 1972, 75) »Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst dann, und nur dann, wenn die Wahrheit als Gewissheit des Vorstellens sich gewandelt hat.« (80) Diese Wahrheit als Gewissheit des Vorstellens sei erstmals in der Metaphysik des Descartes bestimmt worden, in deren Bahnen sich die gesamte neuzeitliche Metaphysik gehalten habe. Von dieser Neubestimmung der Wahrheit sagt Heidegger, dass in ihr »das Wesen des Menschen überhaupt sich wandelt, indem der Mensch zum Subjekt wird … [Das heißt:] Der Mensch wird zu jenem Seienden, auf das sich alles Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit gründet. Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen.« (81). Auch wenn wir mit Heidegger darin übereinstimmen, dass mit der neuzeitlichen Metaphysik sich das »Wesen des Menschen« gewandelt hat, so können wir doch nicht sehen, dass mit Descartes der Mensch zum Subjekt und zur »Bezugsmitte des Seienden als solchen« wird. Denn – was auch immer man unter dem Menschen verstehen vermag –
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
557
Descartes: Die Grundlegung der Wissenschaften
Die auf den Besitz dieser Regel gegründete Wissenschaft kann daher nicht teleologisch sein; sie strebt weder nach der ihr verborgenen Wahrheit, die es zu erkennen gilt, noch strebt sie nach Nützlichem als einer ihr fremden unklaren Idee. Diese Zwecke mögen Nebenfolgen sein, »spin-offs«, die sich aus den Resultaten der Wissenschaft ergeben; als Motiv und Ziel jedoch widersprechen sie dem Kriterium der Klarheit als Leitprinzip der neuen Wissenschaft. Sie ist vielmehr auf den festen und beständigen Entschluss gegründet, statt dunkler Gründe und Gefühle den Verstand und damit die Klarheit und Deutlichkeit der Ideen zu dem Maßstab zu erheben, der epistemisch Verbindlichkeit bewirkt. Daher muss, wer in dieses Reich der Vernunft eintritt, den Übergang vom heteronomen Normalmenschen zum autonomen Verstandeswesen vollziehen, indem er sich unter dieses Gesetz der Vernunft stellt. Das Geschäft nun, der Beruf oder Auftrag, den die neue Wissenschaft erfüllt, besteht in zweierlei: da diese Wissenschaft ›auf Erden‹ mit Descartes wird das Ich zum Subjekt, das er als geistige Entität substanziell von allem Körperlich-Leiblichen unterscheidet. – Was bei Heidegger aber gänzlich fehlt, ist der von uns hervorgehobene Repräsentationscharakter dieses Subjekts. Zwar sieht auch Heidegger das Repräsentative als Wesensmerkmal der Neuzeit, das er dem »griechischen Vernehmen« entgegensetzt, das ein Vernehmen des »Sichöffnenden« gewesen sei; aber diese Repräsentation ist für ihn keine personale, sondern eine erkenntnistheoretische: »Vor-stellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden, zu beziehen und diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzuzwingen. Wo solches geschieht, setzt der Mensch über das Seiende sich ins Bild … Damit aber setzt sich der Mensch selbst als die Szene, in der das Seiende fortan sich vor-stellen, präsentieren, d. h. Bild sein muss. Der Mensch wird der Repräsentant des Seienden im Sinne des Gegenständigen.« (84) Diese Darstellung des »neuzeitlichen Wesens« ist unseres Erachtens um die epistemologische Dimension verkürzt. Denn mit Descartes wird das Ich zwar zum Subjekt, das in dieser Weise vorstellend das Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit repräsentiert und so »zur Bezugsmitte des Seienden« wird; aber dass das Ich das Seiende in dieser Weise repräsentiert, dazu bedarf es nach unserer Deutung der Anerkennung des ›Über-Seienden‹ als Autorität. Ohne diese personale Beziehung und die darin gegründete Gewissheit, den Willen Gottes zu repräsentieren, fehlte dem Ich als endlichem Wesen ganz die ›Kraft‹, vorstellend das Seiende zu repräsentieren. Ohne sie stellte das Ich nur seine Vorstellungen, nicht aber das Seiende vor. Wo daher Heidegger in der Umwandlung des sichöffnenden Vernehmens in die autonome Gewissheit des Vorstellens einen Bruch im europäischen Denken sieht, erkennen wir eine Umdeutung und Neubestimmung tradierter Elemente. Zwar wird das Ich zur »Bezugsmitte des Seienden«, aber es bleibt als Repräsentant des Seienden personal an den »guten Gott« gebunden. Ohne die durch die lateinische Tradition geprägte Epistemologie der Personalität wäre dieser »Wandel des Menschen« nicht möglich gewesen.
558
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die epistemische Regel als »Zeichen Gottes«
den höchsten gesetzgebenden Willen vertritt, ist es zum ersten ihre Aufgabe, in das Dunkel der sinnlichen Vorstellungen und Gefühle das Licht der klaren Begriffe zu tragen. Dieses Auftrags wegen muss diese Wissenschaft alle irgend vorhandenen Autoritäten als wissenschaftsfremde Instanzen ablehnen; für sie kann daher nur als wahr gelten, was der Verstand geprüft hat. Es ist ihr methodisches Prinzip, wahre Urteile niemals auf bloß wahrscheinliche Erkenntnisse zu gründen, sondern allein auf solche, »die vollkommen erkannt sind und an denen sich nicht zweifeln lässt« (Descartes 1980b, 71). Der cartesische Grundsatz: »an allem ist zu zweifeln«, geschieht daher nicht des Zweifels wegen, da auf ihn doch niemals ein verbindliches Wissen gegründet werden kann, sondern geschieht um der Klarheit der Ideen willen. Zweifel und Kritik sind die geistigen Waffen dieser Wissenschaft, um den Kampf der Wahrheit gegen den anbrandenden Irrtum zu führen, und sind der ›Heilige Geist‹ in ihr selbst, der sie vor Verknöcherungen, Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, vor dem Rückfall in ein ›epistemisches Heidentum‹ schützt. Das zweite, um Licht ins Dunkel der sinnlichen Vorstellungswelt zu tragen, ist die Umwandlung der dunklen in klare und deutliche Ideen. Wenn Descartes paradigmatisch in der »Fünften Meditation« alles Sinnlich-Körperliche auf die klare und deutliche Idee der Ausdehnung zurückführt und in der »Sechsten Meditation« die res extensa klar und deutlich von der res cogitans unterscheidet, und wenn er in seinen wissenschaftlichen Schriften alle Naturvorgänge auf mechanische Prozesse reduziert, die Mechanik ihrerseits auf rein geometrische Formen zurückführt, um auf diese dann die Lehre der Zahlen anzuwenden, dann gehorcht diese Konstruktion einer mathematischen Naturwissenschaft dem gegebenen Auftrag, Klarheit ins Dunkel zu bringen, um das Reich der Vernunft wirklich zu machen. Durch das Verfahren der Analyse des dunkel Gegebenen und seiner Synthese aus den reinen und klaren Formen errichtet die Wissenschaft im Kampf gegen das Bodenlose der unsteten Erfahrungswelt das durchsichtige und kontrollierte System der klaren Prinzipien und festen Begriffe, das allein wahres Wissen gestattet. Um dieses Auftrags willen sind die Wissenschaften seither und Stück für Stück darin fortgeschritten, die dunklen Vorstellungen von waltenden Naturkräften und unbegreiflichen seelischen Entitäten aus ihnen zu verbannen, um ihre Sätze auf klare Prinzipien und deutliche Begriffe, d. h. auf Logik und Mathematik, aufzubauen.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
559
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
V Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Einleitung Der folgenden Untersuchung legen wir die Annahme zugrunde, dass die Transzendentalphilosophie Kants, seine kritische Analyse und Bestimmung der Grenzen und des Umfangs des menschlichen Wissens, als Epistemologie des modernen Denkens zu verstehen ist. Diese Annahme erscheint uns nicht deshalb als möglich, weil die kantische Philosophie die modernste Theorie des Wissens wäre oder sie das moderne Denken zum Gegenstand hätte, sondern weil sie den epistemologischen Rahmen abgesteckt hat, in dem sich das moderne Denken bewegt. Einleitend wollen wir erläutern, was wir unter dem »modernen Denken« verstehen, und wie Kants Transzendentalphilosophie sich als dessen Exponent und Repräsentant deuten lässt. a.
Zum Begriff der »Moderne«
In geschichtlicher Hinsicht erscheint der Begriff der Moderne als recht bedeutungslos 1 ; er diente lange Zeit nur dazu, das Selbstverständnis der jeweiligen Zeit in Bezug zu den »Alten«, dem antiken Zeitalter, zu setzen. In diesem Sinne hat sich schon die christliche Zeit des 5. Jahrhunderts als »modern« verstanden 2 . In seiner konkreteren Bedeutung wurde der Ausdruck am Ende des 19. Jahrhunderts als zusammenfassende Bezeichnung für die neuen Richtungen in der Kunst verwendet, die sich nicht mehr am Vorbild der Antike orientierten, sondern die ästhetischen Normen und Maße in sich selbst hatten. In Erweiterung seiner Bedeutung übernahmen den Ausdruck Jauss 1970, 11: »Das Wort Modernität, das dazu dienen soll, das Selbstverständnis unserer Zeit epochal gegen ihre Vergangenheit abzusetzen, hat die Paradoxie an sich, dass es – blickt man auf seine literarische Tradition zurück – den Anspruch, den es behauptet, offenbar durch seine geschichtliche Wiederkehr auch schon dementiert hat. Es ist weder für unsere Zeit geprägt worden, noch scheint es überhaupt geeignet, das Einmalige einer Epoche unverwechselbar zu kennzeichnen.« 2 Siehe: ebd., 16; Gumbrecht 1978. 1
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
dann die Sozialwissenschaften, um den Prozess der Ausdifferenzierung des Sozialsystems in Teilsysteme zu bezeichnen, die einer je eigenen Gesetzmäßigkeit unterliegen 3 . In diesem Sinne wird der Begriff der Moderne zur Unterscheidung von traditionalen homogenen Systemen gebraucht und soll die vom Beginn der europäischen Neuzeit ausgehende Dynamik und den Wandel der sozialen Prozesse erfassen. Im Unterschied zu diesem sozialwissenschaftlichen Gebrauch verwenden wir den Begriff der Moderne im epistemischen Sinn. Die Moderne bezeichnet in dieser Hinsicht einen Zustand, in dem, wie J. Habermas ihn beschreibt, »die in religiösen und metaphysischen Weltbildern ausgedrückte substanzielle Vernunft in drei Momente auseinandertritt« und es »zu einer Ausdifferenzierung der Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst (kommt).« An die Stelle eines einheitlichen Codes, nach dem das Wissen als ein zusammenhängendes Ganzes organisiert ist, treten in der Moderne »die Eigengesetzlichkeiten des kognitiv-instrumentellen, des moralisch-praktischen und des ästhetisch-expressiven Wissenskomplexes« 4 hervor. In diesem Sinne stellt die Moderne einen Prozess der sozialen Ausdifferenzierung dar, dessen Dynamik durch die institutionalisierte ›Fähigkeit‹ zur Autonomisierung dieser drei Wissenskomplexe und zur Resistenz gegenüber den Forderungen und Ansprüchen der je anderen Gebiete bewirkt ist. b.
Kants Trennung der »epistemischen Gebiete«
Wenn wir also Kants Transzendentalphilosophie als »Epistemologie des modernen Denkens« bezeichnen, dann beziehen wir uns auf einen Begriff der Moderne, der sie durch die Freisetzung dieser drei Sphären gekennzeichnet sieht. Wir verstehen daher die drei Kritiken Kants in der einen Hinsicht als Kritik des Totalitätsanspruchs jener vormodernen substanziellen Vernunftsysteme und in der anderen Hinsicht als Grundlegungen, die die Eigengesetzlichkeiten der theoretischen Erkenntnis, des praktischen Handelns und des ästhetischen Erlebens bestimmen und gegenseitig begrenzen. Auch wenn es seit Kants Untersuchungen zweifellos neuere philosophische Systeme gegeben hat, die diese »Grenzen der Vernunft« zu überschreiten 3 4
562
Siehe: Schäfers 1995, 221. Habermas 1990, 41.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
suchten, indem sie entweder am Totalitätsanspruch der Vernunft festgehalten haben, die Einheit der Vernunft durch Aufhebung ihrer Grenzen wiederherzustellen suchten oder aber diese Grenzen in einem pluralistischen Modell des Wissens aufgelöst haben, so sind diese Unternehmungen als Bestrebungen zu verstehen, die moderne Trennung der drei Wissenssphären unter den Stichworten der »Entfremdung«, der »Verdinglichung« oder der »Vernunftherrschaft« der Kritik zu unterziehen. Insofern repräsentiert die kantische Philosophie die Moderne, weil sie den epistemologischen Rahmen abgesteckt hat, in dem modernes Denken wie seine Kritik sich bewegt. 1. Verortet man die von Kant vollzogene Trennung der drei epistemischen Gebiete in historisch-systematischer Hinsicht, so bezeichnen die Etablierung der modernen, auf Mathematik und Empirie gegründeten Naturwissenschaften, die Entstehung eines ethisch-moralischen Diskurses über die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte sowie die Autonomisierung der Sphäre des Ästhetischen den Abstand zur cartesischen Grundlegung der Wissenschaften am Beginn der Neuzeit. Hatte Descartes die Wissenschaften auf der einfachen Vernunftregel aufgebaut, nach der der »rechte Gebrauch des Verstandes« in der Klarheit der Ideen und der Deutlichkeit der Begriffe bestand, und die nicht nur die Wahrheit der Erkenntnisse, sondern auch das handlungsleitende Gute garantieren sollte, zeigte sich in der Folgezeit, dass sich auf diese Vernunftregel weder die Naturwissenschaften noch die praktischen Wissenschaften gründen lassen. Die Praxis der Naturwissenschaften zeigte, dass allein durch die klare Idee des Körpers als res extensa kein wirkliches Wissen begründet wird, sondern es dazu der dunklen Idee der ›Kraft‹ bedarf 5 . Diese So Leibniz 1978, Bd. IV, 390 f.: »Ich stimme nun zwar mit ihm [Descartes] vollkommen darin überein, dass alle besonderen Naturerscheinungen, sobald wir sie genügend erforscht haben, mechanisch erklärt werden können, und dass sich auf keine andere Weise eine Einsicht in die Ursachen der materiellen Dinge gewinnen lässt; dennoch aber gebe ich zugleich immer wieder zu bedenken, dass die mechanischen Prinzipien selbst und mit ihnen die allgemeinen Naturgesetze aus höheren Prinzipien entspringen und aus der blossen Betrachtung der Quantität und der Objekte der Geometrie nicht erklärbar sind, dass in ihnen vielmehr ein Metaphysisches enthalten ist … Denn neben der Ausdehnung und ihren mannigfachen Bestimmungen kommt der Materie eine Kraft oder ein Vermögen zur Tätigkeit zu, das den Übergang von der Natur zur Metaphysik bildet.« Exemplarisch für diese Auseinandersetzung zwischen »Geometern« und »Metaphysikern« ist die Kontroverse, die der Cartesianer Catelan mit Leibniz in der Zeitschrift »Nouvelles de la Republique des Lettres« 1686 und 1687 um das Maß der Bewegung
5
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
563
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Naturwissenschaft stimmte zwar mit der Erfahrung überein, aber sie war, cartesisch gesprochen, ein Gemisch aus klaren und dunklen Ideen 6 , das dem Wahrheitskriterium der cartesischen Grundlegung geführt hat. Descartes hatte das Maß der Bewegung eines Körpers (quantitas motus) als das Produkt aus dessen Masse und Geschwindigkeit (m * v) bestimmt, wonach die Bewegungsgröße eines Körpers bei konstanter Masse der Geschwindigkeit bzw. bei konstanter Geschwindigkeit der Masse proportional sei. Gegen dieses cartesische Maß wandte Leibniz ein, dass wenn ein Körper mit konstanter Masse um vier Fuß gefallen ist, er die doppelte Geschwindigkeit erlangt hat, wie wenn er nur um einen Fuß gefallen ist. Da nun aber der Körper beim Fallen die Kraft erlangt, wieder auf dieselbe Höhe zu steigen, von der er gefallen ist; sind die Kräfte dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional. Dementsprechend bestimmte Leibniz das Maß der Bewegung als das Produkt aus Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit (m * v2 ). Dieser Bestimmung widersprach nun der Abbé Catelan, indem er darauf hinwies, dass ein Körper mit doppelter Geschwindigkeit zwar viermal so hoch steige, dass er dazu aber auch doppelt so viel Zeit benötige. Folglich müsse die Bewegungsmenge durch die Zeit geteilt werden und sei daher = 2, nicht = 4. Damit aber erweise sich Descartes’ Maßbestimmung als die richtige. In der folgenden Diskussion, an der auch Kant mit seiner frühen Schrift »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« teilnahm, einigte man sich darauf, dass beide Maßangaben stimmen: das cartesische Maß für mechanische Prozesse wie den Stoß, das leibnizsche Maß für dynamische Vorgänge wie den Fall. – Siehe dazu: Engels 1962, 370–383. Diesem Streit um die ›wahre Schätzung‹ der Bewegung liegt die Differenz der Wahrheitskriterien zugrunde. Da im cartesischen Modell die Wahrheit des Urteils über das Bewegungsmaß allein von der Klarheit und Deutlichkeit der Einsicht abhängt, folgt das Maß der Bewegung aus Attributen der bloßen Ausdehnung, weil allein sie klar und deutlich eingesehen werden. Leibniz hingegen führt, um die beobachtbare Beschleunigung der Körper beim Fallen zu erklären, den Begriff der »lebendigen Kraft« (vis viva) wieder in die Naturwissenschaft ein, den Descartes seiner Dunkelheit wegen ausgeschlossen hatte. 6 I. Newton ersetzt das cartesische Kriterium der Klarheit durch das des Experiments. So führt er in den »Mathematischen Prinzipien der Naturlehre« als Dritte Regel zur Erforschung der Natur an: »The qualities of bodies, which admit neither intension nor remission of degrees, and which are found to belong to all bodies within the reach of our experiments, are to be esteemed the universal qualities of all bodies whatsoever.« Er erläutert: »For since the qualities of bodies are only known to us by experiments, we are to hold for universal all such as universally agree with experiments; and such as are not liable to diminution can never be quite taken away. We are certainly not to relinquish the evidence of experiments for the sake of dreams and vain fictions of our own devising; nor are we to recede from the analogy of Nature, which uses to be simple, and always consonant to itself … The extension, hardness, impenetrability, mobility, and vis inertiae of the whole, result from the extension hardness, impenetrability, mobility, and vires inertiae of the parts; and thence we conclude the least particles of all bodies to be also all extended, and hard and impenetrable, and moveable, and endowed with their proper vires inertiæ. And this is the foundation of all philosophy.« Und als Vierte Regel führt er an: »In experimental philosophy we are to look upon propositions collected by
564
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
widersprach 7 . Und in ethisch-praktischer Hinsicht konnte vor allem Descartes’ Bindung des Willens an das Kriterium der klaren Verstandeseinsicht nicht überzeugen. Die nachcartesischen Vernunftsysteme, die die neue Lage erkenntnistheoretisch verarbeiteten, ließen Descartes’ substantielle Unterscheidung zwischen Geist und Körper, zwischen Denken und Wahrnehmen wieder fallen. In der Leibniz-Wolffschen Metaphysik wurde das Denken als Aktivität einer individuellen Substanz begriffen, die als Spiegel der Welt das Ganze von ihren sinnlich-dunklen Empfindungen über die Vorstellungen bis zu den deutlichen Begriffen repräsentiert. 8 Der Empirismus Humes führte alle Ideen, die wir von den Dingen haben, auf Empfindungen und den Begriff der Kausalität auf die lebensweltliche Gewohnheit zurück und verstand Erkenntnis als bloßes Erfahrungswissen. 9 Und die materialistischen Modelle schließlich erklärten Denken und Handeln als Zustandsformen oder Funktionen materieller Strukturen. 10 So gesehen, befand sich die epistemologische Situation ›vor Kant‹ in einem unbefriedigenden Zustand: einerseits gab es konkurrierende Vernunftsysteme, die dem empirischen Charakter der modernen Naturwissenschaft mit einheitlichen Prinzipien Rechnung trugen; andererseits fehlte ihnen jedoch das neuzeitliche »Ich«, das Descartes als die Kontrollinstanz der Ideen und als das Prinzip der Willensbestimmung begründet hatte. Dieser Problemlage entsprach general induction from phænomena as accurately or very nearly true, notwithstanding any contrary hypotheses that may be imagined, till such time as other phænomena occur, by which they may either be made more accurate, or liable to exceptions. – This rule we must follow, that the argument of induction may not be evaded by hypotheses.« (Newton 1729, 202 ff.; H. v. m.) 7 »Je ne reconnais aucune Inertie ou tardiveté naturelle dans les corps.« (AT, II, 466 f.) – vgl. dazu: Jammer 1964, 61 ff. 8 Leibniz’ Kritik am cartesischen cogito richtet sich folglich gegen den formalen und inhaltsleeren Charakter des »Ich denke«. In den »Bemerkungen zum Allgemeinen Teil der cartesischen Prinzipien« erklärt Leibniz: »Nicht nur meiner selbst als Denkenden, sondern auch meiner Gedanken bin ich mir bewusst, und es ist nicht mehr wahr oder gewiss, dass ich denke, als dass dieses oder jenes von mir gedacht werde. Daher wird man recht zweckmäßig die ersten Tatsachenwahrheiten auf diese zwei zurückführen können: ich denke, und: Vielfältiges wird von mir gedacht. Daraus folgt nicht nur, dass ich bin, sondern auch, dass ich auf vielfältige Weise affiziert worden bin.« (Leibniz 1978, Bd. IV, 357) – Zu den Konsequenzen dieses Verständnisses von »Ich denke« für Leibniz’ Gesamtsystem siehe: Holz 1997, 280 f. 9 Zur Kritik D. Humes am cartesischen »Ich denke« siehe: Hume 1984, XII, 116. 10 Zum Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts vgl.: Lange 1974, Bd. I, 233–414. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
565
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Kants Trennung der epistemischen Gebiete: auf dem Gebiet der Natur sei die Vernunft allein durch das Naturgesetz gesetzgebend, durch das die Begriffe des reinen Verstandes mit den Empfindungen der Sinne zu einem Erfahrungswissen verbunden sind; auf dem Gebiet des Ethisch-Praktischen hingegen sei die Vernunft allein durch das Sittengesetz gesetzgebend, durch das sie dem Willen seinen Gegenstand bestimme; auf dem Gebiet des Ästhetischen jedoch sei die Vernunft durch den Begriff der Zweckmäßigkeit gesetzgebend, durch den das Gefühl der Lust oder Unlust erweckt werde. Diese Unterscheidung verstand Kant als einen friedenstiftenden Urteilsspruch, der den bisherigen Streit einer dogmatischen Vernunft mit sich selbst beenden sollte. 11 Betrachten wir diese von Kant vollzogene Trennung der Gebiete als das Wesentliche des modernen Denkens, das sich im Rahmen der Eigengesetzlichkeit dieser drei Sphären vollzieht, dann fängt Kant offenkundig nicht mit einem ersten Grundsatz an und legt den Erkenntnissen kein einheitliches Vernunftprinzip zugrunde, sondern geht von zwei Tatsachen aus: der auf Mathematik und Empirie gegründeten Naturwissenschaft und der Autonomie des Willens. Die Verschiedenheit dieser zwei Tatsachen wird von Kant nicht begründet, sondern transzendentalphilosophisch erklärt und epistemologisch gerechtfertigt. Man dürfe daher weder von den Grundsätzen der Naturwissenschaft als einer Erkenntnis a priori fragen, »ob sie möglich sei (denn sie ist wirklich), sondern nur wie sie möglich sei« 12 , noch lasse sich die Tatsache der Autonomie des Willens »aus vorhergehenden Datis der Vernunft … herausvernünfteln« (KpV V 31), sondern sei durch sich selbst wahr. Diese zwei Tatsachen, die,
11 Als Vorgänger scheint Kant allein »den berühmten Locke« akzeptiert zu haben, der »durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes« (A IX) den dogmatischen Streitigkeiten ein Ende gemacht habe. An anderen Stellen schränkt Kant jedoch ein, dass Locke zwar den menschlichen Verstand zergliedert und gezeigt habe, »welche Seelenkräfte und welche Operationen derselben zu dieser oder jener Erkenntniss gehören« (L, IX 32), dass sein Verfahren aber letztlich doch dogmatisch gewesen sei, weil er einmal, was bloß dem Verstand angehörte, »insgesammt sensificirt« (B 327) habe und zum anderen behauptete, »man könne das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele (obzwar beide Gegenstände ganz außer den Grenzen möglicher Erfahrung liegen) … beweisen« (B 883). Trotz dieser Inkonsequenzen hatten Lockes Untersuchungen den Nutzen, »dass man anfing, die Natur der Seele besser und gründlicher zu studiren.« (L, IX 32) 12 KrV B XII ff.; P IV 275.
566
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
jede für sich, unbezweifelbar sind, setzt Kant, so nehmen wir an 13 , seiner Untersuchung der Grenzen und des Umfangs des menschlichen Wissens voraus. c.
Über den Zweck des modernen Denkens
1. Vor der Rekonstruktion der kantischen Epistemologie stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Sinn und Zweck der von Kant vollzogenen Dreiteilung der epistemischen Gebiete. Hat dieser »friedenstiftende Urteilsspruch« den Sinn in sich selbst, so dass ihm der gleichsam ›natürliche‹ Zustand des menschlichen Bewusstseins zugrunde liegt, das so über seine eigenen Erkenntnisvermögen und -kräfte aufgeklärt wird? In diesem Fall wäre Kants Dreiteilung analytisch, weil es das gegebene Bewusstsein in die drei Vermögen einteilt, welche die drei verschiedenen Wissenskomplexe konstituieren. Und dieses Verfahren diente der Aufklärung des Menschen über die Möglichkeiten und die Grenzen seines Erkenntnisvermögens. Der Sinn der transzendentalphilosophischen Untersuchung Kants wäre, dass der Mensch lerne, sich in kognitiver, moralischer und ästhetischer Hinsicht die verschieden gearteten Welten des Seins, des Sollens und des Wohlgefallens aufzubauen und sich in ihnen nach sachgerechten Regeln zu bewegen. Kant wäre insofern als Lehrer der modernen Welt zu verstehen, der im »nachmetaphysischen Zeitalter« über die Bedingungen und die Möglichkeiten der menschlichen Existenzweise aufklärt. Oder aber weist diese Dreiteilung über sich hinaus, so dass ihr Sinn nicht in ihr selbst liegt, sondern in einem Zweck, der durch die Aufteilung der epistemischen Gebiete erst erreicht werden soll? In diesem Fall wäre Kants Verfahren synthetisch, weil es die unterschiedlichen Erkenntniskräfte des Menschen in Hinblick auf den durch sie zu erreichenden Endzweck untersucht. Das Auseinandertreten der kognitiven, moralischen und ästhetischen Sphäre in der modernen Welt wäre insofern als Bedingung und als Mittel zu verstehen, das sich in einem künftigen Zustand verwirklicht, in dem diese Trennung des Seins, des Sollens und des Wohlgefallens überWir interpretieren folglich Kants Philosophie nicht als System, das sich aus reiner Vernunft zu entwickeln sucht, sondern das diese zwei Tatsachen als unbestreitbar voraussetzt. – Zur Debatte um den epistemischen Status der kantischen Philosophie siehe: Cramer 1998, 78 f.
13
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
567
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
wunden sein wird. In diesem Fall dienten Kants transzendentalphilosophische Untersuchungen nicht nur der Aufklärung des Menschen über seine Möglichkeiten und Grenzen, sondern diese Aufklärung diente ihrerseits dem durch sie zu erreichenden Zweck; und dem entsprechend genügte das moderne Denken in der Ausdifferenzierung seiner Wissenssphären nicht nur sich selbst, sondern verwiese durch sich auf ein Ziel, das es transzendiert. 2. Die unterschiedliche Beantwortung der Frage nach dem Sinn der kantische Dreiteilung hat in methodischer Hinsicht einen unterschiedlichen Zugang zur Folge. Am Maß der Selbstaufklärung der Moderne ließe sich die Philosophie Kants als ein wesentlicher Beitrag zu eben dieser Aufklärung verstehen, der historisch zu verorten, hinsichtlich der inneren Konsistenz und Systematik zu prüfen und am Maßstab der Gegenwart zu beurteilen wäre. Man behandelte damit jedoch die kantische Philosophie, wie Kant kritisch eingewandt hatte, wie »Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie (der alten, sowohl als der neuen) selbst ihre Philosophie ist« (P IV 255). Diese Behandlung wäre teils unphilosophisch, weil statt »aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen« (ebd.) nur von Vergangenem Nachricht gegeben wird; teils nach dem von Kant so genannten »Schulbegriff« (KrV B 866), da nur auf »die logische Vollkommenheit der Erkenntniss« (ebd.) nach den Kriterien der Vollständigkeit, Differenziertheit und inneren Systematik geachtet würde. Der Zweck solchen Tuns wäre nur das Wissen um das Werk Kants als Beitrag zur modernen Philosophie. Im anderen Fall jedoch wird die kantische Philosophie nach dem ihr eigenen »Weltbegriff (conceptus cosmicus)« (ebd.) in den Blick genommen und in Bezug auf den sie transzendierenden Zweck hin untersucht. In dieser Hinsicht versteht Kant seine Philosophie als »teleologia rationis humanae« (ebd.), als eine Wissenschaft der Beziehung der Erkenntnisse »auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft« (ebd.). Der Zugang zu Kant besteht in diesem Fall gleichsam auf einer ›Meta-Ebene‹, auf der die logisch-systematischen Fragen seiner Untersuchung der menschlichen Erkenntnisvermögen und -kräfte zugleich auf die ihr implizite Teleologie bezogen wird, d. h. auf den Grund und Zweck, den Kant mit ihr verfolgt. Aus dieser Perspektive ist die kantische Philosophie nicht nur als Beitrag zur modernen Philosophie zu verstehen, sondern als deren Epistemologie, weil sie über den Grund, den Sinn und den Zweck des modernen Denkens selbst Auskunft gibt. Im Weiteren werden wir die kantische 568
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft: Natur und Moral
Philosophie aus dieser Perspektive als eine sie transzendierende Teleologie rekonstruieren. Unsere Untersuchung wird sich daher sowohl auf die Begründung konzentrieren, die Kant für die Dreiteilung der epistemischen Gebiete anführt, als auch auf deren immanenten Zweck, wie er von Kant beschrieben wird. Die Begründung für diese Dreiteilung ist in Kants Anthropologie enthalten, sofern sie von der Möglichkeit des Menschen überhaupt handelt. Den Zweck hingegen sieht Kant in der Bestimmung des Menschen, das Gute auf Erden wirklich zu machen, die jedoch die Trennung des Moralisch-Praktischen vom KognitivTheoretischen und Lustvoll-Ästhetischen zu ihrer Voraussetzung hat. Diese »teleologia rationis humanae« werden wir im Folgenden als Kants Geschichte vom Menschen rekonstruieren, die von dessen Möglichkeit überhaupt, seiner Bestimmung und seinem künftigen Ende erzählt.
I.
Die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft: Natur und Moral
Kant versteht seine Kritik der Vernunft bekanntlich nicht nur negativ, um im Theoretischen die bisherigen dialektischen Blendwerke zu vermeiden und im Praktischen vor moralischen Irrtümern zu schützen, sondern schreibt ihr auch positiv die Rolle des »wahren Gerichtshof(s)« (B 779) zu. Dieses Gericht verhandelt den Streit, in den die Vernunft gerät, indem es nach den Ursachen dieses Streits sucht, ihn am Ende aber durch einen richterlichen Urteilsspruch schlichtet. Dieser Spruch müsse, weil er »die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren« (B 780). Kants Kritik der Vernunft nimmt somit die Rolle eines Schiedsgerichts ein, das nach und aufgrund der Verhandlung durch sein abschließendes Urteil der Vernunft diejenigen Bedingungen zuweist, unter denen sie tatsächlich gesetzgebend ist.
A. Die Verschiedenheit der Gesetzgebungen Diesen Urteilsspruch, der den Streit der Vernunft mit sich selbst beendet, fassen wir als Kants transzendentalphilosophischen Grundsatz A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
569
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
auf, der die Verschiedenheit der epistemischen Gebiete aussagt, auf denen die Vernunft jeweils gesetzgebend ist. Kant formuliert ihn in der »Architektonik der reinen Vernunft« folgendermaßen: »Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System. Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist, die der Sitten nur auf das, was da sein soll … Die Metaphysik theilt sich in die des speculativen und praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft und ist also entweder Metaphysik der Natur, oder Metaphysik der Sitten. Jene enthält alle reine Vernunftprincipien aus bloßen Begriffen (mithin mit Ausschließung der Mathematik) von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge; diese die Principien, welche das Thun und Lassen a priori bestimmen und nothwendig machen.« 14 Auf dem Gebiet der Natur nun sei die Vernunft durch diejenigen Sätze gesetzgebend, die die moderne Naturwissenschaft als Prinzipien enthält. Kant beschreibt deren epistemischen Status in der »Kritik der reinen Vernunft« als »synthetische Urteile a priori«. Diese Urteile seien zwar a priori, weil ihre Begriffe unabhängig von aller Erfahrung dem reinen Verstand entspringen; aber sie gelten nicht unabhängig von der Erfahrung, da sie allein von empirischem Gebrauch sind. Sie formulieren als transzendentale Gesetze die Bedingungen der Möglichkeit einer Naturerkenntnis, weil sie in das Mannigfaltige der sinnlichen Erfahrung den Zusammenhang und die gesetzliche Einheit der Erkenntnis bringen. In der »Transzendentalen Analytik« erklärt Kant die Möglichkeit einer solchen Synthesis durch den Begriff der apriorischen Konstruktion, nach der die Begriffe des reinen Verstandes keinen anderen Gebrauch haben, als auf Gegenstände der Sinne angewandt zu werden. – Nach jenem richterlichen Urteilsspruch repräsentieren also weder Urteile, die den Boden des sinnlich Erfahrbaren übersteigen, noch Aussagen, die nur aus Erfahrung gewonnen sind, eine wirkliche Erkenntnis, sondern allein diejenigen Sätze der modernen Naturwissenschaft, in denen die reiKrV B 868. – In der Einleitung zur »Kritik der Urteilskraft« gebraucht Kant statt des Ausdrucks »Gegenstand« den des »Gebietes«, den wir im Folgenden verwenden werden: »Unser gesamtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe, und das des Freiheitsbegriffs; denn durch beide ist es a priori gesetzgebend. Die Philosophie teilt sich nun auch, diesem gemäß, in die theoretische und die praktische …« (KU V 174).
14
570
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft: Natur und Moral
nen Begriffe der Logik und Mathematik mit empirisch gewonnenen Erfahrungsbegriffen verbunden sind. Es gelte daher, formuliert Kant diese Art der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Natur, »unwidersprechlich: dass die reinen Verstandesbegriffe niemals von transzendendalem, sondern jederzeit nur von empirischem Gebrauche sein können, und dass die Grundsätze des reinen Verstandes nur in Beziehung auf die allgemeinen Bedingungen einer möglichen Erfahrung auf Gegenstände der Sinne, niemals aber auf Dinge überhaupt (ohne Rücksicht auf die Art zu nehmen, wie wir sie anschauen mögen) bezogen werden können.« (B 303) Deshalb können Vernunftideen, die auf das Ganze der Erfahrung gehen, niemals konstitutive Prinzipien sein, sondern haben für die Naturerkenntnis eine nur heuristische und regulative Funktion 15 . Auf dem Gebiet der Sitten hingegen erklärt Kant die Vernunft als unmittelbar für den Willen gesetzgebend, weil sie die Grundsätze des Handelns weder göttlichen Geboten entnimmt noch aus den Erfahrungen ableitet, sondern das menschliche Begehrungsvermögen durch ihr Gesetz unmittelbar bestimmt. Diese Art der Gesetzgebung beruht, wie Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« darlegt, auf der Autonomie einer reinen praktischen Vernunft, die den Willen durch ihr Gesetz als bloßer Form einer allgemeinen Gesetzgebung bestimmt. Der Endzweck, d. h. der durch die reine praktische Vernunft gewollte Gegenstand, sei gemäß der Art der praktischen Gesetzgebung dasjenige Gute, in dem die begehrte Glückseligkeit, der Zustand der Zufriedenheit, die Folge eines freien und zugleich vernünftig-sittlichen Willens ist. – Hier also enthält jener Urteilsspruch über die Vernunft das Prinzip der modernen Ethik, nach dem das Sittliche der praktischen Grundsätze unabhängig von gegebenen Zwecken, Einsichten oder Erfahrungen ist und seinen Bestimmungsgrund in der Autonomie des Willens hat. Die Grundsätze der theoretischen Naturerkenntnis können daher im Praktischen niemals von konstitutiver Bedeutung sein; sie geben nur den »Typus« des Sittengesetzes für moralische Urteile ab. 16
Siehe: Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft, KrV B 670– 696. 16 Siehe: Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft, KpV V 67–71. 15
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
571
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
B.
Die richterliche und die menschliche Vernunft
Statt nun auf diese zwei Arten der epistemischen Gesetzgebung und die damit verbundenen hermeneutischen und systematischen Fragen und Probleme der kantischen Transzendentalphilosophie einzugehen, werden wir uns im Weiteren auf den nur scheinbar trivialen Umstand konzentrieren, dass jener transzendentalphilosophische Grundsatz von der Verschiedenheit der zwei epistemischen Gebiete sich auf die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft bezieht. Denn das Kantische Schiedsgericht trifft, als Ort richterlicher Vernunft, seinen Urteilsspruch nicht über die Vernunft schlechthin, sondern über die menschliche Vernunft. Damit aber hängt das Gerichtsurteil über die Verschiedenheit der Gesetzgebungen, durch das Kant den Streit der Vernunft mit sich geschlichtet sieht, offensichtlich in spezifischer Weise vom Menschen ab. Denn es ist eben diese Beschaffenheit des Menschen, die den epistemischen Status der zweifachen Gesetzgesetzgebung durch das Natur- und das Sittengesetz begründet. Diese Abhängigkeit des Richterspruchs vom Menschen muss jedoch die Frage provozieren: was ist der Mensch, über dessen Vernunft Kants Vernunftgericht dieses Urteil fällt? Wollte man nun diese Beschaffenheit des Menschen benennen, für die diese doppelte Gesetzgebung gilt, so müsste man schon vor dem Richterspruch wissen, was der Mensch ist, dem sie zukommt. Damit scheint Kants Gerichtsverfahren jedoch zirkulär zu werden: um zu erkennen, was der Mensch ist, müssen diejenige Gesetze schon die Gültigkeit besitzen, die doch durch die Erkenntnis des Menschen erst eingesehen werden soll. Die eigentümliche Art der Gesetzgebung ist durch eine Anthropologie begründet, die ihrerseits diese Gesetzgebung schon voraussetzt. Kants transzendentalphilosophischer Grundsatz über die Verschiedenheit der Gesetzgebungen menschlicher Vernunft setzt mithin eine Anthropologie, diese aber jenen voraus. Aus dieser Zirkularität der Begründung folgt nun erstens, dass die gesuchte Anthropologie, die jene Teilung der menschlichen Vernunft auf die zwei Erkenntnisgebiete der Natur und der Sitten erklärt, nicht empirisch sein kann. Denn der Mensch, wie er durch die Erfahrung erkannt wird, wird, dem Richterspruch gemäß, keinesfalls als das Wesen erkannt, das eine Vernunft besitzt, die im Praktischen bloß durch sich selbst gesetzgebend ist. Zweitens aber kann eine solche Anthropologie auch nicht durch die Vernunft begründet sein, 572
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft: Natur und Moral
weil der Mensch sich, gleichfalls nach diesem Richterspruch, dadurch nur als das Wesen erkennt, das weiß, was es tun soll, nicht aber als das, was es ist. Die gesuchte Anthropologie kann drittens aber auch keine Lehre sein, die aus der Art, wie der Mensch seine Vernunft gebraucht, darauf schließt, was der Mensch ist; denn eine solche Lehre würde eben die Art der Gesetzgebung voraussetzen, die doch durch Rekurs auf den Menschen erklärt werden soll. Eine Anthropologie also, welche die eigentümliche Art der doppelten Gesetzgebung für den Menschen erklärt, kann weder empirischer noch praktischer noch transzendentaler Natur sein. Dem kantischen Richterspruch über die Art, wie die menschliche Vernunft gesetzgebend ist, ist damit eine Anthropologie vorausgesetzt, die – vor allem menschlichen Erkennen und Wollen – Aussagen über eine ›ursprüngliche Natur‹ des Menschen enthält und die erklärt, dass und warum diese Art der Gesetzgebung für den Menschen von unbedingter Gültigkeit ist 17 . Wir werden sie Kants »epistemologische Anthropologie« nennen, weil Kant in ihr – auf der Meta-Ebene – die Bedingungen, Umstände und Gründe formuliert, unter denen die Grundsätze der modernen Naturwissenschaft für das menschliche Erkennen und die Grundsätze der modernen Moral für das menschliche Wollen den epistemischen Status von unwidersprechlichen Tatsachen haben. Von ihrer Rekonstruktion erwarten wir, dass sie uns den Richterspruch des »wahren Gerichtshof(s)« (B 779) zu verstehen erlaubt, dass die Grundsätze der erfahrungsabhängigen Bedingtheit aller Naturerkenntnisse sowie der erfahrungsunabhängigen Unbedingtheit aller sittlich-praktischen Erkenntnisse nicht schlechthin, sondern nur für die menschliche Erkenntnisart gelten, dass sie aber für die menschliche Erkenntnis nicht von bedingter, sondern von unbedingter Gültigkeit sind.
Wenn Kant in seiner »Logik« erklärt, die Philosophie »in weltbürgerlicher Bedeutung« behandele die Frage nach dem Menschen als vierte, dann scheint es, als fasse die Anthropologie die Fragen der Metaphysik, der Moral und der Religion zusammen. Wenn er dann jedoch schreibt: »Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen« (L, IX 25), dann ist für ihn die Anthropologie nicht die ›Summe‹ der ersten drei, sondern liegt ihnen zu Grunde.
17
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
573
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
II. Kants »epistemologische Anthropologie« 1. Betrachtet man Kants Aussagen über das Wesen des Menschen, so sind sie weitgehend unproblematisch. Kant folgt der traditionellen Definition, nach der der Mensch das »mit Vernunft begabte Erdwesen« (ApH VII 119) ist, dem als lebendem Wesen die Vermögen der Erkenntnis, des Begehrens und das Gefühl der Lust zukommen und als vernünftigem Wesen das Vermögen, nach Begriffen und Prinzipien zu urteilen und zu handeln. Sowohl die drei Kritiken Kants als auch seine Schrift »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« lassen sich auf der Grundlage dieser Definition als Untersuchungen dieser Vermögen des Menschen und ihres ihm angemessenen Gebrauchs verstehen. Unklarheiten und Irritationen entstehen jedoch, wenn man die Aussagen Kants über die Bestimmung des Menschen in den Blick nimmt, die nach dem »Weltbegriff« (B 866) die Zwecke des menschlichen Daseins formulieren. In der »Transzendentalen Dialektik« heißt es, dass die »höchsten Zwecke unseres Daseins« die »Theologie, Moral, und durch beider Verbindung, Religion« (B 395, Anm.) sind, die auf der Verknüpfung der Idee Gottes mit der Idee der Freiheit zur Idee der Unsterblichkeit, »als eine(m) notwendigen Schlusssatz« (ebd.) beruhen. Insofern wäre also die Bestimmung des Menschen die Religion als ein Wissen um die Unsterblichkeit, zu dem alles andere Wissen hinführt. In der »Transzendentalen Methodenlehre« jedoch schreibt Kant, dass diese wesentlichen Zwecke darum noch nicht die höchsten sind, weil »deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) »nur ein einziger sein kann« (B 868). Dieser einzige Zweck aber sei »kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral.« (ebd.; H. v. m.) Halten wir hinsichtlich dieser beiden Aussagen über Religion und Moral zunächst nur fest, dass die Bestimmung des Menschen für Kant offenbar nicht theoretisch-spekulativer Natur ist. Zwar finde die menschliche Vernunft, wie er die »Kritik der reinen Vernunft« beschließt, ihre Vollendung in der Metaphysik, weil sie die Wißbegierde »zur völligen Befriedigung« (B 884) bringe; und bilde die Wissenschaft, wie er am Schluss der »Kritik der praktischen Vernunft« darlegt, »die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt« (V 163). Aber das Wissen ist nicht das Telos, sondern ist der Religion und der Moral vorgeordnet. Die Philosophie in weltbürgerlicher Ab574
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
sicht sei vielmehr »die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt.« (IX 24) Daher sei das für den Menschen höchste Gut nicht – wie auch schon für Descartes – die Befriedigung der »Wißbegierde« 18 , sondern das Praktische, das im Moralischen des Handelns und der damit verbundenen Hoffnung besteht. Diese »ganze Bestimmung des Menschen«, die den einen Endzweck des Menschen bezeichnet, hat Kant desöfteren vom einzelnen, von »meinem denkenden Selbst« (B 479) oder »unsichtbaren Selbst« (V 161), her gedacht. In dieser Hinsicht nennt er in der »Kritik der praktischen Vernunft« den Endzweck alles menschlichen Handelns die nach der Erfüllung der moralischen Pflicht proportionierte Glückseligkeit. Sie sei das höchste Gut für den Menschen, in dem die beiden »äußerst ungleichartigen« (V 111) Güter, das material-empirische Prinzip der eigenen Glückseligkeit mit dem formal-logischen Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung, »Glückseligkeit und Tugend zusammen« (V 110), verbunden sind. Da nun aber die Sinnenwelt eine solch innere Verbindung dieser beiden Güter niemals darbietet, werden wir das höchste Gut, wie es in der »Kritik der reinen Vernunft« heißt, »als eine für uns künftige Welt annehmen müssen.« (B 839) In dieser künftigen, »für uns jetzt nicht sichtbare(n), aber erhoffte(n) Welt« (B 841) werde die erstrebte Glückseligkeit am Maße der Tugend des Lebenswandels ausgeteilt. Hier also sind Moral und Religion so verbunden, dass das Moralische des Handelns selbst auf die Idee eines künftigen Lebens verweist. Diesem Begriff vom Menschen als Individuum und dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit steht nun entgegen, dass Kant wiederholt vom Endzweck als »allgemeiner Glückseligkeit« 19 spricht. In der »Kritik der reinen Vernunft« beschreibt er ihn als ein »System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit«. In diesem System würde »die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit, selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein« (B 837). Er nennt dieses System einen »corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr [der Sinnenwelt], sofern deren In der »Kritik der Urteilskraft« spricht Kant gar vom »Dünkel der Wissbegierde« (V 479), zur Erkenntnis der Unsterblichkeit der Seele gelangen zu wollen. 19 KrV B 837, B 878; KpV V 36; KU V 435. 18
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
575
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat.« (B 836) Und auch in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« schreibt Kant vom Reich der Zwecke als einer »systematische(n) Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze« (IV 433). – Wenn, so folgt daraus, der Endzweck für Kant nur ein einziger sein kann, dieser aber kein anderer ist als die »ganze Bestimmung des Menschen«, dann ist das Ganze dieser Bestimmung offenbar dem Begriffe nach als die Glückseligkeit zu verstehen, in der Tugend und Glück genau proportioniert sind, dem Ideal nach aber nicht als die eigene Glückseligkeit, sondern als Glückseligkeit der Menschheit als einem solchen Reich der Zwecke unter moralischen Gesetzen. Während Kant es in der »Kritik der reinen Vernunft« offenlässt, ob dieses Ganze der Bestimmung sich »in diesem, oder einem anderen Leben« (B 840 f.) erfüllt 20 , konkretisiert er in seiner Schrift über »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« dann jenes Reich der Zwecke als Errichtung des künftigen »Reichs Gottes auf Erden«. 21 Hier denkt Kant den Menschen nicht mehr vom Individuum als »denkendem Selbst« her, sondern anthropologisch als Gattungswesen, dessen ganze Bestimmung jener »corpus mysticum« sei, das seine Wirklichkeit in einem künftigen Reich auf Erden unter der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft hat. 22 In der Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« dann sieht er das »größte Problem für die MenschengatDem gegenüber Habichler 1989, 149: »Kant (wehrt sich), … die Unvollkommenheit dieser Welt auf eine jenseitige Wirklichkeit hin zu überspringen und damit aus der irdischen Verfasstheit der Geschichte zu entfliehen.« 21 Schon in den 70er Jahren schreibt Kant: »Das Reich Gottes auf Erden: das ist die letzte Bestimmung des Menschen« (Reflexion 1396; XV 608). – Wimmer 2004, 388: »Kant holt die religiöse Vorstellung vom Reiche Gottes gleichsam vom Himmel auf die Erde herab.« 22 Vgl. Kleingeld 1993, 156: »… weil Kant erstens das Unsterblichkeitspostulat aus einer individuellen Perspektive entwickelt und weil zweitens die vollkommene Tugend erst jenseits dieser Welt erreicht werde, betrifft die Frage nach der Möglichkeit vollkommener Tugend, wenn sie in dieser Weise gestellt wird, nicht die Möglichkeit einer moralischen Welt als Welt sittlicher Subjekte. Für eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer solchen moralischen Welt genügt die Möglichkeit der eigenen Annäherung an die Heiligkeit nicht. Vielmehr müsste man dazu annehmen dürfen, dass auch andere sich moralisch bessern werden. In mehreren geschichtsphilosophischen Texten geht Kant gerade auf dieses Problem ein …« 20
576
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
tung« (VIII 22) nicht allein in der Errichtung eines ethischen Gemeinwesens, sondern einer Gesellschaft unter bürgerlichen Gesetzen, »in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung« (VIII 22), die er in der Schrift zum »ewigen Frieden« zur »Weltrepublik« (VIII 357) unter einer moralischen Gesetzgebung erweitert. In der »Kritik der Urteilskraft« schließlich bestimmt er den Menschen als das moralische Subjekt, dem als Endzweck »die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist« (V 434). Dieser Endzweck werde freilich von »kein(em) Glied aller Zeugungen des Menschengeschlechts«, sondern nur von der Gattung völlig erreicht. 23 2. Versteht man nun diese Aussagen Kants über die Bestimmung des Menschen nach dem »Weltbegriff« als das Fundament, das Kant sowohl seinem Urteilsspruch über die zwei Arten der Gesetzgebung als auch seiner Untersuchung der menschlichen Erkenntnisvermögen und -kräfte zugrunde legt, dann scheint eine angemessene Rekonstruktion der kantischen Philosophie von dieser Anthropologie ihren Ausgang nehmen zu müssen. Kants Untersuchungen der menschlichen Erkenntniskräfte können dann nicht auf die Analyse der menschlichen Seelenvermögen beschränkt werden, sondern sind als Mittel zu verstehen, die der Beförderung dieses Endzwecks des menschlichen Daseins dienen. Die Rekonstruktion muss daher synthetisch verfahren, indem sie Kants kritische Untersuchungen der Erkenntnisvermögen zugleich als teleologia rationis humanae auf das dem Menschen höchste Gute, jenes Reich der Vernunft auf Erden, bezieht. Diese zugrunde gelegte Anthropologie kann freilich weder nach dem »Schulbegriff« als ein System vorgetragen werden noch in »pragmatischer Absicht« vom Menschen als vernunftbegabtem Erdwesen berichten. Kant trägt sie denn auch nach Art einer ›heiligen Geschichte‹ vor, die von der ursprünglichen Vernunftnatur des Menschen als Gattungswesen, von seinem Abfall vom Ursprung durch eigene Tat, vom vergangenen Kampf des guten Prinzips mit dem bösen, vom Sieg des guten über das böse in der Gegenwart und von der künftigen Herrschaft des Vernunft als dem Endzweck des menschlichen Daseins erzählt. Diese Geschichte beantwortet die offenen Fragen: warum die menschliche Vernunft auf die Erkenntnis 23
VIII 65; siehe auch: IGA VIII 23, Anm.; VIII 61. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
577
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
des Ganzen geht, Kants Vernunftgericht aber urteilt, dass ihr dies unmöglich sei; warum die menschliche Vernunft als höchstes Gut die eigene Glückseligkeit begehrt, das Gericht ihr aber die allgemeine Glückseligkeit unter moralischen Gesetzen vorschreibt; warum also die menschliche Erkenntnis nur bedingt, das menschliche Handeln aber unbedingt ist; und was der ›Sinn‹ ist, dass es so ist. Diese Geschichte vom Menschen, seinem Dasein und seiner Bestimmung, deuten wir als den ›Mythos der Moderne‹, weil sich in ihr das moderne, auf die Trennung von Natur und Moral gegründete, Denken selbst auslegt. Den Rahmen dieser Erzählung gibt Kant in seiner Schrift über »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Er unterzieht in ihr zwar die faktischen Religionen am Maßstab der reinen praktischen Vernunft einer kritischen Prüfung und zeigt, dass die Moral selbst »unumgänglich zur Religion (führt)« (VI 6). Sie setzt aber gerade deshalb als Gegenstand der Untersuchung nicht die Erkenntnisvermögen, sondern den Menschen selbst voraus. Denn, dass Moral unumgänglich zur Religion führt, kommt nach Kant nicht Vernunftwesen überhaupt, sondern ausdrücklich und ausschließlich dem Menschen zu. Es entspringt dessen eigentümlicher Natur 24. Daher enthält Kants Schrift über die Religion eine Anthropologie, die das Spezifische der menschlichen Erkenntnisart aus der Natur des Menschen erklärt. Zur Rekonstruktion dieser »epistemologischen Anthropologie«, die die Tatsache der Trennung der menschlichen Vernunft in die zwei Gebiete, Natur und Moral, aus der »Natur des Menschen« erklärt, gehen wir zuerst dieser Natur, der ursprünglichen Anlage zum Guten und dem natürlichen Hang zum Bösen, nach. Im Anschluss daran rekonstruieren wir Kants Darstellung des Menschen als des Subjekts, Dieser Zusammenhang von Moral, Religion und Mensch lässt sich vorläufig so verständlich machen: Moral, verstanden als Bestimmung des Willens durch das Vernunftgesetz, kommt allen Wesen zu, die Vernunft und Willen haben; sie bedarf »zum Behufe ihrer selbst … keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug.« (RGV VI 3) Religion hingegen, verstanden als Verehrung übersinnlicher Wesen, kommt nach allgemeiner Auffassung den Menschen zu. Wenn Kants These nun ist, dass Moral unumgänglich zur Religion führt, dann kann dies Unumgängliche nicht nur nicht für alle moralischen Wesen, sondern nur für Menschen gelten, sondern setzt auch einen bestimmten Begriff vom Menschen voraus, so dass nach diesem Begriff für den Menschen die Folge Moral ! Religion unumgänglich gilt. Um also diese These zu begründen, bedarf es einer Theorie über das, was der Mensch von Natur ist.
24
578
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
das geschichtlich den Kampf der zwei Prinzipien, des guten und des bösen, austrägt, der mit dem künftigen Sieg des guten endet. Dieser anthropologische Kontext erklärt den Sinn und Zweck, auf den hin Kant die Trennung der Sphären, Wissenschaft, Moral und Kunst, nach dem »Weltbegriff« (B 866) bezogen sieht.
A. Die »Natur des Menschen« In seiner »Religionsschrift« gibt Kant die Erklärung, warum der Grund für die Trennung der zwei Gebiete, Moral und Natur, nicht die Vernunft selbst sein kann. Denn es wäre widersprechend, die Vernunft selbst als den Ursprung der Teilung zu denken, da sie nicht ein Unbedingtes setzen kann, das sie zugleich dementiert. Einerseits also die eine Vernunft als schlechterdings gesetzgebend anzunehmen, sie aber zugleich als Ursache für zwei ganz verschiedene Arten der Gesetzgebung anzuführen, sei, wie Kant ausführt, nicht nur in logischer Hinsicht widersprechend; es zeuge auch in moralischer Hinsicht von einer böser Gesinnung. Denn mit einer solchen sich dementierenden, »gleichsam boshafte(n) Vernunft« würde der Widerstreit gegen das Vernunftgesetz selbst zur Triebfeder erhoben, »und so das Subject zu einem teuflischen Wesen gemacht« (VI 35). Gleichfalls kann aber auch nicht, was Kant hier nicht ausführt, die spekulative Vernunft als Grund der Teilung angenommen werden; denn es wäre ebenfalls widersprechend, einerseits die sinnliche Bedingtheit zum Prinzip aller Erkenntnis zu erheben, andererseits aber die Unbedingtheit dieses Prinzips zu bestreiten. Eine solche Vernunft wäre zwar nicht »boshaft«, aber »antinomisch«, weil sie das Entgegensetzte ihrer eigenen Gesetzgebung enthielte. Daher kann der Grund für das friedenstiftende Urteil jenes »wahren Gerichtshofs« (B 779) über die Gesetzgebungen der menschlichen Vernunft nicht die Vernunft selbst sein. Kant weist aber auch die Erklärung zurück, die »man … gemeiniglich anzugeben pflegt« (VI 34), dass der Grund für die Verschiedenheit der moralischen und kognitiven Gesetzgebung in der Sinnlichkeit liege. Denn, so das Argument, würde man die Trennung in das, was nach dem Sittengesetz sein soll, und in das, was nach dem Naturgesetz ist, auf die Sinnlichkeit zurückführen, so würde die Sinnlichkeit unsinnigerweise zu einem Vermögen der Prinzipien erklärt. Sie sei jedoch »Gegner der Grundsätze überhaupt« (VI 58, Anm.). Auf diese Weise erklärte man die Kluft zwischen dem, was A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
579
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
sein soll, und dem, was ist, aus einer ›Schwäche‹ der menschlichen Natur, wodurch sie jedoch allenfalls als ein kontingenter Zustand beschrieben, nicht aber als Grundgesetz der menschlichen Erkenntnis überhaupt begriffen wird. Da also weder die Vernunft als Vermögen des Unbedingten noch die Sinnlichkeit als Vermögen des nur Bedingten die Ursache für die Teilung der zwei epistemischen Gebiete ist, kann als Grund der Teilung nur die Natur des Menschen angenommen werden, deren Beschaffenheit sowohl das Unbedingte dieser Teilung als auch die Teilung des Unbedingten bewirkt.
B.
Das gute Prinzip: die »sittliche Ordnung« in der menschlichen Natur
Kant übernimmt zunächst den Begriff vom Menschen, wonach ihm die zwei Vermögen der Sinnlichkeit und des Denkens zukommen. Während eine physiologische Anthropologie nun darauf geht, was die Natur aus dem Menschen, und die pragmatische darauf, was der Mensch aus sich macht (VII 119), gibt Kants epistemologische Anthropologie die Bestimmung dessen, was der Mensch selbst ist. Hinsichtlich dieses Seins nimmt Kant nun an, dass zwischen den zwei Vermögen des Menschen, Sinnlichkeit und Denken, kein Zwiespalt besteht, sondern beide Vermögen gleichwesentlich sind. Sie sind zwei Dispositionen, die als solche zur Möglichkeit des Menschen überhaupt gehören, die er also zum theoretischen wie praktischen Gebrauch ›vorfindet‹. Beide sind insofern dem Menschen ›angeboren‹. 25 Die Annahme der Gleichwesentlichkeit hat zur Folge, dass Kant ganz selbstverständlich annimmt, dass der Mensch von Natur sterblich ist. Er versteht die Sinnlichkeit nicht als Strafe für vormalige Vergehen oder als Kerker der Seele; sie gehört zur Möglichkeit des Menschen überhaupt. (vgl. Kants Schwierigkeiten, die Geschichte vom Sündenfall zu verstehen: »Darum wird der erste Mensch … [und] sein Weib … als zum Sterben um ihrer Übertretung willen verdammt vorgestellt, obgleich nicht abzusehen ist, wie, wenn diese auch nicht begangen worden, thierische, mit solchen Gliedmaßen versehene Geschöpfe sich einer anderen Bestimmung hätten gegenwärtigen können.« VI 73, Anm.) – Ebenso rechnet Kant das Denkvermögen zur Natur des Menschen, das daher kein Geschenk oder ein (recht- oder unrechtmäßig) erworbenes Gut sei, sondern dessen unmittelbarer Besitz, von dem er allerdings einen schlechteren oder besseren Gebrauch machen kann. Vgl. MM VIII 110: »Der erste Mensch konnte also stehen und gehen; er konnte sprechen (1. B. Mose Kap. II, V. 20), ja reden, d. i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen (V. 23), mithin denken.« 25
580
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
Nun geht Kant jedoch über diesen Begriff vom Menschen einen entscheidenden Schritt hinaus, indem er nicht die transzendentalphilosophische Frage beantwortet, wie durch den Gebrauch dieser Vermögen dem Menschen eine Erkenntnis möglich ist, sondern dass er – vor allem Gebrauch – die Frage nach dem ›internen‹ Bestimmungsverhältnis beider Vermögen stellt, oder, wie wir sagen wollen, nach der ›Ordnung der Vermögen‹ : wenngleich beide Vermögen, das obere und das untere, gleichwesentlich sind, – ist der Natur nach das Denken das die Sinnlichkeit Bestimmende oder umgekehrt die Sinnlichkeit das das Denken Bestimmende? Damit aber setzt Kant den Erkenntnisfragen der Metaphysik, Moral und Religion die Klärung der anthropologischen Frage nach der Natur des Menschen überhaupt voraus. Das erste Bestimmungsverhältnis nun, worin die Vernunft als das Vermögen zu denken die Sinnlichkeit als das Vermögen der Wahrnehmung und Empfindung bestimmt, nennen wir mit Kant die »sittliche Ordnung«, weil diese Ordnung als eine Anlage in der menschlichen Natur die Möglichkeit enthält, dass der Mensch sittlich handelt. Da Kant freilich die Existenz einer solchen Anlage nur behauptet, sie gleichwohl als Bedingung für die Gesetzgebung der Vernunft auf dem Gebiet der Moral für schlechterdings notwendig erachtet, werden wir nach der Darstellung dieser Anlage ausführlich den Voraussetzungen und Gründen nachgehen, die uns diese Annahme Kants verständlich machen können. 1.
Die Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit durch das Vernunftgesetz
In der »Religionsschrift« schreibt Kant dem Menschen neben den Anlagen zum Guten, die in seiner sinnlich-physischen Natur begründet sind, der Selbsterhaltung des Einzelnen wie der Gattung sowie der vergleichenden Selbstliebe, eine ursprüngliche »Anlage für die Persönlichkeit« (VI 27) zu. Diese müsse als eine besondere Anlage verstanden werden, da sie weder »in dem Begriff der vorigen enthalten« (VI 26, Anm.) sei noch aus der Tatsache folge, dass der Mensch Vernunft habe. Da der Mensch nun aber eine Persönlichkeit ist, d. h. ein vernünftiges »und zugleich der Zurechnung fähige(s) Wesen(.)« (VI 26), müsse zu deren Möglichkeit eine Anlage in seiner Natur vorhanden sein. Diese Anlage sei »die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
581
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Triebfeder der Willkür« (VI 27). – Diese Art der Empfänglichkeit sei als die ursprüngliche, zur Möglichkeit des Menschen überhaupt gehörende, Disposition der Sinnlichkeit aufzufassen, durch die sie allein durch das Vernunftgesetz bestimmbar ist. Sie repräsentiert in der menschlichen Natur die sittliche Ordnung der Vermögen, nach der die Vernunft bloß durch ihr Gesetz das die Sinnlichkeit Bestimmende ist, und ermöglicht, dass die Vernunft im Praktischen unmittelbar gesetzgebend ist. Als diese ursprüngliche Disposition der Sinnlichkeit ist sie die anthropologische Bedingung für die Gesetzgebung der Vernunft auf dem Gebiet des Moral. 26 Was Kant sowohl unter der »Empfänglichkeit« als auch unter der »Achtung für das moralische Gesetz« versteht, führt er hier nicht näher aus. Er stellt nur fest, dass die Empfänglichkeit selbst nicht die Achtung für das Gesetz ist. Denn: »Die Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst« (VI 28). Aber die Empfänglichkeit dafür, »der subjective Grund hiezu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein und daher den Namen einer Anlage zum Behufe derselben zu verdienen.« (VI 28; H. v. m.) – In der »Kritik der praktischen Vernunft« jedoch führt Kant dieses Verhältnis zwischen der Empfänglichkeit und der Achtung für das Gesetz näher aus. Dort schreibt er, dass das moralische Gefühl, weil nicht sinnlichen Ursprungs, das einzige sei, »welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können« (V 73). Dieses Gefühl drücke sich als Triebfeder der Willkür in negativer Hinsicht im Gefühl der Demut aus, welches zwar nicht die Sinnlichkeit selbst demütige, wohl aber ihre Eigenständigkeit, d. i. die Selbstliebe als Eigendünkel, niederschlage; und in positiver Hinsicht im erhebenden Gefühl der Achtung für das Gesetz. 27 So verstanden bildet also jene Empfänglichkeit als einer AnRommel 1997, 177: »Die moralische Anlage ist in seiner Natur wesensmäßig vorgegeben. Ihr Status ist notwendig und ist der freien Disposition des Willens entzogen.« 27 Siehe V 73. – Kant beschreibt hier das moralische Gefühl als einen ›Vorgang‹ : negativ als Niederwerfung aller »Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen« (V 73; H. v. m.), und positiv als eine daran anschließende Erhebung des Gemüts. Doch diese Beschreibung setzt die Annahme einer Eigenständigkeit der Sinnlichkeit im Menschen voraus, welche alsdann die Frage nach dem Grund für ihre Niederwerfung aufwirft. In systematischer Hinsicht kann hier jedoch von »Ansprüchen der Selbstschätzung« noch gar nicht in Rede sein. In der »Religionsschrift« zielt Kant eindeutig auf eine ursprüngliche, je schon vorhandene Disposition der Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit durch das Vernunftgesetz im Menschen. Es 26
582
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
lage der menschlichen Natur die Disposition oder, wie Kant sagt, den »subjectiven Grund« (VI 28) für das – einzig a priori erkennbare – moralische Gefühl; sie ist das anthropologische Fundament für die Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit durch das Vernunftgesetz. Da nun dieses Gefühl der Achtung a priori erkannt wird, müsse es, wie Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« erklärt, als eine unmittelbare Wirkung des Vernunftgesetzes im menschlichen Gemüt angenommen und daher das Vernunftgesetz selbst als die Ursache dieses Gefühls der Achtung für es gedacht werden. Zwar sei, konkretisiert er dieses Verhältnis von Vernunft und Gefühl, die Empfänglichkeit »die Bedingung [H. v. m.] derjenigen Empfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursache [H. v. m.] der Bestimmung desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft, und diese Empfindung kann daher, ihres Ursprunges wegen, nicht pathologisch, sondern muss praktisch gewirkt heißen« (V 75). Dies bedeutet, dass der Mensch zwar die Empfänglichkeit für das moralische Gefühl als eine ursprüngliche Disposition hat, dass aber die Ursache dieses Gefühls weder diese Disposition noch die menschliche Willkür ist, sondern die reine, durch ihr Gesetz selbst praktische Vernunft, und dass dieser Ursache wegen das Gefühl der Achtung das dem Menschen einzig a priori erkennbare Gefühl ist. 28 2.
Die Unbegreiflichkeit der »sittlichen Ordnung«
Nun scheint es, als erkläre Kant das Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit hier durch die Kategorie der Kausalität: auf der einen geht daher hier nicht um die Frage, wie das moralische Gefühl als Triebfeder der Willkür in einem menschlichen Bewusstsein entsteht, sondern um die anthropologische Erklärung dieser Triebfeder als einer ursprünglichen Disposition der Sinnlichkeit. In dieser Hinsicht ist nicht das moralische Gefühl der Achtung für das Gesetz, sondern umgekehrt jene niederzuschlagende Eigenständigkeit der Sinnlichkeit erst noch zu erklären. 28 Während Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« schreibt: »Dieses Gefühl (unter dem Namen des moralischen) ist also lediglich durch Vernunft bewirkt« (V 76), heißt es in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«: »Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, was wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als von uns selbst auferlegt, ist es doch eine Folge unseres Willens …« (IV 401, Anm.) – Wie Kant beides behaupten kann, die Ursache der Achtung für das Gesetz sei das Vernunftgesetz selbst und doch der menschliche Wille, soll im Weiteren unsere Rekonstruktion der Beziehung von reiner Vernunft und menschlichem Willen klären. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
583
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Seite gebe es in der menschlichen Natur die Empfänglichkeit für das Vernunftgesetz als Bedingung des moralischen Gefühls; auf der anderen Seite gebe es die reine praktische Vernunft als Ursache, deren Wirkung dieses Gefühl sei. Die sittliche Ordnung, nach der die Vernunft im Menschen das Bestimmende ist, scheint so als ein Verhältnis von gegebenen Dingen vorgestellt zu werden, in dem das eine Ding, die reine praktische Vernunft, im anderen, der Sinnlichkeit, bloß durch ihr Gesetz das moralische Gefühl bewirkt. Aber die Verwendung dieser Verstandeskategorie der Kausalität taugt nicht, um die sittliche Ordnung als anthropologische Grundstruktur zu erklären. Es erklärt zwar, warum das Gefühl der Achtung für das Gesetz a priori erkannt wird; aber dazu müsste die Empfänglichkeit für das Gesetz als Bedingung dieses Gefühls doch irgend gegeben sein. Wodurch aber sollte diese ursprüngliche Disposition gegeben sein? Behauptete man, sie wäre der Anthropologie empirisch gegeben, wonach dem Menschen die Anlage zum Guten ›nach aller Erfahrung‹ zukomme, so widersprechen nicht nur die Erfahrungen dieser Behauptung – »denn da spricht die Geschichte aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie« (VI 20) –, sondern sie geht vor allem gänzlich fehl, weil diese Anlage dem Menschen doch vor aller Erfahrung als Möglichkeit des Menschen überhaupt zukommen soll. Würde man hingegen annehmen, dass das Dasein dieser Anlage aus reiner Vernunft bewiesen wird, dass sich also aus dem Begriff der reinen praktischen Vernunft auf die Existenz einer solchen Anlage schließen lässt, so widerspricht dem Kant ebenfalls: »Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen …« (VI 26, Anm.) Wenn also Kant diese Disposition zur Moralität in der Natur des Menschen verankert, dann kann das Bestimmungsverhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit weder als Kausalitätsbeziehung noch als logische Folgebeziehung begriffen werden, da das Dasein dieser Anlage weder sinnlich gegeben ist noch durch die Vernunft erschlossen werden kann. Für Kant folgt daraus, dass er zwar die Existenz einer solchen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur annimmt, dass diese Existenz aber dem Menschen unerklärlich und unbegreiflich ist und bleibt. Es sei weder zu erklären noch zu begreifen, wie sie dem Menschen überhaupt ursprünglich zukommen kann. Denn gerade weil der Mensch selbst nicht als ihr Urheber gedacht werden kann, sondern sie, wie Kant sagt, »in dem Menschen Platz genommen hat«, ist 584
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
nicht zu begreifen, »wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können« (VI 61). Damit bleibt aber auch, »wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), … ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem« (KpV V 72). 3.
Das Autoritätsverhältnis
Da die Aussage über die Existenz des Guten in der Natur des Menschen weder auf Erfahrungen noch auf Vernunftgründen beruht, Kant aber dennoch dieses Urteil trifft, benötigen wir zum Verständnis dieser Paradoxie offenbar einen anderen Rahmen als die Begriffe der Ursache oder des Grundes. Dieser Rahmen müsste erklären, was es heißt, wenn Kant an der Aussage festhält, dass dem Menschen jene beschriebene sittliche Ordnung ursprünglich ›einwohnt‹, gleichwohl feststellt, dass diese Tatsache dem Menschen unbegreiflich sei. Er müsste mithin die Unbegreiflichkeit dieser Tatsache begreiflich machen. Nun lässt sich natürlich leicht der Einwand erheben, Kant sei mit seinem Urteil über die »Natur des Menschen« eben dem Dogmatismus verfallen, den er ansonsten als überschwänglich kritisiert. Man hätte es damit aber nur kritisiert, nicht begriffen. Um daher die paradoxe Struktur dieses Urteils zu rekonstruieren, wollen wir erneut – wie schon bei Descartes – den Begriffsrahmen des Autoritätsverhältnisses verwenden. Während es uns dort darum ging, die Paradoxie der ›Gottesstruktur‹, die Unbegreiflichkeit der Begreiflichkeit Gottes, zu begreifen, soll es hier darum gehen, die Paradoxie der ›Menschenstruktur‹, das Unbegreifliche der Begreiflichkeit der moralischen Anlage, zu begreifen. Dazu nehmen wir an, dass das von Kant gemeinte Verhältnis der reinen Vernunft, die durch ihr Gesetz praktisch ist, zur menschlichen Natur, die für dieses Gesetz empfänglich ist, aus dem Grund weder erkannt noch erschlossen werden kann, weil es der Sache nach eine personale Beziehung des Menschen zu Gott darstellt. In diesem Rahmen stellt Kants Urteil über das Gute in der menschlichen Natur keine Erkenntnis eines gegebenen Sachverhalts dar, sondern drückt die Anerkennung Gottes als des, selbst unbegreiflichen, Urhebers dieses Guten im Menschen aus. Mit dieser Erklärung des Urteils bewegen wir uns freilich auf einem philologisch eng begrenzten Feld, gerade weil Kant in dieser Frage, bis A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
585
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
auf Ausnahmen, nur durch bescheidenes Schweigen redet. Wir hoffen dennoch, dass unser unbescheidenes Reden über das Innerste der kantischen »teleologia rationis humanae« Aufschluss zu geben vermag. a.
Der Mensch als »relative Person«
Legt man Kants Urteilen über die Anlage zum Guten und damit der »sittlichen Ordnung« in der menschlichen Natur das Autoritätsverhältnis zugrunde, dann ändert sich der Status dieser Urteile. Sie sind nicht mehr als Aussagen zu verstehen, die anthropologische Tatbestände beschreiben, sondern werden zu Aussagen des Subjekts über sich als Person. Der Ausdruck »Mensch« ist dann nicht mehr auf ein gewisses Objekt als ein »Weltwesen« bezogen, dem, unbegreiflich, die Empfänglichkeit der Achtung für das Gesetz als eine ursprüngliche Eigenschaft zugeschrieben werden muss, sondern ist das Subjekt, das über sich redet. In diesem selbstbezüglichen Kontext interpretieren wir den Satz: »Der Mensch hat in seiner Natur die Anlage zum Guten« als eine Aussage über die Beziehung des Subjekts zu sich selbst: das Subjekt weiß sich (erst) als Mensch, weil und indem es die Empfänglichkeit für das Vernunftgesetz als eine ihm ursprünglich innewohnende Anlage vorfindet. In diesem Sinne ist der Mensch nur Mensch – und damit Gegenstand der Anthropologie –, weil und insofern er diese Empfänglichkeit von Natur hat. Hätte er sie nicht, wäre er nicht Mensch. Diese Einheit des Unterschieds von Sein und Haben aber haben wir »Person« genannt. 29 Nun macht Kant, wie gesehen, in der Tat diesen Unterschied. Denn während der Mensch die Persönlichkeit ist, d. h. ein vernünftiges »und zugleich der Zurechnung fähige(s) Wesen(.)« (VI 26), scheine die Anlage dazu als »der subjective Grund hiezu … ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein« (VI 28). Kant unterscheidet demnach zwischen dem Menschen als Subjekt und seiner Natur als einem solUnser Begriff der Person, den wir zur Rekonstruktion von Kants Anthropologie verwenden, unterscheidet sich von Kants Begrifflichkeit. Für Kant bezeichnet »Person« entweder jedes vernünftige Wesen, das »als Zweck an sich selbst« (IV 428) existiert, oder einen praktisch-moralischen Wert, der die Moralität der Handlungen zur Bedingung hat. (Zu dieser durch H. Cohens »Ethik des reinen Willens« (1904) initiierten Debatte siehe: Kobusch 1997a, 132–139). In diesen Fällen hat »Person« jedoch die Bedeutung eines Verstandes- oder Vernunftbegriffs und drückt nicht die von uns gemeinte Beziehung des Menschen als Subjekt zu seiner ihm ursprünglichen Natur aus.
29
586
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
chen Zusatz: Was der Mensch ist, ist verschieden von dem, was er seiner Natur nach als Möglichkeit hat: Er ist Persönlichkeit, aber er hat die Anlage dazu als einen »Zusatz«, den er, unbegreiflich, in seiner Natur vorfindet. Dieser Unbegreiflichkeit wegen ist nun aber diese Einheit des Menschen als Person für Kant weder notwendig noch unauflöslich. Denn aus der Tatsache, dass der Mensch die Anlage zum Guten hat, folgt keineswegs, dass er gut ist. Und es ist eben diese Differenz, die das »Mensch-Sein« ausmacht: der Mensch hat die Anlage zum Guten als Mensch-Seinkönnen; aber er ist Mensch durch seine Persönlichkeit. Er ist daher diejenige Person, die gut sein kann, aber nicht schon deshalb gut ist. Diesen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen als Persönlichkeit und dem Haben der Anlage dazu bezeichnen wir mit dem Begriff der »relativen Person«, weil das Mensch-Sein in dieser Differenz zwischen dem Sein als Persönlichkeit und dem Haben der Anlage dazu besteht. b.
Gott als »absolute Person«
Stimmt unsere Deutung des Menschen als »relativer Person« mit den Aussagen Kants über das »Mensch-Sein« überein, so gehen wir darüber hinaus, wenn wir die unbegreifliche Ursache dieser Anlage erstens mit dem Namen »Gott« bezeichnen und sie zweitens als Autorität in der römisch-lateinischen Bedeutung der frei anerkannten Urheberschaft verstehen. Zwar spricht Kant selbst von der »Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage« (VI 50) im Menschen; aber grundsätzlich gestattet er ein Reden über Gott nur dann, wenn die Sätze als praktisch-moralische Postulate aufgefasst werden können. So seien Aussagen über Gott als den Weltschöpfer, den höchsten Gesetzgeber oder den künftigen Richter in theoretischer Hinsicht bedeutungslos, in praktischer Hinsicht aber gefordert, weil der Mensch sich in ihnen das Unbedingte der moralischen Gesetzgebung bewusst macht. Wir jedoch verwenden den Ausdruck »Gott« nicht, um mit ihm diese Ideen als notwendige Folgen des moralischen Handelns zu bezeichnen, sondern um mit ihm diejenige Ursache zu bezeichnen, die in der menschlichen Natur überhaupt die Möglichkeit zu moralischem Handeln bewirkt. Er soll nicht die begreifliche Folge, sondern die unbegreifliche Ursache bezeichnen, über die Kant daher begreiflicherweise schweigt. Was uns – trotz Kants Schweigen – berechtigt, über diese Ursache zu reden, begründen wir mit zwei Argumenten: zum einen sagt A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
587
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Kant selbst, dass die Anlage zum Guten in der Natur des Menschen eine Ursache hat. Denn unbegreiflich sei nicht, dass der Mensch diese Anlage hat, sondern »wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können« (VI 61). Kant schweigt daher nicht, weil es für diese Anlage gar keine Ursache gibt, sondern weil diese nicht zu erkennen ist. Er schließt damit aus, dass es der Mensch selbst sei, der sich die Anlage zum Guten gibt; aber nicht, dass sie ihm gegeben ist. Zum anderen erlaubt es der Begriff der Autorität, die Paradoxie zu erklären, dass die Anlage zum Guten zwar eine Ursache hat, diese aber zugleich unerkennbar ist. Denn unter »Autorität« ist kein Ding verstehen, das durch Begriffe erkannt würde, sondern, in römischer Tradition, diejenige Person, die als Urheber des eigenen Daseins frei anerkannt wird. Wenn wir nun über Gott als der Ursache der Anlage zum Guten im Menschen reden, indem wir ihm den Begriff der Autorität zuschreiben 30 , so können wir mit diesem Reden Kants Schweigen erklären. Denn Kants Schweigen drückt dann nicht nur aus, dass es hier in der Tat nichts zu erkennen gibt, sondern dass in diesem Schweigen zugleich Gott als die absolute Person, als der schlechterdings gute Ursprung des Guten im Menschen, anerkannt wird. Gott gilt als die Person, der der Mensch, als relativer Person, die Möglichkeit zum Guten als Naturanlage verdankt. Diese Art der Abhängigkeit und schweigenden Dankbarkeit aber begründet keine diskursive und allgemein mitteilbare Erkenntnis, sondern ein inneres Wissen um den Ursprung des Guten in der menschlichen Natur. Über dieses Wissen redet Kant selbst, soweit ich sehe, nur im Rahmen des »heiligen Geheimnisses« (VI 137). c.
Das Heilige und die Geheimnisse
Über das Heilige und die Geheimnisse schreibt Kant im dritten Teil der »Religionsschrift«, der vom Sieg des guten Prinzips über das böse kündet. Er unterzieht hier zunächst die verschiedenen Vorstellungen vom Göttlichen der Kritik: sind sie Vorstellungen, die der SinnlichAuch hier ist klar, dass wir den Autoritätsbegriff in einem anderen Sinn verwenden als Kant selbst, der ihn mit der potestas verwechselt und der Autonomie der Vernunft entgegensetzt (z. B. VI 180; SF VII 23). Für ihn sind Autoritäten daher nur dann legitim, wenn die von ihnen ausgehende Macht oder Gewalt durch die Vernunft begründet ist. Wir hingegen verwenden den Begriff zum Zweck der Rekonstruktion in der Bedeutung, die wir in der Einleitung beschrieben haben.
30
588
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
keit, der Einbildungskraft oder den Leidenschaften, entspringen, so sind sie unangemessene Anthropomorphismen oder Schwärmereien; wird das Göttliche hingegen als eine übersinnliche Vernunftidee verstanden, so ist deren Erkenntnis als fruchtlose Bemühung einer spekulativen Vernunft zu betrachten, die, statt Einheit in die sinnliche Erfahrung zu bringen, überschwänglich wird. 31 Akzeptabel sind Vorstellungen vom Göttlichen für Kant nur, wenn sie dazu dienen, die rein moralischen Prinzipien »auf menschliche Weise vorstellig zu machen« (VI 64, Anm.). Diese Versinnlichung des Übersinnlichen nennt Kant den »Schematism der Analogie (zur Erläuterung), den wir nicht entbehren können«, der aber, in eine Objektsbestimmung verwandelt, »von den nachtheiligsten Folgen ist.« (ebd.) So etwa dürfe die »heilige Drei, ein alter Mann, ein junger Mann und ein Vogel (die Taube)«, nicht gegenständlich, sondern nur als Symbol vorgestellt werden (ApH VII 172, Anm.); und mache der Mensch sich in den drei Vorstellungen vom Weltschöpfer, höchsten Gesetzgeber und Richter die Unbedingtheit der moralischen Gesetzgebung für sein Handeln bewusst. Daher sei das allein Heilige, das zu achten für den Menschen die höchste Pflicht ist, kein Objekt, sondern das moralische Gesetz selbst. Ein Geheimnis nun sei »etwas Heiliges, was zwar von jedem Einzelnen gekannt, aber doch nicht öffentlich bekannt, d. i. allgemein mitgetheilt, werden kann.« (VI 137) Ein solches Heiliges müsse zwar für den praktischen Gebrauch hinreichend erkannt werden können; für den theoretischen Gebrauch aber sei es etwas Geheimes, das als solches nicht öffentlich mitteilbar ist. Dieses Geheimnis, so verstehen wir Kants Unterscheidung von »gekannt« und »bekannt«, ist nun die Art eines inneren, nicht-diskursiven Wissens, das der Einzelne wohl hat, das aber nicht aus dem Gebrauch seiner Erkenntnisvermögen, Vernunft und Sinnlichkeit, hervorgeht. Vgl. auch KU V 459: »Die Einschränkung der Vernunft in Ansehung aller unserer Ideen vom Übersinnlichen auf die Bedingungen ihres praktischen Gebrauchs hat, was die Idee von Gott betrifft, den unverkennbaren Nutzen: dass sie verhütet, dass Theologie sich nicht in Theosophie (in vernunftverwirrende überschwengliche Begriffe) versteige, oder zur Dämonologie (einer anthropomorphistischen Vorstellungsart des höchsten Wesens) herabsinke; dass Religion nicht in Theurgie (ein schwärmerischer Wahn, von anderen übersinnlichen Wesen Gefühl und auf sie wiederum Einfluss haben zu können), oder in Idololatrie (ein abergläubischer Wahn, dem höchsten Wesen sich durch andere Mittel, als durch eine moralische Gesinnung wohlgefällig machen zu können) gerathe.«
31
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
589
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Ein solches Geheimnis, das nur im Innern des Menschen, im Subjektiven seiner moralischen Anlage, zu finden sei, sei das, das »uns durch unsre eigne Vernunft geoffenbart(.)« (H. v. m.) werde, das man daher zwar »in praktischer Beziehung ganz wohl verstehen und einsehen kann, was aber in theoretischer Absicht (zur Bestimmung der Natur des Objects an sich) alle unsre Begriffe übersteigt« (VI 142). Dieses Geheimnis habe eine Handlung zum Inhalt, deren Subjekt nicht der Mensch selbst ist, sondern durch die er sich in dem, was er seiner Natur nach ist und als Subjekt sein soll, bewirkt weiß. Zwar sei das Heilige, in Ansehung dessen es kein Geheimnis geben kann, das moralische Gesetz; »aber in Ansehung dessen, was nur Gott thun kann, wozu etwas selbst zu thun unser Vermögen, mithin auch unsere Pflicht übersteigt, da kann es nur eigentliches, nämlich heiliges Geheimniss (mysterium) der Religion geben, wovon uns etwa nur, dass es ein solches gebe, zu wissen und es zu verstehen, nicht eben es einzusehen, nützlich sein könnte.« (VI 138, Anm.) Zu dieser Art des »heiligen Geheimnisses«, so interpretieren wir, führt die Vernunft den Menschen selbst, weil die moralische Gesetzgebung zwar als Faktum eingesehen wird, dessen Ursache jedoch und dessen Grund dem Menschen unbegreiflich bleibt. Diese Art der Geheimnisse, die den Menschen als Person betreffen, teilt Kant der Natur, der Handlung und der Gesinnung des Menschen gemäß »in drei uns durch unsre eigene Vernunft geoffenbarte Geheimnisse« (VI 142) ein: das Geheimnis der Berufung, der Genugtuung und der Erwählung. Da die beiden letzteren jedoch konkretere, über die natürliche Anlage zum Guten hinausgehende Bestimmungen enthalten, beschränken wir uns auf Kants Darstellung des Geheimnisses der Berufung, das das Unbegreifliche des Guten in der Natur des Menschen und damit der sittlichen Ordnung seiner Vermögen zum Inhalt hat. a. Das Geheimnis der Berufung 1. Bevor wir Kants Darstellung nachgehen, soll zunächst die Bedeutung des Ausdrucks »Berufung« präzisiert werden; denn in der Regel verwendet Kant ihn im epistemischen Sinn als Begründungs- oder Legitimationsinstanz für Urteile oder Aussagen. In diesem Sinn einer Appellation gebraucht ihn Kant, wenn er etwa die Berufung auf die »Erfahrung« (B 373), den »gesunden Menschenverstand« (P IV 259, 369), einen »göttlichen Gesetzgeber« (B 801) oder »die höchste Weisheit« (T VIII 260) abweist. Der Ausdruck »Berufung« 590
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
jedoch, wie er hier gebraucht wird, meint keine Instanz, sondern eine Handlung in dem Sinn, dass jemand von jemandem berufen wird. Doch auch in diesem Kontext ist zu unterscheiden: im Bereich des Sozialen oder Politischen bedeutet die Handlung die Einsetzung von jemandem durch jemanden in ein bestehendes Amt; im personalen Sinne jedoch ist sie die Berufung von jemandem durch jemanden zu einer Sache, so wie ein Prophet von seinem Gott zur Mitteilung seines Willens berufen wird. – Da nun aber die beiden ersten Bedeutungen, die epistemische und die soziale, nichts Geheimnisvolles bergen, nehmen wir an, dass die Bedeutung, in der Kant den Ausdruck für das Geheimnis gebraucht, die personale im Sinne der »Berufung zu …« ist. In dieser Bedeutung drückt also der Begriff der Berufung eine Handlung aus, in der eine Person (oder mehrere) von einer anderen zu etwas Drittem, einer Sache, berufen wird. 2. Diese Berufung bezieht Kant nun auf die Natur des Menschen, auf das »Subjective unserer moralischen Anlage«, wo allein das Geheimnis nachzusuchen sei. Er führt zunächst aus: »Wir können uns die allgemeine unbedingte Unterwerfung des Menschen unter die göttliche Gesetzgebung nicht anders denken, als sofern wir uns zugleich als seine Geschöpfe ansehen« (VI 142). Nicht nur sei in Hinblick auf das Unbedingte des moralischen Gesetzes die Bestimmung des Willens als Unterwerfung des Menschen unter die göttliche Gesetzgebung zu denken, sondern aus dieser Verbindlichkeit des Gesetzes folge zudem, dass die Natur eines solchen Wesens als von Gott bewirkt angesehen werden und der Mensch sich daher als ein Geschöpf Gottes betrachten muss. – Gegen diesen Schluss wendet Kant nun ein, dass ein solches Selbstverständnis dem Prinzip der Sittlichkeit und aller Moralität entgegen sei. Denn die Moralität gründe allein auf dem Prinzip der Autonomie, die den Menschen zum freien Gebrauch seiner Kräfte bestimmt. Wird das Unbedingte der moralischen Gesetzgebung jedoch »nach dem Prinzip der Causalität« (VI 142) gedacht, so weiß der Mensch sich darin als bewirkt, nicht aber als frei, was doch der Grund alles Moralischen ist. – Einerseits, so das Widersprechende, lässt sich die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes nicht anders denken, als dass der Mensch als Geschöpf Gottes bewirkt sei; so aber ist er nicht frei. Andererseits ist es jedoch das Prinzip aller Moralität, dass der Wille des Menschen sich frei bestimme; so aber, ergänzen wir, fehlt dem Vernunftgesetz das Unbedingte der Verbindlichkeit. Angesichts dieser Antinomie schließt Kant: »Es ist aber für unsere Vernunft schlechterdings unbegreiflich, wie WeA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
591
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
sen zum freien (H. v. m.) Gebrauch ihrer Kräfte erschaffen sein sollen« (ebd.). Dieses Dilemma zwischen der Kausalität der Natur und der Freiheit des Willens drückt für Kant nun das »Geheimnis der Berufung« aus. Um der Autonomie willen dürfe der Mensch sich nicht als geschaffen, sondern müsse sich »schon als existierende(s) freie(s) Wesen betrachten« (VI 142). Daher dürfe er die Verbindlichkeit des Vernunftgesetzes nicht als Unterwerfung denken; sie sei vielmehr »eine bloß moralische, nach Gesetzen der Freiheit mögliche Nöthigung, d. i. eine Berufung zur Bürgerschaft im göttlichen Staate« … So ist die Berufung zu diesem Zwecke moralisch ganz klar, für die Speculation aber ist die Möglichkeit dieser Berufenen ein undurchdringliches Geheimniss.« (VI 143). Mit diesem Begriff der nach Gesetzen der Freiheit möglichen Nötigung 32 löst nun Kant zwar das Dilemma zwischen Kausalität und Freiheit, aber er expliziert mit ihm nicht das Geheimnis der Berufung. Denn statt zu erklären, was das »heilige Geheimnis der Berufung« bedeutet, wiederholt er nur: die Berufung sei als Nötigung »moralisch ganz klar« (ebd.) und kein Geheimnis; hingegen sei »die Möglichkeit dieser Berufenen« ein undurchdringliches Geheimnis. Was aber meint bei dem Hin und Her zwischen der Berufung, die kein Geheimnis ist, und der Möglichkeit der Berufenen, die das Geheimnis sei, die »Berufung als Geheimnis« bzw. das »Geheimnis der Berufung«? 33 Kant lässt dies im Dunkeln. Er bleibt bei der EntgegenL. W. Beck deutet diese Nötigung als »eine gewisse Disposition des Willens, in Übereinstimmung mit dem und aus Achtung für das Gesetz zu handeln. Der einzige Zweck moralischen Handelns liegt darin, der Herrschaft dieses Gesetzes zu dienen …« (Beck 1974, 133). 33 Darüber hinaus unterstellt der Begriff einer »moralischen Nötigung« eine Art Widerstreben gegen die Berufung, die ihre Ursache nur in einer Eigenständigkeit der Sinnlichkeit haben kann. Der Gedanke eines solchen Widerstrebens setzt aber schon die »Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten« in der menschlichen Natur voraus, die hier jedoch noch gar nicht notwendig ist. Denn das Geheimnis der Berufung hat nicht das Unerklärliche zum Inhalt, wie der verderbte Mensch moralisch handeln oder der böse Mensch eine gute Gesinnung haben könne, sondern wie das gute Prinzip »in dem Menschen Platz genommen hat« und die menschliche Natur dafür »auch nur habe empfänglich sein können« (VI 61). Gesetzt, der Mensch hat die Anlage zum Guten von Natur, dann ist nicht einzusehen, warum die Berufung zum Guten ihn nötigen sollte. In diesem Sinne erklärt Kant denn auch an anderer Stelle: das moralische Gesetz »dringt sich ihm [dem Menschen] vielmehr kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf; und wenn keine andere Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d. i. er 32
592
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
setzung von praktischer und spekulativer Vernunft, von der Klarheit des moralischen Gesetzes und der Undurchdringlichkeit der Ursache stehen: »Dass der Mensch durchs moralische Gesetz zum guten Lebenswandel berufen sei … : darüber belehren und dahin treiben zugleich Vernunft, Herz und Gewissen. Es ist unbescheiden, zu verlangen, dass uns noch mehr eröffnet werde« (VI 144 f.). Hier herrsche »tiefes Stillschweigen unserer Vernunft« 34 . 3. Wenn wir dennoch dem nachgehen, was das »Geheimnis der Berufung« meint, Kant aber nicht sagt, so knüpfen wir daran an, dass der Begriff der Nötigung zweifellos nicht das ausfüllt, was der Begriff der Berufung bedeutet. Denn Kant selbst bestimmt diesen Begriff als eine Handlung, in der, wie wir gesagt haben, eine Person eine andere zu einer Sache beruft. Wenn er daher das Kausalitätsprinzip zur Beschreibung dieser Berufung zurückweist, dann geschieht dies eben aus dem Grunde, dass die Berufung in der Tat kein Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf ist, sondern eine Beziehung von Subjekten, von »freie(n) Wesen« (VI 142), wie Kant sagt. Als eine dreistellige Relation charakterisiert sie eine Beziehung von Subjekten, in deren Zentrum eine ihnen gemeinsame Sache steht, zu der jemand von jemandem berufen wird. Diese Sache ist als »Ruf« oder »Auftrag« zu verstehen, den der Berufende dem Berufenden erteilt. Die Sache der Berufung nun ist das Gute oder das Moralische. Denn das, wozu Kant den Menschen berufen sieht, ist das, worauf die reine praktische Vernunft als ihr Objekt geht. Den Ruf aber oder den Auftrag, der von dieser Sache ausgeht, findet der Mensch als eine ihm gegebene Möglichkeit, als Anlage zum Guten in seiner Natur vor. Indem er nun diese ihm gegebene Möglichkeit als Ruf annimmt, indem er seinen Willen frei zum Guten bestimmt, folgt er ihm, um sich, wie Kant sagt, zum Bürger »im göttlichen Staate« zu machen. Hinsichtlich dieser Sache ist die Berufung des Menschen, wie Kant sagt, »ganz klar«; sie birgt kein Geheimnis. – Das Geheimnis der Berufung aber liegt darin, dass der Mensch als berufenes Subjekt das berufende Subjekt nicht erkennt. Er kennt zwar die Sache und
würde moralisch gut sein.« (VI 36) Die Berufung kann daher auch als »seelenerhebend« empfunden werden: »Aber eines ist in unsrer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt.« (VI 49) 34 Religion Pölitz; XXVIII.2.2., 1120. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
593
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
begreift sie als Auftrag; aber er kann sich kein Bild und keinen Begriff von dem Subjekt machen, das ihn beruft. Er kennt zwar seinen Auftrag, aber nicht den Auftraggeber. Er kann daher weder sagen, wer ihm den Auftrag gibt, noch warum ihm der Auftrag gegeben ist, sondern kennt nur den Auftrag. Der Berufung wegen also muss der Mensch ein anderes Handlungssubjekt annehmen, das ihn zum Guten beruft; des Geheimnisses wegen aber kann er über dieses Subjekt nichts aussagen. In diesem Sinne ist also das »Geheimnis der Berufung«: die notwendige Annahme eines zugleich unerkennbaren Urhebers der Berufung. 4. Nun beschreibt aber dieses Verhältnis der begreiflichen Sache zum unbegreiflichen Urheber dieser Sache exakt der Begriff der Autorität. Denn das Autoritätsverhältnis ist nicht nur, wie die Berufung, eine dreistellige Relation, in der zwei Subjekte – wir haben sie »die Autorität« und die »anerkennende Person« genannt – durch eine ihnen gemeinsame, heilige Sache – wir haben sie das »Zeichen« genannt, in der sich die Autorität mitteilt – verbunden sind, sondern für dieses Verhältnis ist auch die Erkenntnis dieser Sache einerseits und die Unbegreiflichkeit der Autorität als Urheber dieser Sache andererseits konstitutiv. Dieses Verhältnis beruht daher weder auf der Einsicht in gute Gründe noch ist es das Ergebnis von Erfahrungen, sondern besteht in der freiwilligen Anerkennung der Autorität als Urheber der gemeinsamen, heiligen Sache. Wenn daher dies Heilige klar ist: das moralische Gesetz, das den Menschen zur Bürgerschaft im ethischen Staat nötigt; der Urheber dieser Sache aber unbegreiflich ist, dann kann dieser Urheber nur als die höchste Autorität begriffen werden: der Mensch, indem er die heilige Sache als Anlage in seiner Natur vorfindet und sie als seine Sache annimmt, um sich zum Bürger im göttlichen Staate zu machen, erkennt in dieser frei gewählten Annahme zugleich Gott als den Urheber dieser Sache als die höchste Autorität an. Diese Autorität aber kann freilich niemals theoretisch erkannt werden, weil sie praktisch anerkannt wird. So gesehen ist es das ›Geheimnis‹ des Geheimnisses der Berufung, dass die Ursache des Guten in der Natur des Menschen, dessen Existenz Kant annimmt, dem Menschen deshalb unbegreiflich ist, weil sie gar kein Gegenstand einer möglichen Erkenntnis ist; sondern weil Kant mit der Annahme dieser Existenz zugleich Gott als den Urheber dieses Guten anerkennt. Dieses Wissen aber ist freilich geheim, nicht-diskursiv und nicht allgemein mitteilbar, weil es in dem Akt des Willens besteht, der mit der Annehmung des moralischen 594
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
Gesetzes zugleich Gott als die Autorität anerkennt, die ihn zu dieser heiligen Sache beruft. d.
Die Moralität als Religion
Akzeptiert man diese Erklärung des Geheimnisses der Berufung als ein solches Anerkennungsverhältnis, dann ist die Letztbegründung der kantischen Anthropologie in dieser personalen Beziehung des Menschen zu Gott zu finden. Wenn also Kant die Möglichkeit zu einer »sittlichen Ordnung« der Vermögen durch die Empfänglichkeit für das Vernunftgesetz als einer ursprünglichen Anlage in der menschlichen Natur erklärt, das Wissen um eine solche Anlage aber in der Berufung zur Bürgerschaft im göttlichen Staate sieht, das, als Geheimnis, in der freien Anerkennung Gottes als des Urhebers dieser Berufung gründet, dann ist dieser rein praktische Akt der letzte Grund für den Urteilsspruch, dass die Vernunft auf dem Gebiet der Moral bloß durch ihr Gesetz das Bestimmende sei. (Wir werden auf diese »intelligible Tat« im nächsten Kapitel zurückkommen.) Damit aber lässt sich in der Tat der Satz, dass dem Menschen die »sittliche Ordnung« von Natur einwohne, nicht als ein Urteil verstehen, das Kant über die menschliche Natur trifft, sondern drückt das innere, nicht-diskursive Wissen des Menschen von sich selbst aus, von Gott zur allgemeinen ethischen Gesetzgebung berufen zu sein. Der Inhalt dieses Wissens ist klar, weil er durch die Vernunft selbst offenbart ist; aber das Wissen selbst ist geheim, weil es nicht dem Gebrauch der Erkenntnisvermögen entspringt, sondern – vor allem Gebrauch – den Menschen als Person betrifft. 35 Aus dieser Art letztbegründenden Wissens aber folgt, dass in Daher sind für Kant alle Fragen nach der Herkunft des moralischen Gesetzes ganz unnütz: »Im Grunde thäten wir vielleicht besser uns dieser Nachforschung gar zu überheben, da sie bloß speculativ ist, und, was uns zu thun obliegt (objectiv), immer dasselbe bleibt, man mag eines oder das andere Princip zum Grunde legen: nur dass das didaktische Verfahren, das moralische Gesetz in uns auf deutliche Begriffe nach logischer Lehrart zu bringen, eigentlich allein philosophisch, dasjenige aber, jenes Gesetz zu personificiren und aus der moralisch gebietenden Vernunft eine verschleierte Isis zu machen (ob wir dieser gleich keine andere Eigenschaften beilegen, als die nach jener Methode gefunden werden), eine ästhetische Vorstellungsart eben desselben Gegenstandes ist; deren man sich wohl hinten nach, wenn durch erstere die Principien schon ins Reine gebracht worden, bedienen kann, um durch sinnliche, obzwar nur analogische, Darstellung jene Ideen zu beleben, doch immer mit einiger Gefahr in schwärmerische Vision zu gerathen, die der Tod aller Philosophie ist.« (vT VIII 405)
35
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
595
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Kants Anthropologie die Moral selbst Religion und die Religion selbst Moral ist. Denn für Kant ist Gott kein Objekt der Verehrung, sondern das Subjekt der Berufung. Daher ist dieser Gottesdienst rein moralisch-praktisch, weil der Mensch, indem er nach der »sittlichen Ordnung« handelt und tut, wozu er berufen ist, zugleich Gott als den Urheber dieser Ordnung anerkennt. Wenn Kant daher erklärt, der Endzweck des Menschen nach dem Weltbegriff sei das »Reich Gottes auf Erden« oder das »Reich der Zwecke unter moralischen Gesetzen«, dann ersetzt er nicht die Religion durch die Moral, sondern macht die Moral selbst zur Religion. 36 Denn das Wissen um das Heilige des moralischen Gesetzes ist der Gottesglaube 37. Insofern hat So auch Sala SJ 2004, 237: »… die Reduktion der Religion auf Moral … (ist) freilich für Kant keine Reduktion …, sondern die Bewahrheitung dessen, was ›eigentliche‹ Religion ist.« In dieser Reduktion sieht Sala »die epochale Bedeutung« der Religionsschrift, »deren maßgeblichen Einfluss auf die ›westliche‹ Kultur bis auf den heutigen Tag« (216). 37 Da für unsere Rekonstruktion der Kantischen Anthropologie der Unterschied zwischen dem notwendigen Postulat eines öffentlichen und allgemein mitteilbaren Gottes und der freien Anerkennung des geheimen und nicht-mitteilbaren Gottes von zentraler Bedeutung ist, soll er anhand anderer Interpretationen erläutert werden. In Hinblick auf das Postulat Gottes folgen wir der Interpretation, die im Gottesbegriff Kants nichts Absolutes, sondern einen nur ›funktionalen‹ Wert erkennt und diese Funktionalität als Ausdruck des Säkularisierungsprozesses der Moderne deutet. Sie hat schon M. Adler treffend formuliert: »War … der alte Gottesbegriff Anfang und Ende der Welt, stand er im Mittelpunkt einer unkritischen, noch größtenteils mythologischen Religion, auch dort, wo sie selbst sich der Mythologie überlegen hielt, so sehen wir, wie bei Kant der Gottesbegriff überhaupt nicht mehr im Mittelpunkt des religiösen Interesses steht, weil er selbst gar nicht mehr etwas Selbständiges, für sich Bestehendes, sondern nur mehr Folge einer besonderen Voraussetzung ist, Bedingung zu einem bestimmten Erfolge, Mittel für einen übergeordneten Zweck – kurz weil er nicht mehr die Gottheit mit ihren Zwecken, sondern die Menschheit mit ihrem Endzweck den Schwerpunkt des religiösen Interesses bestimmt.« (Adler 1924, 399 f.) Dieser Deutung folgt auch Y. Yovel 1968, 119: »God has been explicitly transformed into the assistant of man.« Unsere Kant-Interpretation geht jedoch über diese Deutung hinaus und nimmt an, dass Kant dieses Menschheitsinteresse selbst religiös fundiert, weil die Pflicht zur Moralität ihrerseits auf einen die Menschheit transzendierenden Ursprung verweist. Sie bringt uns in die Nähe von Interpreten, die Kants Pflicht zur Moralität als ein Verhältnis von Vernunft und Offenbarung deuten und, wie K. Barth, Kant damit in einer Reihe mit Augustin sehen: »Kant trifft sich hier mit der Lehre Augustins von der Erkenntnis Gottes als einer Wiedererinnerung an einen unserer Vernunft schon zuvor, weil ursprünglich innewohnenden Begriff Gottes.« (Barth 1947, 251. – Vgl. auch Schmalenbach 1929) Nach unserer Interpretation ist Gott für Kant jedoch ausdrücklich kein ursprünglicher Begriff, sondern absolute Person. Er wird daher nicht notwendig erkannt, sondern frei anerkannt. Er ist das ›Geheimnis‹. Auf es lässt sich daher keine Gotteslehre, sondern nur Moral gründen; aber auf ihm gründet auch die Moral. 36
596
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
sich für Kant die Religion deshalb »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« zu bewegen, weil eben dies die wahre Religion ist.
C. Das böse Prinzip: Die Verkehrung der sittlichen Ordnung Nachdem Kants anthropologische Grundlegung des ersten Bestimmungsverhältnisses von Denken und Sinnlichkeit, der »sittlichen Ordnung«, zum Geheimnis der Berufung als Fundament einer moralischen Gesetzgebung geführt hat, gehen wir nun auf das zweite Verhältnis ein, in dem umgekehrt die Sinnlichkeit den Vernunftgebrauch bestimmt, und das Kant anthropologisch durch die »Einwohnung des bösen Prinzips« in der menschlichen Natur erklärt. Diese Theorie des Bösen enthält, so nehmen wir an, die Begründung für das andere Faktum, dass nämlich auf dem Gebiet der Natur dem Menschen eine Erkenntnis nur unter der Bedingung der Sinnlichkeit möglich sei. 1.
Die »verkehrte Ordnung«: die sinnliche Bedingtheit des Vernunftgebrauchs
In der »Religionsschrift« schreibt Kant, dass ein Mensch »nur dadurch böse (ist), dass er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt« (VI 36). Anstatt der sittlichen Ordnung gemäß das Vernunftgesetz zum Bestimmungsgrund seines Willens zu erheben, mache er, der böse Mensch, »die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes« (ebd.). An anderer Stelle führt er aus, dass der Mensch »von Natur böse (ist), heißt so viel: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet … er kann nach dem, wie man ihn von Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden« (VI 32). Kant nennt diese Eigenschaft – im Gegensatz zur Anlage zum Guten – »einen natürlichen Hang zum Bösen« oder »ein radicales, angebornes, … Böse in der menschlichen Natur« (ebd.) – Diesen Hang zum Bösen untersucht Kant nun in Bezug auf die Art der Handlung als Verkehrung der sittlichen Ordnung, auf den Ursprung dieser Verkehrung sowie ihrer möglichen Umkehrung zum Guten. Wir jedoch wollen zunächst nur auf diese »verkehrte Ordnung« selbst, unabhängig von ihrem Handlungscharakter, eingehen, d. h. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
597
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
auf diejenige Ordnung von Vernunft und Sinnlichkeit, worin die Sinnlichkeit die Bedingung des Vernunftgebrauchs ist, um zu sehen, ob diese Ordnung der Vermögen, die Kant in der Natur des Menschen verankert sieht, eine Begründung für seinen transzendentalphilosophischen Grundsatz abgibt, nach dem eine menschliche Erkenntnis auf dem Gebiet der Natur allein unter der Bedingung der Sinnlichkeit möglich sei. 38 Kants Schrift über die Religion, 1793 erschienen, ist seiner Lehre vom radikal Bösen wegen nicht selten als eine schwer erklärbare ›Entgleisung‹ des Philosophen der Aufklärung beurteilt worden. Die Schrift folge zwar dem Aufklärungsprogramm, wenn sie die Religionen am Maßstab der Vernunft prüft und als natürliche Religion allein die Vernunftreligion gelten lässt. Und die in ihr enthaltenen Forderungen nach einer »Revolution der Gesinnungsart« und dem »Reich Gottes auf Erden« als einem »ethischem Staat« oder einer »unsichtbaren Kirche« haben nachgerade die Losung für die nachkantische Philosophie in Deutschland abgeben. Vgl. Nicolin 1988, 367–399; auch: Bondeli 1997, 51–72. H. M. Baumgartner zieht die Linie sogar bis in die »Geschichtsphilosophie des marxistisch-leninistischen Sozialismus« (Baumgartner 1992, 164). – Umso unverständlicher musste da die in ihr dargelegte Lehre vom radikal Bösen im Menschen und von der Verderbtheit der menschlichen Natur erscheinen, die so gar nicht zum Pathos des Menschheitsfortschritts passt. War doch »der Gedanke der Erbsünde … der gemeinsame Gegner, in dessen Bekämpfung sich die verschiedenen Grundrichtungen der Aufklärungsphilosophie vereinen« (Cassirer 1932, 188); und galt die Idee des peccatum originale als eine Absurdität, die die elementaren Grundsätze der Logik und der Ethik verletzt. Auch bei Kant selbst hieß es noch in der 1783/84 als Vorlesung gehaltenen, von K. H. L. Pölitz herausgegebenen philosophischen Religionslehre gut ›aufklärerisch‹ : »In der irdischen Welt ist alles nur Fortschritt … Das Böse in der Welt kann man daher ansehen, als die unvollständige Entwicklung des Keims zum Guten. Das Böse hat gar keinen besondern Keim; denn es ist bloße Negation, und bestehet nur in der Einschränkung des Guten. Es ist weiter nichts, als Unvollständigkeit in der Entwickelung des Keims zum Guten aus der Rohheit.« (XXVIII, 1078; vgl. Bayer 1937). Und in der »Anthropologie« von 1798 heißt es dann wieder: »die Menschengattung [sei] nicht als böse, sondern als eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen.« (ApH VII 333). Kants Lehre vom radikal Bösen in der menschlichen Natur scheint so als ein erratischer Block recht beziehungslos zum sonstigen Fortschrittsdenken zu stehen. Je nach Perspektive ist sie denn auch als pessimistische Anwandlung des Philosophen verstanden worden, die aus dem ideengeschichtlichen Zusammenhang (Bohatec 1938) oder auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund (Erdös 1992) zu erklären sei; die als ein Versuch der Humanisierung des christlichen Erbes zu deuten (Buhr 1981, 130: »Kants Bemühungen … zielen darauf, die christliche Lehre von der Erbsünde, vom radikal Bösen in der menschlichen Natur seiner humanistischen Grundthese unterzuordnen.«) oder als Indiz zu nehmen sei, dass biblisches Denken »eine der verborgenen Quellen für das Denken Kants« (d’Aviau de Ternay 1992, 71) ist. Wir lesen Kants Religionsschrift jedoch nicht auf dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses Fortschritt – Tradition, sondern im Kontext der epistemologischen Problematik der kantischen Vernunftkritik. Wir erwarten von ihr die Antwort auf das Problem,
38
598
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
1. Was Kant in der »Religionsschrift« die Verkehrung der sittlichen Ordnung nennt, welche »die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes« macht, entspricht dem, was er in der »Kritik der praktischen Vernunft« als die »empirisch bedingte Vernunft« bezeichnet, und deren Ansprüche auf Alleinherrschaft er der Kritik unterzieht. Eine Kritik der praktischen Vernunft überhaupt habe, so schreibt er dort, »die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen.« (V 16) Diese Vernunft gebe zwar praktische Regeln; aber diese können nicht als moralische Gesetze gelten, weil sie von sinnlichen Bedingungen abhängen und das materiale Prinzip der eigenen Glückseligkeit zur Voraussetzung haben. Sie können daher nur bedingterweise, hypothetisch gelten, nicht aber unbedingterweise und kategorisch. 39 Würden daher die Regeln einer empirisch bedingten Vernunft ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des menschlichen Willens abgeben, so würden sie den Menschen, wie es in der »Religionsschrift« heißt, »im Werthe über die bloße Thierheit« (VI 61) nicht erheben. Die Vernunft »wäre alsdann nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie die Thiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen.« (VI 61 f.) Vergleichen wir diese Kritik an der empirisch bedingten praktischen Vernunft mit jener anthropologischen Bestimmung, wonach der Mensch dann böse sei, wenn er die Triebfeder der Selbstliebe zur Bedingung seines Vernunftgebrauchs macht, so müssen wir aus diesem Vergleich schließen, dass nach Kant ein Mensch, der allein nach dem materialen Prinzip der empirisch bedingten Vernunft handelt, böse ist, weil er die »sittliche Ordnung« verkehrt: er setzt an die Stelle des Vernunftgesetzes als des formalen Prinzips einer allgemeinen Gesetzgebung die Glückseligkeit als das materiale Prinzip der Selbstliebe und macht dadurch das Vermögen der Sinnlichkeit zur Bedingung seines Vernunftgebrauchs. 2. Während es Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« dass die Trennung von Ethik und Wissenschaft nicht durch die Vernunft selbst zu begründen ist und daher eine Anthropologie erfordert, die diese Zweiteilung als für die menschliche Erkenntnisart unhintergehbar begründet. 39 Siehe: KpV V 19–22. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
599
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
darum geht, die Anmaßung der empirisch bedingten Vernunft zurückzuweisen, in praktischer Hinsicht gesetzgebend zu sein, und darzutun, »dass es reine praktische Vernunft gebe« (V 3), geht er in der Einleitung zur »Kritik der Urteilskraft« dann weiter und führt die Regeln der empirisch bedingten praktischen Vernunft auf die Gesetze auf dem Gebiet der Natur zurück. Er präzisiert dort, dass es in der Philosophie überhaupt nur zwei verschiedene Prinzipien gebe, die für das Gebiet der Natur einerseits, für das der Moral andererseits gesetzgebend sind. Der Unterschied zwischen der empirisch bedingten Vernunft und der reinen Vernunft sei daher ihren Prinzipien nach kein praktischer, sondern der Unterschied zwischen der theoretischen und der praktischen Gesetzgebung. Denn die empirisch bedingte praktische Vernunft stelle zwar keine Gesetze auf über das, was ist, sondern gebe Regeln für das, was man tun soll; aber diese, allemal hypothetischen, Regeln setzen nicht nur eine theoretische Naturerkenntnis voraus, sondern werden auch »als unmittelbare Folgerung aus der Theorie des Objekts in Beziehung auf die Theorie unserer eigenen Natur (uns selbst als Ursache) vorgestellt« (KU XX 196; H. v. m.). Hier werde nämlich der Wille, das Vermögen durch Begriffe zu wirken, nicht als praktisches Vermögen, als Vermögen einer Kausalität aus Freiheit, sondern als »eine von mancherlei Naturursachen in der Welt« (VI 72) aufgefasst. Er müsse daher, »sofern er durch Triebfedern der Natur jenen Regeln gemäß bestimmt werden kann« (VI 72), selbst als zur Natur gehörig betrachtet werden. »Mit einem Worte«, fasst Kant diese Zuordnung zusammen: »alle praktischen Sätze, die dasjenige, was die Natur enthalten kann, von der Willkür als Ursache ableiten, gehören insgesamt zur theoretischen Philosophie, als Erkenntnis der Natur, nur diejenigen, welche der Freiheit das Gesetz geben, sind dem Inhalte nach spezifisch von jenen unterschieden.« (XX 197) 40 Er schlägt deshalb vor, die Sätze der empirisch bedingten praktischen Vernunft statt »praktische« besser »technische Sätze« (XX 200), »technische Imperative« (XX 200, Anm.) oder »technisch-praktische Regeln« (VI 72) zu nennen, weil sie die Kunst betreffen, wie Dinge nach Naturbegriffen möglich sind. 41 Sie dürfen Siehe auch KU XX 197 f. Kant korrigiert hier den »Fehler« aus der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, die Sätze der empirisch bedingten praktischen Vernunft »problematische Imperative« genannt zu haben: »Ich hätte sie technisch, d. i. Imperativen der Kunst nennen sollen.« (XX 200, Anm.) 40 41
600
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
»nur als Korollarien zur theoretischen Philosophie gezählt werden.« (VI 72) – Daraus aber folgt, dass der Begriff einer »empirisch bedingten praktischen Vernunft« ein Unding ist; denn die empirisch bedingte Vernunft ist nicht praktisch und die praktische Vernunft ist nicht empirisch bedingt. Wenn nun aber zum einen die Regeln der empirisch bedingten ›technischen‹ Vernunft, wie Kant darlegt, nur unmittelbare Folgerungen aus Erkenntnissen nach Naturgesetzen sind, die allemal sinnlich bedingt sind; wenn zum anderen aber nach Kant der Mensch böse ist, der die »sittliche Ordnung« der Vermögen verkehrt, indem er die Sinnlichkeit zur Bedingung seines Vernunftgebrauchs macht, – dann folgt daraus die Annahme, dass es für Kant offenbar einen und denselben Grund für die spezifisch menschliche Art der Naturerkenntnis und für das Böse in der menschlichen Natur gibt. Denn die technischen wie die theoretischen Sätze unterliegen ein und demselben gesetzgebenden Prinzip: dass der Vernunftgebrauch des Menschen allein unter der Bedingung der Sinnlichkeit möglich ist. Gibt es also für Kant einen Grund in der menschlichen Natur, weswegen er sagen kann, dass in Bezug auf die »verkehrte Ordnung« der Vermögen der Mensch in praktischer Hinsicht böse ist, in theoretischer Hinsicht aber ihm einzig nach dieser Ordnung Erkenntnis möglich ist? a.
Die »verderbte Natur« des Menschen
Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, ist vorab zu klären, worin und wodurch Kant die verkehrte Ordnung der Vermögen in der Natur des Menschen verankert sieht. Sehen wir hierfür zunächst vom Praktisch-Moralischen des Begriffs des Bösen ab und verstehen ihn als Eigenschaft, die Kant der menschlichen Natur zuschreibt, so lässt sich dieses von Natur Böse als die »schlechte«, »korrupte« oder als die »verderbte Natur« des Menschen bezeichnen. Dass der Mensch von Natur verderbt ist, heißt dann, dass es vom Menschen als Gattung anzunehmen sei, dass die sittliche Ordnung der Vermögen je schon verkehrt ist, so dass sein Vernunftgebrauch von Beginn an unter der Bedingung der Sinnlichkeit steht. Wenn wir dieses von Natur Verkehrte nun als die »natürliche Ordnung« der Vermögen bezeichnen, so mag diese Bezeichnung zunächst als verwegen erscheinen, weil Kant den Ausdruck in diesem Sinne nirgends gebraucht; wenn wir aber unter »natürlich« das verstehen, was dem A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
601
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Menschen nach aller Erfahrung zuzuschreiben ist oder so, »wie man ihn durch Erfahrung kennt« (VI 32), und es vom »Sittlichen« unterscheiden, zu dem Kant den Menschen vor aller Erfahrung berufen sieht, dann lässt sich dieser Ausdruck für das Verderbte der menschlichen Natur durch die Bezugnahme auf dieses Aposteriori rechtfertigen. Während demnach Kants These von der sittlichen Ordnung als einer ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur die Möglichkeit begründet, nach dem Sittengesetz zu handeln, dient die entgegengesetzte These von der natürlichen Ordnung dazu, die sinnliche Bedingtheit des menschlichen Vernunftgebrauchs anthropologisch zu begründen. Im Sinne dieser Ordnung ist Kants Kritik der reinen spekulativen Vernunft, die aus bloßen Begriffen Gegenstände zu erkennen sucht, so zu verstehen, dass diese Vernunft nicht der natürlichen Verderbtheit des Menschen Rechnung trägt, dass sie irrtümlich vom unversehrt Guten im Menschen ausgeht. Diese Verbindung zwischen der verderbten Natur, wie sie in der »Religionsschrift« beschrieben wird, und der sinnlich bedingten Erkenntnisart, wie sie Kant sie in der »Transzendentalen Analytik« darlegt, hat Kant, soweit ich sehe, nicht ausdrücklich gezogen. Er versichert zwar wiederholt, dass diese sinnliche Bedingtheit aller Erkenntnisse der menschlichen Natur entspringe 42 ; dort, wo er sie jedoch begründet, gebraucht er statt des »Verderbten« den Begriff des »Endlichen«, wonach der Mensch ein »endliche(s) denkende(s) Wesen« (B 72) sei, der deshalb nur das erkennt, was sinnlich gegeben ist. Doch dieser Begriff des Endlichen begründet nicht, was er begründen soll. Denn die Aussage, dass der Mensch ein endliches Vernunftwesen ist, erklärt den Menschen nur negativ als ein mangelhaftes Wesen, das weder einen heiligen Willen besitzt, der »schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist« (GMS IV 414), noch eine intellektuelle Anschauung, »dadurch allein alles Mannigfaltige im Subject selbstthätig gegeben wäre« (B 68). Sie begründet aber nicht das Positive, dass das menschliche Erkennen und Begehren allemal unter den Bedingungen der Sinnlichkeit, den Neigungen und Empfindungen, statthat. Wenn Kant darauf nun erwidert, dass der Mensch sich vom Vermögen eines endlichen Vernunftwesens gar keinen anderen Begriff machen könne als den, der seiner eigenen So etwa, wenn Kant in der KrV (B 75) lakonisch feststellt: »Unsre Natur bringt es so mit sich, dass die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen afficirt werden.« – Vgl. auch B 29 f.
42
602
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
Natur entspricht, dann setzt der Begriff eines endlichen Vernunftwesens, der ja das Eigentümliche der menschlichen Erkenntnisart erklären soll, dieses Eigentümliche schon voraus. 43 Der Begriff des Endlichen reicht folglich nicht hin, das Spezifische der menschlichen Erkenntnisart zu bezeichnen. Diese Erklärung leistet jedoch der Begriff des »Verderbten«, wonach der Mensch als dasjenige Wesen aufzufassen sei, das von Natur verderbt ist. Denn diese Eigenschaft lässt sich sinnvoll nur vom Menschen aussagen, da weder bloße Vernunftwesen – seien sie unendlich oder endlich – noch bloße Sinnenwesen wie Tiere oder Pflanzen »verderbt« genannt werden können. [Vom Obst sagt man: »verdorben«.] Sie trifft sinnvoll nur auf den Menschen als eines Vernunft- und Sinnenwesen zu. Dass der Mensch von Natur verderbt sei, bedeutet dann, dass er es nicht vermag, die Vernunft der »sittlichen Ordnung« gemäß rein und selbsttätig zu gebrauchen, sondern dass er der »natürlichen Ordnung« gemäß der Sinnlichkeit als Bedingung seines Vernunftgebrauchs bedarf. Und dieses Bedürfen gilt für den Menschen als Gattung; es ist kein bloßer Mangel, der durch die Reinigung der Seele vom Sinnlichen und ihre Hinwendung zum Übersinnlichen überwunden werden kann, sondern eine conditio humana. 44 Seiner In der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« (V 401) führt Kant die Differenz zwischen der objektiven Gültigkeit der Verstandeserkenntnis und der bloß subjektiven Gültigkeit der Vernunftideen darauf zurück, dass sie »nach der Natur unseres (menschlichen) Erkenntnisvermögens oder gar überhaupt nach dem Begriffe, den wir uns von dem Vermögen eines endlichen vernünftigen Wesens überhaupt machen können, nicht anders als so könne und müsse gedacht werden«. Im Weiteren erklärt Kant dann diese Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens dadurch, dass »zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe, und sinnliche Anschauung für Objekte, die ihnen korrespondieren, erforderlich [sind]« (ebd.). Daraus aber folgt, dass diese Erkenntnisart nicht durch den Begriff eines endlichen vernünftigen Wesens, sondern vielmehr umgekehrt dieser durch jene erklärt wird. – Vgl. auch Kants Raisonnement über die Sinnlichkeit endlicher denkender Wesen: KrV B 72. 44 In der »Kritik der praktischen Vernunft« hat Kant die Abweichung vom Sittengesetz durch den »Hang« erklärt, »sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen« (V 74), und diese Selbstliebe den »Eigendünkel« genannt. In der »Religionsschrift« dann erklärt er diese Abweichung durch das von Natur Böse. Sie erscheint nicht mehr nur als eine Verwechslung der subjektiven Bestimmungsgründe mit den objektiven, sondern als ein notwendig anzunehmender, dem Menschen als Gattung einwohnender Hang. – Offen scheint mir die Frage zu sein, ob diese Änderung auf einem ›skeptischeren‹ Menschenbild beruht oder nicht vielmehr sachlich begründet ist, da doch die »Kritik der praktischen Vernunft« nur dartun will, dass es reine praktische Vernunft gebe, die »Religionsschrift« jedoch die Frage behandelt, ob der Mensch das, was er soll, auch 43
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
603
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
verderbten Natur – nicht seiner Endlichkeit – wegen bleibt der menschliche Vernunftgebrauch durch die Sinnlichkeit bedingt. b.
Die »böse Tat« als Ursache der verderbten Natur
1. Nun unterscheidet Kant jedoch klar zwischen der ursprünglichen Anlage zum Guten und dem, wie er in Hinblick aufs Praktische sagt, »Hange zum Bösen in der menschlichen Natur« (VI 28). Während der Mensch die Anlage zum Guten a priori – vor aller Erkenntnis – im moralischen Gefühl als eine ursprüngliche Disposition vorfinde, gründe die Zuschreibung eines solchen Hanges auf Erfahrung: Der Mensch »ist von Natur böse, heißt so viel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie notwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden, oder man kann es als subjektiv notwendig in jedem, auch dem besten Menschen voraussetzen.« (VI 32) Diesem Urteil legt Kant also die Erfahrung eines der sittlichen Ordnung entgegengesetzten und der natürlichen Ordnung entsprechenden Vernunftgebrauchs zugrunde, dessen »Menge schreiender Beispiele« (VI 32) es zu einem, subjektiv notwendigen, Prinzip der Klugheit macht, den Menschen, auch ohne »den förmlichen Beweis« (VI 33), als von Natur verderbt zu beurteilen. Nun ist klar, dass ein solches, wenn auch noch so subjektiv notwendiges, Urteil nicht den anthropologischen Satz zu begründen vermag, dass der Mensch von Natur böse sei oder eine »verderbte Natur« habe; denn aus einer noch so großen Menge von Beispielen lässt sich nicht auf das Urteil schließen, dass dem Menschen, in seiner Gattung betrachtet, das Böse von Natur zukommt. Da Kant es auch ausschließt, dass die Ursache des Verderbten der menschlichen Natur in der Sinnlichkeit oder dem Vernunftvermögen selbst liegt 45 , so kann. Die Lehre vom radikal Bösen scheint jedenfalls keine ›neue Einsicht‹ Kants gewesen zu sein; denn er bemerkt schon früh: »Die allgemeine Gebrechlichkeit besteht nicht in bösen Neigungen, sondern in der großen Möglichkeit derselben, böse zu werden. Das ist der Hang der Neigungen zu bösem, ehe die Neigungen böse werden.« (Reflexion 6563, XIX 78) – Vgl. dazu: Welcker 1973; insb. 48 ff.; Erdös 1992, 53–73; Forschner 1992. 45 Siehe VI 35: »Um also einen Grund des Moralisch-Bösen im Menschen anzugeben, enthält die Sinnlichkeit zu wenig; denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem blos Thierischen;
604
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
führt uns die Suche nach der Ursache dieser Eigenschaft – wie schon im Fall der Anlage zum Guten – auf einen Weg, der weder durch Vernunft begriffen noch auf Erfahrungen gestützt wird. Statt hier abzubrechen, hoffen wir auch hier, Motive und Bilder zu finden, die uns die Letztbegründung für das anthropologisch Böse erschließen können. Wir deuten sie als den Beginn einer Geschichte, die Kant vom Menschen erzählt. 2. Die sittliche Ordnung der Vermögen hat Kant als eine ursprüngliche Anlage zum Guten in der menschlichen Natur verankert, deren Ursache jedoch dem Menschen unbegreiflich sei. Die umgekehrte, die natürliche Ordnung als Abhängigkeit des Vernunftgebrauchs von der Sinnlichkeit führt Kant nun auf eine ursprüngliche Tat zurück, durch die der Mensch selbst die sittliche Ordnung verkehrt. Diese Tat könne keinesfalls im Sinne einer Handlung als einer »Begebenheit in der Welt« (VI 40) verstanden werden, weil so zwar eine von der sittlichen Ordnung abweichende Handlung erklärt würde, aber nicht die verderbte Natur des Menschen. Kant unterscheidet daher die Handlungen, die einer Maxime gemäß ausgeübt werden, von derjenigen Tat, »wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen« (VI 31, H. v. m.) wird. Während jene Handlungen »sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon)« seien, sei diese »intelligibele That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar« (VI 31). Nur eine solche, bloß durch Vernunft erkennbare Handlung, eine oberste Maxime in die Willkür aufzunehmen, komme zur Erklärung der verderbten Natur in Betracht. Diejenige intelligibele Tat nun, welche die sittliche Ordnung verkehrt, indem sie die natürliche Ordnung als oberste Maxime aufnimmt, und der Mensch so »die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht« (VI 36), – diese Tat könne nun nicht auf eine natürliche Anlage des Menschen zurückgeführt werden; nicht nur, weil das Verderbte seiner Natur ja erklärt werden soll, sondern vor allem, weil von allen Erklärungen diejenige die »unschicklichste« sei, »es sich eine vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben und so das Subject zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde. – Keines von beiden aber ist auf den Menschen anwendbar.« A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
605
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen« (VI 40). Diese Tat könne aber auch nicht so verstanden werden, als habe die Verkehrung des Sittlichen die Vernunft als Ursache. Denn in diesem Fall müsste man entweder eine selbst »boshafte Vernunft« annehmen, welches sich widerspricht; oder aber man müsste dieser Tat eine Handlungsmaxime als Prinzip zugrundelegen, und gerate so in einen unendlichen Regress, da der Grund, jene Maxime anzunehmen, »wiederum in einer Maxime gesucht werden muss; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muss, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, (wird) man in der Reihe der subjectiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen …, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.« (VI 21, Anm.) Was daher bleibt, ist, das Verderbte der menschlichen Natur durch eine solche Tat zu erklären, die als ursprüngliche aller Abweichung von der sittlichen Ordnung vorhergeht, und die, schlechterdings ursachelos, dem freien Willen des Menschen als Ursache seiner verderbten Natur entspringt und deshalb als absolut zufällig bestimmt werden muss. Diese ursprüngliche und freie intelligible Tat nennt Kant das »radikal Böse«, »weil es den Grund aller Maximen verdirbt« (VI 37). Das Verderbte ist daher keine notwendige, zum Wesen des Menschen gehörige Eigenschaft wie das Gute, das der Mensch als natürliche Anlage vorfindet; er zieht sich diese Natur vielmehr durch eigene, freie und zufällige Tat selbst zu, die damit den Konflikt der menschlichen Vernunft mit sich selbst initiiert 46 . Dieses Unbegreifliche, dass das Böse im Menschen »gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene That ist,« (VI 32) nennt Kant – im Unterschied zur Anlage zum Guten – den »natürliche(n) Hang des Menschen zum Bösen« (VI 29). Er mag angeboren sein; aber er müsse, als eine »angeborne Schuld (reatus)« (VI 38), »als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden« (VI 29). Es scheint daher, dass – wie schon im Fall der Platznahme des Guten in der menschlichen Natur – auch hier, im Fall der »Einwohnung des bösen Prinzips«, alles Begreifen aufhört. Denn so wie der natürliche Hang des Menschen zum Bösen sei auch sein Ursprung, die böse Tat, unbegreiflich: »für uns ist also kein begreiflicher Grund 46
606
Vgl.: Fittbogen 1907, 307.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
da, woher das moralisch Böse in uns zuerst gekommen sein könne.« (VI 43) 47 2.
Die Autonomie des Menschen: Das »Losreißen vom Guten«
1. Auch wenn die ursprüngliche Tat, die Kant als Ursache der verderbten menschlichen Natur annimmt, weder hinsichtlich ihres Daseins noch hinsichtlich ihrer Wirkung begreiflich sei, so enthält diese Annahme doch etwas, wodurch dieses Unbegreifliche zumindest interpretierbar wird. Hierzu machen wir zwei Voraussetzungen: Die erste ist, dass Kant diese Tat nicht deshalb als böse betrachtet, weil sie die verderbte Natur des Menschen bewirkt, sondern weil sie als »Wurzel des Bösen« (VI 39, Anm.) selbst böse, das Böse selbst ist. Die zweite Voraussetzung ist, dass für Kant der Mensch das ist, was er aus sich selbst macht; dass er also nicht ›an sich‹ gut oder böse, sondern dies, gut oder böse, durch eigene Tat ist. Nach der ersten Voraussetzung ist nun jene ursprüngliche, freie Tat nicht nur der intelligibele Akt, die natürliche Ordnung als oberste Maxime aufzunehmen und so die Triebfeder der Selbstliebe zur Bedingung des Vernunftgebrauchs zu machen, sondern zugleich diejenige Handlung, die die sittliche Ordnung verkehrt: »Also muss der Unterschied,«, schreibt Kant, »ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser Materie [Gesetz oder Sinnenantrieb]), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht. Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, dass er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Annehmung derselben in seine Maxime umkehrt« (VI 36). Diese Umkehrung (katastroyh) der sittlichen Ordnung, durch welche die Sinnlichkeit als Bedingung des Vernunftgebrauchs zur Maxime erhoben wird, ist also als eine rein intelligible Handlung das Böse selbst. Obgleich nun aber diese Tat frei und ursachelos ist, so setzt sie als böse Tat doch das Dasein des Guten, der sittlichen OrdEs ist deshalb nicht begreiflich, wie man Kant vorhalten kann, dass diese Konstruktion des Bösen »nur scheinbar (erlaube), die Möglichkeit moralisch böser Handlungen zu erklären« (Prauss 1983, 98), und daraus ableitet, Kants Theorie des Bösen sei als circulus vitiosus ein scheiternder Lösungsversuch. Denn Kant erklärt ausdrücklich, dass die Wirklichkeit des Bösen unbegreiflich sei, und dessen Möglichkeit daher nicht erklärt werden kann.
47
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
607
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
nung, als ihre Bedingung voraus. Gäbe es das Gute nicht, gäbe es das Böse nicht. Da diese freie Tat nun als das Böse selbst das »contradiktorisch Entgegengesetzte(.)« (VI 22, Anm.) des guten Prinzips ist, das dieses Prinzip jedoch als Bedingung voraussetzt, so lässt sich diese Tat wohl nur in dem Bild verständlich machen, dass der Mensch sich in ihr als einer ursprünglichen Handlung der Verkehrung von der sittlichen Ordnung ›losreißt‹ 48 . Denn da dem Menschen nach Kants Anthropologie die sittliche Ordnung der Vermögen als eine ursprüngliche, zu seiner Natur gehörende Anlage zum Guten einwohnt, deren Urheber er nicht selbst ist, kann das Böse selbst nur als die freie, an sich zufällige und daher unbegreifliche Handlung der Trennung oder des Losreißens des Menschen von seiner ursprünglichen Natur verstanden werden. Im diesem Akt macht der Mensch sich aus einem Wesen, dem die sittliche Ordnung als notwendig zum Menschen gehörende Anlage innewohnt, zu einem Subjekt, das in der Verkehrung der Ordnung sich frei und grundlos die entgegengesetzte natürliche Ordnung selbst gibt. Und so wie der Mensch im Fall des guten Prinzips zwar das Moralische als seine Berufung zum Guten kennt, aber nicht deren Urheber, so kennt der Mensch im Fall des bösen Prinzips zwar das Verkehrte, aber dessen Ursache, die Trennung vom Guten als eigene Tat, bleibt ihm unbegreiflich. Kant verwendet die Metapher des Losreißens in diesem Zusammenhang nicht. Dort, wo er das Bild gebraucht, hat es die entgegengesetzte Bedeutung: »sich von aller sinnlichen Anhänglichkeit, so fern sie herrschend werden will, loszureißen« (KpV V 152; siehe auch VI 40, Anm.). Angesichts des Unbegreiflichen der ›bösen That‹ hüllt Kant sich in Schweigen, statt ›anthropomorphistisch‹, Bilder zu geben. Unschicklich sei es jedenfalls, den Ursprung des Bösen nach Art der theologischen Fakultät als eine Erbsünde vorzustellen und das Böse »als persönliche Theilnehmung unserer ersten Eltern an dem Abfall eines verworfenen Aufrührers an(zu)sehen« (RGV VI 40, Anm.). Diese Kritik richtet sich jedoch nicht gegen das (philonisch-neuplatonische) Bild des Abfallens – so spricht er selbst vom »Abfall«, ungeachtet dessen das Gebot erschalle: »wir sollen bessere Menschen werden« (VI 45) –, sondern nur gegen die moralisch entlastende Vorstellung der Anerbung, der gemäß nicht der Mensch selbst der Ursprung des Bösen wäre. – Anstelle der pejorativen Bilder einer moralisch richtenden Vernunft vom räumlichen Herabfallen, vom satanischen Aufrühren oder vom prometheischen Aufstehen verwenden wir das neutrale, der Dynamik entnommene Bild des Losreißens, das der logischen Entgegensetzung von Gut und Böse und der grundlosen Plötzlichkeit der Tat eher entspricht. – Vgl. dazu auch Schellings Spekulationen über das Losreißen in der ›Freiheitsschrift‹ (Schelling 1956 ff., Bd. I/7, 355); in der ›Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie‹ (Bd. II/1, 402) sowie im ›Tagebuch 1848‹ (Schelling 1990, 111–115). 48
608
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
Wenn der Mensch nun aber nach unserer zweiten Voraussetzung das, was er ist, durch sich selbst ist, dann ist der Mensch verderbt, weil er sich diese Natur durch seine eigene böse Tat zugezogen hat. Sie ist als die gleichsam mystische Ur-Handlung des Menschen zu verstehen, durch die er sich als Subjekt aus dem guten Wesen, das er von Natur ist, zum verderbten Wesen gemacht hat. Insofern ist der Mensch, wie Kant sagt, seiner Anlage nach gut, weil er diese Anlage nicht durch sich selbst hat; er hat aber den natürlichen Hang zum Bösen, weil er diese Natur durch eigene Tat hat. So verderbt, »wie man ihn durch Erfahrung kennt« (VI 32), ist der Mensch, weil er sich selbst dazu gemacht hat. 49 2. Vergleichen wir auf der Grundlage dieses »Losreißens« nun die entgegengesetzten Prinzipien des Guten und des Bösen in ihrem Verhältnis zur menschlichen Natur, so verhalten sich beide in Kants Anthropologie offensichtlich zueinander wie die Begriffe der Autorität und der Autonomie: Im Falle des Guten ist zwar die sittliche Ordnung als ein gegebener Auftrag dem Menschen, wie Kant sagt, »völlig klar«; aber die Ursache dieses Gegebenseins bleibt dem Menschen ein »undurchdringliches Geheimniss«; sie wird von ihm, so sagten wir, in der moralischen Nötigung als Urheber der Anlage zum Guten anerkannt. Im Fall des Bösen jedoch ist der Urheber der verderbten Natur der Mensch selbst durch die Tat der Verkehrung der sittlichen Ordnung, so dass er sich die natürliche Ordnung selbst gibt. Denn da er diese nicht, wie die sittliche Ordnung, als eine Anlage in seiner Natur vorfindet, sondern er sie von Natur hat, weil er sie sich selbst zugezogen hat, muss er sich diese Ordnung selbst ursprünglich gegeben haben. Während der Mensch also als Ursache des Sittlichen eine andere Person als Subjekt anerkennt, muss er sich selbst als Urheber des Verderbten anerkennen. Sein Verhältnis zu der verkehrten Maxime seines Willens ist daher das der Selbstgesetzgebung. – So verstanden stehen beide Ordnungen, die sittliche und die natürliche, im Verhältnis von Autorität und Autonomie zueinander: in der Annahme des Vernunftgesetzes als der bestimmenden Maxime seines Handelns erkennt der Mensch eine andere Person als den ihm unbegreiflichen Urheber dieser Ordnung an; in der Annahme der Sinnlichkeit als der Bedingung seines Vernunftgebrauchs Im »Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte« schreibt Kant: »Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.« (MM VIII 115)
49
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
609
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
muss er sich, ebenso unbegreiflich, diese Gesetzgebung selbst zuschreiben. 50 Nun scheint diese Erklärung des Ursprungs der verderbten Natur jedoch dem kantischen Gebrauch des Autonomiebegriffs allzusehr zu widersprechen, der ihn ausschließlich mit dem »obersten Princip der Sittlichkeit« (GMS IV 440) verbindet. Nach ihm ist allein der Wille autonom, der das Vernunftgesetz zur Maxime erhebt, – nicht aber der Wille, der an die Sinnlichkeit als materiales Prinzip gebunden und daher heteronom ist 51 . Doch beides widerspricht sich nicht; denn im einen Fall geht es Kant transzendentalphilosophisch um die Art der Gesetzgebung des Willens auf dem Gebiet der Sitten; im anderen Fall jedoch anthropologisch um die ursprüngliche Tat der Verkehrung der Ordnung der Vermögen. Auf dieser Ebene der Prinzipien von Gut und Böse aber verbietet es Kant ausdrücklich, sich das moralische Gesetz als Akt der Autonomie, der Selbstgesetzgebung, zu denken 52 ; dieses Gesetz ist dem Menschen vielmehr gegeben und von ihm als Maxime frei anzunehmen. Von diesem Gesetz haben wir gesagt, dass die Autonomie des menschlichen Willens darin besteht, mit dessen Annehmung zugleich Gott als die Autorität anzuerkennen, die das Gesetz gibt. Von dieser Autonomie des Willens ist nun aber die Autonomie des Menschen verschieden. Denn diese ist zwar
50 Während Kant die Selbstliebe, »als Prinzip aller unserer Maximen angenommen,« die »Quelle alles Bösen« (RGV VI 45) nennt, macht er nicht einsichtig, warum er nicht den Gegenbegriff der Gottesliebe als Quelle alles Guten anführt. Der Einwand, die Liebe sei bloß ein Gefühl, dem die Unbedingtheit nicht zukommt, die das Gesetz fordert, sticht hier nicht. Denn dort, wo das Gesetz befiehlt (siehe: KpV V 83), wird die Liebe als eine sinnliche Neigung, als »pathologische Liebe« (ebd.), verstanden, die sich in der Tat nicht befehlen lässt. Aber dort, wo Kant die Selbstliebe die »Quelle alles Bösen« nennt, ist sie ausdrücklich keine sinnliche Neigung, sondern ein »Prinzip aller unserer Maximen«. Warum also nicht die Gottesliebe als Prinzip aller unserer moralischen Maximen annehmen? Beide, die Gottes- wie die Selbstliebe, wären in ihrem Ursprung gleichermaßen unbegreiflich; aber sie anzunehmen wäre nötig, um zu erklären, wodurch der Mensch weiß, dass er von Natur gut bzw. böse ist. 51 Siehe: GMS IV 441. 52 »Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat, (mithin dem göttlichen Willen) hervorgehend ausgedrückt werden, welches aber nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet, dessen Willen für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber desselben zu denken.« (GMS VI 227) Der Unbedingtheit des Gesetzes wegen, so interpretieren wir, kann es nicht als aus unserem Willen hervorgehend gedacht werden.
610
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
in der Tat selbstgesetzgebend, weil der (böse) Mensch sich die verkehrte Ordnung als Maxime selbst gibt; aber sie ist nicht unbedingt, weil sie in der Verkehrung die Existenz der sittlichen Ordnung voraussetzt. 53 Diese Autonomie ist gleichsam ›gegenvernünftig‹ oder ›widermoralisch‹ zu nennen, weil der Mensch sich in dieser Gesetzgebung, anders als im Fall der moralischen, als selbstgesetzgebend denken muss, und sie die sittliche Ordnung als nicht selbst gegebene Voraussetzung hat. 54 Sie ist – wenn dafür ein weiteres Bild gestattet ist – der Akt der ›Selbstentfremdung‹ des Menschen: von seiner ursprünglich guten Natur durch eigene böse Tat zu seiner verderbten Natur. Deuten wir diese Autonomie als ein personales Verhältnis, so muss diese Beziehung des Menschen zu sich als ›Ur-Sünde‹ (peccatum originarium; VI 31) interpretiert werden: die Verderbnis seiner Natur, die der grundlos-freien Abkehr des Menschen von seiner Berufung zum Guten und der unbegreiflichen Trennung vom Sittlichen in seiner Natur entspringt. Während also – so unser nur scheinbar paradoxes Resultat – die Autonomie des guten Willens in der Anerkennung des moralischen Urhebers als Autorität beruht, geht die Autonomie als Prinzip des bösen Willens als freie Tat des Menschen grundlos, zufällig, aus sich selbst hervor.
In Hinblick auf die Annehmung des Vernunftgesetzes bemerkt N. Fischer zu Recht, dass Kants Annahme einer natürlichen Anlage zum Guten im Menschen es vermeidet, »dass die intelligible Selbstbestimmung nicht zum hybriden Gedanken einer Selbstschöpfung degeneriert.« (Fischer 1988, 42) Der Mensch darf »– obwohl der subjektive Grund des Freiheitsgebrauchs selbsthervorgebracht sein muss – nicht in jeder Hinsicht als Grund seines Seins gedacht werden. Sein faktisches Dasein und einige Auszeichnungen seines Daseins müssen als gegeben vorausgesetzt werden …« (39). Diese »Auszeichnungen« können sich jedoch nur auf das Gute in seinen Anlagen, nicht aber auch, wie Fischer behauptet, auf das Böse beziehen; denn das Böse ist als Leugnung dieses Gegebenseins – wie er Kant selbst zitiert – »unsere eigene Tat« (41). Während die Anlage zum Guten für Kant ein ›notwendiges Apriori‹, das der Mensch als Möglichkeit des Menschen überhaupt je schon vorfindet, ist der Hang zum Bösen ein ›zufälliges Apriori‹, das er sich durch eigene Tat selbst zuzieht bzw. je schon zugezogen hat. 54 Cohen 1910, 339: »Der Ursprung des Bösen liegt vielmehr im Guten selbst; in der moralischen Anlage des Menschen.« Dies erscheint uns als eine zwar pointierte Formulierung, aber missglückte Interpretation; denn die moralische Anlage ist für Kant Voraussetzung und Bedingung des Bösen, aber niemals dessen Ursprung. Auf sie könne »schlechterdings nichts Böses gepfropft werden« (VI 27). 53
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
611
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
3.
Die »böse Tat« als Grund der menschlichen Erkenntnisart
Kehren wir nach der Rekonstruktion des Ursprungs der verderbten Natur des Menschen zur Frage nach dem einen Grund sowohl für dieses Verderbte als auch für die menschliche Art der Naturerkenntnis zurück, so findet diese spezifisch menschliche Erkenntnisart ihre kantische Letztbegründung offenbar in jener ursprünglichen und ganz unbegreiflichen Ur-Tat, durch die der Mensch die sittliche Ordnung seiner Vermögen verkehrt. Weil durch diese Tat das böse Prinzip in seiner Natur einwohnt, so die Schlussfolgerung, ist dem Menschen eine Erkenntnis durch bloßes Denken unmöglich; er ist zum Gebrauch seiner Vernunft allemal auf die Sinnlichkeit als das Vermögen der Rezeptivität angewiesen, – und doch muss er diese sinnliche Bedingtheit seines Vernunftgebrauchs sich selbst zuschreiben. Wenn Kant daher in der »Kritik der reinen Vernunft« es als Tatsache annimmt, dass die Vernunft durch das Naturgesetz auf dem Gebiet der Natur allein durch synthetische Urteile a priori gesetzgebend ist; diese Grundsätze aber »gar nicht direkt aus Begriffen, sondern immer nur indirekt durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz Zufälliges (H. v. m.), nämlich mögliche Erfahrung« (B 765), errichtet sind, dann ist der anthropologische Grund für diese Tatsache offenbar nichts anderes als die an sich zufällige Ur-Tat, durch die der Mensch sich diese an sich zufällige Beziehung der Begriffe auf mögliche Erfahrung selbst zuzieht. Wäre die Ur-Tat der Verkehrung der sittlichen Ordnung nicht geschehen, befände der Mensch sich also nicht je schon im Zustand der ›Sünde‹, so wäre seine Natur nicht verderbt, und er hätte das Vermögen, der sittlichen Ordnung gemäß seine Sinnlichkeit durch reine Vernunftbegriffe zu bestimmen. Von der Idee eines solchen »andern möglichen Verstande(s), als dem menschlichen,« (V 405) stellt Kant in der »Kritik der Urteilskraft« dann fest, dass sie für den Menschen notwendig sei, »um diese Eigenthümlichkeit unseres Verstandes zum Unterschiede von anderen möglichen anzumerken« (V 406). Da nun aber die Natur des Menschen aus eigener Schuld verderbt ist, ist es ihm zwar möglich, ja notwendig, einen solchen anderen ›heilen‹ Verstand zu denken, aber es ist ihm nicht anders möglich, als auf diese an sich zufällige Weise zu erkennen. Zwar bezieht Kant in der »Religionsschrift« dem Thema entsprechend das Verderbte der menschlichen Natur nur aufs Praktische, auf die Maximen, nicht auf die Begriffe; und spricht in der 612
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Kants »epistemologische Anthropologie«
»Kritik der Urteilskraft« von der Idee eines anderen Verstandes in Hinblick auf den Begriff eines Zwecks der Natur. Wenn es für Kant jedoch überhaupt nur zwei Prinzipien gibt, die für das Gebiet der Moral und der Natur gesetzgebend sind, dann sind die empirisch bedingten Maximen, nach denen der Mensch böse handelt, »technische Sätze«, die nach Naturbegriffen gefolgert werden. Dann aber kann das Prinzip der bösen Maximen nicht auf dem Gebiet des praktischen Handelns gefunden werden, sondern muss in der ursprünglichen bösen Ur-Tat liegen, durch die der Mensch sich das Verderbte seiner Natur zuzieht, die Handlungsmaximen nach Naturbegriffen zu bestimmen 55 . Dass also der Mensch der Sinnlichkeit bedarf, um In seiner Arbeit »Kant über Freiheit als Autonomie« (1983) hat G. Prauss diese Unterordnung der empirisch bedingten praktischen Vernunft unter die theoretische Vernunft herausgearbeitet. Er hebt zunächst die »Zweideutigkeit des Glückseligkeitsstrebens« (28–40) hervor, die Kants Morallehre vor allem in der »Kritik der praktischen Vernunft« und der »Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten« anhaftet. Kant sage dort – mit Aristoteles –, dass »alles menschliche Handeln grundsätzlich Streben nach Glückseligkeit« (29) sei. Die Vernunft sei hier praktisch, weil der Begriff der Glückseligkeit der praktischen Beziehung der Objekte aufs Begehrungsvermögen »allerwärts zum Grunde« liege (37). Mit diesem Begriff einer »praktischen Vernunft« befinde Kant sich jedoch »und zwar nach seinem eigenen Grundprinzip in einem fundamentalen Irrtum.« (ebd.) Denn wie er sich selbst klarmache, könne diese Vernunft nichts Praktisches sein: »Was sie selbst jeweils zu diesem »Praktischen« [beiträgt], sind vielmehr ausschließlich ›allgemeine Regeln‹, um ›Mittel zu Absichten auszufinden‹, nämlich zu begehrten Wirkungen die entsprechenden Ursachen anzugeben, die sie herbeiführen könnten: ›Als dann sind es aber bloß theoretische Prinzipien (z. B. wie derjenige, der gern Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe)‹.« (ebd.). Kant erkenne demnach im Streben nach Glückseligkeit nichts Praktisches, sondern nur »etwas Theoretisches« (ebd.). Denn das Begehrungsvermögen werde nur als eine durch sinnliche Antriebe bewirkte Naturursache, nicht aber als ein eigengesetzliches Vermögen aufgefasst. Praktisch sei allein eine Kausalität aus Freiheit, »genau das, ›was durch Freiheit möglich ist‹.« (38) Des weiteren bezeichnet G. Prauss es zutreffend als ein »fundamentales Missverständnis, wenn man meint, diese Auffassung der Vernunft als ›instrumenteller‹ … habe auch schon als spezifisch neuzeitlich zu gelten. Mag sie in der Neuzeit und bis heute noch so oft vertreten werden, und mögen ihre Vertreter – ob sie nun Descartes oder Hobbes, Locke oder Hume, Marx oder Engels heißen – sich darüber im klaren sein oder auch nicht, so ist doch diese Auffassung als solche noch so wenig neuzeitlich, dass sie vielmehr lediglich in der Neuzeit wieder erneuerte, durch ihr Kausalprinzip noch radikalisierte Antike darstellt.« (51). Insofern sei Kants Reduktion des Glückseligkeitsstrebens auf bloße Theorie die Kritik an der (in der Neuzeit erneuerten) Antike, die keinen Begriff von Freiheit und damit von Praxis – im Unterschied zur Theorie – hatte. – Dieser Feststellung wollen wir das für unsere Rekonstruktion Wesentliche hinzufügen, dass dieses Fehlen eines Begriffs von Freiheit für Kant selbstverschuldet ist; sie besteht nicht in einem Defizit der Theorie, sondern in einer Handlung oder Tat ist. Die Glückseligkeitslehre wollte eine rein praktische Vernunft nicht kennen. Diese Hinzufügung er55
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
613
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
durch Begriffe zu erkennen; dass aber diese Erkenntnisart für den Menschen zwar notwendig, an sich jedoch zufällig ist, – dieses anthropologische Faktum findet seine Letztbegründung in Kants Lehre vom radikal Bösen, nach der der Mensch sich diese Natur durch eigene zufällige Tat selbst gegeben hat.
III. Der Antagonismus der zwei Prinzipien Kants epistemologische Anthropologie besteht aus zwei Grundsätzen: »der Mensch hat von Natur die Anlage zum Guten«, und: »der Mensch hat von Natur den Hang zum Bösen«. Der erste Grundsatz erklärt die Möglichkeit der Gesetzgebung der Vernunft auf dem Gebiet der Moral; der zweite erklärt die Notwendigkeit der sinnlichen Bedingtheit der Erkenntnis auf dem Gebiet der Natur. – Nun scheint jedoch diese anthropologische Begründung des transzendentalphilosophischen Grundsatzes darin fehlzugehen, dass die zwei epistemischen Gebiete, Moral und Natur, verschieden sind, dass aber die zwei Prinzipien der menschlichen Natur, das gute und das böse, einander entgegengesetzt sind. Sie schließen einander aus, weil der Mensch entweder gut ist, wenn, der »sittlichen Ordnung« gemäß, das Vernunftgesetz als oberste Maxime seine Sinnlichkeit bestimmt, oder aber böse, wenn, der »natürlichen Ordnung« gemäß, die verkehrte Ordnung zur obersten Maxime erhoben wird. Wenn daher der Rekurs auf die menschliche Natur die Verschiedenheit der zwei Gebiete der Erkenntnis erklären soll, dann muss die menschliche Natur im Praktischen gut, im Theoretischen aber verderbt, d. h. sie muss teils gut, teils verderbt sein. Nun gibt Kant angesichts dieser Diskrepanz zwischen der Verschiedenheit der epistemischen Gesetzgebungen und der Entgegensetzung der Prinzipien selbst das Modell an die Hand, das erklärt, wie beides möglich ist. Denn er stellt diesen Antagonismus der Prinzipien als Geschichte des Kampfes des guten Prinzips gegen das böse dar, worin der Mensch, der zum Guten unzerstörbar die Anlage und zum Bösen unvermeidlich den Hang hat, sich als das Gattungssublaubt es uns, Kants Kritik der empirisch bedingten, ›instrumentellen Vernunft‹ mit dem moralisch Bösen zu verbinden und das moderne Wissen um eine rein praktische Vernunft im Weiteren als »Wiederherstellung des Guten« zu deuten.
614
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
jekt zu dem macht, was er ist. Diese Geschichte des Kampfes fange mit der Herrschaft des Bösen über das Gute an, sie ende aber mit der Herrschaft des Guten über das Böse in der Gegenwart, die durch eben diese Trennung der zwei Erkenntnisgebiete, der Moral und der Natur, bestimmt ist, so dass keine »der anderen Eintrag thun darf« (VI 75). Kants Richterspruch über die Verschiedenheit der epistemischen Gesetzgebungen ist daher als der geschichtliche Ausdruck des Siegs des guten Prinzips über das böse zu verstehen, der in der Gegenwart zum Prinzip der Erkenntnis geworden ist. Mit dieser Geschichte des Kampfes erklärt Kant freilich nicht nur, wie durch den Antagonismus der Prinzipien die Verschiedenheit der zwei Gebiete bewirkt wird, sondern auch, was der Sinn und Zweck dieser Gebietstrennung ist.
A. Die Geschichte als Ort des Kampfes der Prinzipien Um diesen Antagonismus der Prinzipien nachzuvollziehen, beziehen wir uns auf die Darstellung vom »Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen« (VI 57), die Kant in der »Religionsschrift« gegeben hat, und gehen vorab auf die Bedeutung der Begriffe des »Kampfes« oder »Antagonismus« sowie der »Geschichte« ein. 1. Da Kant die Entgegensetzung der zwei Prinzipien als einen Kampf der beiden konzipiert, bedarf es der Annahme eines Dritten, das weder das gute noch das böse Prinzip ist, worin aber jedes Prinzip auf die Herrschaft und die Ausschließung des entgegengesetzten geht. 56 Der Ort, auf dem Kant diesen Kampf austragen lässt, ist die Betrachtet man diesen »Kampf der Prinzipien« bloß als solchen, entspricht er dem, was Kant in der KrV als »Antinomie der Vernunft« beschreibt. Er erkennt dort in dem »Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite« »eine vollkommene Gleichförmigkeit der Denkungsart und völlige Einheit der Maxime« (B 493): auf der einen Seite der »Dogmatism der reinen Vernunft« (B 494), auf der anderen der »Empirism«. Jeder sei ein in sich konsequentes Vernunftsystem, das sich absolut setzt, indem es auf das je andere Gebiet ›übergreift‹ : der Dogmatismus, der das, was bloß sein soll, als seiend behauptet; der Empirismus, der das, was sein soll, als nicht-seiend leugnet. Es dürfte Kants Intention entsprechen, wenn wir das Prinzip des Dogmatismus in moralischer Hinsicht als »überschwänglich gut« bezeichnen, weil dieser aus dem praktischen Interesse am Guten das Dasein der Vernunftideen Freiheit, Seele und Gott behauptet und so der Moral und Religion eine Stütze zu geben trachtet, aber zugleich die der theoretischen Erkenntnis gesetzten Grenzen der Erfahrung überschreitet; und umgekehrt das Prinzip des Empirismus als »radikal böse«, weil er aus theoretischem Interesse sich zwar 56
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
615
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Geschichte. Damit schließt er zunächst aus, dass dieser Ort ein mythologisches Götterreich ist, in dem das Gute und das Böse um die Herrschaft über den Menschen ringen; denn in der Geschichte, die Kant vorträgt, wird die Sache des Menschen selbst verhandelt: tua res agitur. 57 Weiterhin schließen wir aus, dass der Austragungsort dieses Kampfes das menschliche Bewusstsein ist. Denn zum einen bliebe unklar, was unter diesem Ausdruck hier zu verstehen sei; und zum anderen könnte das menschliche Bewusstsein nur der Kampf der Prinzipien selbst sein, es könnte entweder gut oder böse sein, nicht aber ein Drittes, worin er ausgetragen wird 58 . Schließlich verstehen auf »dem Felde von lauter möglichen Erfahrungen bewegt, deren Gesetzen er nachspüren, und vermittelst derselben er seine sichere und fassliche Erkenntnis ohne Ende erweitern kann« (B 496), er aber zugleich »in Ansehung der Ideen … dasjenige dreist verneint, was über die Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse ist« (B 499). Während Kant in seiner »Geschichte der reinen Vernunft« beim Dogmatismus den Platonismus vor Augen hat, sei das empiristische System das des »Epikureism«, weil Epikur »der vornehmste Philosoph der Sinnlichkeit« (B 881) und »viel konsequenter nach seinem Sensualsystem (denn er ging mit seinen Schlüssen niemals über die Grenze der Erfahrung hinaus) als Aristoteles und Locke« (B 882) verfahren sei. Kants Wertschätzung, die er Epikur als einem »echteren philosophischen Geist, als irgendeiner der Weltweisen des Altertums« (B 499, Anm.) entgegenbringt, setzt jedoch voraus, der »Epikureism« habe die reinen Vernunftideen nur ignoriert, nicht aber ›dreist verneint‹ (siehe B 400, Anm.). Allerdings kann nach unserer bisherigen Rekonstruktion der Ursprung dieser entgegengesetzten Denkungsarten nicht, wie Kant in der KrV nahelegt, die Vernunft selbst sein, weil diese sich nicht widersprechen kann, sondern muss in dem guten und dem bösen Prinzip liegen, und der Widerstreit der Denkungsarten muss der Kampf sein, den das gute Prinzip mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen austrägt. 57 »Die heilige Schrift (christlichen Antheils)«, schreibt Kant hierzu, »trägt dieses intelligible moralische Verhältniss in der Form einer Geschichte vor, da zwei wie Himmel und Hölle einander entgegengesetzte Principien im Menschen, als Personen außer ihm vorgestellt, nicht bloß ihre Macht gegen einander versuchen, sondern auch (der eine Theil als Ankläger, der andere als Sachwalter des Menschen) ihre Ansprüche gleichsam vor einem höchsten Richter durchs Recht gelten machen wollen.« (VI 78) Diese Darstellung sei die »wahrscheinlich für ihre Zeit auch einzige populäre Vorstellungsart«, die »von ihrer mystischen Hülle entkleidet« (VI 83) zeige, »dass es schlechterdings kein Heil für die Menschen gebe, als in innigster Aufnehmung ächter sittlicher Grundsätze in ihre Gesinnung« (VI 83). 58 Es erscheint uns als ganz unwahrscheinlich, dass Kant seiner Theorie der menschlichen Erkenntnis ein »natürliches Bewusstsein« zugrunde gelegt hat, wie dies R.-P. Horstmann in seiner Untersuchung Die Grenzen der Vernunft annimmt. Zwar durchzieht die Wertschätzung des »gesunden« oder »gemeinen Menschenverstandes« unbestreitbar Kants gesamtes Werk, und es liegt nahe, das häufig gebrauchte »wir« so zu interpretieren, dass Kant auf die Übereinstimmung mit einem vorphilosophischen »natürlichen Bewusstsein« zielt. Versteht man jedoch Kants Philosophie konkreter, nicht
616
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
wir den Kampf zwischen Gut und Böse auch nicht als einen Kampf, der im menschlichen Willen um den menschlichen Willen ausgetragen würde, so als ob er eine Art ›Wahlkampf‹ um den Menschen wäre 59. Wir gehen vielmehr davon aus, dass Kant den Kampf der zwei Prinzipien als ein öffentliches Ringen um die epistemische Gesetzgebung darstellt. Diese Geschichte als Streitplatz der Prinzipien teilt Kant in drei Epochen ein, die wir vorläufig das ›dunkle‹, das ›vergangene‹ und das ›moderne‹ Zeitalter nennen. Unter der ersten Epoche ist eine Art ›Vorgeschichte‹ verstehen, in der das böse Prinzip öffentlich dominiert; unter der zweiten die eigentliche ›Geschichte‹, in der das gute und das böse Prinzip öffentlich um die Herrschaft über den Menschen kämpfen; unter der dritten Epoche schließlich die ›Gegenwart‹, in der das gute Prinzip über das böse in der Weise herrscht, dass die Verschiedenheit der epistemischen Gebiete, Moral und Natur, zu einem öffentlichen Grundsatz geworden ist, der durch diese Art der
nur als transzendentale Erklärung solchen Bewusstseins, sondern als Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« oder als Aufklärung über die »conditio humana« (Horstmann 1995, 33), dann klingt Kants Erkenntnistheorie minder gemütlich als man es von einer Theorie des »natürlichen Bewusstseins« erwarten kann. Es mag sein, dass die Grundsätze der »naiven Realisten« (32), man solle sich an die Erfahrung und das, was man sieht, für wirklich halten, wie Horstmann sagt, und der »naiven Idealisten«, man solle ein guter Mensch sein (was er nicht sagt), in einem ›normalen‹ Bewusstsein ihren Platz haben. Aber dieses Bewusstsein entspricht nicht Kants Begriff von der conditio humana. Dieser enthält vielmehr eine Zerrissenheit in gut und böse, die der Mensch zudem selbst verschuldet habe. Will man sich überhaupt so etwas wie ein »natürliches Bewusstsein« vorstellen, so hat dies besser der »gute Mendelssohn« formuliert, den Kant zitiert: »Der Mensch geht weiter; aber die Menschheit schwankt beständig zwischen festgesetzten Schranken auf und nieder; behält aber im Ganzen betrachtet, in allen Perioden der Zeit ungefähr dieselbe Stufe der Sittlichkeit, dasselbe Maß von Religion und Irreligion, von Tugend und Laster, von Glückseligkeit und Elend.« (G VIII 308) Diesem natürlichen Bewusstsein als einer ›Gaußschen Normalverteilung‹ widerspricht Kant jedoch heftig: »Ich bin anderer Meinung«. Es sei Pflicht, nicht so zu denken, sondern den Menschen, »mit Widerwärtigkeiten und Versuchungen zum Bösen ringen und ihn dennoch dagegen Stand halten zu sehen«. (ebd.) Und schließlich explodiert seine Entgegnung garadezu im enthusiastischen Bekenntnis, das menschliche Geschlecht in diesem Ringen beständig im Fortrücken zu sehen. Statt dieses Bekenntnis als Reformulierung eines »natürlichen Bewusstseins« zu deuten, unternehmen wir es – unseres Erachtens angemessener –, es als Formulierung des »modernen Bewusstseins« zu verstehen. 59 vgl. Augustins Schilderung des Dramas der zwei entgegengesetzten Willen, in: Augustin 1970, VIII, 9; 21. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
617
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Gesetzgebung zugleich den Ausblick auf das Künftige und die Bestimmung des Menschen, das »Gottesreich auf Erden«, eröffnet. 2. Da Kant unterschiedliche Geschichtskonzeptionen vorgetragen hat, soll vorab verdeutlicht werden, auf welche sich unsere Rekonstruktion stützt. Gegenüber der von Kant in der »Religionsschrift« erzählten Geschichte vom Kampf des guten Prinzips mit dem bösen ist die Geschichtskonzeption, die er in der Schrift »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« dargelegt hat, die geläufigere. Sie liegt auch anderen geschichtsphilosophischen Schriften wie der Schrift »Zum ewigen Frieden« oder dem »Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte« zugrunde. Allerdings gibt diese Konzeption, gerade weil sie die Idee einer Geschichte ausführt, auf das epistemologische Problem keine Antwort. Sie geht vielmehr schon von denjenigen Grundsätzen der Erkenntnis aus, um deren Begründung es uns zu tun ist: vom Begriff einer Erfahrung nach Naturgesetzen einerseits, wonach der Mensch aus »krummem Holz« (IGA VIII 23) ist; und vom Begriff einer reinen praktischen Vernunft andererseits, wonach er aus geradem sein soll. Auf der Grundlage dieser Verschiedenheit von Sein und Sollen formuliert Kant die Frage, wie eine allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gedacht werden müsse. Diese Geschichte erzählt daher nicht, wie es überhaupt zu der epistemischen Trennung des Seins vom Sollen kam, sondern konstruiert, wie »Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei« (IGA VIII 18). Ihr liegt die praktische Frage zugrunde: ›Wie muss angesichts des Dualismus von Natur und Moral die Menschheit als zum moralisch Besseren fortschreitend gedacht werden?‹ ; nicht aber die epistemologische Frage: ›wie lässt sich dieser Dualismus als ein Grundsatz der menschlichen Erkenntnis begründen?‹. Jene Konzeption konstruiert Geschichte nach einem gewissen Mechanismus als Fortschreiten zu einem besseren Zustand; diese jedoch erzählt vom Antagonismus von Gut und Böse, der zu dem gegenwärtigen Zustand der Trennung geführt hat. Daher kann das Subjekt dieser Geschichte weder »die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum)« (eF VIII 360) sein, die Kant zur Idee einer Geschichte als notwendig annimmt; es kann aber auch nicht der Mensch als Gattung sein, weil, wie Kant sagt, »die Geschichte der Satzungen verschiedner Völker, deren Glaube in keiner Verbindung unter einander steht, … keine Einheit (gewährt)« (VI 125), ohne die aber eine solche Erzählung nicht möglich sei. Kant sieht diese Einheit vielmehr im Zustand des öffentlichen Kampfes 618
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
des guten mit dem bösen Prinzip, der »bloß auf denjenigen Theil des menschlichen Geschlechtes eingeschränkt« (VI 124) ist, bei dem die Frage nach den entgegengesetzten Prinzipien öffentlich aufgestellt und ihre Entscheidung »zur größten moralischen Angelegenheit« (ebd.) gemacht worden ist. Dieser Teil des menschlichen Geschlechts ist für Kant offenbar das Subjekt, das den Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen austrägt. Er nennt ihn als einen öffentlichen Zustand die »allgemeine Kirche« (VI 124); wir nehmen an, dass mit diesem Ausdruck die spezifisch abendländisch-europäische Kultur gemeint ist, die Kant – gleichsam ›stellvertretend‹ für das gesamte menschliche Geschlecht – um den Menschen ringen sieht, und die er in drei geschichtliche Epochen einteilt: die böse ›Vorgeschichte‹, die antagonistische ›Vergangenheit‹ und die gute ›Gegenwart‹. Diese Geschichte deuten wir in dieser Dreiteilung als Kants Rekonstruktion der Grundstruktur des europäischen Denkens aus der Perspektive des modernen Denkens und seiner Trennung der Gegenwart von der ›Vor-Moderne‹.
B.
Die Herrschaft des Bösen als »Reich der Finsternis«
Wenngleich die sittliche Ordnung als ursprüngliche Anlage zum Guten, als Möglichkeit des Menschen überhaupt, der menschlichen Natur unzerstörbar innewohnt, so sei doch das historisch Erste: die Herrschaft des Bösen über den Menschen. Wie auch immer es zugegangen sein mag, dass der Mensch das Gute annahm: »so fing er doch vom Bösen an« (VI 72). Diesen Beginn der Geschichte können wir den »moralischen Anfangszustand« nennen, von dem der Mensch – »auch der beste« (VI 36) – auszugehen habe. Ihm entspricht zum einen die von Kant zitierte Erfahrung, wonach die »Welt im Argen liege« (VI 19) und der Mensch daher »nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders [als von Natur böse] beurtheilt werden« (VI 32) kann; zum anderen aber entspricht ihm als moralischem Zustand, dass der Anfang des Kampfes von Gut und Böse als ein vom Menschen selbst bewirkter Zustand gedacht werden müsse, der seiner bösen Ur-Tat der Verkehrung der sittlichen Ordnung entspringt, durch die der Mensch sich, wie dargelegt, aus einem ›Wesen‹ zum ›Subjekt‹ macht. Daher fängt diese Geschichte vom Bösen an; »denn sie ist Menschenwerk.« (MM VII 115). Auf der Grundlage dieser Bestimmung des Anfangs wendet A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
619
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Kant sich gegen die, insbesondere stoischen, Ethiker, die zwar die moralischen Gesetze »unmittelbar aus der … allein gesetzgebenden und durch sie schlechthin gebietenden Vernunft« (VI 58, Anm.) geschöpft, aber den Anfangszustand nicht in die Herrschaft des Bösen, sondern in die »bloß undisciplinirten« (VI 57) sinnlichen Neigungen des Menschen gesetzt haben. In dieser »letzteren Voraussetzungen lag eben der Fehler.« (VI 58, Anm.) Denn der vorauszusetzende Anfang sei keine schuldlose und unverdorbene »res integra« (ebd.), sondern »das Böse, was schon Platz genommen hat« (ebd.). Daher sei es »das erste wahre Gute, was der Mensch thun kann, … vom Bösen auszugehen, welches nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst zu suchen ist.« (ebd.) Diese Art der Gesinnung, die wir als die »Autonomie des Menschen« bezeichnet haben, weil in ihr der Mensch sich die verkehrte Maxime selbst gibt, sei »eigentlich der wahre Feind« (ebd.) des Guten. Den Ort nun, wo dieser »natürliche Anfangszustand« in geschichtlicher Wirksamkeit angetroffen wird, stellt Kant anhand des Alten Testaments vor. Nach dieser Erzählung sei die Herrschaft des Bösen über den Menschen durch »ein böses Wesen (wie es so böse geworden, … ist nicht bekannt)« (VI 78) errichtet worden, das »die Stammältern aller Menschen von ihrem Oberherrn abtrünnig und ihm anhängig (gemacht)« und »sich so zum Obereigenthümer aller Güter der Erde, d. i. zum Fürsten dieser Welt, (aufgeworfen hat)« (VI 79). Diesem seien »alle von Adam (natürlicherweise) abstammende(n) Menschen unterwürfig (geworden) und zwar mit ihrer eignen Einwilligung« (VI 79). – Was Kant hier in biblischer Sprache als den »Fürsten dieser Welt« bezeichnet, deuten wir im bisherigen Kontext als die Herrschaft der empirisch bedingten Vernunft, welche die Verbindlichkeit des Vernunftgesetzes als der hinreichenden Triebfeder der Willensbestimmung »dreist verneint« (B 499); die also die Berufung des Menschen zu einem ethischen Staate leugnet und – in Verkehrung der sittlichen Ordnung – dem Gebrauch der Vernunft allemal empirisch-materiale Beweggründe zugrunde legt. Unter ihrer Herrschaft gelten »keine andere(n) Triebfedern als die Güter dieser Welt« (VI 79). Von diesem Reich, das das böse Prinzip anfänglich errichtet hat, nimmt Kant nun an, dass es nicht öffentlich gewesen sei, aber innerlich das Gemüt und die Gesinnung der Menschen beherrscht habe. Zwar galt die öffentliche Verehrung dem guten Prinzip; sie war aber nur auf die »alleinige Verehrung seines Namens angeordnet« (VI 79) 620
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
und dessen Herrschaft daher bloß statutarisch: durch die Anordnung von Zeremonien und Gebräuche als einem äußerlichen Zwang, die »also nur bürgerliche waren, wobei das Innere der moralischen Gesinnung gar nicht in Betrachtung kam: so that diese Anordnung dem Reiche der Finsterniss keinen wesentlichen Abbruch …« (ebd.) In diesem anfänglichen Zustand waren zwar die empirischen Handlungen der Menschen den Gesetzen gemäß; aber das Herz, der intelligible Charakter ihrer Handlungen, war verkehrt und böse. Die Darstellung dieses Anfangszustands verknüpft Kant mit dem Judentum, das, »in seiner Reinigkeit genommen« (VI 126), gar kein ethisches Gemeinwesen sei, sondern nur ein politisches: die »Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten« (VI 125). Der jüdische Glaube sei daher »seiner ursprünglichen Einrichtung nach ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war« (ebd.), und der »gar nicht mit der Forderung an die moralische Gesinnung« (VI 126) in Befolgung der Gesetze verbunden war, sondern den Menschen nur politische Zwangsgesetze auferlegte und »aus einem mechanischen Cultus das Hauptwerk macht(e).« (VI 127) Der jüdische Gott negierte zwar, »bloß als weltlicher Regent« (VI 125), nicht das Moralische der Gesinnung; er tat jedoch »über und an das Gewissen gar keinen Anspruch« (ebd.). »Es ist nämlich kaum zu zweifeln«, argumentiert Kant: »dass die Juden eben sowohl wie andre, selbst die rohesten Völker nicht auch einen Glauben an ein künftiges Leben, mithin ihren Himmel und ihre Hölle sollten gehabt haben; denn dieser Glaube dringt sich kraft der allgemeinen moralischen Anlage in der menschlichen Natur jedermann von selbst auf. Es ist also gewiss absichtlich geschehen, dass der Gesetzgeber dieses Volks, ob er gleich als Gott selbst vorgestellt wird, doch nicht die mindeste Rücksicht auf das künftige Leben habe nehmen wollen, welches anzeigt: dass er nur ein politisches, nicht ein ethisches gemeines Wesen habe gründen wollen; in dem erstern aber von Belohnungen und Strafen zu reden, die hier im Leben nicht sichtbar werden können, wäre unter jener Voraussetzung ein ganz inconsequentes und unschickliches Verfahren gewesen.« (VI 126) 60 Da es uns nicht darauf ankommt, Kants Aussagen über das Judentum und den jüdischen Glauben an den Tatsachen zu überprüfen, sondern nur um die Rekonstruktion
60
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
621
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Fassen wir Kants Darstellung der Vorgeschichte des Kampfes der Prinzipien zusammen, so unterscheidet er hier das »Reich der Finsternis«, in dem das moralisch Böse seine gesetzgebende Herrschaft über die innere Gesinnung der Menschen unbehelligt ausübte, vom »Reich des Guten«, das im Judentum zwar öffentlich, aber ein bloß statutarisches Gesetzeswerk war, welches von der moralischen Gesinnung abgesehen und auf sie keinen Einfluss genommen hat. Es »diente nur dazu, um das unauslöschliche Recht des ersten Eigenthümers immer im Andenken zu erhalten« (VI 79). Das gute Prinzip aber hatte den Kampf gegen die Herrschaft des Bösen über den Menschen noch nicht aufgenommen.
C. Der öffentliche Kampf des guten und des bösen Prinzips Das geschichtlich Zweite ist für Kant die Zeit des öffentlichen Kampfes des guten mit dem bösen Prinzip. Wir nennen sie die »Vergangenheit«, weil Kant sie als den ›Boden‹ versteht, aus dem dann – revolutionär und siegreich – die »Gegenwart« als Herrschaft des Guten über das Böse hervorgeht. Die Formel, die Kant für diese Zeit verwendet, ist: der Streit des moralischen mit dem gottesdienstlichen Glauben. Während dem moralischen Glauben das Wesentliche die Moralität des Menschen ist, d. i. die freie und zugleich beständige Annehmung seiner Berufung zum ethischen Staat, ist dem gottesdienstlichen Glauben das Wesentliche die pünktliche Befolgung von Regeln als göttlicher Gebote. 61 Diese zwei Arten des Glaubens sind ihrem Prinzip nach entgegengesetzt, weil der moralische Glaube unbedingt praktisch ist und daher die Befolgung solcher Regeln von der Moralität als Prinzip abhängig macht; der gottesdienstliche jedoch das moralische Handeln vom Prinzip der Befolgung göttlicher Gebote abhängig macht, und das Moralische somit nur bedingt ist. Diejenige Religion, »in welcher ich vorher wissen muss, dass etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen« (VI seines Begriffs vom Anfangszustand der Geschichte, enthalten wir uns der Kritik. Eine solche hätte auf die kaum durchschaubare Verquickung seiner geschichtstheoretischen Aussagen über den Anfang mit den Anfangserzählungen des jüdischen Volkes sowie auf sein, durch die christlich-europäische Kultur geprägtes Urteil über den jüdischen Glauben, insbesondere »in seiner Reinigkeit«, einzugehen. – Zu Kants Bild vom »vorjesuanischen Judentum« siehe: Brumlik 2000, 46 ff., 54 f. 61 Siehe: VI 103 f.
622
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
153 f.), nennt Kant »die geoffenbarte (oder einer Offenbarung genöthigte) Religion (VI 154)«; diejenige dagegen, »in der ich zuvor wissen muss, dass etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann« (VI 154), sei die natürliche Religion. Die ›Vermischung‹ dieser zwei entgegengesetzten Glaubensarten in Einer Öffentlichkeit als geschichtlichem Boden macht nun die Zeit des Kampfes des guten Prinzips mit dem bösen aus. Kant nennt sie die »Kirchengeschichte«, die nichts anderes sei »als die Erzählung von dem beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben« (VI 124). – Heben wir nur die wesentlichen Aspekte dieser Geschichte hervor, die Kant skizziert, so sind dies ihr Anfang, die Gründung eines ethischen Gemeinwesens, die anschließende Umwandlung des moralischen in den gottesdienstlichen Glauben sowie der nachfolgende beständige Kampf der beiden. 1. An den Anfang der Vergangenheit setzt Kant nicht, wie man vermuten könnte, Athen und damit die griechische Philosophie als Kampf des ›Logos‹ gegen den ›Mythos‹, oder Rom und damit die Errichtung einer einheitlichen und dauerhaften Öffentlichkeit, auch nicht Jerusalem, das vielmehr für das »Reich der Finsternis« steht, sondern den so genannten »Lehrer des Evangeliums« als Gründer des ethischen Gemeinwesens. 62 Dieser erklärte den statutarischen »Frohnglauben … für an sich nichtig, den moralischen dagegen, der allein den Menschen heiligt, … und durch den guten Lebenswandel seine Ächtheit beweist, für den alleinseligmachenden« (VI 128). Mit seinem öffentlichen Auftreten lässt Kant den Kampf des guten Prinzips gegen das böse beginnen, so dass diese Epoche »nicht anders als vom Ursprunge des Christenthums anfangen« (VI 127) könne. Dieser Gründer des ethischen Gemeinwesens dürfe nun keinesfalls als ein Gesetzgeber oder Religionsstifter angesehen werden, Kants Rekonstruktion des »europäischen Denkens« unterscheidet sich von unserer: während wir zwei Elemente hervorheben, das griechische Denken unter der Idee der Autonomie und das römische Denken unter dem Begriff der Autorität, die im christlichen Glauben an den dreieinigen Gott ›verschmolzen‹ werden, verlegt Kant den Anfang sogleich ins Christentum, das er als moralische Religion vom Judentum abtrennt. Kant setzt damit jedoch nicht nur die Idee des Guten als gegeben voraus, deren Entstehung wir als eigentümliche Leistung der griechischen Epistemologie sehen, sondern auch die Idee des moralisch Guten, die wir als eine spezifisch neuzeitlich-moderne Idee betrachten. Insofern konstruiert Kant das europäische Denken nicht ›von außen‹, sondern aus der Perspektive der Moderne.
62
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
623
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
weil das, was er durch seine Lehren öffentlich gemacht hat, gar nichts Historisches und damit Zufälliges sei, sondern sich jedem Menschen durch seine ursprüngliche Anlage zum Guten von selbst aufdrängt. Es bedürfe daher »keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unsrer Vernunft.« (VI 62) 63 Faktisch jedoch habe dieser Lehrer, indem er »an seiner Person ein dem Urbilde der allein Gott wohlgefälligen Menschheit gemäßes Beispiel gegeben hatte« (VI 128 f.), obzwar nicht unvorbereitet, aber doch plötzlich, eine »völlige Verlassung des Judenthums« und eine »gänzliche Revolution in Glaubenslehren« (VI 127) bewirkt. 64 Als dieser könne er »zwar nicht als Stifter der von allen Satzungen reinen in aller Menschen Herz geschriebenen Religion (denn die ist nicht vom willkürlichen Ursprunge), aber doch der ersten wahren Kirche verehrt werden.« (VI 159) Durch das öffentliche Auftreten dieses moralischen Lehrers ist also das, was vom Menschen durch reine praktische Vernunft a priori eingesehen werden und daher niemals ›neu‹ sein kann, als geschichtliches Faktum wirklich geworden 65 . Vgl. zu Kants ›transzendentaler Christologie‹ die These H. Renz’, Kants Religionsschrift werde »missverstanden, wenn sie als Auslegung der biblisch-christlichen Lehre genommen wird, sie will nichts Geringeres sein als deren genuine Konstruktion.« (Renz 1977, 25) – Auch Habichler 1989, 205: Es ist gewissermaßen der ›verinnerlichte Christus‹, den wir als sittliches Urbild in uns tragen, und der so an uns einen moralischen Anspruch stellt.« 64 Über das Verhältnis zwischen »nicht unvorbereitet, aber doch plötzlich« lässt Kant sich nicht genauer aus. Er schlägt jedoch eine Brücke zur griechischen Philosophie: Im jüdischen Volke erschien zu einer Zeit, »da es alle Übel einer hierarchischen Verfassung im vollen Maße fühlte, und das sowohl dadurch, als vielleicht durch die den Sklavensinn erschütternden moralischen Freiheitslehren der griechischen Weltweisen, die auf dasselbe allmählig Einfluss bekommen hatten, … mithin zu einer Revolution reif war, auf einmal eine Person, deren Weisheit noch reiner als die der bisherigen Philosophen, wie vom Himmel herabgekommen war …« (RGV VI 79 f.). Vgl. auch VI 127 f. – Ergänzen wir diese knappe Ausführung über die »griechischen Weltweisen« mit anderen Aussagen Kants über Sokrates (GMS IV 404) und über die Stoa (VI 57 f., Anm.), wonach diese zwar das moralische Prinzip in seiner »Reinigkeit« aufgestellt, aber den »wahren Feind« des Guten, die böse Gesinnung, verkannt haben, wird einsichtig, warum Kant den öffentlichen Kampf des Menschen um sich nicht mit der Philosophie, sondern mit dem »Lehrer des Evangeliums« beginnen lässt. Denn die griechischen Philosophen kämpften nicht gegen die »böse Gesinnung«, sondern gegen die »sinnlichen Neigungen«. Der Kampf gegen die böse Gesinnung musste daher im »Reich der Finsternis« unter dem jüdischen Volke ›plötzlich, obzwar nicht unvorbereitet‹ beginnen und eine »völlige Verlassung des Judenthums« bewirken. 65 Vgl. auch Kants Vorarbeiten zur Religionsphilosophie (XXIII 92): »Die Welt hat nie 63
624
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
Deshalb muss es für den Menschen seither auch als möglich gelten; denn da das gute Prinzip »in einem wirklichen Menschen als einem Beispiele für alle anderen erschien, … eröffnet er [dieser wirkliche Mensch] die Pforte der Freiheit für jedermann« (VI 82) 66 . Diese Eröffnung bedeute historisch zwar nicht die Besiegung des Bösen, aber doch die »Brechung seiner Gewalt« (VI 82), – die Aufnahme des Kampfs des guten Prinzips gegen das böse. 2. Diesem Auftreten des moralischen Lehrers am Anfang lässt Kant nun die Umwandlung der reinen moralischen Lehre in einen gottesdienstlichen Glauben folgen. Was bloß Lehre und Vorbild zur praktisch-moralischen Bestärkung der Menschen ist, sei anfangs, um »eine reine moralische Religion statt eines alten Cultus, woran das Volk gar zu stark gewöhnt war, zu introduciren« (VI 127), in der Form einer Altes enthaltenden Erzählung vorgetragen worden, der im Weiteren dann »Wunder und Geheimnisse beigesellt [wurden], deren Bekanntmachung selbst wiederum ein Wunder ist und einen Geschichtsglauben erfordert, der nicht anders als durch Gelehrsamkeit beurkundet, als auch der Bedeutung und dem Sinne nach gesichert werden kann.« (VI 129) Diese wundersamen Erzählungen seien in Gestalt heiliger Texte, die zu ihrer Gewährleistung eines gelehrten Publikums bedurften, »in der Folge zum Fundament einer allgemeinen Weltreligion gemacht worden.« (VI 131) 67 etwas die Seele belebenderes die Selbstliebe niederschlagenderes und doch zugleich die Hoffnung erhebenderes Gesehen als die Christliche Religion die sich von dem Judenthum erhoben hat …« 66 Deswegen erachtet Kant es als abwegig, Jesus »anders als einen natürlich gezeugten Menschen anzunehmen« (ebd.). Denn weil schon das Dasein des Urbilds des guten Menschen in der menschlichen Seele für sich unbegreiflich genug ist, habe man es nicht nötig, es »noch in einem besondern Menschen hypostasirt anzunehmen« (VI 64). Durch eine solche Erhebung »über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur« (VI 64) würde »diese Distanz vom natürlichen Menschen dadurch wiederum so unendlich groß werden, dass jener göttliche Mensch für diesen nicht mehr zum Beispiel aufgestellt werden könnte.« (VI 64) Um also den Kampf des Guten gegen das Böse auf dem geschichtlichen Boden zu eröffnen, muss Jesus als ein »natürlicher Mensch« angenommen werden. – Vgl. dazu: Sala SJ 1992, 147 f. 67 Für Kant ist also nicht das Wunder der Auferstehung, sondern die moralische Lehre der Anfang des Christentums. Historisch gesehen ist diese Deutung von Jesus erst später erfolgt (vgl. dazu: Teil III, I.; Lietzmann 1953, 246 ff.). Als Theoretiker der Moderne jedoch, der das Ethische vom Historischen trennt, dreht Kant das Verhältnis um. Er versteht Jesus als ethischen Lehrer, die Wunder als spätere Zutaten. Er projiziert also vom seinem Standort das Spätere in den Anfang des Christentums. Wenn R. Bultmann dann in dieser Tradition feststellt: »Er, früher der Träger der Botschaft, ist jetzt selbst in A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
625
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
3. Was Kant im Anschluss an diese Umwandlung der moralischen Lehre in einen gottesdienstlichen Glauben von der Geschichte dieser »allgemeinen Kirche« erzählt, lässt sich nun kaum unter den Begriff eines Antagonismus der Prinzipien bringen, sondern eher unter den eines allgemeinen und öffentlichen Kampfes aller gegen alle: mystische Schwärmereien eines zölibatären Eremiten- und Mönchstums, das viele für die Welt unnütz machte; schreckliche Stimmen von Rechtgläubigen, die das Christentum in erbitterte Parteien trennte; Staaten, die sich lächerlich um die Priesterstatuten bemühten; angemaßte Statthalter Gottes, die die zivile Ordnung und die Wissenschaften zerrütteten; züchtigende Bannsträhle, vernichtende Kreuzzüge, blutdürstige Religionskriege … 68 Diese Vergangenheit, fasst Kant am Ende zusammen, »wenn man sie als ein Gemälde unter einem Blick fasst, könnte wohl den Ausruf rechtfertigen: tantum religio potuit suadere malorum! wenn nicht aus der Stiftung desselben immer noch deutlich genug hervorleuchtete, dass seine wahre erste Absicht keine andre als die gewesen sei, einen reinen Religionsglauben, über welchen es keine streitenden Meinungen geben kann, einzuführen« (VI 131). Diese Zeit des Kampfes stellt Kant als ein »Gewühl« vor, »wodurch das menschliche Geschlecht zerrüttet ward und noch entzweiet wird« (VI 131). Er verdeutlicht jedoch nicht die beiden Konstruktionselemente seiner Erzählung. Er gibt keine Erklärung für die angeführte Tatsache, wie nämlich die anfänglich reine moralische Lehre in ihr Entgegengesetztes, den Geschichtsglauben, überhaupt umgewandelt werden konnte. Und er macht auch nicht transparent, wie der von ihm beschriebene Streit der vielen Parteien als ein öffentlicher Kampf der zwei Prinzipien, des guten mit dem bösen, verstanden werden kann. Wir wollen daher mit den Mitteln Kants zu rekonstruieren versuchen, wie sowohl das geschilderte Ereignis der Umwandlung der moralischen Lehre in einen Geschichtsglauben als auch die anschließende Geschichte als ein »beständige(r) Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben« (VI 124) erklärt werden können.
die Botschaft einbezogen worden, ist ihr wesentlicher Inhalt. Aus dem Verkündiger ist der Verkündigte geworden.« (Bultmann 1965, 35), dann macht auch er aus dem usteron ein prwteron. 68 Siehe: VI 130 f.
626
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
1.
Der Religionswahn
Jene Umwandlung stellt Kant so vor: die ersten Ausbreiter der Lehre Jesu haben, um die reine moralische Lehre zu »introduciren« (VI 127), sie guten Willens in Form einer geschichtlichen Erzählung vorgetragen; dann aber sei »durch einen schlimmen Hang der menschlichen Natur« (VI 131) der Geschichtsglaube selbst »in der Folge zum Fundament einer allgemeinen Weltreligion gemacht worden (VI 131) 69 . Was, so wäre hierfür eine Erklärung, von den ersten Ausbreitern guten Willens geschah, verkehrte sich, wie so vieles, in Menschenhand zum Bösen. So aber würde diese Umwandlung nur nach dem allgemeinen Erfahrungssatz erklärt werden, dass der Mensch eben »aus krummem Holz« sei, nicht aber als der Beginn des Kampfes der zwei Prinzipien. – Eine solche Erklärung aus Prinzipien gibt jedoch Kants Theorie des »Religionswahns«, die diese Umwandlung als eine Abkehr vom Guten beschreibt, deren Ursache nicht empirisch, sondern von intelligibeler Natur ist. Von dieser Theorie nehmen wir an, dass sie erklärt, wie und wodurch die Introduktion der moralischen Lehre überhaupt zum Beginn jenes öffentlichen Kampfes werden konnte. Kant definiert den Wahn zunächst allgemein als »die Täuschung, die bloße Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst für gleichgeltend zu halten.« (VI 168, Anm.; H. v. m.) 70 Unter dem Religionswahn ist demnach diejenige Täuschung zu verstehen, die Vorstellung der moralischen Sache für die Sache selbst zu nehmen. Bezogen auf jene Umwandlung des moralischen in den gottesdienstlichen Glauben besteht die wahnhafte Täuschung also darin, dass die Vorstellung des Menschen, der die moralische Sache historisch-faktisch initiiert hat, als gleichgeltend mit dieser Sache selbst genommen wird. – Da nun der Begriff der Täuschung zwei verschiedene Aspekte enthält, einmal den Aspekt der Bedeutungsgleichheit der Vorstellung einer Sache mit dieser selbst, und zum anderen den praktischen, jene für gleichgeltend mit dieser zu halten, wollen wir beide Aspekte zunächst unterscheiden, um so nach der Ursache dieser Täuschung fragen zu können. Vgl. auch: VI 165 ff. Vgl. auch: ApH § 86: »Unter dem Wahne, als einer Triebfeder der Begierden, verstehe ich die innere praktische Täuschung, das Subjective in der Bewegursache für objectiv zu halten«. (VII 274)
69 70
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
627
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Kant stellt zunächst allgemein fest, dass das Vorstellen einer Sache für die Art der menschlichen Erkenntnis nicht nur unvermeidlich, sondern auch notwendig sei. Um sich etwa des Begriffs vernünftiger Wesen bewusst zu werden, könne der Mensch gar nicht anders verfahren, als ihm eine sinnliche Vorstellung unterzulegen und ihn auf diese Weise zu anthropomorphisieren 71 . Für dieses Erkenntnisverfahren sei etwa die Versinnlichung der »heiligen Drei« in Gestalt eines alten und eines jungen Manns sowie einer Taube ein symbolischer Ausdruck (ApH VII 172, Anm.). In dieser Hinsicht sei auch die Erhebung des Gründers des ethischen Gemeinwesens zum Urbild eines guten Menschen der menschlichen Erkenntnisweise angemessen. An ihm als ganzer Person, seiner Lehre, seinem Leben und Leiden mache der Mensch sich als einem Vorbild und Beispiel das innere und ganz unbegreifliche Verhältnis zu seiner eigenen moralischen Berufung bewusst. Dieses rein moralische Verhältnis bringe das Bild vom »eingebornen Sohn«, dem allein Gott wohlgefälligen Menschen, zum Ausdruck. Es personifiziere gleichsam die Idee des Guten, zu welcher sich zu erheben allgemeine Menschenpflicht sei (VI 61). Hier also dient die Erhebung des historischen Jesu zum »Sohn Gottes« bloß der Illustration (nicht: Demonstration) der eigenen moralischen Pflicht. 72 Als das »Ideal der moralischen Vollkommenheit« (VI 61) gibt es die der moralischen Sache angemessene Vorstellung. – Von diesem erläuternden Verfahren einer Bedeutungsgleichheit von Sache und Vorstellung sagt Kant nun, dass sie nicht nur notwendig, sondern auch »unschuldig« (VI 168) sei, weil hier, der sittlichen Ordnung gemäß, die Vernunft durchs moralische Gesetz das sinnliche Vorstellungsvermögen bestimmt. Daher sei sogar das ›GottMachen‹ »keinesweges verwerflich«, sondern für den Menschen eine Notwendigkeit, »um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren.« (VI 168 f., Anm.) Da also die Bildung einer der moralischen Sache angemessenen Vorstellung als solche kein Wahn ist, kann auch die Ursache des Wahns nicht im menschlichen Vorstellungsvermögen liegen; denn dieses ist, wie gesagt, »unschuldig«. Wenn der Wahn nun aber darin zum »Schematism der Analogie (zur Erläuterung)« siehe: VI 64 f., Anm. Auch: KU V 352 f. 72 In den »Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten« schreibt Kant: »alle Religion muss a priori aus der Vernunft entwickelt werden und das historische dient nur zur illustration, nicht zur demonstration.« (XXIII 437) 71
628
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
besteht, die Vorstellung einer Sache als gleichgeltend mit dieser selbst zu halten, dann muss dessen Ursache in derjenigen Handlung liegen, durch die die Vorstellung für die Sache selbst gehalten wird. Während Kant jedoch vom Wahn im Allgemeinen annimmt, er sei eine Erkrankung des Gemüts, zwischen der Sache und den eigenen Einbildungen nicht unterscheiden zu können 73 , entspringt der Religionswahn dem selbstverschuldeten Hang der menschlichen Natur, die sittliche Ordnung zu verkehren. Denn da in diesem Fall die moralische Sache nicht bedeutungsgleich vorgestellt wird, sondern vielmehr die Vorstellung der moralischen Sache für gleichgeltend mit dieser gehalten wird, verkehrt der Mensch darin die sittliche Ordnung seiner Vermögen: er stellt die Sache nicht sinnlich vor, sondern nimmt umgekehrt diese Vorstellung für die Sache selbst. Das Sinnliche, das doch nur Mittel ist zur Illustration, wird so zur Sache selbst gemacht. Durch diese Tat der Verkehrung aber findet der Mensch das Moralische nicht in sich, in seiner Anlage zum Guten, sondern außer sich, als Objekt seiner Verehrung vor. Dieses »Fetischmachen« (VI 179) aber leugnet ›wahnhaft‹ die eigene Bestimmung zum Guten 74 . Durch diese Verkehrung wird die veranschaulichende Erläuterung der rein moralischen Lehre anhand der historischen Person Jesu »für ein Stück der Religion selbst, für alle Zeiten und Völker geltend, genommen« (VI 166) und das Moralische ans kontingente Faktum der historischen Person gebunden. Dadurch verwandelt sich das zeit-
Vgl.: ApH VII 215; auch: RGV VI 168, Anm. Kants These von der ›Umwandlung‹ des rein moralischen in den gottesdienstlichen Glauben lässt sich an der Differenz des kantischen zum augustinischen Verständnis des »eingebornen Sohnes« verdeutlichen. Augustins Bemühungen waren darauf gerichtet, auf der Grundlage der Homousie-Formel das Verhältnis von Vater und Sohn als eine Beziehung von zwei Personen zu verstehen, deren Untrennbarkeit ihren Ausdruck im Heiligen Geist als der dritten Person findet. Kant hingegen übernimmt zwar das christliche Bild vom »eingebornen Sohn« (VI 60) und hält damit an der Vater-Sohn-Beziehung fest; aber er wendet es auf den Menschen selbst an, den »allein Gott wohlgefälligen Menschen« (ebd.). Der Mensch findet daher Gottes Wort nicht außer sich in der Person des Sohnes, sondern in seiner eigenen Person, in der Berufung, die ihn moralisch nötigt. Kant macht also erst den Inhalt des christlichen Glaubens, den »eingeborenen Sohn«, zum Fundament des moralischen Handelns, um auf der Grundlage dieser ›Verinnerlichung‹ dann diesen Glaubensinhalt als eine gottesdienstliche ›Entäußerung‹, als einen »Afterdienst«, zu kritisieren. Weil Kant erst das christliche Bild vom »eingebornen Sohn« auf den Menschen überhaupt, seine moralische Berufung, überträgt, kann er dann sagen, der wahre Gottesdienst bestehe weder in der Unterwerfung unter Statute noch in fruchtlosen Spekulationen, sondern allein im guten Lebenswandel.
73 74
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
629
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
los Moralische in die historischen Statute eines Glaubens, der als solcher »allenfalls auf ein Volk eingeschränkt ist und nicht die allgemeine Weltreligion enthalten kann« (VI 168), und der zu seiner Befolgung der Theorie und Gelehrsamkeit bedarf. Verstehen wir also Kants Bericht von der Umwandlung des moralischen Glaubens in den gottesdienstlichen nicht als den von einer historisch kontingenten Begebenheit, sondern als Darstellung einer Verkehrung, die dem Bösen in der menschlichen Natur entspringt, so erklärt uns der Begriff des Religionswahns, wie diese Umwandlung der Anfang des öffentlichen Antagonismus des guten Prinzips mit dem bösen sein kann: durch die Verkehrung der sittlichen Ordnung hat sich das Böse des guten Prinzips gleichsam bemächtigt, ohne doch den Ursprung, die moralische Sache selbst, auslöschen zu können. In diesem Akt ist das Gute, das nur auf dem Gebiet der Moral gilt, zu einem Gegenstand gemacht und sein epistemischer Gehalt damit verkehrt worden. 2.
Der »Streit der Parteien«
Die anschließende Erzählung Kants von der Geschichte des christlichen Abendlands präsentiert keine sich historisch entfaltende Vernunft, wie sie dann paradigmatisch von Hegel konzipiert wurde, sondern schildert im Gegenteil den schrecklichen Streit der verschiedensten Parteien, ohne dass in ihr freilich der Konstruktionsplan, der Kampf der zwei entgegengesetzten Glaubensarten, sichtbar wird. Zwar bilde für diesen Streit der Parteien der moralische Glaube die Bedingung, so dass von da an, »wo der (Kirchenglaube) seine Abhängigkeit von den einschränkenden Bedingungen des (reinen Religionsglaubens) und der Nothwendigkeit der Zusammenstimmung mit ihm öffentlich anerkennt, … die allgemeine Kirche an(fängt)« (VI 124). Doch abgesehen von der Behauptung, dass aus ihrer Stiftung immer noch die erste wahre Absicht »deutlich genug hervorleuchtete« (VI 131), enthält Kants Erzählung weder eine Erklärung, wie aus dieser ersten Absicht, über die es gar »keine streitenden Meinungen geben kann« (VI 131), die von ihm beschriebene Vielzahl der Parteien überhaupt hat entstehen können, noch macht sie deutlich, worin in all dem Streit der Parteien dieses ›Hervorleuchten‹ der ersten Absicht denn bestehe. – Wir wollen daher, an den Begriff des Religionswahns anknüpfend, zuerst nach der Ursache dieser 630
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
Spaltungen, dann nach jenem ›Hervorleuchten‹ des Guten im Bösen fragen. 1. Kants Begriff des Religionswahns als ›Übertragung‹ der moralischen Sache aus dem praktischen ins theoretische Gebiet erklärt nicht nur die Umwandlung des moralischen in einen gottesdienstlichen Glauben, sondern scheint auch erklären zu können, wie aus dem, worüber kein Streit möglich ist, ein Streit hat entstehen können, der »die christliche Welt wegen Glaubensmeinungen … in erbitterte Parteien trennte« (VI 130). Denn die Transposition des Guten als des Objekts der reinen praktischen Vernunft in ein Objekt der spekulativen Vernunft eröffnet zumindest die Möglichkeit, das Gute auf ganz verschiedene Weise zu deuten, und damit für eine Pluralität von Glaubensmeinungen. 75 So kann das Gute etwa nach Art eines Geschichtsglaubens verstanden werden, der in der Erfahrung das Wirken des guten Prinzips zu erkennen sucht, das in der Gestalt »heiliger Erzählungen« festgehalten und tradiert und von einem Stand gelehrter Pfaffen ausgelegt wird. Es kann mystisch in der Vereinigung der menschlichen Seele mit dem Göttlichen erfahren werden, welche die Art eines Eremiten- und Mönchsleben hervorbringt. Es kann auch auf die Art einer spekulativen Vernunft erkannt werden, die aus den Gesetzen der sinnlichen Erfahrung auf das Dasein des Guten oder aus dem Begriff des Guten auf dessen Dasein schließt, und die einen Stand von Theologen beschäftigt, der seinerseits verschiedene spekulative Vernunftsysteme hervorbringt. Da für Kant jedoch all diese Verfahren, sich des guten Prinzips zu vergewissern, allemal nur ein täuschendes Blendwerk von Statuten, Schwärmereien oder Lehrsystemen erzeugen, kann der Grund für die Verschiedenheit der Methoden nicht das Gute selbst sein, über das, als »allgemeine Menschenpflicht«, ein Streit gar nicht möglich ist. Ihnen müssen daher andere Beweggründe zugrunde liegen, die das Interesse an der Erkenntnis des Guten leiten. Diese anderen Motive, die nicht das Vernunftgesetz selbst als Bestimmungsgrund Vgl. Kants Erklärung des Sektenwesens im Streit der Fakultäten: »Von dem Punkte also, wo der Kirchenglaube anfängt, für sich selbst mit Autorität zu sprechen, ohne auf seine Rectification durch den reinen Religionsglauben zu achten, hebt auch die Sectirerei an; denn da dieser (als praktischer Vernunftglaube) seinen Einfluss auf die menschliche Seele nicht verlieren kann, der mit dem Bewusstsein der Freiheit verbunden ist, indessen dass der Kirchenglaube über die Gewissen Gewalt ausübt: so sucht ein jeder etwas für seine eigene Meinung in den Kirchenglauben hinein oder aus ihm heraus zu bringen.« (SF VII 51)
75
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
631
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
des Interesses haben, fasst Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« unter dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit zusammen, das als materialer Bestimmungsgrund jedoch keine Einheit und Allgemeinheit in die Maximen zu bringen vermag. So verstanden resultiert also die Vielfalt der Meinungen über das Gute weder aus dem Guten selbst noch entspringt sie der Unkenntnis des Guten, sondern folgt aus der Verkehrung und Abwendung vom Guten. Denn all diesen Verfahren, sich des Guten zu vergewissern, liegt nicht das moralische Interesse am Guten selbst zugrunde; sie dienen dem Menschen nur als Mittel, um durch den Besitz des Guten die eigene Glückseligkeit zu erlangen: durch die pünktliche Befolgung der Statute, in der mystischen Einswerdung mit dem Göttlichen oder in der Erkenntnis des Wahren und Guten durch Begriffe. Da nun aber Kant der Glückseligkeit als höchstem Gut das Prinzip der Selbstliebe zugrunde legt, deren Ursprung jedoch die intelligible Tat der Verkehrung der sittlichen Ordnung, das Böse selbst, ist, liegt dem Streit der Meinungen über das Gute, den Kant die europäische Geschichte durchziehen sieht, die Herrschaft des bösen Prinzips über den Menschen zugrunde. Die Selbstliebe hat sich der Gottesliebe bemächtigt; die Folge ist: statt der gesetzgebenden Einheit der Maximen – der Glaubensstreit erbitterter Parteien. Weil also Kant in der von ihm skizzierten Geschichte keine Vernunft am Werke sieht, sondern nur religiöse Wahngebilde vom Guten erkennt, deren Ursache die Herrschaft des bösen Prinzips ist, kann er sie als ein Szenarium des Horrors und des Terrors beschreiben, das der Idee der Herrschaft des guten Prinzips über den Menschen Hohn spricht. Und konsequenterweise ist für Kant nichts Vergangenes so viel wert, um in die Gegenwart aufgenommen zu werden. 76 2. Lässt sich auf diese Weise nachvollziehen, wie aus der Einen Dieses Urteil über die Vergangenheit erklärt Kants ausgeprägtes Desinteresse an der Geschichte – zugunsten der Gegenwart –, die auch sein Kurzer Abriß einer Geschichte der Philosophie zeigt. Vom Mittelalter berichtet er nur: »Man beschäftigte sich mit nichts als lauter Abstractionen. Diese scholastische Methode des After-Philosophirens wurde zur Zeit der Reformation verdrängt«. Nun gab es »Eklektiker in der Philosophie, d. i. solche Selbstdenker, die sich zu keiner Schule bekannten, sondern die Wahrheit suchten und annahmen, wo sie sie fanden.« (IX 31). Er rechnet zwar Leibniz, zusammen mit Locke, unter »die größten und verdienstvollsten Reformatoren der Philosophie zu unsern Zeiten« (IX 32), stellt dann aber fest: dessen und Wolffs dogmatische Methode zu Philosophieren war »sehr fehlerhaft. Auch liegt darin so viel Täuschendes, dass es wohl nöthig ist, das ganze Verfahren zu suspendieren und statt dessen ein anderes, die Methode des kritischen Philosophierens, in Gang zu bringen …« (ebd.)
76
632
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Der Antagonismus der zwei Prinzipien
Lehre vom Guten eine Menge widerstreitender Glaubensmeinungen hat werden können, so muss es dann doch überraschen, wenn Kant behauptet, dass trotz dieser Bemächtigung durch das Böse die wahre Absicht dennoch »hervorleuchtete«. Angesichts dieser Diskrepanz zwischen Realität und Absicht ließe sich nun annehmen, dass Kant als Einheit und Kontinuität stiftendes Band dieser Geschichte das gemeinsame und öffentliche Bekenntnis betrachtet, also jene »Nothwendigkeit der Zusammenstimmung« (VI 124) der streitenden Parteien mit dem reinen Religionsglauben. Aber dieses Bekenntnis wäre nur öffentlich; das Innere der Gesinnung jedoch bliebe dennoch böse. Um die Geschichte Europas also nicht nur als einen Streit der verschiedenen Parteien zu erzählen, sondern sie auch als einen »beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben« (VI 124) darstellen zu können, bedürfte es der Annahme gewisser Zeichen oder der Existenz dauerhafter Symbole, die nicht anders zu deuten sind, als dass in ihnen, der Macht des Bösen zum Trotz, die gute Gesinnung als die »wahre Absicht« hervorleuchtet. Kant gibt dafür keinen Hinweis. Seine Erzählung bleibt bei der Versicherung, dass dem so sei. Einen Hinweis auf ein solches Hervorleuchten des Guten enthält vielleicht Kants Interpretation der Geburt Christi, die er allerdings in einem anderen Zusammenhang anführt. Dort erkennt er in der Vorstellung der jungfräulichen Geburt einer vom angebornen Hang zum Bösen freien Person ein Symbol oder »eine Idee der sich zu einem schwer zu erklärenden und doch auch nicht abzuläugnenden gleichsam moralischen Instinct bequemenden Vernunft« (VI 80, Anm.). Wenn sich nun die Gemeinsamkeit und Kontinuität dieser Vorstellung im wiederkehrenden Ritual der Geburtsfeier Christi in der europäischen Welt als ein solches Zeichen deuten lässt, in dem – trotz des ›Gewühls‹ – jene »erste wahre Absicht«, die Idee des guten Menschen ›hervorleuchtet‹, so ließe sich die »allgemeine Kirchengeschichte«, die Kant erzählt, in der Tat als ein beständiger Kampf des moralischen mit dem gottesdienstlichen Glauben rekonstruieren. Kants Erzählung selbst enthält jedoch, wie gesagt, keinen Hinweis 77. Vielmehr lässt Kant sogleich den Einwand folgen, dass diese dunkle Vorstellung einer übernatürlichen Schwangerschaft nicht ohne »Schwierigkeiten in der Theorie« (RGV VI 80, Anm.) sei. Das Für und Wider einer Theorie der übernatürlichen Zeugung sei aber ganz nutzlos, weil es fürs Praktische genüge, »jene Idee als Symbol der sich selbst über die Versuchung zum Bösen erhebenden (diesem siegreich widerstehenden) Menschheit uns zum Muster vorzustellen« (ebd.)
77
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
633
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
IV. Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse Angesichts des Urteils über die Vergangenheit verwundert es nicht, wenn Kant feststellt: »Fragt man nun: welche Zeit der bisher bekannten Kirchengeschichte die beste sei, so trage ich kein Bedenken, zu sagen: es ist die jetzige …« (VI 131) Denn der »Keim des wahren Religionsglaubens«, vormals in den gottesdienstlichen verkehrt, sei in der jetzigen Zeit »zwar nur von einigen, aber doch öffentlich gelegt worden«, so dass man ihn »nur ungehindert sich mehr und mehr darf entwickeln lassen, um davon eine continuirliche Annäherung zu derjenigen alle Menschen auf immer vereinigenden Kirche zu erwarten, die die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht.« (VI 131 f.; H. v. m.) Während Kant also das vergangene Zeitalter durch die ›wahnhafte‹ Verkehrung des Guten unter der Herrschaft des Bösen bestimmt sieht, betrachtet er die Gegenwart als den Beginn der Herrschaft des guten Prinzips: die »sich von der Last eines der Willkür der Ausleger beständig ausgesetzten Glaubens loswindende Vernunft« (VI 132), die »in allen Ländern unsers Welttheils unter wahren Religionsverehrern allgemein (wenn gleich nicht allenthalben öffentlich)« (VI 132) geworden ist. Dieser Sieg des guten Prinzips über das böse begründe denn auch die Erwartung eines Fortschreitens zu einem künftigen Reich, in dem die Vernunft allein Gewalt haben werde. Diesen Sieg des guten Prinzips in der Gegenwart deuten wir als Konstitution einer neuen Öffentlichkeit auf dem Boden der europäischen Geschichte. Denn den Sieg über das böse sieht Kant zwar negativ in der »Befreiung von der Herrschaft des letztern« (VI 93) begründet; aber als Herrschaft des guten Prinzips konstituiert er positiv eine Öffentlichkeit »in allen Ländern unsers Welttheils«, die ihre Einheit nicht mehr in Statuten eines nur historischen Glaubens, sondern als eine »allgemeine(.) Republik nach Tugendgesetzen« (VI 98) in der moralisch-gesetzgebende Vernunft hat. Diese Vernunft sei der »Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, … um sich darunter zu versammeln und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu bekommen.« (VI 94) Diese Idee einer neuen Öffentlichkeit, in der Kant das Geschichtliche des Kampfes des Menschen um sich selbst mit dem Moralischen der Bestimmung des Menschen zum Guten im Begriff der »Gegenwart« verbindet, deuten wir als das Prinzip des modernen Denkens. Denn Kant beschreibt das Fundament dieser Öffentlichkeit 634
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
nicht nur historisch durch die Ausdifferenzierung der epistemischen Gebiete der Moral, der Natur und der Ästhetik, sondern deutet diesen Vorgang zugleich moralisch. Im Unterschied zur Vergangenheit, die unter der Herrschaft des Bösen das Ethische ›wahnhaft‹ verkehrt hatte, konstituiert sich die neue Öffentlichkeit unter der Herrschaft des Guten als ein ethisches Gemeinwesen. 78 In diesem ist allein die sich von der Last ihrer Ausleger loswindende, reine praktische Vernunft gesetzgebend, so dass in ihm alles Gegenständliche auf das Gebiet der Natur, des sinnlich Erfahrbaren, begrenzt ist, wodurch erst die Erwartung wie Hoffnung auf das künftige Vernunftreich begründet wird. Dieser Idee der »guten Gegenwart« oder »neuen Öffentlichkeit« werden wir im Folgenden nachgehen, um im Anschluss zu sehen, wie Kant auf deren Grundsätzen ihren Endzweck, das Gottesreich auf Erden, konzipiert.
A. Die Gegenwart als »Revolution in der Gesinnung« Fragt man zunächst, wie ein solcher Sieg des guten Prinzips über das böse überhaupt möglich ist, so antwortet Kant, dass er als historisches Faktum ganz unerklärbar ist und daher als Bruch der Gegenwart mit der Vergangenheit, als eine Neugründung, die ihren Wert in sich selbst hat, angenommen werden muss. Denn so wie es unmöglich ist zu begreifen, wie ein von Natur verderbter Mensch sich In seiner Studie über die kantische Reich-Gottes-Idee verknüpft A. Habichler Kants »jetzige Zeit« mit der Tatsache, »dass das Reich Gottes zu uns gekommen sei« (RGV VI 122). Er interpretiert dieses Reich jedoch nicht als ein ethisches Gemeinwesen, sondern »als eine Art ›kairologischer‹ Reich-Gotteskonzeption Kants«: »Kant will nicht mehr sagen, als dass die Sache des Gottesreiches dort präsent ist, wo Menschen in geschichtlich vermitteltem Freiheitshandeln miteinander Gerechtigkeit, Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe üben (Kant nennt es schlicht ›Tugend‹). Mehr lässt sich über die Präsenz des Heiles in der Geschichte essentiell in der Tat nicht sagen, als dass es unter den Bedingungen geschichtlich-gegenwärtiger Konkretion innerhalb des menschlichen Sozialwesens, sowie in Rückbindung an das existentielle Freiheitsgewissen jedes Einzelnen erlösende Gestalt annehmen kann.« (Habichler 1989, 275 f.) Unseres Erachtens sieht Kant die Präsenz des Gottesreiches in keinem »geschichtlich vermittelten Freiheitshandeln miteinander«, sondern darin, dass, wie er selbst sagt, der »Keim des wahren Religionsglaubens … öffentlich gelegt worden« (VI 131; H. v. m.) ist. – Vgl. auch: »Es ist schon ein Anfang der Herrschaft des guten Princips und ein Zeichen, ›dass das Reich Gottes zu uns komme‹, wenn auch nur die Grundsätze der Constitution derselben öffentlich zu werden anheben« (VI 151).
78
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
635
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
selbst zum guten macht oder ein schlechter Baum gute Früchte hervorbringt, so ist es unerklärbar, wie aus der vormaligen Herrschaft des Bösen das Gute als öffentliches Prinzip hat entstehen können. Daher könne der Sieg der Gegenwart über die Vergangenheit nicht als eine »allmählige Reform« (VI 47) der Besserung der Sitten, sondern müsse als eine »Revolution in der Gesinnung« (ebd.) verstanden werden. Sie trennt die Jetztzeit von der Vorzeit, die ›Modernen‹ von den ›Alten‹. So wenig sich nach Kant historisch Kausalitäten finden lassen, so einfach ist es freilich, diesen Sieg anthropologisch, d. h. aus der Natur des Menschen, zu erklären. Denn in dieser Hinsicht muss die Herrschaft des guten Prinzips als zu jeder Zeit möglich gedacht werden, da sie nur darauf gründet, die zum Menschen überhaupt gehörende Möglichkeit der »sittlichen Ordnung« als Handlungsmaxime anzunehmen. Da diese Annehmung jedoch die freie Tat des Menschen ist, ist sie eine von historischen Bedingungen unabhängige Handlung, die jederzeit möglich ist. Folglich kann und darf der Sieg des guten Prinzips über das böse nicht als eine historisch bedingte Tatsache erklärt werden, da sonst nicht die Freiheit die Ursache wäre. In dieser Hinsicht muss also der Sieg des guten Prinzips in der Gegenwart als (Wieder-)Herstellung der ursprünglichen, durch das Böse verkehrten sittlichen Ordnung verstanden werden. Zwar habe die Geschichte mit der Herrschaft des Bösen begonnen; aber sie ende mit der Herrschaft des Guten, das die Vernunft bloß durch ihr Gesetz zum bestimmenden Prinzip der neuen Öffentlichkeit erhebt. Da nun aber das Verderbte, wie Kant sagt, »als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen« (VI 37) ist, besteht der Sieg des guten Prinzips über das böse darin, dass die Herrschaft der Sinnlichkeit bloß auf das Gebiet der Erfahrung begrenzt wird und das Sinnliche nur zur Darstellung, niemals aber zur Begründung und Demonstration des Unbedingten dient. So verstanden besteht also der historische Sieg des Guten zum einen in der Befreiung der moralischen Sache von jener vergangenen wahnhaften Verkehrung, sie für ein Gegenständliches zu halten, und damit zum anderen in der Trennung der zwei Gebiete menschlichen Erkenntnis: in das Gebiet des Praktischen, auf dem die Vernunft gesetzgebend ist, und in das Gebiet des Theoretischen, das auf das Sinnliche begrenzt ist. Mit dieser Darstellung der Gegenwart als Befreiung des guten Prinzips vom bösen gibt Kant schließlich auch die Antwort auf die genannte Differenz zwischen der Verschiedenheit der epistemische 636
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
Gebiete, der Moral und der Natur, und der Entgegensetzung der Prinzipien des Guten und des Bösen: die Trennung der zwei Gebiete ist der Ausdruck des Siegs des Guten im Kampf gegen das Böse, welches beide ›vermischt‹ hatte. Kants Erzählung vom öffentlichen Antagonismus der beiden Prinzipien, der mit dem Sieg des guten in der Gegenwart endet, gibt somit die Erklärung, warum die menschliche Vernunft auf den zwei verschiedenen Gebieten gesetzgebend ist. Demnach ist Kants friedenstiftendes richterliches Urteil über die menschliche Vernunft weder als ein Urteil über die Vernunft selbst noch als eine Aussage über die menschliche Erkenntnisart überhaupt zu verstehen; es formuliert vielmehr das Grundgesetz der Gegenwart als einer Öffentlichkeit, in der die praktische Vernunft der »Vereinigungspunkt für alle (ist), die das Gute lieben, … um sich darunter zu versammeln« (VI 94).
B.
Die Verfassung der »neuen Öffentlichkeit«
1. Geht man nun von dieser Verknüpfung der geschichtlichen »Revolution der Gesinnung« mit der epistemologischen Trennung der zwei Gebiete aus, dann muss für die neue Öffentlichkeit diese Trennung der epistemischen Gebiete, Moral und Natur, konstitutiv sein. In Hinblick auf die Vergangenheit, deren Zustand, wahnhaft, auf die Vermischung beider gegründet war, ist die Gegenwart daher als das Zeitalter der Kritik anzusehen, das die Verkehrung der moralischen Sache in einen Geschichtsglauben oder in spekulative Vernunftsysteme als Blendwerke von Statuten und Dogmen zurückweist; und in Hinblick auf die Jetztzeit ist sie das Zeitalter der Vernunft, das beginnt, die Berufung des Menschen zum göttlichen Staat wirklich zu machen. Die Verfasstheit dieser neuen Öffentlichkeit hat Kant leider nicht systematisch ausgeführt. Zwar unterzieht er in seinen transzendentalphilosophischen Untersuchungen die spekulativen Vernunftsysteme der Kritik und nennt die Bedingungen, unter denen eine praktische wie theoretische Erkenntnis möglich sei. Aber er legt den Untersuchungen ein ganz unbestimmtes Subjekt zugrunde, das sich bald als individuelles ›Ich‹, bald als ›Gattung Mensch‹, bald als ›endliches Vernunftwesen überhaupt‹, bald als kollektives ›Wir‹ interpretieren lässt, das er aber nicht geschichtlich in dieser Gegenwart verortet. In der »Religionsschrift« hingegen unterzieht er zwar den A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
637
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
»Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion« (VI 167 ff.) der Kritik und nennt die Herrschaft des guten Prinzips in der Tat eine »allgemeine Republik nach Tugendgesetzen«; aber er beschreibt dann die Verfasstheit dieser Republik im Rückgriff auf die Tradition, auf einen »historischen (Offenbarungs-)Glauben, den man den Kirchenglauben nennen kann« (VI 102). Während also Kants transzendentalphilosophische Untersuchungen das Subjekt zu unbestimmt lassen, um die Gesetzgebungen der Vernunft als Verfassung der neuen Öffentlichkeit zu beschreiben, ist ihre ekklesiologische Darstellung zu historisch. Er spricht dann zwar in der Schrift »Was ist Aufklärung?« über diese Öffentlichkeit; aber sie ist mehr ein Plädoyer, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« (VIII 36), als eine Darstellung ihrer Verfassung. Im Folgenden unternehmen wir es daher, die Grundsätze dieser Öffentlichkeit am Leitfaden jener »allgemeinen Republik« zu rekonstruieren 1.
Die Öffentlichkeit als »ethisches Gemeinwesen«
Kant grenzt diese neue Öffentlichkeit zunächst von anderen öffentlichen Zuständen ab, sowohl vom »statutarischen« als auch vom »ethischen Naturzustand«. Im statutarischen Zustand sei zwar jedes Mitglied einer allgemeinen und verbindlichen Gesetzgebung unterworfen, die die Einheit, den Bestand und die Dauer der Öffentlichkeit gewährleistet; aber weil hier der Geltungsgrund der Gesetze nicht die Vernunft ist, sondern das Faktum einer Offenbarung, und die Statute daher als »für göttlich gehaltene Verordnungen« (VI 168) gelten, gründe ihre Befolgung nicht auf der freien Bestimmung des Willens, sondern auf einer fremden gesetzgebenden Autorität. Hier seien die Gesetze »ein der Obhut der Gelehrten anvertrautes heiliges Gut« (VI 163). Der ethische Naturzustand hingegen bestehe darin, dass »ein jeder sich selbst das Gesetz (giebt), und es kein äußeres (ist), dem er sich sammt allen andern unterworfen erkennte« (VI 95); dieses »Mangel(s) eines sie vereinigenden Princips« (VI 97) wegen sei dieser ein öffentlicher Zustand des Kampfes aller gegen alle 79, der ohne Bestand und Dauer ist, da in ihm jeder als sein eigener Richter entscheidet, was gut oder böse ist. Siehe Kants ›Berichtigung‹ des Hobbes’schen Satzes »status hominum naturalis est bellum omnium in omnes«: RGV VI 97, Anm.
79
638
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
Vergleichen wir diese beiden öffentlichen Zustände, so enthält der statutarische zwar eine verbindliche Gesetzgebung, widerspricht aber, weil auf Autorität gegründet, der Autonomie des Willens als des obersten Prinzips der Sittlichkeit. Der ethische Naturzustand hingegen entspricht zwar diesem Prinzip; aber ihm fehlt die Instanz einer verbindlichen, Einheit und Bestand sichernden Gesetzgebung. Im historischen Kontext, in dem Kant sie skizziert, stellt der statutarischen Zustand offenbar die Zeit der Vergangenheit dar, in der die moralische Lehre unter der Herrschaft des bösen Prinzips zum Geschichtsglauben verkehrt und seine Ausleger zu gesetzgebenden Autoritäten erhoben wurden. Dem Naturzustand hingegen entspricht – ohne dass Kant dies näher ausführt – die Zeit des Bruchs der Gegenwart mit der Vergangenheit, der Austritt aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, in dem die Menschen sich aus der wahnhaften Verkehrung befreien, das Ethische aber noch nicht zum allgemein verbindenden Prinzip geworden ist. 80 Gegenüber diesen beiden öffentlichen Zuständen konzipiert Kant nun die Gegenwart als eine Art der Öffentlichkeit, die sowohl mit dem Vergangenen gebrochen als auch den ethischen Naturzustand zugunsten eines gesetzlich verfassten Zustands überwunden hat 81 ; d. i. als ein Gemeinwesen, das auf allgemeine und verbindliche ethische Gesetze gegründet ist. Damit aber stellt sich der Konzeption eines solchen Gemeinwesens das Problem, wie eine ethisch freie, aber doch nicht anarchische, sondern gesetzmäßig verfasste und doch nicht statutarische Öffentlichkeit beschaffen ist. Denn sie muss in der einen Hinsicht ein öffentlicher Raum sein, der als Medium das Mittel ist, worin und wodurch die Menschen sich zu mündigen Vernunftwesen machen können und machen; sie kann in der anderen Hinsicht jedoch kein gesetzloser Raum sein, sondern muss ein unter einer gewissen Rechtsordnung verfasstes Gemeinwesen sein 82 . Sie Den »ethischen Naturzustand« identifiziert Kant in kirchengeschichtlicher Hinsicht mit der Zeit der »Sectirerei in Glaubenssachen« (SF VII 50), in philosophiehistorischer Hinsicht mit der Epoche der »Eklektiker in der Philosophie, d. i. solche(r) Selbstdenker, die sich zu keiner Schule bekannten, sondern die Wahrheit suchten und annahmen, wo sie sie fanden.« (Kurzer Abriß einer Geschichte der Philosophie, IX 31). 81 Zum Problem des »exeundum esse e statu naturali« siehe: Baumgartner 1996, 416 ff. 82 Vgl. Habermas 1969, 128: »[Kant] begreift ›Öffentlichkeit‹ als Prinzip der Rechtsordnung und Methode der Aufklärung zumal.« Allerdings geht Habermas dort nicht Kants Darstellung des ethischen Gemeinwesens nach, sondern, konkreter, der »Vermittlung von Politik und Moral« (127). 80
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
639
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
muss also ein »ethisches gemeines Wesen« (VI 94) sein, das durch seine rechtliche Verfasstheit zugleich der »Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts« (VI 97; H. v. m.) dient. 2.
Der Grundsatz der Bescheidenheit oder der problematische Vernunftgebrauch
Als den ersten Grundsatz, der diese neue Öffentlichkeit zunächst nur negativ von den anderen Zuständen abgrenzt, führt Kant den Grundsatz der Bescheidenheit an, den er in der »Religionsschrift« jedoch ›nur‹ in einem die Glaubenslehren betreffenden Sinne gebraucht: als »Grundsatz der billigen Bescheidenheit in Aussprüchen über alles, was Offenbarung heißt« (VI 132). Er macht von ihm hier auch nur in so weit Gebrauch, als nach ihm niemandem der Offenbarungsglauben als zur Seligkeit erforderlich aufzudringen sei, ohne doch die Möglichkeit abzustreiten, heilige Schriften könnten »wohl wirklich als göttliche Offenbarung angesehen werden« (VI 132). Betrachtet man diesen Grundsatz jedoch auf dem Hintergrund des öffentlichen Antagonismus der Prinzipien, so stellt er als Grundsatz einer »sich von der Last eines der Willkür der Ausleger beständig ausgesetzten Glaubens loswindende(n) Vernunft« (VI 132) zum einen das Gegenprinzip zum statutarischen Zustand dar, der den Offenbarungsglauben als zur eigenen Glückseligkeit erforderlich aufdringt. Er formuliert aber zum anderen auch das Gegenprinzip zum ethischen Naturzustand, in dem jeder sein moralischer Richter ist. Denn dieser Zustand sei »eine continuirliche Läsion der Rechte aller andern durch die Anmaßung in seiner eigenen Sache Richter zu sein und andern Menschen keine Sicherheit wegen des Ihrigen zu lassen, als bloß seine eigene Willkür.« (VI 97, Anm.) Der Grundsatz der Bescheidenheit schließt somit sowohl eine ›oligarchisch‹ verfasste Öffentlichkeit aus, in der die Auslegung der Glaubensstatute das Monopol eines Standes, der Priester oder Gelehrten, ist, wie auch eine ›anarchische‹ Öffentlichkeit, in der sich jeder oder jede Sekte das moralische Richteramt zueignet. Über die Ansprüche eines Offenbarungsglaubens hinaus benennt der Grundsatz der Bescheidenheit den, wenngleich nur negativen und disziplinierenden, Maßstab der Kritik der Vernunftsysteme. Denn diese Systeme gründen in den unbescheidenen ›Anmaßungen‹ einer spekulativen Vernunft, die Grenzen der Erfahrung zu über640
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
schreiten und aus einem bloß Bedingten ein Unbedingtes zu machen. In Ansehung des Unbedingten beruht daher auf dem Grundsatz der Bescheidenheit gleichsam die ›Polizei‹ des ethischen Gemeinwesens, die den bösen Anfeindungen widersteht, von der Vernunft einen gegenständlichen Gebrauch zu machen. Er schließt damit von vornherein jeglichen dogmatischen Gebrauch der Vernunft in dieser Öffentlichkeit aus und lässt in ihr einen nur problematischen Gebrauch der Vernunftideen als Hypothesen zu. 83 Ihn beschreibt Kant in der »Disziplin der reinen Vernunft«: »Die gedachten Hypothesen aber sind nur problematische Urteile, die wenigstens nicht widerlegt, obgleich freilich durch nichts bewiesen werden können … In dieser Qualität aber muss man sie erhalten, und ja sorgfältig verhüten, dass sie nicht als an sich selbst beglaubigt, und von einiger absoluten Gültigkeit, auftreten, und die Vernunft unter Erdichtungen und Blendwerken ersäufen.« (B 809 f.) Nach diesem ersten Grundsatz haben also die Mitglieder dieses Gemeinwesens die ethische Pflicht, sich den Anfechtungen zu erwehren, ihr Vernunftvermögen zum Zweck einer objektiven Erkenntnis zu gebrauchen: sei es durch Schlüsse aus historisch-empirischen Fakta auf die Existenz eines Unbedingten, sei es durch Deduktionen aus einem Unbedingten auf ein bloß historisch Bedingtes, – ohne doch die Möglichkeit eines solchen Unbedingten abzustreiten 84 . Er zieht dem spekulativen Vernunftgebrauch die Erkenntnisgrenze. Dass Kant diesen Grundsatz nicht nur gegen vormalige spekulative Systeme gerichtet sieht, sondern dass um ihn beständig gekämpft werden müsse, erhellt seine polemische Schrift »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Tone in der Philosophie« von 1793, die sich gegen die unbescheidenen ›Anmaßungen‹ in neuerer Zeit zur Wehr setzt, »durch Einfluss eines höheren Gefühls philosophiren zu wollen« (vT VIII 395). Während das »durch Kritik seiner eigenen Vernunft herabgestimmte … unvermeidlich zur Mäßigung in Ansprüchen (Bescheidenheit)« nötige (VIII 403), blähe das dogmatische Wissen auf. Die Rüge dieses Anspruchs sei in der jetzigen Zeit nicht überflüssig, wo »der Philosoph der Vision (wenn man einen solchen einräumt) … unbemerkt einen großen Anhang um sich versammeln könnte … : welches die Polizei im Reiche der Wissenschaften [sic!] nicht dulden kann.« (VIII 403 f.) – Siehe auch Kants Erklärung in Bezug auf Fichtes Wissenschaftslehre vom 28. 8. 1799: XII, 370 f. 84 Kant verwendet dementsprechend diesen Grundsatz zur Definition des »Begriffs einer Religion überhaupt«: die Religion fordert, »was das theoretische Erkenntnis und Bekenntnis betrifft, kein assertorisches Wissen (selbst des Daseins Gottes nicht) …, weil bei dem Mangel unserer Einsicht übersinnlicher Gegenstände dieses Bekenntnis schon geheuchelt sein könnte; sondern nur ein der Speculation nach über die oberste Ursache der Dinge problematisches Annehmen (Hypothesis) … Zu dem, was jedem Menschen 83
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
641
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
3.
Die neue Öffentlichkeit als »ethische Republik«
Über diesen negativen, die Offenbarungsauslegung und den dogmatischen Vernunftgebrauch ausschließenden Grundsatz hinaus nennt Kant das ethische Gemeinwesen als Gemeinschaft das »Volk Gottes« (VI 98 ff.) oder die »allgemeine Kirche« (VI 124), hinsichtlich ihrer Verfasstheit als ein Ganzes jedoch eine »allgemeine Republik unter Tugendgesetzen« (VI 98), in der die Autonomie des einzelnen mit dem Prinzip einer allgemeinen und verbindlichen Gesetzgebung zusammenbesteht. Wie aber ist dieses »Zusammenbestehen« von Autonomie und Gesetzgebung in einer solchen Republik zu verstehen? Da dieses ethische Gemeinwesen für Kant »eigentlich keine ihren Grundsätzen nach der politischen ähnliche Verfassung« (VI 102) haben kann, lässt sich ausschließen, dass sie monarchisch, aristokratisch oder demokratisch verfasst ist. Denn während im Staat als einer Veranstaltung des äußeren Rechts die Anerkennung der Gesetze durch die (physische) Gewalt von Menschen über Menschen erzwungen werden kann, ist diese Gewalt in einem ethischen Staate gänzlich ausgeschlossen, da das Ethische, als innere Gesinnung, niemals erzwungen werden kann 85 . – Statt politischer Verfassungsprinzipien bietet Kant in der »Religionsschrift« für die ethische Republik das Modell des Hauses oder der Familie an, nach dem sie verfasst sei, so dass sich unserer Rekonstruktion zunächst die Frage stellt, ob und inwiefern dieses Verfassungsmodell mit Kants Idee der neuen Öffentlichkeit als einer ethischen Republik zusammenstimmt. a.
Das Modell der Familie
Die Verfassung eines Gemeinwesens unter der Herrschaft des Guten, schreibt Kant, »würde noch am besten mit der einer Hausgenossenschaft (Familie) unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater verglichen werden können, sofern sein heiliger Sohn, der seinen Willen weiß und zugleich mit allen ihren Gliedern in Blutsverwandtschaft steht, die Stelle desselben darin vertritt, dass er seinen Willen diesen näher bekannt macht, welche daher zur Pflicht gemacht werden kann, muss das Minimum der Erkenntnis (es ist möglich, dass ein Gott sei) subjektiv schon hinreichend sein.« (RGV VI 153 f., Anm.) 85 Zur Unterscheidung des »juridischen« vom »ethischen Gemeinwesen« siehe: RGV VI 98 f.
642
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
in ihm den Vater ehren und so untereinander in eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung treten.« (VI 102) Anders als das politische gibt dieses Modell der Familie in der Tat eine Lösung für das Problem, wie unter den Bedingungen moralischer Autonomie und der Bescheidenheit im Vernunftgebrauch eine Vereinigung unter einem allgemeinen und verbindlichen Gesetz gedacht werden kann. Denn nach ihm kommt die Gesetzgebung keinem der Glieder dieses Gemeinwesens zu, sondern allein dem »heiligen Sohn«, der als Mittler einerseits den gesetzgebenden Willen des »unsichtbaren, moralischen Vaters« in dieser Gemeinschaft authentisch vertritt, und mit dem andererseits alle Glieder verwandtschaftlich, brüderlich und wohl auch schwesterlich, verbunden sind. Anders als im Fall des Staates widerspricht im Modell der Familie das Prinzip der allgemeinen und verbindlichen Gesetzgebung nicht jenen Grundsätzen der moralischen Autonomie und der Bescheidenheit; sie bedingen sich vielmehr wechselseitig. Zudem setzt dieses Modell in gewisser Weise jene Berufung des Menschen zum göttlichen Staate ins Bild, das wir als Autoritätsverhältnis rekonstruiert haben: die unbegreifliche Person des Urhebers des Guten wird hier als der unsichtbare Vater, die Berufung des Menschen im Sohn als Ideal des moralisch vollkommenen Menschen vorgestellt, in dem alle gemeinsam den Urheber der Guten ehren und darin ihre Berufung zur Bürgerschaft im ethischen Staat freiwillig annehmen. Doch diesem Modell steht nicht allein entgegen, dass ihm von Kant nur ein optionaler Charakter zugesprochen wird, sondern auch, dass es als eine der Idee der ethischen Republik nicht angemessene Vorstellung erscheinen muss. Denn zum einen stellt dieses Modell die Verknüpfung der Idee eines ethischen Gemeinwesens mit der historischen Vorstellung der christlichen Kirche als Familie in der Einheit von heiligem Vater, heiligem Sohn und heiligem Geist dar, die Kant selbst doch immer in der Gefahr sieht, verkehrt zu werden. Statt sich – nach dem Schematismus der Analogie – die Idee des ethischen Staates im Modell der Familie bloß vorzustellen, wird »durch einen schlimmen Hang der menschlichen Natur« (VI 131) diese Vorstellung ›wahnhaft‹ für die Sache selbst gehalten und folglich im Sohn der Stifter dieses Gemeinwesens geehrt. Zum anderen jedoch, und vor allem, wird im Modell der Familie das Vereinigungsprinzip des ethischen Gemeinwesens nicht in die Vernunft, sondern in die Gemeinschaft des Blutes gesetzt, durch das alle verwandtschaftlich verbunden sind: der Vater mit dem Sohn und dieser mit allen GlieA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
643
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
dern. Doch diese Vorstellung des Blutes als Element der Vereinigung, wenngleich sie zu erklären vermag, wie die Vereinigung aller unter ein Gesetz zugleich als freiwillig und doch fortdauernd gedacht werden kann, muss, aus der Perspektive Kants, als ein unangemessenes Symbol für die Einheit des ethischen Gemeinwesens angesehen werden. 86 Wir verstehen Kants Option für dieses Modell deshalb im Sinne eines »Verlegenheits-« oder befristeten »Übergangsmodells«, das unter den gegebenen Umständen eine sowohl ethisch akzeptable als auch historisch akzeptierte Vorstellung ist. Wenn Kant daher erklärt, sie könne »noch am besten mit einer Hausgemeinschaft (Familie) … verglichen werden« (VI 102; H. v. m.), dann drückt diese Modalität offensichtlich aus, dass sie nicht eine der rein moralischen Sache angemessene Vorstellung ist, sondern aus anderen Gründen mit ihr verglichen wird. Er kommt mit ihr der »besonderen Schwäche der menschlichen Natur« (VI 103) entgegen, das moralisch Gebotene auch als historisch gegeben, als eine gewisse »auf Erfahrungsbedingungen beruhende(.) kirchliche(.) Form, die an sich zufällig und mannigfaltig ist« (VI 105), vorzustellen. Als Hausgemeinschaft schleppt das ethische Gemeinwesen gewissermaßen noch den Hang des Menschen mit sich, die sittliche Ordnung zu verkehren. Da dies nun einmal so sei, sei es »noch am besten«, sich das ethische Gemeinwesen als eine große Familie vorzustellen. Dieses Modell bildet also gewissermaßen einen ›historischen Kompromiss‹, der die Gegenwart unter der Herrschaft des Guten noch zwingt, an Vergangenes anzuknüpfen, es aber zugleich als einen zu überwindenden Zustand begreift, als »Vehikel und Mittel« (VI 106) zur Beförderung des wahrhaft ethischen Gemeinwesens. 87 Wenn Kant vom Judentum sagt, es sei kein ethisches Gemeinwesen gewesen, »sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten« (RGV VI 125), und wenn diese Stammeszugehörigkeit in der Blutsgemeinschaft liegt – wie kann er dann behaupten, das ethische Gemeinwesen gründe in der »Blutsverwandtschaft«? Würde man einwenden, das »Blut« sei nicht als empirischer Begriff, sondern als Symbol der Idee dieser Gemeinschaft aufzufassen, so bleibt offen, was denn nun das Prinzip ist, das jene »freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung« bewirkt. 87 Bei diesem Versuch, das ethische Gemeinwesen auf einen historischen Glauben zu gründen, verzettelt Kant sich in Widersprüche. Denn er bestimmt dieses Gemeinwesen zuerst durch die Annehmung des reinen Vernunftglaubens, dem er den gottesdienstlichen Glauben entgegensetzt. Dann aber macht er die Einschränkung, dass »auf jenen 86
644
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
b.
Das Modell der »epistemischen Republik«
1. Da also das ethische Gemeinwesen weder nach Art einer Polis verfasst sein kann, noch der Oikos oder die Familie das dem Ethischen angemessene Modell darstellt, stellt sich uns die Frage, wie ein Gemeinwesen verfasst sein muss, in dem sich die versammeln, die, wie reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen« (VI 103). Daher bedürfe es des gottesdienstlichen Glaubens, weil die Menschen »sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie Gott zu leisten haben« (VI 103). Erst erfordert also der reine Vernunftglauben die Revolution der Gesinnung, dann erfordert er eben diese Gesinnung. – Dieser Widerspruch zeigt sich auch in Kants Urteilen über die »heiligen Schriften«: einerseits erfordert der reine Vernunftglauben, dass Schriften niemals für heilig genommen werden können; andererseits aber sei es das Beste, diesen Glauben auf eine Schrift zu gründen; denn »(e)in heiliges Buch erwirbt sich selbst bei denen (und gerade bei diesen am meisten), die es nicht lesen, … die größte Achtung, und alles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden Machtspruch: da stehts geschrieben.« (VI 107) – Zu diesen Lehrstücken, »die nur durch Wegschauen in ihrer Widersprüchlichkeit vertreten werden können« (243), siehe auch: G. B. Sala SJ 2004, 241 ff. Einen anderen Einwand gegen diese Konstruktion hat H. M. Baumgartner erhoben. Er vertritt die Auffassung, Kant habe in der Religionsschrift nicht die Konstitutionselemente des ethischen Gemeinwesens genannt, sondern nur gezeigt, »dass die Idee eines reinen Religionsglaubens transzendentales Konstitutionsmoment einer sichtbaren und (ihrer Öffentlichkeit wegen) institutionell verfassten Kirche ist« (Baumgartner 1992, 165). Aus dieser Perspektive tadelt er mit Recht, dass Kant, wenn er es als Telos der Geschichte bezeichnet, die sichtbare in die unsichtbare Kirche aufzuheben, einen fundamentalen »Kategorienfehler« (162) begeht, der vielen naiven Staats- und Geschichtsphilosophien zugrunde liegt: »Unversehens ist der reine Vernunftglaube vom Kriterium bzw. transzendentalen Formprinzip der sichtbaren Kirche zum geschichtlichen Idealziel geworden« (ebd.). Einerseits erfordere daher der reine Vernunftglaube seine Verwirklichung in der sinnlich-historischen Erfahrung als »sichtbare Kirche«; andererseits aber kann diese sichtbare Gestalt niemals der reine Religionsglaube sein. »Also«, folgert Baumgartner, »kann (sie) nie realisiert werden und erzeugt deshalb immer wieder (nach Art einer permanenten Annäherung oder auch Revolution) neue geschichtliche Gestalten, die sie verwirklichen sollen, aber nicht können. Die Vernunftidee des ethischen gemeinen Wesens wird, so verstanden, immer wieder neue Kirchen erzeugen, die allesamt scheitern; denn sie können schon der Konstruktion zufolge nie genügen«. (164) Baumgartner stellt die Frage, »ob nicht vielleicht schon das Konstruktionsmuster: reine Vernunftidee als Ziel geschichtlicher Realität, verkehrt ist und nicht erst die ungenügende Realisation.« (ebd.) – Wir lesen Kants »Religionsschrift« jedoch nicht als transzendentale Erörterung des Kirchenglaubens, sondern als Erzählung des Kampfes und des Siegs des guten Prinzips über das böse. Aus dieser Sicht ist daher Kants »Kategorienfehler« nicht die Verwechslung der Transzendental- mit der Geschichtsphilosophie, sondern die Ungereimtheit, den reinen Vernunftglauben erst vom historischen Glauben zu trennen, ihn dann mit diesem wieder zu verbinden. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
645
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Kant sagt, »das Gute lieben« (VI 94). Zur Beantwortung dieser Frage verbinden wir nun naheliegenderweise Kants Idee des ethischen Gemeinwesens als der neuen Öffentlichkeit mit dem Prinzip der reinen praktischen Vernunft. Denn, so das Argument, wenn das Gemeinwesen, wie Kant es beschreibt, unter der Herrschaft des guten Prinzips besteht, dann kann dessen Vereinigungspunkt nichts anderes als die Vernunft sein, die durch ihr Gesetz selbst das Bestimmende ist. In diesem Gemeinwesen ist daher weder wie im Staat die Gewalt noch wie in der Familie das Blut das Verbindende, sondern die Vernunft als die gemeinsame und öffentliche Sache (res publica), deren Dasein die Bedingung der Freiheit eines jeden seiner Bürger ist. Auf dieser Grundlage unternehmen wir es, ein Verfassungsmodell der neuen Öffentlichkeit zu rekonstruieren, von dem wir annehmen, dass es in der Tat der kantischen Idee der neuen Öffentlichkeit als einer ethischen Republik entspricht. Wenn das Gute durch jene »Revolution der Gesinnung« in der Gegenwart zur öffentlich gewordene Sache geworden ist, dann folgt daraus, dass die Vernunft, der sittlichen Ordnung gemäß, durch ihr Gesetz als bloßer Form einer allgemeinen Gesetzgebung die höchste gesetzgebende Instanz in diesem ethischen Gemeinwesen ist. Das von Kant so genannte »Volk Gottes« wird folglich dadurch zu einem verfassten Gemeinwesen, dass in ihm die Vernunft zur höchsten und letztverbindlichen Instanz erhoben ist, der damit alle anderen Instanzen, der Glaube oder Autoritäten, das Gefühl oder die Erfahrung, untergeordnet werden. Das Gesetz der reinen praktischen Vernunft ist so zugleich das Grundgesetz dieser Republik, so dass in ihr der gemeinsame Wille, die ›volonté général‹, der sittlich-gute Wille und dieser zugleich der gemeinsame Wille ist 88 . – Über die Gesetzgebung hinaus muss in dieser Republik der Vernunft auch die Rolle des höchsten Richters zukommen, so dass sie das unverlierbare Recht besitzt, alle das Unbedingte betreffenden Urteile und Handlungen einer, obgleich nur negativen, Prüfung und Kritik zu unterziehen. In dieser Republik ist daher die Vernunft der »oberste Ge-
Aus dieser Gemeinsamkeit des sittlich-guten Willens folgt unmittelbar, die anderen Mitglieder dieser Republik als Person anzuerkennen. Denn wenn der Wert der Person oder die »moralische Persönlichkeit« nach Kant darin besteht, »dass eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist« (MS VI 223), dann wäre es widersinnig, diesen Wert sich selbst, nicht aber den anderen Gliedern zuzuerkennen.
88
646
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
richtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation« (B 697), der, statt ›Wahrheiten‹ zu entdecken, vor Irrtümern und Anmaßungen schützt. Eine solche Verfasstheit nun, in der die Vernunft selbst die höchste gesetzgebende und rechtsprechende Instanz ist, bezeichnet einen solchen öffentlichen Zustand, der weder auf Statuten, die als göttliche Gebote gelten, noch auf der Rechtsetzung einzelner beruht, aber auch nicht in einer »allgemeinen und fortdauernden Herzensvereinigung« (VI 102) besteht, sondern der auf die gemeinschaftliche Anerkennung der Vernunft als der dieses Gemeinwesen konstituierenden Sache gegründet ist. Dieser Gesetzes- und Rechtszustand ist so die Öffentlichkeit als ethische Republik, in der alle, die das Gute lieben, als Bürger dieses Gemeinwesens die Vernunft zur gemeinsamen Sache erheben. Fasst man die Vernunft in dieser Weise als die öffentliche, diese Republik konstituierende Sache auf, dann erweist sich jedoch der Grundsatz der Bescheidenheit, das negative Prinzip einer sich vom Glauben loswindenden Vernunft, als die Kehrseite desselben öffentlichen Zustands. Denn der Anerkennung der Vernunft als der einen und gemeinsamen Sache entspricht der Verzicht eines jeden auf einen öffentlichen dogmatischen Gebrauch seines Vernunftvermögens. Es wäre widersprechend, wenn die Vernunft einerseits als die eine gemeinsame Sache anerkannt wird, die diese Öffentlichkeit als eine Republik konstituiert, andererseits aber ihre Bürger selbst in Sachen der Vernunft verbindlich urteilen würden. Anders als in der statutarisch verfassten Öffentlichkeit unter der Herrschaft eines Priester- und Gelehrtenstandes, im ethischen Naturzustand eines gesetzlosen Streits der Parteien oder in der Form einer Hausgenossenschaft, die doch immer die Gefahr des Missbrauchs enthält, ist in dieser ethisch verfassten Öffentlichkeit ein solcher irriger wie anmaßender Vernunftgebrauch ausgeschlossen, da die Anerkennung der Vernunft als der höchsten rechtsprechenden Instanz jeden privilegierten Zugang zum Unbedingten ausschließt. In dieser Republik sind daher alle vor der Vernunft gleich; und alle verpflichtenden Dogmen und Symbole müssen in ihr als »null und nichtig« (VIII 39), als Verbrechen gegen dieses Gemeinwesen gelten 89 . In der Schrift »Was ist Aufklärung?« stellt Kant die Frage, ob »nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung oder eine ehrwürdige Klassis (wie sie sich unter den Holländern selbst nennt), berechtigt sein [sollte], sich eidlich untereinan-
89
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
647
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Unter diesen Bedingungen kommt nun jedem Bürger dieser Republik nicht nur das gleiche Recht zu, von seinem Vernunftvermögen einen sowohl freien, durch keine Dogmen und Symbole beschränkten, als auch öffentlichen, keiner Zensur unterworfenen, Gebrauch zu machen, sondern er hat als ihr Bürger auch die Pflicht, durch den öffentlichen Gebrauch seines Vernunftvermögens die gemeinsame Sache, die Vernunft, zu befördern und so den immerwährenden Hang des Menschen, die sittliche Ordnung der Vermögen umzukehren, zu bekämpfen. 90 2. Wenn wir nun nach der »Repräsentantin« (VI 102) suchen, die die neue Öffentlichkeit »auf Erden« möglichst angemessen verwirklicht, dann fällt es schwer, sie »in der Form einer Kirche« (VI 100) ausgeführt zu sehen. Denn da diese Institution doch immer nur »zufällig und mannigfaltig ist« (VI 105), kommt ihr nicht die der auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen und diese so gar zu verewigen?« Kant antwortet ganz im Sinne dieser ethischen Republik: »Dies ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt … ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstäge und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muss, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter- und frevelhafterweise genommen zu verwerfen.« (WA VIII 38 f.) – Siehe auch G VIII 304 f. 90 Diese Bürgerpflicht zum öffentlichen Vernunftgebrauch erklärt, warum Kant die Lüge als »die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst« (MS VI 429) betrachtet, zwischen welcher und der Wahrhaftigkeit es »kein Mittleres« (VI 433, Anm.) gebe. Während in der vormaligen Öffentlichkeit unter der Herrschaft des Bösen die Lüge konstitutiv war, muss sie in einer bloß auf die Vernunft gegründeten Öffentlichkeit katastrophal sein. Denn diese gründet auf keinen Statuten oder Autoritäten, deren Anerkennung Pflicht ist, sondern auf der Mitteilung der eigenen Gedanken. In ihr ist der Mensch ausdrücklich als moralisches Wesen (homo noumenon) Bürger. Als ein solches aber kann er »sich selbst als physisches Wesen (homo phaenomenon) nicht als bloßes Mittel (Sprachmaschine) brauchen, das an den inneren Zweck (der Gedankenmittheilung) nicht gebunden wäre, sondern ist an die Bedingung der Übereinstimmung mit der Erklärung (declaratio) des ersteren gebunden und gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet.« (VI 430) Gäbe es Umstände, die es ihm als Bürger dieses Gemeinwesens erlaubten oder gar geböten, anderes zu sagen als zu denken (aliud lingua promtum, aliud pectore inclusum gerere), dann könnte dieses kein bloß auf die Vernunft gegründetes Gemeinwesen sein. Da es aber als ein solches vorausgesetzt ist, muss der Lug vor dem Betrug die größte Verletzung der Pflicht sein.
648
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
Allgemeinheit und Verbindlichkeit zu, die der Vernunft als öffentlicher Sache entspricht. Kant unterscheidet denn auch denjenigen Vernunftgebrauch, den ein Geistlicher macht, von demjenigen, den ein Gelehrter macht. Jener Gebrauch sei, weil seine Gemeinde »immer nur eine häusliche, obzwar noch so grosse, Versammlung ist« und der Geistliche »einen fremden Auftrag ausrichtet«, nicht frei; Kant nennt ihn »bloß ein(en) Privatgebrauch«. Der Gelehrte hingegen, weil sein Publikum nicht das Haus, sondern »die Welt« (VIII 38) sei, genieße »im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft … eine uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.« (VIII 38) 91 Es ist daher anzunehmen, dass das, was Kant »ein Publicum« oder die »Welt« nennt, die Idee der ethischen Republik angemessen repräsentiert, weil in ihr einerseits die Freiheit des Vernunftgebrauchs, andererseits die Vernunft als höchste gesetzgebende Instanz herrscht. Unter diesem Begriff eines »Publikums« lässt sich nun freilich keine Kommunikationsgemeinschaft überhaupt verstehen, keine Öffentlichkeit, die, ganz unbestimmt, bloß aus Sprechern und Hörern bestünde, aber auch keine auf ein besonderes Symbol verpflichtete Gemeinschaft, sondern die Gemeinschaft derer, die einerseits das »Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben« (VIII 36) und von ihrer Vernunft Gebrauch machen, und die andererseits in ihrem freien, gleichberechtigen und wechselseitigen, mithin öffentlichen Vernunftgebrauch besteht. Eine solche Kommunikationsgemeinschaft bezeichnet Kant als ein gelehrtes Publicum 92 , dessen Vereinigungsprinzip freilich nicht die Gelehrsamkeit ist, sondern das im wechselseitigen Gebrauch der Erkenntniskräfte die Vernunft selbst als die höchste richterliche Instanz anerkennt, deren Kontrolle und Urteil sich die Mitglieder dieser Republik freiwillig unterwerfen. Dieses Publikum ist ein Gemeinwesen, das, wie Kant in der »Transzendentalen Methodenlehre« ausführt, »keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat; und, da von dieser alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muss, so ist ein solches Recht heilig, und darf nicht geschmälert werden.« (B 780) In einer solcher Art verfassten Öffentlichkeit fehlt also das Symbol des Sohnes als des Vertreters des unsichtbaren Vaters, mit dem alle Glieder zugleich 91 92
Vgl. dazu auch: SF VII 18 ff. Siehe: IGA VIII 29, Anm.; SF VII 34; auch: WA VIII 37, RGV VI 129. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
649
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
verbunden sind, weil in ihr die Vernunft selbst als die gemeinsame Sache anerkannt wird. Diese neue Öffentlichkeit substituiert gleichsam das Symbol der Dreieinigkeit, weil in ihr die reine praktische Vernunft die eine gesetzgebende Instanz ist, die zugleich – unbegreiflich – als die allgemeine Menschenvernunft in allen ihren Gliedern wirkt. Dieses Publikum ist demnach als der Ort anzusehen, wo das gute Prinzip öffentlich herrscht. Es ist das durch die Vernunft selbst konstituierte »gelehrte gemeine Wesen« (SF VII 34) oder eine solche science community, die im freien Gebrauch ihrer Vernunft zugleich die Vernunft durch die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung als die ihr allein ›heilige Sache‹ anerkennt. 93 Zwar gilt für eine solche »epistemische Republik« in concreto auch, dass sie je von einem historisch gegebenen Zustand ihrer Verfasstheit und einem Stand ihrer Gelehrsamkeit ausgeht; aber diese haben keine konstitutive Bedeutung, weil diese Republik auf nichts Historisches, sondern auf die Vernunft selbst gegründet ist und am Maß des Guten zum Besseren fortschreitet, so dass sich ihr je historisch-empirischer Zustand beständig reformiert. Und gleichfalls gilt in einer solchen, durch die Vernunft geeinten Republik in concreto, dass das Handeln ihrer Bürger auch anderen Motiven als der Vernunft entspringt, dass sie nicht dem moralisch Guten dienen, sondern der Beförderung des menschlichen Wohls – sei es des eigenen oder anderer –; aber anders als unter der Herrschaft des bösen Prinzips konstituieren diese Motive nicht die Öffentlichkeit; sie sind weder ihr Ursprung noch ihr Ziel. Ihr Zweck, den die empirisch-materialen Triebkräfte teils behindern, teils befördern, besteht vielmehr im Kampf um die sittliche Ordnung der Vermögen, in welcher die Vernunft selbst durch ihr Gesetz das Bestimmende ist, um, so werden wir im Weiteren sehen, das wirklich So deutet auch O. Höffe Kants transzendentalphilosophische Gesetzgebung: »Wie bei Platon so soll auch bei Kant die Philosophie die Regentschaft übernehmen. Sie soll sogar ›Gesetzgeber der menschlichen Vernunft‹ sein (A839/B867; ebenso die Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie, XXIX, 1,1,7). Und weil die Vernunft hier sowohl Urheber als auch Adressat ist, findet eine Selbstgesetzgebung und über sie eine Selbstherrschaft der Vernunft statt, freilich nicht im politischen (›bürgerlichen gemeinen Wesen‹ ; Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7. Satz, VIII 25), sondern im ›wissenschaftlichen gemeinen Wesen‹ (A851/B879), in der epistemischen Republik.« (Höffe 1998, 627 f.; H. v. m.) – Die von Höffe hier angekündigte Arbeit »Republikanische Vernunft? Versuch einer politischen Lektüre der ›Kritik der reinen Vernunft‹« ist jedoch bislang nicht erschienen. 93
650
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
zu machen, wozu Kant den Mensch berufen sieht: das Universalreich der Vernunft, in dem, der »sittlichen Ordnung« gemäß, die ganze Natur der Vernunft untergeordnet ist.
C. Der Verstand als die »epistemische Kraft« des guten Prinzips 1. Fragen wir auf Grundlage dieses Begriffs der neuen Öffentlichkeit als epistemischer Republik nach dem Vermögen, durch das der Wille dieser Republik Dasein und Wirklichkeit hat, dann liegt es nahe, statt des Bildes vom Sohn, der zwischen dem Willen des Vaters und den Gliedern vermittelt, den Verstand als dieses Vermögen anzunehmen. Denn der Verstand ist für Kant nicht nur das Vermögen der Erkenntnis, sondern dadurch auch dasjenige Dritte, das durch seine Begriffe die Vernunftideen mit den sinnlichen Anschauungen vermittelt, und durch das die Vernunft überhaupt eine Beziehung zur Sinnenwelt hat. Verstand und Vernunft seien dadurch verschieden, beschreibt Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« ihr Verhältnis, dass »vornehmlich … die letztere ganz eigentlich und vorzüglicherweise von allen empirischbedingten Kräften unterschieden (wird), da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der dann von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht.« (B 575) Kant spricht also dem Verstand als dem Vermögen der reinen Begriffe die Funktion zu, die Vernunft als der bloßen Form einer Gesetzgebung überhaupt mit dem sinnlich Gegebenen so zu vermitteln, dass er im empirischen Gebrauch durch seine Begriffe in das sinnlich Mannigfaltige die Form der gesetzlichen Einheit bringt. Indem der Verstand in allem empirisch Gegebenen und historisch Bedingten die logische Form des Gesetzes bewirkt, reinigt er durch die Art seiner Gesetzgebung die Erkenntnis vom vormaligen »Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei« (VI 101). Wir betrachten daher den Verstand als diejenige epistemische Kraft, die, der »sittlichen Ordnung« gemäß, durch die reinen Begriffe der Sinnlichkeit a priori die Form des Gesetzes ›einprägt‹, und durch die sich das Gute als das herrschende Prinzip erweist. Der Verstand ›bannt‹ gleichsam als a priori gesetzgebendes Vermögen den bösen Wahn, die Sinnlichkeit zur Bedingung des Vernunftgebrauchs zu erheben. Statt also Kants Option zu folgen, die gute Sache, vorläufig A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
651
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
und einer »besondern Schwäche der menschlichen Natur« wegen, in einem Kirchenglauben verwirklicht zu sehen, der doch nur auf Historischem gründet und »particuläre Gültigkeit« (VI 115) besitzt, nehmen wir an, dass die Vernunft als öffentliche Sache ihre Wirklichkeit im ›rechten Verstandesgebrauch‹ hat, d. h. im Gebrauch des menschlichen Verstandes unter der Leitung des transzendentalen, gesetzgebenden Verstandes. Er ist als das Dritte der Repräsentant der Vernunft in der Sinnenwelt, ohne die gesetzgebende Vernunft selbst zu sein. So verstanden hat diese ethische Republik ihre Wirklichkeit nicht in staatlichen Gesetzen oder kirchlichen Statuten, sondern in den epistemischen Gesetzen, die den Verstandesgebrauch regeln; und ihr Reichtum besteht nicht aus äußeren Gütern oder Produkten des Glaubens, sondern in den Reden und Texten, die einen solchen Gebrauch des Verstandes repräsentieren, um so die »Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten« (VIII 39). Sie künden die ›frohe Botschaft‹ vom Sieg des guten Prinzips über das böse. Daher wäre die Beschränkung dieser Freiheit des Verstandesgebrauchs durch Dogmen eines Glaubens oder einer spekulativen Vernunft, »ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht« (ebd.). 2. Um nun diese Interpretation des Daseins des ethischen Gemeinwesens als einer Wissenschaftsgemeinschaft unter Gesetzen des transzendentalen Verstandes näher zu erläutern, soll auf zwei zentrale Aspekte von Kants Transzendentalphilosophie eingegangen werden: einmal das Verhältnis der reinen praktischen Vernunft zum transzendentalen Verstand, das Kant als »Typik der reinen praktischen Urteilskraft« beschreibt; zum anderen das Verhältnis des Verstandes als reinen Begriffsvermögens zur Sinnlichkeit als Rezeptionsvermögen, das er im Begriff der »ursprünglichen Apperzeption« fasst. Die Darstellung dieser beiden Verhältnisse des Verstandes zur Vernunft und zur Sinnlichkeit soll zeigen, dass es angemessen ist, im Verstand diejenige ›epistemische Kraft‹ zu sehen, durch die Kant in der Gegenwart die Herrschaft des guten Prinzips über das böse bewirkt sieht.
652
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
1.
Der Verstand als »Typus« der reinen praktischen Vernunft
Abgesehen vom Problem der Vollständigkeit der Kategorientafel, das Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« formuliert 94 , stellt Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« explizit einen Zusammenhang zwischen der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft und der des Verstandes her. Er stellt die Frage, wie der allein durch die reine praktische Vernunft bestimmte Gegenstand, das sittlich Gute, bezüglich der menschlichen Erkenntnisart überhaupt ein Dasein haben kann. Denn wenn dem Menschen seiner Natur wegen ein Dasein nur in der sinnlichen Anschauung gegeben ist, »so scheint es widersinnisch, in der Sinnenwelt einen Fall antreffen zu wollen, … auf welchen die übersinnliche Idee des Sittlichguten, das darin in concreto dargestellt werden soll, angewandt werden könne« (V 68) 95 . Diese Frage beantwortet Kant nun dadurch, dass für das sittlich Gute in der Tat »in keiner sinnlichen Anschauung etwas Correspondirendes gefunden werden kann« (V 68), dass ihm aber in Hinsicht auf die Tätigkeit des Verstandes etwas korrespondiere. Denn der Verstand, nicht insofern er durch die Schemate der Einbildungskraft den Begriffen in concreto ein Objekt in der Anschauung gibt, sondern insofern er auf dem Gebiet der Natur das Vermögen der Gesetzgebung sei, gebe den Typus der reinen praktischen Vernunft ab. Das Gesetz der reinen praktischen Vernunft habe nämlich »kein anderes, Vgl. zu diesem Komplex: K. L. Reinhold, Brief an Kant vom 12. 10. 1787. In: Reinhold 1983, 276; Kants Antwort in: GtP VIII 184. – Reich 1932, insb. 90; Lenk, 1968; Brandt 1991; Krüger 1968, 337 ff. M. Bondeli hat in seinem Aufsatz »Zu Kants Behauptung der Unentbehrlichkeit der Vernunftideen« mit Recht darauf verwiesen, dass die Idee der Vollständigkeit ihren eigentlichen Ort im Praktischen hat: »Die Idee der systematischen Einheit von Erkenntnis … muss vielmehr auch durch die Instanz der praktischen Vernunft begründet werden. Folgt man den Kantischen Bestimmungen zur Postulatenlehre, so ist damit offenbar gemeint: das Sittengesetz verlangt von seinem Objekt, in diesem Falle den gegebenen Gegenständen der Erkenntnis, dass systematische Einheit der Erkenntnis sein soll. Ausgehend von diesem Befund ist dann aber zu schließen, dass Kant seine Behauptung, Vernunftideen seien unentbehrlich, schon im Rahmen der theoretischen Vernunftkritik sowohl theoretisch-spekulativ als auch praktisch hätte begründen müssen.« (Bondeli 1996, 183) 95 Hier schließt Kant sogar als »widersinnisch« aus, was er in der »Religionsschrift«, einer »besondere(n) Schwäche der menschlichen Natur« (VI 103) wegen, annimmt: dass der Mensch die Idee des Sittlich-Guten in concreto darstelle, d. h. die Kirche als »die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden« (VI 131). 94
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
653
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkenntnisvermögen, als den Verstand (nicht der Einbildungskraft), welcher einer Idee der Vernunft nicht ein Schema der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, aber doch ein solches, das an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urteilskraft unterlegen kann, und dieses können wir daher den Typus des Sittengesetzes nennen.« (V 69) Die Natur der Sinnenwelt sei daher als Typus einer intelligibelen Natur zu brauchen, »solange ich … bloß die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt … darauf beziehe.« (V 70) Die Möglichkeit dieser Anwendung des Sittengesetzes auf die Naturgesetze begründet Kant nun mit dem Einerlei der Gesetze als solcher – »sie mögen ihre Bestimmungsgründe hernehmen, woher sie wollen« (V 70). Er setzt damit jedoch die Gesetzgebung des Verstandes auf dem Gebiet der Natur als schon gegeben voraus, die so mit derjenigen der praktischen Vernunft verglichen werden kann 96 . Wenn nun aber zum einen dieses Einerlei der Gesetze in der »Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt (ebd.)« besteht, deretwegen die Natur der Sinnenwelt als Typus der moralischen Welt angenommen werden kann; wenn zum anderen jedoch diese Form die Funktion der reinen praktischen Vernunft als des Vermögens der »bloße(n) Form einer allgemeinen Gesetzgebung« (V 27) ist, dann hat das Einerlei der Gesetze seinen Ursprung offenbar in der reinen praktischen Vernunft, nach der die Form der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Natur bestimmt wird 97 . Die reine praktische Urteilskraft beLeider erläutert Kant den Ausdruck »Typus« nicht, sondern unterscheidet ihn nur vom sinnlichen »Schema«. Verstehen wir »Typus« nicht im Sinne eines Ur- oder Vorbilds, sondern seiner ursprünglichen Bedeutung nach als Eindruck oder Prägung (gr. = tupo@), dann ist ein Verstandesgesetz das, in dem das Vernunftgesetz als die Form des Gesetzes überhaupt ›eingedrückt‹ ist. 97 Kant stellt das Verfahren der praktischen Urteilskraft so dar, als suche sie ›etwas‹, was dem Gesetz der reinen praktischen Vernunft korrespondiere, und finde dann die Naturgesetze, die, verglichen mit jenem, hinsichtlich der Form nach einerlei seien, und verwende sie daraufhin als ›Typen‹ des reinen Vernunftgesetzes. Dieses Verfahren setzt jedoch voraus, dass die Naturgesetze, um sie zu finden, schon da sind. – Bezieht man sich jedoch auf das, was Kant im Allgemeinen von der Urteilskraft sagt, dass sie nämlich »beider Vermögen [Vernunft und Verstand] ihren Zusammenhang vermittelt« (KU, 1. Einleitung, XX 202; vgl. auch: KU V 175 f.) und ihr Verfahren entweder reflektierend ist, wenn sie zum gegebenen Besonderen das Allgemeine sucht, oder bestimmend, wenn durch das Allgemeine die Regel gegeben ist, das Besondere zu bestimmen (KU V 179; vgl. auch KrV B 674), dann stimmt jenes Verfahren mit diesem nicht überein. Denn nach diesem sucht die Urteilskraft nicht zum gegebenen Allgemeinen ein Besonderes 96
654
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
stimmt demnach die Gesetze des Verstandes ihrer Form nach als Gesetz. Und dieser Bestimmung wegen ist diejenige Natur der Typus des sittlich Guten, die unter der Form einer apriorischen Gesetzgebung des Verstandes betrachtet wird. Das sittlich Gute hat folglich sein Dasein nicht in einer allemal historisch empirischen Anschauung, sondern in der Natur, die durch den Verstand a priori unter die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt gebracht ist; und diese Art der Gesetzgebung des Verstandes auf dem Gebiet der Natur ist das Dasein des sittlich Guten. Hier also beschreibt Kant die reine praktische Urteilskraft als das Vermögen, das den Zusammenhang zwischen der moralischen Gesetzgebung durch die Vernunft und der kognitiven Gesetzgebung durch den Verstand herstellt. 98 2.
Die transzendentale Apperzeption
1. Um zu erklären, dass die Begriffe, die dem Verstand »rein und unvermischt entspringen« (B 92), als Grundgesetze auf dem Gebiet der Natur die Möglichkeit einer Erkenntnis begründen, führt Kant in der »Transzendentalen Analytik« den Begriff der ursprünglichen Apperzeption ein. Diese sei als eine zu den Begriffen selbst hinzukommende Leistung des Verstandes zu verstehen, aufgrund derer sie »niemals von transzendentalem, sondern jederzeit nur von empirischem Gebrauche sein können« (B 303). Kant nennt diese Apperzeption den »höchste(n) Punkt«, an dem man allen Verstandesgebrauch heften müsse; sie sei der »Verstand selbst« (B 134, Anm.), der so
und vergleicht auch nicht das eine mit dem anderen, sondern sucht entweder zum ihr gegebenen Besonderen das Allgemeine oder bestimmt durch das ihr gegebene Allgemeine als Regel das Besondere. Wenn Kant daher die praktische Urteilskraft als das Vermögen bezeichnet, das dem Vernunftgesetz etwas Korrespondierendes gibt, dann kann sie nicht suchen und vergleichen, sondern muss nach dem ihr als Regel gegebenen Vernunftgesetz die Verstandesgesetze als dessen Besonderungen bestimmen. Als bestimmendes Vermögen vermittelt die praktische Urteilskraft den Zusammenhang zwischen Vernunft und Verstand, zwischen der Form einer Gesetzgebung überhaupt und den Naturgesetzen als Gesetzen. So verstanden aber sind die Gesetze des Verstandes nicht da und werden gefunden, sondern werden durch die praktische Urteilskraft als ›Typen‹ des Vernunftgesetzes bestimmt. 98 In den Anmerkungen zur »praktischen Urteilskraft« verdeutlicht Kant den inneren Zusammenhang zwischen der praktischen Vernunft und einer verstandesmäßigen Naturerkenntnis. Siehe: V 71. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
655
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
durch seine reinen Begriffe auf dem Gebiet der Erfahrung gesetzgebend ist. Was aber ist dieser »Verstand selbst«? Zunächst beschreibt Kant ihn als denjenigen »Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft« (B 130), der das sinnlich gegebene Mannigfaltige ursprünglich verbindet, d. h. unter die Einheit des Verstandes bringt. Durch diesen Aktus werden die gegebenen Vorstellungen zu meinen Vorstellungen, weil sie allemal »unter der Bedingung stehen müssen, dass ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen, und also, als in einer Apperzeption synthetisch verbunden, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann.« (B 138) – Dann jedoch schränkt Kant ein: dieser Akt sei nicht das Prinzip des Verstandes überhaupt; denn das »Ich denke« sei nur »für den menschlichen Verstand … unvermeidlich der erste Grundsatz« (B 139; H. v. m.). Ein Verstand hingegen, »durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, würde einen besonderen Aktus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewusstseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf.« (B 139; H. v. m.) Aus dieser Einschränkung folgt jedoch, dass das, was Kant zunächst den »Verstand selbst« genannt hat, nur der menschliche Verstand ist; und dass daher die transzendentale Apperzeption ein besonderer Akt ist, der nicht dem Verstand selbst entspringt, sondern aus der Eigentümlichkeit der menschlichen Natur resultiert. Der Mensch bedarf, ohne dass Kant diese menschliche Natur hier näher erklärt, dieses besonderen, an sich zufälligen Akts, weil ihm ein Gegenstand niemals an sich, sondern nur durch die Sinne gegeben ist. Wenn man nun davon ausgeht, dass der menschliche Verstand seiner Natur nach ein »gedoppelter« ist, dem als reinem Verstand die Begriffe als Urteilsfunktionen »rein und unvermischt entspringen«, dem als empirischem Verstand jedoch die Begriffe als Allgemeinvorstellungen durch die Sinne gegeben sind 99 , der daher, wie Kant sagt, »zwei Subjekte in einer Person vorauszusetzen« (XX 268) 100 scheint, das logische »Ich denke« und das empirische »ich nehme wahr«, dann Diesen empirischen Verstand nennt Kant auch »das Auffassende Ich (der apprehension), welches der Mensch mit den Thieren gemein hat« (XV 958). 100 Das Problem der zwei Subjekte verfolgt Kant insbesondere in der Schrift »Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?«: XX 270 f. 99
656
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
ist Kants ursprüngliche Apperzeption offenbar als Wirkung derjenigen epistemischen Kraft zu verstehen, die ganz Verschiedenartiges, die reinen und die empirischen Begriffe, zu Einer Erkenntnis vereint. Diese Handlung bringt, indem sie die reinen Begriffe als Funktionen der Synthesis auf die empirischen Begriffe anwendet, diese zugleich unter jene; sie ›transsubstanziiert‹ gleichsam die Begriffe, indem sie die reinen sinnlich, die sinnlichen aber rein macht. Diese Verwandlung geschieht, wie Kant dies in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften« darlegt, wenn der empirische Begriff der Materie als »Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unserer Sinne« (IV 467) sind, unter den reinen Begriff der Kausalität als logischer Funktion eines Urteils gebracht wird und die beiden Begriffe in dieser Vereinigungshandlung zu dem synthetischen Urteil a priori verbunden werden: »Alle Veränderung der Materie hat eine äußere Ursache.« (MAN IV 543) Diese Handlung, obgleich sie ein an sich zufälliger und besonderer Aktus des menschlichen Verstandes ist, enthält in sich offenbar die »epistemische Kraft«, durch die das ganz Verschiedenartige, das sinnlich Mannigfaltige im Begriff einer Materie und die rein logische Einheit in der Kategorie der Kausalität, im synthetischen Urteil zu Einer Erkenntnis geeint wird. Dieser erkenntnisstiftende Vorgang der Apperzeption sei freilich, räumt Kant ein, »eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.« (B 180 f.) 2. Wenn wir zur Erklärung dieser geheimnisvollen, an sich zufälligen, gleichwohl notwendigen Handlung des menschlichen Verstandes auf die anthropologische Aussage Kants zurückgreifen, wonach das an sich Zufällige der menschlichen Erkenntnisart, allemal vom sinnlich Gegebenen ausgehen zu müssen, dem Verderbten der menschlichen Natur entstammt, die Ordnung der Vermögen umzukehren und von der Sinnlichkeit auszugehen, dann ist die ursprüngliche Apperzeption als diejenige Handlung verstehen, durch die der reine Verstand durch seine logische Funktionen im Verderbten das gute Prinzip verwirklicht. Denn indem das Sinnliche, von dem die menschliche Erkenntnis doch immer ausgehen muss, durch die Handlung der Synthesis unter die logische Form einer Gesetzgebung überhaupt und damit unter die Herrschaft des guten Prinzips gebracht wird, bricht sie gleichsam die Macht des Bösen, unter dessen Herrschaft der Mensch die Existenz des übersinnlich Reinen »dreist A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
657
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
verneint« (B 499). Diese Apperzeptionshandlung verwirklicht die Herrschaft des guten Prinzips über das böse, weil sie, der sittlichen Ordnung gemäß, das sinnlich Bedingte, von dem doch alle menschliche Erkenntnis auszugehen hat, vor aller Erfahrung unter die Form des Gesetzes bringt 101 . Was, so die Schlussfolgerung, im Zeitalter des ›Religionswahns‹ in der Person des Gottessohnes verehrt wurde, der durch seine Menschwerdung die Menschen von der Macht des Bösen befreit, ist im Zeitalter der Gegenwart keine äußere Person, sondern die »in den Tiefen der menschlichen Seele« verborgene epistemische Kraft, die die Transformation der »natürlichen Ordnung« der Vermögen in die »sittliche Ordnung« bewirkt, indem sie alles historisch Empirische a priori einer Gesetzmäßigkeit überhaupt unterwirft. 3.
Die Grundsätze der modernen Naturwissenschaft als Regeln des Verstandesgebrauchs
Durch diese Art der Gesetzgebung des Verstandes in synthetischen Urteilen a priori erklärt Kant transzendentallogisch, wie die moderne, einerseits auf die Sätze der reinen Mathematik und andererseits auf empirische Erfahrungsbegriffe gegründete Naturwissenschaft als Erkenntnis möglich ist. Da nun aber diese Gesetzgebung auf dem Gebiet der Natur, wie gesehen, ihrer Form nach durch das Vernunftgesetz bestimmt ist, ist diese moderne Art der Naturwissenschaft als 101 Analysiert man den Satz, mit dem Kant das Apperzeptionsvermögen expliziert: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können« (B 131 f.), so enthält er drei Subjekte: einmal das »Ich denke«, das als rein logischer und spontaner Vollzug offenlässt, was das Ich sei, das denkt; ein Ich, das als der Träger aller meiner Vorstellungen ein sinnlich lebendiges Wesen ist, dem sie in der Anschauung gegeben sind; drittens aber dasjenige Ich, das die Beziehung des »Begleiten-Könnens« herstellt und das »Muß« dieses Begleiten-Könnens garantiert. Dieses »Begleiten-Können-Müssen« aber entspringt weder der Spontaneität eines rein logischen Subjekts noch ist es die empirische Handlung eines sinnlichen Lebewesens; es ist vielmehr ein eigenständiger Aktus, in dem das zeitlos-logische »Ich denke« auf meine zeitlich-empirischen Vorstellungen bezogen wird. Eine solche spezifisch menschliche Handlung kommt aber weder dem reinen Verstand zu, noch gründet er in der lebendigen Sinnlichkeit; sie ist vielmehr als die Handlung zu verstehen, in der ein von Natur böser Mensch sich zum guten Menschen macht, weil er in dieser Handlung, der sittlichen Ordnung gemäß, die sinnlichen Vorstellungen unter das reine »Ich denke« bringt und dadurch das reine Vermögen zur Bestimmung des Sinnlichen gebraucht.
658
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Herrschaft des guten Prinzips über das böse
der ›Typus‹ anzusehen, der das auf die Vernunft gegründete Gemeinwesen in der Sinnenwelt darstellt und auf diese Weise vom Sieg des guten Prinzips über das böse kündet. Denn des Verderbten der menschlichen Natur wegen müssen die Wissenschaften jederzeit von der sinnlichen Erfahrung ausgehen, ohne die dem menschlichen Verstand eine Erkenntnis gar nicht möglich wäre. Weil nun aber diese Wissenschaften – vor aller Erfahrung – vom Grundsatz ausgehen, von den reinen Verstandesbegriffen keinen transzendenten Gebrauch zu machen, wie die ›alten‹ Wissenschaften, sondern sie in der apriorischen Konstruktion ihres Gegenstands allemal auf den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren beziehen, unterwerfen sie sich darin zum einen nicht nur dem ethischen Grundsatz der Bescheidenheit in Ansehung eines dogmatischen Vernunftgebrauchs; sie folgen darin auch einer allgemeinen, einheitlichen und verbindlichen Gesetzgebung, die ihren Ursprung weder in der Erfahrung noch im Verstand selbst, sondern ihrer Allgemeinheit und Verbindlichkeit wegen in der reinen praktischen Vernunft hat. 102 Damit ist diese Art wissenschaftlicher Praxis zwar befreit von allen vormaligen Vorgaben eines gottesdienstlichen Glaubens oder einer spekulativ-dogmatischen Vernunft und besitzt Autonomie in der Erforschung der Natur und ihrer Gesetze; aber sie ist darum nicht ohne ein für sie verbindliches und verbindendes Prinzip, weil sie das Verfahren der Anwendung reiner Begriffe auf Gegenstände der Erfahrung als Bedingung für eine Erkenntnis überhaupt anerkennt. Wenn daher die modernen Wissenschaften ihrem eigenen Anspruch 102 Aus diesem Primat der reinen praktischen Vernunft folgt, dass eine Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, wenn sie nicht nur eine »Erklärung der Art [gibt], wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können« (B 117; H. v. m.), sondern wenn sie aus reiner Vernunft, »ohne sich auf irgend ein Factum zu stützen, die Erkenntniss aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht« (P IV 274; H. v. m.), nicht möglich ist. Denn die reine praktische Vernunft gibt nur die Form einer allgemeinen Gesetzgebung, aber nicht die bestimmten Begriffe als Gesetze möglicher Erfahrung. Diesem Umstand entspricht, wenn Kant in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« argumentiert: »gesetzt, die Art, wie Erfahrung dadurch [durch das Denken] allererst möglich werde, könnte niemals hinreichend erklärt werden, so bleibt es doch unwidersprechlich gewiss, dass sie blos durch jene Begriffe möglich, und jene Begriffe umgekehrt auch in keiner anderen Beziehung, als auf Gegenstände der Erfahrung einer Bedeutung und irgend eines Gebrauchs fähig sind.« (MAN IV 475, Anm.) Das aber heißt: die praktische Vernunft verlangt, dass ein solcher Gebrauch möglich sei; sie enthält aber kein Prinzip, wie dies möglich ist. Das »Dass« eines solchen Gebrauchs der Begriffe – im Unterschied zum »Wie« – ist damit aber moralisch begründet.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
659
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
nach weder bloß skeptisch sind, d. h. nicht ohne alle verbindlichen erkenntniskonstituierenden Regeln verfahren, noch dogmatische, sie inhaltlich bindende Vorgaben über ihren Erkenntnisgegenstand gestatten, sondern ihre Praxis auf Grundsätze als synthetische Urteile a priori im Sinne Kants gründen, die sie als Bedingungen der Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Forschungspraxis voraussetzen, dann stellt diese Gemeinschaft freier und doch gesetzmäßig verfahrender Forscher das Dasein der ethischen Republik dar. Denn indem sie diese Eigengesetzlichkeiten des kognitiven Wissenserwerbs sowohl freiwillig als auch als verbindlich anerkennen, erkennen sie darin zugleich die praktische Vernunft als das Einheit und Bestand sichernde Prinzip ihres epistemischen Handelns an und dienen auf diese Weise der moralisch guten Sache. Freilich ist diese Gemeinschaft der Forschenden nicht aus dem Grund als der ›Typus‹ des ethischen Gemeinwesens anzusehen, weil deren Handeln in concreto moralisch wäre, sondern weil sie in der freiwilligen Anerkennung der Verbindlichkeit transzendentaler Regeln als den Bedingungen von Erkenntnis überhaupt die Vernunft als die höchste gesetzgebende Instanz anerkennt. Insofern ist es die Moral der modernen Wissenschaften, in der Tat autonom und doch nach Grundsätzen zu verfahren.
V. Die Verwirklichung des Guten Mit der Darstellung dieser epistemischen Republik ist Kants Erzählung vom Menschen und seinem Kampf um das Gute noch nicht zu Ende. Denn mit der Existenz eines Gemeinwesens, das die Vernunft als seine höchste Instanz anerkennt, ist für die Bestimmung des Menschen, das Reich der Vernunft auf Erden zu errichten, erst der Anfang gemacht. Zwar sind in ihm die zwei epistemischen Gebiete der Moral und der Natur getrennt; doch die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft bestehe, wie Kant in der »Architektonik der reinen Vernunft« schreibt, nur »anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System« (B868; H. v. m.). Die Vernunft will daher nicht nur, dass die Sinnlichkeit den Regeln des Verstandes untergeordnet ist, sondern geht auf das Ganze, auf die »Totalität des Gegenstandes …, unter dem Namen des höchsten Guts.« (V 108) Sie fordert daher als Ziel des ethischen Gemeinwesens 660
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
das Reich der Vernunft, in dem die Natur, das sinnlich Bedingte aller Erfahrungserkenntnisse, mit dem Moralischen, dem Unbedingten der Vernunft, zum Ganzen eines Systems zusammenstimme. Da nun aber der transzendentale Verstand das sinnlich gegebene Mannigfaltige unter Gesetze bringt, die zwar ihrer Form nach ›gut‹ sind, deren Inhalt aber ›verderbt‹ ist, besteht zwischen dem Soll-Zustand dieses Gemeinwesens, den die Vernunft fordert, und dem IstZustand, dem Zufälligen aller Naturerkenntnisse, offenbar eine unüberbrückbare Kluft: das von der Vernunft geforderte höchste Gut ist kein Gegenstand der Erkenntnis; und der Gegenstand der Erkenntnis ist nicht das höchste Gut; – und dennoch sieht Kant das ethische Gemeinwesen zur »Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts« (VI 97) berufen. Diese Öffentlichkeit scheint daher gerade aufgrund der Trennung der zwei Gebiete vor einem unauflösbaren Dilemma zu stehen: einerseits hat sie darin ihre Wirklichkeit, dass sie die sinnliche Erfahrung der transzendentalen Gesetzgebung des Verstandes unterwirft und das Wissen auf das Gebiet der Natur begrenzt; andererseits aber verwirklicht sie sich nur in der Überwindung dieser Trennung, um das sinnlich Bedingte der Natur zugleich als ein durch die Vernunft bewirktes Ganzes zu erkennen. Es scheint daher, als sei die Trennung der Gebiete, auf die die epistemische Republik gegründet ist, kein Mittel, um das höchste Gute zu befördern. Um nun diese Kluft zwischen dem Ist-Zustand und dem SollZustand zu überwinden, führt Kant in seine Erzählung vom Menschen, nach der Vergangenheit als dem Antagonismus von Gut und Böse und der Gegenwart als dem Sieg des Guten über das Böse, die Zukunft ein. In ihr wird das gegenwärtig Unmögliche als ein Mögliches gedacht: die Wirklichkeit des höchsten Guts auf Erden sei nicht in der Gegenwart, sondern im unendlichen Fortschreiten des ethischen Gemeinwesens vom Guten zum Besseren anzutreffen. – Diesen Begriff der Zukunft als eines unendlichen Fortschreitens bezieht Kant nun auf zwei Bedingungen, unter denen der gesollte Endzweck als wirklich gedacht wird: die Unvergänglichkeit des ethischen Gemeinwesens sowie das Dasein des höchsten Gutes überhaupt. Diese Bedingungen nennt Kant »Postulate der reinen praktischen Vernunft«. Zum anderen jedoch – und darauf werden wir uns im Weiteren beschränken – bezieht Kant den Begriff der Zukunft auf die Methode, nach der das ethische Gemeinwesen als ein gerichtetes Fortschreiten zum höchsten Guten bestimmt werden kann. Diese A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
661
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Methode fasst Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« im Begriff der regulativen Vernunftidee, durch den freilich nichts erkannt wird, nach dem aber die bedingten Erkenntnisse in einen »Zusammenhang derselben aus einem Prinzip« gebracht werden, der »das Systematische der Erkenntnis sei« (B 673). In der »Kritik der Urteilskraft« beschreibt er sie dann ausführlich als das Verfahren der reflektierenden Urteilskraft, die ein eigenständiges Erkenntnisvermögen sei, das zu den bedingten Erkenntnissen des Verstandes nach ihrem Prinzip der Zweckmäßigkeit das Unbedingte der Vernunft sucht und so die Gesetzgebungen des Verstandes auf dem Gebiet der Natur mit der Gesetzgebung der Vernunft auf dem Gebiet der Moral verbindet 103 . Dieses Vermögen verstehen wir im Kontext der kantischen Geschichte vom Menschen als das ›Verbindungsmittel‹, das die Kluft des ethischen Gemeinwesens zwischen dem Ist-Zustand der bedingten Erkenntnisse in einer epistemischen Republik und dem Soll-Zustand eines künftigen Reichs der Vernunft auflöst, indem es die Bestimmung des Menschen als ein Zukünftiges bestimmbar macht. Denn nach dem Prinzip dieses Vermögens, der Zweckmäßigkeit, wird die Natur teleologisch als ein technisches System gedacht, dessen letzter Zweck die Kultur sei; diese aber eröffne die Möglichkeit, dass der Mensch, wie er soll, das Reich der Vernunft wirklich macht.
A. Die Urteilskraft als das »Verbindungsmittel« zwischen Verstand und Vernunft In der »Kritik der praktischen Vernunft« hat Kant gezeigt, dass es reine praktische Vernunft gibt, und sie dem menschlichen Willen das höchste Gute als ein System der Glückseligkeit unter moralischen Gesetzen bestimmt; und in der »Kritik der reinen Vernunft«, dass die menschliche Erkenntnis auf das Gebiet der Erfahrung begrenzt ist, dem der Verstand a priori die Gesetze vorschreibt. Diesen beiden lässt er eine dritte Kritik, die »Kritik der Urteilskraft«, folgen, die die Bedingungen untersucht, unter denen die Überwindung dieser Gebietstrennung möglich ist. In ihrer Einleitung beschreibt Kant den Zustand so: »Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so dass 103
662
Siehe dazu: KU V 195.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluss haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluss haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen« (V 175). Da nun aber dieses Sollen das Unbedingte ist, das zu verwirklichen dem ethischen Gemeinwesen das höchste Gut ist, so »muss [die Natur] folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.« (V 175) Daher mache die praktisch begründete Forderung, das Unbedingte in der Sinnenwelt wirklich zu machen, die theoretische Idee der Vereinbarkeit des sinnlich Bedingten mit einem übersinnlich Unbedingten erforderlich. 104 Dieses Vermögen, das die Zusammenstimmung beider Gebiete denkbar macht, ist die Urteilskraft, die Kant als das dritte »in der Familie der oberen Erkenntnisvermögen« (V 177) einführt. Sie sei zwar kein selbständiges Erkenntnisvermögen wie die Vernunft und der Verstand, sondern »ein Vermögen …, bloß unter anderweitig gegebene Begriffe zu subsumieren« (XX 202); aber gerade deshalb sei zu erwarten, dass sie ihr eigentümliche Prinzipien hergibt, durch die sie »beider Vermögen ihren Zusammenhang vermittelt« (ebd.). Als das Vermögen der Subsumtion wirkt sie nicht spontan wie die Vernunft durch die bloße Form des Gesetzes und der Verstand durch die Begriffe; aber sie enthält als ein »oberes« Vermögen ihr eigentümliche Prinzipien, die zwischen dem Unbedingten der Vernunft und den Begriffen des Verstandes die Verbindung herstellt. Sie ist so das dritte Erkenntnisvermögen, das vom Ist-Zustand der Trennung der praktischen Vernunft- und der theoretischen Verstandeserkenntnis als einer Tatsache ausgeht, das aber durch ihr Verfahren der Subsumtion die Möglichkeit eröffnet, »eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen.« (V 195) Durch sie kann die Natur so gedacht werden, wie sie gedacht werden soll: dass sie nicht nur das Aggregat von synthetischen Urteilen a priori und aposteriori, von Notwendigem und Zufälligem, ist, sondern zweckmäßig zu einem Ganzen zusammenstimme. Da nun aber die Urteilskraft dann kein eigenständiges Ver104 Zur sittlich-praktischen Begründung dieser Idee vgl. auch: GtP VIII 182 f.; KU V 447 f.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
663
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
mögen ist, wenn ihr das Prinzip oder die Regel, nach der sie subsumiert, schon gegeben ist, kann die Urteilskraft nur dadurch eigenständig sein, dass sie zum Besonderen, das ihr gegeben ist, das Prinzip oder die allgemeine Regel sucht, die ihr nicht gegeben ist. Kant nennt diese die »reflektierende Urteilskraft«, weil durch ihr Verfahren der Reflexion das Prinzip als möglich gedacht wird. Weil nun aber dasjenige Prinzip, das in allem Besonderen als der Grund für dessen Dasein angenommen wird, der »Zweck« heißt, und die Natur nach diesem Verfahren so gedacht wird, als ob all ihren Erscheinungen ein solcher Zweck zugrunde liegt, »so ist das Prinzip der Urteilskraft, in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen überhaupt, die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit.« (V 180) Dieses Prinzip ist weder ein Begriff der Moral, weil dieser nichts Empirisches enthält, noch ist es ein Begriff der Natur, der das Übersinnliche ausschließt; es ist vielmehr ein Begriff der Kunst oder der Technik, weil diese nach Kant von der Natur gerade dadurch unterschieden sind, dass ihr ein Zweck als Ursache des Daseins zugrundegelegt wird. 105 1.
Die Natur als Technik
Kant untersucht die Gesetzgebung der Urteilskraft in zweifacher Hinsicht: in ihrer Beziehung auf das menschliche Gemüt, in dem sie in Ansehung des Schönen oder des Erhabenen durch ihr Prinzip der Zweckmäßigkeit das Gefühl der Lust oder der Unlust bewirkt; und in ihrer Beziehung auf die Natur, deren Produkte dadurch teleologisch beurteilt werden. 1. Da die ästhetische Beurteilung der Natur jedoch, wie Kant sagt, »kein Erkenntnisurteil« (V 290) ist, sondern das »Subjective … an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnisstück werden kann« (V 189), sehen wir im Kontext unserer Rekonstruktion des Endzwecks von der ästhetischen Urteilskraft ab. Wir merken nur an, dass sowohl die Zweckmäßigkeit des Sinnlichen für den Verstand angesichts des Siehe V 303: »Kunst wird von der Natur, wie Tun (facere) vom Handeln oder Wirken überhaupt (agere), und das Produkt, oder die Folge der erstern, als Werk (opus) von der letztern als Wirkung (effectus) unterschieden. – Von Rechtswegen sollte man nur die Hervorbringungen durch Freiheit, d. i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen.«
105
664
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
Schönen als auch die Unzweckmäßigkeit zur Darstellung des Unbedingten angesichts des Erhabenen als zwar begrifflose, aber gefühlte Antizipationen des Endzwecks, des höchsten Guten, zu verstehen sind. 106 Denn das Zweckmäßige des Schönen macht, wie Kant schreibt, »den gedachten Begriff zur Vermittelung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit dem Freiheitsbegriffe in ihren Folgen tauglich, indem diese zugleich die Empfänglichkeit des Gemüths für das moralische Gefühl befördert« (V 197); und das Unzweckmäßige des Erhabenen verschafft dem Prinzip Oberhand, »alles, was die Natur als Gegenstand der Sinne für uns Großes enthält, in Vergleichung mit Ideen der Vernunft für klein zu schätzen« (V 257). Insofern gibt die ästhetische Urteilskraft als ein subjektiv gesetzgebendes Vermögen zwar kein Verfahren an die Hand, wie die Natur in moralischer Absicht zu denken sei; aber sie fördert den kontrafaktischen Wunsch nach der Zusammenstimmung des sinnlichen mit dem reinen Erkenntnisvermögen und bestärkt das moralische Gefühl, das Gute, trotz des Verderbten, wirklich zu machen. 2. Die Möglichkeit, den Zustand der Trennung der zwei epistemischen Gebiete auch ›objektiv‹ als überwindbar und damit die sinnlich gegebene Natur als mit dem moralischen Zweck übereinstimmend zu denken, untersucht Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft. Hier wird die Natur unter der Leitung der Urteilskraft so beurteilt, als liege den besonderen empirischen Naturgesetzen ein gemeinsamer Zweck oder Plan zugrunde, der sie so spezifiziert, »als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte« (V 181). Daher vergleicht die teleologi106 Nach E. Müller (1999, 553–571) habe Kant es mit dieser Antizipation nicht nur unternommen, »die auf dem Gefühl beruhende Religion zu depotenzieren, indem er sie in einen Begriff des distanzhaft-interesselosen, d. h. ästhetischen Gefühls überführt« (556), sondern damit zugleich auch dieses Gefühl zugunsten des Moralischen depotenziert: »Die implizite Ästhetik des Schönen, orientiert an der unendlichen Aufgabe der Vernunft, bestünde für den Aufklärer Kant eigentlich in ihrer Aufhebung. Denn das Schöne, das Kant als ein Symbol entwickelt, das, wenn auch nur indirekt, das Übersinnliche im freien Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand darstellt, ist selbst bloß ein Zeichen dafür, dass der Verstand, was über ihm ist, noch zu wissen verlangt. Aufklärung, so könnte man den Begriff hier interpretieren, verwirklichte sich erst dann, wenn die Sehnsucht nach Bildern erlischt. Für den Menschen, als unaufhebbar sinnliches, mit Einbildungskraft und Phantasie ausgerüstetes Wesen, kann das nur eine regulative Idee sein.« (569) – Dieser ›regulativen Idee‹ wegen können wir nicht der These O. Marquards zustimmen, für Kant ›kompensiere‹ das Ästhetische die moderne Entzauberung der Welt (Kant und die Wende zur Ästhetik. In: Marquard 1989).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
665
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
sche Beurteilung der Natur »den Begriff eines Naturproducts nach dem, was es ist, mit dem was es sein soll« (XX 240). Sie unterstellt der Natur in ihrer sinnlichen Mannigfaltigkeit eine übersinnliche Ursache, »die nach Absichten wirkt, mithin ein Wesen …, welches nach der Analogie mit der Causalität eines Verstandes productiv ist.« (V 397) Das Prinzip einer solchen teleologischen Beurteilung der Natur nennen wir mit Kant »Technik«. Denn nach diesem Prinzip wird die Natur nicht als eine a priori durch Kategorien geordnete Mannigfaltigkeit bestimmt, sondern umgekehrt wird das Mannigfaltige durch die Urteilskraft aposteriori auf einen Zweck als Ursache des Daseins bezogen. Während daher die Naturwissenschaften ihre Gegenstände nach den Grundsätzen des Verstandes als einen »Mechanismus« erkennen, der einen transzendenten Gebrauch der Begriffe ausschließt, wird die Natur nach dem Verfahren der reflektierenden Urteilskraft als »technisch«, d. h. als das Produkt eines Verstandes, beurteilt. Eine solche Art der »Causalität … der Natur, in Ansehung der Form ihrer Producte als Zwecke« nennt Kant »die Technik der Natur« (XX 219), weil sie so gedacht wird, als liege ihr ein gemeinsamer Plan zugrunde. a.
Über den praktisch-moralischen Grund, die Natur technisch zu beurteilen
Da der Begriff einer »Technik der Natur« die ›Brücke‹ bildet zwischen dem Ist-Zustand und dem Soll-Zustand, durch den der künftige Endzustand des ethischen Gemeinwesens bestimmbar wird, müssen wir zuerst nach dem epistemischen Status dieses Begriffs fragen bzw. nach der Begründung, die Kant für diese Beurteilung der Natur gibt. Denn da die Urteilskraft weder wie die Vernunft dem Willen das Gesetz noch wie der Verstand der sinnlichen Anschauung die Gesetze gibt, scheint sie durch ihr reflektierendes Verfahren nur eine Methode zu sein, zum gegebenen Besonderen das Allgemeine zu suchen. Der Begriff einer »Technik der Natur« dient daher »bloß zum Behuf der Reflexion über das Objekt, nicht zur Bestimmung des Objekts durch den Begriff eines Zwecks« (XX 236); und die Urteilskraft gibt »sich dadurch nur selbst und nicht der Natur ein Gesetz« (V 180). Damit aber scheint dieser Methode jede Notwendigkeit zu fehlen: man mag die Natur so beurteilen, als verfahre sie nach Zwecken; aber weder muss man so urteilen noch folgt daraus eine Erkenntnis. Reflexionen über eine Zweckmäßigkeit der Natur scheinen ein mög666
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
licher, aber doch auch überflüssiger Anhang zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu sein. Warum also muss ein einheitliches Prinzip der Natur angenommen und damit ein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnis zu einem Ganzen der Erfahrung gedacht werden, wenn er nicht objektiv in der Natur selbst begründet, sondern nur ein subjektives Verfahren ist, dessen Regel sich die Urteilskraft selbst gibt? Kant nennt für diese Beurteilungsart drei Gründe. Der erste schreibt dem Prinzip einer Technik der Natur einen nur »negativen Einfluss auf das Verfahren in der theoretischen Naturwissenschaft« (V 417) zu. Es errichtet in kritischer Absicht ein ›Bollwerk‹ gegen das Unbescheidene eines naturwissenschaftlichen Dogmatismus, der aus der Tatsache, dass Erkenntnisse nur nach mechanischen Gesetzen möglich sind, darauf schließt, die Natur selbst verfahre nach diesen Gesetzen. In dieser Hinsicht verhindert dieses Prinzip den Rückfall in eine unkritische, vor-moderne Denkungsart 107 . – Zweitens habe dieses Prinzip eine heuristische Funktion: die technischen Maximen etwa, dass die Natur sparsam verfahre, ihre Einrichtungen für die Naturwesen zuträglich seien, geben den Wissenschaften einen Leitfaden, die Natur so weit als möglich nach rein mechanischen Gesetzen zu erklären. In dieser Hinsicht sei der Begriff einer Technik der Natur »ein heuristisches Prinzip, den besondern Gesetzen der Natur nachzuforschen« (V 411). Dabei dürfe freilich ebenfalls nicht angenommen werden, dass die Natur selbst technisch verfahre; und dies nicht deshalb, »weil es an sich unmöglich sei, … sondern nur darum weil es für uns als Menschen unmöglich ist« (V 418). Die menschliche Erkenntnisart verwehre, die Natur anders als nach mechanischen Gesetzen zu erkennen. Insofern bildet das Technikprinzip eine nur regulative Idee; es bezeichnet eine Art der Kausalität der Natur, »um die Regel, wornach gewissen Produkten der Natur nachgeforscht werden muss, vor Augen zu haben.« (V 383) Drittens aber – und vor allem – komme dem Begriff einer Technik der Natur die Funktion der Erklärung zu. Denn obwohl dem Menschen eine Naturerkenntnis nur unter der Bedingung der Sinn107 Vgl. Kants selbstkritische Bemerkung: »Ich habe auch bisweilen zum Versuch in den Golph gesteuert blinde Naturmechanik hier zum Grunde anzunehmen und glaubte eine Durchfahrth zum kunstlosen Naturbegrif zu entdecken allein ich gerieth mit der Vernunft beständig auf den Strand und habe mich daher lieber auf den Uferlosen Ocean der Ideen gewagt …« (Vorarbeiten zu »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie«, XXIII 75)
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
667
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
lichkeit möglich ist, könne er sich die Naturformen doch nur begreiflich machen, wenn er sie sich in Analogie zu seinem Verstand als Produkte einer absichtlich-wirkenden Ursache vorstellt. Zwar sei der Verstand »a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur, ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte: aber er bedarf doch überdem noch einer gewissen Ordnung der Natur in den besonderen Regeln derselben« (V 185; H. v. m.). Es sei zwar falsch, aus dieser Eigentümlichkeit menschlichen Begreifens zu schließen, der Natur selbst läge ein solcher Verstand zugrunde und »sich zu erkühnen, ein anderes verständiges Wesen über sie, als Werkmeister, zu setzen zu wollen« (V 383); aber ohne die Annahme des Prinzips einer Technik bliebe die Natur dem Menschen unzugänglich. 108 In dieser Hinsicht ist der Begriff der Technik nicht nur ein erkenntniskritisches und regulatives Prinzip der Erforschung, sondern ein »kritisches Prinzip der Vernunft für die reflektierende Urteilskraft« (V 397). Er ist ein Prinzip, der »für unsere menschliche Urteilskraft eben so notwendig gilt, als ob es ein objektives Prinzip wäre.« (V 404) Nun kann diese Notwendigkeit, sich die Natur nur auf diese Weise begreiflich zu machen, weder im Objekt, in der Natur selbst, begründet sein noch nur im Subjektiven, der reflektierenden Urteilskraft; sie muss ihren Grund vielmehr im Moralischen, im Interesse der Vernunft selbst, haben. Denn da über ein Prinzip der Natur die »sehr enge eingeschränkte Vernunft schlechterdings keine Auskunft geben« (V 389) kann, der Begriff der Zweckmäßigkeit aber eine nur subjektive Maxime ist, die die Urteilskraft sich zum Behufe ihrer Reflexion gibt, kann das Kategorische dieser Art zu urteilen nur der praktischen Gesetzgebung entspringen: die Natur soll so beurteilt werden, als liege ihr ein Zweck zugrunde. Grundsätze dieser Art nennt Kant »Maximen der Vernunft«, »die nicht von der Beschaffenheit des Objects, sondern dem Interesse der Vernunft in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Erkenntniss dieses Objects hergenommen sind«. (B 694; H. v. m.) Da nun aber das Interesse der Vernunft darauf geht, den moralisch aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich zu machen, muss die Natur nach dem Prinzip der Urteilskraft so gedacht werden, als stimme sie zu einer einheitlichen und allgemeinen Gesetzgebung zusammen. Und es ist dieses Vernunftinteresse, dass es dem Menschen zur Aufgabe macht, 108
668
Siehe: KU V 399.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
das sinnlich Mannigfaltige nicht nur a priori durch die reinen Verstandesbegriffe zu bestimmen und die Natur so nach bloß mechanischen Gesetzen erkennen, sondern sie sich auch aposteriori nach dem Prinzip der Urteilskraft als ein technisches System begreiflich zu machen, dem ein Begriff, eine einheitliche Zweckbestimmung, zugrunde liegt. Das Müssen ist so die Folge des Sollens. 109 b.
Die Natur als evolutionäres System
In seiner Untersuchung des Gebrauchs des Begriffs einer »Technik der Natur« verwendet Kant den Begriff in verschiedener Bedeutung: einmal als einen empirisch bedingten Begriff, der aus der Beobachtung »organisierter Wesen« gewonnen wird, die die Annahme eines über das bloß Mechanische hinausgehenden inneren Organisationsprinzips nahelegt; das andere Mal als einen Vernunftbegriff, der »die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke« (V 379; H. v. m.) bezeichnet. Nach ihm komme der Natur eine nicht nur mechanische Bewegungsursache, sondern eine »in sich bildende Kraft« (V 374) der Organisation zu, die zur »Idee eines großen Systems der Zwecke der Natur … berechtigt« (V 380). – Im Rahmen unserer Rekonstruktion beschränken wir uns auf diesen Vernunftbegriff, übergehen also Kants Untersuchungen der »organisierten Wesen«, ihres eigentümlichen Charakters und des Prinzips ihrer Beurteilung 110 . 109 In seiner Arbeit über »Die Teleologie in Kants Weltbegriff« (Düsing 1968) schreibt K. Düsing, Kant habe den »Nachweis« (63) zu dieser Denkungsart dadurch erbracht, dass zum einen die Zweckmäßigkeit das Prinzip sei, »wodurch die unermeßliche Vielfalt sich unserer Fassungskraft überhaupt eröffnen und zugänglich werden, d. h. zu unserer Welt gehören kann« (63); zum anderen bestehe die »Begründung … darin, dass wir die notwendige Natureinheit für die reflektierende Urteilskraft und nur für sie annehmen müssen, wodurch diese Einheit als Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Fassungskraft gedacht wird.« (64) Damit aber wird nur die Funktion der Urteilskraft beschrieben, uns jene unermeßliche Vielfalt zugänglich zu machen, und ihr epistemischer Status als eines subjektiven Prinzips bestimmt, aber nicht begründet, warum diese Vielfalt uns zugänglich sein muss. – Diese Begründung gibt Düsing dann an anderer Stelle: »Sittliche Zwecke … sind nur möglich und können Bestand in ihr [der Welt] haben, wenn die Natur selbst in ihrer empirischen Mannigfaltigkeit dafür zweckmäßig ist. Die moralische Teleologie verlangt in dieser Frage also notwendig nach einer natürlichen Teleologie.« (105) 110 Nach C. Warnke hat Kant mit der Begründung des Biologischen durch das subjektive Prinzip der bloß reflektierenden Urteilskraft die vormalige »urwüchsige begriffliche Einheit von Theologie und Teleologie aufgelöst, das Band zerschnitten, das Religion
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
669
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Auf der Grundlage, der objektiven Naturerklärung nach mechanischen Gesetzen die subjektive Erklärung nach dem Prinzip der Technik ›beigesellen‹ zu müssen, diskutiert Kant zunächst Systeme, die diese beiden Erklärungsarten verbunden haben. So habe der Materialismus das Zweckmäßige der Naturformen durch die Vorstellung einer »Autokratie der Materie« (V 421) erklärt, wonach die Materie ›durch sich selbst‹ technisch verfahre und als ein »Aggregat vieler Substanzen außer einander« die zweckmäßigen Formen hervorbringe. Das System des Spinoza hingegen habe der natürlichen Vielfalt eine einfache Substanz zugrunde, aus der als ihrem Gemeinschaftlichen alle Formen hervorgehen 111 . – Die entgegengesetzten Systeme, wie der Okkasionalismus oder die Theorie der Präformation, haben das Technische der Natur nicht durch ein natürliches, sondern ein übernatürliches Erzeugungsprinzip erklärt, entweder als unmittelbare Wirkung einer obersten Weltursache 112 oder als Entfaltung des Keims, in dem das Organisierte schon vollständig vorgebildet sei. Alle diese Systeme haben jedoch, wie Kant kritisch anmerkt, die ›Beigesellung‹ einseitig entweder zugunsten der mechanischen Gesetze oder aber zugunsten des technischen Prinzips aufgelöst. Als das System, für das »die Vernunft … mit vorzüglicher Gunst eingenommen sein« (V 424) müsse, führt Kant nun das System der Epigenese bzw. der »natürlichen Evolution« 113 an. Dieses Modell setze zur Erklärung der empirischen Vielfalt der Naturformen zunächst ein anfängliches, dem Menschen »unerforschliche(s) Prinzip einer ursprünglichen Organisation« (V 424) voraus; sie betrachte dann aber die Natur in der Kette der Ursachen »als selbst und biologisches Wissen in der Naturtheologie vereinte. … Ich erblicke also in Kants Analyse der Teleologie einen bedeutenden, m. E. bislang viel zu wenig gewürdigten Beitrag zur Konstitution der Biologie als autonomer Wissenschaft.« (Warnke 1992, 45). – Zu der Diskussion um Kants Anteil am Begriff der »Selbstorganisation« siehe: Krohn 1992, 31–50. Auch: Krohn 1990. 111 Vgl.: Spinoza 1975, 17. Lehrsatz, 46–50. 112 Vgl. Kants Kritik der ›Vermischung‹ von Theologie und Naturwissenschaft: »Wenn man also für die Naturwissenschaft und in ihren Context den Begriff von Gott hereinbringt, um sich die Zweckmäßigkeit in der Natur erklärlich zu machen, und hernach diese Zweckmäßigkeit wiederum braucht, um zu beweisen, dass ein Gott sei: so ist in keiner von beiden Wissenschaften innerer Bestand; und ein täuschendes Diallele bringt jede in Unsicherheit, dadurch dass sie ihre Grenzen in einander laufen lassen.« (V 381; H. v. m.) 113 Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Ausdrucks in der Wissenschaftsgeschichte siehe: Weingarten 1999, 366 ff.
670
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
hervorbringend« und überlässt so »mit dem kleinst-möglichen Aufwande des Übernatürlichen alles Folgende vom ersten Anfange an der Natur« (ebd.). In diesem System ist also der mechanischen Erklärung das Technikprinzip so »beigesellt«, dass alle Naturformen so weit als möglich nach mechanischen Gesetzen erklärt werden, ohne doch mit dieser Erklärungsart auszulangen, sondern ihr am Anfang das gemeinschaftliche Prinzip einer ursprünglichen Organisation vorauszusetzen. Diesen Anfang, der sowohl den einheitlichen Grund der Verwandtschaft aller Naturdinge als auch das Prinzip ihrer Organisation enthält, stellt Kant im Bild der »gemeinschaftlichen Urmutter« vor, »aus welcher und ihren Kräften, nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wornach sie in Kristallerzeugungen wirkt), die ganze Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, dass wir uns dazu ein anderes Princip zu denken genöthigt glauben, abzustammen scheint.« (V 419; H. v. m.) Dieser »allgemeinen Mutter« sei daher »eine auf alle Geschöpfe zweckmäßig gestellte Organisation bei[zu]legen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und des Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.« (ebd.) 114 . Dieses System, das Kant »ein gewagtes Abenteuer der Vernunft« (V 419, Anm.) nennt 115 und die Theorie Darwins vorweg114 Obwohl Kant schreibt, die allgemeine Verwandtschaft reiche »zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie« (V 419), vertritt er doch ganz entschieden die Auffassung, der Begriff einer solchen Technik der Natur treffe nur auf den Bereich des Organischen, nicht aber des Anorganischen zu: »dass aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen, und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt er [Blumenbach] mit Recht für vernunftwidrig« (V 424). – Kant, so will uns scheinen, verfährt hierbei inkonsequent. Denn er trifft eine dogmatische Aussage über die Natur, über die »rohe Materie« im Unterschied zur »Materie, sofern sie organisiert ist« (V 378), die im Kantischen Kontext doch nur als eine kritische Aussage, d. h. in Hinblick auf die Erkenntnisvermögen, zu begründen wäre. Er wagt zwar das »Abenteuer der Vernunft«, die Vielfalt des Organischen aus einem gemeinsamen Anfang abzuleiten; hält aber daran fest, der Unterschied zwischen »roher« und »organisierter« Materie sei ein objektiver, der Natur selbst innewohnender Unterschied, und das Prinzip der Zweckmäßigkeit sei daher nicht nur ein subjektives Prinzip der Beurteilung, sondern wohne Lebewesen selbst inne. Diese Inkonsequenz in der epistemologischen Bestimmung des Status der Teleologie hat dann – insbesondere bei Schelling – zur Rehabilitierung der Naturphilosophie geführt. – Siehe dazu: Mathieu 1989, 239 ff.; R.-P. Horstmann, Kants »Kritik der Urteilskraft« im Urteil seiner idealistischen Nachfolger. In: Horstmann 1995, 191–219. 115 Noch 1785 ist Kant in seiner Rezension von Herders »Ideen zur Philosophie der
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
671
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
zunehmen scheint 116 , stellt für ihn offenbar die angemessene Lösung der von der Vernunft gestellten Aufgabe dar, der mechanischen Erklärungsart die technische ›beigesellen‹ zu müssen. Denn es nimmt einerseits nach den Grundsätzen des transzendentalen Verstandes für das Dasein der Naturdinge allemal nur mechanische Ursachen an, führt andererseits aber ihr Dasein nach dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft auf ein »unerforschliche(s) Prinzip einer ursprünglichen Organisation« zurück. Daher entspringt die Idee einer solch einheitlichen und allgemeinen Geschichte der Natur 117 weder den Verstandesgesetzen, die der Naturerkenntnis vor aller Erfahrung die Regeln geben, noch ist sie als empirische Theorie das Resultat aus der Erfahrung. Sie ist ihrem epistemischen Status nach vielmehr dem »kritischen Prinzip der Vernunft für die reflektierende Urteilskraft« gemäß als die angemessene Folge der praktisch-moralischen Forderung zu verstehen, die Natur nicht allein nach Verstandesgesetzen als einen Mechanismus aufzufassen, sondern auch als ein technisches System zu begreifen, dem ein Zweck, ein einheitliches Prinzip ihrer Geschichte der Menschheit« der Meinung: »Nur eine Verwandtschaft unter ihnen, da entweder eine Gattung aus der andern und alle aus einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutterschooße entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, dass die Vernunft vor ihnen zurückbebt, …« (VIII 54) – Zum Wandel der Auffassung Kants siehe: Düsing 1968, 133–144. 116 In seinen Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften ging B. Bauch so weit, Kant zum ›Ahnherrn des Darwinismus‹ zu machen. Er sieht in Kants Lehre vom »regulativen Gebrauche der Ideen der reinen Vernunft« das Programm und den Inhalt der Teleologie der Urteilskraft bereits vorgebildet und in ihren logischen Zügen sogar deutlicher herausgearbeitet. Die dort angeführten drei »Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen«, in welchen die Vernunft dem Verstande sein Feld bereitet (KrV B 685 f.), deutet Bauch als Grundlagen einer transzendentallogischen Erklärung der Evolutionstheorie, indem er die »Auffassung Darwins … in Parallele zu dem … Homogenität und Spezifikation vereinigenden Prinzip der Kontinuität (setzt), in dem sich erst die volle Gewähr für die Induktion erweisen lässt« (Bauch 1911, 31). Dieser Rekonstruktionsversuch ist jedoch sowohl historisch als auch systematisch unangemessen. Denn zum einen sind die angeführten Prinzipien viel abstrakter als der von Darwin beschriebene Mechanismus von Anpassung, Mutation und Selektion; Bauch unterschlägt gerade das Spezifische dieser Theorie. Zum anderen folgt Kants Theorie der Evolution nicht aus den regulativen Vernunftideen, sondern aus dem Problem der ›Beigesellung‹ des Technischen zum Mechanischen. 117 Zum grundlegenden Unterschied zwischen einer Naturbeschreibung, die die gegebene Artenvielfalt in ein »Classensystem … nach Ähnlichkeiten« bringt, und einer Naturgeschichte, die die Entstehung der Artenvielfalt aus einem »Mutterschooße« erklärt, die also nicht nur »Ähnlichkeiten«, sondern eine »Verwandtschaft unter ihnen« annimmt, siehe: Düsing 1968, 133–142.
672
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
Organisation zugrunde liegt. So verstanden ist also das »Abenteuer der Vernunft«, die Natur als ein evolutionäres System mit einer zusammenhängenden und einheitlichen Geschichte zu begreifen, die Konsequenz des praktischen Auftrags, die Vernunft in der Sinnenwelt wirklich zu machen. Um dieses Zwecks willen muss die Natur als ein technisches System gedacht werden, dem ein einheitliches Prinzip zugrunde liegt. 118 2.
Die Kultur als letzter Zweck der Natur
1. Stellt man auf der Grundlage dieser Idee der Natur als evolutionären Systems die Frage, was ihr Zweck sei, wozu also die Entwicklung der vielfältigen natürlichen Arten gut sei, so ist die Antwort notwendig zweifach: der Zweck ist entweder die Erhaltung der Natur als System oder aber das Dasein einer Art von Naturwesen, die Verstand haben. Denn da die Natur nach dem Technikbegriff als ein zusammenhängendes Ganzes beurteilt wird, dem ein organisierendes Prinzip zugrunde liegt, kann als dieses Prinzip nur entweder die Idee des Ganzen oder die Idee eines Verstandes angenommen werden. Nach jener Idee wäre die Technik der Natur so zu denken, dass durch die Mechanik des Entstehens und Vergehens der Naturformen zugleich »ein gewisses Gleichgewicht unter den hervorbringenden und den zerstörenden Kräften der Natur gestiftet werde« (V 472; H. v. m.), so dass die unterschiedlichen Arten jeweils Mittel sind, die der Erhaltung des Ganzen dienen. Nach dieser Idee hingegen wäre die Technik so zu denken, dass die Natur durch die Reihe ihrer Arten ein Naturwesen hervorbringt, das sich selbst »einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann« (ebd.; 118 Dies lässt es als unverständlich erscheinen, wenn H. Driesch in seinem Werk Der Vitalismus als Geschichte und Lehre (Driesch 1905, 62–81) gegen Kant einwandte, dieser habe seiner mechanistischen Naturkonzeption wegen nicht gesehen, dass mit der Herausbildung des Lebens die mechanische durch eine andere Art der Kausalität durchbrochen sei, und sich damit die Chance für die menschliche Willensfreiheit ergebe; Kant habe diese Anschlussstelle schlicht übersehen. Denn Kant nennt ja gerade den autonomen Willen als Grund für die Annahme einen »anderen Art der Kausalität«. Während der Biologe Driesch sie allerdings empirisch begründet – für Kant eine Unmöglichkeit –, gibt der Epistemologe Kant eine Begründung aus Prinzipien. – Zu dieser Diskussion siehe: Mocek 1998, 327 ff.; auch 54 f.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
673
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
H. v. m.). – Ob freilich die Natur so verfährt, dass sie in ihren Spezifikationen sich selbst erhält, oder so, dass sie ein Zwecke machendes Naturwesen hervorbringt, dies ist durch die teleologische Urteilskraft nicht zu entscheiden, weil ihr das Prinzip nicht gegeben ist und ihr »unerforschlich« bleibt. Angesichts dieser Unentscheidbarkeit vollzieht Kant nun einen Themenwechsel, den er nicht kenntlich macht, der aber in der Konsequenz seiner Untersuchung des Technikbegriffs liegt, der ja die Brücke vom Gebiet der Natur zur Moral schlagen soll. Denn Kant nimmt jetzt an, dass der Mensch sich selbst als verständiges Naturwesen erkennt, und dass er dieser Erkenntnis wegen berechtigt sei, sich als den Zweck anzunehmen, den die Natur hervorbringt. Daher sei die Natur so zu beurteilen, dass ihr Zweck nicht die Selbsterhaltung ist, sondern dass sie zweckmäßig nach der Idee des Verstandes verfährt, indem sie den Menschen als das selbst Zwecke machende Naturwesen hervorbringt. Dieses Urteil über den Zweck der Natur kann nun aber gar nicht unter der Leitung der Urteilskraft gebildet werden, da sie zu den gegebenen Spezifikationen nur das Prinzip sucht. 119 Es findet daher seine Begründung im Praktischen, weil der Mensch sich nur durch seinen Willen als das Wesen erkennt, das sich Zwecke setzt, die nicht nur wiederum »den Rang eines Mittels haben« (V 472). In diesem Urteil ist daher die teleologische Urteilsart, die der Natur einen Zweck unterlegt, ohne dass er ihr gegeben ist, mit dem praktischen Urteil verbunden, dass der Mensch sich als dasjenige Wesen weiß, das zwecksetzend ist, d. h. durch bloße Begriffe die Ursache von Dingen ist. Damit aber ist das verhandelte Thema nicht mehr das Problem einer natürlichen Teleologie, wie denn die Natur unter mechanischen Gesetzen zugleich als ein technisches System gedacht werden kann, sondern das Problem einer praktischen Teleologie, wie 119 Kant leitet den § 83 der KU zwar ein: »Wir haben im Vorigen gezeigt, dass wir den Menschen nicht bloß wie alle organisirte Wesen als Naturzweck, sondern auch hier auf Erden als den letzten Zweck der Natur … zwar nicht für die bestimmende, doch für die reflectirende Urtheilskraft zu beurtheilen hinreichende Ursache haben.« (V 429) Sucht man jedoch »im Vorigen«, so findet sich dort nur, dass der Mensch zwar als der »letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden« (V 426) anzunehmen, dies aber doch wieder einzuschränken sei: »Und so würde der Mensch, so sehr er auch in gewisser Beziehung als Zweck gewürdigt sein möchte, doch in anderer wiederum nur den Rang eines Mittels haben.« (V 427) Das »Vorige« lässt offen, ob der Mensch oder die Erhaltung als letzter Zweck der Natur anzunehmen sei.
674
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
nämlich die Natur in Hinblick auf die Zwecke des ethischen Gemeinwesens zu beurteilen sei. Dieser Wechsel vom suchenden Verfahren der reflektierenden Urteilskraft zur Methode einer bestimmenden Urteilskraft, die vom Menschen als dem Zweck der Natur ausgeht, erhellt die leitende Absicht Kants: der Zweck der Natur darf nicht als ein objektives Prinzip angenommen werden, sondern muss so gedacht werden, dass er zu der moralischen Bestimmung übereinstimmt, das höchste Gut wirklich zu machen. 120 2. Kants Untersuchung des letzten Zwecks, den »die Natur zu leisten vermag« (V 431), führt denn auch keinen heuristischen Diskurs mehr zur Erklärung der Naturformen, sondern einen moralischpraktischen Diskurs: Ist der letzte Zweck, den die Natur hervorbringt, in die Glückseligkeit des Menschen oder in die Kultur zu setzen? ›Will‹ die Natur, dass der Mensch glücklich sei, oder geht ihr Zweck darüber hinaus? Kant hält den vormodernen Lehren vom Menschen, die ihn als die ›Krone der Schöpfung‹ betrachteten, entgegen, dass es der menschlichen Natur nicht entspreche, »irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden« (V 430). Daher könne der letzte Zweck, den die Natur in der menschlichen Gattung hervorbringt, nicht deren Glückseligkeit sein 121 . Den Glückseligkeitslehren der Vergangenheit setzt Kant nun die moderne Lehre von der Kultur entgegen, nach der sie zum einen das Letzte sei, »was die Natur zu leisten vermag« (V 431), und zum anderen das ist, »was die Natur, in Absicht auf den Endzweck, der außer ihr liegt, ausrichten … kann.« (V 431) Kant versteht also den letzten Zweck der Natur in der Weise, dass er einerseits im evolutionären System der Natur als Resultat eines Prozesses in Raum und Zeit angenommen werden muss, dass er andererseits aber auf einen außer ihr liegenden, künftigen Zweck verweist, der in der Gegenwart durch die Vernunft selbst gesetzt ist. Er ist, wie Kant schreibt, die »Idee, wie der Weltlauf gehen müsste, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken 120 Vgl. Habichler 1989, 176: »Die Betrachtung der Natur in teleologischer Hinsicht erfährt also ihre letzte Legitimation vom Freiheitsgeschehen her, in welchem alle Zweckbetrachtung gründet.« 121 Dagegen allerdings V 436 Anm.: »Es wäre möglich, dass Glückseligkeit der vernünftigen Wesen in der Welt ein Zweck der Natur wäre, und alsdann wäre sie auch ihr letzter Zweck. Wenigstens kann man a priori nicht einsehen, warum die Natur nicht so eingerichtet sein sollte, weil durch ihren Mechanism diese Wirkung, wenigstens so viel wir einsehen, wohl möglich wäre.« Für Kant ist es jedoch ein »Zeugnis der Erfahrung« (ebd.), dass dem nicht so ist. – Siehe auch: V 430.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
675
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
angemessen sein sollte« (IGA VIII 29). Kants Kulturbegriff hat demnach weder eine deskriptive Bedeutung zur Beschreibung gewisser Lebens- oder symbolischer Formen noch eine normative zur Festlegung von Werten und Normen, sondern ist ein teleologischer Begriff, der einen bestimmten Lauf der Geschichte der menschlichen Gattung konzipiert. Da nun Kants Begriff vom letzten Zweck der Natur einen Bereich bestimmt, der ›zwischen‹ den Gebieten der Natur und der Moral liegt und den ›Übergang‹ aus dem einen Gebiet in das andere ermöglichen soll, ist die Kultur offenbar als etwas ›Doppeltes‹ zu betrachten: Als Naturprodukt ist sie Bestandteil eines Evolutionssystems und geht aus der natürlichen Entwicklung der Arten hervor. Die Kultur ist so die Geschichte des Menschen »als einer der vielen Tiergattungen« (V 427). In Hinsicht auf den Zweck jedoch, der »über die Natur hinaus gesucht werden (muss)« (V 378), dient der Kulturbegriff nicht dazu, das Dasein dieser Tiergattung historisch-genetisch zu erklären, sondern es in Hinsicht auf diesen Zweck zu projektieren. Kants Kulturbegriff ist daher teleologisch; aber er ist kein Begriff einer ›Archäologie‹, die die Entstehung der menschlichen Gattung und ihre Verwandtschaft mit anderen Gattungen erforscht, sondern einer ›Prognostik‹, die ihre Geschichte in Hinblick auf den künftigen Zustand untersucht.122 Sie ist daher auch keine Erzählung, die vom Kampf des Menschen um sich berichtet, sondern eine Theorie, die die Technik der Natur so denkt, dass sie in der menschlichen Gattung die Mittel hervorbringt, die sie tauglich macht, den Endzweck des ethischen Gemeinwesens, das Reich der Vernunft, in der Zukunft wirklich zu machen. Für Kant ist folglich die Kultur der Inbegriff der Fähigkeiten der menschlichen Gattung, die Kluft zwischen Natur und Freiheit, zwischen der Sinnenwelt und der moralischen Welt überwinden zu können. 123 122 Kant formuliert diesen ›Perspektivenwechsel‹ von der Archäologie zur Prognostik pointiert am Ende der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte«: »… was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen? (IGA VIII 30) 123 Vgl. A. Habichler: »Diese Kombination von Teleologie und Moralität aber bezeichnet insofern für Kant den eigentlichen Kern von Geschichte, als er diesen stets zu be-
676
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
Diese Fähigkeiten, die das Letzte sind, »was die Natur zu leisten vermag« (V 431), bestehen nun in zweierlei: einmal in der Geschicklichkeit, »sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, als Mittel, zu gebrauchen« (V 431); sowie in der »Zucht (Disziplin)«, d. h. »in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden« (V 432). Diese beiden Elemente der Kultur, die die menschliche Gattung zum höchsten Guten, dem Reich der Vernunft auf Erden, ›vorbereiten‹, stellt Kant zum einen in einer ökonomischen Theorie dar, die ihre Prinzipien nicht mehr den Glückseligkeitslehren entnimmt, sondern sie als Fortschritt in der Naturbeherrschung durch die Arbeit konzipiert, und zum anderen in einer politischen Theorie, die die menschliche Gattung unter dem naturwüchsigen Zwang zur Herausbildung eines zukünftig weltbürgerlichen Ganzen in einem »System aller Staaten« sieht. a.
Der wissenschaftlich-technische Fortschritt
Unter der Hervorbringung der Geschicklichkeit versteht Kant nicht allein den Erwerb des Vermögens, beliebige Zwecke frei zu setzen, sondern insbesondere auch die Fähigkeit, »die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, als Mittel, zu gebrauchen« (V 431; H. v. m.). Kant unterscheidet folglich nicht zwischen ›zwei Kulturen‹, einer Kultur der Werte und Symbole und einer Kultur der Regeln und Techniken, zwischen freiem Handeln und zweckmäßigem Machen, sondern sieht das Spezifische der Kultur als letztem Naturzweck darin, dass der Mensch lerne, von der Natur einen den Maximen seiner frei gewählten Zwecke angemessenen Gebrauch zu machen. Zu dieser Geschicklichkeit gehöre zwar das praktische Vermögen, Zwecke frei, d. h. »unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung« (ebd.), zu wählen und zu bestimmen. Aber die Bestimmung dieser Zwecke geschehe weder autonom, weil die Autonomie kein Naturzweck ist, noch willkürlich, weil die bloße Willkür keinen angemessenen Gebrauch der Natur gestattet; sie mache vielgreifen versucht als Einheit einer teleologisch-gesetzmäßigen ›Natur‹ mit menschlicher Freiheitsgeschichte. … Geschichtsphilosophie, so lässt sich rekonstruieren, ist also weder Physik noch Ethik, sondern widmet sich einem durchaus selbständigen Gegenstand, nämlich der Geschichte.« (Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant, a. a. O., 145) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
677
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
mehr die Kenntnis der Naturdinge erforderlich, um von den frei gewählten Zwecken einen angemessenen Gebrauch machen zu können. Die Geschicklichkeit als Bestandteil der Kultur versteht Kant also nicht als eine Befreiung des Willens von den Begierden, sondern als Befreiung des menschlichen Verstandes aus der ›Rohheit‹ durch den Erwerb der Kenntnisse, sie nach beliebigen Zwecken als Mittel zu gebrauchen. 124 Zur Erreichung dieses Ziels ist jedoch die Bearbeitung der »Stücke der Cultur, Wissenschaft und Kunst« (V 432), erforderlich. Auch wenn Kant dies hier nicht näher erläutert, so ist im Kontext dieses Kulturbegriffs unter »Wissenschaft« wohl diejenige moderne Erkenntnisart zu verstehen, die sich in der Gegenwart von den dogmatischen Glaubens- und Vernunftsätzen der Vergangenheit befreit hat und nach transzendentalen Grundsätzen als eine auf Mathematik und Empirie gegründete Erfahrungswissenschaft organisiert ist, und die wir als »epistemische Republik« beschrieben haben. Während diese Wissenschaftspraxis auf dem Gebiet der Natur Erkenntnisse erzeugt, die in ethischer Hinsicht keinerlei Beziehung auf moralische Zwecke haben, spricht Kant ihr als Bestandteil der Kultur jedoch die Funktion zu, dem Erwerb der Geschicklichkeit zu dienen, indem sie die menschliche Gattung zum angemessenen Gebrauch der Natur für beliebige Zwecke befähigt. – Im Sinne dieser Zweckmäßigkeit ist denn auch unter dem Begriff der »Kunst« als dem anderen »Stück 124 Daher verfehlen Versuche, Kants Kulturbegriff von aller empirischen Bedingtheit zu lösen und ihn als freie Setzung beliebiger Zwecke zu interpretieren, die von Kant gemeinte »Geschicklichkeit« zu, die sich im verständigen Umgang des Menschen mit der Natur erweist. So ist es zweifellos erhellend, wenn G. Schönrich den kantischen Kulturbegriff mit dem Zeichenbegriff erklärt (Schönrich 1996, 551–582). Eine Armbewegung z. B. sei, wie er erläutert, dann kein natürlich-mechanischer Vorgang, sondern eine kulturelle Handlung, wenn sie als Zeichen verstanden wird, und wir ihr »die Absicht, eine Stimme abzugeben oder eine Wette einzugehen, als Interpretanten zuordnen … Ist die Zuordnung der Interpretanten ein Ausdruck von Freiheit, spricht Kant von einem ›Akt der Freiheit des handelnden Subjekts‹.« (557) Wenn Schönrich aus dieser Zuordnung dann aber schließt, für Kant sei die Tauglichkeit, »beliebige Interpretanten zu finden und zu erfinden, … die Kultur«, und das heißt, von einem Ding oder einem Sachverhalt »den Gebrauch ändern, der von diesem Ding gemacht wird, oder den Sachverhalt anders zu bewerten als er bisher bewertet worden ist« (567), dann erscheint uns dies als eine unzulässige Verkürzung. Denn Kant setzt die Tauglichkeit nicht darein, von einem Ding den Gebrauch zu ändern, sondern es »den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, als Mittel, zu gebrauchen« (V 431, H. v. m.). Diese Angemessenheit aber schließt Verstand, Naturkenntnis, ein, die daher notwendig zur Kultur gehört. – Siehe auch: V 303 f.
678
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
der Cultur« nicht die zweckfreie »schöne Kunst« zu verstehen, die »das Gefühl der Lust zur unmittelbaren Absicht« (V 305) hat, sondern die Kunst als Technologie, als Inbegriff der formalen Regeln und subjektiven Maximen, nach denen der Mensch von der Natur einen den jeweiligen Zwecken entsprechenden Gebrauch macht, und durch die die Geschicklichkeit als letzter Naturzweck hervorgebracht wird 125 . Diese Hervorbringung kann nun aber nicht anders als durch Arbeit geschehen. Zwar bemerkt Kant lapidar nur: »Die Geschicklichkeit kann in der Menschengattung nicht wohl entwickelt werden, als vermittelst der Ungleichheit unter Menschen« (V 432). Aber diese Ungleichheit entsteht, weil der Erwerb der Geschicklichkeit durch Arbeit geschieht und daher »die größte Zahl die Nothwendigkeiten des Lebens gleichsam mechanisch … (besorget), zur Gemächlichkeit und Muße anderer, … welche die minder nothwendigen Stücke der Cultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten« (ebd.). Weil, so folgern wir, Wissenschaft und Kunst Arbeiten sind, die zwar für das Leben nicht notwendig sind, aber den letzten Zweck der Natur, die Geschicklichkeit der menschlichen Gattung, befördern, kann dieser Zweck nicht anders als vermittelst der Ungleichheit unter Menschen entwickelt werden. 126 – Mit dieser Verknüpfung der Geschicklichkeit als letztem Zweck der Natur mit der Arbeit als dem Mittel ihrer Erzeugung setzt nun aber Kant den Zweck der Arbeit nicht mehr, wie vormals, in die Befriedigung der Bedürfnisse oder Konsumtion; er beurteilt sie aber auch nicht, gleichsam heroisch, als Ausdruck des Gestaltungswillen des Menschen, sondern erkennt in ihr, vom Standort der Moderne, die treibende Kraft eines geschichtlichen Prozesses, dessen letztes Ziel nur das Formale ist, dass die menschliche Gattung die Natur zu beliebigen Zwecken gebrauche 127 . Da diese Geschicklichkeit nun aber nicht anders hervorgebracht Zur Differenz und zum Zusammenhang von Wissenschaft und Kunst siehe: V 303 f. Diesen inneren Zusammenhang von Kultur und Arbeit stellt Kant in anderen Schriften her, wenn er den ›Willen der Natur‹ darin sieht, »dass der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe« (IGA VIII 19) oder er »sich aus der Rohigkeit seiner Naturanlagen selbst herausarbeiten« (MM VIII 118) solle. 127 Zur Rolle der Arbeitsteilung in der Beförderung der allgemeinen Geschicklichkeit: »Alle Gewerbe, Handwerke und Künste haben durch die Vertheilung der Arbeiten gewonnen, da nämlich nicht einer alles macht, sondern jeder sich auf gewisse Arbeit, die sich ihrer Behandlungsweise nach von andern merklich unterscheidet, einschränkt, um sie in der größten Vollkommenheit und mit mehrerer Leichtigkeit leisten zu können. 125 126
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
679
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
werden kann als durch die »Ungleichheit unter Menschen«, d. h. durch die Spaltung der Gesellschaft in zwei soziale Klassen, deren eine die »Stücke der Cultur« bearbeitet und deren andere die »Nothwendigkeiten des Lebens« besorgt, könne diese Ungleichheit nicht als ein moralisches ›Übel‹ verstanden werden, das dem Bösen im Menschen zuzurechnen wäre, weil die Natur selbst gar keine Beziehung aufs Moralische hat. Für Kant beschreibt diese Spaltung vielmehr den Mechanismus, nach dem die Natur in der menschliche Gattung aus der Rohheit die Geschicklichkeit hervorbringt. Er versteht sie als eine Notwendigkeit, die zwar in moralischer Hinsicht »nicht unser Zweck« (V 432) ist, die aber das Mittel ist, durch die die Natur ihren letzten Zweck verwirklicht. Wenngleich daher die arbeitende Klasse von der anderen »in einem Stande des Drucks, saurer Arbeit und wenig Genusses gehalten wird«, und die »Plagen … im Fortschritte derselben … auf beiden Seiten gleich mächtig (wachsen), auf der einen durch fremde Gewalttätigkeit, auf der anderen durch innere Ungenügsamkeit« (V 432), so sei es doch auch so, dass »sich denn doch manches von der Cultur der höheren nach und nach auch verbreitet« (V 432) 128 . Beide Plagen, die »fremde Gewalttätigkeit« wie die »innere Ungenügsamkeit«, sind demnach als die notwendigen Momente einer Technik der Natur anzusehen, durch die sie ihren letzten Zweck, die Geschicklichkeit der menschlichen Gattung, die Natur zu beliebigen Zwecken zu gebrauchen, hervorbringt. So unausgeführt Kants ökonomische Theorie auch geblieben ist, so enthält sie doch die wesentlichen Elemente des modernen Kulturbegriffs: die zentrale Rolle, die Wissenschaft und Technologie zukommen, denen kein materialer Zweck mehr vorgegeben ist, sondern in einer technologischen Rationalität, im bloß Formalen einer fortschreitenden Geschicklichkeit besteht, einen außer ihnen liegenden Zweck wirklich machen zu können; die Neubestimmung der Arbeit, die weder moralisch als Fluch noch ökonomisch als Mittel zur Befriedigung vorausgesetzter Bedürfnisse beurteilt wird, sondern die ihr Telos in der Beherrschbarkeit der Natur für beliebige Zwecke hat; sowie die Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, die durch jenen Wo die Arbeiten so nicht unterschieden und vertheilt werden, wo jeder ein Tausendkünstler ist, da liegen die Gewerbe noch in der größten Barbarei.« (GMS IV 388) 128 Diese Stelle, schreibt K. Vorländer in seinem Aufsatz »Kant und Marx« (1911), »ruft in uns Modernen schon die Erinnerung an Ausbeutungslehre und Klassenkampftheorie wach«. Sie nehme »den Gesichtspunkt eines fortschreitenden wirtschaftlichen Klassengegensatzes bereits voraus«. (Vorländer 1974, 277 f.)
680
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
Zweck als ein naturwüchsig-notwendiger Vorgang erklärt und legitimiert wird. 129 b.
Der Zwang zum Recht
Das andere Element der Kultur sieht Kant in der sog. »Kultur der Zucht«, die nicht in der Tauglichkeit des Verstandes zur technischen Zweckgebung, sondern des Willens zur moralischen Gesetzgebung besteht. Auch hier sind Kants Ausführungen im Rahmen seiner Gesamtsystematik, die als »teleologia rationis humanae« doch die Möglichkeiten zur Erreichung des Endzwecks bestimmen soll, allzu knapp. Er führt zwar als den letzten Zweck der Natur den Zustand eines weltbürgerlichen Ganzen als eines Systems aller Staaten an; und er nennt auch das Mittel, wodurch die Natur diesen Zweck erreicht: den Krieg, der die menschliche Gattung schließlich in ein Rechtssystem zwingt, das die »Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der 129 Mit gewissem Recht lässt sich sagen, dass die von Kant skizzierte ökonomische Theorie moderner ist als spätere Theorien, die aus der Kritik der modernen Ökonomie resultieren. Denn diese sind darauf gerichtet, die Dynamik und den umwälzenden Charakter der modernen Wirtschaftsweise in ein gegebenes ›System der Bedürfnisse‹ zu integrieren bzw. nationalstaatlich zu kontrollieren und zu reglementieren. Sie zielen darauf ab, den Antagonismus, den Kant als ›Motor‹ des ökonomischen Fortschritts betrachtet, in ein gegebenes System einzubinden oder durch ein ethisch fundiertes Rechtssystem zu entschärfen. Von Kant aus greifen die einen Modelle jedoch auf ein materiales Prinzip zurück, nach dem die Ökonomie zu beurteilen sei, das aber nicht allgemein verbindlich gemacht werden kann; die anderen Modelle hingegen gründen das Reglement der Ökonomie auf das formale Vernunftprinzip einer allgemeinen Gesetzgebung, das zwar für den Willen Verbindlichkeit hat, dem aber nichts Historisches korrespondiert. Sie machen dadurch das »glänzende Elend« (KU V 432), von dem Kant sagt, dass es gar »nicht unser Zweck« (ebd.) sein kann, sondern als Naturzweck ist, doch zu ›unserem Zweck‹. Weil das »glänzende Elend« aufhören soll, schließen sie, dass es aufhören muss; nicht aber aufhören können muss. Statt, wie Kant, die Übereinstimmung des ökonomischen Zustands mit dem moralisch Gesollten teleologisch als ein künftig Mögliches zu denken, das durch den Fortschritt selbst erreicht wird, suchen jene Modelle diese Übereinstimmung praktisch, durch moralische Unterweisung oder die Macht des Nationalstaats, im Jetzt herstellen. Dadurch aber wird gerade die »Entwickelung der Naturanlagen der Menschengattung« (ebd.) verhindert, die nach Kant eine solche Übereinstimmung erst möglich macht. – Eigenartigerweise (oder auch nicht) entspricht dem Ort der kantischen Ökonomie der Standpunkt von K. Marx: »Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozess auffasst, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.« (Marx 1972, 16; H. v. m.).
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
681
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Staaten und dadurch Einheit eines moralisch begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, dennoch vorzubereiten« (V 433) vermag. Kant umgeht jedoch das grundlegende Problem, das eine »Kultur der Zucht« doch zu lösen hätte, wie die Natur überhaupt so gedacht werden kann, dass durch sie selbst der menschliche Wille vom »Despotism der Begierden« (V 432) befreit und die menschliche Gattung dadurch auf eine Herrschaft vorbereitet wird, »in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll« (V 433). Während für Kant die Geschicklichkeit ein letzter Naturzweck ist, der als solcher gar keine Beziehung auf die Moral hat, ist im Fall der Disziplin diese Beziehung der letzte Naturzweck. Denn diese macht den Menschen nicht technisch, sondern moralisch tauglicher. Kant geht denn hier auch nicht vom Zustand der Rohigkeit aus, aus dem die Gattung sich durch Arbeit befreit, sondern vom »Despotism der Begierden«, aus dem sich die Gattung durch eben diese Begierden befreit. Damit aber stellt sich nicht nur das theoretische Problem, wie die Gesetzmäßigkeit der Natur so gedacht werden kann, dass sie »durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen« (eF VIII 360) lässt, sondern vor allem das praktisch-moralische Problem, wie mit Mitteln Kants dieser Despotismus, der in moralischer Hinsicht doch das Böse ist, von dem die Beurteilung des Menschen auszugehen habe, als das Mittel zum guten Willen gedacht werden kann 130 . Kant scheint sich zu widersprechen, wenn er in seiner Anthropologie in der Herrschaft der natürlichen Neigungen über die Vernunft »die Quelle eines unabsehlich großen Widerstreits gegen die Sittlichkeit« (RGV VI 45, Anm.) sieht, in seiner Kulturtheorie dann aber eben diese Herrschaft als die »Triebfedern« (IGA VIII 21) bezeichnet, welche die menschliche Gattung aus dem Despotismus herausführen. Denn wie soll ein und dasselbe Prinzip den Menschen in sein Verderbnis hinein- und auch herausführen? Diese Aporie zwischen der teleologischen Beurteilung des Menschen als eines natürlichen Gattungswesens und seiner moralischen Beurteilung als eines frei handelnden Subjekts lässt sich folgendermaßen klar machen. Nimmt man an, die Technik der Natur sei so zu denken, dass sie durch den Mechanismus des Krieges die menschliche Gattung – unabhängig vom Willen der Subjekte – in ein weltbürgerliches Ganzes als ihren letzten Zweck zwingt, dann hat dieses natur130
682
Vgl. Höffe 1995, 128 ff.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
wüchsige Resultat keine oder eine nur zufällige Beziehung auf die Freiheit des Willens; und die Frage bleibt ungelöst, wie die Natur die menschliche Gattung zur moralischen Gesetzgebung vorbereite. Oder aber man nimmt an, dass die Natur durch diesen Mechanismus die Gattung tatsächlich für eine solche Gesetzgebung vorbereitet; dann aber bleibt es unbegreiflich, wie durch den Krieg, der in moralischer Hinsicht dem Bösen in der menschlichen Natur entspringt, etwas hervorgebracht wird, durch das der menschliche Wille gut wird. Entweder ist es so, dass es »alle unsere Begriffe [übersteigt]« (RGV VI 45), wie der natürlicherweise böse Mensch zum guten Menschen werden kann; oder es gibt diese Begriffe, dann scheint diese Tatsache zumindest die bisherigen Begriffe zu übersteigen. 131 Kant hat dieses Problem einer »Kultur der Zucht« als letztem Naturzweck selbst formuliert. In seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« geht er davon aus, dass auch ein »Volk von Teufeln« (eF VIII 366), wie es in moralischer Hinsicht vorauszusetzen sei, wenn sie nur Verstand haben, zu einem weltbürgerlich Ganzen gelangen muss. »Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, dass sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen.« (ebd.; H. v. m.) – Unterstellt, Kant hat diese Aufgabe gelöst 132 , so ist es dennoch nicht abzusehen, wie ein solcher Rechtszustand, in den der Krieg die menschliche Gattung zwingt, den Endzweck, nämlich den ewigen Frieden als »Einheit eines moralisch begründeten Systems«, in dem »die Vernunft allein Gewalt haben soll« (V 433), befördern könnte. Denn da der Zweck nicht die moralische Besserung ist, sondern die Herrschaft von Zwangsgesetzen, Das Problem verdeutlichen Kants Beurteilungen des Kriegs, der in moralischer Hinsicht »als Rechtsgang schlechterdings verdammt« (eF VIII 356), in geschichtlicher Hinsicht jedoch ein »tief verborgener, vielleicht absichtlicher (Versuch) der obersten Weisheit« (KU V 433) sei. Wie aber sind beide, moralische Verdammnis und teleologische Weisheit, in einer Vernunft zusammenzudenken? 132 In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte von 1784 erklärt Kant noch, diese Aufgabe sei »die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. (IGA VIII 23) In der Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795 ist Kant dann der Auffassung: »ein solches Problem muss auflöslich sein.« (eF VIII 366). 131
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
683
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
besteht die menschliche Gattung vorher wie nachher aus ›verständigen Teufeln‹, deren Vernunftgebrauch allemal den Grundsätzen einer empirisch bedingten Vernunft folgt 133 , aber nicht dem kategorischen Grundsatz der reinen praktischen Vernunft. In moralischer Hinsicht bleiben die Menschen, was sie sind: ›verständige Egoisten‹. Was folglich der »Mechanism der Natur« nur hervorbringt, ist der Zwang des Rechts, unter dem allenfalls eine ›zivile Kultur‹ zum Erwerb der Geschicklichkeit möglich ist; aber die böse Gesinnung ist und bleibt dieselbe 134. Warum also sollte ein solcher Zustand, in dem Zwangsgesetze Kraft haben, als ein letzter Zweck der Natur den über ihr hinaus liegenden Endzweck vorbereiten? Zwischen der Annahme eines letzten Zwecks, den die Natur befördert, und des Endzwecks, den die Vernunft fordert, bleibt die Kluft weiterhin »unübersehbar«. Die Kultur, die die menschliche Gattung für den Endzweck tauglich machen soll, scheint diese Tauglichkeit nicht hervorzubringen 135 .
B.
Die Vorsehung
Soll die Kultur die menschliche Gattung zu diesem Endzweck vorbereiten und die Natur daher über ihre letzten Zwecke hinaus bestimmbar sein, dann muss das bisherige Fundament offensichtlich revidiert werden. Denn unter der Voraussetzung, dass die zwei Gebiete der Natur und der Moral verschieden sind, ist eine solche Bestimmbarkeit geradewegs ausgeschlossen. Zwar muss die Natur, um den moralisch aufgegebene Gute in der Sinnenwelt wirklich zu machen, so gedacht werden, als bringe sie die Kultur als ihren letzten Zweck hervor; aber dieser hat als natürlicher Zweck keine Beziehung Zu dieser ›Logik‹ siehe: Höffe 1988. Zur Differenz zwischen der Legalität der Handlungen nach Gesetzen und der Moralität unter Gesetzen siehe: MS VI 218 f. – Vgl. auch Habichler 1989, 161 f.: »Auch wenn Kant gelegentlich Moral in die Geschichtsphilosophie dadurch hineinbringen will, dass er auch die Moral zur ›Kultur‹ zählt, bzw. den Rechtsbegriff selber im Moralischen verankert wissen will, so kann doch kein Zweifel bestehen, dass Geschichte nach Kant im strengen Verständnis nur eine politische Deutung erfahren kann, in welcher zwar die Fragen der Verfassung im Zusammenleben der Menschengattung erörtert werden, aber niemals die Frage der inneren Gesinnung der Menschen eine Rolle spielt.« 135 P. Laberge kleidet dies treffend in die Frage: »Wie den Lastern der Kultur und der Zivilisation entkommen, ohne gleichzeitig aus der Kultur und der Zivilisation selbst auszusteigen?« (Laberge 1992, 122) 133 134
684
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
zu dem Unbedingten, das die Vernunft fordert. Was daher eine ›Prognostik‹ als Fortschritt der Wissenschaft und Technik durch Arbeit und des Rechtssystems durch den Mechanismus des Kriegs konzipiert, ist prinzipiell von dem Zustand verschieden, den das ethische Gemeinwesen fordert. Soll daher die Natur so gedacht werden, dass ihr Zweck nicht nur ein natürlicher ist, sondern ein solcher, der »über die Natur hinaus gesucht werden (muss)« (V 378; H. v. m.), dann kann sie nicht mehr nur als ein System beurteilt werden, dem ein organisierender Verstand zugrunde liegt, der als solcher keine Beziehung zum Moralischen hat, sondern muss als ein System begriffen werden, dem die Vernunft als bestimmendes Prinzip zugrunde liegt. Denn ohne diese Annahme kann die Kultur nicht als die Vorbereitung und Befähigung für einen Endzweck bestimmt werden, der allein durch die Vernunft gegeben ist. Der ›Übergang‹ vom letzten Zweck, den die Natur hervorbringt, zu ihrem Endzweck, zu dem sie zugleich befähigt, ist daher epistemologisch nur möglich, wenn nicht nur dem, was sein soll, sondern auch dem, was sein wird, die Vernunft als Bestimmungsgrund zugrundegelegt wird. 136 Das Prinzip, das diesen ›Übergang‹ und die Zusammenstimmung des letzten Zwecks der Natur zu ihrem Endzweck ermöglicht, nennt Kant die »Vorsehung«, weil nach ihr die Natur so gedacht wird, als wirke im geschichtlichen Fortschreiten der menschlichen Gattung die Vernunft als das Bestimmende. Und die Natur selbst, sofern ihrem Mechanismus die Vernunft als Ursache unterlegt wird, nennen wir mit Kant die »Schöpfung«, weil sie nach diesem Begriff so beurteilt wird, als läge ihr »eine besondere Art der Kausalität, nämlich einer absichtlich wirkenden Ursache« (V 434), zugrunde. 136 In seiner Arbeit über die »Teleologische Urteilskraft« hat J. Rohbeck hervorgehoben, dass Kant in handlungstheoretischer Hinsicht eine »Kluft zwischen praktischer Vernunft und Lebenspraxis« (Rohbeck 1993, 81), zwischen Moral und Kultur gezogen und deshalb »die Dimension des wirklichen Handelns programmatisch vernachlässigt« (84) hat. Und in der Tat unterscheidet Kant strikt zwischen dem unbedingten Guten, das apriori einzusehen ist, und den historisch bedingten Gütern, die gar keine Beziehung zur Moral haben. Wenn Rohbeck dann jedoch feststellt, Kant habe zwar diese »Grenzen in der ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹ überschritten« (95 f.), aber dieses »Reflexionspotential … für seine praktische Philosophie … brachliegen lassen« (ebd.), so können wir darin nicht zustimmen. Denn reflektiert Kant zwar nicht in handlungstheoretischer Hinsicht auf die Überschreitung dieser Grenzen in der Gegenwart, aber auf ihre Überschreitung in einem künftigen Endzustand, auf den die Vernunft voraussieht, und in dem praktische Vernunft und Lebenspraxis zusammenbestehen werden. Für Kant ist die Wirklichkeit des Guten nicht Gegenwart, sondern Zukunft.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
685
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Diese korrespondierenden Begriffe der Vorsehung einerseits und der Schöpfung andererseits sind vom Begriff einer »Technik der Natur« darin verschieden, dass der teleologischen Beurteilung der Natur in der Vielfalt ihrer Formen kein organisierender Verstand, sondern die gesetzgebende Vernunft zugrundegelegt ist, so dass ihr Dasein nicht nur als zweckmäßig, sondern als Wirkung des guten Prinzips gedacht wird. 1.
Die Vorsehung als Prinzip der Zusammenstimmung von Moral und Natur
1. Bevor wir darauf sehen, was der Kulturbegriff unter dem Prinzip der Vorsehung bedeutet, ist zuerst der epistemische Status dieses Prinzips zu klären, da es doch den bislang gültigen Grundsatz außer Kraft setzt, dass Natur und Moral zwei ganz verschiedenen Gesetzgebungen unterliegen. Es schließt offenbar an Kants »Architektonik der reinen Vernunft« an, nach der die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft ihre Gegenstände »anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System« (B 868; H. v. m.) habe. Es soll daher – was bislang unmöglich erschien – die ›Verbindung‹ der zwei Gebiete, Natur und Moral, bestimmbar machen. Dieser Verbindung entsprechend ist denn auch die Idee der Vorsehung für Kant kein theoretisches Prinzip, das auf dem Gebiet der Natur gesetzgebend sein könnte, da in Ansehung der Natur diese Idee das menschliche Erkenntnis- und Beurteilungsvermögen übersteigt. Denn nach ihr wird die Natur weder a priori wie durch die Verstandesgesetze bestimmt, noch wird ihr aposteriori zum Behuf der Reflexion ein Prinzip unterlegt, das die Vielfalt der Naturformen hervorbringt. Die Idee der Vorsehung setzt der Natur vielmehr den übernatürlichen »Zweck eines sie vorher bestimmenden Welturhebers« (eF VIII 361, Anm.) voraus, eine »oberste(.) Weisheit« (KU V 433). Diese aber hat Kant als einen hinderlichen Dogmatismus ausgeschlossen, weil sie »in theoretischer Absicht überschwänglich« (eF VIII 362) sei und die Wissenschaften durch sie in »völlige Hyperphysik« (KU V 423) geraten. Kant zieht es denn auch vor, hinsichtlich dieses Prinzips nicht von einer »göttlichen Weisheit« zu reden, sondern von der »großen Künstlerin Natur (natura daedala rerum)« (eF VIII 360) oder der »Weisheit und der Vorsorge der Natur« 686
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
(B 729), weil dieser Ausdruck »die Anmaßung einer größeren Behauptung, als die ist, wozu wir befugt sind, zurückhält, und zugleich die Vernunft auf ihr eigentümliches Feld, die Natur, zurückweist.« (ebd.). – Zum anderen aber kann die Idee der Vorsehung auch kein praktisches Prinzip sein, durch das sie auf dem Gebiet der Moral Gesetze als Maximen geben oder Gegenstände als Zwecke bestimmen würde, da sie gar keine Beziehung auf den menschlichen Willen hat, sondern die Art bestimmt, wie die Natur gedacht werden muss. Die Vorsehung schreibt nicht vor, was durch den menschlichen Willen sein soll; sondern sieht voraus, was der Natur nach sein wird. 137 Da also der Begriff der Vorsehung weder ein auf dem Gebiet der Natur konstitutives oder regulatives noch ein auf dem Gebiet der Moral bestimmendes Prinzip ist, scheint er eine für die menschliche Erkenntnisart ganz überflüssige und ›leere‹ Idee zu sein, die allenfalls zur Naturerkenntnis missbraucht wird, wenn der Mensch sich »vermessenerweise ikarische Flügel ansetzt, um dem Geheimnis ihrer [der Vorsehung] unergründlichen Absicht näher zu kommen.« (eF VIII 364) 2. Angesichts dieser epistemischen Gehaltlosigkeit muss es überraschen, wenn Kant diese Idee nun dennoch in durchaus theoretischer Absicht gebraucht. In der Schrift »Zum ewigen Frieden« stellt er sogar die Behauptung auf, dass die Natur nicht nur so zu beurteilen sei, sondern dass auch »aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich [H. v. m.] Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, … [die] bei Erwägung aber ihrer Zweckmäßigkeit im Laufe der Welt, als tieferliegende Weisheit einer höheren, auf den objektiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten und diesen Weltlauf prädeterminirenden Ursache Vorsehung genannt wird« (VIII 361 f.). Versteht man diese Behauptung im strikten Sinne, so wäre die Vorsehung – absurderweise – ein empirischer Begriff, der aus der Beobachtung des Gangs der Natur gewonnen wäre. Kant erklärt jedoch sogleich, dass die Annahme einer solchen prädeterminierenden Ursache weder durch die Erfahrung noch durch Schlüsse gewonnen werden kann, sondern dass wir sie »(wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt) nur hinzudenken können und müssen, um uns von ihrer Möglichkeit nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen einen Begriff zu machen« (VIII 362). So verstanden aber wäre die Idee der Vorsehung nun doch ein 137
siehe auch G VIII 310. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
687
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
theoretischer Begriff, durch den zwar nichts erkannt wird, der aber – wie der Begriff der Technik – als ein subjektives Prinzip der Reflexion über die Natur dazu dient, sich von ihrer Zweckmäßigkeit einen Begriff zu machen. Wenn Kant dann wiederum feststellt, die Vorsehung werde zwar als ein solches Prinzip hinzugedacht, sie sei aber dennoch eine Idee, die »dogmatisch und ihrer Realität nach wohl gegründet ist« (ebd.; H. v. m.), dann kann sie nur eine Idee sein, die nicht objektiv zur Erkenntnis wohl begründet ist, sondern die allein in moralisch-praktischer Absicht dogmatisch ist, weil sie der Pflicht folgt, das Gute in der Sinnenwelt wirklich zu machen. Das aber heißt: Die reine praktische Vernunft macht es durch ihr Gesetz zur Aufgabe, den mechanischen Lauf der Natur so zu beurteilen, als ob ihm, der sittlichen Ordnung gemäß, die Vernunft als die vorherbestimmende Ursache zum Grunde liege, und er daher auf den objektiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichtet sei. Die Vorsehung als Prinzip gibt daher die Idee einer Natur, die in ihrem Mechanismus auf das Gute als ihrem Endzweck fortschreitet. Wenn nun aber diese Idee der Natur zugleich durch das moralische Prinzip »wohl gegründet« ist, dann ist ihr epistemischer Status offenbar beides: sie ist weder ein theoretisches noch ein praktisches Prinzip, weil sie als ein praktisches zugleich ein theoretisches Prinzip ist. Sie ist theoretisch, weil sie auf dem Gebiet der Natur das Prinzip der Beurteilung des sinnlich Gegebenen abgibt; sie ist praktisch, weil diese Beurteilungsart durch die Vernunft bestimmt ist, die durch ihr Gesetz der Natur den Endzweck gibt. 138 Als ein solches theoretisches 138 Dieser ›Doppelcharakter‹ erklärt Kants ›Schwanken‹ zwischen einer apriorisch-praktischen und einer historisch-empirischen Begründung dieser Idee. In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte (1784) behauptet er noch, dass die Vorstellung, die menschliche Gattung schreite nicht nur kulturell, sondern auch zum moralisch Besseren fort, als »möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden (muss).« (IGA VIII 29) Es scheint zwar, als bringe die Abfassung der Geschichte nach einem solchen Plan nur einen Roman zustande; »(w)enn man indessen annehmen darf: dass die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden« (ebd.). »Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung –«, meint Kant, »ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen.« – Auch im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte (1786) ist die Vorstellung vom moralischen Fortschritt für Kant noch ein moralisch-praktisches Erfordernis: angesichts der Übel, »die das menschliche Geschlecht so sehr, und, (wie es scheint) ohne Hoffnung eines Bessern drücken«, sei es »von der größten Wichtigkeit, mit der Vorsehung zufrieden zu sein (…), teils um unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen, teils um … nicht … in der Selbstbesserung die Hülfe dagegen zu versäumen.«
688
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
wie praktisches Prinzip schlägt nun aber die Idee der Vorsehung in der Tat die ›Brücke‹ vom einen Gebiet zum anderen, weil sie die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Natur mit der auf dem Gebiet der Moral vereint. Was auf dem Gebiet der Moral als der höchste Zweck gewollt wird, fällt mit dem, wie auf dem Gebiet der Natur geurteilt wird, zusammen. Der Endzweck ist derselbe: die Wirklichkeit des Guten. Unter dem Prinzip der Vorsehung vermag also die Urteilskraft den letzten Zweck, den die Natur selbst hervorbringt, auf den
(MM VIII 121) – In der Schrift Zum ewigen Frieden (1795) spricht Kant dann zwar von der großen Künstlerin Natur, die den moralischen Fortschritt garantiert, und aus deren mechanischem Laufe diese Zweckmäßigkeit sichtbar hervorleuchtet; aber er schränkt ein, dass nicht aus einer einzelnen Begebenheit auf das Prinzip einer nicht nur mechanisch wirkenden Ursache geschlossen werden kann; denn dies sei »ungereimt und voll Eigendünkel …, so fromm und demütig die Sprache hierüber lauten mag.« (eF VIII 361, Anm.) Erst im Streit der Fakultäten (1798) trägt Kant dann dem von F. Schlegel geäußerten Einwand Rechnung (siehe: Bien 441 ff.), dass in Hinblick auf die Beantwortung der Fortschrittsfrage die »(gedachte) Zweckmäßigkeit der Natur … hier völlig gleichgültig (ist): nur die (wirklichen) notwendigen Gesetze der Erfahrung können für einen künftigen Erfolg Gewähr leisten.« (Schlegel 1958 ff., 23). Denn Kant erklärt, dass diese Aufgabe freilich nicht »durch Erfahrung unmittelbar« (SF VII 83) aufzulösen sei, weil es bei der moralischen Beurteilung um frei handelnde Wesen geht, »denen sich zwar vorher dictiren lässt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen lässt, was sie tun werden.« (ebd.) Diese Art der Erfahrung müsse vielmehr eine solche Begebenheit sein, die nicht nur durch ihre Umstände erklärbar ist, sondern die auf ein moralisches Vermögen als ihre Ursache hinweist, so dass aus der Art dieser Kausalität auf den Fortschritt als einer Tendenz des menschlichen Geschlechts zum Besseren geschlossen werden könne. Das von Kant angeführte Ereignis ist der Enthusiasmus der Zuschauer, der sich anlässlich der großen politischen Umwandlung in Frankreich öffentlich verraten hat, und der dieser Allgemeinheit und seiner Uneigennützigkeit wegen den moralischen Charakter der menschlichen Gattung »wenigstens in der Anlage beweiset« (SF VII 85). Dieser Enthusiasmus sei zwar ein Affekt, der als solcher Tadel verdient; aber er sei kein bloß pathologisch-bedingter, sondern erhebe einen sittlichen Anspruch, er gehe aufs »rein Moralische … und (kann) nicht auf den Eigennutz gepfropft werden« (VII 86). Als ein solcher Affekt ist diese allgemeine Gemütserhebung zwar ein historisches, durch die Umstände erklärbares Ereignis; aber: »ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine »Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat.« (VII 87) Dieses öffentliche Ereignis, das auf dem Boden der Erfahrung das moralisch Gute in der Sinnenwelt demonstriert, nennt Kant ein »Geschichtszeichen« (VII 84), weil es als ein historisch Bedingtes auf Anderes, auf das moralisch Unbedingte verweist, das in ihm sich zugleich zeigt. Mit diesem Begriff eines Geschichtszeichens beantwortet er das Problem, dass die Idee der Vorsehung als Prinzip praktisch, d. h. durch die Vernunft aufgegeben, aber zugleich theoretisch, d. h. durch Erfahrung demonstriert, ist. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
689
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Zweck zu beziehen, der über die Natur hinaus als der moralisch gewollte Zweck durch die Vernunft gegeben ist. Während demnach der Verstand, wie Kant die unterschiedlichen Leistungen der gesetzgebenden Vermögen zusammenfassend beschreibt, der Natur durch seine Begriffe a priori die Gesetze vorschreibt, aber ein »übersinnliches Substrat [der Natur] … gänzlich unbestimmt (lässt)«, verschafft die Urteilskraft durch ihr Prinzip einer Technik der Natur diesem Substrat doch die »Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen«. Aber erst die Vernunft gibt durch die Idee der Vorsehung diesem übersinnlichen Substrat »durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung« (V 196). Insofern macht die Urteilskraft zwar »den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich« (ebd., H. v. m.); aber wirklich ist dieser Übergang erst durch die Idee einer »Weisheit der Natur«, die in praktischer Absicht als das bestimmende Prinzip angenommen werden muss. 2.
Das Ende des Kampfs des Menschen um sich selbst
Ordnen wir dieses Prinzip der Vorsehung, unter dem die zwei epistemischen Gebiete als vereint gedacht werden müssen, in unseren Rekonstruktionsrahmen der »teleologia rationis humanae« Kants ein, so bezeichnet es das Ende der Erzählung vom Kampf des Menschen um sich selbst. Diese hatte ihren Anfang in jener bösen Urtat, durch die der Mensch, selbst verschuldet, die »sittliche Ordnung« verkehrte und die Sinnlichkeit zur Bedingung des Vernunftgebrauchs machte. Sie hat ihre Wende in der Gegenwart mit dem Sieg des guten Prinzips über das böse und der Errichtung des ethischen Gemeinwesens, das die Herrschaft der Vernunft als das höchste Gut auf Erden postuliert. Und sie hat ihr Ende in einer Zukunft, in der nach der Idee der Vorsehung die Herrschaft der Vernunft als Endzweck der Natur gedacht werden muss. In ihr fallen das, was das ethische Gemeinwesen in der Gegenwart sein soll, aber nicht ist, mit dem, was die menschliche Gattung nach der »Vorsorge der Natur« sein wird, zusammen. An diesem Ende ist daher die »ganze Bestimmung« des Menschen erfüllt: die »sittliche Ordnung« wiederhergestellt und das Reich der Vernunft auf Erden wirklich gemacht zu haben. Für Kant als Epistemologen des modernen Denkens steht daher die Idee des Ganzen der Vernunft nicht am Anfang der Erzählung; sie 690
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
ist nicht, wie vormals, ein objektives Weltprinzip, das der Mensch zu erkennen und nach dem er zu handeln habe. Sie steht vielmehr am Ende der Erzählung, weil der moderne Mensch doch das, was er ist und sein soll, keinem objektiven Prinzip entnimmt, sondern aus sich selbst machen muss, soll, kann und darf. Kants Erzählung sieht daher nicht zurück auf den Anfang von allem, sondern voraus auf das künftige Ende von allem, worin der Mensch das gute Prinzip im Kampf gegen das selbstverschuldet Böse wirklich gemacht haben wird. In diesem Ende sieht Kant die ›unvollendete Moderne‹ vollendet. Dieser Endzweck der Natur ist nun aber die Kultur, die nach der Idee der Vorsehung die menschliche Gattung in der Tat für die moralische Gesetzgebung vorbereitet, und die in die zwei Elemente unterschieden ist: in eine »Kultur der Zucht«, die zugleich den künftigen Endzustand des »ewigen Friedens« ermöglicht; und in eine »Geschicklichkeit« der Gattung, die sie befähigt, über die freie Wahl der Zwecke hinaus die menschliche Vernunft zum vernünftigen Zweck zu gebrauchen. a.
Der »ewige Frieden« als ethisches Rechtssystem
Den »ewigen Frieden« als Endzweck der Natur beschreibt Kant als einen Rechtszustand, in dem die »Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten« verbunden und dadurch die »Einheit eines moralisch begründeten Systems derselben« (V 433) hergestellt ist. Er besteht in dem moralisch begründeten Rechtssystem aller Staaten, die im Inneren republikanisch verfasst sind und in ihren äußeren Beziehungen einen föderalen Staatenbund bilden. In epistemischer Hinsicht stellt dieses globale Rechtssystem zum einen den Entwurf dar, der den Frieden a priori aus transzendentalen Prinzipien als eine mögliche Wirklichkeit postuliert, indem er die moralische Gesetzgebung auf die innere Verfassung und das äußere Recht der Staaten anwendet und dadurch bestimmt, was sein soll. Zum anderen ist Kants Darstellung dieses Rechtssystems als »das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts« (VII 350) die Antizipation eines Zustands, der sein wird, und der nach dem Prinzip der Vorsehung durch die »große Künstlerin Natur« (VIII 360) als ihrem Endzweck hervorgebracht und gewährleistet wird. Diese Künstlerin garantiert »durch den Mechanism der menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden« (VIII 368). Kant bestimmt also den Endzweck der menschlichen Gattung einerseits als eine moralisch notwendig zu denkende Möglichkeit, andeA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
691
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
rerseits als eine naturnotwendige künftige Wirklichkeit. Die »Friedensschrift« ist so beides: Entwurf und Prognose. Betrachtet man diese beiden Seiten des Endzwecks, die moralische und die natürliche, näher, so ist er als moralischer Zweck auf die Anwendung des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft auf das Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht 139 gegründet, so dass die Annehmung solcher Rechtsgrundsätze als Maximen des politischen Handelns und der auf dieses Rechtssystem gegründete Friedensschluss allgemein sittliche Pflicht ist. Das Gebot des Friedens ist daher kategorisch, von unbedingter Gültigkeit, und der Frieden muss folglich – ohne alle historisch-empirischen Bedingungen – als jederzeit möglich gedacht werden. – Damit zum anderen jedoch Frieden herrsche und »keine leere Idee« (VIII 386) sei, dazu ist nun nicht allein der ›Mechanismus‹ erforderlich, »durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen« (VIII 360), sondern insbesondere die Umwandlung der Gesinnung, die aus einem »Volk von Teufeln«, das in das Rechtssystem wider seinen Willen gezwungen wird, ein ›Volk von Engeln‹ macht, das den ewigen Frieden tatsächlich stiftet. Diese Umwandlung des Willens als der über den letzten Naturzweck hinausgehenden Endzweck der menschlichen Gattung erhebt die moralische Gesetzgebung zur Maxime des politischen Handelns, wodurch aus den bösen Menschen, als die sie vorausgesetzt werden müssen, die guten Menschen werden, als die sie gefordert werden müssen. Während also der moralisch gesollte Zweck zeitlos als ein »ewiger Frieden« entworfen wird, wird der Endzweck der Natur nach dem Prinzip der Vorsehung als ein künftiger Rechtszustand der menschlichen Gattung prognostiziert, der durch den guten Willen in der Stiftung des ewigen Friedens verwirklicht sein wird. In diesem Zustand sind der moralische und der natürliche Zweck verbunden. 140 Diesen künftigen Friedenszustand beschreibt Kant als Beendigung des natürlichen Zustands des Kriegs und der Feindseligkeiten: »Ein Friede muss, jederzeit als ewige Aufhebung alles Rechtsstreits aus Gründen, die gegenwärtig existieren, angesehen werden; denn Siehe: VIII 349, Anm. Die Schwierigkeit, diese Einheit von Moral und Natur in Begriffe zu fassen, zeigt die Unklarheit des Begriffs vom »ewigen Frieden«. Soll der Ausdruck mehr als ein ironisches Spiel mit seinen Bedeutungen sein, so sind in ihm die ewige Geltung des Friedensgebotes und die zeitliche Dauer eines Friedenszustands zusammengefasst, – ohne dass begreiflich wird, was eine ›ewige Dauer‹ bedeuten kann. 139 140
692
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
sonst ist die Suspension der Feindseligkeiten nur ein armistitium, wo man sich noch immer Gründe zu künftigen Feindseligkeiten vorsätzlich vorbehält. Also setzt ein jeder Friede voraus, dass alle Ansprüche, die bis auf den Zeitpunkt ein Staat auf den anderen haben konnte und die zu Feindseligkeiten Anlass geben könnten, abgetan und für Null erklärt sind.« (Refl. 7837; XIX 530) Er stellt folglich den Austritt der menschlichen Gattung aus dem naturgeschichtlichen Zustand des Krieges und eines bloß vorbehaltlichen Friedens als letztem Zweck der Natur und, durch die »ewige Aufhebung allen Rechtsstreits«, den Eintritt in den Endzustand des vorbehaltlosen und andauernden Friedens durch die moralische Gesetzgebung dar. Dieser Übergang vom Gebiet der Natur in das Gebiet der Moral hat daher »epochalen Charakter« 141 : er beendet das selbstverschuldet Verderbte der menschlichen Natur, die Sinnlichkeit zur Bedingung des Vernunftgebrauchs zu machen, und stellt die ursprüngliche und unverlierbare sittliche Ordnung der Vermögen wieder her, weil in der Stiftung des Friedens das materiale Prinzip der eigenen Glückseligkeit der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft untergeordnet wird. Er bezeichnet das höchste Gute: das moralische Reich auf Erden. Sieht man nun darauf, wie Kant diesen epochalen Wandel konzipiert, so stellt er ihn nicht als Ergebnis des naturwüchsigen Antagonismus des Krieges dar, sondern als den Kampf zweier Lager: des ethischen Gemeinwesens unter dem guten Prinzip auf der einen Seite, des politischen Systems der Staaten unter dem bösen Prinzip auf der anderen Seite. In diesem Kampf stellt Kant den Philosophen als Vertreter des ethischen Gemeinwesens dem Politiker als Repräsentanten des Systems der Staaten gegenüber, der sich weigert, aus dem »Naturzustand (status naturalis)« (VIII 348) in den Friedenszustand herauszutreten. Während die Maximen des Philosophen als Vertreter der ethischen Republik die formalen Grundsätze des Rechts sind, in denen die Vernunft als die allein gesetzgebende Instanz anerkannt wird, liegt den Maximen des Politikers das materiale Prinzip des eigenen Staatswohls zugrunde, das seinen Ursprung in der »Bösartigkeit der menschlichen Natur [habe], die sich im freien Verhältniss der 141 Saner 1995, 51: »Der Friede hat deshalb einen epochalen Charakter … Er ist nicht die Fortsetzung der bisherigen Politik, sondern die Schaffung einer neuen Ära des politischen Denkens und Handelns, die mit einer radikalen Umkehr der Denkungsart verbunden ist.«
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
693
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Völker unverhohlen blicken lässt (VIII 355). 142 Von diesem Kampf des ethischen Gemeinwesens mit dem politischen System nimmt Kant offenbar an, dass er nach dem Prinzip der Vorsehung mit dem Sieg des Philosophen, dem Sachwalter der »allgemeinen Menschenvernunft«, über den Politiker als Vertreter des je besonderen Staatsinteresses enden wird 143 , d. h. in einem ethisch begründeten Rechtssystem, das den ewigen Frieden auf Erden stiftet. 144 Vgl.: Laberge 1992, 116 ff. Zum damit aufgeworfenen Problem des Souveränitätsverzichts der Staaten siehe: Höffe 1995, 109–132. 144 Die von Kant beschriebene »Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden« (VIII 370) wäre dem entsprechend als Konfrontation zweier res publicae, der ethischen und der politischen, zu rekonstruieren, deren eine in ihren Handlungen die Vernunft als höchsten Gerichtshof anerkennt, und deren andere das Wohl des Staates als Bestimmungsgrund des Handelns hat. In der »Misshelligkeit« zwischen Moral und Politik spiegelte sich der Kampf beider Reiche um die Herrschaft wider: des ethischen Gemeinwesens, das gestiftet ist, weil die Vernunft herrschen soll, mit »dem Staate, der immer nur herrschen will« (SF VII 89; H. v. m.). Aus der Perspektive dieser Konfrontation erscheint es als naheliegend, wenn Kant die strikte Distanz des Philosophen als Repräsentanten des ethischen Gemeinwesens von der Politik fordert. Diese Forderung begründet Kant jedoch nicht durch die »Arbeitsteilung zwischen Politik und Philosophie«, wie Gerhardt 1995, 188 ff. annahm, sondern er sieht in der Distanz die Bedingung, um den Kampf des ethischen gegen das politische Gemeinwesen überhaupt erfolgreich führen zu können. Ihre Verbindung sei nicht zu wünschen, »weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt« (eF VIII 369); wie umgekehrt die Sache der Moral gleichfalls verdorben wäre, wenn moralische Grundsätze durch Gewalt verbindlich gemacht würden: »Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegentheil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.« (RGV VI 96). Die Vernunft einerseits und die Gewalt andererseits konstituieren eben die zwei feindlichen Reiche unter dem guten und dem bösen Prinzip, so dass das Ethische durch die Gewalt unvermeidlich verdorben würde. Auf der Grundlage dieser Trennung von Moral und Politik nennt Kant nun als ›Waffe‹ des Philosophen in diesem Kampf, vom Recht der freien und öffentlichen Rede Gebrauch zu machen, den Philosophen »frei und öffentlich über die allgemeinen Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung reden [zu] lassen« (VIII 369). Dieses Recht ist nun zum einen als ein Abwehrrecht gegen die Raison des Staates zu verstehen, weil das ethische Gemeinwesen als Republik nur unter der Bedingung der freien und öffentlichen Rede existieren kann. Zum anderen jedoch verwendet Kant es als Instrument des Kampfes, indem er dieses Recht gegenüber der staatlichen Gewalt als ein natürliches Recht des Menschen bzw. der Völker proklamiert: »So verhindert das Verbot der Publicität«, heißt es im »Streit der Fakultäten«, »den Fortschritt eines Volks zum Besseren, selbst in dem, was das Mindeste seiner Forderung, nämlich bloß sein natürliches Recht, angeht.« (VII 89) Zur Wahrnehmung dieses Rechts gehöre denn auch, »seine Gedanken … öffentlich zur Beurtheilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und 142 143
694
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
b.
Der »technische Verstand« und die »Natur als Geschöpf«
Das andere Element der Kultur, die Geschicklichkeit, hat Kant hinsichtlich des Endzwecks nicht systematisch dargestellt. Er beschreibt sie zwar einerseits als den letzten Zweck der Natur, die menschliche Gattung »zur Beförderung der Zwecke überhaupt« (V 431) tauglich zu machen, und nennt andererseits als Endzweck der Natur den Menschen, dem als moralischem Wesen »die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist« (V 435 f.). Aber er führt weder den ›Übergang‹ von jenem letzten Zweck der Natur zum darüber hinausgehenden Endzweck aus, noch gibt er mehr als Anhaltspunkte, was der künftige Zustand wäre, in dem dem Menschen die ganze Natur untergeordnet ist. In diesem Zustand müsste der Mensch sich nach dem Prinzip der Vorsehung tauglich gemacht haben, die Natur nicht mehr gefährlichen Bürger verschrieen zu werden.« (KrV B 780) Denn, so das Argument des Philosophen gegenüber dem Politiker: »Dies liege schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat.« (ebd.) Über dieses natürliche Recht der freien und öffentlichen Rede hinaus fordert Kant nun, im Anhang der »Friedensschrift«, von der politischen res publica, dass die Maximen der Politik dem Prinzip der Publizität genügen müssen: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.« (VIII 381). Dieses Princip sei nicht nur als ethisch, »sondern auch als juridisch (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten« (VIII 381; H. v. m.). Es drängt mithin der am Staatswohl orientierten Politik fremde Maximen auf. [Wir deuten daher Kants Begriff der »Publicität« nicht, wie J. Habermas, als das »Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral« (Habermas 1969, 127 ff.), sondern als das Medium des Kampfes des ethischen gegen das politische Gemeinwesen.] Als zweite ›Waffe‹ nennt Kant im »Geheimen Artikel zum ewigen Frieden«, dass der Politiker den Philosophen höre: »Die Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rate gezogen werden.« (eF VIII 368) Dies könne freilich kein öffentliches Recht sein, sondern nur »stillschweigend« geschehen »(also in dem er [der Staat] ein Geheimnis daraus macht)« (VIII 369), weil es sich widerspreche, dass »die gesetzgebende Autorität eines Staates … bei Untertanen (Philosophen) Belehrung« (VIII 368) sucht. Kant lässt offen, wie eine solche Verpflichtung des Politikers zur Belehrung durch den Philosophen zu begründen wäre; »gleichwohl aber [sei es] sehr ratsam es zu thun.« (ebd.) Er scheint als Bedingung der Möglichkeit einer solchen Anhörung vorauszusetzen, dass das Verderbte der menschlichen Natur, weil selbstverschuldet, überwindbar und der Politiker als Repräsentant der staatlichen Gewalt daher ›offen‹ ist, die Maximen der Philosophen zu Rate zu ziehen. Diese Voraussetzung begründet für Kant nicht zuletzt die Hoffnung, die den Traktat beschließt, dass »der ewige Friede … keine leere Idee, sondern eine Aufgabe (ist), die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt.« (VIII 386) A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
695
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
nur als ein zufälliges Ungefähr zu erkennen, das er zu beliebig gesetzten Zwecken gebraucht, sondern als das Produkt oder das »Geschöpf«, dem die Vernunft als Ursache des Daseins zugrunde liegt. Als Endzweck der Natur müsste der Mensch neben dem ›guten Willen‹ auch einen ›heilen Verstand‹ besitzen, der diese Zweckbeziehung von Vernunft und Natur erkennt und bewirkt. 1. Einen solchen Verstand hat Kant, wenigstens im Allgemeinen, beschrieben. Er führt ihn jedoch ›nur‹ als eine Idee an, da der menschliche Verstand eine Zweckbeziehung nicht zu erkennen vermag, sondern allemal nur diskursiv verfährt. Gleichwohl sei er aber eine Idee, auf die der Mensch unvermeidlich geführt werde, da wir uns die Naturformen »gar nicht anders denken und begreiflich machen [können], als indem wir sie und überhaupt die Welt uns als ein Produkt einer verständigen Ursache (eines Gottes) verständlich machen.« (V 400) Diese Idee beschreibt Kant nun auf zwei verschiedene Weise: als »intuitiver« und als – von uns so genannter – »technischer Verstand« 145 . Der intuitive Verstand sei das »Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung« (V 406), das Vermögen, in der Anschauung des Ganzen zugleich die Teile anzuschauen. Doch für die Idee eines solchen Verstandes, »an welchem Möglichkeit und Wirklichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen« (V 402), habe »unser Verstand schlechterdings keinen Begriff« (V 402). Er sei zwar eine denkbare, jedoch unbegreifliche Idee. – Begreiflich hingegen sei der »technische Verstand«, da der Mensch bei der teleologischen Beurteilung der Natur einen Verstand zugrunde legt, der dem eigenen entspricht: Weil der Mensch selbst technisch verfährt, indem er seinen Handlungen Zwecke voraussetzt, mache er sich die Natur dadurch verständlich, dass er sie in ihren Formen gleichfalls technisch denkt. Dieses technische Verfahren beschreibt Kant nun so, dass es nicht in der Weise geschieht, dass das Ganze zugleich der Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Teile ist, »sondern nur, dass die Vorstellung eines Ganzen den Grund der Möglichkeit der Form des145 Kants Idee eines anderen Verstandes, für den Begriff und Anschauung, Mögliches und Wirkliches in epistemischer Hinsicht nicht getrennt sind, war bekanntlich nicht nur von nachhaltiger Wirkung für den deutschen Idealismus, sondern auch einer seiner systematischen Kristallisationspunkte (siehe: Horstmann 1995, 193–219). – G. Lukács sieht in den unterschiedlichen Rezeptionen dieses »berühmt gewordenen Paragraphen der ›Kritik der Urteilskraft‹« (Lukács 1981, 124) den Beginn des Konflikts zwischen Irrationalismus und Vernunft in der modernen Philosophie.
696
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
selben und der dazu gehörigen Verknüpfung der Teile enthalte.« (V 407 f.) Der technische Verstand schaut nicht, wie der intuitive, das Ganze zugleich in seinen Teilen an, sondern erkennt – »durch das Verbindungsmittel der Zwecke« (V 407) – die Natur als das Produkt oder Geschöpf, der ein Zweck als Ursache des Daseins zugrunde liegt. 146 Diesen technischen Verstand sieht Kant vom diskursiven menschlichen Verstand dadurch unterschieden, dass in ihm nicht die Verschiedenheit besteht zwischen einem Verstand, der die Natur nur denkt, und einer Sinnlichkeit, durch die allein sie ihm gegeben ist. Er geht folglich nicht diskursiv von einem Begriff, vom bloß logisch Allgemeinen aus, um darunter mühsam das empirisch Besondere zu subsumieren, sondern geht vom Zweck, »vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen, als eines solchen) zum Besonderen …, d. i. vom Ganzen zu den Teilen« (V 407). 147 Während daher für den menschlichen Verstand die Verbindung zwischen der sinnlich gegebenen Natur und einem übersinnlichen Zweck niemals Erkenntnis, sondern nur subjektive Maxime der Reflexion ist, ist sie in einem solch anderen Verstand »ein Erkenntnis gründender, von der Vernunft bestätigter (conceptus rationatus)« Begriff (V 396). Da nun aber Kant ein Wesen, das mit diesem Verstand ausgestattet wäre, 146 Kant nennt ihn auch den »schaffenden Verstand« (KU V 425). Er nimmt damit wohl implizit Bezug auf den Platons Demiurgen. Seine Platon-Kritik ist demnach nicht gegen die Idee eines »technischen Verstandes« gerichtet, die ja eine ganz »unentbehrliche Vernunftidee« (V 402) sei, sondern dagegen, sie für einen Erkenntnis gründenden Begriff zu halten: obgleich Platon und die Platoniker doch nur über einen menschlichen Verstand verfügten, wollten sie dennoch auf eine nicht-menschliche Art Wissenschaft betreiben, die ihnen »nur durch eine intellektuelle Gemeinschaft mit dem Ursprunge aller Wesen [d. i. dem nicht-menschlichen Verstand] erklärlich zu sein« (V 363) schien. Kant nennt diese Wissenschaft »vermessen« (V 383); nicht nur wegen dieser »intellektuellen Gemeinschaft«, sondern weil »man die göttliche Weisheit zu erheben vorgiebt, indem man ihr in den Werken der Schöpfung und der Erhaltung Absichten unterlegt, die eigentlich der eigenen Weisheit des Vernünftlers Ehre machen sollen.« (V 383, Anm.; H. v. m.) 147 Dem entgegen nimmt K. Düsing an, dass das »Synthetisch-Allgemeine« schon »allen Reichtum des Besonderen und Mannigfaltigen als ›Theile‹ in sich (befasst). Daher ist bei der Erkenntnis auch gar kein eigener Actus der Urteilskraft nötig. Diese Vorstellung des Ganzen ist deshalb selbst schon Erkenntnis. Ein solches Ganzes nennt Kant also ein ›Synthetisch-Allgemeines‹.« (Düsing 1968, 92) Kants Auffassung ist jedoch, dass ein solcher Verstand »vom Synthetisch-Allgemeinen … zum Besondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Theilen«. Dieses ›Gehen von … zu‹ kann aber nur als eine Spezifikation des Ganzen verstanden werden, zu der es der (bestimmenden) Urteilskraft bedarf. Siehe: KU, Einleitung, V 179 ff.; auch: XX 211 ff.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
697
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
»als Werkmeister« (V 383) bezeichnet, lässt er sich mit Recht »technischer Verstand« nennen. 2. Nun unterscheidet Kant nicht nur den technischen vom diskursiven Verstand, sondern setzt sie auch zueinander ins Verhältnis; denn in diesem Vergleich komme es darauf an, »dass wir nämlich darin eine gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen aufsuchen, um diese Eigentümlichkeit unseres Verstandes, zum Unterschiede von anderen möglichen, anzumerken.« (V 406) Diese Zufälligkeit betrifft zum einen die Methode; denn diesem anderen Verstand fehlt die Zufälligkeit der Verbindung der Teile, die es »dem unsrigen so schwer macht, das Mannigfaltige derselben zur Einheit der Erkenntnis zu bringen« (V 406), da er von der Anschauung eines Ganzen zu den Teilen geht. Für ihn besteht deshalb keine unüberbrückbare Differenz zwischen den Prinzipien einer Mechanik und einer Technik der Natur, zwischen einer Kausalität nach mechanischen Gesetzen und nach Zwecken. Zum anderen aber betrifft das Zufällige der Beschaffenheit das Vermögen selbst. Denn das Diskursive der Erkenntnis ist zwar für den Menschen eine Notwendigkeit; es selbst aber ist nicht notwendig. Kant, so verstehen wir die Notwendigkeit des Vergleichs, trifft nicht nur die Feststellung, dass dem Menschen zur Erkenntnis des Ganzen »der Schlüssel fehlt« (V 429), sondern dass das Fehlen dieses Schlüssels selbst zufällig ist. Kant verfolgt diesen Gedanken nicht weiter. Sucht man jedoch nach einer Erklärung für diese »gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit« des menschlichen Verstandes, so führt sie zu Kants Anthropologie zurück, nach der der menschliche Verstand deshalb diskursiv verfährt, weil dem Menschen aufgrund seiner verderbten Natur Gegenstände nicht anders als sinnlich gegeben sind; nach der diese verderbte Natur jedoch zufällig ist, weil er sie sich durch die freie, an sich zufällige böse Ur-Tat selbstverschuldet zugezogen hat. Seiner unzerstörbaren Anlage zum Guten wegen hat der Mensch daher notwendig die Idee eines anderen Verstandes, der als »intellectus archetypus« (V 408) durch Begriffe – ohne Mühe – die Dinge erkennt, während sein eigener Verstand, zufällig, ein ›korrupter Verstand‹ ist, der als »intellectus ektypus« (ebd.) der sinnlichen Bilder bedürftig ist und die Dinge nur diskursiv – mit Mühe – erkennt. In der teleologischen Beurteilung der Natur wird der Mensch jedoch auf die Idee eines anderen, an sich notwendigen Verstandes geführt, durch die er sich »in der Dagegenhaltung« (ebd.) des Zufälligen der Beschaffenheit seines eigenen Verstandes bewusst wird. 698
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
3. Wenn Kant nun aber den Menschen als den Endzweck der Natur vorhersieht, dem als moralischem Wesen »die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist« (V 435 f.), dann kann die menschliche Gattung nicht nur tauglich gemacht werden, die Natur zu freien Zwecken zu gebrauchen; sie bedarf dazu auch eines technischen Verstandes, welche diese Zweckbeziehung von Moral und Natur erkennt. Das aber heißt: um diese Kausalität nach Zwecken zu erkennen, muss der Mensch als Endzweck der Natur dasjenige »Weltwesen« sein, das sich als »Werkmeister« die ganze Natur als sein »Geschöpf« untergeordnet haben wird 148 . Dieser menschliche Verstand kann die Natur deshalb als ein »System der Zwecke« (V 472) erkennen, weil er selbst zum Schöpfer dieses Natursystems geworden sein wird. Denn nur in der Verbindung des moralischen Willens zur allgemeinen Gesetzgebung mit der Geschicklichkeit des Verstandes, die Zweckkausalität in der Natur zu bewirken, kann der Mensch der Endzweck sein, auf den die Vorsehung hinaussieht: das Reich der Vernunft in der ganzen Natur wirklich zu machen. 149 148 K. Düsing charakterisiert das Verhältnis zwischen dem Endzweck der Natur und dem Endzweck der Moral so: »Der Mensch sieht also sein Dasein unter allen Naturwesen als Endzweck an, er ist Endzweck in dieser Betrachtung; zugleich aber hat sein Wille einen Endzweck als angestrebtes letztes Ziel: das höchste Gut.« (Düsing 1971, 37) Darüber hinaus macht Kant jedoch deutlich, dass das höchste Gut selbst die Einheit von Sein und Haben ist, dass also der Mensch deshalb der Endzweck der Natur ist, weil er den Willen und das Vermögen hat, das Gute wirklich zu machen. Dieses ›Wirklichmachen‹ des Guten aber müsse unter der Idee der Vorsehung als ein künftiger Zustand angenommen werden, auf den hin die Moral den Menschen durch den Willen und die Natur die Gattung durch ihren Mechanismus ›treibt‹. 149 Kants Begriff der »Geschicklichkeit« ist modern, weil er dem technischen Verstand, Wissenschaft und Kunst, nicht Werte oder Normen vorgibt, sondern den Fortschritt als naturwüchsigen Prozess betrachtet. Während normative Theorien den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, etwa unter dem »Prinzip Verantwortung«, als einen Prozess kritisieren, der sich verselbständigt hat und die Natur zerstört, begreift Kant ihn als einen Prozess, der den ›wahren Zweck‹ erst hervorbringt. Für Kant sind daher Wissenschaft und Technik an keinen gegebenen Zweck gebunden, sondern sind das bloß Formale und Subjektive der Tauglichkeit zum Gebrauch der Natur, das den Menschen, als Gattung, zur Herrschaft über die Natur vorbereitet. Kant versteht folglich den Prozess der Modernisierung ›modern‹, d. h. nicht als Entfernung vom ›Eigentlichen‹, sondern umgekehrt als Annäherung, die das ›Eigentliche‹ erst wirklich macht. Kants Urteil über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt begründet keine »Heuristik der Furcht« (Jonas 1984, 63), sondern der ›Hoffnung‹. Er beurteilt ihn, nach dem Prinzip der Vorsehung, als einen naturwüchsigen Prozess, der das Gute, die Herrschaft der Vernunft über die Natur, wirklich machen wird, und erwartet daher die Fügung zum Guten nicht jenseits oder außerhalb, sondern am Ende der Moderne.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
699
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Kant hat dieses Element des Endzwecks, die Herrschaft des Menschen über die Natur, wie gesagt, weitgehend unausgeführt gelassen. Er schreibt diesbezüglich nur recht dunkel: »Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kausalität teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen ist, dass das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig, vorgestellt wird. Das Wesen dieser Art ist der Mensch, aber als Noumenon betrachtet« (V 435). Der Mensch sei »das einzige Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das Gesetz der Causalität sammt dem Objecte derselben, welches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt), von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können.« (ebd.) Doch diese Sätze beschreiben den Menschen nur teils als das ›Weltwesen‹, das das Vermögen hat, nach Zwecken zu wirken, teils als das moralische Wesen, das das Gesetz, nach dem es sich die Zwecke zu bestimmen hat, vorstellt. Aber sie ziehen nicht, was das höchste Gut in der Welt wäre, die Verbindung zwischen dem zweckgerichteten Handeln dieses Weltwesens mit der moralischen Gesetzgebung, durch die erst dem Menschen die ganze Natur teleologisch untergeordnet wäre. Erst in dieser Verbindung der moralischen Gesetzsetzung mit dem technischen Vermögen, nach Zwecken zu wirken, ist die »sittliche Ordnung« (wieder)hergestellt, und die Vernunft, wie sie soll, durch ihr Gesetz das allein Bestimmende.
C. Die Wirklichkeit des Guten – Das Ende der Geschichte Fasst man die Kultur mit Kant als das letzte Feld der Naturgeschichte auf, das die menschliche Gattung auf die künftige Wirklichkeit des Endzwecks vorbereitet, dann müssen in der Tat sowohl die durch den Mechanismus des Kriegs beförderten Rechtszustände als auch der durch die Arbeit und gesellschaftliche Spaltung angetriebene Fortschritt in Wissenschaft und Technik als die Mittel betrachtet werden, durch die der moralisch gesollte Endzweck nach der Idee der Vorsehung geschichtlich befördert wird. Sie haben ihren Sinn nicht in sich selbst, sondern bereiten, wie Kant sagt, »den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll« 700
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Verwirklichung des Guten
(V 433). Sie befördern die Verwirklichung des höchsten Guts, das durch sie auf Erden möglich wird. Dieses höchste Gut ist demnach als der künftige Zustand der menschlichen Gattung aufzufassen, der über das Geschichtliche dieses Fortschritts in der Kultur des Willens und des Verstandes hinausweist: negativ als Befreiung des Willens vom Zwangscharakter des Rechtssystems sowie des Verstandes von aller natürlichen Beschränktheit seiner Zwecksetzungen; positiv als der Zustand eines Systems der Natur, das dem Menschen als dem vernünftigen Weltwesen untergeordnet ist. Dieses künftige Ende, auf das die menschliche Gattung in ihrem Fortschritt hinaussieht, ist so die Wirklichkeit des Ideals vom höchsten Gut, das Kant als das »corpus mysticum der vernünftigen Wesen« (B 836) in der Sinnenwelt bezeichnet oder als »die im Weltganzen mit der reinsten Sittlichkeit … verbundene allgemeine, jener gemäße Glückseligkeit« (VIII 279) beschrieben hatte. In diesem Ende ist daher der Kampf des Menschen gegen das selbstverschuldet Böse beendet und das gute Prinzip zur bestimmenden Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, der Wohlfahrt der menschlichen Gattung, gemacht 150 . Verstehen wir diese Bestimmung des Endes als die sinnstiftende Instanz der Kantischen Epistemologie – der Untersuchungen des gesetzgebenden Vermögens der Vernunft auf dem Gebiet der Moral, des gesetzgebenden Vermögens des Verstandes auf dem Gebiet der Natur sowie der moralisch geforderten Reflexion der Urteilskraft auf den Zweck der Natur –, in der sich das Selbstverständnis des modernen, nachmetaphysischen Denkens ausdrückt, so erhellt diese Bestimmung des Endes die treibenden Kräfte dieser Denkungsart: die Etablierung eines autonomen ethischen Diskurses über die Unverlierbarkeit menschlicher Rechte, die Kant als Errichtung einer ethischen Republik auf dem Boden der europäischen Geschichte beschreibt; die Etablierung eines kognitiven Diskurses, der alle Bereiche der Erfahrung, vom Kleinsten zum Größten, vom Profansten zum 150 P. Kleingeld schreibt daher zu Recht, dass »Kants Frage im Antinomie-Abschnitt [der KpV], wie Tugend Glückseligkeit verursachen kann, … eigentlich eine elliptische Formulierung (ist). Die wirkliche Frage ist, wie moralisches Handeln das Gute, dessen Verwirklichung Glückseligkeit hervorbringt, in der Welt bewirken kann. Kant hätte eigentlich zwischen der Hoffnung auf Verwirklichung des Guten und der Hoffnung auf Glückseligkeit unterscheiden müssen.« (Kleingeld 1993, 154, Anm.) Wir setzen hinzu, dass aber am Ende der Zustand des ›verwirklichten Guten‹ mit dem Zustand der Glückseligkeit zusammenfällt.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
701
Die Philosophie Kants als Epistemologie der Moderne
Heiligsten den Regeln des Verstandes, der Logik und Mathematik, unterwirft, und den wir als »epistemische Republik« bezeichnet haben; das Prinzip der Modernisierung, die alles wissenschaftlich-technische Wissen von den Grenzen eines je gegebenen Bedürfnis- oder Moralsystems befreit und in Permanenz den je aktuellen ›Stand der Technik‹ überschreitet, die fortlaufend neue Zwecke setzt und neue Bedürfnisse erzeugt, und deren letzten Zweck Kant im Formalen der Beherrschung der Naturprozesse erkennt; der politische Kampf um die Moralisierung des Rechts gegen alle historischen und partikularen Rechtssysteme in einem universalen Vernunftrecht, den Kant als den Streit um den »ewigen Frieden« konzipiert – diese rastlose Dynamik erhält in Kants Erzählung vom Menschen ihren Sinn im Wissen, dass allein die Vernunft das höchste Gut bestimmt und dass daher das höchste Gute die Herrschaft der Vernunft sei. In diesem Endzustand, auf den die kantische »teleologia rationis humanae« hinaussieht, wird die Kultur die Art eines rechtlichen und technischen Systems hervorgebracht haben, in dem die Wohlfahrt des Menschen nicht mehr von natürlich und historisch zufälligen Umständen abhängt, sondern Teil und Produkt eines universellen Systems von Gesetzen sein wird, deren Bestimmungsgrund die Vernunft durch ihre Form der allgemeinen Gesetzgebung ist. In einem solchen künftigen Reich der Vernunft, auf das die moderne Welt als ihre Vollendung hinausweist, wird schließlich die Berufung des Menschen zum Guten erfüllt, alles Heteronome überwunden und die ursprüngliche »sittliche Ordnung« wiederhergestellt sein. Hier, am Ende dieser Geschichte vom Menschen, wird nichts mehr geschehen, weil alles geschehen ist. Der Mensch, der dann sein wird, was er sein soll, wird nach all den Kämpfen im Griff der zeitlosen Vernunft das Böse, Korrupte und Kontingente überwunden und das Seiende – endlich – in die selige Dauer des ewigen Friedens gebracht haben.
702
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Schluss
Der Abschluss der Studie über die Genese des europäischen Denkens soll die leitenden Gedanken und gewonnenen Ergebnisse zusammenfassen und in den wissenschaftlichen Kontext stellen, um den möglichen Ertrag der Arbeit und die daraus folgenden Perspektiven sichtbar zu machen.
A. »Die Vernunft« als der epistemische Code des europäischen Denkens Unserer Untersuchung war ein Begriff vom Wissen vorausgesetzt, der es erlauben sollte, die Genese des europäischen Denkens aus der Distanz, aus der Perspektive des Beobachters, zu rekonstruieren. »Wissen« wurde nicht im Sinne eines »wahren« oder »begründetes Meinens« verstanden, sondern als eine Tätigkeit, die einen bestimmten epistemischen Code aktualisiert bzw. ein epistemisches Gesetz anwendet. Demnach repräsentieren Vorstellungen, Äußerungen oder Propositionen Wissen, wenn sie einem Gesetz, einer gegebenen epistemischen Regel genügen. Vom Begriff des Wissens als einer solchen Tätigkeit ausgehend hat sich uns die Frage nach dem Code gestellt, dem das europäische Denken folgt, und der es von anderen epistemischen Formationen unterscheidet. Diese Perspektive auf das europäische Denken entspricht in gewisser Weise der Analyse »diskursiver Formationen«, wie sie Michel Foucault in seiner »Archäologie des Wissens« konzipiert hat, da beide Male Performanzen auf Regeln – Foucault nennt sie »präterminale Regelmäßigkeiten« 1 – zurückgeführt werden, die Diskurse formieren. Während Foucaults Sichtweise jedoch soziologisch ist, war unsere Perspektive epistemologisch. Sie suchte nicht nach den Machtdispositiven, die Wahrheiten erzeugen, sondern nach dem Code, der den Diskurs epistemisch qualifiziert. Sie hat insofern Ähnlichkeit mit den 1
Foucault 1973, 111. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
703
Schluss
sprachkritischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins, die das semantische ›Funktionieren‹ der Sprachen auf die je gegebene »Lebensform« 2 zurückführen, die die Bedeutung der Wörter einer Sprache garantiert. Unserer Untersuchung ging es jedoch nicht um die ›Form‹, die die semantische Transformation sprachlicher Zeichen in Bedeutung gewährleistet, sondern um den ›Code‹, der die epistemische Transformation von Vorstellungen oder Propositionen in Wissen regelt. Stellt man aus dieser Perspektive die Frage nach dem epistemischen Code, der im europäischen Diskurs – im Unterschied zu anderen Diskursen – diese Transformation von Vorstellungen in Wissen regelt, so ist er in seiner einfachsten Gestalt das logische Gesetz, das im Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ausgedrückt ist. Nach diesem Gesetz finden Vorstellungen, die sich als alogisch oder widerlogisch erweisen, im System des Wissens keinen Platz, und sind daher Berufungen auf andere Instanzen, Tradition, Intuition oder Inspiration, nur legitim, wenn sie vor dem ›Richterstuhl der Logik‹ Bestand haben. Es benennt die allgemeine Exklusions- bzw. die Inklusionsregel, nach der Vorstellungen in den Diskurs des europäischen Denkens Einlass finden. Insofern ist, was – zustimmend oder ablehnend – als »Logozentrismus« bezeichnet wurde, das allgemeinste Charakteristikum des europäischen Denkens, das ihm zukommt, seit Parmenides formuliert hatte, dass Widersprechendes nicht gedacht werden kann und daher nicht ist. Die zweite wesentliche Eigentümlichkeit des europäischen Denkens besteht darin, dass die Geltung des epistemischen Codes geschichtlich bedingt ist. Während in den mythischen Denkweisen das Wissen in der Form einer Erzählung besteht, die auslegt, was »am Anfang« war, und was immer ist und sein wird, ist der Code des europäischen Denkens das Produkt einer eigenständigen epistemologischen Tätigkeit. Das ›neue‹ Logos-Denken hat sich im Bruch mit dem ›alten‹ Mythos-Wissen konstituiert. Es ist daher wesentlich geschichtlich. Mit dieser Historizität aber hat sich uns als Beobachter das grundlegende Problem seiner epistemologischen Rekonstruktion gestellt: einerseits erfüllt der epistemische Code seine Funktion nur, wenn er schlechthin gilt, da er nur dann eine Transformation von Vorstellungen in Wissen gestattet; andererseits ist der europäische Code entstanden, und sein spezifischer Gehalt hängt von vorher2
704
Wittgenstein 1971, 363.
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
»Die Vernunft« als der epistemische Code des europäischen Denkens
gehenden Vorstellungen, Gedanken und Reflexionen ab, die zur Codifizierung geführt haben. Dieses Gedoppelte, das Unbedingte der Geltung und das Bedingte der Genese, sowie das ›Umschlagen‹ der Genese in Geltung haben wir die »epistemologische Meta-Ebene« genannt, auf der die Codifizierung geschieht, und haben den Doppelcharakter in Frage gekleidet: »Wie geschieht es, dass gewisse Gedanken oder Vorstellungen als Wissen konstituiert werden?« Dieser Doppelcharakter hat sich uns exemplarisch am Beginn der Untersuchung gezeigt: es war Heraklit, der sagte, Wissen bestehe darin, nicht auf ihn, sondern den Logos zu hören. Dieser so genannte »Satz vom Logos« stellt zum einen eine Aussage dar, deren Sinn und Bedeutung von Umständen abhängen und aus Überlegungen resultieren, zum anderen jedoch ist er die sprachliche Form eines epistemischen Gesetzes, nach dem Vorstellungen in Wissen transformiert werden. Heraklit war daher beides: ›epistemischer Richter‹ und ›epistemischer Gesetzgeber‹; er wandte das Gesetz an und stellte es doch zugleich auf. Diese Doppelfunktion des Epistemologen hat Kant dann in die Figur des »Ideals des Philosophen« gefasst, der als Richter dem epistemischen Gesetz unterworfen ist und von ihm Gebrauch macht, der als Epistemologe aber der »Gesetzgeber der menschlichen Vernunft« 3 ist. Da nun aber der Code des europäischen Denkens das Produkt einer epistemischen Gesetzgebung ist, gibt es dort auch das »Ideal des Philosophen«, der nicht nur nach dem Code urteilt, sondern ihn festlegt und zum verbindlichen Gesetz erhebt. Die Suche nach diesem »Ideal«, das für Epochen des europäischen Denkens bestimmend und prägend war, hat unsere Auswahl der Philosophen bestimmt. Unsere Rekonstruktion war daher nicht geschichtlich angelegt. Sie hat weder aus der Perspektive der Gegenwart den Traditionszusammenhang des europäischen Denkens in seiner zeitlichen und räumlichen Vielfalt verstehend nachvollzogen noch hat sie ihn, sei es affirmativ als Entfaltung der Vernunft oder kritisch als Entfernung vom Ursprung, gedeutet. Sie richtete sich vielmehr auf die Grundsätze, die in der Form des epistemischen Codes verbindlich für die Herstellung von Wissen gemacht wurden. Sie war also auf die »epistemologische Metaebene« konzentriert, auf der diese Sätze codifiziert werden. Mit dieser Aufgabenstellung konnten wir uns zwar der These 3
KrV B 867 (H. v. m.). A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
705
Schluss
anschließen, dass es »das Logische« oder »die Vernunft« sei, dem das europäische Denken in epistemischer Hinsicht gefolgt ist; nicht aber der Ansicht, dass im europäischen Denken die Vernunft selbst zu ihrer Entfaltung gekommen ist. Wir waren vielmehr der Auffassung, dass es im europäischen Denken gewisse Typen gegeben hat, die verbindlich festlegten, was die Vernunft und was ihr Gesetz ist, und wie es anzuwenden sei. Wir haben daher keine Kontinuität der Entwicklung, sondern epochale Brüche und Neucodierungen in der Genese dieser Wissensformation angenommen.
B.
Die Begriffe »Autonomie« und »Autorität«
1. Die zwei Begriffe, mit denen wir diese Codierungen des europäischen Denkens rekonstruiert haben, waren Autonomie und Autorität. Sie dienten uns zunächst dazu, die ›innere Logik‹ der griechischen und der römischen Art der Wissensbegründung als der zwei Quellen des europäischen Denkens zu rekonstruieren. Hinsichtlich der griechischen Epistemologie haben wir den Autonomiebegriff als Leitfaden verwendet, um sie als gemeinsames Projekt der epistemischen Neucodierung zu rekonstruieren. Die drei epistemischen Funktionen des Gesetzes, das die Transformation von Vorstellungen in Wissen anleitet, des Grundes, in dem die epistemische Geltung des Gesetzes verankert ist, sowie der Kraft, durch die das Gesetz die epistemische Verbindlichkeit besitzt, wurden in ein Subjekt verlegt. In den Sätzen der ersten Philosophen, mit dem »Satz vom Wasser« beginnend, haben die Autoren dieser Sätze die drei epistemischen Funktionen in ihrer Person vereinigt: Thales selbst war epistemischer Gesetzgeber und begründende Instanz, und der Satz hatte für ihn – nicht aber für die Nachfolger – Verbindlichkeit. Erst der »Satz vom Seienden« vollzog die epistemologische Wende: nicht Parmenides als Autor des Satzes war die begründende Instanz, sondern »die Göttin«, die auf »unsterbliche Weise« Wissen codiert: das autonome, alle Heteronomie ausschließende Subjekt, das als der epistemische Grund selbst das Gesetz gibt und dessen Verbindlichkeit bewirkt. Mit dem »Satz vom Logos«, den Heraklit formulierte, erhob dieser dann »das Eine« zum epistemischen Code, das durch sein Gesetz, den Logos, zugleich in allem die epistemische Verbindlichkeit bewirkt. – Auf der Grundlage dieses Codes haben wir dann die Philosophien Demokrits und Platons als einander entgegen706
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Begriffe »Autonomie« und »Autorität«
gesetzte Konzeptionen rekonstruiert. Die eine gründete die Wissenschaften auf die Kraft der Notwendigkeit, durch die alle Vorstellungen in Wissen transformiert werden; die andere auf die ordnende Kraft des Nous, der die epistemische Verbindlichkeit bewirkt. Beiden Konzeptionen war der Code der Autonomie gemeinsam: das Eine, das durch sein Gesetz in allem wirkt; sie gaben aber auf das Wie entgegengesetzte Antworten: nach mechanischen Gesetzen oder aus einem vernünftigen Grund. In dieser Aporie sahen wir das Ende des ›Projekts Autonomie‹, das den Logos als epistemischen Code etabliert hatte. In vergleichbarer Weise diente uns der Begriff der Autorität dazu, den römischen Diskurs als die andere Quelle des europäischen Denkens zu rekonstruieren, der sich – im Unterschied zum griechischen – durch Kontinuität und Beständigkeit auszeichnete. Diese Dauerhaftigkeit haben wir durch die »auctoritas maiorum« als epistemischen Code erklärt. In dieser Wissensformation besaßen die Gründer die epistemischen Funktionen. Ihnen kam als den Erbauern der »res romana« das Wissen zu; die Gesetze, nach denen Vorstellungen in Wissen transformiert wurden, existierten in den Institutionen, Sitten und Einrichtungen, die von den maiores geschaffen waren; und diese Gesetze erhielten ihre epistemische Verbindlichkeit durch ihre freiwillige Anerkennung als höchster Autorität. Hier geschah die Herstellung von Wissen nicht durch Rekurs auf den Logos, sondern im personalen Bezug der Repräsentation, in der Vergegenwärtigung der Gründung der res romana. Durch diese Rückbindung des Wissens an den Anfang haben wir die Dauerhaftigkeit der römischen Denkweise erklärt. Erst mit der Begegnung der beiden Wissensformationen setzte, im Westen des römischen Reiches, der Vorgang der epistemologischen Reflexion auf die zwei Codes, Autonomie und Autorität, ein, der sie in ein teils ausschließendes, teils einschließendes Verhältnis setzte. Entscheidend für unsere Rekonstruktion war Augustin, dessen Reflexionen nicht nur historisch am Ende der mediterranen Antike und am Beginn des sich formierenden Europas stattfanden, sondern die die beiden Codes auch epistemologisch in ein Verhältnis gesetzt haben, das zum tragfähigen und dauerhaften Code für das lateinisch-abendländische Europa wurde. Er transponierte den griechischen logo@ und die römische auctoritas ins Christliche und deutete sie zunächst als die zwei ›Kräfte‹, die den Menschen zur Erkenntnis des Göttlichen führen; er gab dann aber dem Göttlichen selbst A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
707
Schluss
eine Trinitätsstruktur, die die Idee selbstbezüglicher Autonomie mit der Idee personaler Autorität zum neuen Code verband. Augustin deutete die Person des Vaters als den Grund alles Wissens, die Person des Sohnes als dessen gezeugtes Wort und den Heiligen Geist als die Kraft der Liebe, die das untrennbare Zusammen von Vater und Sohn darstellt. In diesem Trinitätsmodell ist Gott das eine autonome Subjekt, das zugleich in sich das personale Autoritätsverhältnis enthält. Während der griechisch-östliche Diskurs einem anderen Trinitätskonzept, dem der drei Hypostasen, folgte, wurde Augustins Modell des dreieinigen Gottes der verbindliche Code im westlich-lateinischen Diskurs. Hinsichtlich der Neucodierung des neuzeitlichen Denkens durch René Descartes ergab sich uns der einfache Gedanke, dass der »Sohn Gottes« in gewisser Weise zum »Ich« säkularisiert wurde. Descartes sprach dem Menschen selbst den reinen Geist zu, der im Besitz des epistemischen Gesetzes ist, das Vorstellungen in Wissen transformiert: das Kriterium der klaren Einsicht. Für Descartes ist daher das Ich selbst autonom, weil sein Denken selbst die Ursache der Einsicht ist. Um jedoch das klar Eingesehene auch als ein wahres Urteil anzunehmen, dazu bedarf es der Anerkennung der Autorität Gottes als dem Grund aller Wahrheit. Daher folgt das »Ich« im Streben nach der Klarheit seiner Einsichten zugleich dem gesetzgebenden Willen Gottes. Es weiß sich zur Aufklärung berufen. Die Philosophie Kants schließlich haben wir als Epistemologie der Moderne rekonstruiert, die auf der Trennung von Wissenschaft und Moral, von Sein und Sollen beruht. Zwar folgt Kant dem »Ich« Descartes’ als reinem Geist; aber er begreift ihn als transzendentales Subjekt und unterscheidet zwischen der Autonomie des Willens, dem das epistemische Gesetz durch die reine Vernunft gegeben ist, und der Spontaneität des Verstandes, der durch seine reinen Begriffe nur in Bezug zur sinnlichen Anschauung erkennt. Demnach unterliegen für ihn Moral und Naturwissenschaften zwei verschiedenen epistemischen Gesetzgebungen. – Die Begründung für diese Verschiedenheit der Gesetzgebung gibt Kants Anthropologie mit ihrer Lehre von der Doppelnatur des Menschen: Einerseits besitzt der Mensch das wahre Gesetz in seiner ursprünglichen Anlage zum Guten, als deren Ursache wir den unbegreiflichen Gott als die Autorität rekonstruiert haben, die den Menschen zum Guten beruft. Andererseits aber besitzt er den Hang zum Bösen und eine ›verderbte Natur‹, die er sich durch eigene Tat selbst zugezogen hat; und sein Verstand vermag 708
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Die Begriffe »Autonomie« und »Autorität«
daher nur zu erkennen, was ihm sinnlich gegeben ist. Die Auflösung dieser Doppelnatur des Menschen sieht Kant nun im geschichtlichen Kampf des guten Prinzips gegen das böse, in dem sich der Mensch aus eigener Kraft zu dem macht, was er sein soll, und der mit der Herrschaft der Gesetzes im künftigen Vernunftreich auf Erden endet. Kants Epistemologie folgt so der Vernunft als epistemischem Code, aber sie ist rein praktisch. Sie nennt als Handlungsziel das Gute, das die Menschheit als epistemisches Subjekt aus eigener Kraft wirklich machen soll. Kant konzipiert demnach die Vernunft geschichtlich als einen Fortschritt, die ihre Wirklichkeit daher erst im künftigen Vernunftreich hat. 2. Betrachtet man diese Epistemologien als Typen der Logifizierung, die das Denken der jeweiligen Epoche epistemisch geprägt haben, so lassen sich im groben Umriss drei Muster ausmachen. In der Antike war das Programm der Logifizierung auf die rationale Durchdringung des ethisch-politischen Lebens gerichtet. Es fand schließlich in der Verbindung mit der römischen auctoritas in der Person des Imperators seinen angemessenen Ausdruck, durch den die unterschiedlichen Völker und Kulturen unter einer einheitlichen, allgemeinen und verbindlichen Gesetzgebung verbunden waren. Die spätantike pax Romana war der politische Ausdruck der Herrschaft der universalen und alles verbindenden Vernunft über das Partikulare und Trennende. – Die Epoche des europäischen Mittelalters kehrte die Logifizierung gleichsam um. Die erfahrbare Lebenswelt wurde nicht mehr als Ort und Abbild der Vernunft begriffen, sondern als das Reich der Gottesferne, das sein Ziel und seine Erfüllung im jenseitigen Vernunftreich des dreieinigen Gottes hat. Diese Beziehung der Erfahrungswelt zum Transzendenten fand ihren ethisch-politischen Ausdruck in der Autorität der Kirche als der Mittlerin zwischen den beiden Reichen und der Wegweiserin zum Gottesreich und ihren sinnfälligen Ausdruck in den sich vom Materiellen zum Ideellen erhebenden Gotteshäusern. – Mit dem Beginn der Neuzeit kehrte sich die Richtung der Logifizierung erneut um; nun wurde der menschliche Geist, erst als cartesisches »Ich«, dann als das »ethische Gemeinwesen« Kants, zum Mittler zwischen dem Vernunftreich und der Erfahrungswelt. Doch die Logifizierung der Erfahrungswelt wurde nicht mehr als Abbild einer erkennbaren oder offenbarten Vernunftordnung gedeutet, sondern wurde als Berufung des Menschen aufgefasst, die geistferne Lebenswelt durch eigenes Handeln vernünftig zu machen. Diese Berufung fand ihren ethisch-politischen A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
709
Schluss
Ausdruck in den modernen Revolutionen, die den Menschen als autonomes Handlungssubjekt freigesetzt und zum Träger ursprünglicher und gleicher Rechte gemacht haben, sowie in der Dynamik der modernen Wissenschaften und Technologien, die auf die logische Durchdringung und technische Kontrolle der äußeren wie inneren Erfahrungswelt gerichtet ist. Als Symbole dieser modernen Logifizierung sind an die Stelle der Gotteshäuser die Laboratorien getreten, in dem der menschliche Geist den gegebenen Stoff paradigmatisch nach den Regeln der Vernunft zurichtet. Hier treffen die drei Prinzipien zusammen, die Kants Epistemologie formuliert hat: das antispekulative Diesseitsinteresse des Geistes an der Erkenntnis der erfahrbaren Natur, das technische Interesse des Verstandes an der Beherrschung der äußeren wie inneren Natur sowie das moralische Interesse der Vernunft, die Welt durch das Bessermachen gut zu machen.
C. Resultate und Perspektiven der Untersuchung 1. Stellt man die Resultate der vorliegenden Studien in den Wissenschaftskontext, erscheinen dem Autor die Schwierigkeiten des Lesers verständlich, einen Gewinn aus der Lektüre zu ziehen. Denn unter dem Gesichtspunkt einer historischen Rekonstruktion des europäischen Denkens ist die Studie zweifellos fragmentarisch geblieben. Das betrifft nicht nur die Auswahl der Philosophen und Denksysteme, sondern auch die Verwendung der Begriffe »Autonomie« und »Autorität« zur Rekonstruktion des europäischen Denkens. Statt dessen Kontinuität und und behauptete Identität einsichtig zu machen, scheint die Arbeit eher aus Monographien und Einzelanalysen zu bestehen. Unter hermeneutischen Gesichtspunkten hingegen müssen die Interpretationen unter dem Begriffspaar »Autonomie und Autorität« in wesentlichen Punkten als verkürzt oder überzogen und einem angemessenen Verständnis der behandelten Autoren als wenig förderlich erscheinen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Kritik dieses Denkens muss der eingenommene Standpunkt des bloßen Beobachters als wenig ergiebig erscheinen, da aus ihm doch nichts Eigenes oder Neues folgt. So mag der Leser am Ende dem einen oder anderen Aspekt etwas abgewinnen; als ein Ganzes aber stellen sich die Studien dem Leser doch eher als ein Stückwerk dar. Angesichts der Nachvollziehbarkeit solcher Einwände erscheint 710
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Resultate und Perspektiven der Untersuchung
es mir als erforderlich, gleichsam als Nachwort, die eingenommene Perspektive auf den Gegenstand nicht nur einzunehmen, sondern auch zu rechtfertigen, da ohne sie der Zusammenhang der Teile kaum einsichtig wird. Das von uns gewählte Verfahren einer »epistemologischen Rekonstruktion« ist nicht zuletzt durch die Kritik an den Methodologien begründet, die den genannten Einwänden zu Grunde liegen. Diese Kritik gilt es, verständlich zu machen. Will die Erforschung des europäischen Denkens mehr sein als die sorgfältige Archivierung des überlieferten Textbestandes, sondern sucht sie, Zusammenhänge und Verbindungen herzustellen und Unterscheidungen zu treffen, um das Überlieferte für uns heute verstehbar zu machen, dann mag diese Methode für ein geschichtliches Verständnis zutreffen, in epistemologischer Hinsicht erweist sie sich jedoch als Tautologie. Denn wenn zur Erforschung dieses Denkens Regeln wie die »Exaktheit der Begriffe«, die »Begründ- und Überprüfbarkeit« von Aussagen oder ihre »Kohärenz« als Maßstäbe der Erforschung und Beurteilung verwandt werden, dann erhalten diese Regeln ihre Bedeutung und ihren Sinn aus eben der Tradition, die mit ihnen doch erst untersucht werden soll. Ein solch regelgeleitetes Verfahren nimmt an dem von uns beschriebenen Vorgang der Logifizierung teil, der doch Gegenstand der Untersuchung sein soll. Diese Methode setzt folglich denjenigen epistemischen Code als selbstverständlich voraus, um dessen Genese es doch gehen müsste, und verfährt tautologisch, weil sie den Gegenstand auf eine Weise erforscht, die dem Gegenstand selbst entspringt. Sie denkt von vornherein die Geschichte des europäischen Denkens europäisch. Für uns folgte daraus, einen Standort jenseits dieser Selbstbezüglichkeit zu gewinnen. Auf ähnliche Weise stellt sich auch dem hermeneutischen Verfahren dieses Problem der Selbstbezüglichkeit. Denn wenn es richtig ist, dass aus den Texten der von den Autoren gemeinte Sinn in dem Maße erschlossen werden kann, in dem dieser Sinn schon verstanden ist, dann setzt die hermeneutische Methode eine Art der Übereinstimmung der Bedeutung der Wörter und des sinngebenden Kontexts für Autor und Rezipienten voraus, die das Verstehen ermöglicht. Hans-Georg Gadamer hat diese Übereinstimmung den »Wirkzusammenhang« einer Verstehen stiftenden Tradition genannt. Zwar erlaubt dieser geschichtliche Vorgang des Bedeutungsund Sinntransports durch die kontinuierliche Praxis der Aneignung und Rezeption vergangener Texte das Verstehen, aber er macht dieA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
711
Schluss
ses Verstehen gleichfalls zu einer großen Tautologie. Denn eine Hermeneutik des europäischen Denkens bewegt sich immer schon im europäischen Denken. Sie gewinnt keine Distanz zu diesem Denken. Mit diesem Einwand sieht sich aber auch das Verfahren der Kritik dieses Denkens konfrontiert; zumindest dann, wenn es den Maßstab und die Kriterien zur Beurteilung ihres Gegenstandes eben der Tradition entnimmt, die sie kritisiert. Insofern ist jede Kritik der Vernunft, die den Maßstab ihrer Kritik selbst der Vernunft entnimmt, tautologisch. Sie destruiert so nur eine vorhandene Gestalt der Vernunft im Namen der ›wahren Vernunft‹ als ›unwahre Vernunft‹ ; sie verbleibt aber in eben dem Medium, das das europäische Denken charakterisiert. Für uns folgt daraus, dass eine Untersuchung des europäischen Denkens auch nicht ›kritisch‹ angelegt sein kann. Angesichts dieser Einwände gegen das Tautologische dieser Methoden scheint es angemessener zu sein, die Erforschung und Beurteilung des europäischen Denkens im Horizont einer anderen Denktradition und Wissensformation vorzunehmen, um es aus der Perspektive des Außenstehenden in seiner Eigentümlichkeit in den Blick zu nehmen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine Studie über die Genese des europäischen Denkens aus einer solchen Perspektive als kohärenter erscheint, weil die Voraussetzungen, die in den europäischen Diskurs eingehen, so deutlicher gemacht werden können. Jedenfalls entginge sie dem Zirkel, den Gegenstand mit Begriffen zu erfassen, die ohne ihn gar nicht verwandt würden. – Doch diese Alternative muss aus dem entgegengesetzten Grund als unangemessen erscheinen. Denn es mag zwar von diesem Standort aus gelingen, das Merkwürdige und Eigentümliche des europäischen Denkens wahrzunehmen; aber die Kategorien, mit denen es beschrieben wird, gehören ihm nicht selbst an. Sie sind fremde Kategorien, die ihre Bedeutung und ihren Sinn nur in dem Kontext haben, dem sie entstammen. Sie verfehlen deshalb das Eigentümliche ihres Gegenstands, und ihre Zuordnungen sagen weniger über das europäische Denken als über die jeweilige Perspektive auf dieses Denken aus. So geben denn die beliebten Zuordnungen vieler außereuropäischer Denker, die der diesseitig-materialistischen Orientierung des westlich-europäischen die geistig-spirituelle Orientierung des östlichen Denkens gegenüberstellen, mehr über die kategorialen Schemata dieses Denkens Auskunft als über die Eigenschaft des Denkens, über das sie ihr Urteil fällen. Als Weg zwischen der Skylla der Tautologie und der Charybdis 712
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Resultate und Perspektiven der Untersuchung
der Heterologie haben wir unseren Ort der epistemologischen Rekonstruktion des europäischen Denkens betrachtet. Von ihm aus sollte weder historisierend der Frage nachgegangen werden, wie das europäische Denken zu dem werden konnte, was es heute ist, noch ontologisierend die Frage beantwortet werden, was die wesentlichen Merkmale dieses Denkens sind, durch die es sich von anderen Formationen unterscheidet. Sie sollte vielmehr die von uns eingangs gestellte Frage beantworten, wie es geschah, dass in dieser Region der Erde bestimmte Gedanken oder Vorstellungen verbindlich wurden und den epistemischen Status von Wahrheit angenommen haben. Die Beantwortung dieser Frage, so scheint uns, entkommt dem Dilemma, dieses Denken entweder mit eigenen oder mit fremden Begriffen zu erklären. Sie nimmt den Standpunkt des Beobachters ein, der die Transformation bedeutungsvoller Sätze in Wahrheiten, in epistemische Grundsätze, nachvollzieht. Akzeptiert man die Möglichkeit und die Wahl dieses Standortes einer epistemologischen Rekonstruktion, dann erscheinen uns die zwei Grundannahmen nachvollziehbar, die der vorgelegten Arbeit zu Grunde liegen. Die eine betrifft das Kriterium der Auswahl der behandelten Autoren. Diese Auswahl setzt voraus, dass es in der Geschichte des europäischen Denkens nur begrenzt viele Denker gab, deren Gedanken zu epistemischen Grundsätzen wurden, die also für das Denken Verbindlichkeit erhielten und den epistemischen Diskurs prägten. Augustin als Vater der abendländischen Kirchen, Descartes als Begründer der neuzeitlichen Wissenschaften und Kant als noch immer unabgegoltener Repräsentant der Moderne scheinen uns dieses Kriterium erfüllt zu haben, weil sie im europäischen Diskurs die Maßstäbe und Bezugspunkte sowohl der Zustimmung als auch der Kritik gesetzt haben. Diese Auswahl ist sicher nicht reduzierbar; sie wäre vielleicht zu erweitern gewesen – wenn dabei nicht der Leitgedanke verloren ginge, nicht aufzuzählen, was es gab, sondern zu rekonstruieren, wie gewisse Gedanken zu verbindlichem Wissen gemacht wurden. Die zweite Grundannahme betrifft die Wahl der Begriffe Autonomie und Autorität. Sie sollte keine Vorentscheidung über einen ›Grundkonflikt‹ im europäischen Denken treffen und auch kein Raster für die Zu- und Einordnung von Denkern und Gedanken bereitstellen. Sie war vielmehr durch die Überlegung begründet, dass die Idee von der einen und selbstgesetzgebenden Vernunft, wie sie die griechische Philosophie entwickelt und als epistemischen Code aufA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
713
Schluss
gestellt hatte, nicht durch sich selbst diejenige Verbindlichkeit erhalten hat, die sie postuliert hatte; es musste die römische Idee der Autorität hinzukommen, um für das Denken die Verbindlichkeit zu erlangen, die sie erlangt hat. Begründete die Idee der Autonomie am Maß des Logischen die Kritikfähigkeit und Reflexivität des epistemischen Diskurses, wie wir sie im ersten Teil unserer Arbeit nachvollzogen haben, stellte die Idee der Autorität durch den Rekurs auf die Person die Verantwortlichkeit und die Verbindlichkeit des Denkens her. Erst durch die Verbindung dieser zwei zunächst ganz verschiedenen Arten, Wissen zu begründen, wurde die Vernunft zum Code, der das europäische Denken epistemisch prägte. Und eben dieser Verbindung und Beziehung von selbstbezüglicher Reflexivität und personaler Bezüglichkeit sind wir in der augustinischen Theologie, der cartesischen Grundlegung der Wissenschaften und der kantischen »teleologia rationis humanae« als epochalen Grundmustern des europäischen Denkens nachgegangen. Von dem von uns gewählten Zugang zum europäischen Denken hängen denn auch die Urteile über die Ergebnisse der Arbeit ab. Was dem Historiker hinsichtlich der Philosophie Platons als unangemessene Verkürzung des Gesamtwerks erscheinen mag, erweist sich unter dem Gesichtspunkt ihrer epistemologischen Rekonstruktion als nachvollziehbar: das Konzept der ›guten Ordnung‹ konnte nicht die Verbindlichkeit erlangen, weil ihm das Konzept der ›Notwendigkeit‹ entgegenstand. Während dem Hermeneutiker angesichts des Gesamtwerks Augustins die Konzentration auf die Theologie als einseitig erscheint, ist es aus epistemologischer Perspektive die Leistung Augustins, die Ideen der Autonomie und der Autorität im dreieinigen Gott verbunden und die Vernunft in dieser Weise verbindlich gemacht zu haben. Was dem systematischen Philosophen in Hinsicht auf die grundlegenden Schriften Descartes’ als eine verstiegene Deutung erscheinen mag, wird aus epistemologischer Sicht zentral: das »Ich denke« als Fundament der Wissenschaften kann nur verbindlich gemacht werden, wenn zugleich an den »guten Gott« geglaubt wird. Auf wie vielfältige Weise man sich der kantischen Philosophie auch nähern kann – aus der von uns gewählten Perspektive stellte sich nur die Frage: wie hat Kant seine Annahme epistemologisch begründet, Moral und Natur seien ganz verschieden? Seine Antwort war die Darstellung von der Berufung des Menschen. 2. Stellt man über das Methodische und die innere Kohärenz des vorliegenden Werkes hinaus die Frage nach dem Sinn dieser Arbeit, 714
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Resultate und Perspektiven der Untersuchung
so hat sie ein zweifaches Anliegen verfolgt. Es ist zum einen der – unter den Globalisierungsbedingungen angemessene – Versuch, der ›Verabsolutierung‹ der eigenen Tradition zum Paradigma des wissenschaftlichen Diskurses durch den distanzierten Nachvollzug zu widerstehen. Das europäische Denken, so der Sinn, ist auch nur eine Art, Wissen zu begründen. Insofern sind die Studien dem Motto Wittgensteins gefolgt: »Alles, was die Philosophie tun kann ist, Götzen zerstören. Und das heisst, keine neuen – etwa in der ›Abwesenheit eines Götzen‹ – zu schaffen.« 4 So wohlfeil hierbei freilich die Einlösung der ersten Aufgabe ist, der das europäische Denken, angefangen von Thales’ Sturz der alten Götter über Augustins Kampf gegen die heidnischen Götzen bis zu den ›Gottesmördern‹ Kant und Nietzsche, eifrig nachgekommen ist, so unmöglich scheint die Einlösung der zweiten Aufgabe zu sein. Geschieht doch die Zerstörung der Götzen ›im Namen‹ eines neuen oder anderen Gottes. Um dem zu entgehen, haben wir uns sowohl des affirmativen wie des kritischen Urteils über das europäische Denken enthalten, weil doch das eine Urteil der Philosophie nicht gerecht würde, das andere aber nur wieder neue Götzen errichtet. Wir haben uns aus diesem Grund auch nicht an der Suche beteiligt, hinter diesem Denken ein waltendes Prinzip zu entdecken – sei es im Sinn der Affirmation die Vernunft, die in ihm ›zu ihrer Entfaltung‹ gekommen sei, sei es im Sinn der Kritik der ›Abfall‹ vom Ursprung, die ›Abwendung‹ vom Sein oder der ›Wahn‹, die eigenen Begriffe für wahr zu halten. Unsere Enthaltung des Urteils war aber auch gegen die ebenso wohlfeile Behauptung gerichtet, dass heute von einer »Identität« nicht mehr gesprochen werden könne und damit gegen das Verfahren der Dekonstruktion, das nur vermeintlich Identische eines Diskurses in eine identitätslose Reihung von mehr oder weniger interessanten Gesprächen und Texten aufzulösen. Dieser Methode der Dekonstruktion entgegen war unser Verfahren einer epistemologischen Rekonstruktion auf die Suche nach dem »Identischen« gerichtet, das wir freilich nicht als ein wirkendes Prinzip ›hinter‹ diesem Denken beschrieben haben, sondern als Praxis der epistemischen Codierung, die das europäische Denken in je spezifischer Weise geprägt hat. Was sich unserer Rekonstruktion dieses Identischen allerdings als Resultat ergeben hat, war die Erklärung des geschichtlich konstatierbaren universellen und imperialen Charakters, den das europäi4
Big Typescript; zit. nach: Kenny 1994, 320 A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
715
Schluss
sche Denken seit der Neuzeit angenommen hat, aus der Struktur der »Berufung«, die uns die Analyse der cartesischen und kantischen Epistemologie gezeigt hat. Daher muss, um den imperialen Charakter dieses Denkens zu verstehen, die Idee der Autonomie um die Idee der Autorität ergänzt werden. Doch diese Erklärung wertet nicht. Sie hat ihn weder auf die offensichtliche ›Wahrheit‹ eines solch aufklärenden Denkens zurückgeführt noch in ihm den ungebändigten Willen zur Macht am Werke oder das maßlose Streben nach Profit in Gang gesetzt gesehen. Sie hat nur darauf verwiesen, dass das moderne Denken sich dem Anspruch auf Universalität verpflichtet und im Anspruch auf Wahrheit durch Rekurs auf eine ›höhere Instanz‹ legitimiert weiß. Zum anderen liegt der Sinn der Arbeit im Angebot für ein sinnvolles Gespräch zwischen den Kulturen. Denn wenn man davon ausgeht, dass der Austausch der Kulturen über ihre Grundlagen und epistemischen Fundamente bislang darunter leidet, dass die Partner des Gesprächs in ihren jeweiligen ›Codes‹ befangen sind, die, undurchschaut, sowohl die Bedeutung der kommunizierten Wörter als auch den epistemischen Gehalt der Aussagen prägen, dann muss es im Sinne eines gelingenden Gesprächs als ein Desiderat erscheinen, die jeweiligen Codes selbst zum Gegenstand zu nehmen und sie aus der Distanz ›aufzuschlüsseln‹. Angesichts der intensivierten und konfliktreichen Beziehungen zwischen den Kulturen ist das damit bezeichnete Verfahren einer epistemologischen Rekonstruktion plausibel und legitim, vielleicht sogar erforderlich. Nun kann freilich durch den Verweis auf das Anliegen der Arbeit nicht über Richtigkeit der Resultate der Studien entschieden werden. Sie haben jedoch die eigene, europäische Tradition ernst genommen und sind sowohl gegen das Selbstgefällige geschrieben, den eigenen Diskurs zu überhöhen und Fremdes nur da gelten zu lassen, wo es den eigenen Codes genügt, als auch gegen die Art äußerlicher Etikettierungen, die dem europäischen Denken – missbilligend oder bewundernd – zugeschrieben werden. Sie sind der Genese der eigenen Denktradition sine ira et studio nachgegangen. – Mit der Konzentration auf diese Codes haben sie sich implizit auch gegen die gut gemeinte, aber voreilige Versuchung zum ›Vergleich der Kulturen‹ gewandt, da ein solcher Vergleich doch so lange abstrakt bleiben muss, so lange nicht ihr ›harter Kern‹ präsent ist, nach dem das im Gespräch Vernommene jeweils bedeutungsvoll strukturiert und epistemisch qualifiziert wird. Ohne die Arbeit an der Erkenntnis dieser 716
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Resultate und Perspektiven der Untersuchung
verschiedenen Codierungen dürfte ein Diskurs über das Gemeinsame in allen Kulturen methodisch abstrakt, semantisch vage und epistemisch belanglos bleiben. Wenn um dieses Gesprächs der Kulturen willen die Ergebnisse der Studie über das europäische Denken der Kritik unterzogen werden, so kann die Kritik nur erwünscht sein. Sie war jedenfalls von der Überzeugung getragen, dass es für diesen Zweck kontraproduktiv ist, den eigenen Diskurs als den Hort der Vernunft zu feiern, dass es gleichwohl zum Verständnis dieser Denkweise nicht hinreicht, die »westliche« Philosophie der Gegenwart zu rezipieren, die morgen doch schon wieder anders ist als heute; sondern dass ihrer Genese nachzugehen ist, durch die sie sich in Etappen der Kritik und Selbstkritik zu der Wissensformation gebildet hat, die in der heutigen Welt dominant geworden ist. Insofern hat die Arbeit Neuland betreten. Ihr lag die Überzeugung zu Grunde, dass es die heutige Aufgabe der Philosophie ist, sich aus der Distanz über die Fundamente des eigenen Denkens aufzuklären, und sie hat hinsichtlich dessen Genese nachvollziehbare und plausible Hypothesen formuliert, die der Vertiefung und Erweiterung, aber auch der kritischen Prüfung harren.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
717
https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke:
I.
Wenn nicht anders vermerkt, werden die folgenden Autoren im Original zitiert nach:
Platon: Aristoteles: Cicero: Tertullian: Augustin: Kant:
II.
Platonis opera, hg. von Burnet, Oxford 1953. Aristotelis opera, hg. von I. Bekker, O. Gigon, Berlin 1960. Cicero in 28 Volumes, Cambridge 1977. Quinti Septimii Florentis Tertulliani quae supersunt omnia, hg. von F. Oehler, Leipzig 1880. Corpus Christianorum – Series Latina, Bde. XXVII–LVII, 1981. Kants gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff. [Siglen: s. u.].
Verzeichnis der zitierten Werke:
Adam, K. 1960: Das Zeugnis der Apostel von der Auferstehung Jesu. In: Ristow 1960, 170–180. Adcock, F. E. 1961: Römische Staatskunst, Göttingen. Adler, M. 1924: Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Kritizismus, Wien. Adorno, Th. W.: 1973 ff.: Gesammelte Schriften (GS), hg. von R. Tiedemann, Frankfurt/Main. – 1991: Minima Moralia. Reflexionen aus einem beschädigten Leben, Frankfurt/ Main. – 1999: Wozu noch Philosophie? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3 (DZfPh), Heft 47, Berlin, 481–488. Alfaric, P. 1918: L’evolution intellectuelle de Saint Augustin, I: Du Manichéisme au Néoplatonisme, Paris. Alfieri, V. E. 1953: Atomos Idea. L’origine del concetto dell’atomo nel pensiero greco, Florenz. Allen, R. E. 1983: Plato’s Parmenides. Translation and Analysis, Minneapolis. Allison, H. E. 1990: Kant’s Theory of Freedom, Cambridge. Alquié, F. Bemerkungen zur Interpretation des Descartes entsprechend der Ordnung der Gründe. In: Keutner 1993, 29–49. Altheim, F. 1929: Persona. In: Archiv für Religionswissenschaft 27, 1929, 35–52. Ambrosius 1955: Sancti Ambrosii Opera, partes VII, IX (CSEL, Vol. 73, 79), Wien. Andresen, C. 1961: Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen PersonA
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
719
Literaturverzeichnis der zitierten Werke begriffes. In: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, Bd. 52, Berlin. – 1999: A. M. Ritter, Die Anfänge der christlichen Lehrentwicklung. In: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 1, Göttingen. Angehrn, E. H. 1992: Fink-Eitel, Chr. Iber, G. Lohmann (Hg) Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main. Arendt, H. 1929: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin. – 1957: Was ist Autorität? In: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt/Main. – 1983: Vita activa, München 1983. Aristoteles 1969: Nikomachische Ethik, hg. von F. Dirlmeier, Stuttgart. – 1970: Metaphysik, hg. von F. Schwarz, Stuttgart 1970. – 1995: Über die Seele, hg. von H. Seidl, Hamburg 1995. Athanasius 1913: Orationes contra Arianos. In: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 13, 17–387. Augustinus, A. 1936: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit, 1. und 2. Bd., hg. von M. Schmaus, München [de Trin.]. – 1970: Bekenntnisse, hg. von W. Thimme, Zürich. – 1976: Retractationen, hg. von C. J. Perl, Paderborn. – 1978: Vom Gottesstaat (de civitate Dei), 2 Bde, hg. von C. Andresen, München [de civ. Dei]. – 1983: de vera religione, hg. von W. Thimme, Stuttgart. d’Aviau de Ternay, H. 1992: Kant und die Bibel. Spuren an den Grenzen. In: Ricken 1992, 67–82. Ayer, A. J. 1993: »Cogito, ergo sum«. In: Keutner 1993. Bachelard, G. 1974: Epistemologie. Ausgewählte Texte, Frankfurt/Main. Baeumker C. 1890: Das Problem der Materie in der griechischen Philosophie, Münster. Barth, K. 1947: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und Geschichte, Zürich. Baruzzi, A. 1973 ff.: Autorität. In: Krings 1973 f., Bd. 1. Bauch, B. 1911: Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften, Heidelberg. Bauer, W. 1934: Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, Tübingen. Baum, M. 1991: Subjektivität, Allgemeingültigkeit und Apriorität des Geschmacksurteils bei Kant. In: DZfPh, Heft 3, Berlin, 272–284. Baumgartner, H. M. 1992: Das »ethische gemeine Wesen« und die Kirche in Kants »Religionsschrift«. In: Ricken 1992, 156–167. – 1996: Gott und das ethische gemeine Wesen in Kants Religionsschrift. Eine spezielle Form des ethikotheologischen Gottesbeweises? In: Schönrich 1996, 408–424. Baur, F. Chr. 1831: Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums. In: Tübinger Zeitschrift für Theologie 4, 61–206.
720
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Bayer, K. 1937: Untersuchungen zu Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, Halle/Saale. Beck, L. W. 1974: Kants »Kritik der praktischen Vernunft«. Ein Kommentar, übers. von K.-H. Ilting, München. Becker, J. 2004: Johanneisches Christentum. Seine Geschichte und Theologie im Überblick, Tübingen. Behn, I. 1957: Der Philosoph und die Königin. Renatus Descartes und Christina Wasa. Briefwechsel und Begegnung, Freiburg. Beierwaltes, W. 1985: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt. Benjamin, W. 1972: Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/Main. Benveniste E. 1993: Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Bd. II, hg. von St. Zimmer, Frankfurt/Main. Benz, E. 1932: Marius Victorinus und die Entwicklung der abendländischen Willensmetaphysik, Stuttgart. Bernays, J. 1850: Heraklitische Studien. In: Rheinisches Museum für Philologie 7, (wiederabgedr. in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, Hildesheim/New York 1971, 37–73.) Bharati, A. (ed.) 1976: The Realm of the Extra-human, Den Haag. Bhattacharya, K. 1999: Politische Selbstbestimmung in den Ideen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4, Bd. 47, Berlin, 665–672. Bien, G. 1971 ff.: Geschichtszeichen. In: Ritter 1971 ff., Bd. 3. Biscardi, A. 1987: »Auctoritas patrum«. Problemi di storia del diritto pubblico romano, Napoli. Blanchet, L. 1920: Les antécédents historiques du ›Je pense, donc suis‹, Paris. Bleiken, J. 1985: Die Verfassung der Römischen Republik, Paderborn. Bochenski, J. M. 1974: Was ist Autorität? Einführung in die Logik der Autorität, Freiburg. Bodenheimer, A. R. 1984: Warum? Von der Obszönität des Fragens, Stuttgart. Böhme, G. 1980: Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt/Main. – 1986: Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kantischen Erkenntnisund Wissenschaftstheorie, Frankfurt/Main. – 1983: und H. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/Main. Bömer, F. 1943: Ahnenkult und Ahnenglaube im alten Rom, Berlin. Boethius, A. M. S. 1988: Die theologischen Traktate, hg. von M. Elsässer, Hamburg. Bohatec, J. 1938: Die Religionsphilosophie in der ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹, Hamburg. Boidi, M. Chr. 1988: Ist ein freies, unabhängiges, eigenständiges Denken in Lateinamerika möglich? In: Conceptus. Zeitschrift für Philosophie, Nr. 56. Bolzano, B. 1970: Wissenschaftslehre, Bd. I, Aalen. Bondeli, M. 1997: Der Kantianismus des jungen Hegel, Hamburg. – 1996: Zu Kants Behauptung der Unentbehrlichkeit der Vernunftideen. In: KantStudien, 87. Jg., Berlin, 166–183. Borkowski, L. 1977: Formale Logik, München. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
721
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Borst, A. 1979: Findung und Spaltung der öffentlichen Persönlichkeit (6. bis 13. Jahrhundert). In: Marquard 1979. Borzeszkowsi, H.-H. v. 1992: Kantischer Raumbegriff und Einsteins Theorie. In: DZfPh, Bd. 1–2, Berlin, 36–41. Brachtendorf, J. (Hg) 2000: Gott und sein Bild. Augustins De Trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn. Brands, H. 1982: »Cogito ergo sum«. Interpretationen von Kant bis Nietzsche, Freiburg/München. Brandt, R. 1991: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67–76 B 92–101, Hamburg. Brisson, L. 1994: Platone, Parmenide. Traduzione, introduzione e note di L. Brisson, Napoli. Brown, P. 2000: Augustinus von Hippo. Eine Biographie, München. Brumlik, M. 2000: Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München. Brunner, O. 1978: und W. Conze, R. Koselleck (Hg): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Stuttgart. Buchheim, Th. 1987: Die Spekulation des Werdens in Platons ›Timaios‹. In: Oikeiosis (Festschrift für R. Spaemann), hg. von R. Löw, Weinheim. – (Hg) 1989: Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, Hamburg. Buhr, M. 1981: Immanuel Kant, Leipzig. Bultmann R. 1965: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen. Burnet, J. 1930: Early Greek Philosophy, 4. Aufl., London. Bury, R. G. 1973: The Philebus of Plato, New York. Calogero, G. 1970: Studien über den Eleatismus, Darmstadt. Calvo, T. 1997: und L. Brisson (Hg), Interpreting the Timaeus – Critias. Proceedings of the IV. Symposium Platonicum, Sankt Augustin. Campbell, J. 1985: Lebendiger Mythos, München. Campenhausen, H. v. 1953: Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen. – 1972: Das Bekenntnis im Urchristentum. In: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 63, 210–253. Canguilhem, G. 1968: Études d’histoire et de philosophie des sciences, Paris. Cantor, G. 1932: Gesammelte Abhandlungen, Berlin. Capelle, W. 1968: (Hg): Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Stuttgart. Carriero, J. 1990: Descartes and the Autonomy of human Understanding, New York. Casper B. 1973 f.: Liebe. In: Krings 1973 f., Bd. 3. Cassirer, E. 1932: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen. – 1994: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt. – 1995: Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Hamburg. Cherniss, H. F. 1935: Aristotle’s Criticism of Presocratic Philosophy, Baltimore.
722
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke – 1966: Die ältere Akademie. Ein historisches Rätsel und seine Lösung, Heidelberg (engl.: The Riddle of the Early Academy (Nachdruck), New York 1962). Chevalier, I. 1940: La théorie augustinienne des relations trinitaires. Analyse explicative des textes. In: Divus Thomas 18, Fribourg, 317–384. Christ, K. 1983: Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 3: Wissenschaftsgeschichte, Darmstadt. – 1993: Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt. Cicero, M. T. 1979: de re publica. Vom Gemeinwesen, hg. von K. Büchner, Stuttgart. – 1970: Gespräche in Tusckulum (Tusculanae Disputationes), hg. von K. Büchner, Zürich. – 2001: Cato der Ältere: Über das Alter – Laelius: Über die Freundschaft, hg. von M. Faltner, Düsseldorf. Clark M. T. 1958: Augustine Philosopher of Freedom, New York. Clauss, M. 1999: Kaiser und Gott. Herrscherkult im Römischen Reich, Stuttgart. Clemens von Alexandria, 1936 ff.: Teppiche, wissenschaftliche Darlegungen entsprechend der wahren Philosophie (Stromateis), Bibliothek der Kirchenväter, II. Reihe, 17. Band, München. Cohen, H. 1910: Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, Berlin. Consolino, F. E. 1990: Gli exempla maiorum nel De officiis di Ambrogio e la duplice ereditá dei cristiani. In: La tradizione: forme e modi, XVIII Incontro di studiosi dell’antichitá cristiana, Rom, 351–369. Cramer K. 1996: Descartes antwortet Caterus. Gedanken zu Descartes’ Neubegründung des ontologischen Gottesbeweises. In: Kemmerling 1996, 123–169. – 1998: Einleitung. In: G. Mohr, M. Willascheck (Hg) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Berlin. Crombie, L. M. 1963: An Examination of Plato’s Doctrines. Vol. II: Plato on Knowledge and Reality, London. Dahrendorf, R. 1964: Homo soziologicus, Köln/Opladen. d’Aviau de Ternay, H. 1992: Kant und die Bibel. Spuren an den Grenzen. In: Ricken 1992, 67–82. Deichgräber, K. 1958: Parmenides’ Auffahrt zur Göttin des Rechts. Untersuchungen zum Prooimion seines Lehrgedichts, Wiesbaden. Derrida, J. 1974: Grammatologie, Frankfurt/Main. – 1997: und P. Eisenman: Chora L Works, New York. Descartes, R. 1642: Meditationes de prima philosophia, Amsterdam. – 1692: Principia Philosophiae. In: Renati Descartes Opera Philosophica, Amsterdam. – 1692a: Dissertatio de methodo rectè utendi ratione, et veritatem in scientiis investiganti. In: Renati Descartes Opera Philosophica, Amsterdam. – 1964: Discours de la Méthode, frz.-dt., hg. von L. Gäbe, Hamburg. – 1972: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. von A. Buchenau, Hamburg [Med]. – 1980: Ausgewählte Schriften, hg. v. G. Irrlitz, Leipzig.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
723
Literaturverzeichnis der zitierten Werke – 1980a: Abhandlung über die Methode (Discours de la méthode). In: Descartes 1980, 5–65. – 1980b: Regeln zur Leitung des Geistes (Regulae ad directionem ingenii). In: Descartes 1980, 67–155. – 1980c: Über die Leidenschaften der Seele (Les passions de l’âme). In: Descartes 1980, 229–337. – 1987: Oeuvres de Descartes, publiées par Ch. Adam und P. Tannery, Paris [AT]. – 1997: Prinzipien der Philosophie. In: S. Meier-Oeser (Hg) Descartes, München, 277–370. Deschner, K. 1980: Abermals krähte der Hahn, Düsseldorf. Dewey, J. 1998: Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt/Main. Diels, H. 1897: Parmenides. Lehrgedicht, Berlin. – 1899: Elementum. Eine Vorarbeit zum griechischen und lateinischen Thesaurus, Leipzig. – 1903: und W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde, Berlin [DK]. Dilthey, W. 1977: Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen. In: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Göttingen. Diogenes Laertius 1998: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg. Dornseiff, F. 1927: Literarische Verwendungen des Beispiels, Vorträge 1924–25, Leipzig. Driesch, H. 1905: Der Vitalismus als Geschichte und Lehre, Leipzig. Drobner, H. 1986: Person-Exegese und Christologie bei Augustinus. Zur Herkunft der Formel ›Una persona‹, Leiden. Duchrow, U. 1965: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin. Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Tübingen. Dürr, H-P. 1986: Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren, Bern. – 1991: und W. Ch. Zimmerli (Hg): Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bern. Düsing, K. 1968: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn. – 1971: Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie. In: Kant-Studien, 62. Dynnik, M. A. 1972: Istoria anticnoj dialektiki, Moskau. Early Church Fathers. In: www.ccel.org/fathers/. Ebener, D. 1985: Griechische Lyrik, Bayreuth. Eichler, K. 1992: Hellenen und Barbaren. Reflexionen zu einem alten neuen Thema. In: DZfPh, Heft 8, Berlin, 859–869. Eliade, M. 1988: Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt/Main. Encyclopaedia Brittanica CD 99 – Multimedia Edition, Chicago 1999. Engels, F. 1962: Dialektik der Natur. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 20, Berlin. – 1974: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Berlin.
724
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Enßlin, W. 1955: Auctoritas und Potestas. Zur Zweigewaltenlehre des Papstes Gelasius I., Historisches Jahrbuch 74, 661–668. Erdös, E. 1992: Kants Lehre vom Bösen auf dem Hintergrund des Manichäismus und der preußischen Reaktion. In: DZfPh 1–2, Berlin, 53–73. Eschenburg, Th. 1965: Über Autorität, Frankfurt/Main. Fann, K. T. 1971: Die Philosophie Wittgensteins, München. Feuerbach, L. 1974: Vorlesungen über die Geschichte der neueren Philosophie, Darmstadt. – 1976: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, Frankfurt/Main. Fichte, J. G. 1845: Sämmtliche Werke, Bd. I, Berlin. Findlay, J. N. 1994: Plato und der Platonismus. Eine Einführung, Königstein/Ts. Fischer, N. 1988: Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen Zuordnung in der Praktischen Philosophie Kants. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 42, Meisenheim/Glan, 18–44. – 2004: (Hg) Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg. Fittbogen, G. 1907: Kants Lehre vom radikal Bösen. In: Kant-Studien 12, 303–360. Flasch, K. 1980: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart. – 1990: (Hg), Augustinus von Hippo, Logik des Schreckens. Die Gnadenlehre von 397, Mainz. Fleck, M. 1993: Cicero als Historiker. Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 39, Stuttgart. Földes-Kapp, K. 1975: Vom Felsbild zum Alphabet. Die Geschichte der Schrift von ihren frühesten Vorstufen bis zur modernen lateinischen Schreibschrift, Bayreuth. Forschner, M. 1992: Das Ideal des moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen. In: Ricken 1992, 83–99. Foucault, M. 1973: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt/Main. Franz, M. 1996: Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen. Freyburger-Galland, M. L. 1997: Aspects du Vocabulaire politique et institutionnel de Dion Cassius, Paris. Fritz, K. v. 1963: Philosophie und sprachlicher Ausdruck bei Demokrit, Plato und Aristoteles, Darmstadt. – 1969: Platon, Theaetet und die antike Mathematik, Darmstadt. Fränkel, H. 1955: Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, hg. von Franz Tietze, München. – 1962: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München. Frankfort H. 1978: Kingship and the Gods: A Study of Ancient Near Eastern Religion as the Integration of Society and Nature, Chicago. Frankfurt H. 1970: Demons, Dreamers, and Madmen, New York. Fromm, E. 1980: Gesamtausgabe, Bd. 1, Stuttgart. Früchtl, J. 1986: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg. – 1991: und M. Calloni (Hg): Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, Frankfurt/Main.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
725
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Fueyo, J. 1968: Die Idee der »auctoritas«: Genesis und Entwicklung. In: Epirrhosis, Bd. 1, Festgabe für Carl Schmitt, Berlin. Fuhrer, Th. 2004: Augustinus, Darmstadt. Fuhrmann, M. 1971: Person. In: Ritter 1971 ff., Bd. 7, 269–274. – 1979: Persona, ein römischer Rollenbegriff. In: Marquard 1979, 83–106. – 1989: Cato – Die altrömische Tradition im Kampf gegen die griechische Aufklärung. In: Schmidt 1989, 72–92. – 1991: Cicero und die römische Republik, München. Fulda, H. F. 1990: und R.-P. Horstmann (Hg): Hegel und die »Kritik der Urteilskraft«, Stuttgart. Gadamer, H.-G. (Hg), 1968: Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt. – 1983: Der platonische Parmenides und seine Nachwirkung. In: Archivo di Filosofia 51, Padova, 41. – 1993: Europa und die Oikoumene. In: Gander 1993. – 2000: Der Anfang des Wissens, Stuttgart. – 2001: Wege zu Plato, Stuttgart. Gaiser, K. 1963: Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart. Gander, H.-H. (Hg), 1993: Europa und die Philosophie, Frankfurt/Main. Geerlings, W. 1978: Christus exemplum. Studien zur Christologie und Christusverkündigung Augustins, Mainz. – 1999: Augustinus, Freiburg. Geldsetzer, L. 1968: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung, Meisenheim/Glan. Georges, K. E. 1988: Lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Leipzig 1913–1918 (Nachdruck: Darmstadt 1988). Gerhardt, V. 1995: Der Thronverzicht der Philosophie. In: Höffe 1995, 171–193. Gericke, H. 1970: Geschichte des Zahlbegriffs, Mannheim. Gethmann-Siefert, A. (Hg) 1988: Philosophie und Poesie. O. Pöggeler zum 60. Geburtstag, Bd. 1, Stuttgart/Bad Cannstadt. Geyer, C.-F. 1986: Überlegungen zum Wahrheitsanspruch der Religion im Anschluss an die These von der ›Hellenisierung des Christentums‹. In: W. Oelmüller (Hg) Wahrheitsansprüche der Religionen heute, Paderborn, 43–61. Gianaras, A. 1977/78: Gehört Demokrit in die Geschichte der Philosophie oder in die Geschichte der Wissenschaft. In: Episthmonikh Epethri@ th@ yilosoyikh@ Scolh@ tou Panepisthmiou Ajhnwn (EEAth) 26, 50–65. Gigon, O. 1945: Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Parmenides, Basel. – (Hg) 1970: Platon, Meisterdialoge. Phaidon, Symposion, Phaidros, Zürich. – 1972: Studien zur antiken Philosophie, Berlin. – 1977: Die antike Philosophie als Massstab und Realität, Zürich. Gilson, E. 1929: Introduction à l’étude de saint Augustin, Paris. – Gilson, E. 1930: Etudes sur le Rôle de la Pensée Medievale dans la Formation du Système Cartesien, Paris 1930. Gladigow, B. 1980: Naturae deus humanae mortalis. Zur sozialen Konstruktion des Todes in römischer Zeit. In: Stephenson 1980, 119–133.
726
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Gloy, K. 1976: Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft, Berlin. – 1990: Platon, die Wissenschaftsgeschichte und unser Naturverständnis. Platons Naturbegriff im Timaios. In: DZfPh, Heft 7, Berlin, 651–659. Gmelin, U. 1937: Auctoritas. Römischer Princeps und päpstlicher Primat. In: Geistige Grundlagen römischer Kirchenpolitik, Gedächtnisschrift Erich Caspar, Forschung zur Kirchen- und Geistesgeschichte, Bd. 11, Stuttgart, 1–154. Görgemanns, H. 1988: Origenes. In: P. Koslowski (Hg) Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, Zürich. Gollwitzer, H. 1960: Der Glaube an Jesus Christus und der sogenannte historische Jesus. In: Ristow 1960. Gosepath, S. (Hg) 1999: Motive, Gründe, Zwecke. Theorien von praktischer Rationalität, Frankfurt/Main. Gosling, J. C. B. 1975: Plato. Philebus, Oxford. Grabmann, M. 1930: Augustins Lehre vom Glauben und Wissen und ihr Einfluß auf das mittelalterliche Denken. In: J. Mausbach, M. Grabmann (Hg) Aurelius Augustinus. Festschrift der Görresgesellschaft zum 1500. Todestages, Köln. Graeber, A.: 2001: Auctoritas patrum. Formen und Wege der Senatsherrschaft zwischen Politik und Tradition, Berlin. Graeser, A. 1970: Demokrit und die skeptische Formel, Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie 3. Gregor von Nyssa: To Ablabius: On »Not three gods«. Zit. nach: Early Church Fathers, Series II, Vol. V. (www.ccel.org/fathers/) Greshake, G. 1997: Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg. Griffiths J. G. (ed.) 1970: Plutarch’s De Iside Et Osiride, University of Wales Press. Grundmann, W. 1939: Das Problem des hellenistischen Christentums innerhalb der Jerusalemer Urgemeinde. In: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 38. Gueroult, M. 1953: Descartes selon l’ordre des raisons, 2 Bde, Paris. – 1955: Nouvelles réflexions sur la preuve ontologique de Descartes, Paris. – 1993: Über die von Descartes zum Verständnis seiner Philosophie vorgeschriebene Methode. In: Keutner 1993, 51–64. Gumbrecht, H. U. 1978: Modern, Modernität, Moderne. In: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg) Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978. Guthrie, W. K. C. 1969: History of Greek Philosophy, Vol. II, Cambridge. Habermas, J. 1969: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied. – 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/Main. – 1990: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990, Leipzig. Habermeyer, W. 1996: Schreiben über fremde Lebenswelten. Das postmoderne Ethos einer kommunikativ handelnden Ethnologie, Köln. Habichler, A. 1989: Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Studien zur kantischen Reich-Gottes-Idee, Mainz. Hackforth, R. 1958: Plato’s Examination of Pleasure (The Philebus), New York. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
727
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Hägler R-P. 1983: Platons ›Parmenides‹. Probleme der Interpretation, Berlin. Halfwassen, J. 1997: Zur Idee, Dialektik und Transzendenz. Zur Platondeutung Hegels und Schellings am Beispiel ihrer Deutung des Timaios. In: Kobusch 1997, 193–209. – 2000: Der Demiurg: Seine Stellung in der Philosophie Platons und seine Deutung im antiken Platonismus. In: Neschke-Hentschke 2000, 39–62. Harder, R. (Hg) 1958: Plotin, Frankfurt/Main. Hare, R. M. 1990: Platon. Eine Einführung, Stuttgart. Harnack, A. v. 1931: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Tübingen 1931. Hegel, G. W. F. 1969 ff.: Werke in 20 Bänden, Frankfurt/Main. Heidegger, M. 1949: Über den Humanismus, Frankfurt/Main. – 1954: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen. – 1957: Sein und Zeit, Tübingen. – 1959: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen. – 1963: Holzwege, Frankfurt/Main. – 1969: Zur Sache des Denkens, Tübingen. – 1976: Nur noch ein Gott kann uns retten. Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966. In: Der Spiegel, Nr. 233. – 1979 ff.: Gesamtausgabe, Frankfurt/Main. – 1992: Was ist Metaphysik?, Frankfurt. Heimsoeth, H. 1973: und D. Henrich, G. Tonelli (Hg), Kant – Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln. Henrich D. 1960: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen. – 1979: Die Trinität Gottes und der Begriff der Person. In: Marquard 1979, 612– 620. – 1982: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960. Heinze, R. 1972: Auctoritas (1925). In: ders. Vom Geist des Römertums. Ausgewählte Aufsätze, hg. von E. Burck, Darmstadt. Heitsch, E. 1960: Jesus aus Nazareth als Christus. In: Ristow 1960. – 1992: Phaidros 277a6-b4. Gedankenführung und Thematik im ›Phaidros‹. In: Hermes 120, 169–180. Henningsen, M. 1983: Vom Anspruch und Elend des europäischen Universalismus. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 8, Jg. 37, 894–902. Herodotus, 2004: Historien, hg. von J. Feix, Düsseldorf. Hill, H. 1952: The Roman Middle Class in the Republican Time, Oxford. Hintikka J. 1993: »cogito, ergo sum«: Inference or performance. In: Keutner 1993, 255–282. Höffe, O. 1983: Immanuel Kant, München. – 1988: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, Stuttgart. – (Hg) 1989: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/Main. – (Hg) 1995: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, Berlin.
728
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke – 1998: Architektonik und Geschichte der reinen Vernunft. In: G. Mohr, M. Willascheck (Hg) Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Berlin, 617–645. Hölscher, U. 1968: Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie, Göttingen. Hoermann F. (Hg) 1975: Werte der Antike, München. Hörmann J. (Hg) 1919: Des Heiligen Epiphanius von Salamis ausgewählte Schriften. Bibliothek der Kirchenväter, München. Hoerster, N. 1972: Analytische Ethik – Eine Einführung, München. Hoffmann, H. 1891: Der Platonische Philebus und die Ideenlehre. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 4. Holz, H. H. (Hg) 1992: Strukturen der Dialektik, Hamburg. – 1997: Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit, Bd. 1: Die Signatur der Neuzeit, Stuttgart. Horkheimer, M. 1970: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt/Main. Horstmann, R.-P. 1995: Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Weinheim. Huet, P. D. 1971: Censura philosophiae Cartesianae, Hildesheim. Humboldt, W. v. 1985: Über die Sprache. Ausgewählte Schriften, München. Hume, D. 1967: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart. – 1984: An Enquiry Concerning Human Understanding, New York. Husserl, E. 1992: Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von E. Ströker, Hamburg. Jacobi, F. H. 1815: F. H. Jacobi’s Werke, Bd. II, Leipzig. Jacobs, M. 1987: Die Reichskirche und ihre Dogmen, Göttingen. Jaeger, W. 1934: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1, Berlin. – 1968: Die Theologie der milesischen Naturphilosophen. In: Gadamer 1968. Jammer, M. 1964: Der Begriff der Masse in der Physik, Darmstadt. Jaspers, K. 1959: Die großen Philosophen, Bd. 1, München. – 1983: Die maßgebenden Menschen. Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus, München. Jauss, H. R. 1970: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main. Jedin, H. 1972 (Hg): Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. II, Freiburg. Joachim, H. 1911: Geschichte der römischen Literatur, Leipzig. Jonas, H. 1965: Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Eine philosophische Studie zum pelagianischen Streit, Göttingen. – 1984: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/Main. Jürss, F. 1977: et al., Griechische Atomisten, Leipzig. Kahn, Ch. H. 1960: Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, New York. Kaiser, M. 1985: Diese Erde ist uns heilig. Rede des Indianerhäuptlings Seattle. Legende und Wirklichkeit, Münster. Kalkavage, P. 1983: Politics and Cosmology in Plato’s Timaeus, Pennsylvania. Kamlah, W. 1951: Christentum und Geschichtlichkeit, Stuttgart. Kant, I. 1900 ff.: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Berlin. – 1968: Werke in zwölf Bänden, Bd. XII, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/Main. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
729
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Karlovich, A. 1982: Autonome Praxis und heteronome Theorie: Ciceros Grundlegung der Gerechtigkeit, Zürich. Kaser, M. 1971: Das römische Privatrecht I, München. Kelly, J. N. D. 1972: Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen. Kemmerling, A. 1996: und H.-P. Schütt (Hg), Descartes nachgedacht, Frankfurt/ Main. Kenny A. 1994: (Hg) Ludwig Wittgenstein. Ein Reader, Stuttgart. Keutner Th. (Hg) 1993: Descartes, Frankfurt/Main. Kierkegaard, S. 1926: Der Begriff des Auserwählten, Innsbruck hg. von Th. Haecker, Hellerau 1917. Kimmerle, H. 1991: Philosophie in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff, Frankfurt/Main. Kindlers Enzyklopädie 1982: Der Mensch, Bd. 2, Zürich. Kirk, G. S. 1994: und J. E. Raven, und M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart. Klein, R. (Hg) 1971: Das frühe Christentum und der römische Staat, Darmstadt. Kleingeld, P. 1993: Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg. Klinger, F. 1965: Römische Geisteswelt, München. Knoll, M. 2002: Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie, München. Kobusch, Th. 1996: und B. Mojsisch (Hg), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuerer Forschung, Darmstadt. – 1997: und B. Mojsisch (Hg), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Platonismus, Darmstadt. – 1997a: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt. Koehler, W. 1938: Dogmengeschichte als Geschichte des christlichen Selbstbewußtseins, Zürich. König, E. 1970: Augustinus Philosophus. Christlicher Glaube und philosophisches Denken in den Frühschriften Augustins, München. Krämer H. J. 1964: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam. – 1972: Über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon. In: Wippern 1972. – 1996: Platons ungeschriebene Lehre. In: Kobusch 1996. Kraft, H. 1955: Kaiser Konstantins religiöse Entwicklung, Tübingen. Kraus, W. 1984: Aus Allem Eines. Studien zur antiken Geistesgeschichte, Heidelberg. Krings, H. 1973 f.: und H. M. Baumgartner, Chr. Wild (Hg), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München. Krohn, W. 1992: und G. Küppers, Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbstorganisation. In: Selbstorganisation, Jahrbuch, Bd. 3, Berlin, 31–50. – 1990: Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig.
730
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Krüger, L. 1968: Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen? In: Kant-Studien 56, 337 ff. Küng, H. 1978: Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München. Kuhn, H. 1952: Heideggers »Holzwege«. In: Archiv für Philosophie, 4/3. – 1971: Was heißt Autorität?. In: Hochland. Zeitschrift für alle Gebiete des Wissens und der Schönen Künste, München, 297–305. Kuypers, K. 1934: Der Zeichen- und Wortbegriff im Denken Augustins, Amsterdam. Kytzler, B. (Hg) 1993: Rom als Idee, Darmstadt. Laberge P. 1992: Das radikale Böse und der Völkerzustand. In: Ricken 1992, 112– 123. Lange, F. A. 1974: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2 Bde, hg. und eingel. v. A. Schmidt, Frankfurt/Main. Langenscheidt 1963: Taschenwörterbuch, Lateinisch-Deutsch, Berlin/München. Latte, K. 1967: Römische Religionsgeschichte, München. Lehmann, K. 1973: Glaube. In: Krings 1973 f., Bd. 3. Leibniz, G. W. 1926: Sämtliche Schreiben und Briefe, Akademie-Ausgabe, Bd. II/ 3, Darmstadt. – 1978: Philosophische Schriften, hg. von C. J. Gerhardt, Hildesheim. – 1996: Monadologie, hg. von D. Till, Frankfurt/Main. Lenk, H. 1968: Kritik der logischen Konstanten. Philosophische Begründungen der Urteilsformen vom Idealismus bis zur Gegenwart, Berlin. J. Lensink, 1992: Im Spiegel des Absoluten. Kritische Erwägungen zum ontologischen Gottesbeweis. In: Holz 1992. Lenzenweger, J. 1986: et al. (Hg), Geschichte der katholischen Kirche. Ein Grundriß, Graz. Lévi-Strauss, C. 1976: Mythologica I-IV, Frankfurt/Main. Lietzmann, H. 1953: Geschichte der alten Kirche I, Berlin. Livius, T. 1980: Römische Geschichte, München. Loebbert, M. 1989: Wie ist die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile möglich? Eine Untersuchung zu Kants Theorie des Urteils, Rheinfelden. Löbl, R. 1987: Demokrits Atomphysik, Darmstadt. – 1989: Demokrit. Texte zu seiner Philosophie, Amsterdam. Löhrer P. M. 1955: Der Glaubensbegriff des hl. Augustinus in seinen ersten Schriften bis zu den Confessiones, Einsiedeln. Löhr, G. 1990: Das Problem des Einen und des Vielen in Platons »Philebos«, Göttingen. Löw, R. (Hg) 1987: Oikeiosis (Festschrift für R. Spaemann), Weinheim. Löwith, K. 1960: Geschichtliche Abhandlungen, Stuttgart. Lohse, B. 1962: Augustins Wandlung in seiner Beurteilung des Staates. In: Studia Patristica 6, 447–475. Lorenz R. 1955 f.: Die Wissenschaftslehre Augustins. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Bd. 67. Lossky, V. 1954: Les éléments de ›Théologie négative‹ dans la pensée de saint Augustin. In: Augustinus magister. Congrès international augustinien, Bd. 1, Paris. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
731
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Lüdemann, G. 1987: Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar, Göttingen. Lütcke, K.-H. 1968: »Auctoritas« bei Augustin, Stuttgart. Lukács, G. 1981: Die Zerstörung der Vernunft. Bd. 1: Irrationalismus zwischen den Revolutionen, Darmstadt. Luria, S. J.: Mechanika Demokrita. In: Archiv istorii nauki i techniki VII, Leningrad, 129–178. Machiavelli, N. 1965: Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio. Politische Betrachtungen über die alte und italienische Geschichte, hg. v. E. Faul, Köln/Opladen. – 2000: Discorsi. Staat und Politik, hg. von H. Günther, Frankfurt/Main. Madec G. 1994: Le Néoplatonisme dans la conversion d’Augustin. In: ders., Petites Etudes Augustiniennes, Paris, 51–69. Maier, F. G. 1955: Augustin und das antike Rom, Stuttgart. Maine de Biran, F. P. 1920 ff.: Oeuvres, ed. par P. Tisserand, 14 Bde, Paris. Mall, R. A. 1989: und H. Hülsmann, Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa, Bonn. – 1990: Buddhismus, Hildesheim. Manning, R. O. 1976: Shamanism as a Profession. In: A. Bharati (ed.), The Realm of the Extra-human, Den Haag. Mansfeld, J. 1964: Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, Assen. Marquard, O. 1979: und K. Stierle (Hg), Identität, München. – 1989: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn. Marrou, H.-I. 1991: Augustinus, Hamburg. – 1995: Augustinus und das Ende der antiken Bildung, Paderborn. Marshall jr., D. J. 1979: Prinzipien der Descartes-Exegese, Freiburg. Marx, K. 1972: Das Kapital, MEW, Bd. 23, Berlin. – 1971: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, Berlin. – 1983: und F. Engels, Über Geschichte der Philosophie. Ausgewählte Texte, Leipzig. – o. J.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/Main. Mathieu, V. 1989: Kants Opus postumum, Frankfurt/Main. Mausbach, J. 1930: und M. Grabmann (Hg): Aurelius Augustinus. Festschrift der Görresgesellschaft zum 1500. Todestages, Köln. McGrath, A. 1983: Divine justice and divine equity in the controversy between Augustinus and Julian of Eclanum. In: Downside Review 101, Bath, 312–319. Meier, Chr. 1980: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/ Main. Merchant, C. 1980: The Death of Nature, San Francisco. Meyerson, E. 1930: Identität und Wirklichkeit, Leipzig. Meyer, E. 1975: Römischer Staat und Staatsgedanke, Zürich. Merker, B. 1999: Wozu noch Adorno?. In: DZfPh, Heft 3, Berlin, 489–504. Miethke, J. 1980: Autorität. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. V, Berlin/New York. Migliori, M. 1993: L’uomo fra piacere, intelligenza e bene, Mailand.
732
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Miller, D. (Hg) 2000: Karl R. Popper, Lesebuch. Ausgewählte Texte zu Erkenntnistheorie, Philosophie der Naturwissenschaften, Metaphysik, Sozialphilosophie, Tübingen. Mocek, R. 1998: Die werdende Form. Die Geschichte der Kausalen Morphologie, Marburg/Lahn. Mörchen, H. 1980: Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno, Stuttgart. Mommsen, Th. 1856: Römische Geschichte, Bd. 1, Berlin. – 1864: Römische Forschungen, 1. Bd., Berlin. – 1889: Römisches Staatsrecht, Leipzig. Montesquieu o. J.: Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer, Bremen. Müller, A. 1975: Theorie, Kritik oder Bildung?, Abriß der Geschichte der antiken Philosophie von Thales bis Cicero, Darmstadt. Müller, C. W. 1965: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Wiesbaden. Müller, E. 1999: Die »verschleierte Isis« der Vernunft. Kants Ästhetik und die Depotenzierung der Religion. In: DZfPh, Heft 4, Berlin, 553–571. Müller, W. 1961: Die heilige Stadt. Roma quadrata, himmlisches Jerusalem und die Mythe vom Weltnabel, Stuttgart. Natorp, P. 1882: Descartes’ Erkenntnistheorie, Marburg. – 1884: Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems in der Antike, Berlin. – 1994: Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Hamburg. Neschke-Hentschke A. (Hg) 2000: Le Timée de Platon. Contributions à l’Histoire de sa Réception – Platos Timaios. Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte, Louvain, Paris. Nestle-Aland, 1986: Novum Testamentum Graece, Stuttgart. Neumann, H. 1965: Diotima’s Concept of Love. In: American Journal of Philology 86. Nestle, W. 1975: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stuttgart. – 1990: Die Haupteinwände des antiken Denkens gegen das Christentum. In: J. Martin/B. Quint (Hg) Christentum und antike Gesellschaft, Darmstadt. Neumann, H. 1965: Diotima’s Concept of Love. In: American Journal of Philology 86. Newton, I. 1729: Mathematical Principles of Natural Philosophy, Translated by Andrew Motte. London. Nicolin, F. 1988: Verschlüsselte Losung. In: Philosophie und Poesie. O. Pöggeler zum 60. Geburtstag, hg. von A. Gethmann-Siefert, Bd. 1, Stuttgart/Bad Cannstadt. Niebel, W. F. 2000: und A. Horn, H. Schnädelbach (Hg), Descartes im Diskurs der Neuzeit, Frankfurt/Main. Niebuhr, B. G. 1828: Römische Geschichte, Berlin. Nietzsche, F. 1968 ff.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli u. M. Montinari, Berlin/New York. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
733
Literaturverzeichnis der zitierten Werke – 1994: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, hg. von M. Riedel, Stuttgart. Nikolaou, S.-M. 1998: Die Atomlehre Demokrits und Platons Timaios. Eine vergleichende Untersuchung, Stuttgart. Nissen, H. 1869: Das Templum. Antiquarische Untersuchungen, Berlin. Nobbe, F. 1995: Kants Frage nach dem Menschen. Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft als transzendentale Anthropologie, Frankfurt/Main. Oesterreich, P. L. 1994: Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt. Okere, Th. 1983: African Philosophy: A Historico-Hermeneutical Investigation of the Condition of its Possibility, Lanham. Oppermann, H. (Hg) 1967: Römische Wertbegriffe, Darmstadt. Origenes 1976: Von den Prinzipien, hg. von H. Görgemanns und H. Karpp, Darmstadt. Ottmann, H. 2002: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 2/1: Die Römer, Stuttgart. Pacho, J. 1980: Ontologie und Erkenntnistheorie. Eine Erörterung ihres Verhältnisses am Beispiel des Cartesischen Systems, München. Parmenides 1985: Über das Sein (Griechisch/Deutsch), hg. von H. v. Steuben, Stuttgart. Pascal, B.: 1988: Gedanken, Köln. Pechmann, A. v. 1980: Die Kategorie des Maßes in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Einführung und Kommentar, Köln. – 1981: Zum Problem der ›schlechten Unendlichkeit‹ bei Kant und Hegel. In: W. R. Beyer (Hg) Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung, Hamburg, 118–125. – 1999: Form/Materie. In: H. J. Sandkühler (Hg) Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg, 389–394. – 1999: Der junge Hegel und Schelling. ›Timaios‹ und der Trinitätsgedanke. In: M. Bondeli, H. Linneweber-Lammerskitten (Hg) Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München, 127–141. Petri, H. 1982: und G. Petri-Odermann, Die australischen Urbewohner und ihre Kultur. In: Kindlers Enzyklopädie. Der Mensch, Bd. 2, Zürich, 404–428. Pfister, F. 1972: Religion und Wissenschaft. Ihr Verhältnis von den Anfängen bis zur Gegenwart, München. Plass, P. 1965: Kants Naturwissenschaft. Eine Untersuchung zur Vorrede von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, Göttingen. Pleger, W. H. 1991: Die Vorsokratiker, Stuttgart. Plotin 1958: Plotin. Auswahl und Einleitung von R. Harder, Frankfurt/Main. Plumpe, J. C. 1936: Wesen und Wirkung der auctoritas maiorum bei Cicero, Bochum. Pöschl, V. 1974: Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero. Untersuchungen zu Ciceros Schrift De re publica, Darmstadt. Pohlenz, M. 1931: Ciceros De re publica als Kunstwerk. Festschrift für R. Reitzenstein, Leipzig/Berlin. Pollmann, K. 1996: Doctrina Christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der
734
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana, Fribourg. Popper K. R. 2000: Lesebuch. Ausgewählte Texte zu Erkenntnistheorie, Philosophie der Naturwissenschaften, Metaphysik, Sozialphilosophie, hg. von D. Miller, Tübingen. Prauss, G. 1983: Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt/Main. Presbey, G. 1997: Zur Praxis der afrikanischen »Weisen«. In: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, Nr. 30, München, 74–93. Prigogine, I. 1984: und I. Stengers, Order out of Chaos. Man’s new dialogue with nature, Toronto. Rabe, H. 1972: Autorität. Elemente einer Begriffsgeschichte, Konstanz. Ranke-Graves, R. v. 1984: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek. Reale, G. 1997: Plato’s Doctrine of the Origin of the World, with special Reference to the Timaeus, In: Calvo 1997. Recki, B. 1994: ›Was darf ich hoffen?‹ Ästhetik und Ethik im anthropologischen Verständnis bei Immanuel Kant. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 19, 1–18. Reich, K. 1932: Die Vollständigkeit der Kantischen Kategorientafel, Berlin. Reinhardt, K. 1959: Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Frankfurt/Main. Reinhold, K. L. 1983: Korrespondenzausgabe, Bd. 1. Korrespondenz 1773–1788, hg. von R. Lauth et al., E. Heller und K. Hiller, Stuttgart/Bad Cannstadt. Reitzenstein, R. 1917: Die Idee des Prinzipats bei Cicero und Augustus. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (NGG) 1917, 398–436, 481–498. Renz, H. 1977: Geschichtsgedanke und Christusfrage. Zur Christusanschauung Kants und deren Fortbildung durch Hegel in Hinblick auf die allgemeine Funktion neuzeitlicher Theologie, Göttingen 197. Rescher, N. 1995: Philosophie am Ende des Jahrhunderts. In: DZfPh 5, Berlin. Rheinfelder, H. 1928: Das Wort ›Persona‹. Geschichte seiner Bedeutung mit besonderer Berücksichtigung des französischen und italienischen Mittelalters. In: Zeitschrift für romanische Philologie, Beiheft 77, Halle, 6–17. Ribbeck, O. (Hg) 1897: Tragicorum Romanorum Fragmenta, Leipzig. Ricken, F. 1970: Das Homousios von Nikaia als Krisis des altchristlichen Platonismus. In: H. Schlier, F. Mußner, F. Ricken, B. Welte, Zur Frühgeschichte der Christologie, Freiburg 1970, 74–99. – Ricken, F., 1992: und F. Marty (Hg): Kant über Religion, Stuttgart 1992. Riedel M. (Hg) 1972: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. I, Freiburg. Ring, Th. G. 1975: Auctoritas bei Tertullian, Cyprian und Ambrosius, Würzburg. Ristow, H. 1960: und K. Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Beiträge zum Christusverständnis in Forschung und Verkündigung, Berlin. Ritter, A. M. (Hg) 1977: Alte Kirche, Neukirchen-Vluyn. Ritter, J. 1937: Mundus intelligibilis, Frankfurt/Main. – 1971 ff.: et al. (Hg), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Darmstadt. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
735
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Röd, W. 1982: Descartes. Die Genese des cartesianischen Rationalismus, München. – 1992: Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel, München. Rohbeck, J. 1993: Technologische Urteilskraft, Frankfurt/Main. Roloff, H. 1967: Maiores bei Cicero. In: Oppermann 1967. Rommel, H. 1997: Zum Begriff des Bösen bei Augustinus und Kant, Frankfurt/ Main. Rorty, R. 1985: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/ Main. Rosenau, H. 2000: Selbstgewissheit und Verzweiflung. Von der theologia rationalis Descartes’ zur Existenztheologie Kierkegaards. In: Niebel 2000. Russell, B. 1903: The Principles of Mathematics, London. – 1999: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, Köln. Ryle, G. 1969: Der Begriff des Geistes, Stuttgart. – 1994: Plato’s Progress, Bristol. Safranski, R. 1994: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München. Sala SJ, G. B. 1992: Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionsschrift. In: Ricken 1992, 43–155. – 2004: Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als ›ethischem gemeinem Wesen‹. In: Fischer 2004, 225–264. Sandkühler, H. J. 1974: und R. de la Vega (Hg), Marxismus und Ethik, Frankfurt/ Main. – (Hg) 1990: Europäische Enzyklopädie in Philosophie und Wissenschaften, Hamburg. – (Hg) 1999: Enzyklopädie Philosophie, Hamburg. Saner, H. 1995: Die negativen Bedingungen des Friedens. In: Höffe 1995, 43–67. Santa Cruz, M. I. 1997: Le discours de la Physique: eikos logos. In: Calvo 1997. Sayre, K. M. 1983: Plato’s Late Ontology, Princeton/N.J. Schadewaldt, W. 1978: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt/Main. Schäfers, B. 1995: Grundbegriffe der Soziologie, Opladen. Schelling, F. W. J. 1856 ff.: Sämmtliche Werke (SW), Stuttgart. – 1990: Das Tagebuch 1848. Rationale Philosophie und demokratische Revolution, mit A. v. Pechmann und M. Schraven hg. von H. J. Sandkühler, Hamburg. – 1994: »Timaeus.« (1794), hg. von H. Buchner, Stuttgart-Bad Cannstatt. Schiller, F. o. J.: Sämmtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. 1, Leipzig. Schlegel, F. 1958 ff.: Kritische Ausgabe, Bd. 7, Paderborn. Schleiermacher, F. 1919: Platons Ausgewählte Werke. Deutsch von Schleiermacher, München. Schmalenbach, H. 1929: Kants Religion, Berlin. Schmaus, M. 1927: Die psychologische Trinitätslehre des heiligen Augustinus, Münster. Schmid, W. 1936: Epikurs Kritik der platonischen Elementenlehre, Leipzig.
736
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Schmidt J. (Hg) 1989: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt. Schmidthals, W. 1962: Paulus und der historische Jesus. In: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, Bd. 53, Berlin. Schmitz, H. 1988: Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie, Bonn. Schnädelbach H. 1991: Philosophieren lernen. In: J. Früchtl, M. Calloni (Hg) Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, Frankfurt/Main, 54–67. – 2000: Descartes und das Projekt der Aufklärung. In: Niebel 2000, 186–206. Schneider, C. 1954: Geistesgeschichte des antiken Christentums, Bd. I, München. Schönrich, G., 1996: und Y. Kato (Hg), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt/Main. Scholz, H. 1931: Über das cogito, ergo sum. In: Kant-Studien, Bd. 36, Berlin, 126– 147. Schopenhauer, A. o. J.: Schopenhauers sämtliche Werke, 6 Bde, Berlin. Schoeps, H. J. 1960: Der historische Jesus und der kerygmatischen Christus. In: Ristow 1960. Schraven, M. 1989: Philosophie und Revolution. Schellings Verhältnis zum Politischen im Revolutionsjahr 1848, Stuttgart. Schreckenberg, H. 1964: Ananke. Untersuchungen zur Geschichte des Wortgebrauchs, München. Schrödter H., 2000: Der Gottesgedanke in der Metaphysik des Ich als substantia cogitans. Überlegungen zu Stellung, Struktur und Funktion der Gottesbeweise bei Descartes. In: Niebel 2000, 103–124. Schulz, W. 1957: Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen. Schulze, H. 2000: Europa als historische Idee. In: W. Stegmaier (Hg) Europa-Philosophie, Berlin. Schwarz, O. 1995: und A. v. Pechmann, Der global verstrickte Mensch. Neues Handeln aus anthropozentrischer Verantwortung, Darmstadt. Schweitzer A. 1933: Geschichte der Paulinischen Forschung, 2. Aufl., Tübingen. Schweizer, E. 1978: Heiliger Geist, Stuttgart. Sedley, D. N. 1982: Two conceptions of Vacuum, Phronesis 27, 175–193. Seeberg, R. 1965: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Darmstadt. Seibert, J.: Hannibal, Darmstadt. Seidel, H. 1987: Von Thales bis Platon. Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Berlin. – 1984: Aristoteles und der Ausgang der antiken Philosophie, Berlin. Sennett, R. 1985: Autorität, Frankfurt/Main. Serequeberhan, T. 1994: The Hermeneutics of African Philosophy. Horizon and Discourse, New York/ London. Sève, L. 1990: Person/Personalismus. In: Sandkühler 1990, Bd. 3. Sextus Empiricus 1912 ff.: Gesamtausgabe, 3 Bde., hg. von H. Mutschmann, J. Mau und K. Janacek Leipzig. – 1998: Gegen die Dogmatiker. Adversos mathematicos libri 7–11, übers. v. H. Flückiger, Sankt Augustin.
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
737
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Simplikios 1882 ff.: Commentaria in Aristotelem Graeca, Berlin. Vol. VII: de caelo; Vol. IX-X: libros in physicorum. Snell, B. 1926: Die Sprache Heraklits. In: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie, Nr. 61, 353–381. – 1955: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Geistes bei den Griechen, Hamburg. – (Hg) 1995: Heraklit. Fragmente, Darmstadt. Sofsky, W. 1994: und R. Paris, Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition, Frankfurt/Main. Spaemann, R. 1996: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart. Specht, R. 1989: Descartes, Reinbek. Spinoza, B. 1925: Opera, hg. von C. Gerhardt, Bd. 1, Heidelberg. – 1975: Ethik, Leipzig. Stallbaum G. 1826: Platonis Philebus, Leipzig. Stegmüller, W. 1969: Metaphysik, Wissenschaft, Skepsis, Berlin/Heidelberg/New York. Stenzel, J. 1933: Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Leipzig. – 1971: Metaphysik des Altertums, München. Stephenson, G. (Hg) 1980: Leben und Tod in den Religionen. Symbol und Wirklichkeit, Darmstadt. Steuben, H. v. (Hg) 1985: Parmenides. Über das Sein (Griechisch/Deutsch), Stuttgart. Straub, J. 1954: Augustins Sorge um die regeneratio imperii. In: Historisches Jahrbuch 73, 36–60. Striker, G. 1970: Peras und Apeiron. Das Problem der Formen in Platons Philebos, Göttingen. Studer, B. 1998: Schola Christiana. Die Theologie zwischen Nizäa (325) und Chalzedon (451), Paderborn. Szlezák, Th. 1997: Über die Art und Weise der Erörterung der Prinzipien im Timaios. In: Calvo 1997. Tarán, L. (Hg) 1965: Parmenides. A Text with Translation, Commentary, and Critical Essays, Princeton. Taylor, A. E. 1926: Plato. The Man and his Work, London. TeSelle, E. 1996: Crede ut intellegas. In: Augustinus-Lexikon, Bd. 2, Basel. Theunissen, M. 1991: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/Main. Tokarew, S. A. 1980: Die Religion in der Geschichte der Völker, Köln. Topitsch, E. 1958: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien. – 1959: Die platonisch-aristotelische Seelenlehre in weltanschauungskritischer Bedeutung, Wien. Uthemann, K.-H. 1994: Paulus von Samosata. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. VII, Herzberg. Verdenius, W. J. 1942: Parmenides. Some comments on his Poem, Groningen. Vierkandt, A. (Hg) 1931: Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart. Vlastos, G. 1973: Platonic Studies, Princeton/N.J.
738
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Vogt, J.: Römischer Glaube und Römisches Weltreich. – 1926: Homo novus. Ein Typus der römischen Republik, Stuttgart. Vorländer K. 1974: Kant und Marx (1911). In: H. J. Sandkühler, R. de la Vega (Hg) Marxismus und Ethik, Frankfurt/Main. Vouga, F. 1994: Geschichte des frühen Christentums, Tübingen. Wahrig, G. 1979: Deutsches Wörterbuch, Gütersloh. Walde A., 1972: und J. B. Hofmann, Lateinisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, Heidelberg. Warnke, C. 1992: »Naturmechanismus« und »Naturzweck«. Bemerkungen zu Kants Organismus-Begriff. In: DZfPh, Heft 1–2, Berlin 1992, 42–52. Weber, M. 1981: Soziologische Grundbegriffe, Tübingen. Weingarten, M. 1999: Evolution. In: Sandkühler 1999, Bd. 1. Weinmayr, E. 1991: Entstellung. Die Metaphysik im Denken Martin Heideggers. Mit einem Blick nach Japan, München. Weizsäcker, C. F. v. 1977: Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München. Welcker, M. 1973: Der Vorgang Autonomie. Philosophische Beiträge zur Einsicht in theologische Rezeption und Kritik, Tübingen. Wellhausen, J. 1914: Kritische Analyse der Apostelgeschichte, Abhandlungen der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse, N.F. XV, 2, Berlin. Wendorff, R. 1985: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen. Wermelinger, O. 1975: Rom und Pelagius. Die theologische Position der römischen Bischöfe im pelagianischen Streit in den Jahren 411–432, Stuttgart. Wetter, G. P. 1922: Das älteste hellenistische Christentum nach der Apostelgeschichte. In: Religionswissenschaft 21. White, H. 1991: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart. Wieland, W. 1999: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen. Williams, B. 1996: Descartes. Das Vorhaben einer rein philosophischen Untersuchung, Weinheim. Wimmer, R. 2004: Homo Noumenon: Kants praktisch-moralische Anthropologie. In: Fischer 2004, 347–390. Wippern, J. (Hg) 1972: Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons. Beitrage zum Verständnis der Platonischen Prinzipienphilosophie, Darmstadt. Wirszubski, Ch. 1967: Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen Prinzipats, Darmstadt. Wismann, H. 1979: Atomos Idea. In: Neue Hefte für Philosophie 15/16, Göttingen, 34–52. Wissowa, G. 1971: Religion und Kultus der Römer, München. Wittgenstein, L. 1971: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/Main. Wittmann, L. 1980: Ascensus. Der Aufstieg zur Transzendenz in der Metaphysik Augustins, München. Wyller, E. 1960: Platons Parmenides in seinem Zusammenhang mit Symposium und Politeia. Interpretationen zur Platonischen Henologie, Oslo. A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
739
Literaturverzeichnis der zitierten Werke Yovel, Y. 1968: The God of Kant. In: Further Studies in Philosophy, Scripta Hierosolymitana XX. Zahn, Th. 1901: Athanasius und der Bibelkanon. In: Festschrift Seiner Kgl. Hoheit dem Prinzregenten Luitpold von Bayern zum 80. Geburtstag, Bd. 1, Erlangen. Zekl H. G. 1971: Der Parmenides. Untersuchungen über innere Einheit, Zielsetzung und begriffliches Verfahren eines platonischen Dialogs, Marburg. – (Hg) 1992: Platon, Timaios, Hamburg.
Siglen der Schriften I. Kants: Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage: A; 2. Auflage: B) Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Metaph. Anfangsgr. der Naturwissenschaft Religion innerhalb der Grenzen … Metaphysik der Sitten Der Streit der Fakultäten Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Welches sind die wirklichen Fortschritte, … Idee zu einer allgemeinen Geschichte … Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien Über den Gemeinspruch Zum ewigen Frieden Prolegomena Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee Das Ende aller Dinge Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie
740
KrV KpV KU GMS MAN RGV MS SF ApH F IGA WA MM GtP G eF P T E vT
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
1 Sachregister
a priori 43, 57, 66, 140, 297, 404, 421, 477, 515, 566, 570, 582–584, 604, 610, 612, 624, 628, 651, 655, 657– 660, 662–663, 666, 668–669, 675, 686, 690–691 Abbild/Urbild 55, 192, 229, 235, 237– 238, 244, 247–248, 253, 258, 260– 263, 427, 502, 529, 624, 628, 709 Abendland 9, 33–34, 37, 40, 80, 130, 327–328, 357, 403, 421, 453–454, 557, 619, 630, 707, 713 Absolute, das 29–31, 146, 155, 160, 394, 515 analytisch/synthetisch 43, 49, 474– 475, 486, 559, 567, 570, 577, 612, 656–658, 660, 663, 697 ananke 118–119, 121, 162, 177, 179, 183–184, 188–190, 232, 239, 248, 250, 252–254, 256–259, 261–263, 737 Anerkennung 75–76, 80, 271–272, 274–275, 279, 283, 285, 289, 291– 293, 299, 314, 328, 353, 404, 434, 518, 526–527, 539, 595, 611, 642, 707 –, der Vernunft 647, 660 –, freiwillige 275–276, 278, 280, 292, 375, 530–531, 533, 535, 539, 594– 595 –, Gottes 403, 451, 518–519, 525–526, 533, 540, 554, 585, 595, 708 Anschauung 103–104, 176, 183–184, 191, 193–194, 211, 248, 261–262, 653, 655, 697–698 –, intellektuelle 602, 696 –, reine 171, 174 –, sinnliche 485, 651, 653, 666, 708 Ansehensmacht 67, 76, 276–277, 292 Antagonismus 161, 262–263, 693
–, der Prinzipien 614–615, 618, 626, 630, 637, 640, 661 –, epistemologischer 259, 263, 435 Anthropologie 154, 569, 572–574, 577–578, 580, 584, 586, 595–596, 608–609, 682, 698, 708 –, epistemologische 573–574, 578, 614 Antinomie 131–132, 136, 160, 163, 171, 446, 591 –, epistemische 140, 145, 157, 173 Apperzeption 484, 490, 492, 520, 544, 652, 655–658 arche, archai 83–85, 87–88, 90–91, 93, 95, 97–98, 100–104, 106–113, 116, 126, 140, 239, 249 ästhetisch 239, 244–245, 248, 561– 563, 566–567, 569, 635, 664–665 Atome und das Leere 163, 167, 169, 174–175, 260 auctoritas –, apostolorum 349, 351–352, 357 –, Christi 355, 359, 363, 367, 375 –, dei 375, 378, 535, 539, 541, 543, 556 –, et ratio 356–362, 364, 368–369, 445 –, maiorum 268, 283–284, 289, 293, 297, 299, 303, 306, 315, 317, 319, 322, 324, 357, 707 –, patris/patrum 271–272, 275, 283, 285, 293, 315, 317–318, 320, 322– 324, 349, 353–354, 412, 415 –, summa 283–285, 288–289, 291, 293, 298, 303, 309, 314, 318, 348, 364, 376 auton/heteron 112–113, 116, 126, 129, 145, 150, 166, 173, 179, 209–210, 217, 260 Autonomie –, Begriff der 60, 63, 65–66 –, des Menschen 370, 607, 610, 620 A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
741
Sachregister –, des Willens 553, 566, 571, 610, 639, 708 –, des Wissens 169, 446 Autonomie/Heteronomie 63, 114– 115, 126, 141, 145, 149, 160–161, 169, 183, 199, 239, 246, 258, 263, 375, 378, 491, 519–520, 558, 610, 702, 706 Autorität –, A.verhältnis 68, 72, 74–78, 80, 289, 395, 412–413, 430, 432, 439, 585– 586, 594, 643, 708 –, Begriff der 66–68, 72–78 –, epistemische 276, 279, 293, 297, 307, 309, 440 –, höchste 283, 285, 288–289, 292, 298, 310, 313, 315, 320, 363, 539, 594 Begründung –, B.regreß 159 –, B.regress 606 –, B.zirkel 75, 295–298, 437, 462, 507, 513, 517, 519, 712 –, epistemologische 95, 97, 108, 116, 121, 125, 127, 135, 231, 546 Berufung 80, 371, 542, 590–596, 608, 611, 620, 622, 628, 637, 643, 702, 709, 714, 716 Bestimmung des Menschen 372, 569, 574–577, 618, 634, 660, 662 Bewegung, Ursache der 146, 178–179, 181–182, 244, 251, 265, 669 Böse, das 242, 334, 374, 495, 578, 588, 597, 601, 604, 606–607, 609–610, 614–620, 622, 625, 627, 630–637, 657, 661, 680, 682–683, 691, 701– 702, 708 Christentum –, Hellenisierung des 327, 335 –, lateinisches 328, 348–349, 357, 420, 451 –, Romanisierung des 328, 348, 352 Code, epistemischer 47–49, 51–52, 56, 59, 94, 97, 101, 107, 116, 123, 131, 263, 327, 331, 347, 451, 555, 703– 709, 711, 713–714, 716
742
cogito ergo sum 463 Dauer 100, 102, 267, 293, 305, 312– 313, 320, 328, 351, 451, 638, 702, 707 Deduktion/Subsumtion 337–338, 340, 440, 641, 663–664, 697 Demiurg 233–237, 239–249, 252–255, 260, 697 Denken –, als produktives Vermögen 162, 205, 214, 261 –, dialektisches 29, 147, 161, 174–175, 205, 210, 221, 246, 569 –, diskursives/intuitives 210–211, 224, 226, 332, 588–589, 696 –, Einheit von D. und Sein 125–126, 128, 169, 212, 214, 363, 366, 458, 472, 517, 696 –, Ermächtigung des 127–128, 247 –, noetisches 192, 206, 212, 214–215, 220, 229, 239, 244, 247–248, 254– 255, 260–261 –, reines 128–130, 152, 184, 209, 383, 471, 479, 485, 487, 521, 656, 658 Dogma, dogmatisch 135, 421, 566, 585, 641–642, 647, 659–660, 667, 678, 686, 688 Einbildungskraft 29, 95, 150, 501, 541, 589, 628, 653, 665 Eine, das 145, 150–153, 155, 159, 164, 201, 203, 205–206, 211, 217, 220– 221, 225, 262, 264, 337–338, 342, 362, 411, 433, 435–437, 440, 706 Eines/Vieles 131, 163–165, 168, 201, 207, 216–224, 226, 230, 246–247, 260–261, 436, 438, 631, 656, 670, 686 Einheit Entgegengesetzter 142–144, 146–147, 149–150, 155, 158, 161, 164, 182, 184, 186, 197, 211, 616 Einsicht, klare 129, 235–236, 432, 455, 459, 483, 485–489 Eltern/Kind 67–74, 76, 78, 289, 361, 427, 606, 608 Emanation 338, 433 Endzweck
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Sachregister –, der Natur 675, 683–685, 688–692, 695–696, 699–700 –, der praktischen Vernunft 571, 661, 665, 676, 683–685, 689, 692, 699– 700 –, des Menschen 425, 575, 577, 596, 684, 687–688, 691–692 Entstehen/Vergehen 83, 102–104, 106–107, 110, 113–114, 117–118, 123, 144, 148, 168, 188, 231, 249, 256, 383, 673 Epistemologie, Begriff der 41–42, 44, 79, 112, 384, 434, 706 Erfahrungswissen 113, 132, 137, 140, 145, 149–150, 157–158, 160–161, 166–167, 169, 172–174, 177, 179, 184, 188, 191–192, 230–231, 239, 248, 254, 259–261, 436, 440, 565– 566, 678 Erzählung 8, 40, 46, 48, 94–95, 97, 129, 237, 312, 461, 578, 618, 620, 623, 625, 627, 630–631, 633, 637, 660–661, 690, 702, 704 Europa, europäisch 5–10, 21–26, 28– 29, 31, 33–34, 36, 38–43, 45, 47–48, 60, 80–81, 137, 160, 267, 327, 347, 357, 403, 451, 453, 562, 619, 632– 634, 701, 703–707, 709–717 Existenz –, E.annahme 169–170, 172, 174, 455, 465, 467, 475, 478, 483, 493– 495, 527–528, 530, 532–535, 538– 539 –, Gottes 458, 463, 485, 496, 498, 510, 512–513, 515–516, 519, 526–527, 533–535, 546–547 Familie 274, 276, 287, 316–317, 321, 348, 642–646 Fideismus 356, 519, 531 Fortschritt 146, 212, 214, 220, 224, 559, 598, 618, 634, 648, 650, 652, 661, 677, 680–681, 685, 688–689, 694, 701, 709 –, wissenschaftlich-technischer 37, 677, 680, 685, 699–700, 702, 710 Frage/Antwort 36, 40, 85–90, 92–93, 95, 101
Frieden, ewiger 569, 577, 618, 683, 687, 691–692, 694, 702 Funktionen, epistemische 112, 116, 124, 131, 135, 139, 141–143, 145, 147, 150, 155, 157–158, 183, 340, 361, 364, 434–435, 438–440, 445, 544, 547–548, 706–707 Gattung/Art 400–401 Gattungen des Seienden 209, 216– 217, 220–228, 231, 244, 248–249, 252, 254–256, 259 Gebiet, epistemisches 260, 293, 298, 463, 562–563, 566–567, 569–570, 572, 579–580, 614, 617, 635, 637, 660, 663, 665, 690 Gegenwärtigkeit 98, 126, 152–154, 156, 158, 453 Geheimnis 58, 239, 255, 257, 259, 366, 387, 450, 588–592, 594–597, 609, 687, 695 Geist 454–456, 458, 463, 470–471, 479–480, 482, 484–485, 487, 490, 492–493, 518, 524, 529–530, 541– 542, 544, 552, 555–556, 565, 708– 710 –, heiliger 334–335, 337–338, 340– 342, 347, 353, 370, 379, 381–382, 389–390, 392, 394, 400, 402, 405, 416–425, 427, 429–435, 439–440, 444–445, 449, 525, 541, 559, 708 Geltung, epistemische 100, 102, 115– 116, 140, 157, 336, 706 Gemeinwesen, ethisches 621, 623, 628, 635, 638–639, 641–644, 646, 649, 652, 659–663, 666, 675–676, 685, 690, 693–694, 709 Geschenk 378, 381, 416, 418–419, 421–422, 426, 431–432, 445, 531, 543, 580 Gesetz –, der Differenz 207, 209, 211, 215, 217, 224 –, der Erfahrung 184, 186 –, der Identität 123, 129, 147, 186, 209, 211 –, epistemisches 51–52, 56–57, 59–60, 78–79, 100, 107, 159, 297–298, 435,
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
743
Sachregister 437–438, 440, 442, 446, 652, 703, 705, 708 –, G.-text 55–56 –, Natur-G. 563, 566, 570, 579, 601, 612, 618, 654–655, 665, 688 –, Sitten-G. 566, 570–572, 579, 602– 603, 653–654 Gesetzgebung, epistemische 110, 160, 163, 435, 544, 554, 556, 572, 614– 615, 617, 705–706, 708 Gesetzmäßigkeit 29, 162, 182, 184– 185, 191, 221, 261–262, 562, 654– 655, 658, 663, 681–682, 691 Gesinnung 312, 335, 341, 579, 589– 590, 592, 598, 616, 620–622, 624, 633, 635–637, 642, 645–646, 683– 684, 692 Gewalt 38–39, 67, 70, 72, 119, 181, 183–185, 262, 271, 276, 278–279, 448, 625, 631, 642, 648, 680 –, der Göttin 118–123, 126, 128, 147 –, der Vernunft 577, 588, 634, 682– 683, 700 –, des Demiurgen 239, 245–249, 253, 258 –, des Logos 147, 149–150, 158, 161 –, Jesu 367 –, staatliche 270, 275, 317, 319, 346, 646, 694–695 Gewohnheit 113–114, 124, 126, 131, 136, 144, 154, 161, 559, 565 Glaube –, G.bekenntnis 327, 333, 340–342, 346–347, 380, 382, 416–417, 419– 421, 426, 438, 443, 449 –, G.gewißheit 329, 332, 335–336, 351, 370 –, G.gut 337, 351–353, 355 –, G.regel 332, 334, 336, 342–343, 350, 393, 416, 422 Glückseligkeit 43, 571, 575–576, 578, 599, 632, 640, 662, 675, 677, 693, 701 Gnade Gottes 332, 334, 357, 370, 372– 378, 431, 445, 525, 532, 541, 543– 544 Gott 98, 120, 146, 153, 199, 240–241, 243, 252, 255, 257, 306, 314, 321
744
–, G.beweis 335, 415, 458, 470, 496– 498, 504, 508–513, 515–518, 526, 533–534, 545–546, 550 –, G.dienst 555–556, 596, 629 Göttin 57–58, 94, 110, 112–123, 125–129, 133, 138, 140, 148, 155– 156, 158–159, 176, 214, 231, 313, 706 Göttliche, das 94, 150, 153, 200, 225, 328, 339, 357, 359, 361, 363, 366– 367, 379, 454, 588, 631–632, 707 Grund des Wissens 96–97, 102, 138, 156–157, 297, 393, 435, 440, 446, 556, 706 Gute, das 194, 213, 220, 222, 226, 238, 245, 254, 258, 261, 371–372, 377, 432, 536, 542, 552, 569, 585, 593, 606, 608, 615–616, 619, 630–632, 634, 636, 646, 651, 660, 665, 688, 709 –, Wohnung des 220, 228 –, höchste 312, 532, 548, 552–555, 575, 577, 660–662, 665, 677, 690, 693, 700–702 Herrschaft –, der Vernunft 259, 563, 690, 702 –, des Bösen 615, 619–620, 622, 634– 636 –, des Guten 239, 258, 615, 622, 635– 636, 642, 644 –, des Logos 146–149, 160–162, 166, 182, 185–186, 191, 259, 261–262 Hochmut/Demut 362, 366–367, 371, 402 Hoffnung 329, 331, 366, 575, 635 Homousie 328, 342–344, 346–347, 355, 382, 392, 394, 417–419, 449, 541, 629 Hypostase 338–340, 342, 344, 355, 380, 382, 417, 432, 708 Ideen-Zahl 228–229 Ideenschau 192, 194–196, 200–201, 205–206, 213, 215, 260 instituta maiorum 286, 290, 295, 298, 301, 303–304, 306–307, 313, 323– 324
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Sachregister Juden, jüdisch 332, 370, 386, 413, 420, 621–622, 624, 644 Kampf –, der Gegensätze 143 –, des Guten 242, 559, 577, 579, 614– 615, 617–619, 622–624, 626, 630, 633, 637, 645, 650, 660, 691, 693, 709 –, des Logos 148–149, 161, 177, 182– 183, 623 –, des Menschen um sich 624, 676, 690, 701 Kausalitätsprinzip 498, 509, 565, 583– 584, 593, 657, 698 Kirche –, apostolische 334, 350, 352 –, griechisch-orthodoxe 421 –, griechische 342 –, lateinische 342 –, Markions 334 –, römisch-katholische 348, 421 –, und Staat 347 –, unsichtbare 598, 645 Kopula 98, 474–475, 482, 494 Körper 130, 167, 169, 177, 180–181, 187, 207, 216, 229, 235, 255, 259, 405, 457–458, 468, 480, 502, 514, 550, 563–565 Kosmologie, Kosmogonie 87, 90, 103, 108, 134, 188–192, 230, 237, 246, 252, 254 Kraft, epistemische 142, 145, 147, 151, 216, 435, 440, 444–445, 448, 450, 494, 544, 651–652, 657–658 Kriterium –, der Klarheit 463, 471, 483, 485–486, 488–489, 504–505, 517, 519, 541, 544, 549, 555, 557–558, 564–565, 708 –, der Wahrheit 462, 464, 504, 552, 564 Kultur, Begriff der 48, 673, 675–678 Licht 25, 130, 194–195, 200–201, 205, 212, 333, 339, 362–364, 366, 411, 432–433, 540–542, 544, 559
Liebe 70, 213, 275, 298, 334, 375–376, 387 –, Begriff der 423–424 –, der Person 376 –, des Schönen 213–215 –, Eltern-L. 67, 77 –, Gottes 525 –, Gottes-L. 332, 362, 376–377, 431, 455, 531–532, 534, 543, 545, 554, 610, 632 –, Kinder-L. 70, 77 –, Selbst-L. 424, 581–583, 597, 599, 603, 605, 607, 610, 625, 632 –, von Vater und Sohn 425, 427, 429, 431 –, zu Christus 366–367, 370 Logifizierung –, der Erfahrung 148, 161–162, 183, 230, 248 –, Typen der 709–710 Maß 144, 147–149, 218, 221–223, 227–228, 230, 237, 247, 249, 255, 259–261, 380, 563 Materie 86, 180, 241–243, 246, 258, 480–481, 514, 563, 657, 670–671 Mathematik 29, 33, 184, 191, 228, 247, 255, 259, 526, 540, 548, 559, 563– 564, 566, 571, 658, 678, 702 Mechanik, Mechanismus 250, 252, 256–257, 559, 564, 618, 666–667, 669–670, 672–673, 675, 679–680, 682–683, 685, 687–689, 691, 698– 700 Meinung, doxa 85, 87, 100, 153, 175, 186, 188, 210, 212, 238, 262–263, 308, 445, 458, 631–632 –, begründete 84, 100, 160, 369, 703 –, richtige 197–198 Menschwerdung Gottes 359, 364– 365, 524 Metaebene, epistemologische 109, 124, 135, 384, 568, 705 Metapher –, Handwerker-M. 234, 242–243 –, sexuelle 197, 212, 214–215 –, visuelle 196–197, 200, 212, 215
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
745
Sachregister Natur –, des Menschen 373, 577–581, 584– 585, 588, 590–591, 594, 598, 601, 605, 607, 612, 636, 708 –, Evolution der 669–670, 673, 675– 676 –, Geschichte der 609, 672 –, N.wissenschaft 559, 563, 565–566, 570, 573, 657–658, 666–667, 708 –, Technik der 666–667, 669, 671, 673, 676, 680, 682, 686, 690, 698 Nichtseiendes 110–115, 123, 128, 139, 142, 156, 163, 168, 170–175, 183, 203, 208, 211, 217, 224, 242, 537 Nichtwissen 47, 59, 85–86, 88, 91–92, 136, 198, 443, 451 Noetische, das 224, 234, 239, 245, 253, 261 Offenbarung 122, 128, 176, 341, 363, 504, 539, 557, 596, 623, 638, 640, 642 öffentlich/privat 273–274, 276, 279, 283, 319, 323, 331, 350, 456, 589, 620, 622, 633, 649 Öffentlichkeit 623, 634–640, 642, 645–651, 661 Ordnung –, gute 191, 200, 206, 212, 224, 226, 229, 248, 259, 261, 714 –, natürliche 601, 605, 607–609 –, sittliche 580–582, 584–585, 595, 597, 599, 601, 605, 607–609, 611– 612, 619, 629, 644, 648, 650, 658, 690, 693, 700, 702 –, trügerische 115, 124, 130 Paradoxie 68, 70, 73, 75, 140, 145–147, 149, 159, 161, 164, 184, 203, 205, 211, 236–238, 248, 257, 277, 347, 374, 376, 397, 432, 535, 538–540, 585, 588, 611 Person, Begriff der 384, 386–387, 389–390, 398–399, 402–404, 433, 521, 586, 588
746
Raum 21, 169–172, 174, 176–177, 180, 183, 186–187, 190, 211, 231, 248, 250–251, 260–262, 307 –, R. und Zeit 287, 289, 675 Rede 33, 109, 117, 120–121, 128, 141, 156, 195, 208–211, 219, 221, 230– 231, 237–238, 274, 304, 367, 450, 587 Regel, epistemische 79, 142–143, 457, 459, 539 Reich –, der Atome 164, 166, 176–177, 182, 184, 186, 188, 191, 252, 260, 262 –, der Ideen 193, 201, 216, 219, 260 –, der Vernunft 556–559, 577, 660, 662, 676, 690, 699, 702 –, der Zahlen 221–222, 224, 226 –, des Wissens 147, 149, 160 –, drittes 164–166, 176–177, 182, 184, 193, 226, 248, 260–261 –, Gottes 332, 343, 363, 709 –, Gottes auf Erden 576, 596, 598, 618, 635 Rekonstruktion, epistemologische 8– 9, 44, 147, 159, 704, 711, 713–716 Rekonstruktion/Dekonstruktion 715 Republik –, epistemische 645, 650–651, 660– 662, 678, 702 –, ethische 642, 647–648, 652 res –, christiana 348, 351 –, publica 285, 291–292, 294–295, 299–300, 302, 304, 307, 312, 316, 319, 321, 323–324, 350, 357, 448, 646, 694–695 –, romana 290–293, 297, 299, 308– 313, 315, 317–319, 322–324, 348, 352, 375, 707 Rom, ewiges 304–305 Sache –, gemeinsame 289, 319, 321, 323– 324, 416, 425, 428–429, 431, 542, 556, 593, 647–648, 650 –, heilige 291–292, 299, 309, 311, 313, 315, 321, 348, 352, 375–376, 594, 650
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Sachregister –, öffentliche 291, 319, 646, 649, 652 Satz –, vom Apeiron 101–102, 104–105, 112 –, vom Logos 130, 137–139, 145, 147, 150, 153–159, 176, 191, 219, 259, 261–263, 705 –, vom Seienden 107–108, 115–116, 122–124, 126–128, 131, 137, 140, 159, 706 –, vom Wasser 83–86, 88–93, 95–101, 105, 112, 116, 461, 706 –, von der Luft 101, 106–108, 112– 113, 116 –, von der Notwendigkeit 177, 182– 184, 191 Schrift –, biblische 328, 339, 358, 368, 380– 381, 390, 393, 418, 421, 449, 531 –, heilige 56, 339, 352, 640, 645 Seele –, als Spiegel 194, 200, 205, 213, 565 –, barbarische 135–136 –, des Philosophen 238 Sinne 114, 130, 135–136, 166, 171, 173, 182, 194–195, 197–199, 224, 232, 235–236, 244–245, 247–250, 253, 255–256, 487, 491–492, 502, 541, 545, 566, 570, 603, 654, 656– 657, 665 Sinnenwelt 188, 254, 361, 575, 651– 654, 659, 663, 668, 673, 676, 684, 688–689, 701 Sinnlichkeit 130, 230–231, 233, 247, 253, 264, 579, 581–584, 589, 597– 599, 601–602, 604–605, 607, 609– 610, 612–614, 636, 651–652, 654, 657, 660, 668, 690, 693, 697 Sprecher 46, 65, 381, 385, 389, 440– 441, 444–445, 447–449, 469, 649 sterblich/unsterblich 57–58, 105, 113– 115, 117, 120, 123–129, 132–133, 137, 141, 145, 160, 163, 198, 213, 215, 219, 366, 484, 510, 551, 574, 580 Subjekt –, autonomes 92–93, 116–117, 119,
129, 159, 197, 199, 214, 245, 263, 439, 446, 708 –, epistemisches (Begriff) 47–48, 50– 51 Synode 342–344, 347, 373, 382, 417, 419 System –, der Vernunft 562, 565, 570, 615, 631, 637, 640, 660, 686 –, geschlossenes 261, 394 –, offenes 261 Tatsache, epistemische 219, 221, 264, 299, 458, 538, 566–567, 573, 578 Tautologie 246, 259, 474, 516, 711– 712 Trinität 329, 335–337, 340, 342–343, 348, 355, 379–380, 382, 384, 386, 389–394, 404, 417, 419, 432, 462 –, T.-Formel 329, 380, 382, 389–390, 400, 409, 418, 434, 445, 523 Überredung, geheime 239, 255, 257, 695 Urheber (aitia, causa) 96, 101, 117, 193–195, 197–200, 206, 214, 216, 224–226, 230–231, 233, 235–236, 245, 253, 372, 378, 419, 429, 502, 575, 610, 686 Urheber (auctor) 8, 74, 77, 289, 292– 293, 300, 313, 348–349, 351–353, 355, 370, 375–376, 378, 412–413, 432, 447, 530, 532, 537, 539, 542– 543, 545, 554, 584–585, 587–588, 594–595, 608–609, 611, 643 Vermögen, epistemische 127, 172, 174, 230, 247, 322 Vernunft 5, 9, 28, 41, 135, 141, 146, 222, 225, 245, 257–259, 261–262, 265, 304, 328, 343, 346, 352, 355, 358–363, 371, 380, 388, 392, 450, 519, 535, 539–540, 556–557, 562, 566, 568–569, 705, 708–710, 712– 715, 717 Verstand 45, 113, 115, 194, 252, 257, 262, 311, 453–454, 491, 499, 518,
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
747
Sachregister
748
520–521, 525, 529, 531–535, 537– 541, 543, 554–556, 558, 563, 566, 570–571, 584, 612, 651–666, 668, 672–673, 678, 681, 683, 685, 690, 696, 698–699, 701–702, 708, 710 –, diskursiver 697–698 –, intuitiver 696 –, technischer 695–699 –, V. selbst 655–656 Verwandtschaft 45–47, 199, 642–644, 671–672, 676 Vierzahl 228–229, 254–256 Vollkommene, das 193, 243, 337, 343, 372, 383, 417, 497, 503, 505–516, 518, 521–525, 533, 536, 539, 550, 556, 628, 643, 668 Vorsehung 371, 684–687, 689–692, 694–695, 699–700 Vorstellungen, logifizierte 182, 193– 194, 260
–, Gottes, der Götter 240, 309, 313, 341, 354, 410, 413–415, 433, 447– 448, 450, 536–537, 539–540, 542, 556, 708 –, guter 357, 371, 378, 611, 646, 682, 692, 696 Wissen –, Begriff des 47, 49–50 –, W.repräsentation 8, 45–47, 49–50, 56, 59, 87, 91–97, 100, 102, 107, 116, 124, 127, 129–130, 138, 144, 148, 175, 212, 263, 297, 307, 334, 336, 437, 459, 481, 558, 570, 652, 703, 707 Wohl –, des Menschen 548, 550–553, 555, 650 –, Wohlfahrt 575, 701–702 Wort Gottes 363, 376, 414, 434–435, 437, 439–449, 451
wachen/schlafen/träumen 49, 98, 107, 152–154, 331, 468 Werden, das 88, 105, 130, 134, 136, 146, 156, 207, 220, 223, 230–231, 234–239, 243–244, 247–248, 250– 251, 253–254, 256–257, 261 Widerspruch, performativer 296, 481 Wille –, freier 369–370, 373–378, 522, 524, 527–536, 546, 553, 606, 611, 677– 678, 683
Zeugung 70–74, 77, 213, 289, 337– 338, 347, 382, 395–396, 398, 409– 410, 413–414, 418, 422, 427, 577, 633 –, ewige 338–339, 341, 411, 413, 415, 418, 442 –, im Schönen 213–215 Zukunft 57, 321, 366, 438, 567, 575– 577, 579, 618, 634, 661–662, 666, 675–677, 685, 690–692, 695, 700– 702, 709
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
2 Personenregister
Adler 596, 719 Adorno 27–32, 38–39, 43, 719, 725, 730, 732–733, 737 Alexander von Aphrodisias 178, 181, 185 Alexander von Hales 524 Alfaric 359, 364, 719 Alquie 533 Ambrosius 352, 355, 358, 390, 719, 735 Anaxagoras 149, 165–166, 189, 197, 232, 251, 260, 263 Anaximander 86–87, 98, 101–106, 108, 110, 119, 161, 461, 729, 737 Anaximenes 101, 105–108, 461 Andresen 340–341, 389–390, 719– 720 Arendt 67, 78, 272, 275, 283, 291, 321– 322, 394, 425, 720 Aristoteles 33, 77, 83–84, 86, 88–89, 96, 98–103, 105–106, 134, 143, 146, 149, 161–162, 165–170, 172, 177– 179, 181, 183, 186, 188–189, 222– 223, 228–229, 240, 246, 255, 263– 265, 395, 399, 423, 458, 461, 466, 613, 616, 719–720, 725, 737–738 Arnaud 483–484, 491, 496, 508, 513, 523–524, 535 Athanasius 342–343, 345–346, 417, 720, 740 Augustin 9, 15, 80, 328–329, 331, 346, 348, 354–356, 358–366, 368– 370, 372–374, 377–384, 387, 390– 403, 405–416, 418–427, 429, 431– 438, 440–450, 456, 467, 523–524, 531, 541, 596, 617, 707, 713, 719– 720, 722, 724–726, 729, 731–732, 737 Ayer 465
Baeumker 244, 720 Barth 596, 720 Basilius von Caesarea 346, 382 Bauch 672, 720 Baumgartner 598, 639, 645, 720, 730 Beck 592, 721 Beierwaltes 436, 721 Benjamin 24, 721 Benveniste 721 Bernays 133, 721 Bhattacharya 23, 721 Bochenski 73, 77, 278, 721 Boethius 385, 387–388, 403, 721 Böhme 721 Bolzano 474, 721 Bondeli 598, 653, 721, 734 Brands 463, 473, 494, 722 Brisson 202, 242, 722 Bröcker 228 Brumlik 622, 722 Buchheim 131, 253–254, 722 Buhr 598, 722 Bultmann 625, 722 Burnet 86, 180, 719, 722 Caesar 313, 321, 325 Campenhausen 348, 354, 722 Cantor 222, 722 Capelle 100, 103, 105–106, 125, 133, 137, 144, 151, 154, 165, 722 Cassirer 53, 462, 491, 498, 518–519, 529–530, 540, 553, 598, 722 Caterus 478, 500, 509, 523, 723 Cato 272–273, 284, 287, 306, 311, 723, 726 Cherniss 219, 722 Christine von Schweden 522, 532, 549, 553 Cicero 178–179, 265, 268, 270, 272– 274, 283–288, 290, 294–296, 298– A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
749
Personenregister 305, 308, 312–313, 316, 321–323, 357, 384, 719, 723, 725–726, 733– 736 Clemens von Alexandria 263, 335, 355, 433, 723 Cohen 586, 611, 723 Cramer 517, 567, 723 Cyprian 353–354, 735 Darwin 671 Demokrit 8, 13, 149, 162–164, 167, 169–170, 173–176, 178–183, 185– 191, 211, 225, 248, 250–252, 255, 260–262, 264, 438, 725–727, 731 Derrida 56, 264, 723 Descartes 9, 17, 80, 191, 196, 453–465, 467–473, 475, 477–515, 517–555, 557–559, 563–564, 575, 585, 613, 708, 713–714, 719, 721–724, 727, 730, 732–733, 736–739 Deschner 333, 344, 724 Dewey 195, 724 Diels 87, 99, 125, 137, 724 Dilthey 555, 724 Diogenes Laertius 147, 151, 185, 188– 190, 724 Dion Cassius 276, 725 Driesch 673, 724 Drobner 390, 724 Düsing 669, 672, 697, 699, 724 Empedokles 134, 165, 197, 260, 423 Engels 5, 316, 564, 613, 724, 732 Ennius 306, 312 Epikur 181, 186–188, 191, 616 Epiphanius 340, 729 Eschenburg 271, 349, 725 Eusebius 132, 178, 344, 346 Feuerbach 28, 472, 510, 725 Fichte 474, 641, 725 Findlay 215, 252, 725 Fischer 331, 611, 725, 736, 739 Flasch 69, 364, 371, 373–374, 396, 399, 425, 448, 450, 725 Foucault 44, 703, 725 Fränkel 89, 94, 102, 107, 110, 118–120, 123, 725
750
Frede 208 Fueyo 269, 277, 291, 318, 348, 726 Fuhrer 358, 374, 450, 726 Fuhrmann 284, 303, 306, 324, 385, 391, 726 Gadamer 6, 114, 134, 136, 141–142, 152, 170, 184, 187, 204, 235, 244, 247, 257, 711, 726, 729 Gaiser 211, 228, 234, 237, 726 Galen 167, 178 Gassendi 455, 480–481, 487, 509 Geerlings 352, 366–367, 373, 392, 394, 726 Gerhardt 694, 726, 731, 738 Gigon 89, 131, 141, 161, 215, 264, 719, 726 Gilson 377, 726 Gollwitzer 329, 727 Gomperz 228 Graeber 270, 276, 727 Graeser 174, 205, 727 Gregor von Nazianz 346 Gregor von Nyssa 346, 420, 727 Greshake 340, 408, 455, 727 Guardini 365 Gueroult 456, 470, 727 Habermas 31, 39, 562, 639, 695, 727 Habichler 576, 624, 635, 675, 684, 727 Hägler 202–203, 728 Halfwassen 240, 242–243, 246–247, 728 Hare 728 Harnack 334–335, 337, 341, 343, 371, 392, 394, 728 Hegel 25–26, 89–90, 108, 112, 141, 146, 173, 175, 186, 240, 246, 293, 314–315, 472–473, 630, 721, 726, 728, 734–736 Heidegger 33–39, 43, 98, 109, 117, 454, 492, 557, 728, 733, 736 Heinze 268–269, 273, 278–281, 317, 728 Heitsch 119, 728 Henrich 10, 386–387, 533, 728 Heraklit 12, 37, 130, 132–155, 157–
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Personenregister 161, 164, 176–177, 182–184, 195, 207, 705–706, 738 Herodot 57, 60, 62–64, 288, 311 Hintikka 466–467, 488, 728 Hobbes 479–481, 505, 509, 521, 613, 638 Höffe 650, 682, 684, 694, 726, 728, 736 Hölscher 102–103, 105, 112, 132–134, 141, 146, 729 Holz 477, 496, 501, 565, 618, 627, 729, 731 Horkheimer 28, 32, 38, 72, 729 Horstmann 616, 671, 696, 726, 729 Hume 233, 565, 613, 729 Irenaeus 334 Jaeger 64, 87, 96, 729 Jaspers 26–27, 115, 729 Jesus 27, 327–336, 339, 341–343, 349– 350, 352, 364–365, 370, 388, 404, 438, 468, 625, 727–729, 735–737 Jonas 67, 376, 431, 699, 729 Julian 371, 373–374, 378, 732 Kalkavage 230, 232, 729 Kant 9, 42–43, 59, 182, 191, 196, 229, 234, 254, 462, 474–475, 483–485, 492, 516, 563–566, 568–588, 590– 593, 595–613, 615–629, 631–639, 641–667, 669–687, 689–690, 692, 694–701, 705, 713–715, 719–725, 727–729, 731, 734–737, 739–740 Karl der Große 421 Kelly 334, 344, 346–347, 382, 416– 417, 419–421, 730 Kelsos 330 Kemmerling 546, 723, 730 Kierkegaard 28, 74, 730 Kimmerle 23, 730 Kirk 89–90, 102, 105–106, 125, 135– 136, 139, 151, 154, 162–163, 165– 167, 170, 178, 181, 186, 189, 255, 263, 730 Kleingeld 576, 701, 730 Knoll 32, 730 Kobusch 198, 205, 208, 215, 222, 242, 388, 524, 586, 728, 730
Konstantin 344, 346 Krämer 227, 730 Krings 227, 241, 259, 720, 722, 730– 731 Krohn 670, 730 Kuhn 35, 277, 731 Küng 453, 455, 731 Laberge 684, 694, 731 Lange 184, 263, 317, 565, 731 Leibniz 27, 462, 474, 477, 492, 551, 563–565, 632, 731 Leukipp 149, 162, 167–168, 170, 173, 175–176, 178–179, 181, 183, 185, 189–191, 211, 232, 248, 250, 252, 255, 260–262 Lévi-Strauss 49, 731 Livius 271, 290, 311, 313, 731 Löbl 168, 170–171, 174, 179, 182, 186–187, 731 Locke 196, 566, 613, 616, 632 Löhr 218, 731 Löwith 34, 731 Lukács 696, 732 Lukrez 263 Lütcke 348–349, 353, 355–357, 361, 363, 367–368, 375, 412, 732 Maine de Biran 464, 732 Mall 23, 732 Mansfeld 109, 122, 125, 732 Marius Victorinus 358, 417, 721 Marquard 665, 722, 726, 728, 732 Marrou 356, 358, 362, 448, 450, 732 Marshall 514, 732 Marx 5, 50, 175, 180, 234, 319, 613, 680–681, 724, 732, 739 Mersenne 487, 505, 520, 522, 526, 532, 535, 553 Mommsen 269, 271–272, 280, 287, 306, 308, 386, 733 Montesquieu 298, 312, 317, 733 Müller 185, 230, 308, 733 Natorp 164, 187, 200, 209, 214–215, 222, 224, 250, 253, 265, 733 Neschke 246, 257, 728, 733 Nestle 89, 330–331, 336, 733
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
751
Personenregister Newton 564, 733 Nietzsche 5, 28, 43, 91, 109, 130, 190, 448, 459, 533, 715, 722, 733 Nikolaou 169, 225, 251–252, 255, 262, 734 Numa 284, 290, 300 Oktavian 317, 321 Origenes 337–340, 344, 355, 417, 433, 727, 734 Parmenides 12, 28, 103, 107–115, 117–125, 127–137, 139–140, 144– 145, 147, 149–150, 152, 155–156, 158, 161, 165, 168, 170, 174, 176, 183, 195, 199, 201, 203–207, 210, 219, 233, 436, 474, 704, 706, 719, 723–724, 726, 728, 732, 734–735, 738–740 Pascal 547, 734 Paul von Samosata 341 Paulus 272, 274, 321, 329, 331–332, 358, 366, 370–371, 397–398, 531, 737–738 Pelagius 371–374, 378, 739 Petrus 332, 347 Platon 8, 13, 29, 33, 40, 55, 57, 84, 112, 131, 134, 143, 146, 149, 162, 173, 191–193, 195, 197–199, 201, 203– 204, 206–208, 210, 212, 214–215, 219, 222–223, 225–230, 233, 236, 240, 242, 245–248, 252, 254–255, 259, 261–262, 264, 301, 359, 374, 423, 461, 650, 697, 719, 725–728, 730, 733, 737–740 Plinius 285 Plotin 359, 423, 433, 436, 728, 730, 734 Plutarch 57, 187, 242, 727 Pohlenz 303, 734 Polybios 279, 295, 298, 311–312, 386 Popper 90, 102, 733, 735 Porphyrios 336, 365 Pöschl 295, 301, 304–305, 316, 734 Prauss 607, 613, 735 Proklos 202 Protagoras 233
752
Pythagoras 27, 133, 145, 151, 290, 313, 359–360 Reale 198, 230, 242, 735 Reinhardt 103, 112, 114, 122, 125, 132–133, 135, 137, 140–141, 143, 151, 735 Reinhold 653, 735 Renz 624, 735 Rescher 7, 735 Rheinfelder 384–386, 389, 735 Ring 275, 351, 354, 358, 413, 735 Robin 220, 251, 253 Röd 491, 494, 497–498, 514, 518, 551, 736 Rohbeck 685, 736 Roloff 283–284, 287, 298, 303–304, 736 Romulus 284, 286, 300, 308–309 Rorty 196, 456, 547, 736 Russell 28, 168, 188, 736 Ryle 204, 456, 736 Sabellius 341 Safranski 38, 736 Sala 596, 625, 645, 736 Saner 693, 736 Schadewaldt 86, 89, 110, 736 Schelling 48–49, 57, 94, 241–242, 258–259, 314–315, 458–459, 467, 470, 473, 516–517, 533, 608, 671, 734, 736 Schiller 58, 465, 736 Schleiermacher 215–216, 736 Schmaus 382, 392, 399, 415, 421, 433, 441, 720, 736 Schnädelbach 31, 454, 733, 737 Schoeps 737 Scholz 466–467, 477, 737 Schönrich 678, 720, 737 Schopenhauer 28, 458, 474–475, 737 Schrödter 491, 499, 737 Scipio 272, 274, 295, 300, 321 Seattle 45, 47, 729 Sedley 170, 737 Sextus Empiricus 135–136, 141, 154, 163, 167, 185, 229, 737 Simplician 358, 365, 370
ALBER PHILOSOPHIE
Alexander von Pechmann https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
Personenregister Simplikios 86, 101, 103, 105–106, 167, 169–170, 178–179, 186, 188–189, 738 Snell 89, 94, 99, 135, 141, 738 Sofsky 67, 76, 276, 738 Sokrates 27, 162, 192–194, 196, 198– 201, 203–204, 212–213, 215–216, 218, 220–228, 232, 238, 242, 245, 250, 252, 461, 624, 729 Spaemann 377, 404, 476, 722, 731, 738 Stegmüller 459, 738 Stenzel 108, 217, 223, 227, 738 Striker 216, 218, 738 Szlezák 236, 738 Tertullian 334, 336, 349–355, 358, 370, 389–390, 412, 719, 735 Thales 8, 12, 25–26, 83–84, 86–93, 95–96, 99–101, 103–104, 114, 130, 145, 159, 461, 706, 715, 733, 737 Theodosius 347, 438
Theophrast 106, 181, 185 Theunissen 109, 720, 738 Topitsch 53, 234, 738 Verdenius 109, 738 Vergil 321 Vorländer 680, 739 Warnke 739 Weber 67, 76, 275, 739 Weingarten 670, 739 Weizsäcker 739 Wieland 205, 739 Williams 460, 480, 498, 507, 511, 522, 549, 739 Wippern 219–220, 223, 228–229, 251, 253, 730, 739 Wittgenstein 449, 704, 730, 739 Zekl 202, 204, 249, 740 Zenon 131, 300
A
Autonomie und Autorität https://doi.org/10.5771/9783495997222 .
753