Offener und eingehegter Diskurs: Zur Struktur des juristischen Denkens [1 ed.] 9783428587315, 9783428187317

Johann Braun beschreibt das juristische Denken auf eine ungewohnte Weise, nämlich als ein Zusammenspiel zweier gegenläuf

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German Pages 128 Year 2022

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Offener und eingehegter Diskurs: Zur Struktur des juristischen Denkens [1 ed.]
 9783428587315, 9783428187317

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Schriften zur Rechtstheorie Band 305

Offener und eingehegter Diskurs Zur Struktur des juristischen Denkens

Von

Johann Braun

Duncker & Humblot · Berlin

JOHANN BRAUN

Offener und eingehegter Diskurs

Schriften zur Rechtstheorie Band 305

Offener und eingehegter Diskurs Zur Struktur des juristischen Denkens

Von

Johann Braun

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI books GmbH, Leck ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-18731-7 (Print) ISBN 978-3-428-58731-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Worin besteht die Besonderheit des juristischen Denkens? Was ist der Grund, weshalb Juristen so denken und argumentieren, wie sie es zum Leidwesen ihrer Mitwelt meist tun? Und wie hängt dieses Denken mit der Art und Weise zusammen, wie man außerhalb juristischer Kreise mit rechtlichen Problemen umgeht? An sich sollte man meinen, daß darüber die Rechtswissenschaft hinreichend Auskunft gibt. Irgendwie tut sie dies wahrscheinlich auch – aber wo? „Rechtswissenschaft“ ist ein Sammelbegriff für sehr verschiedene Wissenschaften, die sich schwerpunktmäßig mit „Recht“ beschäftigen. Das sind mehr als ein einzelner zu erfassen vermag. Die Fülle von Gesichtspunkten, die in diesem weitgespannten Wissensgebiet verarbeitet werden, könnte es nahelegen, sich auf einen kursorischen Überblick zu beschränken. Aber damit gäbe man allen, die sich den genannten Fragen stellen, eher Steine als Brot; denn diese suchen keine „juristische Landkarte“, sondern wollen wissen, welche Vorstellung man sich von der juristischen Tätigkeit überhaupt zu machen hat, gleichgültig ob man Jurist ist oder nicht. Dazu jedoch bedarf es einer Art Metamethodik, die das juristische Denken mit dem nichtjuristischen vergleicht. Das vorliegende Büchlein geht daher einen eigenen Weg. Es beginnt mit der Darstellung einfacher Strukturen und reichert diese sukzessiv durch Einsichten an, die unterschiedlichen Bereichen des Rechtswesens entnommen sind, setzt also auf die schrittweise Sichtbarmachung von bisweilen wenig beachteten Zusammenhängen. Das sollte es jedem, der bereit ist, solchen Überlegungen zu folgen, erlauben, einen womöglich ungewohnten Einblick in die Eigenart und Bandbreite des juristischen Denkens und Argumentierens zu gewinnen. Ungewohnt deshalb, weil hier versucht wird, die juristischen Denkschablonen der Rechtsdogmatik und die eingefahrenen Routinen der Rechtspraxis auf unvoreingenommene Weise zu hinterfragen. Vom Üblichen weicht dieses Opusculum aber noch in einer anderen Hinsicht ab, die freilich mit dem Gesagten zusammenhängt. Denn hier wird schwerpunktmäßig der Frage nachgegangen, wie das positive Gesetz den rechtlichen Argumentationsspielraum beeinflußt oder genauer: wie das Gesetz die Komplexität rechtlicher Erörterungen erst reduziert und wie die dadurch bewirkte Verengung des Horizontes im Zuge neu hinzutretender Aufgaben schrittweise wieder rückgängig gemacht wird. Auch dies wirft ein ungewohntes Licht auf das juristische Denken. Wenn es zutrifft, daß der Bruch mit eingefahrenen Gewohnheiten der Türöffner zu weiterführenden Erkenntnissen sein kann, dann sollte der hier unternommene Versuch auch insoweit auf Nachsicht rechnen dürfen. Das Werk ist auf der Grundlage einer vieljährigen Beschäftigung mit unterschiedlichen Aspekten des Rechts und der Rechtswissenschaft entstanden. Es be-

6

Vorwort

ruht daher vor allem auf den hierbei gemachten Erfahrungen und weniger auf der literarischen Verarbeitung der Schriften anderer Autoren. Diese Erfahrungen galt es, dem Leser – nicht zuletzt mit Hilfe von eingestreuten Skizzen – auf anschau­liche Weise nahezubringen. Der in juristischen Arbeiten übliche „Fußnotenapparat“ war dafür weder erforderlich noch hilfreich. Um den Lesefluß nicht zu stören, habe ich daher nur die Herkunft gelegentlich eingestreuter Zitate kurz nachgewiesen. Passau, im Juni 2022

Johann Braun

Inhaltsverzeichnis A. Rationalisierung durch Argumentationsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.

Die Struktur unbeschränkt offener Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

II.

Gesetze als „Scheuklappen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

III. Denken mit fremdem und eigenem Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 IV. Nachjustieren der gesetzlichen Stellschrauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Von der Regel zur Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I.

Die Rechtsnorm als Konditionalprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

II.

Pekuniar- und Realvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

III. Reduktion der Voraussetzungen und der Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 IV. Subsumtion des Falles unter die Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Von der Entscheidung zur Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 I.

Der Falltypus hinter dem konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

II.

Die abstrakte Regel hinter dem Falltypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

III. Das Prinzip hinter der Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 IV. Fallrecht bei der Gesetzesanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 D. Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 I.

Recht im „gasförmigen“ Aggregatszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

II.

Prinzipien als Quelle des Fallrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

III. Prinzipien als Quelle des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 IV. Erweiterung des Argumentationsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 V.

Generalklauseln und Grundwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

E. Der Rechtsfall und sein Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 I.

Weitgespanntes Beziehungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

II.

Konfliktlösung durch „tribalistische Gesamtbereinigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . 53

III. Streitentscheidung durch unbeteiligte Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 IV. Konditional- und Finalprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 V.

Prozessuale Bündelung massenhafter Einzelansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

8

Inhaltsverzeichnis

F. Entscheidungsfindung durch Verfahrensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 I.

Interaktion von Gericht und Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

II.

Entscheidung eines Dritten oder Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

III. Streitverfahren mit „Ausstiegsoption“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IV. Rechtsentscheidung im binären System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 V.

Materiellrechtliche und prozessuale Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

G. Wahrheitsbezug rechtlicher Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I.

Das Gesetz als solches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

II.

Das Recht hinter dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

III. Rechtsfindung durch Gesetzesanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 H. Das Kaleidoskop der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 I.

Gleiches gleich und Ungleiches verhältnismäßig verschieden behandeln . . . . . 84

II.

Archetypen rechtlicher Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

III. Kulturaffines Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 IV. Ideologie und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 I. Rechtseinheit und Rechtspluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I.

Pluralität nationaler Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

II.

Pluralität des innernationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

III. Europäisches Mehrebenenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 IV. Transnationaler Rechtspluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 J. Recht und Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 I.

Präsentation des geltenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

II.

Instrumentalisierung des Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

III. Rechtspolitischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. Das Gesetz als Insel im Meer des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Verzeichnis der zitierten oder in Bezug genommenen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

A. Rationalisierung durch Argumentationsverbote Wie jedermann weiß, kann man in Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden, auch wenn man es nicht darauf anlegt. Wer es einrichten kann, geht ihnen jedoch aus dem Weg; denn solche Konflikte sind für die Beteiligten meist unerquicklich. Dies nicht nur deshalb, weil sie zeitaufwendig und kostspielig sind – zumal dann, wenn man damit vor Gericht landet –, sondern auch aus dem Grund, weil sie leicht zu endlosen Weiterungen führen, da sich Sache und Person in rechtlichen Angelegenheiten oft schwer trennen lassen. Was als Streit über scheinbar harmlose Quis­quilien beginnt, kann sich unversehens zu einer Frage existentieller Selbstbehauptung auswachsen. Selbst das Gericht, das als neutraler Dritter fungieren soll, steht dem streitigen Recht nicht ganz so unbeteiligt gegenüber, wie man meinen könnte. Denn in gewisser Weise geht es immer auch um sein eigenes Recht, dem es in vergleichbarer Lage selbst unterworfen wäre. Es spricht daher sein Urteil – wenn auch nur potentiell – zugleich über sich selbst. Das kann leicht die Grundlagen des eigenen Selbstverständnisses tangieren. Diese sind daher immer mit im Spiel, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht. So war denn auch ein so namhafter Rechtsdenker wie Gustav Radbruch der Auffassung, daß Rechtsfragen letztlich nicht der Erkenntnis, sondern allein des Bekenntnisses fähig seien (Radbruch, 1932, § 2, 2), also keine rationale, sondern nur eine existentielle Antwort erlaubten. Ungeachtet solcher Schwierigkeiten sind Juristen von Haus aus darauf spezialisiert, mit Rechtsstreitigkeiten irgendwie doch „rational“ umzugehen, ja, sie sind geradezu Techniker des schier Unmöglichen, nämlich der rationalen Bewältigung sozialer Konflikte, die nicht selten einen irrationalen Ursprung haben oder sich in einen solchen hineinsteigern können. Allerdings bearbeiten Juristen derartige Konflikte meist anders, als sich die Betroffenen dies vorstellen: Sie formen sie zunächst einmal um, bevor sie sich näher damit befassen. Während der juristische Laie im Grunde nur wissen will, ob er auf dem von ihm eingenommenen Standpunkt beharren darf oder nachgeben muß, ob also er „im Recht“ ist oder der andere, zergliedert der Jurist einen ihm vorgelegten Fall erst einmal in zahlreiche Einzelheiten, um anschließend zu fragen, ob diese die sogenannten „Tatbestandsvoraussetzungen“ bestimmter Rechtsnormen erfüllen. Je nachdem wie die Antwort ausfällt, schlägt er eine Lösung vor, die scheinbar keinen Widerspruch duldet, und liefert dazu eine Begründung, in der sich formaljuristische Erwägungen und Common-SenseArgumente zu einer eigenartigen Melange verbinden. Wie unser Gerichtswesen belegt, funktioniert dies recht gut. Was vorstehend interessiert, ist jedoch nicht das Faktum, daß es funktioniert, sondern wie und warum es funktioniert. Um das zu verstehen, muß man ein wenig ausholen.

10

A. Rationalisierung durch Argumentationsverbote 

I. Die Struktur unbeschränkt offener Diskurse Sieht man von der fachjuristischen Einkleidung einmal ab, so geht es bei Rechtsstreitigkeiten in der Regel um die gegenseitige Abgrenzung des praktischen Handelns mehrerer Personen oder Organisationen. Die dabei immer wiederkehrenden Fragen lauten im Prinzip so: Darf ich etwas Bestimmtes tun oder unterlassen oder darf ich es nicht? Muß ich etwas Bestimmtes tun oder unterlassen oder muß ich es nicht? Kurz: bin ich zu etwas berechtigt oder verpflichtet? Haben die andern mein Verhalten hinzunehmen bzw. meinem Willen zu entsprechen, oder können sie umgekehrt verlangen, daß ich mich ihrem Willen füge? a)  Das zielt auf die Möglichkeiten und Grenzen individueller Selbstverwirklichung im sozialen Raum, also darauf, wer die gesellschaftlichen Handlungsspielräume nach seinen Vorstellungen gestalten darf und wer nicht, und wer den anderen ein ihm genehmes Verhalten abverlangen darf. Solche Konstellationen sind auf das Recht nicht beschränkt. Vergleichbare Konflikte kennt man aus der Politik. Freilich geht es dort meist um Entscheidungen mit Auswirkungen auf die Gesellschaft als ganze, während Rechtsprobleme, die sich für gerichtliche Aus­ einandersetzungen eignen, in der Regel auf die Beziehungen einzelner Rechtssubjekte zueinander beschränkt sind. Die Argumente, mit denen ein juristischer Laie seine Position zu stützen versucht, sind jedoch bei rechtlichen und politischen Themen ziemlich ähnlich beschaffen. Ebenso wie an politischen Stammtischen kann man auch in laienhaften Rechtsdiskursen immer wieder hören, daß ein bestimmtes Verhalten allein „sinnvoll“ und daher „alternativlos“ sei; daß man etwas „schon immer so“ gemacht habe; daß „andere ebenfalls dieser Meinung“ seien; daß sich dies oder jenes einfach „nicht gehöre“; daß gegebenenfalls „schlimme Folgen“ zu erwarten seien; daß der vorgeschlagene Weg kostengünstiger sei als andere usw. Dies alles selbstverständlich aufbereitet für den jeweiligen Fall und ange­ reichert mit Fakten und Behauptungen, die den gegebenen Umständen entnommen sind. Solche Allerweltsargumente, wie man sie nennen könnte, setzen keine förmlichen Gesetze voraus. Sie entspringen dem Dafürhalten derer, die sich darauf berufen, und sind im Grunde nichts anderes als das, was sich im Kopf eines jeden mit Hilfe von Rechtsgefühl, von rechtlicher und politischer Phantasie sowie von Erfahrung Geltung zu verschaffen sucht. Das kann vieles umfassen, da den Beteiligten hier keine formellen Grenzen gesetzt sind. Selbstverständlich möchte auch in solchen unbeschränkt offenen Diskursen, wie wir sie einmal nennen wollen, jeder obsiegen und keiner verlieren. Zur Begründung der ins Feld geführten Rechtsbehauptungen werden daher alle Register gezogen. Kein Argument erscheint einem juristischen Laien fehl am Platz, wenn es nur Erfolg verspricht oder wenigstens ihn selbst überzeugt. Bildlich kann man sich die verbalen Aktionen des Teilnehmers an einer solchen „offenen“ Rechtsdiskussion so vorstellen:

I. Die Struktur unbeschränkt offener Diskurse

11

P

Die Pfeile deuten an, daß die vorgebrachten Argumente in unterschiedliche, zum Teil sogar entgegengesetzte Richtungen zielen können. Wer die Kontrahenten in rechtsbezogenen Disputen des Alltags beobachtet, kann sich davon leicht überzeugen: Sieht ein Rechtsprätendent, daß er mit seiner Argumentation nicht durchkommt, macht er nicht selten kehrtum und bedient sich anderer, damit an sich unvereinbarer Argumente. Oder er argumentiert im einen Fall so, in einem ganz ähnlich gelagerten aber völlig anders und was dergleichen Dinge mehr sind. b) Dieses Grundmuster eines laienhaften Diskurses über Rechtsfragen findet man überall da, wo Meinungsverschiedenheiten nicht mit Waffen, sondern mehr oder weniger diffus mit Worten ausgetragen werden. Reduziert man den Konflikt einfachheitshalber auf zwei konträre Positionen, hat man es mit folgender Konstellation zu tun:

P1

P2

In der Hitze des Gefechts überhäuft jeder der Kontrahenten den anderen mit einer Fülle unterschiedlichster Argumente, denen von der Gegenseite ebenso viele Einwände entgegengesetzt werden. Da bereits die schiere Menge der Angriffs- und Verteidigungsmittel häufig kaum überschaubar ist und diese oft genug auch nicht aufeinander abgestimmt sind, erschwert dieses Verfahren eine rationale Auseinandersetzung ungemein. So ist z. B. nicht gewährleistet, daß die „Verteidigung“ auf derselben Ebene erfolgt, auf welcher der „Angriff“ vorgetragen wurde. Womöglich sagt der Verteidiger etwas ganz anderes, was für sich genommen sinnvoll sein mag, aber eigentlich nicht hierhergehört. Aber auch wenn er nicht abschweift, sondern das Argument seines Gegners stimmig widerlegt, wird dieser vielleicht in einer Weise replizieren, welche die Auseinandersetzung auf ein völlig anderes Gleis zieht. Wenn die Diskussion lange genug dauert, tauchen bereits widerlegte Argumente in veränderter Form erneut auf, weil man die Gegenargumente vergessen hat oder darauf spekuliert, daß sie der andere vergessen habe. Mangels eines Systems verbindlicher Regeln und eines unbeteiligten Dritten, der auf deren Einhaltung achtet, läßt sich daran nicht viel ändern.

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A. Rationalisierung durch Argumentationsverbote 

Kurz: unter juristischen Laien vollzieht sich der Streit um Recht und Unrecht meist in Form eines ungeordneten Pallavers, das allenfalls zufällig mit einer rationalen Beilegung endet. Wenn die Beteiligten einfallsreich genug sind, haben sie es in der Hand, endlos weiterzumachen. Davon kann man sich am Beispiel der an sich harmlosen Nachbarstreitigkeiten, die sich nicht selten über viele Jahre erstrecken, leicht überzeugen. Anlaß und Aufwand stehen hier nicht selten in einem wachsenden Mißverhältnis. Was speziell den im Parlament geführten politischen Streit angeht, der in der Sache einem ähnlichen Muster folgt, so vermag nicht einmal ein förmlich beschlossenes Gesetz diesem ein Ende zu setzen. Denn da das Gesetz den Gesetzgeber selbst nicht bindet, kann der Streit darüber jederzeit von neuem aufgenommen werden. Nichts bewahrt davor, daß der Punkt, wo er scheinbar geendet hat, nunmehr anders beurteilt wird als es ursprünglich der Fall war. Dasselbe gilt mutatis mutandis für alle anderen unbeschränkt offenen Diskurse ebenfalls.

II. Gesetze als „Scheuklappen“ Um in absehbarer Zeit rational entscheidbar zu sein, müssen rechtliche Streitigkeiten daher erst einmal in eine Form gebracht werden, die eine solche Entscheidung erlaubt. Dazu muß die an sich unbegrenzt offene Diskussion in eine unter Beachtung strikter Regeln erfolgende juristische Auseinandersetzung transformiert werden. Die dafür erforderlichen Operationen sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und insgesamt nicht leicht zu überschauen. Einiges davon wird daher erst in späterem Zusammenhang erörtert werden. Der Kern des Ganzen ist jedoch verblüffend einfach. Er besteht darin, daß die meisten der unübersehbar vielen Argumente, die in einer offenen Diskussion vorgebracht werden könnten, kurzerhand präkludiert werden. Dadurch verringert sich die Menge der in Betracht kommenden Gesichtspunkte auf eine überschaubare Zahl von Gründen und Gegengründen. Bildlich kann man sich die Reduktion von Komplexität, die durch solche „Argumentationsverbote“ bewirkt werden, so veranschaulichen:

P

Die von oben und unten her in das Bild hineinragenden „Balken“ symbolisieren eine semantische Schleuse, durch die alle Argumente, die nicht hindurch passen, und seien sie für sich genommen noch so einleuchtend, abgeblockt werden. Im Prinzip haben daher nur solche Argumente eine Chance, beachtet zu werden, die dieses

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II. Gesetze als „Scheuklappen“

formale Hindernis zu passieren vermögen. Was ausgeschieden wird, ist für die juristische Diskussion irrelevant. Natürlich setzt ein Beteiligter, der sich dessen bewußt ist, alles daran, Argumente zu finden, die diese Bedingung erfüllen, und verzichtet darauf, solche vorzubringen, mit denen er ohnehin nicht gehört werden kann. Das partielle Argumentationsverbot hat daher eine Spezialisierung und Zuspitzung des Konflikts zur Folge. Man ist genötigt, gewissermaßen „in Fesseln“ zu streiten. Der Raum der Auseinandersetzung wird dadurch enger, die Argumentation jedoch um vieles überschaubarer. a) Wir haben die Frage, wodurch genau solche Argumentationsverbote bewirkt werden, bisher offengelassen. Faktisch kann die Ausfilterung nicht erwünschter Argumente auf unterschiedliche Weise erfolgen. Das gebräuchlichste Mittel im Rahmen juristischer Auseinandersetzungen ist jedoch das förmliche Gesetz. Dieses ist seiner Funktion nach unter anderem ein Behelf, um von den vielen denkbaren Argumenten, die zur Begründung einer bestimmten Rechtsposition vorgebracht werden können, alle ausscheiden zu können außer einigen wenigen, die auf diesem Weg mit besonderer Relevanz ausgestattet werden. Gesetze wirken in gewisser Weise wie Scheuklappen: Sie verhindern, daß der Blick auf das gerichtet wird, was abseits des gewünschten Pfades liegt, und konzentrieren das Augenmerk auf das, worauf es nach Auffassung des Gesetzgebers allein ankommt. Von daher versteht man, warum Juristen oft beschuldigt werden, mit Scheuklappen durch die Welt zu gehen. Diese Scheuklappen sind nichts anderes als die Gesetze, durch die „hindurch“ sie auf die Rechtsprobleme ihrer Mitwelt blicken. Infolge dieser gesetzlich bedingten Horizontverengung nehmen Juristen die Probleme ihrer Umgebung häufig ganz anders wahr, als juristische Laien dies tun, nämlich hoch selektiv und auf einige wenige Punkte reduziert, die allein für die rechtliche Beurteilung und Entscheidung maßgebend sein sollen. b) Die Präklusion aller Argumente außer einigen wenigen gilt für beide Positionen einer juristischen Auseinandersetzung. So wie die eine Seite in den Mitteln ihres Angriffs beschränkt wird, so die andere in ihrer Verteidigung. Bezogen auf den Normalfall, daß sich zwei Kontrahenten (P1 und P2) gegenüberstehen, kann man sich den durch das Dazwischentreten des Gesetzes verbleibenden Argumentationsspielraum so veranschaulichen:

G P1

G P2

14

A. Rationalisierung durch Argumentationsverbote 

P1 kann die Rechtsposition, die er gegenüber P2 geltend macht, nur auf ausgewählte Argumente stützen. Umgekehrt kann sich P2 nur mit ausgewählten Argumenten dagegen verteidigen. Auf diese Weise wird der juristische Streit, gemessen an dem Konfliktpotential, das ihm zugrunde liegt, enorm vereinfacht. Die Argumentation ist überschaubar gemacht, womit der Streit einer rationalen Entscheidung um vieles näher gebracht worden ist. c)  Wer mit solchen Überlegungen erstmals konfrontiert ist, wird vermutlich überrascht sein. Denn daß die Rationalisierung einer Diskussion ausgerechnet durch Argumentationsverbote erfolgt, entspricht vielleicht nicht dem, was man erwartet hätte. Die spontane Vermutung der meisten dürfte dahin gehen, daß ein praktischer Diskurs um so rationaler verläuft, je zahlreicher und vielfältiger die Argumente sind, die dabei ins Spiel gebracht werden. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig: je spärlicher und spezieller die zulässigen Argumente sind, desto mehr entwickelt sich das, was im Ausgangspunkt ein diffuses Allerweltspallaver war, zu einem strikten Regeln folgenden Sprachspiel. Zu Recht hat Robert Alexy den juristischen Diskurs daher als einen „Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses“ bezeichnet, bei dem „die juristische Argumentation unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen stattfindet…, insbesondere d[er] Bindung an das Gesetz“. (Alexy, 1983, 32, 34; 1986, 498)

III. Denken mit fremdem und eigenem Kopf a) Nach dem Gesagten könnte es scheinen, als ob das von der juristischen Argumentation hier gezeichnete Bild unter Juristen Gemeingut sei. Das ist indessen nicht der Fall. Vielmehr haben diese von ihrer Tätigkeit meist eine ganz andere Vorstellung. Je mehr sie sich dem Gesetz verpflichtet fühlen, desto weniger glauben sie, daß die von ihnen ins Feld geführten Argumente ihre eigenen seien. Sie stellen sich vielmehr vor, daß sie den Willen des Gesetzgebers zur Ausführung bringen, indem sie dessen Intentionen verinnerlichen und daher gewissermaßen mit fremdem Kopf denken. In Anlehnung an eine Bemerkung Philipp Hecks wird das gelegentlich als „denkender Gehorsam“ bezeichnet. (Heck, 1912, 19 f., 51) Damit ist gemeint, daß der Gesetzesanwender nicht nur die gesetzlichen Argumentationsverbote beachtet, sondern auch da, wo ihm keine Verbote den Weg verlegen, umgekehrt nach Geboten sucht, um so argumentieren zu können, wie ein anderer – der Gesetzgeber – dies vermutlich will. Die Gesetzesanwendung stellt sich im Bewußtsein eines sich als strikt gesetzestreu verstehenden Juristen mithin so dar, als wären 1) viele mögliche Argumente gesetzlich präkludiert, während 2) die nicht präkludierten als Gebote „dem Gesetz selbst“ entspringen würden. Das zweite bildlich:

P G

III. Denken mit fremdem und eigenem Kopf

15

Diese Denkweise hängt damit zusammen, daß sich deutsche Juristen – nament­ lich wenn sie verbeamtet sind – nicht so sehr als Diener eines von positiven Satzungen unabhängigen Rechts, sondern als ausführende Organe der politischen Obrigkeit verstehen. Gesetze erscheinen ihnen daher nicht als Rationalisierungen eines von Haus aus diffusen, im Prinzip jedoch an der Sache orientierten Diskurses, sondern als Gestaltungsmittel in der Hand politischer Eliten. Daher sind sie bestrebt, den vermeintlichen Willen des Gesetzgebers zur Geltung zu bringen und jede andere Auffassung als Ungehorsam gegenüber dem Gesetz zu stigmatisieren. Es geht ihnen, pointiert ausgedrückt, also nicht so sehr darum, das objektive „Recht“ zu erkennen, sondern darum, den subjektiven Willen der Urheber des Gesetzes zu ermitteln und getreulich auszuführen. Daß diese Vorstellung nicht auf demokratischem Boden erwachsen ist, bedarf keiner Ausführung. In einer Demokratie ist das maßgebende Gesetzgebungsorgan das Parlament, so daß, wer nach dem Willen des Gesetzgebers fragt, eigentlich nach den Intentionen der Abgeordneten zu forschen hätte. Die Gesetzesentwürfe stammen indessen häufig nicht aus der Mitte des Parlaments, sondern aus den Ministerien, denen gerade keine Gesetzgebungskompetenz zukommt und deren Vorstellungen daher an sich keine Rolle spielen dürften. Mehr schlecht als recht behilft man sich daher mit der Annahme, daß die Abgeordneten die Erwägungen der ministerialen Gesetzesverfasser stillschweigend als eigene übernommen hätten (sog. Paktentheorie). Ist ein Gesetzesentwurf im Parlament kontrovers diskutiert worden, führt aber auch diese Annahme nicht weiter. Möglicherweise haben die Abgeordneten ihre Zustimmung nämlich aus ganz unterschiedlichen Gründen erteilt, so daß die Annahme eines bestimmten gesetzgeberischen Willens auch hieran scheitert. Wenn viele Juristen an der Vorstellung, bei der Gesetzesanwendung „mit fremdem Kopf“ denken zu müssen, dennoch festhalten, dann zeigt dies, daß sie sich unbewußt an einem Modell der Rechtsetzung orientieren, bei dem diese Forderung offenbar naheliegt. Das aber ist die politische Alleinherrschaft. In einer Monokratie ist der Alleinherrscher oberster Gesetzgeber und beansprucht, durch seinen Willen alle anderen binden zu können. Die Intentionen eines solchen Gesetzgebers lassen sich unschwer ermitteln, am einfachsten dadurch, daß man ihn selbst oder eine von ihm eingesetzte Kommission befragt, wie es zur Zeit der Aufklärung tatsächlich praktiziert wurde. Desweiteren aber hängt dieses Denken damit zusammen, daß Richter und Verwaltungsbeamte ursprünglich als die ausführenden Organe der regierenden Monarchen bestellt und ausgebildet wurden. Das diesem Verhältnis entsprechende Ethos tragen viele Juristen noch heute mit sich herum, obwohl die dazugehörige Staatsform mittlerweile der Vergangenheit angehört. b)  Unabhängig von den gerade angeführten Erwägungen findet das Denken „mit fremdem Kopf“ indessen bereits darin eine Grenze, daß man die Äußerungen eines anderen nur insoweit als Gedanken, das heißt als verbale Sinngebilde erkennen kann, als man sich damit, wenigstens tentativ, in einem gewissen Grade

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A. Rationalisierung durch Argumentationsverbote 

zu identifizieren vermag und nicht den Eindruck hat, es mit offenbarem Nonsens zu tun zu haben. Letzteres räumen Juristen nur in extremen Ausnahmefällen ein. Wenn es hart auf hart kommt, sind sie vielmehr bereit und bemüht, auch äußerst problematischen Anordnungen im Wege freizügiger Interpretation wenigstens nachträglich einen akzeptablen Sinn zu verschaffen. Im Hinblick darauf ergibt sich das Argumentationspotential, das man dem Gesetz zu entnehmen behauptet, streng genommen eben doch nicht „aus“ der Anordnung eines Gesetzgebers, sondern ist dieser der Idee nach vorgelagert. Das Gesetz greift es entweder im Wege einer verfahrensmäßig organisierten Rechtserkenntnis auf (Pawlowski, 1999, 259 ff.), oder es wird ihm nachträglich einokuliert. Im einen wie im anderen Fall bringt es einen ihm entnommenen Rechtsgedanken nicht aus dem Nichts heraus zur Entstehung, sondern zeichnet ihn nur in besonderer Weise aus, indem es ihn anderen Argumenten für überlegen erklärt. Infolgedessen kann ein solcher Rechtsgedanke nur durch solche Argumente ausgestochen werden, die ebenfalls gesetzlich beglaubigt sind. Das ist jedenfalls die Vorstellung, die sich ein juristischer Rechtsanwender machen muß, wenn er sich bei der Rechtfertigung seines tatsächlichen Umgangs mit dem Gesetz nicht in Widersprüche verwickeln will. Zur Erläuterung des Gesagten hier ein einfaches Beispiel: Nach § 823 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist derjenige zum Schadensersatz verpflichtet, der vorsätzlich oder fahrlässig „das Leben, den Körper, die Gesundheit, die [Bewe­ gungs-]Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges [ähnliches] Recht eines anderen widerrechtlich verletzt“. Um das einzusehen, bedürfte es nicht unbedingt dieser Vorschrift. Auch wenn es sie nicht gäbe, käme wohl niemand auf die Idee, daß man Freiheit oder Eigentum eines anderen schuldhaft verletzen dürfe, ohne ihm dafür Ersatz leisten zu müssen. Das Verletzungsverbot und das daran geknüpfte Kompensationsgebot gehört vielmehr zu den ungeschriebenen Voraussetzungen jedes gedeihlichen Zusammenlebens. Dieser jedermann einleuchtende Rechtsgedanke wird nicht dadurch zu einem „fremden“, daß ihn der Gesetzgeber sich zu eigen gemacht und im BGB in Gestalt eines Paragraphen niedergeschrieben hat. Auch in seiner gesetzlichen Form bleibt er ein Argument, auf das man auch selbst hätte kommen können, und nur deshalb kann er überhaupt als rechtliches Argument verstanden werden. Ebenso wie in diesem Fall verhält es sich mit den meisten anderen gesetzlichen Normen auch. Sie mögen sich vielleicht nicht alle in derselben Weise von selbst verstehen wie § 823 Abs. 1 BGB. Aber sie enthalten Argumente, die in einer offenen Diskussion auch dann vorgebracht werden könnten, wenn es das betreffende Gesetz nicht gäbe. Die Veränderung, die das Gesetz bewirkt, besteht daher, um es noch einmal zu sagen, nicht darin, daß es diese Argumente erstmals zu Argumenten erheben würde, sondern darin, daß es andere Argumente prinzipiell präkludiert. Ein bei unbegrenzt offener Diskussion mögliches Argument wäre im Kontext des obigen Beispiels etwa dies, daß nicht nur die Beeinträchtigung des Eigentums, sondern auch die des Vermögens – das juristisch auch sonstige geldwerte Güter umfaßt  – zum Schadensersatz verpflichten sollte. Im preußischen Allgemeinen

IV. Nachjustieren der gesetzlichen Stellschrauben

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Landrecht von 1794 war dies in der Tat so vorgesehen (I 6 § 1 ALR). Das BGB dagegen hat das Vermögen aus dem Kreis der sogenannten „absolut“ geschützten Rechtsgüter ausgeklammert, aber den Spezialfall des Eigentums darin gelassen. Dessen schuldhafte Verletzung löst daher nach wie vor einen Schadensersatz­ anspruch aus, die des sonstigen Vermögens jedoch nicht.

IV. Nachjustieren der gesetzlichen Stellschrauben Die Präklusion unabsehbar vieler an sich möglicher Argumente erleichtert die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten sehr, legt sie jedoch nicht ohne weiteres fest. Denn wie genau die Entscheidung ausfällt, hängt in hohem Maße davon ab, welche Argumente ausgeschlossen werden und welche nicht. Das wird primär durch das Gesetz selbst bestimmt, durch die Breite der damit errichteten „Schleuse“, die jedes Argument passieren muß, das in einer juristischen Diskussion Gehör finden soll. Diese Durchlässigkeit zu ermitteln ist in einfach gelagerten Fällen nicht schwer. Denn der gewöhnliche Sinn der vom Gesetz verwendeten Begriffe und Wendungen fungiert dabei fürs erste als eine Art „Passierschein“, weil diese Begriffe hier im Zweifel ebenso zu verstehen sind wie sonst auch. Eine Schwierigkeit ergibt sich indessen dadurch, daß die Breite der „Schleuse“ keine ein für allemal feststehende Größe aufweist, sondern in gewissem Umfang veränderlich ist. Wenn Juristen um die Lösung eines Falles streiten, sind ihre Bemühungen nicht selten darauf gerichtet, zu zeigen, daß der Gesetzeswortlaut ein wenig zu eng oder zu weit geraten ist, die Schleuse also zu schmal oder zu weit ist. Falls dieser Nachweis gelingt, wird die gesetzliche „Schleuse“ im ersten Fall ein wenig erweitert, im zweiten dagegen verengt. Im Ergebnis heißt dies, daß Argumente, die – da mit dem gewöhnlichen Wortsinn des Gesetzes unvereinbar – zunächst scheinbar präkludiert waren, letztlich doch zugelassen werden, oder daß umgekehrt zunächst scheinbar zugelassene Argumente präkludiert werden. Bildlich:

G P

Wenn im unteren Teil der Skizze der Nachweis gelingt, daß die gesetzliche Schleuse zu eng ist und daher erweitert werden muß, wird ein Argument zugelassen, das zunächst präkludiert war (gestrichelter Pfeil schräg nach unten). Wird im oberen Teil dargetan, daß die Schleuse zu weit war und verengt werden muß, wird umgekehrt ein Argument präkludiert, das zunächst erlaubt war. Halten sich diese

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A. Rationalisierung durch Argumentationsverbote 

Operationen im Rahmen des gewöhnlichen Wortsinns der vom Gesetz verwendeten Begriffe, so spricht man im ersten Fall von erweiternder, im zweiten Fall von einschränkender Auslegung. Wird bei der Erweiterung über den üblichen Wortsinn hinausgegangen, so nennt man dies eine analoge Anwendung des Gesetzes; wird der mögliche Wortsinn eingeschränkt, spricht man von teleologischer Reduktion. Erweiternde Auslegung und Analogie verhalten sich ähnlich zueinander wie einschränkende Auslegung und teleologische Reduktion, nur wird der gewöhnliche Wortsinn des Gesetzes bei der Analogie über-, bei der teleologischen Reduktion unterschritten. a) Zu beachten ist, daß diese Operationen keine förmliche Änderung des Gesetzes voraussetzen. Sie können vielmehr von der Rechtsprechung in eigener Regie vorgenommen werden, und diese wird dazu von der Rechtswissenschaft vielfach angeregt. Ein Gutteil der rechtsdogmatischen Arbeit ist darauf ausgerichtet, die gesetzlichen Stellschrauben „nachzujustieren“. Tatsächlich getroffen wird die Entscheidung über die Verengung oder Erweiterung des Argumentationsspielraums jedoch von den Gerichten. Spötter haben daher bemerkt, daß zwar die Gesetze sagen, was rechtens ist, aber die Gerichte darüber entscheiden, was die Gesetze sagen. (Haverkate, 1977, 156) Ein Beispiel für eine Erweiterung des Gesetzes findet sich im Anwendungs­ bereich des bereits erwähnten § 823 Abs. 1 BGB. Obwohl hier das Vermögen im Gegensatz zum Eigentum nicht unter den geschützten Rechtsgütern angeführt wird, hat die Rechtsprechung diese Regelung partiell korrigiert. Sie hat nämlich den Eingriff in einen „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ – einer an Gerechtigkeitsüberlegungen orientierten ad-hoc-Konstruktion – einem Eingriff in das Eigentum gleichbehandelt und so in beschränktem Umfang reine Vermögens­ schäden als ersatzfähig anerkannt. (RGZ 58, 24 [29]; BGHZ 24, 200 [204 ff.]) Damit ist sie zwar nicht zur Regelung des preußischen ALR zurückgekehrt, wohl aber hat sie sich dieser, soweit das im Rahmen der gewählten Argumentation möglich erschien, wieder angenähert. Man kann hieraus ersehen, daß die durch Gesetz erfolgte förmliche Präklusion überzeugungskräftiger Argumente bisweilen zur Folge hat, daß diese, zur Tür hinausgeworfen, zum Fenster wieder hereinkommen. Wenn die Rechtsdogmatik sich bemüht, nach geeigneten Schleichwegen für eine solche „Überlistung“ des Gesetzes zu suchen oder umgekehrt solchen Versuchen entgegenzutreten, so zeigt dies, daß es hinter der Fassade juristischer Formalargumente gelegentlich noch um etwas anderes geht als um den Vollzug des geschriebenen Gesetzes: nämlich um „richtiges Recht“. b) Was soeben über das Verhältnis von erweiternder Auslegung und Analogie gesagt wurde, erleidet im Strafrecht und ähnlich sensiblen Materien gewisse Einschränkungen. Im Strafrecht wird die Analogie zu Lasten des Angeklagten – und damit zur Ausweitung der Strafbarkeit – nicht als zulässig angesehen. Der Grund dafür ist der, daß gravierende Eingriffe in Freiheit und Eigentum nicht dem Rich-

IV. Nachjustieren der gesetzlichen Stellschrauben

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ter überlassen, sondern allein dem Gesetzgeber anvertraut sein sollen. Bestraft werden soll nur derjenige, von dem der Gesetzgeber der Auffassung war, daß er es verdient hat, nicht aber der, von dem der Richter meint, daß er im Hinblick auf ähnliche Fälle von einer Strafe nicht ausgenommen sein sollte (nulla poena sine lege). Die Strafgesetze präkludieren daher im ersten Zugriff nicht nur alle gesetzlich verpönten Argumente – das haben sie mit anderen Gesetzen gemeinsam –, sondern widersetzen sich zugleich einer exegetischen Erweiterung ihres Anwendungsbereichs über den Wortsinn des Gesetzes hinaus. Das ist sogar verfassungsrechtlich verankert; denn Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt explizit, daß „eine Tat … nur bestraft werden [kann], wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so streng verhält es sich im Steuerrecht, weshalb z. B. aufgrund des Kfz-Steuergesetzes auch mit noch so guten Gründen keine Fahrradsteuer erhoben werden könnte.

B. Von der Regel zur Entscheidung Der durch die Präklusion an sich möglicher Argumente bewirkte Rationalitätsgewinn besteht, wie gezeigt, darin, daß der Streit auf einige wenige Punkte beschränkt wird. Selbstverständlich begnügt sich das Gesetz nicht mit der Erleichterung der Entscheidung als solcher, sondern strebt auch noch andere, und zwar inhaltliche Ziele an. Diese können mehr oder weniger weitgespannt sein. Im 18. Jahrhundert, einer sehr fortschrittsgläubigen Zeit, war man etwa der Auffassung, daß alles Recht und damit auch das Gesetz die Aufgabe habe, die „Vollkommenheit“ des Menschen zu befördern. So heißt es etwa bei Christian Wolff, einem der namhaftesten Vertreter des aufgeklärten Naturrechts, daß „uns das Gesetz der Natur [verpflichte], die Handlungen auszuüben, welche die Vollkommenheit des Menschen befördern; und diejenigen zu unterlassen, welche seine und seines Zustandes Unvollkommenheit befördern“. (Wolff, 1754, § 43) Daran sollten auch die staatlichen Gesetze ausgerichtet werden – von Machbarkeitszweifeln war man offenbar nicht angekränkelt. Wir sind insoweit bescheidener geworden. Die Frage, was ein Gesetz außerdem, daß es die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten erleichtert, sonst noch bewirkt, stellt sich jedoch nach wie vor. Für juristische Laien ist sie sogar die wichtigste überhaupt. Gleichwohl werden wir sie hier zurückstellen und erst später darauf eingehen. (Kap. H) Juristen interessieren sich primär für die formale Struktur, welche das Gesetz einer rechtlichen Auseinandersetzung verleiht. Diese soll daher auch hier im Vordergrund stehen. Auch hierzu gibt es weitaus mehr zu sagen, als daß das Gesetz die Komplexität des rechtlichen Diskurses reduziert.

I. Die Rechtsnorm als Konditionalprogramm a) Die meisten Gesetze bzw. Rechtsnormen (beide Begriffe werden oft gleichbedeutend benutzt) bestehen aus zwei Teilen: der Tatbestandsbeschreibung (auch kurz Tatbestand genannt) und der Rechtsfolgeanordnung. Nur bei sogenannten Hilfsnormen, die sich gelegentlich auf bloße Definitionen beschränken, kann es sich anders verhalten, so z. B. bei § 90 BGB, der da lautet: „Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände.“ Hilfsnormen sind aus Vereinfachungsgründen aus den Hauptnormen ausgegliedert worden, damit diese nicht zu unübersichtlich und unhandlich werden. § 90 BGB erspart es dem Rechtsanwender etwa, immer erneut prüfen zu müssen, ob eine Norm, die sich auf „Sachen“ bezieht, damit körperliche oder unkörperliche Sachen meint. Dem Gesetzgeber wird es erspart, jedesmal, wenn er den Begriff „Sache“ verwendet, explizit hinzuzufügen: „Damit sind hier nur körperliche Sachen gemeint.“ Die in Hilfsnormen enthaltene Aussage muß nur dann thematisiert werden, wenn sie selbst problematisch wird. Im vorstehen-

I. Die Rechtsnorm als Konditionalprogramm

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den Zusammenhang können wir uns daher auf Hauptnormen beschränken. Diese aber weisen durchweg die Unterscheidung von Tatbestand (TB) und Rechtsfolge­ anordnung (RF) auf:

Gesetz TB

RF

In der Rechtsfolgeanordnung wird gesagt, was dem Petenten unter bestimmten Voraussetzungen zugesprochen werden kann bzw. was das Gericht sonst feststellen kann; im Tatbestand werden diese Voraussetzungen aufgelistet. Tatbestand und Rechtsfolgeanordnung stehen zueinander in einer Konditionalbeziehung: Wenn die im Tatbestand genannten Prämissen gegeben sind, dann greift die in der Rechtsfolgeanordnung genannte Rechtsfolge ein. Häufig handelt es sich dabei um eine Sanktion für rechtlich mißbilligtes Verhalten: Wer sich so und so verhält, ist zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Die Rechtsfolge kann aber auch in einer Vergünstigung bestehen. So können minderjährige unverheiratete Kinder von ihren Eltern die Gewährung von Unterhalt verlangen (§ 1602 Abs. 2 BGB). Gelegentlich geht es auch nur darum, daß ein Rechtszustand als solcher festgestellt wird, z. B. das Eigentum an einer bestimmten Sache. Im Grunde sind alle mit dieser Struktur von jung an vertraut; waren doch bereits die Erziehungsmaßnahmen unserer Eltern ähnlich beschaffen: Wenn du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast, darfst du nicht auf den Spielplatz; wenn du eine Eins in Mathematik nach Hause bringst, bekommst du ein Sondertaschengeld; wenn du einem Freund etwas geschenkt hast, hast du kein Recht mehr daran u. ä. m. Rechtechnisch aufbereitet, findet sich dies in den gesetzlichen Normen wieder. b) Im Hinblick auf die vom Gesetz in Aussicht gestellten Rechtsfolgen dreht sich ein Rechtsstreit nicht nur darum, ob jemand „an sich“ im Recht oder im Unrecht ist. Vielmehr ist damit in der Regel noch die Entscheidung darüber verknüpft, was eine obsiegende Partei gegen die unterliegende faktisch durchsetzen kann. Anders als die Moral begnügt sich das Recht nicht mit Ratschlägen und möglicherweise folgenlosen Bewertungen. Es ist vielmehr darauf angelegt, daß seine Entscheidungen „verwirklicht“ werden, notfalls unter Einsatz von Gewalt. Hinter fast jeder Hauptnorm steht daher, wie entfernt auch immer, eine Vollstreckungs­möglichkeit. Das ist der Grund, weshalb man rechtliche Verhaltensnormen häufig als Zwangsnormen bezeichnet. Damit wird keineswegs geleugnet, daß auch das Recht auf die Überzeugung und Gefolgsbereitschaft der Normadressaten angewiesen ist und sich völlig losgelöst davon schwer halten könnte. Gemeint ist vielmehr, daß es, wo es nicht freiwillig befolgt wird, über Mittel verfügt, mit denen der Widerstand gebrochen werden kann. Nur da, wo der Staat selbst verpflichtet ist, ist das gelegentlich anders, einmal deshalb, weil der Staat grundsätzlich als rechtstreu gedacht wird und es daher des Einsatzes von Zwangsmitteln nicht bedarf, zum andern jedoch,

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B. Von der Regel zur Entscheidung

weil, wenn sich dies einmal anders verhalten sollte, ein Zwang gegen die monopolisierte Zwangsorganisation selbst nur schwer vorstellbar ist. c) Obgleich Zwangsgesetze dazu bestimmt sind, jemand, der seiner Verpflichtung nicht aus freien Stücken nachkommt, dazu zu zwingen, ist das, was jemand von Rechts wegen von einem anderen fordern kann, nicht notwendig mit dem identisch, was er mit gerichtlicher Hilfe gegen dessen Willen erzwingen kann. Beides, die Handlung, zu der jemand verpflichtet ist, und die, zu der er gezwungen werden kann, können sich auch unterscheiden, nicht selten müssen sie dies sogar. Das zeigt sich vor allem im Strafrecht. Den Strafgesetzen zufolge sind die Bürger zu vielem verpflichtet: sie dürfen nicht töten, nicht verletzen, nicht stehlen, keine Steuern hinterziehen usw. Zu einem Strafverfahren kommt es indessen nur dann, wenn eine Pflichtverletzung bereits erfolgt oder jedenfalls versucht worden ist. Dann aber kann nicht mehr die Pflicht selbst, sondern nur die Duldung einer für ihre Verletzung festgesetzten Sanktion erzwungen werden. Diese hat notwendig einen anderen Inhalt als die Handlungspflicht, gegen die verstoßen worden ist. Die Rechtsgeschichte liefert dafür einprägsame Beispiele. In den Volksrechten der Spätantike wurden etwa Bußgelder festgesetzt, die an den Verletzten oder seine Sippe zu zahlen waren. Die verpönte Handlung und die darauf gesetzte Buße waren hier von Grund auf verschieden. Parallel zu dem Aufkommen der „öffent­ lichen Strafe“ hat man im Mittelalter und der frühen Neuzeit versucht, durch „spiegelnde“ Strafen einen wenigstens symbolischen Gleichlauf des Delikts und der dafür verhängten Sanktion herzustellen: Mörder wurden getötet, Vergewaltiger kastriert, Dieben wurde die Hand abgehauen u. ä. m. An die Stelle der bunten Fülle von Todes-, Leibes-, Vermögens- und Ehrenstrafen, durch die sich das ältere Recht auszeichnete, ist heute der Entzug von Freiheit oder Geld getreten. Gegen welche strafrechtlichen Verbote auch immer heute jemand verstößt, muß er dafür mit dem Verlust seiner Freiheit oder seines Vermögens büßen. Andere Sanktionen wie etwa Fahrverbote (§ 44 StGB) sind nur ausnahmsweise vorgesehen. Freilich könnte sich dies jederzeit ändern. Auch in anderen Rechtsgebieten ist das Spektrum der vollstreckbaren Rechtsfolgen heute eng bemessen. Während es im Strafrecht um Strafen geht, dreht es sich im Verwaltungsrecht um Genehmigungen oder um Erlaubnisse bzw. um die entsprechenden Verbote, im Steuerrecht um Geldforderungen des Fiskus gegen den Bürger oder Rückforderungen des Bürgers usw. Das alles bedeutet eine Reduktion von Komplexität auf der Rechtsfolgeseite. Allein im Zivilrecht, das sich mit dem Verhalten der Bürger zueinander befaßt, findet sich auf der Rechtsfolgeseite der Hauptnormen zum Teil nach wie vor ein breiteres Band von Möglichkeiten. Das gibt uns die Gelegenheit, den Unterschied zwischen primärer Verpflichtung und erzwingbarer Sanktion ein wenig genauer in den Blick zu nehmen.

II. Pekuniar- und Realvollstreckung

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II. Pekuniar- und Realvollstreckung In den Zivilrechtsordnungen von Staaten, in denen Geldwirtschaft herrscht, findet man im wesentlichen zwei Haftungssysteme: Pekuniarvollstreckung und Realvollstreckung. Bei der Pekuniarvollstreckung lautet die im Falle einer Rechtsverletzung erzwingbare Rechtsfolge ausschließlich oder jedenfalls grundsätzlich auf Geldzahlung, bei der Realvollstreckung hat sie einen Inhalt, der je nach der Primärverpflichtung verschieden ist. a)  Das System der Pekuniarkondemnation bzw. Pekuniarvollstreckung war im römischen Recht verwirklicht und dominiert heute noch im englischen Recht. Es sieht vor, daß der Gläubiger vom Schuldner grundsätzlich nur Geldzahlungen erzwingen kann. Was auch immer jemand schuldig sein mag – Herausgabe einer Sache, Übereignung eines Grundstücks, Erfüllung eines Dienst- oder Werkvertrags u. a. m. –, so kann, läßt man wenige Ausnahmen, die im englischen Recht unter dem Begriff „specific performance“ firmieren, einmal beiseite, nur wegen Geld vollstreckt werden. Das Recht ist hier nicht darauf ausgerichtet, die „eigentlich“ geschuldeten Verhaltensweisen (z. B. die Lieferung einer bestimmten Sache) zu erzwingen. Soweit der Schuldner seiner eigentlichen Pflicht nicht nachkommt, zielt es vielmehr auf die Leistung von Schadensersatz in Geld. Wo man mit Geld alles kaufen kann, was überhaupt veräußerlich ist, ist die Transformation beliebiger Leistungspflichten in Zahlungspflichten nicht ohne Sinn. Der Gläubiger wird dadurch in die Lage versetzt, sich die eigentlich geschuldete Leistung am Markt selbst zu verschaffen, oder er erhält jedenfalls eine angemessene Kompensation in Geld. b) Das andere der beiden oben erwähnten Systeme, die Realkondemnation bzw. Realvollstreckung, bildet die Grundlage des geltenden deutschen Zivilrechts. Mit Realvollstreckung ist in diesem Zusammenhang gemeint, daß die Verpflichtung des Schuldners und die Vollstreckung einander inhaltlich entsprechen, daß also die Handlung, zu welcher der Schuldner primär verpflichtet ist, grundsätzlich unmittelbar selbst erzwungen werden kann. Im strengen Sinn ist eine solche Realvollstreckung freilich auch im Zivilrecht nicht durchgehend möglich. Es gibt Handlungspflichten, die überhaupt nicht unmittelbar erzwingbar sind, z. B. die Verpflichtung zu höchstpersönlichen Dienstoder Werkleistungen. Wenn ein Gesangskünstler entgegen seiner vertraglichen Verpflichtung nicht singen will, dann singt er auch nicht, daran vermag kein Vollstreckungsbeamter der Welt etwas zu ändern. Aber auch sonst eignet sich nicht alles in gleicher Weise für eine Durchsetzung gegen den Willen des Verpflichteten. Gleichwohl muß ein System der Realvollstreckung, das diesen Namen verdient, so ausgestaltet sein, daß der Berechtigte in der Regel auf kurzem Weg auch ohne Mitwirkung des Verpflichteten wenigstens annähernd in den Genuß dessen kommt, was er von Rechts wegen „eigentlich“ erhalten sollte.

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B. Von der Regel zur Entscheidung

Das ist nur dann möglich, wenn die erzwingbaren Rechtsfolgen vielgestaltiger bemessen sind als in einem System der Pekuniarvollstreckung, wo prinzipiell alle Verpflichtungen für den Zweck der Vollstreckung in Geldforderungen umgewandelt werden. Freilich müssen sich die erzwingbaren Rechtsfolgen auch bei der Realvollstreckung in einem überschaubaren Rahmen halten, wenn die Sache handhabbar sein soll. Im deutschen Zivilrecht sind außer der Geldvollstreckung, die für die Durchsetzung von originären Zahlungspflichten auch hier unentbehrlich ist (§§ 803 ff. ZPO), noch die Wegnahme von Sachen, die Ersatzvornahme von sonstigen Handlungen, die Erzwingung von Unterlassungen sowie die Fiktion von Willenserklärungen (§§ 883 ff. ZPO) vorgesehen. Was auch immer zwischen den Parteien vorgefallen sein mag, so kann der Berechtigte mit der Zwangs­vollstreckung nur eines dieser gesetzlich vorgegebenen Vollstreckungsziele erreichen. Welches dies ist, hängt davon ab, was die Rechtsfolgeanordnung der im konkreten Fall einschlägigen Hauptnorm vorsieht; denn selbstverständlich sind die zivilrechtlichen Normen mit den im Zivilprozeß zur Verfügung stehenden Voll­streckungsarten abgestimmt. Das im deutschen Zivilrecht sich darbietende Spektrum sieht vereinfacht so aus:

Gesetz

TB

RF

Geldzahlung Herausgabe Sonstiges Tun Unterlassen Willenserklärung

Die Tatbestandsseite (TB) des Gesetzes ist hier weit aufgespreizt, um anzudeuten, daß im Tatbestand zivilrechtlicher Normen alle möglichen Lebensumstände auftauchen können, angefangen von Kauf-, Miet- und Werkverträgen über Sachbeschädigungen und unlauteren Wettbewerb bis hin zu nachbarschaftlichen Immissionen in Gestalt von überfallendem Laub und Partylärm. Was im Wege der Zwangsvollstreckung erreicht werden kann, wird auf der Rechtsfolgenseite (RF) der einschlägigen Normen angezeigt: nämlich die Erzwingung von Geldleistungen, die Herausgabe von Sachen, die Ersatzvornahme oder mittelbare Erzwingung von Handlungen oder Unterlassungen sowie die aufgedrängte Fiktion von Willenserklärungen. Wer das Gericht zu etwas anderem veranlassen wollte, fände damit so wenig Gehör wie Shylock in Shakespeares Kaufmann von Venedig, der vergeblich verlangte, aus dem Leib seines Schuldners Antonio ein Pfund Fleisch schneiden zu dürfen. Unsere anfängliche Feststellung, daß das Gesetz die Komplexität von Rechtsstreitigkeiten reduziert, hat damit weiter Kontur gewonnen. Es verringert nicht nur

III. Reduktion der Voraussetzungen und der Folgen

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durch seine Tatbestandsbeschreibung die Zahl der zulässigen Argumente. Der numerus clausus der gesetzlich vorgesehenen Vollstreckungsziele legt außerdem fest, was der Berechtigte gegen den Willen des Verpflichteten allein durchsetzen kann. Sinnvollerweise wird der Berechtigte daher gar nicht versuchen, auf eine andere Rechtsfolge zu klagen, als das Gesetz sie vorsieht. Seine Klage würde andernfalls als „unschlüssig“ abgewiesen werden.

III. Reduktion der Voraussetzungen und der Folgen Eine Rechtsnorm reduziert mithin sowohl das Konfliktpotential als auch die in Betracht kommenden Rechtsfolgen. So steht z. B. im Fokus von § 433 BGB ausschließlich der Kaufvertrag als solcher, aus dem der Verkäufer – von abweichenden Entwicklungen abgesehen – allein auf Zahlung des Kaufpreises und der Käufer auf Lieferung der gekauften Sache klagen kann. a) Zur vollständigen Visualisierung der Lage, in der sich die Partei eines Rechtsstreits befindet, brauchen wir nur die Zeichnungen in Kap. A,  S. 7 sowie oben Kap. B, S. 2 zu einer einzigen zu verbinden. Dann ergibt sich für den Kläger folgendes Bild:

Gesetz TB

RF

P

Die „Schleuse“ aus der Zeichnung in auf S. 12 ist hier der Länge nach „gespalten“ und auseinandergezogen worden. Dadurch sind die beiden „Seitenwände“ des obigen „Kastens“ entstanden. Die linke Seite der aufgespaltenen Schleuse mit dem etwas breiteren Durchlaß bildet die Inputseite des gesetzlichen Tatbestandes, die rechte mit dem schmäleren Spalt die Outputseite der Rechtsfolgeanordnung. Aus der Zeichnung geht hervor, daß derjenige, dessen Argumente im linken Teil normativ gefiltert werden, nur die im rechten Teil der betreffenden Rechtsnorm vorgesehene Rechtsfolge durchsetzen kann. Daß eine Norm aufgrund derselben Tatbestandsvoraussetzungen wahlweise mehrere Rechtsfolgen zuläßt, kommt zwar auch vor, allerdings seltener. Die bekanntesten Beispiele dafür finden sich, wie erwähnt, im Strafrecht, wo das Gericht vielfach zwischen Freiheits- oder Geldstrafe wählen kann. Im Zivilrecht gibt es etwas Vergleichbares bei Normen, die auf Scha-

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B. Von der Regel zur Entscheidung

densersatzleistung wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache gerichtet sind; denn der Schadensersatz erfolgt hier durch Naturalherstellung oder durch Geldersatz (§§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB), wobei die Wahl hier allerdings nicht dem Gericht, sondern der berechtigten Partei zusteht. Diese kann das Ergebnis der Rechtsanwendung dadurch steuern, daß sie dem Gericht eine der beiden gesetzlich möglichen Rechtsfolgen durch ihren Klageantrag verbindlich vorgibt. In der obigen Skizze ist die Input-Öffnung deutlich breiter als die Output-Öffnung. Das ist nicht notwendig der Fall. Sie könnte auch so bemessen sein, daß praktisch nur ein einziger Falltyp Durchlaß findet. Aber solche Einzelfallgesetze sind selten. Wohl aber faßt der Gesetzgeber aus Vereinfachungsgründen gelegentlich mehrere Falltypen, die sich in ihren Tatbestandsvoraussetzungen ähneln und auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet sind, in einem einzigen Paragraphen zusammen. Ein anschauliches Beispiel liefert der bereits erwähnte § 823 Abs. 1 BGB: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist ihm zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“

Wenn diese Norm die Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder eines sonstigen (ähnlichen) Rechts zur Voraussetzung eines Schadensersatzanspruchs erklärt, so werden im Grunde mehrere Normen der Form nach zu einer einzigen zusammengefaßt. Je für sich genommen würden diese Normen lauten: „1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben eines anderen widerrechtlich verletzt, ist ihm zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. 2) Wer vorsätzlich oder fahrlässig den Körper eines anderen usw.“ Die Rechtsfolge „Schadensersatz“ kann daher im Anwendungsbereich des § 823 Abs. 1 BGB aus unterschiedlichen Gründen eintreten. Desungeachtet ist klar, daß eine bloße Vermögensbeeinträchtigung die Voraussetzungen dieses Paragraphen nicht erfüllt. Denn in juristischer Hinsicht ist das Vermögen etwas anderes als das Eigentum. Dies läßt sich, wie gezeigt (S. 18), zwar dadurch korrigieren, daß man das Vermögen wenigstens dort schützt, wo es sich in eigentumsähnlichen Positionen verkörpert; außerhalb dieses Bereichs jedoch fehlt es an der gemeinsamen Basis für eine solche Analogie. b) Wie wir in oben (S. 13 f.) gesehen haben, unterzieht das Gesetz nicht nur die Argumente einer Partei, sondern die beider Parteien einer Selektion. Um dies darzustellen, müßte man in der letzten Zeichnung P als P1 bezeichnen und für P2 , der P1 als Kontrahent gegenübersteht, einen eigenen „Kasten“ zeichnen, allerdings seitenverkehrt, so daß der Pfeil, der die Rechtsfolge symbolisiert, in Richtung auf P1 zeigt. So wie die Argumentation von P1 durch das Gesetz formal eingeschränkt und kanalisiert wird, so die Einreden und Einwendungen von P2. Aus Platzgründen wurde auf diese erweiterte Zeichnung verzichtet. Dagegen versteht sich folgendes nicht ohne weiteres von selbst: Soweit der Beklagte (P2) nur die Richtigkeit dessen bestreitet, was der Kläger (P1) zu seinen Gunsten vorbringt, bedarf es dazu keines weiteren normativen Filters; denn

IV. Subsumtion des Falles unter die Norm

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insoweit handelt es sich nur darum, ob das Vorbringen des P1 richtig ist bzw. ob es bewiesen werden kann oder vom Gericht aus anderen Gründen übernommen werden muß. Anders verhält es sich, wenn P2 Einreden gegen das Verlangen des P1 geltend macht, die im „Programm“ der Norm, auf die P1 sich beruft, nicht vorgesehen sind. So liegt es z. B., wenn P2 keineswegs bestreitet, daß der Anspruch des P1 ursprünglich entstanden ist, wohl aber geltend macht, daß er längst erfüllt, aufgehoben oder verjährt sei. Solche Einreden sind an eigene Normen – sogenannte Gegennormen – geknüpft, in denen ebenfalls tatbestandliche Voraussetzungen und Rechtsfolgen normiert sind. So ist z. B. die Verjährung einer Forderung an den Ablauf bestimmter Fristen sowie daran geknüpft, daß der Schuldner sich darauf beruft (§§ 194 ff., 214 I BGB). Die Rechtsfolgeanordnung solcher Gegennormen ist anders beschaffen als die der Hauptnormen. Das hat damit zu tun, daß das Interesse desjenigen, der von einem anderen in Anspruch genommen wird, sich konträr zu dem Interesse seines Gegners verhält. Während der Gläubiger vom Schuldner etwas verlangt, ist der Schuldner bloß daran interessiert, dieses Verlangen abzuwehren. Das schlägt sich in den Normen nieder, auf die beide sich stützen: Der Gläubiger bezieht sich in der Regel auf (Haupt-)Normen, deren Rechtsfolge auf ein erzwingbares Verlangen gerichtet ist, der Schuldner auf Gegennormen, deren Rechtsfolgeanordnung darin besteht, die Rechtsfolge der einschlägigen Zwangsnorm lediglich zu verneinen. Beruft sich der Schuldner etwa darauf, bereits bezahlt zu haben, so macht er geltend, daß der Anspruch des Gläubigers jetzt nicht mehr bestehe; beruft er sich auf Stundung, so stellt er den klägerischen Anspruch an sich nicht in Frage, macht jedoch geltend, daß er gegen seinen Willen nicht durchgesetzt werden könne (§ 320 BGB).

IV. Subsumtion des Falles unter die Norm Gesetze werden grundsätzlich nicht für den Einzelfall geschaffen. In der Regel gilt jedes Gesetz vielmehr für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen, die substantiell „gleichgelagert“ sind. Dadurch ist gewährleistet, daß „gleich“ beschaffene Fälle aufgrund derselben Argumente beurteilt und daher auch gleich entschieden werden. Das allgemeine Gesetz ist Ausdruck und Gewähr der Gleichbehandlung des Gleichen. a) Daß es im modernen Recht auf die Identität der involvierten Personen nicht ankommt, bringt das Gesetz dadurch zum Ausdruck, daß es die an einem Fall beteiligten Personen mit unbestimmten Begriffen bezeichnet. Die Gesetze sind voll von Formulierungen der Art: „Wer einem anderen die Schließung eines Vertrags anträgt …“ (§ 145 BGB), „Wer das Eigentum eines anderen widerrechtlich verletzt …“ (§ 823 Abs. 1 BGB), „Mit dem Tode einer Person geht deren Vermögen als Ganzes auf eine andere Person über“ (§ 1922 Abs. 1 BGB) usw. Mit den Begriffen „Wer“, ein „anderer“ oder „Person“ sind im Prinzip alle gemeint, die sich in einer solchen Lage befinden. Auch im übrigen verwenden moderne Gesetze kaum Ein-

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B. Von der Regel zur Entscheidung

zelbegriffe („Namen“), sondern durchweg Allgemeinbegriffe. Das Gesetz ist daher eine Norm, die eine Beziehung zwischen allgemein formulierten Tatbestandsmerkmalen und ebenso allgemein formulierten Rechtsfolgeanordnungen herstellt, und zwar dergestalt, daß für eine unbestimmte Menge gleichgelagerter Fälle von der Art TB die Rechtsfolge RF eintritt. Ob ein Fall so liegt, wie es im Tatbestand eines Gesetzes beschrieben ist, hängt davon ab, ob seine charakteristischen Merkmale denen des Gesetzes entsprechen. Die Prüfung dieses Zusammenhangs wird Subsumtion genannt: Läßt sich der konkrete Fall unter die allgemeine Regel subsumieren? Stellt er mit anderen Worten ein Element der Menge von Fällen dar, die vom Tatbestand umfaßt sind? Wenn ja, so ist die in der Rechtsfolgeanordnung des Gesetzes vorgesehene Rechtsfolge zu bejahen; andernfalls wird sie verneint. Die gedankliche Operation, vermittels der das allgemeine Gesetz auf einen konkreten Fall „heruntergebrochen“ wird, ist ein Syllogismus von folgender Struktur:

TB

RF

F

TB

F

RF

Lies: 1) Immer dann, wenn ein Fall die im Tatbestand TB einer Rechtsnorm beschriebenen Voraussetzungen aufweist, ist die Rechtsfolge RF angezeigt. 2) Der Fall F ist ein Element der Menge derjenigen Fälle, die vom Tatbestand TB umfaßt sind. 3) Also ist im Fall F die Rechtsfolge RF angezeigt. Manche Juristen empfinden angesichts solcher Operationen eine tiefe Befriedigung; sie sehen darin einen schlagenden Beweis dafür, daß die Jurisprudenz mit einer exakten Wissenschaft zumindest viel Ähnlichkeit hat. In der Vergangenheit ist daher viel Mühe darauf verwendet worden, diese und andere juristische Schlußfolgerungen bis ins Detail zu erforschen und zu perfektionieren. Solche Bemühungen um mögliche „Exaktheit“ sind offenbar unvermeidlich. Unter der Ägide der historischen Rechtsschule, die namentlich das 19. Jahrhundert geprägt hat, hatte man sich vor allem um die philologische Durchdringung des Gesetzes bemüht. Nach dem zahlreiche Wissenschaften erfassenden „linguistic turn“ ist an die Stelle der Philologie die juristische Semantik getreten. Die Logifizierung vieler moderner Wissenschaften hat ihren juristischen Niederschlag in der Rechtslogik gefunden, die sich mit der Formalisierung der juristischen Sprache und Schlußformen befaßt. Vieles davon ist Spezialwissen einiger weniger geblieben. Zum Handwerkszeug aller Juristen aber gehören nach wie vor die vor allem von der historischen Rechtsschule ausgearbeiteten Auslegungsregeln für die Ermittlung des Gesetzessinnes, in der juristischen Fachsprache „Canones“ genannt. Soweit der Sinn eines Gesetzes unklar ist, soll der Rechtsanwender danach Rat bei der Gesetzesvorgeschichte und der Gesetzgebungsgeschichte suchen (historische und genetische Auslegung), ferner soll er den Wortsinn der verwendeten Begriffe erforschen („logische“ oder semantische Auslegung), außerdem den Zusammenhang der Wörter und Wen-

IV. Subsumtion des Falles unter die Norm

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dungen (grammatische Auslegung), die Systematik des betreffenden Rechtsgebiets (systematische Auslegung) und schließlich den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck (teleologische Auslegung). Es dürfte kaum einen Juristen geben, der diese Canones im Laufe seiner Ausbildung und Praxis nicht tausendfach durchexerziert hat. Diese Regeln sind wichtige Hilfsmittel, um den Sinn sprachlicher Gebilde zu ermitteln. Denn kein Wort steht für sich allein, es empfängt seine Bedeutung immer auch aus seiner Beziehung zu anderen Wörtern sowie zu den Sätzen und Beschreibungen, in die es eingebettet ist. Die Bedeutung der verwendeten Wörter aber entscheidet darüber, welche in Fallbeschreibungen eingelassenen Argumente die gesetzlichen Schleusen vorbehaltlich einer speziell zu begründenden Korrektur passieren oder nicht passieren dürfen. b) Bei all dem übersehen Juristen leicht, daß die rechtliche Qualität ihrer Argumentation auch davon abhängt, was von einem Gesetz unabhängig von seiner formal korrekten Anwendung zu halten ist. Dieses Defizit und seine Auswirkung kann man sich auf einfache Weise vor Augen führen: Angenommen, in einem Gesetz sei als Rechtsfolge die Todesstrafe vorgesehen. Ein typischer Jurist wird sich beim Umgang mit diesem Gesetz dann nur für die kunstgerechte Ermittlung der Tatbestandsvoraussetzungen interessieren, um festzustellen, ob die vorgesehene Rechtsfolge Anwendung findet oder nicht. Für jeden anderen Beurteiler lautet die entscheidende Frage jedoch nicht, ob die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, sondern ob deren Verknüpfung mit der Kapitalstrafe gerechtfertigt ist. Daran vermögen noch so viele historische, logische oder semantische Erwägungen bei der Subsumtion etwas zu ändern. In unserem Beispielsfall kann man sich zwar durch den Verweis auf Art. 102 GG aus der Affäre ziehen, wonach die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft ist. Das eigentliche Problem ist jedoch das der Angemessenheit der Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolgeanordnung. Dieses stellt sich auch dann, wenn die Rechtsfolge „nur“ auf Zahlung von Geld, auf Herausgabe einer Sache usw. lautet. Hier wie da fällt es nicht in das Gebiet der Rechtsanwendung. Darin zeigt sich, daß die „Subsumtionslogik“ ein Epiphänomen ist. Sie kann einer Rechtsnorm keinen materiellen Gerechtigkeitswert verschaffen, den diese von Haus aus nicht hat. Die formale Rationalität vermag die inhaltliche Vernünftigkeit nicht zu ersetzen. Das ist bei der Auseinandersetzung mit „formaljuristischen“ Argumenten stets im Auge zu behalten.

C. Von der Entscheidung zur Regel Das Gesetz ist nicht das einzige Mittel, um die Entscheidung von Rechtskonflikten zu erleichtern und zu rationalisieren. Es gibt noch ein anderes Remedium: das Fall- oder Präjudizienrecht. Dieses dominiert als Case Law im anglo-amerikanischen Rechtskreis und nimmt, nicht zuletzt infolge der öffentlichen Zugänglichkeit fast aller obergerichtlichen Entscheidungen, auch hierzulande einen zunehmend breiteren Raum ein. Das Fallrecht bedient sich für die Entscheidungsfindung einer völlig anderen Technik. Während das Gesetz, auch wenn es viele in Betracht kommende Argumente präkludiert, seine „Schleuse“ doch für eine gewisse Bandbreite von verbleibenden Möglichkeiten öffnet, läßt das Fallrecht grundsätzlich nur ein einziges Argument zu, nämlich die Behauptung, daß im Prinzip derselbe Fall bereits in der gewünschten Weise entschieden worden sei bzw. – aus der Sicht des Gegners gesehen – daß er gerade anders entschieden worden sei, als es jetzt beantragt wird. An sich ist das die genaue Umkehrung des bisher beschriebenen Verfahrens: Während das Gesetz (vom Strafrecht abgesehen) alle Argumente zuläßt, die es nicht präkludiert, setzt das Fallrecht im Prinzip auf ein einziges Argument, nämlich daß ein früherer Fall richtig entschieden wurde und der jetzt anstehende Fall dem bereits entschiedenen im wesentlichen gleiche. Dieses Argumentationsmuster hat einen guten Sinn. Denn wo nicht Richterwillkür in Form von Kadijustiz herrscht, wird, wie Leopold Pospišil einmal konstatierte, „durch eine juristische Entscheidung nicht nur ein bestimmter Einzelfall erledigt, sondern es wird durch sie auch ein bestimmtes Ideal formuliert – nämlich eine Lösung, bei der intendiert ist, daß sie in allen zukünftigen ähnlichen Situationen zur Anwendung gelangt.“ (Pospišil, 1982, 116) Oder um es mit den Worten eines anderen Autors zu sagen: „Behaupte ich, dies ist die richtige Entscheidung, so liegt darin zugleich, daß in allen gleichliegenden Fällen ebenso entschieden werden muß.“ (Michaelis, 1935, 17)

I. Der Falltypus hinter dem konkreten Fall Davon abgesehen geht es jedoch auch hier um das Problem, daß mehrere Personen in einen Rechtsstreit involviert sind, in dem sie das Recht für sich reklamieren und es ihrem Gegner absprechen. Im Anwendungsbereich eines Gesetzes wird die Entscheidung durch eine rigide Beschränkung der Argumentation erleichtert. Aber die Argumentation bleibt eine Argumentation in eben dem Sinn, wie wir sie auch sonst kennen, wenn auch auf reduzierter Basis. Die Funktionsweise des Fallrechts, das sogenannte „reasoning from case to case“, ist in der hochabstrakten Welt des modernen Rechts nicht ganz so leicht zu erklären. Ungeachtet aller Unterschiede bildet es jedoch den historischen Ausgangspunkt des rationalen Rechtsdenkens.

I. Der Falltypus hinter dem konkreten Fall

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Mit ihm begann die Ausrichtung der Entscheidungsfindung an vernünftigen Überlegungen, lange bevor es Gesetze gab. Aber auch unter der Geltung des Gesetzes muß ein Rechtsanwender häufig auf das reasoning from case to case zurückgreifen, weil er anders nicht vorankommt. Auch zum besseren Verständnis der Gesetzesanwendung empfiehlt es sich daher, das Präjudizienrecht ein wenig genauer in den Blick zu nehmen. Zu diesem Zweck wollen wir im folgenden im Wege eines Gedankenexperiments fiktiv unterstellen, daß es überhaupt keine Gesetze gäbe, so daß man bei der Entscheidung eines Rechtsstreits gewissermaßen an einem juristischen Nullpunkt ansetzen müßte. a) Zur Veranschaulichung beginnen wir mit einem einfachen Fall: Angenommen, der Landwirt P1 habe seinen Nachbarn P2 vorsätzlich und aus Mutwillen körperlich verletzt. Durch die erforderlichen Heilungskosten und den erlittenen Ernteausfall sei P2 ein Schaden entstanden, den er von P1 ersetzt verlangt. Dabei nehmen wir wie gesagt an, daß eine gesetzliche Regelung nicht existiert. Wahrscheinlich wird dennoch kaum jemand bezweifeln, daß P2 seinen Anspruch zu Recht erhebt. Denn auch wenn es zahllose Fälle geben mag, über die man endlos streiten kann, so gibt es auch solche, über die ein Streit schwer möglich ist. Wenn im Verhältnis von P1 zu P2 überhaupt etwas außer Zweifel steht, so dürfte es dies sein, daß es jedem von beiden untersagt ist, den anderen ohne Grund körperlich anzugehen. Sobald P1 zu einer solchen Verletzung auch nur ansetzt, muß P2 präventiv verlangen können, daß er dies unterläßt. Wo dies in Frage gestellt würde, befände man sich in einem Zustand, für den der Begriff Recht – jedenfalls bezogen auf die Gegenwart – ein Euphemismus wäre. Ist die Verletzung bereits geschehen, nützt es P2 freilich wenig, daß er hätte verlangen können, sie zu unterlassen. Nach erfolgter Tat kann dem Verletzungsverbot – wenn man von der Möglichkeit einer Bestrafung einmal absieht – nur noch durch die Wiedergutmachung des Schadens Rechnung getragen werden. Bei einiger Erfahrung im Umgang mit solchen Fragen wird man vielleicht nicht jedermann für sämtliche Folgen seines Verhaltens verantwortlich machen. Hat jedoch der Verletzer vorsätzlich gehandelt, kann man seine Ersatzpflicht schwerlich verneinen, wenn man nicht das Verletzungsverbot selbst in Frage stellen will. Jeder, der in unserem Fall zum Richter berufen wäre, würde daher urteilen, daß P1 den angerichteten Schaden zu ersetzen habe. Damit wäre eine Entscheidung in der Welt, an die man sich in gleichgelagerten Fällen anlehnen könnte und dies zur Vermeidung von Willkür auch tun müßte. b) Um den Fall fortzuspinnen, wollen wir annehmen, daß in der Folge auch der Gutsherr P3 den P2 verletzt, wobei die Schwere der Verletzung die gleiche sein soll. Wie bereits von P1, so verlangt P2 nunmehr auch von P3 Schadensersatz. Läge der Fall so, daß sich P1 nochmals an P2 vergriffen hätte, wäre alles sehr einfach; denn hierüber wurde bereits entschieden. So aber fragt sich trotz aller Ähnlichkeit, ob P2 von P3 dasselbe verlangen kann, was ihm bereits gegenüber P1 zugestanden wurde. Kann P2 vielleicht nur einen geringeren Betrag fordern, weil er nur ein einfacher Landwirt, P3 aber Gutsherr ist? Oder steht ihm aus diesem Grund gerade umge-

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C. Von der Entscheidung zur Regel 

kehrt eine höhere Entschädigung zu? In der modernen Welt ist es keine Frage, daß P1, P2 und P3 insoweit gleichbehandelt werden müssen. Wie ein historischer Rückblick lehrt, war das jedoch nicht zu allen Zeiten so, in der Antike z. B. nicht. In den germanischen Volksrechten mußten im Falle eines Totschlags ganz unterschiedliche Wergelder (von lateinisch vir = Mann) gezahlt werden, je nachdem, welchem „Stand“ der Getötete angehörte, ob er ein Freier oder ein Höriger war usw. In der Lex Ribuaria war etwa bestimmt: „Wenn ein Ribuarier einen zugewanderten Römer tötet, werde er mit einem Bußgeld von zweimal 50 Schillingen belegt … Wenn jemand einen Subdiakon tötet, werde er wegen zweimal 100 Schillingen als schuldig erachtet. Wenn jemand einen Diakon tötet, werde er mit dreimal 100 Schillingen belegt usw.“ (Kroeschel, 1983, 51 f.) Was uns heute als Selbstverständlichkeit erscheint – die rechtliche Gleichheit aller Menschen –, war es lange Zeit nicht. Dieses Prinzip mußte erst einmal gedacht, dann von vielen gefordert und schließlich durchgesetzt werden, und das war nur möglich, wenn der Boden dafür auf vielfältige – nicht nur rechtliche – Weise vorbereitet worden war. Wenn das Gericht P2 auch gegenüber P3 vollen Ersatz des angerichteten Schadens, aber nicht mehr zuspricht, weil es keinen Unterschied zwischen den Angreifern machen will, so ist klar, daß auch jede weitere den P2 vorsätzlich verletzende Person unter Berufung auf die bisher erwähnten beiden Entscheidungen Schadensersatz leisten muß. Aber nicht nur dies: Wenn man nicht nach der Person des Verletzers differenziert, wird man auch nach der des Verletzten schwer unterscheiden können. Verletzt also eine Person P4 vorsätzlich eine Person P5, wird man auch P4, ungeachtet um wen es sich dabei handelt, gegenüber P5 zum Schadensersatz für verpflichtet halten müssen. c) Im realen Leben dürfte es nicht lange dauern, bis ein Fall auftaucht, der noch eine andere Besonderheit aufweist. Nehmen wir daher an, daß P1 den P6 verletzt, im Unterschied zu den früheren Fällen aber nicht vorsätzlich, sondern lediglich fahrlässig handelt. Infolgedessen fragt es sich, ob dieser Unterschied beachtlich ist. Will man stimmig argumentieren, hängt das offenbar davon ab, ob der Vorsatz in den früheren Entscheidungen eine maßgebliche Rolle gespielt hat oder ob es darauf nicht weiter ankam. Vielleicht wurde dies in den Entscheidungen selbst erörtert; dann kann man daran anknüpfen. Womöglich findet sich dazu aber kein Wort. Dann muß man auf andere Weise nachforschen, was die tragenden Erwägungen waren oder gewesen sein könnten. Denkbar wäre zunächst, daß der Schadensersatz zugleich als Buße für den Verletzer gedacht war. Ein Indiz dafür könnte sein, daß die zugesprochene Summe höher bemessen war als der tatsächlich entstandene Schaden. Der darüber hinausgehende Betrag hätte dann „Genugtuungsfunktion“ gehabt. So verhält es sich etwa mit den Punitive damages des anglo-amerikanischen Rechts. Daß unter diesem Gesichtspunkt betrachtet der Vorsatz ins Gewicht fallen muß, ist klar; denn das Genugtuungsbedürfnis des Verletzten ist bei vorsätzlicher Verletzung ungleich größer als wenn der andere ohne Vorsatz gehandelt hat. Denkbar wäre aber auch,

II. Die abstrakte Regel hinter dem Falltypus

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daß man den entstandenen Schaden lediglich auf angemessene Weise verteilen wollte. Die Frage der früheren Richter hätte dann gelautet: Wer ist näher dran, den Schaden zu tragen: der Verletzte oder der Verletzer? Wenn es um „zufällige“ Verletzungen geht, spricht vieles dafür, daß derjenige den Schaden trägt, bei dem er eintritt. Wenn etwa A ein Messer liegen läßt und B es aufhebt und sich damit schneidet, wird man im Zweifel sagen, daß B an seiner Verletzung „selbst schuld“ sei und der Verursachungsbeitrag des A „keine Rolle spiele“. Wenn jedoch A selbst das Messer in der Hand hatte und so damit umgegangen ist, wie man es keinesfalls tun sollte, wird man urteilen, daß er schuld war. Denn er hätte den Schaden dadurch verhindern können, daß er sich „richtig“ verhalten hätte. Deshalb wäre in diesem Fall er näher dran, die Folgen zu tragen. Dementsprechend könnte man schließen, daß es für die Haftung nicht auf den Vorsatz, sondern nur allgemein auf ein Verschulden ankommt, das sich sowohl in Form des Vorsatzes wie auch der Fahrlässigkeit äußern kann. Die Fahrlässigkeit würde dann ausreichen, um den Verletzer ebenso wie bei vorsätzlichem Handeln zum Schadensersatz zu verpflichten. Scheiden Genugtuungserwägungen aus, wäre der neue Fall daher in derselben Weise zu entscheiden wie der frühere. Auf diese Weise hat man schnell eine Reihe von Entscheidungen beisammen, an die man sich künftig anlehnen kann. Diese Fälle sind einander ähnlich und tragen dazu bei, den Blick vom konkreten Fall weg auf das zu lenken, was dahinter steht und die tragende Erwägung bildete. Aber selbstverständlich können künftige Fälle über den Falltyp, der sich im Rahmen der obigen Überlegungen herauskristallisiert hat, abermals hinausgehen.

II. Die abstrakte Regel hinter dem Falltypus a) Eine neue Dimension wird etwa erreicht, wenn jemand im Eigentum eines anderen stehende Sachen beschädigt und deshalb auf Ersatz des entstandenen Schadens belangt wird. Wahrscheinlich könnte man auch in diesem Fall darüber einig werden, daß eine schuldhafte Eigentumsbeschädigung mit einem gedeihlichen Zusammenleben nicht vereinbar ist und daher eine Schadensersatzpflicht auslösen muß. Von hier aus könnte man mit Hilfe des Gleichbehandlungsgrundsatzes die Lösung weiterer Eigentumsverletzungsfälle erschließen und käme so unabhängig von der Behandlung von Körperverletzungen zu einer eigenständigen Entscheidungsreihe. Man könnte aber auch fragen, ob die Entscheidung dieses neuen Falles nicht bereits irgendwie in der Entscheidung der Körperverletzungsfälle „enthalten“ ist. Dann käme es darauf an, ob der neue Fall den bereits entschiedenen Fällen „im Kern“ gleicht oder nicht. Bei der Frage, welchen Weg man einschlägt, ist man nicht ganz frei. Je stärker man dazu tendiert, Gleichliegendes gleich zu entscheiden, desto eher wird man versuchen, Neues möglichst an bereits Vorhandenes anzuknüpfen, das aber heißt in unserem Fall: die rechtliche Beurteilung der Sachbeschädigung aus den zur Körperverletzung getroffenen Entscheidungen herzuleiten. Die Frage

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C. Von der Entscheidung zur Regel 

wäre dann, ob Körper- und Eigentumsverletzung unter dem hier maßgeblichen Gesichtspunkt „gleich liegen“ oder ob es Gründe gibt, die einer gleichen Behandlung dieser Fälle widerstreiten. Dazu könnte man folgende Überlegung anstellen: Die körperliche Verletzung eines anderen ist deshalb zweifelsfrei untersagt, weil dessen Körper in gewisser Weise mit „ihm“ selbst identisch ist. Der menschliche Körper ist dasjenige „Objekt“, das unmittelbar der Willensbestimmung des betreffenden Subjekts unterliegt und durch dessen Beeinträchtigung man ebenso unmittelbar subjektive Empfindungen (z. B. Schmerzen) bei diesem auslösen kann. Durch einen bloßen Denkakt kann ich – vom Einsatz hochtechnisierter Hilfsmittel abgesehen – keine Veränderung der sonstigen Außenwelt bewirken. Allein mein Körper gehorcht – wenigstens partiell – unmittelbar der Direktion meines Willens. Einen anderen Menschen als Person zu achten, gleichzeitig aber seinen Körper zu verletzen, wäre daher ein Widerspruch in sich selbst. Wer den Körper eines anderen verletzt, verletzt notwendig zugleich „ihn“ selbst. Infolge der Identität mit unserem Körper haben wir gewissermaßen von Natur aus einen Anteil an der äußeren Welt. Indessen begnügt sich niemand mit dem kleinen Teil der Außenwelt, der ihm in Gestalt seines Körpers unmittelbar angehört; vielmehr versucht jeder, sich weitere Teile der äußeren Welt „zu eigen“ zu machen. Das auf diese Weise mittelbar Angeeignete nennen wir „Eigentum“. Es bildet die nächstweitere Sphäre unserer Lebenswelt, die ebenfalls unserer Herrschaft unterliegt, wenn auch nicht so direkt wie unser Körper, der von Haus aus unser „Eigentum“ ist. Wer unser erworbenes Sacheigentum antastet, beeinträchtigt daher nicht nur eine beliebige äußere Sache, sondern verletzt in gewissem Sinn zugleich uns selbst, weil es sich um eine Sache handelt, die wir uns zugeeignet haben, mit der wir uns also in gewisser Weise identifizieren. Der Philosoph Hegel hat diesen Zusammenhang so ausgedrückt, daß die Person ihren Willen in die Sache lege, wodurch ihr Wille ihr im Eigentum als persönlicher objektiv werde. (Hegel, 1821, §§ 44, 46) Insofern betrifft uns die Beschädigung unseres Sacheigentums zwar nicht in gleicher, aber doch in ähnlicher Weise wie eine Verletzung unseres Körpers. Bezogen auf den rechtlichen Sinn des Verbots der Körperverletzung muß daher auch die Eigentumsbeschädigung verboten sein. Wenn – Verschulden vorausgesetzt – bei einer Zuwiderhandlung in dem einen Fall Schadensersatz verlangt werden kann, sollte dies stimmigerweise auch im anderen Fall möglich sein. Bildlich kann man die gerade dargelegte Ausdehnung des Körperschutzes auf den Schutz des Sacheigentums so veranschaulichen:

Eigentum Körper

II. Die abstrakte Regel hinter dem Falltypus

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Die Skizze zeigt folgendes: Aus einer Entscheidung, die im Falle einer bestimmten Körperverletzung zum Schadensersatz verurteilt, läßt sich ohne weiteres eine Entscheidung „ableiten“ – d. h. sinngemäß folgern –, die bei einer ähnlichen Körperverletzung (z. B. der Verletzung eines anderen Körperteils) im Prinzip dasselbe anordnet. Das aber bedeutet, daß jede (schuldhafte) Körperverletzung zum Schadensersatz verpflichtet. Im Blick auf die Gründe, warum der Körper in dieser Weise geschützt wird, und das Verhältnis, in dem erworbenes Sacheigentum und ursprüngliches „Eigentum“ am eigenen Körper zueinander stehen, liegt der Schluß nahe, daß ebenso wie der Körper auch das Sacheigentum eines anderen nicht verletzt werden darf und daß im Falle einer Zuwiderhandlung auch hier Schadensersatz zu leisten ist. Allerdings liegt diese Entscheidung ein wenig „abseits“ des Falltyps „Körperverletzung“; sie geht, wie der schräge Pfeil in der Skizze andeutet, über den bisherigen Rahmen hinaus. Sobald einige Eigentumsentscheidungen vorliegen, wird man sich daher einfachheitshalber nicht länger auf die bisherigen Körperverletzungsentscheidungen, sondern stattdessen auf diese Eigentumsentscheidungen beziehen. Das hat den Vorteil, daß der deliktische Schutz des Sacheigentums nicht immer ab ovo von neuem begründet werden muß, sondern auf der Basis der hierzu ergangenen Entscheidungen vorausgesetzt werden kann. b)  Treibende Kraft dieses „reasoning from case to case“ ist der Grundsatz der Gleichbehandlung des wesentlich Gleichen. Hiervon ausgehend, wird man im weiteren Verlauf vermutlich zu der Erkenntnis geführt werden, daß ein Sach­ entzug ähnlich zu behandeln ist wie eine Sachbeschädigung, weil in beiden Fällen die Sachherrschaft des Eigentümers in ähnlicher Weise beeinträchtigt wird uäm. Auf das zunehmend größere Fallmaterial wird man auch dann zurückgreifen, wenn abermals eine ganz neue Fallkonstellation auftaucht. So verhält es sich, wenn P7 den P8 für einige Tage einsperrt und dadurch an der Benutzung seines Autos hindert. Wenn P8 beim vorübergehenden Nutzungsentzug seines Autos Schadensersatz verlangen kann (BGHZ 137, 89 [97 f.]), kann man fragen, ob er nicht in gleicher Weise Schadensersatz für entgangene Nutzungen bekommen muß, wenn er rechtswidrig eingesperrt wird; denn benutzen kann er sein Auto dann genausowenig. Und wenn im Falle einer Körperverletzung der Schaden ersetzt werden muß, der aus der verletzungsbedingten Bewegungsunfähigkeit resultiert, kann man weiter fragen, ob dann nicht auch derjenige zum Schadensersatz verpflichtet sein sollte, der die Immobilität eines anderen auf sonstige Weise herbeiführt. Wir wollen hier nicht in die Prüfung eintreten, ob diese Vergleiche tatsächlich stimmig sind oder ob nicht irgendwelche Besonderheiten eine andere Beurteilung gebieten. Entscheidend ist im vorstehenden Zusammenhang allein, daß man eine schuldhafte Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit jedenfalls im Grundsatz – d. h. vorbehaltlich gegenteiliger Argumente – ebenso behandeln muß wie eine Körper- oder Eigentumsverletzung. Das Nähere kann hier auf sich beruhen. Bildlich:

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C. Von der Entscheidung zur Regel 

Freiheit Eigentum Körper

Aber auch damit hat das reasoning from case to case sein Ende nicht erreicht. Denn wahrscheinlich wird man im Falle einer Verletzung des Lebens oder der Gesundheit ähnlich argumentieren und hätte damit zwei weitere Fallgruppen gewonnen. In Anlehnung hieran könnte man fragen, wie es sich bei einer Beeinträchtigung der Persönlichkeit verhält usw.

III. Das Prinzip hinter der Regel a) Dieses Vorgehen stößt nur da an eine unüberschreitbare Grenze, wo ein Fall, ungeachtet seiner äußeren Ähnlichkeit, im Kern gerade nicht als „gleich“ qualifiziert werden kann, sondern aus Rechtsgründen als wesentlich „verschieden“ erscheint. Ein Beispiel erklärt auch hier mehr als viele Worte: Der Gläubiger G1 hat eine Geldforderung gegen seinen Schuldner S. In gleicher Höhe steht auch G2 eine Forderung gegen S zu. Da S knapp bei Kasse ist, kann er nur eine dieser Forderungen begleichen. G1 weiß dies und beginnt daher auf Zahlung zu drängen: wenn S nicht umgehend leiste, müsse er mit einer Klage rechnen. Daraufhin zahlt S an G1. In der Folge geht der andere Gläubiger G2 leer aus. G2 wendet sich daher an G1 und verlangt Schadensersatz. Argument: wenn in den von uns oben erörterten Fällen der Geschädigte grundsätzlich Ersatz des erlittenen Schadens erhalten habe, dann könne man ihn nicht schlechter behandeln. Schließlich habe G1 durch sein Vorgehen seine – des G2 – Forderung sehenden Auges völlig entwertet. Sie bestehe nur noch auf dem Papier und sei faktisch nicht mehr realisierbar, weil S zahlungsunfähig sei. Machen wir uns die Beziehungen zwischen den Beteiligten zunächst anhand einer Skizze deutlich, wobei die geraden Pfeile (tatsächliche oder vermeintliche) Forderungen symbolisieren, während der gebogene Pfeil die geleistete Zahlung anzeigt:

Zahlung

S

G1 ? G2

III. Das Prinzip hinter der Regel

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Die Argumentation des G2 ist nicht unplausibel: Durch das Verhalten des G1 fällt G2 mit seiner Forderung aus und erleidet dadurch einen Schaden. Außerdem hat G1 vorsätzlich gehandelt; denn ihm war klar, wie sich die Eintreibung seiner Forderung auf die Position des G2 auswirken würde. Dennoch hätte man ein ungutes Gefühl, G2 deswegen einen Schadensersatzanspruch zuzusprechen. Wenn G2 sich von G1 holen könnte, was dieser von S bekommen hat, ginge im Ergebnis nämlich umgekehrt G1 leer aus! G2 hätte es dann in der Hand, G1 in dieselbe Lage zu versetzen, in der er selbst nicht sein will. Das wäre vielleicht erwägenswert, wenn G1 sich verbotswidrig verhalten hätte. G1 hatte jedoch nur eingefordert, was ihm von Rechts wegen zustand. Wie sich die Erfüllung der schuldnerischen Verpflichtung auf Dritte auswirkte, mußte ihn nicht kümmern. G2 stand keine Rechtsposition zu, auf die ein anderer Gläubiger des S bei der Eintreibung seiner Forderung hätte Rücksicht nehmen müssen; noch weniger verfügte G2 über ein Recht, das außer von dem Schuldner S von jedermann hätte beachtet werden müssen. Das war in den bisherigen Fällen anders: Den Körper, das Eigentum oder die Bewegungsfreiheit eines anderen darf niemand beeinträchtigen; es handelt sich dabei um sogenannte absolute, d. h. ohne weiteres gegenüber jedermann wirkende Rechte. Damit ist eine Grenze markiert, über die hinaus man sich nicht mehr auf die eingangs getroffene Entscheidung und die daran angelehnten Folgeentscheidungen berufen kann. All dies zusammenfassend, könnte man die oben entwickelte Entscheidungskette auf folgende Regel reduzieren: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig den Körper, die [Bewegungs-]Freiheit, das Eigentum, das Leben, die Gesundheit oder ein sonstiges absolutes Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist diesem zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ Das entspricht im wesentlichen § 823 Abs. 1 BGB. Der Hauptunterschied ist der, daß hier zur näheren Charakterisierung der aufgelisteten Rechte das Epitheton „absolut“ hinzugefügt wurde. Das erleichtert es zu erkennen, daß die kasuistisch erarbeitete Regel ihrerseits Ausfluß einer noch abstrakteren Norm ist, die man so formulieren könnte: „Wer schuldhaft das absolute Recht eines anderen verletzt, ist ihm zum Schadensersatz verpflichtet.“ b) Würden wir nachforschen, was wiederum diese Norm trägt, würden wir vermutlich auf den Rechtsgedanken stoßen, daß absolute, d. h. gegen jedermann wirkende Rechte vor Beeinträchtigungen zu bewahren sind. Das wäre allerdings keine subsumtionsfähige Norm mehr – dazu ist dieser Gedanke zu unbestimmt. Man könnte zwar versuchen, ihn in die Form einer aus Tatbestand und Rechtsfolgeanordnung bestehenden Regel zu bringen, etwa der Art: „Wenn ein Recht als absolutes Recht zu qualifizieren ist, dann ist es vor Beeinträchtigungen zu bewahren.“ Aber auch dies wäre mehr eine Aufforderung, entsprechende Normen zu bilden, als daß es selbst eine wäre. Daher spricht man hier nicht mehr von einer Norm, sondern von einem „Rechtsgedanken“ oder einem Prinzip. Dieses trägt hier, wie im Rückblick offenbar wird, sowohl die kasuistischen Entscheidungen, die wir oben erörtert haben, als auch den § 823 Abs. 1 BGB, der dafür eine gesetzliche Regel aufstellt. Im nachhinein mag es uns vorkommen, als ob uns dieses Prinzip auf

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C. Von der Entscheidung zur Regel 

unserem Weg intuitiv geleitet hätte. Das mag in vielen Fällen so sein und erklärt daher, warum sich Juristen, wenn ihnen die Argumente ausgehen, gern auf ihr „Rechtsgefühl“ berufen: Sie ahnen dann ein Prinzip, können es aber vorerst nicht in Worte fassen. Nachdem das Prinzip einmal gefunden und explizit formuliert worden ist, kann man davon jedoch bewußt Gebrauch machen. Das soll uns im folgenden Kapitel (D) näher beschäftigen.

IV. Fallrecht bei der Gesetzesanwendung In einem reinen Fallrecht werden die der Argumentation unausgesprochen zugrunde liegenden Normen nicht begrifflich ausgeformt und noch weniger „förmlich“ festgeschrieben. Wohl aber bilden sich hier im Laufe der Zeit Cluster von Entscheidungen, die jeweils um eine bestimmte Problematik kreisen, ohne diese jedoch zu erschöpfen. Sie repräsentieren gewissermaßen Anwendungsfälle einer Regel, lassen diese selbst aber unausgesprochen. Im Gegensatz dazu geht das Gesetzesrecht genau umgekehrt von abstrakten Regeln aus, unter die der Rechtsanwender begrifflich zu subsumieren hat. Dennoch sind die Unterschiede zwischen Gesetzes- und Fallrecht nicht ganz so gravierend, wie es hiernach scheinen könnte. Das zeigt sich, wenn man beide Systeme längere Zeit ungehindert arbeiten läßt. Ein Fallrecht wird mit der Menge der zu verarbeitenden Fälle immer unübersichtlicher, so daß man irgendwann genötigt ist, die wesentlichen Merkmale der einzelnen Fall­gruppen herauszuarbeiten und so eine begriffliche Erfassung vorzubereiten. Im Rahmen des Gesetzesrechts dagegen entwickelt sich, je mehr Fälle unter die gesetzlichen Normen subsumiert worden sind, ein hier an sich gar nicht vorgesehenes Gewebe von aufeinander Bezug nehmenden Präjudizien. Denn neu auftretende Fallgruppen müssen nicht nur nach den begrifflichen Vorgaben des einschlägigen Gesetzes entschieden werden, sondern nach Maßgabe des Gleichbehandlungsgrundsatzes auch mit den bereits vorliegenden Entscheidungen abgestimmt werden. Nachdem wir gesehen haben, wie aus einem Einzelfall Schritt für Schritt ein Komplex zuerst von Fallgruppen und schließlich von Rechtsregeln hervorgehen kann, bleibt noch zu zeigen, wie auch umgekehrt eine gesetzliche Regel sich für ein kasuistisches Fallrecht öffnen kann. Das geschieht auf folgende Weise: Durch den „Eingabespalt“ des gesetzlichen Tatbestands, der durch abstrakte Begriffe umrissen wird, gelangen immer wieder unterschiedlich gelagerte Fallgestaltungen hindurch. So umfaßt z. B. das Tatbestandsmerkmal „oder ein sonstiges Recht“ in § 823 Abs. 1 BGB auch noch andere Rechte als die zuvor aufgezählten. Welche genau damit gemeint sind, ist semantisch nicht klar determiniert. Bei der Rechtsanwendung bleibt daher ein gewisser Spielraum, auch wenn dieser im Vergleich mit einem vorgesetzlichen Zustand kleiner ist. Soweit dieser Spielraum reicht, muß daher nochmals eine Reduktion von Komplexität stattfinden. Andernfalls könnten Entscheidungen ergehen, die womöglich nicht miteinander harmonieren, aber für sich in Anspruch nehmen könnten, mit dem Gesetz vereinbar zu sein.

IV. Fallrecht bei der Gesetzesanwendung

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Eines der Mittel für diesen abermaligen Ausschluß an sich möglicher Argumente besteht darin, daß man sich – ähnlich wie im Rahmen eines Fallrechts – bei jeder Entscheidung streng an den bereits getroffenen Vorentscheidungen orientiert und Abweichungen nur zuläßt, wenn es dafür überzeugende Gründe gibt. Auf diese Weise bilden sich auch im Anwendungsbereich des Gesetzes Fallgruppen, innerhalb deren ähnlich argumentiert werden kann wie in einem reinen Fallrecht – nur mit dem Unterschied, daß die Grenzen des reasoning from case to case hier grundsätzlich von vornherein festliegen, weil sie durch die sprachliche Bandbreite der gesetzlichen Inputöffnung bestimmt werden. Wer eines der Erläuterungsbücher, wie sie von Wissenschaftlern und Praktikern zu allen wichtigen Gesetzen verfaßt werden, zur Hand nimmt, wird daher bei vielen Paragraphen nicht nur begrifflich-exegetische Ausführungen finden. Einen breiten Raum nimmt in dieser Kommentarliteratur auch die Darstellung der Fallgruppen ein, die sich im Anwendungsbereich eines Gesetzes gebildet haben und diesem nicht selten ein anderes Aussehen und bisweilen sogar eine andere Richtung geben, als dies den Gesetzesverfassern vorschwebte. Man versteht daher das Gesetz nur dann richtig, wenn man sich bewußt ist, daß bei seiner „Anwendung“ zwei unterschiedliche Methoden rationaler Entscheidungsfindung zusammenwirken.

D. Prinzipien Die im letzten Kapitel erwähnten Rechtsprinzipien sind sowohl für die Rechtswissenschaft und Rechtspraxis als auch für die Gesetzgebung von Bedeutung und verdienen daher eine eigene Betrachtung.

I. Recht im „gasförmigen“ Aggregatszustand Zunächst: Was genau sind eigentlich Rechtsprinzipien? Es handelt sich dabei weder um konditional strukturierte Rechtsnormen noch um Entscheidungen von Fällen oder Falltypen. Man könnte Rechtsprinzipien vielmehr als allgemeine Rechtsgedanken charakterisieren, die erst noch der Umsetzung in Normen oder Entscheidungen bedürfen, aber bereits vor einer solchen Konkretisierung Beachtung verlangen. Richtungweisende Prinzipien gibt es nicht nur im Recht, sondern ebenso in vielen anderen Bereichen (so z. B. die Prinzipien der Nächstenliebe, der Wirtschaftlichkeit, der Treue, der Volksgesundheit, der Nachhaltigkeit usw.). Speziell rechtliche und moralische Prinzipien sind nicht leicht zu unterscheiden. Sie gehen zum Teil ineinander über und ermöglichen dadurch die Kontaminierung des Rechts mit sozialmoralischen Grundsätzen, d. h. mit moralischen Auffassungen, die von vielen geteilt werden. Das ranghöchste Rechtsprinzip, das auf die befriedigende Lösung aller Rechtsprobleme abzielt, ist die Gerechtigkeit. Aus diesem Grund hat ein namhafter Rechtsdenker wie Gustav Radbruch das Recht einmal als den „Inbegriff der Seinstatsachen“ bezeichnet, „die den Sinn haben, Gerechtigkeit zu verwirklichen“ (Radbruch, 1965, 34) – ein Diktum von ebenso großer Überzeugungskraft wie von kryptischer Dunkelheit. Etwas mehr Bodennähe weist das Schuldprinzip auf. Dieses besagt, daß die Verletzung fremder Rechte dem Handelnden grundsätzlich nur dann zugerechnet werden darf, wenn ihm deswegen ein Vorwurf gemacht werden kann, wenn er sich also anders hätte verhalten können und sollen. Ein Rechtsprinzip ist auch der Schutz der Person gegen Verletzungen, der sich in Abwehr- und Schadensersatzansprüchen, aber auch in Strafmaßnahmen äußern kann. Was genau das Prinzip insoweit verlangt, läßt sich nur im Blick auf die strukturelle Ausgestaltung des betreffenden Rechtssystems bestimmen. Unabhängig davon führt kein direkter Weg vom Schutz der Person zu genau definierten Rechtsfolgen. Ähnliches gilt für die Rechtsprinzipien der Vertragsfreiheit, der Rechtsgleichheit, der Gewaltenteilung, des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips usw. Nach einem einprägsamen Bild von Oliver Lepsius zeichnet sich das rechtliche Material, mit dem die Rechtswissenschaft arbeitet  – Entscheidungen, Gesetze

II. Prinzipien als Quelle des Fallrechts

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und Präjudizien  –, durch unterschiedliche „Aggregatszustände“ aus: In den im Einzelfall getroffenen abschließenden Entscheidungen erscheint es starr und in einer Art Festzustand, weil eine Korrektur solcher Entscheidungen nicht vorgesehen ist; in den Gesetzen ist es im Hinblick auf deren jederzeitige Änderbarkeit und Aufhebbarkeit gleichsam verflüssigt; und in den Rechtsprinzipien begegnet es uns gewissermaßen in gasförmiger Gestalt, weil es greifbare Konturen weitgehend vermissen läßt und sich daher in sehr verschiedenartigen Zusammenhängen geltend machen kann. (Lepsius, 2016, 30 ff.) Im modernen Recht wirken all diese Erscheinungsformen zusammen und ermöglichen je nach Kontext und Gradierung ein unterschiedliches Maß an Bindung wie an Freiheit.

II. Prinzipien als Quelle des Fallrechts Im Rahmen des Fallrechts kommt den Rechtsprinzipien sowohl für das Weiterspinnen einer in der Entstehung begriffenen Entscheidungskette als auch bereits für deren erstes Glied eine wichtige Funktion zu. Denn wenn das Gericht die erste Entscheidung einer derartigen Reihe, bei der es sich weder an eigene Präjudizien noch an solche anderer Gerichte anlehnen kann, nicht willkürlich in die Welt setzen will, braucht es dafür einen hinreichenden Grund. Man schickt niemand ohne Anlaß in Haft oder zwingt ihn grundlos, sein Vermögen an andere abzugeben. Dazu bedarf es vielmehr eines Rechtsgedankens, der eine solche Entscheidung legitimiert, und außerdem der Überzeugung, daß er auf diese Weise am besten verwirklicht werden kann. Auch soweit eine Entscheidung unmittelbar weder durch ein Gesetz noch durch ein Präjudiz gesteuert wird, ist sie keineswegs beliebig. Unabhängig von Gesetzen und Präjudizien gibt es in jeder intakten Gesellschaft nämlich eine Vielzahl anerkannter Rechtsprinzipien, die eine rechtliche Argumentation immerhin in eine bestimmte Richtung lenken. a) Erinnern wir uns: In dem ersten der oben (S. 31) behandelten Fälle war P2 von P1 vorsätzlich verletzt worden. Sieht man von anderem einmal ab, so war die Entscheidung an zwei Prinzipien ausgerichtet: einerseits am Schutz der Person, andererseits am Schuldprinzip. Beide wird man in einer traditionell bürgerlichen Gesellschaft kaum in Zweifel ziehen. Diese Prinzipien sind hier nämlich, wie Josef Esser einmal formuliert hat, Teil eines „fundus von ethischen und common senseGesichtspunkten“, der „geformt ist von den religions- und philosophiegeschichtlichen Einflüssen, die jeweils das Rechtsdenken bestimmen“ (Esser, 1990, 81). Dementsprechend gaben sie in dem obigen Fall den Ausschlag dafür, P1 zum Ersatz des angerichteten Schadens zu verpflichten. Wer als Richter erstmals mit einem solchen Fall befaßt ist und daher weder über das begriffliche Repertoire noch über das Entscheidungsmaterial verfügt, das in einer ausdifferenzierten Rechtsordnung zu Gebote steht, wird die oben entwickelten Zusammenhänge vielleicht nicht ohne weiteres innerlich vor Augen haben. Aber er wird sie zumindest ahnen und daher vorerst, wenn nicht von Gedanken, so doch wenigstens von seinem Rechtsgefühl,

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D. Prinzipien

seiner erfahrungsgestärkten Vermutung der gebotenen Entscheidung geleitet werden. Auch in dieser Form ist dies der Beginn eines Weges, der auf eine Klärung des zu lösenden Problems angelegt ist. Bei jeder späteren Entscheidung wird man versuchen, sich auf die Prinzipien zu beziehen, welche die bereits vorliegenden Präjudizien tragen. Diese Prinzipien sind nicht immer leicht zu ermitteln, weil sie häufig nicht ausdrücklich genannt werden, sondern zwischen den Zeilen der Urteilsbegründung versteckt sind. Um sie zu finden, bedarf es neben juristischem Scharfsinn nicht selten juristischer Phantasie, also einer Eigenschaft, die bei einer schulmäßigen Gesetzesanwendung scheinbar keine Rolle spielt. Nur mit Hilfe juristischer Invention ist man jedoch häufig in der Lage, die früheren Entscheidungen mit der im konkreten Fall erst noch zu findenden zu einer sinnvollen Einheit zu verbinden. Die zentrale Frage geht dabei dahin, ob es Prinzipien gibt, die in dem aktuellen Fall die gleiche Entscheidung wie früher oder aber eine andere gebieten. Dasselbe fragt sich bei späteren Entscheidungen immer aufs neue, wobei nur die Beantwortung zunehmend komplizierter wird, je mehr Entscheidungen hinzukommen. b) Der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin hat das reasoning from case to case, also die Entscheidungsfindung am Leitfaden ständig neu formulierter Prinzipien, in seiner humorigen Art einmal mit dem Schreiben eines Kettenromans verglichen. (Dworkin, 1997, 228 ff.) Bei einem solchen werden von Kapitel zu Kapitel andere Autoren tätig, von denen zwar jeder sieht, was seine Vorgänger bereits geleistet haben, aber nicht weiß, welches Gesamtkonzept sie dabei vor Augen hatten. Der Verfasser des ersten Kapitels hatte wahrscheinlich bereits eine ungefähre Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte. Das ist dem Verfasser des zweiten Kapitels jedoch unbekannt. Dieser muß daher einen eigenen Plan entwickeln, der so beschaffen ist, daß sich das vorliegende erste Kapitel als ein sinnvoller Anfang darstellt. Der dritte Autor findet in dem Manuskript bereits eine Reihe von Personen und Handlungsansätzen vor und muß nach wiederum eigenen Vorstellungen ein drittes Kapitel hinzufügen usw. Daß allen dasselbe Gesamtkonzept vorschwebt, ist äußerst unwahrscheinlich. Erfahrungsgemäß ist mit mehr oder weniger großen Unterschieden zu rechnen. Diese können sich darin bemerkbar machen, daß sich manche Handlungslinien nach Auffassung des gerade am Zug befindlichen ­Autors als Sackgassen erweisen und abgebrochen werden müssen oder daß manchen Personen des Romans keine sinnvolle Funktion mehr zugeordnet werden kann, weshalb sie durch plötzlichen Tod oder auf andere Weise aus dem Spiel genommen werden müssen. Um das vorliegende Erzählmaterial sinnvoll weiterführen zu können, kann es sich aber auch als notwendig erweisen, neue Akteure einzuführen oder Zeit und Ort der Handlung zu verändern. Nach diesem Muster kann man sich auch das Fortschreiten des Fallrechts vorstellen. Die früheren Entscheidungen latent zugrunde liegenden, aber unausgesprochenen Prinzipien bilden unsichtbare Gravitationszentren, um die herum sich nacheinander eine Vielzahl von rechtlich ähnlichen Entscheidungen anlagert. Bildlich:

III. Prinzipien als Quelle des Gesetzes

E

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E E E E E E E E E E E E E E E E E EE EE EE E E EE EE E E E E E E

Bei jeder neuen Entscheidung muß der Entscheider den roten Faden suchen, der die anstehende Entscheidung sinnvoll mit den bereits vorhandenen verbindet. Das setzt voraus, daß er sich um die Erkenntnis der zugrunde liegenden Prinzipien bemüht und sich außerdem eine Vorstellung davon verschafft, wie und in welchem Rahmen diese verwirklicht werden könnten. Dieser Prozeß verläuft nicht immer reibungslos. Der gerade am Zug befindliche Entscheider kann nämlich den Eindruck gewinnen, daß sich einer seiner Vorgänger vertan und eine Entscheidung gefällt hat, die sich mit dem sonst vorliegenden Fallmaterial schwer in Einklang bringen läßt. Dann kommt es darauf an, ob ihm der Mangel gravierend genug erscheint, um diese Entscheidung fallen zu lassen und das reasoning from case to case ohne sie fortzusetzen, oder ob er weitermacht wie bisher und den Fehlgriff vor den Blicken kritischer Betrachter zu verbergen sucht. Für beides finden sich Beispiele, für das letztere freilich mehr, denn Juristen neigen eher zur Beharrung beim Gewohnten als zu dessen Verbesserung, die immer mit Ungewißheit verbunden ist. Das beschriebene Verfahren erinnert an das Zusammenspiel von trial and error in den Realwissenschaften. Wer gerade an der Reihe ist, versucht eine nach seinen Vorstellungen sinnvolle Anknüpfung an die vorliegenden Entscheidungen, während die ihm Folgenden nach ihren Vorstellungen darüber befinden müssen, ob und wie weit dies gelungen ist, um daraus ihrerseits Konsequenzen zu ziehen.

III. Prinzipien als Quelle des Gesetzes Prinzipien geben nicht selten aber auch den Anstoß für den Erlaß eines Gesetzes. Dabei können sie sowohl mittelbar wie unmittelbar von Einfluß sein. a) Von einem mittelbaren Einfluß kann man sprechen, wo ein Gesetz den vorläufigen Schlußpunkt einer langjährigen Falljurisprudenz setzt. Das findet sich vor allem in den stark traditionsgeprägten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, wo bedeutendere Gesetze eher selten durch einen spontanen Akt des Gesetzgebers zustande kommen. Häufig geht ihnen hier eine offene Diskussion oder eine

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D. Prinzipien

längere, von kritischen Kommentaren der Rechtswissenschaft begleitete Judikatur voraus. Im Wege des oben beschriebenen Verfahrens werden aus Einzelfällen zunächst Fallgruppen gebildet. Schritt für Schritt tasten sich Rechtsprechung und Rechtslehre sodann zu den die Entwicklung unterschwellig leitenden Prinzipien vor. Nachdem eine hinreichende Klärung erreicht ist, faßt der Gesetzgeber das Resultat der rechtlichen Erfahrungen in operable Begriffe und Regeln, nimmt einige Ergänzungen und Korrekturen vor und veröffentlicht das Ganze im Gesetzblatt. Die frühere Falljurisprudenz ist dann zu einem förmlichen Gesetz geworden. Inhaltlich ändert sich dadurch im Vergleich zu dem vorhergehenden Zustand nicht viel. Wohl aber nimmt die rechtliche Argumentation damit eine andere Form an: Unter dem Einfluß des Gesetzes wird sie begrifflich schärfer, dadurch voraussehbarer, aber auch schematischer. Verglichen mit einem Fallrecht, wo die Entscheidung durch den Abgleich zahlreicher Vorentscheidungen gewonnen werden muß, bewirkt das Gesetz durch die Fokussierung auf einige wenige Tatumstände und den Ausschluß aller übrigen mehr Klarheit und „Rechtssicherheit“. Ein unmittelbarer, ohne Zwischenschaltung einer wegbereitenden Judikatur vermittelter Einfluß von Prinzipien auf die Gesetzgebung ist vor allem da zu beobachten, wo rasches Handeln der Legislative geboten ist und man nicht beliebig zuwarten kann, ferner da, wo – wie heute häufig der Fall – das Gesetz als ein Mittel zur politischen Umgestaltung bestehender Verhältnisse eingesetzt wird. Kann oder will man nicht warten, bis sich geeignete Regeln in der Praxis „von selbst“ herauskristallisiert haben, so muß der Brückenschlag vom handlungsleitenden Rechtsprinzip zum förmlichen Gesetz ohne die „Erprobungsphase“ eines dazwischengeschalteten Fallrechts versucht werden. Im Strafrecht ist das gar nicht anders möglich, weil der in den Verfassungsrang erhobene nulla-poena-Grundatz (Art. 103 Abs. 2 GG) die vorherige gesetzliche Normierung von Tatbestand und Rechtsfolge zur unabdingbaren Voraussetzung jeder Bestrafung erklärt. Solange diese Verfassungsnorm existiert, kann der Gesetzgeber nie in die Lage kommen, mit einer Judikatur konfrontiert zu werden, die unter Berufung auf ein ungeschriebenes Rechtsprinzip selbständig die Strafbarkeit bestimmter Verhaltensweisen entwickelt hat. Wohl aber kann er sich durch ein solches Prinzip dazu anregen lassen, entsprechende Strafgesetze ohne judikative Anregung zu erlassen. Je mehr dem Gesetz die Funktion eines politischen Steuerungsmittels beigemessen wird, desto weniger neigt der Gesetzgeber auch in anderen Bereichen dazu, abzuwarten, wie sich die Dinge von selbst entwickeln, sondern weist, gestützt auf ein überzeugungskräftiges Rechtsprinzip, der Rechtsfindung der Gerichte durch förmliche Gesetze seinerseits die Bahn. b) Die unterschiedlichen Funktionen, die dem Gesetz beigemessen werden – nämlich bloße Verlautbarung des Rechts oder aber politisches Gestaltungsmittel zu sein –, machen sich auch bei der Gesetzesauslegung bemerkbar. Was man Auslegung nennt, ist, wie wir gesehen haben, vor allem das fachjuristisch aufbereitete Räsonnement darüber, wie breit genau die auf der Inputseite des Gesetzes eröffnete „Schleuse“ ist, die jedes Argument passieren muß, um in einer juristischen Auseinandersetzung Gehör zu finden (S. 17 f.).

IV. Erweiterung des Argumentationsspielraums

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Der Gesetzespositivismus, demzufolge der Gesetzgeber das Gesetz in einem Akt der Rechtserzeugung gleichsam aus einem rechtlichen Nichts heraus neu schafft, nimmt sich bei der Rechtsanwendung den Willen des Gesetzgebers zur Richtschnur. Man spricht daher von subjektiver Auslegung. Wer dem Gesetzgeber zugute hält, daß er sich um die Verwirklichung allgemeiner Rechtsprinzipien bemüht – womit die Gesetzgebung den Charakter einer Rechtserkenntnis gewinnt –, wird stattdessen versuchen, bei der Rechtsanwendung an diesen Prinzipien Maß zu nehmen. Dies wird als objektive Auslegung bezeichnet. In praktischer Hinsicht ist der Hauptunterschied folgender: Bei der subjektiven Auslegung wird der Wille des Gesetzgebers als etwas dem Gesetz real Vorgegebenes imaginiert, nämlich als der Wille einer Person oder einer Gruppe von Personen. Sowie dieser Wille feststeht, hat sich jede von diesem Faktum abweichende Diskussion erübrigt. Die Rückführung des Gesetzes auf Rechtsprinzipien eröffnet dagegen eine Diskussionsebene, auf der sich auch Rechtsgedanken Geltung verschaffen können, von denen der Gesetzgeber nichts wußte noch ahnte. Bei der Gesetzesauslegung scheiden sich die Juristen demgemäß in zwei Lager, deren eines sich autoritätsaffin vor allem auf die „Gesetzesmaterialien“ wirft, in denen, wie man meint, der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck komme, während auf der anderen Seite Sach- und Rechtsgründe aufgeboten werden, deren Überzeugungskraft letztlich im praktischen Diskurs aller mit allen begründet ist.

IV. Erweiterung des Argumentationsspielraums Sowohl das Gesetz wie auch das Fallrecht bewirken eine Reduktion der in Betracht kommenden Argumente mit der Folge, daß hieran gebundene Juristen die Welt tendenziell nur soweit wahrnehmen, wie es für die gerade ins Auge gefaßte Entscheidung von Interesse ist. Demgegenüber eröffnen die dem positiven Recht der Idee nach vorgeordneten Rechtsprinzipien die Möglichkeit, dieser Verengung des Argumentationsspielraums entgegenzuwirken. Prinzipien sind nämlich nicht nur geeignet, dem Ausschluß von Argumenten einen rechtlichen Sinn verleihen; sie ermöglichen es auch, den durch Gesetze oder Präjudizien verengten Spielraum möglicher Argumente wieder zu erweitern, indem sie dem durch Gesetze und Präjudizien gebundenen Rechtsanwender einen eigenen Zugriff auf Gesichtspunkte rechtlicher Richtigkeit eröffnen. Das bedeutet nichts anderes als eine partielle Annäherung an die unbeschränkt offene Diskussion, wie sie juristische Laien allein kennen und wie sie durch die juristische Formalisierung der Argumentation an sich abgeschnitten wird. a) Diese Wiederannäherung an den allgemeinen praktischen Diskurs zeigt sich zunächst beim Umgang mit dem Gesetz. Wer Gesetze auf juristische Prinzipien zurückbezieht und von daher als „Recht“ deutet, wird häufig feststellen, daß diese Prinzipien durch die darauf bezogenen Gesetze nur unvollständig verwirklicht sind. Sie werden zwar in operable Programme transformiert; aber die Umsetzung

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D. Prinzipien

bleibt hinter den Möglichkeiten, die das Prinzip eröffnet und womöglich sogar zu fordern scheint, zurück. Gemessen daran erscheint das Gesetz lückenhaft. Man spricht insoweit von Prinzipienlücken. Das Verfahren, diese zu schließen, besteht darin, daß man unter Berufung auf das nur unvollkommen verwirklichte Prinzip neue, nach dem Wortsinn des Gesetzes an sich nicht zugelassene Argumente für statthaft erklärt, letztlich also dem diffusen Prinzip gegenüber dem scharf konturierten Gesetz den Vorzug gibt und die gesetzliche Schleuse ein wenig erweitert. Grundsätzlich stellt der Wortsinn des Gesetzes allerdings auch für Prinzipienargumente eine Grenze dar, die, wenn das Gesetz nicht seine Konturen verlieren soll, durch die Berufung auf ein darüber hinausreichendes Prinzip nicht beliebig erweitert werden darf. Nur wenn das Prinzip hinreichend überzeugungskräftig ist, vermag es eine Entscheidung auch gegen den Wortsinn des Gesetzes zu rechtfertigen. Im Ergebnis werden in diesem Fall Argumente berücksichtigt, denen das Gesetz an sich eine Absage erteilt hat. Das Zauberwort, das diese Zulassung bewirkt, lautet Gleichbehandlung des Gleichen. Mit ihm kann die Wirkung eines Prinzips trotz seiner nur begrenzten Verwirklichung durch das Gesetz über dessen Wortsinn hinaus erstreckt werden. Im Ergebnis kommt diese Analogie, wie wir gesehen haben, einer Gesetzesänderung gleich; sie setzt nur keine förmliche Gesetzesänderung voraus, sondern ist das Resultat einer rein gedanklichen Operation. b) Auch auf dem Gebiet des Fallrechts kann die Bezugnahme auf Rechtsprinzipien den argumentativen Spielraum erweitern. An sich ist die Argumentation hier dadurch begrenzt, daß die vorhandenen Präjudizien einen Rahmen abstecken, der bei neuen Entscheidungen grundsätzlich nicht überschritten werden darf. Gestützt auf ein allgemein anerkanntes Prinzip, das über diesen Rahmen hinausreicht, ist der Entscheider aber auch hier freier gestellt und darf Argumente ins Feld führen, die sich aus dem vorliegenden Fallmaterial allein nicht ergeben würden. Wenn sich zeigt, daß einige dieser Entscheidungen durch ein anderes Prinzip besser erklärt werden als durch dasjenige, durch das sie nach überkommener Auffassung zusammengehalten werden, kann der Rechtsanwender sie gleichzeitig auch diesem anderen Prinzip zuordnen und dadurch zum Ausgangspunkt einer neuen Fallgruppe erheben. In Anlehnung an die obige Skizze (S. 43) kann man sich dies so veranschaulichen:

A

B E

E E E EEE E E E E EE E E E E E E

E EE E E EE EE E E E

V. Generalklauseln und Grundwerte

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Die am rechten Rand des linken Kreises angesiedelten Entscheidungen (E) wurden zunächst (nur) durch das Prinzip A gestützt. Nachdem sie dann jedoch auch dem Prinzip B zugeordnet wurden, ergibt sich die Möglichkeit einer abweichenden Clusterbildung, die einer anderen Logik folgt. Diese andere Begründung (B statt A) erschließt einen neuen Kreis von „prinzipiell“ zusammengehörenden Entscheidungen, der deutlich über A hinausreicht. Ein Beispiel dafür findet sich in auf Seite 33 f., wo wir davon ausgingen, daß eine Beschädigung des Sacheigentums einer Körperverletzung „im Prinzip“ so ähnlich ist, daß auch die Eigentumsbeschädigung zum Schadensersatz verpflichten muß. Nachdem das einmal entschieden ist, wird man sich, wie wir bereits gesehen haben, bei einer späteren Eigentumsbeschädigung wahrscheinlich zunächst abermals auf die zur Körperverletzung entgangenen Entscheidungen berufen. Sobald jedoch auch zur Eigentumsbeschädigung ein hinreichend großes Bündel von Entscheidungen vorliegt, kann man sich den Umweg über die Körperverletzung sparen und unmittelbar an die Eigentumsfälle anknüpfen. Der Schutz des Sacheigentums ist dann zu einem scheinbar eigenständigen Prinzip geworden. Dies wiederum ermöglicht es, im weiteren Verlauf in dieses Prinzip noch andere Positionen miteinzubeziehen, die zwar eigentumsähnlich sind, aber von dem ursprünglich allein geschützten Körper noch weiter entfernt als das Sacheigentum: so etwa der rechtlich geschützte Besitz, das Patentrecht, das Urheberrecht usw. Eben dies ist im Umgang mit § 823 Abs. 1 BGB im Verlauf von Jahrzehnten tatsächlich geschehen, so daß diese Norm heute einen viel weitergehenden Inhalt hat, als man es nach ihrem Wortlaut vermuten würde. Man kann daraus ersehen, daß das Recht kein starres Gebilde ist. Es ist in ständiger Entwicklung begriffen, da neue Gedanken sich auf dem Weg über dafür aufnahmebereiten Prinzipien überall geltend machen können. Damit sie greifbare Gestalt gewinnen, ist es freilich erforderlich, daß auch die Wirklichkeit für ein anderes Recht „reif“ geworden ist; denn nicht jedes Recht ist für jede Gesellschaft passend.

V. Generalklauseln und Grundwerte a) Der im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Vorherrschaft gelangte Gesetzespositivismus, der alles Recht auf förmliche Gesetze zurückführte, also Recht und Gesetz grundsätzlich identifizierte, interessierte sich wenig für die dem Gesetz vorausliegenden Prinzipien, sondern begnügte sich in der Regel damit, daß rechtliche Anordnungen und Entscheidungen durch ein formelles Gesetz „vorgegeben“ waren. Wie man sich unschwer überzeugen kann, ist das freilich eine jener Floskeln, die leicht von der Zunge gehen, aber in der Praxis ebenso leicht Schiffbruch erleiden. Kein Gesetzgeber kann so viele Gesetze erlassen, wie man zur Regelung aller anstehenden Rechtskonflikte benötigen würde, und zwar schon deshalb nicht, weil man die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht so weit ausdifferenzieren kann, daß man damit die unendliche Fülle aller vorkommenden Fälle paßgenau er-

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D. Prinzipien

fassen könnte. Der Gesetzgeber hat daraus zunehmend die Konsequenz gezogen, in seine bedeutenderen Gesetzgebungswerke unmittelbar selbst nicht nur unbestimmte Rechtsbegriffe, sondern auch Prinzipien einzubauen. Das letztere geschieht in Form von Paragraphen, die streng genommen keine „Normen“ sind, weil sie nicht Rechtsfolgeanordnungen an Tatbestandsvoraussetzungen knüpfen, sondern dem Rechtsanwender lediglich die Beachtung bestimmter Prinzipien aufgeben. Man nennt solche Vorschriften Generalklauseln. Infolge ihres Überhandnehmens hat Justus W. Hedemann geradezu einmal von einer „Flucht in die Generalklauseln“ gesprochen. (Hedemann, 1935) Deren Aufgabe ist es, ausgewählte Prinzipien in Paragraphenform für verbindlich zu erklären, und zwar nicht auf dem Umweg über detaillierte Bestimmungen, von denen auf das Prinzip zurückgeschlossen werden kann, sondern unmittelbar. Was der Rechtsanwender aus solchen Generalklauseln macht, ist nicht ohne weiteres absehbar. In der sonst üblichen Weise darunter subsumieren kann er jedenfalls nicht, weil es an den semantischen Voraussetzungen dafür fehlt. In gewisser Weise wird der Gesetzespositivismus damit „überlistet“. Im Gewande positiver Normen werden in das Gesetz Grundsatzbestimmungen eingefügt, für die im gesetzespositivistischen Denken kein Platz vorgesehen ist; denn dieses beruht auf der Voraussetzung einer in der Norm selbst enthaltenen Dezision. So gibt es Generalklauseln, deren Aussage allein darin besteht, daß sie den Rechtsanwender zur Beachtung von „Treu und Glauben“, der „guten Sitten“, der „Verkehrssitte“ oder nicht näher spezifizierter „wichtiger Gründe“ verpflichten. Man darf davon ausgehen, daß der Gesetzgeber auch da, wo er solche unbestimmten Begriffe verwendet, dennoch versucht hat, den für maßgeblich gehaltenen Sachgesichtspunkten möglichst bereits bei der Formulierung der sonstigen Rechtsnormen Rechnung zu tragen. Wenn dem Rechtsanwender gleichwohl ein eigenständiger Zugriff auf ausgewählte Prinzipien eröffnet wird, so wird die Bindung an das Gesetz aufgeweicht, ohne daß dies explizit zum Ausdruck gebracht wird. Mit Hilfe derartiger Generalklauseln werden gleichsam Schneisen in das Normengefüge geschlagen, innerhalb deren die gesetzlichen Argumentationsverbote bei Bedarf gelockert werden können. b) Aber das ist nicht alles, die Bedeutung der Generalklauseln reicht weiter. Einige davon hat man nicht nur neben, sondern sogar rangmäßig über die „echten“ Normen gestellt mit der Folge, daß sie Vorrang vor diesen genießen sollen. So hat Franz Wieacker in dem in § 242 BGB niedergelegten Prinzip von Treu und Glauben („Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“) nichts anderes gesehen „als die Verwandlung aller schuldrechtlichen Ansprüche … in bonae fidei iudicia“, bei denen, anders als im strengen Recht, vieles in das Ermessen des Richters gestellt ist. (Wieacker, 1956, 22) Darüber noch hinausgehend haben andere behauptet, daß § 242 BGB die gesamte Rechtsordnung „überwölbe“, was im Klartext nichts anderes bedeutet, als daß unter Berufung auf § 242 BGB jede noch so minutiös ausgeformte Rechtsnorm modifiziert werden kann.

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V. Generalklauseln und Grundwerte

Erst recht kommt eine derart einschneidende Wirkung den Grundrechten zu, bei denen es sich meist ebenfalls um generalklauselhaft verlautbarte und sogar mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzipien handelt. Diese „strahlen“, wie häufig gesagt wird, in die gesamte Rechtsordnung aus und genießen Vorrang vor allen „echten“, d. h. tatbestandlich ausdifferenzierten Gesetzen. „Vorrang genießen“: dies bedeutet, daß jeder, der die Grundrechtskarte zu ziehen versteht, jedes noch so eindeutige Gesetz beiseite schieben und, gestützt auf einzelne Grundrechte oder die „Wertordnung“ des Grundgesetzes als Ganze, Argumente ins Spiel bringen kann, die das Gesetz selbst an sich ausschließt. Auf diese Weise sind, so überraschend dies klingt, beim Umgang mit dem Gesetz im Laufe der Zeit zwei unterschiedliche Argumentationsebenen entstanden: eine formelle, auf der eine durch das Gesetz engherzig eingehegte begriffliche Arbeit stattfindet, wie sie oben in Kap. A skizziert wurde, und eine informelle, auf der die Schleusen des Gesetzes entgegen der positivistischen Doktrin bei Bedarf geöffnet werden können. Das rechtliche Alltagsgeschäft vollzieht sich überwiegend auf der formellen Ebene, weil die Bewältigung des täglichen Arbeitsanfalls ohne einen gewissen Schematismus nicht zu leisten wäre. Aber wem es gelingt, von hier auf die informelle Ebene überzuwechseln und mit Grundrechtsrang versehene Rechtsprinzipien gegen das einfache Gesetz in Stellung zu bringen, hat die Chance, eine Entscheidung herbeizuführen, die im wahrsten Sinn des Wortes „aus dem Rahmen“ fällt. Bildlich kann man sich dieses Nebeneinander von tatbestandlich ausgearbeiteten Rechtsnormen und unstrukturierten Rechtswerten oder Prinzipien so veranschaulichen:

Prinzipien

EI

EII

Normen E1

E2

E3

E4

E5

E6

E7

E8

E9

Auf der unteren Ebene wird jede Entscheidung (E) aus dem engen Spektrum von Argumenten hergeleitet, das die rechtstechnisch ausformulierten Normen für allein zulässig erklären. Dagegen wirken die aus der oberen Ebene kommenden, unmittelbar an Prinzipien orientierten Entscheidungen wie ein Schlag ins Kontor. Sie öffnen den rechtlichen Diskurs in unvorhergesehener Weise für Argumente, die dem vor- oder außergesetzlichen Repertoire entnommen sind. Dies freilich meist in derjenigen Sprache, wie sie beim Umgang mit „normalen“ Gesetzen entwickelt worden ist, so daß der Unterschied nicht ohne weiteres deutlich wird. Böse Zungen haben daher behauptet, daß Juristen buchstäblich alles begründen könnten, und noch dazu so, daß dies Nichtjuristen nicht auffällt. Nur der Trägheit des Rechtssystems sei es zu verdanken, daß die im juristischen Denken angelegten Möglich-

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D. Prinzipien

keiten selten verwirklicht würden. Konzilianter formuliert, könnte man sagen, daß die Juristen mit den allgemeinen Rechtsprinzipien und den Grundwerten der Verfassung über ein Mittel verfügen, mit dessen Hilfe sie bei Bedarf aus der gesetzlich formalisierten Diskussion aussteigen und partiell zu dem gesetzlich ungeregelten „Urzustand“ zurückkehren können. Wer mit dem förmlichen Recht hinreichend oft in Berührung gekommen ist, weiß, daß es dafür gute Gründe geben kann. Was leicht übersehen wird, ist freilich, daß es gute Gründe auch für das positive Recht selbst gibt. Denn was auch immer man gegen dieses einwenden kann, so besteht seine Leistung darin, daß es dem Recht zu einer sonst nie erreichten Klarheit und Rechtssicherheit verholfen hat. Diese verliert sich in demselben Maß, in dem die Formen des positiven Rechts für informelle Argumente geöffnet werden.

E. Der Rechtsfall und sein Umfeld Nachdem wir uns mit der Entscheidung von Rechtsfällen mit Hilfe von Gesetzen, Präjudizien und Rechtsprinzipien befaßt haben, wenden wir uns nunmehr der Frage zu, was genau eigentlich einen „Rechtsfall“ ausmacht. Im Rahmen der obigen Ausführungen hatten wir dies als selbstevident vorausgesetzt. Viele scheinbare Selbstverständlichkeiten verstehen sich bei näherem Zusehen jedoch keineswegs von selbst. Für die meisten von diesen gilt, daß man nicht nur Experten dazu befragen sollte, die ständig damit befaßt sind und daher gelegentlich das Nächstliegende nicht wahrnehmen. Wer Grundlegendes über scheinbare Selbstverständlichkeiten erfahren will, muß vielmehr auch selbst nachdenken.

I. Weitgespanntes Beziehungsgefüge Dabei wird rasch offenbar, daß hier wie so oft „alles mit allem zusammenhängt“. Jeder soziale Konflikt hat eine Vielzahl von Ursachen; ebenso zieht jede Entscheidung eines solchen Konflikts über die unmittelbare Rechtsfolge hinaus zahlreiche weitere Folgen nach sich. Hier wie da blickt uns eine Hydra von Ursachen oder Folgen entgegen. Das kann man sich anhand eines Prozesses, der für frühere Generationen einmal zum Pflichtstoff des gymnasialen Geschichtsunterrichts gehörte, leicht veranschaulichen. Dabei ging es um folgendes: Zur Zeit Friedrichs des Großen betrieb ein gewisser Müller Arnold eine Wassermühle, wofür er seinem Zinsherrn Pachtzins schuldete. Als der Landrat von Gersdorff, der oberhalb dieser Mühle Land besaß, dort einen Karpfenteich anlegte, ging dem flußabwärts gelegenen Müller das Wasser aus. Infolgedessen konnte er nicht mehr mahlen und demzufolge auch den Pachtzins nicht mehr bezahlen. Sein Zinsherr erwirkte daher ein Zahlungs­ urteil gegen ihn. Eine Klage Arnolds gegen den Oberlieger von Gersdorff, wodurch das Unglück vielleicht hätte abgewendet werden können, blieb erfolglos. Auf Betreiben des Zinsherrn kam es daher zur Vollstreckung, in deren Verlauf die Mühle zwangsversteigert wurde. Die Errichtung des Karpfenteichs durch von Gersdorff führte also zum Zahlungsverzug des Müllers. Dies war der Auslöser für die Klage des Zinsherrn. Das Urteil in dem folgenden Prozeß des Müllers gegen von Gers­ dorff machte die Zwangsversteigerung unabwendbar. Und diese wiederum hatte zur Folge, daß Arnold die Mühle verlor. Ob die zwischen dem Müller und seinem Oberlieger ergangene Entscheidung in der Sache richtig war, wissen wir nicht. Aber man kann sich gut vorstellen, daß sie für den Müller, dessen Familie und sein Gesinde unübersehbar viele weitere Folgen nach sich gezogen hätte, wenn nicht Friedrich der Große in spektakulärer Weise eingegriffen hätte.

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E. Der Rechtsfall und sein Umfeld

Hätte das Gericht in dem gegen von Gersdorff geführten Verfahren zugunsten Arnolds entschieden, hätte es zu all diesen Folgen von vornherein gar nicht kommen können. Andererseits: wäre von Gersdorff nicht Landrat, sondern ein kleiner Fischzüchter gewesen, so wäre in diesem Fall vielleicht er in Schulden geraten mit vielen unangenehmen Weiterungen für sich und die Seinen. In solche oder ähnliche, nicht selten sehr viel weiterreichende Zusammenhänge sind fast alle „Rechtsfälle“ verstrickt: Straftaten beeinträchtigen häufig nicht nur das unmittelbare Opfer, sondern sein ganzes Umfeld; auf der anderen Seite trifft die Strafe nicht nur den Täter, sondern mittelbar auch dessen Familie. Storniert ein Herstellerbetrieb wegen angeblicher Mängel der gelieferten Waren einen Großauftrag, führt das u. U. dazu, daß das beauftragte Unternehmen Leute entlassen muß, daß es seine eigenen Lieferanten nicht bezahlen kann und diese ihre Zulieferer ebenfalls nicht. Wird der Presse eine bestimmte Art der Berichterstattung erlaubt oder verboten, beeinflußt dies zugleich die Medien in zahllosen anderen Fällen und hat weitreichende Folgen für die Versorgung der Öffentlichkeit mit Informationen. Die Bestreikung eines Betriebes zieht automatisch Zuliefer- und Abnehmer­ betriebe in Mitleidenschaft. Erlaubt man in Krisensituationen einen zur Verhinderung von Entlassungen geführten Streik, erschwert man die Verlagerung des bestreikten Betriebes ins Ausland, greift also in die Freizügigkeit des Unternehmens ein und behindert den grenzüberschreitenden Markt. Erklärt man umgekehrt den Streik für rechtswidrig, ist mit der Freisetzung der hiesigen Arbeitnehmer zu rechnen usw. Es geht hier nicht darum, wie all dies rechtlich zu bewerten ist, sondern allein darum, zu zeigen, daß praktisch jeder Fall in ein Netz sozialer Beziehungen eingebettet ist und nur von daher in seiner vollen Tragweite verstanden werden kann – ähnlich wie der Müller-Arnold-Fall, nicht selten jedoch in noch ganz anderen Dimensionen. Bildlich kann man sich die weitgespannte Vernetzung selbst einfacher Rechtsbeziehungen (P1 – P2) so vorstellen:

P

P

P1

P

P

P2

P

P

II. Konfliktlösung durch „tribalistische Gesamtbereinigung“

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Man kann diese Vernetzungen recht gut mit Nervenbahnen vergleichen, die dafür sorgen, daß das, was an einer Stelle geschieht, umgehend anderen Stellen mitgeteilt wird und dort zu bestimmten Reaktionen führt. So gesehen ist jeder rechtliche Konflikt zwischen zwei Personen P1 und P2 zugleich ein gesellschaftlicher Konflikt, von dem auch andere, sehr vermittelt vielleicht sogar alle betroffen sind und dessen Lösung sich infolgedessen in irgendeiner Weise auch auf sie auswirkt.

II. Konfliktlösung durch „tribalistische Gesamtbereinigung“ Dieser Vernetzung würde es an sich entsprechen, Rechtstreitigkeiten unter Einbeziehung auch der weiteren, nur mittelbar Betroffenen zu verhandeln. Diese sind mit den Ursachen des Konflikts vertraut, weil sie selbst in das Ursachengewebe verstrickt sind, sie kennen die den unmittelbar Beteiligten vielleicht gar nicht bewußten Folgen einer bestimmten Entscheidung, weil sie davon selbst berührt sind, und sie können einschätzen, welche Lösung im Hinblick auf das soziale Umfeld vorzugswürdig wäre, weil sie ihrerseits damit leben müssen und daher an einem Urteil interessiert sind, das den Konflikt zur Zufriedenheit aller bereinigt. Bereits aus praktischen Gründen kann man an der Lösung eines Rechtskonflikts aber nicht alle beteiligen, die davon in irgendeiner Weise tangiert sind. Das wäre organisatorisch nicht zu bewältigen. Ein Schlichtungsverfahren unter Einbeziehung der nächst weiteren Betroffenen wäre allenfalls innerhalb eines überschaubaren Kreises praktikabel. In der ethnologischen Jurisprudenz finden sich dafür viele Beispiele, die zugleich zeigen, wie solche Verfahren in atavistischen Gesellschaften ablaufen. Während die Entscheidung im modernen Prozeß unter Heranziehung von Gesetzen, Präjudizien und Rechtsprinzipien prüfend und schlußfolgernd erarbeitet wird, wird sie dort im Wege eines Pallavers – wenn auch häufig unter Führung einer örtlichen Autoritätsperson – ausgehandelt. Auf seiten der Streitenden versammeln sich Verwandte und Freunde, deren Interessen in eine ähnliche Richtung gehen, und machen sich für die betreffende Partei stark, weil eine Regelung zu deren Gunsten zugleich im eigenen Interesse läge. Diese nur mittelbar Betroffenen stehen sich in der Regel nicht ganz so antagonistisch gegenüber wie die unmittelbar Streitenden selbst. In stärkerem Maß als diese behalten sie daher auch die sonstigen Beziehungen im Blick, die sie zur jeweils „anderen Seite“ unterhalten und wegen des gerade anstehenden Konflikts nur ungern gefährden würden. Aus dieser Perspektive gesehen werden mögliche Lösungen des zwischen P1 und P2 schwelenden Streits tentativ in das soziale Umfeld eingefügt und auf ihre Akzeptabilität geprüft. Die Beteiligung der jeweiligen Referenzgruppen gewährleistet, daß wegen der Lösung des zwischen P1 und P2 bestehenden Konflikts nicht das gesamte soziale Beziehungsgefüge auch der nur mittelbar Beteiligten gefährdet und womöglich irreparabel beschädigt wird. Auf diese Weise stehen bei einer „tribalistischen“ Regulierung von Rechtsstreitigkeiten neben dem Konflikt der eigentlichen Kombattanten zugleich noch an-

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E. Der Rechtsfall und sein Umfeld

dere Nahbereichsbeziehungen zur Debatte und werden unter Einbeziehung der nur mittelbar Betroffenen gegebenenfalls neu ausgehandelt. Vordergründig betrachtet agieren alle an einem solchen Verfahren Beteiligte so, als ginge es nur um den zwischen P1 und P2 schwebenden Rechtsstreit. In gewisser Weise geht es auch nur um diesen; denn allein er gibt Anlaß, sich überhaupt auf ein solches Verfahren einzulassen. Und wenn der konkrete Streit sich anderweitig erledigt – z. B. weil eine der Parteien stirbt oder freiwillig aufgibt –, erlischt auch das Engagement der übrigen, weil es ja nur durch diesen Fall ausgelöst worden ist. Solange jedoch über diesen Fall verhandelt wird, geschieht es unausgesprochen zugleich im Blick auf das soziale Umfeld, in das er eingebettet ist und durch dessen Berücksichtigung allein er einer allseits befriedigenden Lösung zugeführt werden kann.

III. Streitentscheidung durch unbeteiligte Dritte Im modernen Recht ist die Regulierung von Rechtsstreitigkeiten anders organisiert. Hier wird die Lösung grundsätzlich einem unbeteiligten Dritten anvertraut, der, geleitet durch verbindliche rechtliche Vorgaben, als Richter fungiert. Dieser kann entscheiden, ohne die nur mittelbar Betroffenen anzuhören. Mehr noch: das Verfahren kann so organisiert sein, daß er sie nicht einmal hören darf. a)  Die Einschaltung eines neutralen Dritten und dessen Ausstattung mit der Kompetenz zur verbindlichen Streitentscheidung verleiht dem Rechtsstreit eine andere Qualität. Der Konflikt der unmittelbar beteiligten Parteien wird dadurch aus seinem Umfeld gelöst und zu dem gemacht, was Juristen allein einen „Fall“ nennen. Der zur Entscheidung berufene Richter schaut nicht auf die vielen Beziehungen, in die jeder Fall eingebettet ist – und zwar bereits deshalb nicht, weil er diese Beziehungen als unbeteiligter Dritter in der Regel gar nicht kennt. Er richtet sein Augenmerk allein auf die streitenden Parteien selbst sowie auf das, was diese unmittelbar angeht, dies jedoch viel nachdrücklicher, als es bei einem Pallaver unter Einschluß vieler nur mittelbar Betroffener möglich wäre. Er betrachtet den Konflikt mithin so, als seien nur die unmittelbar Beteiligten im Spiel und als würde deren Streit und dessen Entscheidung alle anderen nichts angehen. Auch darin kommt eine Abstraktion zum Ausdruck, für die in atavistischen Gesellschaften bereits die Voraussetzungen fehlen. Vorbedingung dafür ist nämlich, daß man sich eigenständige Einzelwesen („Personen“), die sich nach ihren Intentionen frei entfalten und eigene, nur sie selbst angehende Beziehungen zueinander begründen können, überhaupt vorzustellen vermag, Personen also, denen ein so hoher Eigenwert beigemessen wird, daß ihre gesellschaftliche Verankerung und Prägung im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten grundsätzlich vernachlässigt werden kann. Dies versteht sich, geschichtlich gesehen, keineswegs von selbst; lange Zeit ging man von ganz anderen Vorstellungen aus. Und vorausgesetzt ist weiter, daß für Rechtsstreitigkeiten zwischen solchen „Personen“ ein Verfahren zur Verfügung steht, das dieser Verselbständigung Rechnung trägt.

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III. Streitentscheidung durch unbeteiligte Dritte

b) Die gedankliche Abstraktion eines „Falles“ von seinem Umfeld kann im Prozeß mehr oder weniger stringent fortgesetzt werden. Die gemäßigte Form zeichnet sich dadurch aus, daß ein unbeteiligter Dritter als streitentscheidender Richter tätig wird, der das soziale Umfeld an dem Verfahren nicht immer beteiligen muß, wohl aber nach seinem Ermessen beteiligen kann. Bildlich:

P

P1

P

P

Ri

P2

P

P

Nach diesem Muster war der Zivilprozeß der sozialistischen DDR organisiert. Der zu entscheidende Fall war hier im Ausgangspunkt auf die Beziehungen zwischen den unmittelbar Beteiligten reduziert, allerdings nicht in einem solchen Maße, daß das Gericht ausgewählte Personen aus dem sozialen Umfeld der Parteien nicht hätte beteiligen können und gelegentlich sogar müssen. Nach § 4 Abs. 1 ZPO DDR (GBl 1975 I Nr. 29, S. 533) war das Gericht vielmehr verpflichtet, „Beauftragte von Kollektiven der Werktätigen und gesellschaftlichen Organisationen auf geeignete Weise am Verfahren zu beteiligen, wenn ihre Mitwirkung zur Aufklärung des Sachverhalts oder zur Erhöhung der Wirksamkeit des Verfahrens erforderlich“ war. Deren Mitwirkung hatte, wie es weiter hieß, „insbesondere das Ziel, Ursachen, Bedingungen und Auswirkungen des Rechtsstreits überwinden, Rechtsverletzungen vorbeugen und das sozialistische Rechtsbewußtsein entwickeln zu helfen“. Nach § 43 Abs. 2 ZPO DDR konnte das Gericht desweiteren „die Anwesenheit von Arbeitskollektiven, Hausgemeinschaften oder anderen Kollektiven der Werktätigen oder ihrer Beauftragten … sowie von Vertretern der Leitungen von Betrieben, Genossenschaften oder Organisationen oder von anderen Bürgern veranlassen“. Außerdem konnte es die Verhandlung „im Betrieb, am Ort der Entstehung des Konflikts oder einem anderen geeigneten Ort außerhalb des Gerichtsgebäudes durchführen“. Der konkrete Fall wurde also nur partiell aus seinem Umfeld herausgelöst. Das Ausmaß seiner sozialen Abstraktion wurde in gewissem Umfang in die Hand des Richters gelegt. Dieser konnte nicht nur, sondern mußte zum Teil bei Bedarf den gesellschaftlichen Bezug auch im Verfahren herstellen. Kam es dazu, so wurden ausgewählte Dritte angehört, dies aber nicht aus eigenem Recht, sondern im Interesse der sozialistischen Gesellschaft, als deren

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E. Der Rechtsfall und sein Umfeld

Sachwalter der Richter angesehen wurde. Die Beteiligung von Arbeitskollektiven, Hausgemeinschaften, anderen Bürgern usw. machte den privaten Rechtsstreit zugleich zu einer „gesellschaftlichen“ Angelegenheit und setzte die Parteien unter Druck, bei ihrem Prozeßverhalten auch den Erwartungen der nur mittelbar Betroffenen sowie sonst Interessierten Rechnung zu tragen. c) Eine weitergehende Abstraktion bedeutet es, wenn der Streitfall (wie nach der ZPO der BRD) von seinem gesellschaftlichen Umfeld möglichst vollständig isoliert wird. Der Streit zwischen den unmittelbar beteiligten Parteien vor einem neutralen Richter wird dann zu einem geschlossenen System ausgestaltet, innerhalb dessen von allen „Umweltbeziehungen“ der Beteiligten grundsätzlich abgesehen wird. Bildlich:

P

P1

P

P

Ri

P2

P

P

Der Konflikt, der dem Rechtsstreit zugrunde liegt und in ihm abgearbeitet werden soll, ist hier aus allen mittelbaren Beziehungen zu weiteren Personen herausgelöst und dadurch künstlich vereinfacht worden. Auf diese Weise stellt der forensische Streit eine Welt für sich dar, innerhalb derer von der „Außenwelt“ nur dann Kenntnis genommen wird, wenn es, wie namentlich bei der Beweisaufnahme, unvermeidbar ist. Selbstverständlich verschwinden die Beziehungen der Prozeßparteien zu den vom Rechtsstreit nur mittelbar Betroffenen dadurch nicht aus der Welt. Sie verschwinden nur aus dem Fokus derer, die als Partei oder Richter an dem Verfahren förmlich beteiligt sind. Zwischen diesen verläuft die Kommunikation in der Regel so, als ob es die Welt außerhalb des Verfahrens nicht oder jedenfalls nur insoweit gäbe, wie sie von einem Verfahrensbeteiligten in das Verfahren eingeführt worden ist. Ähnlich wie das Gesetz viele mögliche Argumente ausfiltert und den Streit auf einige wenige „Tatbestandsvoraussetzungen“ reduziert, so blendet das geltende Zivilprozeßrecht die reale Vernetzung eines Rechtskonflikts mit seinem sozialen Umfeld weitgehend aus und formt ihn in einen künstlich vereinfachten und gut überschaubaren „Rechtsfall“ um.

IV. Konditional- und Finalprogramm

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IV. Konditional- und Finalprogramm Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß zwischen diesen beiden Techniken, Komplexität zu reduzieren, ein Zusammenhang besteht. Der begrifflichen Abstraktion im normativen Bereich entspricht die Abstraktion von den realen Zusammenhängen im Rahmen des Prozesses. Moderne, in Tatbestand und Rechtsfolgeanordnung gegliederte Gesetze setzen ein Verfahren voraus, in dem mit relativ geringem Aufwand geklärt werden kann, ob die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen in dem zur Entscheidung anstehenden Fall zu bejahen oder zu verneinen sind. Ein Verfahren, in dem sich alle irgendwie Interessierten um eine für alle akzeptable Schlichtung bemühen, würde diesem Zweck zuwiderlaufen. Ein konditional programmiertes Gesetz verlangt vielmehr nach einem Verfahren, welches die Herausnahme der streitenden Parteien und ihres Konflikts aus dem jeweiligen Umfeld prozessual abbildet und es erlaubt, diesen Konflikt unter Ausklammerung dessen, was zu unabsehbaren Weiterungen führen könnte, einer zügigen Entscheidung zuzuführen. Das wird uns im folgenden Kapitel noch beschäftigen. Hier sei nur ein spezieller Punkt herausgegriffen: nämlich die grundsätzlich retrospektive Ausrichtung gesetzlicher Normen und des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. a) Das in Tatbestand und Rechtsfolgeanordnung gegliederte Gesetz knüpft die Entscheidung grundsätzlich an vorgegebene Ereignisse der Vergangenheit oder ebenso feststehende Umstände der Gegenwart an. Es ist also voraussetzungs-, nicht folgenorientiert, ist Konditional-, nicht Finalprogramm. Das hat einen guten Grund: Zukünftiges läßt sich oft schwer ermitteln. Das gilt sowohl für die Gesetzgebung im Hinblick auf die Auswirkungen eines Gesetzes als auch für die Rechtsanwendung im Hinblick auf die Entscheidungsfolgen. Die möglichen Folgen einer normgebundenen Entscheidung (z. B. einer Abweisung der von dem Müller Arnold gegen seinen Oberlieger erhobenen Klage) sind daher grundsätzlich ungeeignet, als Kriterium für die Anwendbarkeit der betreffenden Norm zu dienen. Auf welches Terrain man sich mit der richterlichen Prognose realer Entwicklungen begibt, zeigt in aller Drastik ein Urteil des Berliner Kammergerichts aus dem Jahr 1934, das im Raritätenkabinett richterlicher Fehlentscheidungen einen Ehrenplatz verdient: Das Kammergericht hatte die von einem Schadensersatzkläger für die Zeit vom 1. 3. 1933 bis zum voraussichtlichen Beginn seines Ruhestandes am 1. 11. 1970 beantragte Rente wegen der vermeintlich zu erwartenden günstigen wirtschaftlichen Entwicklung mit folgender Begründung auf den 31. 3. 1943 beschränkt, die avisierte Bezugszeit also um etwa 27 ½ Jahre gekürzt: „… die Wirtschaftslage werde sich dauernd bessern und in etwa 6 bis 8 Jahren derartig sein, daß auch Unfallverletzte wie der Kläger Beschäftigung auf verschiedenen Gebieten, z. B. als Wächter, Pförtner, Fahrstuhlführer und dergleichen finden würden. Die jetzige Regierung habe sich die Besserung der Wirtschaftslage zur Aufgabe gestellt und tatkräftig in Angriff genommen. Große Erfolge seien erzielt. Die deutsche Wirtschaft habe auf allen Gebieten einen wesentlichen Aufschwung genommen, die Arbeitslosenziffer habe sich stark vermindert. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit würde in

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E. Der Rechtsfall und sein Umfeld

wenigen Jahren das erwartete Ergebnis haben, und ein anhaltender Aufschwung der deutschen Wirtschaft würde beginnen, ‚die auch dem Kläger trotz seiner fast völlig verkrüppelten linken Hand Arbeitsmöglichkeit mit einem seinem Einkommen zur Zeit des Unfalls entsprechenden Verdienst geben‘ werde.“ (Zitiert nach RGZ 145, 196 [197].) Die Kammerrichter konnten sich offenbar nicht vorstellen, daß ein militärisches Großereignis in Gestalt eines Weltkrieges ihre Prognosen alsbald durchkreuzen könnte. Aber auch da, wo uns die Zukunft nach unserem Eindruck eher zugänglich ist, erscheint es unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten problematisch, die Anordnung einer Rechtsfolge von deren künftigen Auswirkungen abhängig zu machen. Denn dazu müßte man, je nach Beschaffenheit des Falles, zu ganz unterschiedlichen Mitteln greifen. Um zu verhindern, daß ein Straftäter rückfällig wird, bedürfte es gelegentlich nur einer Ermahnung, in einem anderen Fall einer Freiheitsstrafe, in wieder einem anderen einer Gehaltsaufbesserung und in einem weiteren vielleicht eines Urlaubs auf den Seychellen, je nach Charakter und sozialem Profil des Täters. Wäre dieser der Sohn eines Hochschullehrers, könnte man es vielleicht bei der Ermahnung belassen; wäre er der Sohn notorisch straffälliger Eltern, wäre womöglich nur von einer Freiheitsstrafe eine Abhilfe zu erhoffen. Eine solche Differenzierung widerspräche indessen unseren Rechtsvorstellungen, nach der alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Diesem Prinzip wird man nur dann gerecht, wenn nicht die Voraussetzungen der gesetzlichen Reaktion auf eine Straftat nach den davon zu erwartenden Folgen, sondern umgekehrt die angeordneten Rechtsfolgen nach bereits jetzt feststehenden Tatumständen bestimmt werden. Das wiederum verlangt nach einem Gerichtsverfahren, das jedenfalls im Ausgangspunkt nicht auf Prognosen, sondern auf die Erkenntnis dessen angelegt ist, was tatsächlich bereits der Fall ist oder war. b) Freilich läßt sich auf Prognosen nicht immer verzichten. Das wird gerade am Beispiel der Strafe deutlich, die sich auch nach der angestrebten Besserung des Täters (§ 46 StGB: „Wirkungen … der Strafe auf das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft“) oder der Wirkung auf andere (§ 47 StGB: „Verteidigung der Rechtsordnung“) bemißt. Aber auch sonst gibt es Problemlagen, zu deren Bewältigung auf eine vorausschauende Beurteilung der künftigen Entwicklung nicht ganz verzichtet werden kann, so z. B. bei Maßnahmen, die in das Wirtschaftsgeschehen oder in die Entwicklung der Umwelt eingreifen, bei der Folgenabschätzung gefahrträchtiger Industrieanlagen, beim Eingriff in familienrechtliche Strukturen u. ä. m. In der Sache sind hier Entscheidungen gefragt, bei denen eine Vielzahl von Umständen ohne genaues Programm gegeneinander abgewogen wird. Strikt konditionalprogrammierte Gesetze, bei denen die aktuelle Tatbestandsverwirklichung definitiv über die einschlägige Rechtsfolge befindet, sind dafür weniger geeignet, weil sie dem Rechtsanwender nicht die Flexibilität einräumen, deren es hier bedarf. Allerdings hat der Gesetzgeber längst auf dieses Problem reagiert. Dabei hat er sich einer ähnlichen Methode bedient wie bei der verdeckten Korrektur des über sein Ziel hinausschießenden Gesetzespositivismus. So wie er dort die allzu

V. Prozessuale Bündelung massenhafter Einzelansprüche

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rigide Abstraktion mit Hilfe gesetzlicher Generalklauseln und unbestimmter Wertbegriffe gemildert hat (S. 48), so hat er zur Ermöglichung zukunftsbezogener Entscheidungen zwischen überwiegend voraussetzungsorientierte Normen gelegentlich folgenorientierte Bestimmungen eingemischt. Das ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil durch finalprogrammierte Normen Erwägungen erforderlich werden, die bei der Anwendung konditionalprogrammierter Gesetze ausgeschlossen sind. Bei der Abschätzung künftiger Entwicklungen (z. B. hinsichtlich des „Kindeswohls“ bei der Verteilung der elterlichen Sorge) müssen ungleich mehr Umstände in den Blick genommen werden als bei der Feststellung hier und jetzt gegebener Tatsachen. Das Blickfeld wird daher im Vergleich zum „Normalfall“ merklich erweitert. Der Rechtsanwender gerät dadurch in eine Lage, die der eines Politikers ähnlich ist. Wenn ein Politiker seiner Aufgabe gerecht werden will, muß er auf das Ganze blicken und bestrebt sein, den Weg in eine unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände bestmögliche Zukunft zu bahnen. Um eine Optimierung der zu erwartenden Folgen geht es auch bei der Anwendung gesetzlicher Finalprogramme. Ähnlich wie dem Rechtsanwender im Anwendungsbereich von Generalklauseln Aufgaben zuwachsen, die an die eines Gesetzgebers erinnern, wächst er auch bei der „Anwendung“ folgenorientierter Gesetze in Aufgaben hinein, die an sich nicht Sache eines auf den Wortlaut fixierten Interpreten sind.

V. Prozessuale Bündelung massenhafter Einzelansprüche Die Strukturierung eines Rechtsstreits durch das weitgehende Ausblenden seines persönlichen und sachlichen Umfeldes und seine prinzipielle Reduktion auf die Rechtsbeziehungen von meist zwei Kontrahenten kann da, wo nebeneinander viele Forderungsprätendenten aus gleichen oder ähnlichen Gründen berechtigt sind, zu überraschenden Konsequenzen führen. Zu solchen Konstellationen kommt es namentlich da, wo aufgrund eines Großereignisses oder einer Vielzahl ähnlicher Ereignisse sehr viele geschädigt worden sind. Beispiele: Eisenbahn- und Flugzeugunglücke, epidemische Erkrankungen durch schadstoffhaltige Lebens- oder Arzneimittel, mangelhafte Anlageberatung durch Verteilung unrichtiger Prospekte, massenhafter Eingehungsbetrug durch irreführende Werbung u. ä. m. Ein spek­ takuläres Beispiel war der sogenannte Conterganfall: Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden tausende schwerst mißbildeter Kinder geboren, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft das thalidomidhaltige Beruhigungsmittel Contergan eingenommen hatten. In Fällen dieser Art hat jeder Geschädigte einen eigenen Anspruch. Erhebt jeder in der üblichen Weise Klage, so kommt es nebeneinander zu zahlreichen Einzelverfahren, in denen weitgehend dieselben Fragen (Pflichtverstoß des Beklagten, Kausalität, Verschulden) immer von neuem geprüft werden müssen, weil jedes dieser Verfahren prozessual eine Welt für sich darstellt, in der von den parallelen

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E. Der Rechtsfall und sein Umfeld

Verfahren keine Notiz genommen wird. Daher muß unter anderem derselbe Beweis immer von neuem erhoben werden, was nicht nur einen erheblichen Aufwand an Zeit und Kosten nach sich zieht, sondern auch mit der Möglichkeit verbunden ist, daß der Beweis in den einzelnen Verfahren unterschiedlich ausfällt. So können z. B. in späteren Verfahren weitere Zeugen hinzugekommen oder frühere weggefallen sein, manche erinnern sich auf einmal anders usw. In den USA steht für solche „Massen-Fälle“ eine Sammelklage (class action) zur Verfügung, die es jedem der beteiligten Gläubiger ermöglicht, die Ansprüche aller Geschädigten selbst geltend zu machen. Bei dem sogenannten opt-out-Modell gilt das auch dann, wenn die andern Geschädigten der Klage nicht ausdrücklich zugestimmt und davon vielleicht nicht einmal Kenntnis erlangt haben. Das wäre mit dem in Deutschland hochgehaltenen Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht vereinbar. Die ZPO sah für eine Bündelung solcher Klagen – gleicher Gerichtsstand vo­ rausgesetzt – lange Zeit nur die sogenannte Streitgenossenschaft (§ 59 f. ZPO) vor. Bei dieser handelt es sich um die äußere Zusammenfassung von Klagen verschiedener Parteien, die dabei trotz gemeinsamer Verhandlung nicht zu einer einzigen Klage verschmelzen, sondern rechtlich selbständig bleiben. Dem entspricht es, daß jeder Kläger eine eigene Parteistellung erlangt. Das wiederum hat zur Folge, daß keiner der Streitgenossen in der mündlichen Verhandlung von der Erscheinenspflicht befreit ist. Immerhin bedarf es nur einer einzigen mündlichen Verhandlung für alle zusammen und ebenso für gleichliegende Beweisfragen auch nur einer einzigen Beweisaufnahme. Einen anderen Weg hat die ZPO in neuerer Zeit mit der Schaffung von Musterfeststellungsverfahren eingeschlagen. Bei diesen können Tat- und Rechtsfragen, die in mehreren, unter Umständen sehr vielen Rechtsstreitigkeiten von Bedeutung sind, in einem für mehrere, wenn nicht gar für alle Betroffenen vorweggenommenen Feststellungsprozeß mit bindender Wirkung für spätere Individualprozesse festgestellt werden. Abweichend von sonst geltenden Grundsätzen, kann sich die Feststellungswirkung eines Musterurteils daher auf eine Vielzahl nachgeschalteter Einzelverfahren auswirken, was eine erhebliche Vereinfachung bedeutet. In der Sache ist das Musterverfahren ein Element des kollektiven Rechtsschutzes; die nachgeschalteten Einzelverfahren, in denen es vor allem um die Höhe des im jeweiligen Fall entstandenen Schadens geht, sind dagegen ein Element des herkömmlichen Individualrechtsschutzes. Kollektiv- und Individualverfahren sind hier miteinander verschränkt, um die Reichweite einer für alle einschlägigen Fälle relevanten Feststellung über den Individualprozeß hinaus erstrecken zu können. Die Dringlichkeit eines solchen Verfahrens wird durch die Zahlen belegt: Das Musterfeststellungsverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten wurde anläßlich des Telekom-Prozesses mit mehr als 17.000 Klägern geschaffen. Das Musterfeststellungsverfahren in Verbrauchersachen verdankt seine Entstehung dem sogenannten „Diesel-Skandal“ und hatte zur Folge, daß mehr als 400.000 Ver-

V. Prozessuale Bündelung massenhafter Einzelansprüche

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braucher ihre Ansprüche zu dem gegen die Volkswagen AG angestrengten Muster­ feststellungsverfahren anmeldeten. Das zeigt, daß hier eine Dimension erreicht ist, mit der ursprünglich nicht zu rechnen war. Die Reaktion des deutschen Gesetzgebers bestand darin, den überkommenen Individualprozeß unter Beibehaltung unverzichtbarer Grundsätze gegenüber einem auf die verbindliche Feststellung übergreifender Fragen gerichteten Kollektivprozeß zu öffnen, also eine partielle Zusammenschau bislang getrennt geprüfter Umstände zu ermöglichen. Wenn man will, kann man sagen, daß hier die Abstraktion des Individualprozesses zwar nicht gegenüber dem sonstigen Umfeld, wohl aber gegenüber rechtlichen Parallelstreitigkeiten gelockert wurde. Das Spektrum der Betrachtung und Erörterung wurde partiell erweitert, weil hier nicht die Erweiterung, sondern gerade umgekehrt die Verengung und Isolierung eine rationale Erledigung der anstehenden Probleme zu erschweren drohte. Weiterreichende Möglichkeiten könnte die Umsetzung der EU-Verbraucherrichtlinie vom 25. 11. 2020 bewirken.

F. Entscheidungsfindung durch Verfahrensgestaltung I. Interaktion von Gericht und Parteien Auch in ihrer Gesamtheit reichen die bisher erörterten Strategien nicht aus, um vollständig zu erklären, wie Juristen einen komplexen Rechtsstreit einer Entscheidung zuführen und damit der Form nach beenden. Dafür müssen die Weichen noch auf andere Weise gestellt werden, und zwar durch die Ausgestaltung des Verfahrens, in dem die Entscheidung schrittweise erarbeitet wird. Während die Normen, an denen das außerprozessuale Verhalten gemessen wird, als materielles Recht bezeichnet werden, nennt man die Regeln und Institutionen, die das prozessuale Rechtserkenntnisverfahren steuern, formelles Recht. Man könnte auch sagen, es handle sich um Rechtsfindungsrecht. Aber das empfiehlt sich nicht, weil dieser Begriff auch auf die kollektive Rechtsfindung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens und ebenso auf die juristische Methodenlehre paßt. Daß das materielle Recht und das zu seiner Ermittlung im konkreten Fall bestimmte Prozeßrecht aufeinander abgestimmt sein müssen, versteht sich von selbst und braucht daher nicht ausgeführt zu werden. Im Prinzip geht es in einem rechtlichen Streitverfahren darum, den logischen Syllogismus der Rechtsanwendung auf die Verfahrensebene zu projizieren und in ein reales Handlungsprogramm umzusetzen. Dafür muß zunächst bestimmt werden, wie und in welchem Umfang ein Streit überhaupt vor Gericht gelangt. Sodann muß festgelegt werden, wie das Gericht zu den Fakten kommt, die es seiner Entscheidung zugrunde legt. Durch die Konditionalstruktur der materiellrechtlichen Normen wird der komplexe Lebenssachverhalt bereits auf eine überschaubare Zahl von „Tatbestandsmerkmalen“ reduziert. Soweit es um die Frage geht, ob diese im gegebenen Fall auch verwirklicht sind, können jedoch immer noch mehr Umstände in Betracht kommen als man in angemessener Zeit bewältigen kann. Zugleich mit der Sammlung der entscheidungsrelevanten Fakten muß daher nolens volens eine weitere Selektion stattfinden. Dabei kann die Aufgabe der Faktensammlung wie im Strafprozeß dem Gericht selbst übertragen werden („Untersuchungsgrundsatz“), sie kann aber auch wie im Zivilprozeß den streitenden Parteien überlassen sein („Beibringungs-“ oder „Verhandlungsgrundsatz“). Schließlich gilt es, die Rechtsnormen und Präjudizien zu identifizieren, nach deren Maßgabe der Rechtsstreit entschieden werden soll. Diese Aufgabe ist im modernen Recht grundsätzlich dem Gericht übertragen, das mit eigens für diesen Zweck ausgebildeten Richtern besetzt ist. Es gilt mithin der Grundsatz: iura novit curia (das anwendbare Recht ist dem Gericht von Amts wegen bekannt). Mit gutem Grund hat man dem Gericht jedoch nicht alle gerade genannten Aufgaben übertragen. Mit einer so weitreichenden Kompetenz wäre es vielleicht in

II. Entscheidung eines Dritten oder Einigung

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einem perfekten Beamtenstaat ausgestattet, in dem die Bürokratie grundsätzlich für alles, der Bürger jedoch für nichts zuständig ist. Im Unterschied dazu ist unser Prozeßverfahren als ein Diskurs zwischen den Prozeßparteien und dem Gericht ausgestaltet worden. Die Betroffenen werden aktiv miteinbezogen, sie sind nicht Objekte, sondern Subjekte des Verfahrens, denen je eigene Rollen zugewiesen sind. Das prozessuale Erkenntnisverfahren ist daher ein Handlungssystem, das durch die Interaktionen der Parteien und des Gerichts schrittweise vorangetrieben und dabei einer Entscheidung der Sache nähergebracht wird. In alter Gelehrtensprache: Iudicium est actus trium personarum, actoris, rei, iudicis, in iudicio contendentium.

II. Entscheidung eines Dritten oder Einigung Am ausgeprägtesten ist das im Zivilprozeß der Fall, wo sich die streitenden Parteien in rechtlicher Hinsicht sowohl außerhalb wie auch innerhalb des Verfahrens auf Augenhöhe gegenüberstehen. Im Straf- und im Verwaltungsprozeß läuft manches anders, unter anderem deshalb, weil der öffentlichen Hand als Partei hier Möglichkeiten eingeräumt sind, über die der Bürger nicht verfügt, ferner, weil hier zum Teil Finalprogramme, die sich formalen Entscheidungsmustern widersetzen, auf Verwirklichung drängen, und schließlich, weil die Richter hier nicht über alle Zweifel hinweg unabhängig sind, sondern „im Lager“ einer Partei (des Staates oder einer seiner Organisationen) stehen, von der sie angestellt worden sind sowie bezahlt, beurteilt und befördert werden. a) Im Zivilprozeß, auf den wir uns hier beschränken wollen, weil er die Dialogstruktur des prozessualen Erkenntnisverfahrens am signifikantesten zeigt, geht es darum, einen Rechtsstreit zwischen privaten Parteien nach Maßgabe zivilrechtlicher Normen beizulegen. Das ist etwas völlig anderes als etwa die Anwendung von Strafrecht. Soweit das Zivilrecht (von civis = Bürger) – anders als in seiner sozialistischen „Spielart“ – nicht zu einem Instrument obrigkeitlicher Gesellschaftsgestaltung umgeformt worden ist, zeichnet es sich dadurch aus, daß die Bürger ihre Rechtsbeziehungen im Prinzip selbst gestalten können. Man spricht hier von Privatautonomie, d. h. von „Selbstgesetzgebung“ auf dem Gebiet des Privatrechts. Diese findet ihren Ausdruck darin, daß privatrechtliche Gesetze in der Regel nicht Ge- oder Verbote, sondern bloße Regelungsangebote für die Bürger darstellen. Soweit diese sich einig sind und nicht gegen zwingende Verbote verstoßen, können sie ohne weiteres abweichende Regelungen vereinbaren. In großem Stil geschieht dies im Wege „Allgemeiner Geschäftsbedingungen“. Durch diese werden disponible Gesetze durch ein privates Regime ersetzt, das speziell für den betreffenden Geschäftstyp geschaffen wurde. Nach Möglichkeit wird der Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen dabei seine eigenen Interessen zur Geltung bringen. Solange gewisse Grenzen nicht überschritten werden, kann keine Amtsperson dies hindern, handelt es sich doch um „Privatangelegenheiten“, die nur die unmittelbar Beteiligten selbst etwas angehen.

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F. Entscheidungsfindung durch Verfahrensgestaltung 

Im Zivilrecht hat die Herauslösung rechtlicher Streitigkeiten aus dem sozialen Umfeld daher ihre schärfste Ausprägung erlangt. Seinem Telos nach reduziert das Zivilrecht alle Rechtskonflikte auf Zweipersonenbeziehungen zwischen einem Rechtsprätendenten und einem Kontrahenten, meist in der Form, daß ein Gläubiger von einem Schuldner etwas verlangt, während dieser den gegen ihn geltend gemachten Anspruch bestreitet. Im Rahmen eines Zivilprozesses werden die Hauptbeteiligten durch die Verfahrensgestaltung zusätzlich genötigt, so zu agieren, als gäbe es das gesellschaftliche Umfeld überhaupt nicht. Ebenso wie die Parteien im materiellen Zivilrecht als die Herren ihrer gegenseitigen Beziehungen gedacht werden, werden sie im Zivilprozeß als die Herren des von ihnen betriebenen Verfahrens behandelt. Sie können daher das, was in einem konkreten Fall als Recht gelten soll, gegebenenfalls miteinander „aushandeln“. Aber während das Recht in einer tribalistischen Gesellschaft zu diesem Zweck als gemeinsame Sache aller behandelt wird, wird im Zivilprozeß vom gesellschaftlichen Umfeld abstrahiert und die prozessuale Zweierbeziehung als eine Welt für sich behandelt, innerhalb der die Beteiligten nach den Interessen anderer nicht zu fragen brauchen. b) Die Privatheit des Zivilrechts ist der Grund, warum der Staat – anders als im Strafrecht – hier nicht einschreitet, ja nicht einmal einschreiten darf, wenn der Verdacht aufkommt, daß jemand einen Mitbürger in seinen Rechten verletzt hat. Das Gericht folgt hier vielmehr dem Grundsatz: „Wo kein Kläger, da kein Richter“, wobei mit dem Kläger der private Rechtsprätendent selbst gemeint ist, denn der Staatsanwalt tritt heute nur noch im Strafprozeß als Kläger in Aktion. Ist der Verletzte zunächst untätig geblieben, so kann er dies jederzeit ändern und nachträglich einen Zivilprozeß anstrengen. Auch deshalb besteht für das Gericht kein Grund, von Amts wegen ein Verfahren einzuleiten. Zu einem Zivilprozeß kommt es vielmehr nur dann, wenn einer der unmittelbar Beteiligten gegen den anderen Klage erhebt. Daß private Rechtsverletzungen „klaglos“ hingenommen werden, ist keineswegs eine Ausnahme, sondern – so überraschend dies auch erscheinen mag – geradezu die Regel. Der Aufwand an Zeit und Kosten, den ein Zivilprozeß mit sich bringt, überwiegt in den meisten Konflikten des täglichen Lebens das Interesse an einem Ausgleich der erlittenen Rechtsverletzung bei weitem. Viele wirkliche oder vermeintliche Rechtsverletzungen werden daher aufgrund eines rationalen Desinteresses schlicht „weggesteckt“. Wäre es anders und müßten wegen jeder Petitesse aufwendige Prozesse geführt werden, könnte das Justizwesen leicht die Wahrnehmung anderer Staatsaufgaben beeinträchtigen. Freilich kann ein Rechtsverletzer infolge dieser Klageabstinenz nur minimal verletzter Personen von vornherein einkalkulieren, daß er ungeschoren davon kommt, wenn er es nicht gar zu arg treibt. Im Bereich massenhafter Bagatellschäden sind daher Verfahrensarten geschaffen worden, die den Prozeßaufwand der Betroffenen in Grenzen halten und Gegenstrategien ermöglichen (S. 60). c) Die Klageerhebung vor einem staatlichen Gericht hat auf die Struktur privatrechtlicher Verhältnisse keinen Einfluß. Diese werden dadurch nicht zu solchen

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III. Streitverfahren mit „Ausstiegsoption“

öffentlichrechtlicher Natur, vielmehr bleiben die unmittelbar Betroffenen auch im Prozeß die Herren ihrer privatrechtlichen Beziehungen. So wie sie sich vor Beginn des Prozesses jederzeit einigen konnten, so können sie dies auch noch im Rahmen eines anhängigen Rechtsstreits tun. Der Zivilprozeß hat daher ein doppeltes Ziel: nämlich den Streit der Parteien entweder durch das Urteil des Richters oder aber – wenn sich die Parteien ohne Urteil einig werden – durch einen von ihnen selbst geschlossenen Prozeßvergleich zu beenden. Bildlich: Urteil

Klage

Zivilprozeß Vergleich

Charakteristisch für den Zivilprozeß ist demnach, daß er ein Entscheidungsverfahren mit einem Einigungsverfahren kombiniert. Er läuft auf eine richterliche Entscheidung zu, der die Parteien jedoch jederzeit entkommen können, indem sie sich gütlich einigen.

III. Streitverfahren mit „Ausstiegsoption“ Verweilen wir noch einen Augenblick bei der letzten Skizze. Ähnlich wie man die Subsumtion eines Falles unter eine Norm als Input-output-Vorgang verstehen kann, läßt sich auch das zivilprozessuale Streitverfahren nach diesem Muster begreifen: Führt man Behauptungen und gegebenenfalls Beweise in das Verfahren ein, so kommt, sofern die Parteien sich nicht vergleichen, am Ende ein Urteil heraus. Dabei kann der „Input“ von beiden Parteien geliefert werden: Der Kläger kann ihm günstige Tatsachen behauptungsweise in das Verfahren einführen. Der Beklagte kann diese zugestehen und dadurch einen Beweis entbehrlich machen, er kann sie aber auch bestreiten und damit auf einen Beweis hinwirken, und er kann Einredetatsachen geltend machen, die umgekehrt zu seinen Gunsten sprechen. Da der Zivilprozeß nicht nur mit einem Urteil, sondern auch mit einem Prozeßvergleich enden kann, paßt das Input-output-Modell hier freilich nur mit Einschränkungen. Ein Prozeßvergleich kann auch ganz anders ausfallen, als es nach dem „Input“ zu erwarten war. Er kann z. B. Punkte miteinbeziehen, die gar nicht Streitgegenstand waren. Klagt ein Vermieter auf den Mietzins, so könnte ein Vergleich durchaus dahin lauten, daß der Mieter vorübergehend einen geminderten Mietzins zahlt, während sich der Vermieter zu einigen Reparaturen verpflichtet. Vom Vergleich abgesehen, gibt es im Zivilprozeß für beide Parteien noch andere Möglichkeiten, „vorzeitig auszusteigen“ und dem Gericht die Sache ganz oder teilweise zu entziehen oder aber ihm umgekehrt die Entscheidung ohne Rücksicht auf den bisherigen Sachstand inhaltlich vorzugeben. Wenn der Kläger die Klage

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F. Entscheidungsfindung durch Verfahrensgestaltung 

zurücknimmt oder wenn beide Parteien die „Erledigung“ erklären, kommt es weder zu einem Urteil noch zu einem Vergleich. Der Prozeß endet dann „einfach so“. Gibt der Beklagte ein Anerkenntnis ab oder erklärt der Kläger einen Verzicht, so ergeht zwar ein Urteil, aber ohne Sachprüfung, also ohne Rücksicht auf den bisherigen Input, sondern so, wie es dem Anerkenntnis oder dem Verzicht entspricht. Bildlich:

Geständnis Bestreiten Einreden

Urteil

Klage

Rücknahme Erledigung Anerk. Verzicht

Vergleich

Man kann dieser Skizze entnehmen, daß der Richter zwar zur Entscheidung berufen ist, die Parteien im Zivilprozeß aber dennoch das Heft in der Hand behalten. Durch Klageantrag und klägerisches Behaupten, durch Geständnis, Bestreiten und Einreden bestimmen sie in weitem Umfang den Prozeßstoff. Durch Klagerücknahme, Erledigungserklärung oder Prozeßvergleich können sie dem Gericht die Sache jederzeit wieder entziehen. Schließlich kann jede Partei das Gericht durch ein Anerkenntnis bzw. einen Verzicht dazu zwingen, ohne weitere Prüfung zu ihrem Nachteil zu entscheiden, wenn ihr dies aus bestimmten – namentlich kostenrechtlichen – Gründen vorzugswürdig erscheint. Auch in diesem Fall endet der Prozeß „vorzeitig“, nämlich ohne die in dem Verfahren liegenden Möglichkeiten auszureizen. All das entspricht der Struktur des materiellen Zivilrechts, das in weitem Umfang aus bloßen Regelungsangeboten besteht, von denen die Bürger Gebrauch machen können oder nicht.

IV. Rechtsentscheidung im binären System Da die in einer Rechtsnorm vorgesehene Rechtsfolge eingreift, wenn ein Fall unter die Menge der Falltypen fällt, die vom Tatbestand der Norm umfaßt sind, kommt es für die Entscheidung darauf an, ob das Gericht vom Vorliegen tatsächlicher Umstände ausgehen darf, welche die Tatbestandsvoraussetzungen der einschlägigen Norm erfüllen. In diesem Fall wird es der Klage stattgeben; andernfalls ist sie abzuweisen. Die vom Gericht über den Klageantrag erbetene Entscheidung lautet im Kern also Ja oder Nein, und zwar „Ja“, wenn es ausnahmslos alle Tat­ bestandsvoraussetzungen bejaht, und „Nein“, wenn auch nur eine fehlt. a) Im Strafprozeß (§ 244 Abs. 2 StPO) und im Verwaltungsprozeß (§ 86 Abs. 1 VwGO) verläßt sich das Gericht insoweit nicht auf die Behauptungen und Bewei-

IV. Rechtsentscheidung im binären System

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sangebote der Parteien, sondern erforscht den Sachverhalt von Amts wegen. Dies wäre mit dem Wesen des Zivilprozesses als „formelles Zivilrecht“ schwerlich vereinbar. Hier muß der Kläger aus eigenem Antrieb ihm günstige Tatumstände behaupten, wenn er obsiegen will. Was er nicht behauptet, ist für das Gericht nicht existent. Zur Zeit des rein schriftlichen Prozesses, aus dem sich das heutige Verfahren entwickelt hat, hieß es daher: Quod non est in actis, non est in mundo. Entsprechendes gilt für Umstände, die umgekehrt die Position des Beklagten stützen, wie z. B. Erfüllung, Aufrechnung, Stundung usw., nur müssen solche „Einredetatsachen“ vom Beklagten behauptet werden. Im Zivilprozeß können jedenfalls nur solche Tatsachen Urteilsgrundlage werden, die zunächst einmal von einer Partei behauptet worden sind. b) Auf die bloße Behauptung einer Partei kann man indessen nicht gut ein Urteil gründen. Schließlich könnte sie falsch sein, und oft genug ist sie dies auch. Für ausnahmslos alle Behauptungen einen Beweis zu verlangen, wäre ebenfalls nicht sinnvoll, weil die Parteien häufig über vieles einer Meinung sind und nur in einigen wenigen Punkten differieren. Zusätzlich zu einer Behauptung kommt es daher darauf an, wie die andere Partei darauf reagiert und welche weiteren Folgen sie damit ausgelöst hat. Gegenüber den Tatsachenbehauptungen ihres Gegners kann sich eine Partei in dreierlei Weise verhalten: sie kann die Behauptung zugestehen, sie kann sie bestreiten und sie kann schweigen. Dadurch schafft sie die Grundlage dafür, daß auf einfache Weise ermittelt werden kann, ob das Gericht die betreffende Behauptung seiner Entscheidung unbewiesen zugrunde legen muß oder ob es eines Beweises bedarf. Im einzelnen: Wenn eine Behauptung vom Gegner zugestanden wird, prüft das Gericht nicht, ob sie wahr ist, sondern legt sie seiner Entscheidung ungeprüft zugrunde (§ 288 ZPO). Wenn also die Parteien übereinstimmend einen Verkehrs­ unfall vortragen und nur darüber streiten, ob eine von ihnen Halter eines der beteiligten Kraftfahrzeuge ist, so wird das Gericht keine Untersuchung darüber anstellen, ob der Unfall tatsächlich stattgefunden hat, sondern insoweit von der Darstellung der Parteien ausgehen. Wenn diese sich insoweit verständigt haben, werden sie wissen, warum. Je nach Lage der Dinge kommt es dann nur noch auf die Frage an, wer Halter des Kraftfahrzeugs ist. Anders verhält es sich, wenn eine Behauptung vom Gegner bestritten wird. In diesem Fall erklärt die eine Partei, daß sie eine Entscheidung auf der Grundlage des von ihr behaupteten Sachverhalts wünscht, während ihr Gegner dem widerspricht. Soweit das Bestreiten reicht, kommt es auf den Beweis der Behauptung an. Gelingt dieser, muß das Gericht von der Behauptung ausgehen; mißlingt er, so darf es dies nicht. Was bleibt, ist die Frage, wie sich das Gericht verhalten soll, wenn eine Partei zu dem tatsächlichen Vorbringen ihres Gegners schweigt, wenn sie also, wie Juristen sagen, nicht bestreitet. Es gibt Rechtsordnungen, die das Schweigen dem Bestreiten gleichbehandeln, also auch unbestrittene Behauptungen für beweisbedürftig halten.

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F. Entscheidungsfindung durch Verfahrensgestaltung 

Die deutsche ZPO dagegen behandelt eine unbestrittene Behauptung ebenso wie eine zugestandene (§ 138 Abs. 3 ZPO), fingiert also ein Geständnis und verzichtet damit auf einen Beweis. Dafür sprechen, wie ich an anderer Stelle (Braun, 2014, 26–28) ausgeführt habe, die besseren Gründe. Vorstehend kommt es indessen allein darauf an, daß im Prozeß verbindlich geklärt wird, ob das Gericht von einer bestimmten Behauptung auszugehen hat oder nicht. Im Ergebnis genügt die Behauptung eines Faktums nur dann, wenn sie tatsächlich oder fiktiv zugestanden ist. Des Beweises bedarf allein eine bestrittene Behauptung. Das Bestreiten hat mithin die Funktion, den Behauptenden zum Beweis zu zwingen. Bildlich:

 In der obersten Querzeile finden sich drei Behauptungen (1, 2 und 3), auf die der Gegner, wie aus der Beschriftung darüber ersichtlich ist, auf unterschiedliche Weise reagiert. Von den Behauptungen 1 und 2 (dunkle Felder) muß das Gericht ohne Beweis ausgehen, weil sie tatsächlich bzw. fiktiv zugestanden wurden. Die Behauptung 3 (helles Feld) ist dagegen beweisbedürftig, weil sie bestritten wurde. Vom Ausgang des Beweisverfahrens hängt ab, ob das Gericht auch diese Behauptung seiner Entscheidung zugrunde legen darf. Ist der Beweis gelungen (zweite Reihe, dunkles Feld mit +), muß es dies tun (dritte Reihe, drittes Feld: „ja“); ist er mißlungen, so darf es dies nicht („nein“). Es kann die Entscheidung dann nur auf nicht bestrittene Umstände stützen, die aber den Parteiantrag in diesem Fall nicht hinreichend rechtfertigen werden, weil man sonst keinen Beweis hätte zu erheben brauchen. c) Aber auch dieses Schema ist noch zu undifferenziert, um im konkreten Fall eine Entscheidung der Tatfrage zu ermöglichen. Um weiterzukommen, muß es mit den Parteirollen des Klägers und des Beklagten kombiniert werden. Wie eine einfache Überlegung zeigt, muß der Kläger nämlich nicht alles, was als Grundlage der von ihm beantragten Entscheidung dient, behaupten und gegebenenfalls beweisen. Würde man ihm die Beweislast im Hinblick auf mögliche Einreden des Beklagten auferlegen, so müßte er z. B. beweisen, daß der auf Zahlung belangte Beklagte bisher noch nicht bezahlt hat, also einen sogenannten Negativbeweis führen. Mit einer solchen probatio diabolica wäre er in der Regel überfordert; denn der Beweis, daß ein Ereignis nicht stattgefunden hat, grenzt im Gegensatz zu einem Positivbeweis nicht selten an Unmöglichkeit. Einredetatsachen – z. B. Erfüllung, Erlaß, Stundung, Verjährung, Aufrechnung –, muß daher der Beklagte in den Pro-

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IV. Rechtsentscheidung im binären System

zeß einführen. Ihnen gegenüber kann sich der Kläger in derselben Weise verhalten wie der Beklagte gegenüber den klägerischen Behauptungen, also zugestehen, bestreiten oder schweigen mit der Folge, daß der Beklagte im Fall des Bestreitens beweispflichtig ist, in den anderen Fällen nicht. Wiederum entsprechendes gilt für etwaige Gegeneinreden (Repliken) des Klägers usw. Das letzte Schema, das auf die Parteistellung noch keine Rücksicht nimmt, muß daher zu einem binären Tableau fortentwickelt werden, das dem Gericht als Fahrplan für seine Entscheidungsfindung dienen kann: Kläger

Beklagter

unstreitig Klagevortrag streitig

bestreiten

unstreitig

bestreiten

Replik

Klageerwiderung

streitig

unstreitig

streitig

bestritten Duplik

Zur Erläuterung: Der unstreitige (d. h. zugestandene oder nicht bestrittene) Tatsachenvortrag darf vom Gericht ohne weiteres, der streitige Vortrag aber nur dann zugrunde gelegt werden, wenn er bewiesen ist. Wenn sich zeigt, daß der vom Kläger gestellte Antrag (z. B. den Beklagten zur Zahlung von 10.000 € zu verurteilen) bereits aufgrund des unstreitigen Tatsachenvortrags des Klägers (linke Spalte, erstes Feld oben) als begründet erscheint, kann der Klage sofort stattgegeben werden. Zeigt sich dagegen, daß der Antrag aufgrund des gesamten (unstreitigen und streitigen) Klagevortrags (linke Spalte, erstes und zweites Feld oben) als unbegründet erscheint, kann die Klage sofort abgewiesen werden. Denn wenn der Kläger nicht

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F. Entscheidungsfindung durch Verfahrensgestaltung 

einmal nach seinem eigenen Vortrag im Recht ist, wenn er also, wie der Fachausdruck lautet, seine Klage nicht einmal schlüssig zu machen vermag, gibt es keinen Grund, in eine Beweisaufnahme einzutreten. Erscheint der Antrag auf der Basis des unstreitigen und des streitigen Vorbringens jedoch als begründet, so kommt es darauf an, ob der bestrittene Teil bewiesen werden kann. Mißlingt der Beweis, so ist die Klage abzuweisen. Gelingt er, so ist ihr stattzugeben – es sei denn, daß der Beklagte mit etwaigen Einreden Erfolg hat. In der obigen Skizze hat der Beklagte einen Teil des klägerischen Vortrags bestritten (rechte Spalte, erstes Feld oben) und außerdem Einreden geltend gemacht (rechte Spalte, zweites und drittes Feld von oben). Im Hinblick auf diese geht es nun spiegelbildlich von vorn los: Zeigt sich, daß bereits der unstreitige Teil des Gegenvorbringens erheblich ist, d. h. ausreicht, um den klägerischen Antrag zu entkräften, so ist die Klage abzuweisen. Ist dagegen das gesamte (unstreitige und streitige) Gegenvorbringen unerheblich, so ist ihr stattzugeben, weil der Beklagte offenbar nichts Beachtliches vorzubringen hat. Ist das unstreitige nur in Verbindung mit dem streitigen Gegenvorbringen erheblich, so kommt es darauf an, ob das streitige Gegenvorbringen bewiesen werden kann usw. Das erscheint auf den ersten Blick kompliziert, ist jedoch nichts anderes als die Grundstruktur eines rationalen zivilprozessualen Diskurses, der darauf angelegt ist, die in der Klage aufgestellte Rechtsbehauptung mit Ja oder Nein zu beantworten.

V. Materiellrechtliche und prozessuale Rationalität a) Die kognitive Struktur des Zivilprozesses könnte den Eindruck erwecken, als sei hier die Entscheidungsfindung durch das Zusammenspiel von formalisierter Rechtsargumentation und formalisierter Sachverhaltsermittlung weitgehend programmiert, so daß für Zweifel wenig Raum bleibe. Dem ist jedoch nicht ganz so. Einmal schon setzt sich der bei der Bildung der praemissa major des juristischen Syllogismus mit viel Aufwand geführte Streit (vgl. Kap. B – D) im Prozeß bis in die Urteilsfällung hinein fort. Hinzukommt, daß sich bei der Beweiswürdigung das menschliche Ermessen schwer ausschalten läßt – jedenfalls nicht im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 286 Abs. 1 ZPO). Ältere Rechte haben zwecks Ausschaltung von Willkür starren Beweisregeln den Vorzug gegeben und den Richter insbesondere an einen Parteieid oder an die übereinstimmende Aussage zweier katalogmäßig „vollwertiger“ Zeugen förmlich gebunden. Um die Wahrheitsfindung nicht an solchen Hürden scheitern zu lassen, hat der moderne Gesetzgeber diese Bindungen beseitigt und durch die freie Beweiswürdigung ersetzt. Die Kehrseite hiervon ist freilich die, daß unterschiedliche Erfahrungen, Vorurteile und andere subjektive Umstände, denen ein Richter nicht weniger unterliegt als andere Menschen, auf die Entscheidung Einfluß erlangen können. Während der förmliche Beweis des älteren Prozesses die Subjektivität des Richters tendenziell ausschaltete, ist die mit der freien Beweiswürdigung angestrebte „reine Wahrheit“ ohne einen subjektiven Einschlag nicht zu haben.

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V. Materiellrechtliche und prozessuale Rationalität

b) Soweit das Urteil nicht von einem Einzelrichter, sondern mehrheitlich von einem Richterkollegium zu treffen ist, kommt gelegentlich sogar der Zufall ins Spiel, und zwar eben deshalb, weil jeder der beteiligten Richter nach seiner eigenen Überzeugung zu entscheiden hat. Um das zu demonstrieren, wandeln wir einen von Friedrich Stein (Stein, 1900, 16) berichteten Schulfall geringfügig ab: Angenommen, der Kläger verlangt vom Beklagten den Kaufpreis für einen Gebrauchtwagen, den er bereits geliefert hat. Der Beklagte bestreitet, daß es zum Abschluß eines Kaufvertrags gekommen sei. Im übrigen macht er geltend, er habe die verlangte Summe bereits bezahlt, und außerdem sei der Wagen mit erheblichen Mängeln behaftet. Dies wiederum bestreitet der Kläger. Nach der Verhandlung und Beweisaufnahme zieht sich die Kammer ins Beratungszimmer zurück. „Ich weise die Klage ab“, sagt der Vorsitzende. „Ich auch“, erwidert der erste Beisitzer. „Und ich ebenso“, schließt sich der zweite Beisitzer an. „Schön, dann sind wir uns ja einig“, sagt darauf der Vorsitzende. „Aber sprechen wir die Sache genauer durch. Was den ersten Punkt betrifft, so fehlt es bereits am Abschluß eines Kaufvertrages.“ „Doch“, sagen die beiden andern, „ein Kaufvertrag ist geschlossen worden.“ Man stimmt ab. Mit zwei gegen eine Stimme wird beschlossen: ein Kaufvertrag ist zustande gekommen, ein Kaufpreisanspruch also entstanden. Bei der zweiten Frage, ob der Beklagte bereits bezahlt hat, sagt der erste Beisitzer: „Gewiß hat er bezahlt. Deshalb weise ich die Klage ja ab.“ „Nein“, sagen die andern, „die Zahlung ist nach unserem Eindruck nicht bewiesen.“ Mit zwei gegen eine Stimme wird beschlossen: es wurde nicht bezahlt, der Kaufpreisanspruch ist daher nach wie vor offen. Entsprechend geht es bei der dritten Frage zu: Der zweite Beisitzer hält das Auto für mangelhaft, die beiden andern sind entgegengesetzter Meinung. Also lautet das Ergebnis: Mit zwei gegen eine Stimme: der Zahlungsanspruch ist entstanden. Mit zwei gegen eine Stimme: er besteht nach wie vor. Mit zwei gegen eine Stimme: für eine Minderung des Kaufpreises gibt es keinen Grund. Bildlich: R1

R2

R3

Vertragsschluß



+

+

→ ja

Keine Zahlung

+



+

→ ja

Mangelfreiheit

+

+



→ ja

↓ nein

↓ nein

↓ nein

Jeder Richter wollte die Klage abweisen und würde es nach wie vor tun, wenn er allein zu entscheiden hätte. Denn jeder ist der Meinung, daß eine Tatbestandsvoraussetzung fehlt, die für die Stattgabe unerläßlich ist. Aber alle zusammen geben der Klage statt, wofür es ebenfalls einen guten Grund gibt. Sie sind nämlich mehrheit-

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F. Entscheidungsfindung durch Verfahrensgestaltung 

lich der Meinung, daß die betreffenden Tatbestandsmerkmale gegeben sind. Hätte man geschlossen über das Gesamtergebnis abgestimmt, wäre die Klage abgewiesen worden. Stimmt man, wie im obigen Beispiel, nach einzelnen Elementen ab, so muß ihr bei gleicher Überzeugung der beteiligten Richter stattgegeben werden. Wichtig ist daher, wer die Art der Fragen und deren Reihenfolge festlegt. Das ist nach § 194 Abs. 1 GVG der Vorsitzende. Dieser hat daher einen überproportionalen Einfluß auf das Ergebnis. Weiß er dies, so kann er gezielt davon Gebrauch machen und das Urteil in seinem Sinn steuern; weiß er es nicht, so entscheidet der Zufall. Wer dies verstanden hat, sieht ein, daß sich auch im Prozeß nicht alles rationalisieren läßt. Das ist der Grund, weshalb man früher gescherzt hat: Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand! Im Strafprozeß zeigt man weniger Gottvertrauen als im Zivilprozeß; denn hier hat sich seit langem die Auffassung durchgesetzt, „daß mindestens zur Schuldfrage nicht nach Elementen, sondern über das Ergebnis abgestimmt werden müsse, damit nicht eine Entscheidung zustande kommt, die die Mehrheit der Richter gar nicht will“. (Röhl / Röhl, 2008, 279)

G. Wahrheitsbezug rechtlicher Erkenntnis Das Ansehen, welches das juristische Denken genießt, beruht nicht zuletzt darauf, daß kontinentaleuropäische Juristen in der Regel für sich in Anspruch nehmen, wissenschaftlich fundiert zu argumentieren. Das ist nur da möglich, wo man sich um Erkenntnis und damit um Wahrheit bemüht. In einem Rechtsstreit geht es zwar noch um anderes als um Wahrheitsfindung, nämlich um konsensuale Einigung in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht. Die für den richterlichen Subsumtionsschluß benötigten Rechtsnormen sowie die sogenannten „Fallnormen“, die daraus für sachverhaltsnahe Falltypen abgeleitet werden, müssen jedoch gegen Zweifel erhaben sein. Auch wenn die Prozeßparteien sich durch Dispositionsakte unabhängig davon verständigen können, so bilden diese Normen doch Vorgaben, die allen Aktionen im Rahmen eines Rechtsstreits Halt und Richtung verleihen. Als „Schleusen“ zur Fernhaltung unerwünschter Argumente haben sie, wie gezeigt (Kap. A), primär eine negative Funktion. Aber auch diese ist nicht bar jedes Richtigkeitsanspruchs. Denn die Konzentration auf einen kleinen Bestand nicht ausgeschlossener Argumente dient gerade dem Zweck, eine „richtige“ Lösung anstehender Probleme faktisch vorzubereiten. Die Bedeutung gesetzlicher Normen herauszuarbeiten, gehört daher zu den zentralen Aufgaben sowohl der Rechtswissenschaft wie auch der Rechtsprechung. Davon hängt ab, was von dem normativ eingehegten Diskurs qualitativ zu erwarten ist. Bei der Ermittlung des maßgeblichen Gesetzesinhalts geht es zweifellos um Erkenntnis. Allerdings wird deren Wahrheitsbezug nicht allgemein anerkannt. Und wenn, dann meist im Sinne konsensualer Wahrheit, die sich danach bemißt, ob unter optimalen Bedingungen alle Beurteiler übereinstimmen. Das ist jedoch im vorstehenden Zusammenhang kein hinreichendes Kriterium. Die Zustimmung anderer ist zwar ein Prüfstein, um die Validität einer These auf einfache Weise zu testen. Wer ausschließen will, daß ein kollektiver Irrtum als Wahrheit firmiert, muß jedoch darauf bestehen, daß es einen Gegenstand gibt, dem die Erkenntnis zu entsprechen hat, ganz gleich, was die Mehrheit darüber denkt. Was aber, so ist daher zu fragen, ist das Referenzobjekt einer normativen rechtlichen Erkenntnis? Was verleiht ihr die Dignität, auf die sie Anspruch erhebt?

I. Das Gesetz als solches Eine unreflektierte Antwort hierauf könnte lauten: Das Objekt der auf Rechtsnormerkenntnis angelegten Wissenschaft ist das Gesetz, ergänzt durch die Präjudizien, denen es seine konkrete Gestalt verdankt. Das Gesetz steht schwarz auf weiß

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G. Wahrheitsbezug rechtlicher Erkenntnis 

im Gesetzblatt; die dazu ergangenen Präjudizien sind über Fachzeitschriften und Entscheidungssammlungen verstreut, lassen sich mit etwas Mühe aber ebenfalls auffinden. Gemessen daran könnte es scheinen, als müsse man nur lesen können, um den Gegenstand der Rechtserkenntnis zu erfassen. Beim Lesen wird jedoch offenbar, daß das Gesetz häufig „dunkel“ ist, so daß die Kenntnis seines Wortlauts nicht genügt. Bei einer „Schleuse“, die vor allem unerwünschte Argumente ausfiltert (S. 12 f.), ist das absehbar. Gesetze geben danach nur den Rahmen vor, innerhalb dessen eine subsumtionsfähige „Fallnorm“ aufgrund von Erwägungen bestimmt wird, die nicht ohne weiteres „dem Gesetz selbst“ entnommen sind. In den Routinefällen des Alltags wird zwar meist klar sein, was mit den Begriffen und Formulierungen eines Gesetzes gemeint ist. Ohne solche selbstverständlichen Bedeutungszuschreibungen wäre keine Verständigung möglich. Wo sich Schwierigkeiten einstellen, weil die Selbstverständlichkeiten enden, verspricht die juristische Methodenlehre, mit Hilfe der sogenannten ­Canones dennoch ins Ziel zu führen. Diese Canones sind im Grunde nichts anderes als tradierte Auslegungsregeln, die den Blick auf Gesichtspunkte wie Kontinuität, allgemeines Sprachverständnis oder die Intention des Gesetzesverfassers lenken, also auf Umstände, die bedacht zu haben sich häufig in der Tat als hilfreich erweist (S. 28 f.). Juristen erwarten von diesen Canones nicht selten mehr als diese leisten können. Infolgedessen verlagern sie den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit leicht auf die Wissensgebiete, denen diese Auslegungsregeln entstammen, und damit im Grunde auf rechtsfremde Sphären. So war die Rechtsdogmatik im 19. Jahrhundert in hohem Maße von Philologie und Logik bestimmt, im 20. Jahrhundert von Logik und Semantik. Die rechtsdogmatische Forschung bewegte sich daher vielfach auf Bahnen, die zum Recht kaum in Beziehung standen oder für die jedenfalls die rechtliche Richtigkeit einer Auslegungshypothese keine Rolle spielte. Denn was hat – so muß man fragen – das philologisch zutreffende Verständnis eines Rechtsbegriffs mit dem Schrei nach Gerechtigkeit zu tun, auf den alles Recht eine Antwort geben soll? Wenn man das Ergebnis solcher an sich rechtsfremden Überlegungen unreflektiert als Antwort auf eine Rechtsfrage akzeptierte, war dies methodisch ein Fehlgriff, nicht anders als die übertriebene archivalische Quellenforschung der historischen Rechtsschule oder die schematisch zugespitzte „Begriffspyramide“ der sogenannten Begriffsjurisprudenz. Die dadurch bewirkte Hochstilisierung von Randfragen war zwar geeignet, um subalternes Personal von einem allzu freizügigen Umgang mit dem Gesetz abzuhalten. Aber sie war nicht dazu angetan, diese Fragen zum zentralen Gegenstand der Rechtswissenschaft und damit einer rechtswissenschaftlichen Wahrheitssuche zu erheben. Die Frage nach dem richtigen Gesetzesverständnis bedarf daher, wenn der kursorische Blick in das Gesetz und dessen bisherige Handhabung keinen tragfähigen Rechtsgedanken zutage fördert, einer anderen Herangehensweise: Der Rechtsanwender muß fragen, was hinter dem Gesetz steht, was also die gesetzliche Schleuse und deren Bandbreite der Sache nach bestimmt und mit rechtlichem Sinn erfüllt.

II. Das Recht hinter dem Gesetz

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II. Das Recht hinter dem Gesetz Auf die Frage, was rechtlich hinter den Buchstaben des Gesetzes steht, gibt es im Prinzip zwei Antworten, von denen jede das Gesetz mit einer anderen Sphäre verknüpft. Die eine lautet: Das Gesetz ist ein Versuch, die Rechtsidee, also die Gerechtigkeit, zu verwirklichen. Zweifel, die das Gesetz läßt, sind daher letztlich durch einen Rückgriff auf den Fundus rechtlicher Richtwerte zu beheben, denen auch das positive Gesetz selbst seine Rechtsqualität verdankt. Die andere Antwort geht dahin, daß das Gesetz ein bloßes Produkt des realen Gesetzgebers sei, ein Mittel, um diesem vorschwebende politische Ziele zu realisieren. Sein Inhalt ist daher im Zweifel der realen Vorstellungswelt des Gesetzgebers zu entnehmen. Alles in allem wird dem Gesetz daher eine widersprüchliche Beschaffenheit zugeschrieben: einerseits soll es Ausdruck einer Idee sein, die der Wirklichkeit richtungweisend gegenübersteht, andererseits jedoch Ausfluß einer realen Macht und damit ein Teil der Wirklichkeit selbst. Bildlich:

I

R

Als Ausfluß der Rechtsidee ist das Gesetz offen für Überlegungen, die an der Vorstellung richtigen Rechts orientiert sind. Als Teil der Wirklichkeit eignet es sich als Instrument zur Umsetzung realer Interessen und Intentionen. a) Die geläufigste Vorstellung ist wahrscheinlich die, daß Gesetze Anordnungen eines mit entsprechender Autorität ausgestatteten Gesetzgebers seien, der sich der Rechtsform als eines politischen Gestaltungsmittels bedient. Dafür spricht, daß rechtsgestaltende Gesetze unentbehrlich sind, weil man in einer sich rasch entwickelnden Welt häufig nicht warten kann, bis sich die benötigten Rechtsnormen aufgrund allgemeiner Einsicht habituell herauskristallisieren. Wenn ein rechtsgestaltendes Gesetz „dunkel“ erscheint, liegt scheinbar nichts näher, als nach den Intentionen des Gesetzgebers zu fragen, der meist am besten weiß, was er damit erreichen wollte. Der Wille des Gesetzgebers wird dabei zum Kern des Rechts erklärt – und zwar, wohl gemerkt, unabhängig davon, worauf genau er gerichtet ist. Ein Rechtswissenschaftler, der die Erkenntnis des realen gesetzgeberischen Willens zum eigentlichen Ziel seines Bemühens setzt, verschreibt sich daher unter dem Prätext rechtlicher Wahrheitssuche einer Art Gehorsamskunst. Die Wahrheit, die er sucht, ist der unverfälschte Wille der von ihm akzeptierten politischen Autorität. Diese wiederum revanchiert sich dafür mit der Einrichtung von Lehrstühlen und auf andere Weise.

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G. Wahrheitsbezug rechtlicher Erkenntnis 

Die meisten Juristen verfolgen mit der Ausrichtung am Willen des Gesetzgebers freilich eine respektable Absicht. Sie tun dies nämlich im Vertrauen darauf, daß der Gesetzgeber ebenso nach Gerechtigkeit strebt wie sie selbst, dabei jedoch über ungleich bessere Erkenntnismittel verfügt, weshalb das Gesetz eine Art ratio scripta sei. Diese Einstellung hat Bernhard Windscheid in die ehemals geflügelten Worte gefaßt: „Die Gesetzgebung steht auf hoher Warte; sie beruht in zahlreichen Fällen auf ethischen, politischen, volkswirtschaftlichen Erwägungen oder auf einer Kombination dieser Erwägungen, welche nicht Sache des Juristen als solchen sind.“ (Windscheid, 1904, 112) Das läßt sich gewiß hören. Dennoch hinterläßt das unbegrenzte Vertrauen auf den Gerechtigkeitswillen des Gesetzgebers und der daran geknüpfte Verzicht auf eine eigenständige Rechtserkenntnis ein Unbehagen. Da die Intentionen von Politikern auch auf andere, rein politische Ziele gerichtet sein können, läuft ein solcher Verzicht auf eine partielle Unterwerfung des Rechts unter die Politik hinaus – ganz im Gegensatz zu der Forderung Kants, daß „das Recht … nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden“ müsse. (Kant, AA VIII, 429) Wohin eine bedingungslose Unterwerfung des Rechts unter die Politik führen kann, läßt sich am besten anhand einiger Extrembeispiele aus dem Gruselkabinett des 1000jährigen Reiches dartun: Im Jahr 1936 legte der ehemalige Reichsrechtführer Hans Frank den deutschen Juristen folgendes ans Herz: „Sagt euch bei jeder Entscheidung, die ihr trefft: Wie würde der Führer an meiner Stelle entscheiden.“ (Frank, 1936, 511) Dieselbe Haltung kommt in den Worten zum Ausdruck, die Roland Freisler nach seiner Ernennung zum Präsidenten des Volksgerichtshofs an Adolf Hitler schrieb: „Der Volksgerichtshof wird sich stets bemühen, so zu urteilen, wie er glaubt, daß Sie, mein Führer, den Fall selbst beurteilen würden.“ (Ostendorf, 1994, 169) Man sollte solche Beispiele nicht mit der Bemerkung abtun, daß die Zeiten sich geändert hätten. Denn es geht hier nicht um vorübergehende Auswüchse, sondern um eine Konstante menschlichen Verhaltens, mit der zu allen Zeiten zu rechnen ist. Nicht ohne Grund heißt es daher bei Josef Esser in schonungsloser Diktion: „Es gibt nach wie vor einen juristischen Totalitarismus des Staatsgedankens, der die Weisheit des Gesetzgebers vergöttlicht und die Jurisprudenz zum Diener der politischen Überzeugung macht.“ (Esser, 1990, 294) Der Versuch, den Willen des Gesetzgebers als eigentliches Erkenntnisobjekt der Gesetzesauslegung auszugeben, stellt daher die Rechtswissenschaft auf eine anfechtbare Basis. Das gilt aber noch aus einem anderen Grund: In einer Demokratie besteht der Gesetzgeber aus einem vielköpfigen Gremium, dessen Mitglieder kaum je ein und derselben Meinung sind, so daß es, wenn man von der Einigung auf den beschlossenen Gesetzeswortlaut absieht, einen einheitlichen Willen „des“ Gesetzgebers in einer Demokratie kaum gibt. Und selbst wenn: Was könnte es rechtfertigen, den realen Willen anderer Personen, mithin ein factum brutum, zum Gegenstand einer Wissenschaft zu erheben, die der Erkenntnis des Rechts gewidmet sein soll? b) Die zweite der erwähnten Alternativen, nämlich daß der Gesetzgeber ein ihm der Idee nach vorgegebenes Recht in die Form von Gesetzen zu fassen sucht, hat

II. Das Recht hinter dem Gesetz

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ebenfalls eine lange Tradition. Vielen dürfte es nie eingeleuchtet haben, daß die Anordnung eines Machthabers allein deshalb, weil dieser über eine unwiderstehliche Gewalt verfügt, zugleich richtig, also im normativen Sinn Recht sein soll. Nur ein rigoroser Rechtspositivist wie Hans Kelsen war bereit, eine Regelung, welche die „Regierung ermächtigt, Personen unerwünschter Gesinnung, Religion oder Rasse in Konzentrationslager zu sperren und zu beliebigen Arbeiten zu zwingen, ja zu töten“, vorbehaltlos als „Recht“ zu bezeichnen: (Kelsen, 1960, 42). Nachdem der Positivismus seinen Zenit überschritten hat, wird auch an das positive Gesetz die Forderung gestellt, daß es mehr als nur ein Instrument der herrschenden Macht für beliebige Zwecke sei. Das aber ist, wenn man über die Voraussetzungen dieses Denkens reflektiert, nur dann möglich, wenn man zwei Arten von Recht unterscheidet: ein positivautoritatives, das sich nach positivistischem Verständnis auf überlegene Zwangsgewalt gründet, und ein diesem gedanklich vorausliegendes richtiges Recht, dem das positive möglichst entsprechen sollte. Nur auf dieser Grundlage lassen sich Machtspruch und rechtliches Urteil unterscheiden. Wo dagegen ein der Idee nach richtiges Recht geleugnet wird, läßt sich gegen den Anspruch der Macht, beliebige Inhalte als Recht verordnen zu können, kein Argument mehr in Stellung bringen. c)  Die Vorstellung eines vorpositiven Rechts firmierte lange Zeit unter dem Begriff „Naturrecht“. Damit war gemeint, daß ebenso wie die Natur objektiven Gesetzen unterliegt, auch das freie menschliche Verhalten objektiven Gesetzen folgen müsse, die durch die Beschaffenheit der Welt und des menschlichen Wesens vorgegeben seien. Der entscheidende Punkt war dabei nicht so sehr der, daß man Seins- und Sollensgesetze auf der Basis eines werthaltigen Naturbegriffs nicht scharf unterschied (mit dem Wortbestandteil „Natur“ in dem Begriff „Naturrecht“ war nicht die Existenz, sondern die Essenz, nicht das faktische Sein, sondern die „wahre Natur“ einer Person oder Sache gemeint). Entscheidend war vielmehr, daß das positive Recht nicht beliebige Inhalte sollte annehmen dürfen, sondern im Prinzip als inhaltlich determiniert gedacht wurde: Es sollte auf die Verwirklichung des vorpositiv erkennbaren und allein wahren Rechts gerichtet sein. Ähnlich, wie Naturgesetze nach unserer Erfahrung unveränderlich sind, stellte man sich auch das Naturrecht als zeitlos gültig vor, gleichsam als eine gedankliche Blaupause einer für alle Völker und Zeiten gültigen Rechtsordnung, an der jeder Gesetzgeber sollte Maß nehmen müssen, wenn sein Gesetz die Bezeichnung Recht verdienen sollte. Zur Erkenntnis dieses Naturrechts sollte es allein des Lichtes der Vernunft bedürfen, das allen Menschen in gleicher Weise verliehen war. Bloßer Vernunftgebrauch sollte genügen, um auf der Basis einiger weniger Grundannahmen die Struktur einer für alle intelligiblen Wesen zeitlos und überall gültigen Ordnung zu entwerfen. Auf diese Weise war der Gedanke eines allgemein gültigen Naturrechts implizit mit der Gleichheit aller Vernunftwesen verwoben und wurde zu einer der Grundlagen des modernen Staates und seines auf Freiheit und Gleichheit beruhenden Rechts.

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G. Wahrheitsbezug rechtlicher Erkenntnis 

Wie man längst weiß, lag dem Natur- und Vernunftrecht als dem Wahrheitsgaranten jeder Rechtserkenntnis ein Denkfehler zugrunde, der nur deshalb lange Zeit unentdeckt blieb, weil die damalige Erfahrungswelt im Vergleich zur heutigen sehr begrenzt war. Friedrich Carl v. Savigny erblickte den Fehler dieses Denkens zutreffend in der „Überzeugung, daß es … eine ideale Gesetzgebung für alle Zeiten und alle Fälle [gebe], die wir nur zu entdecken brauchten, um das positive Recht für immer zu vollenden“. (Savigny, 1814, 7) Damit richtete er sich gegen den geringen Wirklichkeitsbezug des aufgeklärten Vernunftrechts, der angesichts einer veränderten Welt nicht mehr akzeptabel erschien. Mit der Entdeckung und Erforschung neuer Erdteile und der allmählichen Herausbildung eines „geschichtlichen Sinnes“, der zunehmend alle Erkenntnisse in einen historischen Kontext stellte, hatte eine neue Epoche begonnen. Montesquieu war einer der ersten, die erkannten, daß fast alles auch anders sein konnte und daß sich mit der Änderung der realen Welt auch das für sie bestimmte Recht ändern mußte. Denn was wäre einleuchtender, als daß eine Handels- und Industriegesellschaft anderer Rechtsinstitute bedarf als eine Gesellschaft von Ackerbauern oder gar eine Gesellschaft von nomadisierenden Jägern und Sammlern? Die letztere benötigt so etwas wie Grundeigentum überhaupt nicht, eine Agrargesellschaft wäre ohne dies schwer denkbar, eine Industriegesellschaft stellt geistiges Eigentum über alles. Das Recht kann insoweit aus Gründen der Sachgerechtigkeit überhaupt nicht gleich sein! Die Erkenntnis der unvermeidlichen Kontingenz allen Rechts leitete eine Distanzierung von dem Gedanken eines unveränderlichen Natur- und Vernunftrechts ein. Der methodische Einwand, den Kant nachlieferte – „naturalistischer“ Fehlschluß vom Sein auf das Sollen – war nur ein zusätzliches Moment, das zu dem Niedergang beitrug. Die naturrechtliche Vorstellung eines unverbrüchlichen vorpositiven Rechts konnte sich allein in Gestalt der in der französischen Revolution zur Geltung gekommenen Menschen- und Bürgerrechte behaupten, die aber in der Rechtswissenschaft erst sehr viel später eine „naturrechtsähnliche“ Bedeutung erlangten. Über das systematische Natur- und Vernunftrecht jedoch, das von der Mitte des 18. Jahrhunderts an die Grundlage für mehrere gewichtige Kodifikationen abgegeben hatte, und ebenso über die ganze Epoche der Spätaufklärung, deren Produkt es war, fällte Savigny das vernichtende Urteil, damals hätte „sich durch ganz Europa ein völlig unerleuchteter Bildungstrieb geregt. Sinn und Gefühl für die Größe und Eigentümlichkeit anderer Zeiten, so wie für die naturgemäße Entwicklung der Völker und Verfassungen, … war verloren: an die Stelle getreten war eine grenzenlose Erwartung von der gegenwärtigen Zeit, die man keineswegs zu etwas geringerem berufen glaubte, als zur wirklichen Darstellung einer absoluten Vollkommenheit.“ (Savigny, 1814, 4 f.) Über die legislatorischen Konsequenzen dieses Verdikts mußte sich Savigny nicht näher auslassen. Da er sich selbst prinzipiell gegen staatliche Gesetzgebung aussprach und stattdessen auf die „stillwirkenden Kräfte“ des „Volksgeistes“ vertraute, konnte er sich in dieser Hinsicht mit eigenen Vorschlägen zurückhalten. Montesquieu erwies sich insoweit als der überlegene Denker; denn er erkannte, daß zwar die Vorstellung eines raum- und zeitlos gültigen Naturrechts überholt

II. Das Recht hinter dem Gesetz

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war, nicht jedoch der Gedanke der Rechtsrichtigkeit überhaupt. Dieser stand nach wie vor im Raum, auch wenn er fortan mit einer veränderten Aufgabe konfrontiert war, nämlich nicht Maßstäbe für alle Völker und Zeiten zu postulieren, sondern herauszuarbeiten, welches Recht den jeweils gegebenen Verhältnissen allein angemessen ist. Später prägte man dafür den Begriff „relatives Naturrecht“ oder auch „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“. (Stammler, 1924, 174) Damit war gemeint, daß die Richtigkeit des Rechts nicht als Übereinstimmung mit einer statischen Seinsnatur oder Rechtsidee verstanden werden darf, sondern den Bezug auf eine kontingente Realität mitaufnehmen muß, also im Blick auf die veränderliche Wirklichkeit ihrerseits veränderlich sein muß. Nach einer detaillierten Ausführung dieses Konzepts einer „sich wandelnden Rechtswahrheit“, der man sich immer von neuem vergewissern muß, sucht man freilich vergebens. Der Positivismus brachte dafür kein Verständnis auf. Allenfalls die universalgeschichtliche Rechtsbetrachtung, wie sie durch Hegel und einige Juristen aus seiner Schule (Eduard Gans, Josef Unger, Josef Kohler) praktiziert wurde, kann als Ansatz in dieser Richtung verstanden werden, ebenso auch die diversen Versuche, die schillernde Rechtsfigur der „Natur der Sache“ für die Beurteilung des Gesetzes fruchtbar zu machen. Wirklich zur Reife gediehen ist all dies nicht. d)  Die Perversion des realen Rechts zur Zeit des Nationalsozialismus führte stattdessen zu einer anders gearteten Rückbesinnung auf die Idee des Rechts. Nach 1945 war der Begriff des Naturrechts fast schlagartig wieder in aller Munde. Allerdings dachte man jetzt nicht mehr an umfassende Systementwürfe, die dem Gesetzgeber zum Vorbild dienen sollten, sondern beschränkte sich auf die Beschwörung abendländischer „Werte“, namentlich solcher aus dem Bereich des Privat- und Strafrechts, die abstrakt genug waren, um weithin Geltung beanspruchen zu können, zugleich aber auch konkret genug, um die traditionelle Privatrechtsgesellschaft gegen staatliche Eingriffe, wie man sie in den zurückliegenden Jahren erlebt hatte, zu schützen. In der Sache war dieses „Nachkriegsnaturrecht“ ein Ableger der von Nikolai Hartmann und Max Scheler vertretenen Wertphilosophie, die sich in beeindruckender Weise dafür stark gemacht hatte, daß es neben der realen Welt der Fakten noch eine ideale Welt der Werte gibt, die einer eigenen Logik unterliegen. Soweit die Rechtswissenschaft dieser Richtung folgte, knüpfte man vor allem an den traditionellen Wertekanon an, der sich in der europäischen Geistesgeschichte herauskristallisiert hatte. Das war weitgehend gleichbedeutend mit einer Orientierung an der Lebenswelt des homo privatus, die der Nationalsozialismus zerschlagen hatte, und insofern restaurativ. Die weitere Entwicklung wurde dadurch bestimmt, daß diese Werte – nebst einigen anderen, die auf den homo politicus abzielten – Eingang in den Grundrechtskatalog des Bonner Grundgesetzes fanden. Dieses enthielt daher ehemals naturrechtliche Prinzipien in der Form positiven Rechts. Dem Gedanken des Naturrechts, der in der Vergangenheit oft an der Verwirklichung gescheitert war, wurden bei dieser Gelegenheit gleichsam „Zähne“ eingesetzt: Nach Art. 1

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G. Wahrheitsbezug rechtlicher Erkenntnis 

Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung „als unmittelbar geltendes Recht“. Vorpositive Rechtsprinzipien waren damit zum Maßstab des positiven Gesetzes geworden, und das auch noch in der Weise, daß über ihre Beachtung ein eigenes Verfassungsgericht zu befinden hatte. Die Grundrechte waren zunächst als individuelle Abwehrrechte gegen übergriffiges Staatsverhalten gedacht. Ähnlich wie die einfachen Gesetze dem Rechtsanwender Argumentationsverbote auferlegen, sollten die Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber Gesetzgebungsverbote statuieren. Als Verkörperung grundlegender Werte wurden sie bald aber auch als Leitsterne verstanden, an denen sich der Gesetzgeber auch in anderem Zusammenhang orientieren sollte. In dieser Funktion ließen sich aus ihnen zugleich gesetzgeberische Handlungsgebote ableiten. Sie wurden also sowohl zur Quelle von Gesetzgebungsverboten wie auch von Gesetzgebungsgeboten. Das stand zwar im Widerspruch zu ihrer ursprünglichen Bestimmung, war aber doch nicht ohne Sinn, wie man sich durch eine einfache Überlegung klarmachen kann: Wenn der Staat nur gehalten wäre, Verletzungen seiner Bürger zu unterlassen, könnte er Mord und Totschlag, begangen durch Mitbürger, ungeahndet lassen. Der Einzelne wäre dann zwar vor Eingriffen des Staates sicher, davon abgesehen aber schutzlos. Im Hinblick darauf erscheint es nicht unplausibel, aus dem Sinngehalt der einschlägigen Grundrechte die Pflicht zu folgern, den Bürger auch vor Verletzungen durch andere Bürger zu schützen. Eine Konsequenz dieser Erweiterung ist die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, wonach auch das ungeborene Leben zu schützen ist, weshalb die Abtreibung nicht generell freigestellt werden darf (BVerfGE 39, 1; 88, 203). Als Ausfluß unverzichtbarer Grundrechte ist dies, wenn man so will, eine dem Gesetzgeber vorgegebene Rechtswahrheit. Solche Rechtswahrheiten sind auch die anderen den einfachen Gesetzgeber bindenden Grundrechtsbestimmungen, sofern man sie nicht auf positive Setzungen zurückführt. In der doppelten Funktion als Gesetzgebungsver- wie auch als Gesetzgebungsgebote verlieren die Grundrechte die Kontur, die ihnen ursprünglich zugedacht war, und öffnen den rechtlichen Diskurs für einen Abgleich von Argumenten und Gegenargumenten. Dies allerdings mit zwei Besonderheiten: Einmal hat das Ergebnis dieses sich ständig erweiternden Diskurses Verfassungsrang und geht daher einfachen Gesetzen vor. Sodann aber kann sich an diesem sich öffnenden Diskurs nicht jedermann, sondern nur der beteiligen, der es gelernt hat, vorpositive Sachargumente in ein grundrechtliches Gewand zu kleiden. Aber dies ist kein unüberwindliches Hindernis.

III. Rechtsfindung durch Gesetzesanwendung Das Thema „Rechtserkenntnis und Wahrheit“ berührt nicht nur die Rechtserkenntnis im Großen, das heißt im Wege der Gesetzgebung (dazu unten Kap. J), sondern auch die Rechtsanwendung im Einzelfall, bei der es darum geht, die in ei-

III. Rechtsfindung durch Gesetzesanwendung 

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nem konkreten Fall zutreffende und insofern wahre Entscheidung zu finden. Damit befaßt sich speziell die juristische Methodenlehre, die zwei Teilbereiche aufweist: die Rechtsquellenlehre und die Auslegungslehre. Vereinfacht kann man sagen, daß es in der Rechtsquellenlehre darum geht, wo man nachzusehen hat, wenn die Lösung eines rechtlichen Problems zweifelhaft ist, während sich die Auslegungslehre damit befaßt, wie man mit diesen Quellen richtigerweise umzugehen hat. Im Gefolge des Rechtspositivismus wird die Rechtsquellenlehre meist stiefmütterlich behandelt, obgleich sie von grundlegender Bedeutung ist, weil hier die Weichen für einen möglichen Wahrheitsbezug der Rechtsanwendung gestellt werden. Von Interesse sind nach heute gängiger Auffassung im Grunde nur zwei Rechtsquellen: das staatliche Gesetz (das in diesem Zusammenhang Rechtsverordnungen und Satzungen miteinschließt) und die Judikatur der Gerichte. Das vorpositive Naturund Vernunftrecht hat mit dem Siegeszug des Rechtspositivismus seinen Rang als „Rechtsquelle“ offiziell eingebüßt, auch wenn es in Form von Werten, allgemeinen Prinzipien sowie von Grund- und Menschenrechten nach wie vor von Einfluß ist. a)  Der Blick des Rechtsanwenders richtet sich daher primär auf das Gesetz, worunter gewöhnlich, wie erwähnt, die selbstherrliche Anordnung eines mit entsprechender Autorität ausgestatteten Gesetzgebers verstanden wird. Das Gesetz stellt danach eine Rechtsentstehungsquelle dar. Es ist kein bloßes Hilfsmittel zur Erkenntnis des Rechts, sondern gilt unmittelbar selbst als Recht und als vom Gesetzgeber gleichsam ex nihilo geschaffen. An sich müßte seine Auslegung daher auf die Ermittlung des tatsächlichen oder vermutlichen Willens des realen – sei es historischen oder aktuellen – Gesetzgebers gerichtet sein. Das eigentliche Objekt der rechtlichen Wahrheitssuche wäre demnach von historischer oder psychologischer Beschaffenheit. Mit einer dem Recht als solchem verpflichteten Methodenlehre verträgt sich dies schwer. Für die Rechtswissenschaft kann eine autoritative Anordnung nur insoweit Erkenntnisziel sein, als sie auf einen der gesetzgeberischen Entscheidung vorausliegenden Gegenstand bezogen ist und eine „Brücke“ zu einem Rechtsgedanken schlägt, der sich auch unabhängig von dieser Anordnung als richtig darstellt. Nur wenn der Gesetzgeber „im Großen“, nämlich auf der Ebene allgemeiner Regeln nach Rechtswahrheit gesucht hat, kann der nach dem Willen des Gesetzgebers forschende Interpret darauf hoffen, daß ihm das Gesetz den Weg zur Erkenntnis der Rechtswahrheit „im Kleinen“, nämlich im Hinblick auf einen speziellen Falltyp, weist. Ohne diese Voraussetzung ist er ein Lakai, dem der Wille seines Herrn die oberste Richtschnur bildet. Ein nicht an Gehorsam, sondern an Rechtswahrheit interessierter Rechtsanwender wird das Gesetz daher nicht als Rechtsentstehungs-, sondern als Rechtserkenntnisquelle auffassen. In der Tat läßt sich das Gesetzgebungsverfahren unschwer als ein organisiertes Rechtserkenntnisverfahren begreifen. Allein aus diesem Grund erscheint es gerechtfertigt, daß man bei der Suche nach dem richtigen Recht beim Gesetz ansetzt und sich an dessen Weichenstellungen orientiert. Im Hinblick auf

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G. Wahrheitsbezug rechtlicher Erkenntnis 

den Aufwand, der im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens getrieben wird, um den beteiligten Interessen gerecht zu werden, liegt es nahe, dem Gesetz die Vermutung der Richtigkeit zuzuschreiben. Das heißt zwar nicht, daß die Suche nach dem Recht stets bei dem Gesetz enden müßte, wohl aber, daß sie sinnvollerweise hier zu beginnen hat und daß die Argumentationslast bei dem liegt, der vom Wortlaut des Gesetzes, in dem die gesetzgeberische Rechtserkenntnis Ausdruck gefunden hat, abweichen möchte. Wo das Gesetz schweigt, kann der Rechtsanwender das im Einzelfall richtige Recht naturgemäß nicht dem Gesetz entnehmen. Vielmehr muß er sich hier an dem in jeder Gesellschaft vorhandenen Reservoir vorpositiver Rechtsvorstellungen orientieren, aus dem sich letztlich auch der Gesetzgeber bedient. Ungeachtet des oben (S. 76) zitierten Diktums von Windscheid steht dem nicht entgegen, daß der Rechtsanwender ebenso wie der Rechtswissenschaftler dem Gesetzgeber an Erkenntnismöglichkeiten unterlegen ist. Denn wo das Gesetz schweigt und der Interpret nicht ebenfalls schweigen will – als Richter darf er dies nicht einmal –, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als das Gesetz auf andere Weise zu vervollständigen. b) Wenn das Gesetz, wie wir angenommen haben, eine verlautbarte Rechtserkenntnis darstellt, kann es bei seiner Konkretisierung nicht um die Ermittlung des subjektiven gesetzgeberischen Willens, sondern nur um die Aufdeckung des objektiven, vom Willen des realen Gesetzgebers unabhängigen Gesetzessinns gehen. Dieser erschließt sich nicht immer auf Anhieb, sondern existiert häufig zunächst nur in Form eines Postulats, das seinen genauen Inhalt erst noch erhalten muß. Das kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß verschiedene Interpreten häufig etwas anderes für „objektiv richtig“ halten. Da jede Erkenntnis nur auf dem Weg durch die Subjektivität hindurch eine reale Gestalt erlangen kann, ist sie zwangsläufig subjektiv geprägt. Im vorstehenden Zusammenhang fragt sich daher, was dies für den Wahrheitsanspruch der Rechtserkenntnis bedeutet. Aus dem Umstand, daß verschiedene Rechtsanwender häufig Verschiedenes für Recht halten, wird vielfach geschlossen, daß es ein rechtliches Richtig oder Falsch insoweit nicht gäbe. Stattdessen soll es auf die „Vertretbarkeit“ der vorgeschlagenen Lösung ankommen. Damit ist gemeint, daß diese Lösung jedenfalls plausibel begründet sein muß. Das kann indessen nicht genügen. Denn da häufig unterschiedliche Vorschläge „vertretbar“ begründet werden können, wäre zwischen ihnen kognitiv gesehen keine eindeutige Entscheidung möglich. Die Aufgabe, zwischen mehreren „vertretbaren“ Lösungen zu wählen, fiele letztlich allein dem zur Entscheidung berufenen Richter zu. Wenn ihm die juristische Methodenlehre dabei nicht zu helfen vermag, könnte er im Grunde auch würfeln. Klagestattgabe und Klagabweisung wären unter dieser Voraussetzung wissenschaftlich gleichwertig. Ein Recht, dem die Entscheidung zu entsprechen hat, gäbe es nicht. Für eine Rechtswissenschaft, die sich als praktische versteht, käme dies einer Bankrotterklärung gleich; denn Gerichte entscheiden nolens volens in einem Verfahren, dem ein binäres System zugrunde liegt. Auf eine Rechtsbehauptung kann

III. Rechtsfindung durch Gesetzesanwendung 

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hier nicht mit „vertretbar“, sondern nur mit Ja oder Nein geantwortet werden, worauf hin eine Klagestattgabe oder eine Klageabweisung erfolgt. Für dieses Ja oder Nein darf die unterlegene Partei eine stichhaltige Begründung erwarten. Mit der Erklärung, daß es vertretbar war, sie ins Unrecht zu setzen, auch wenn es ebenso vertretbar gewesen wäre, ihr recht zu geben, müßte sie sich veralbert vorkommen. Denn sie will nicht wissen, ob es für einen externen Beobachter „vertretbar“ war, ihr unrecht zu geben, sondern warum „ihr“ Gericht diese Auffassung vertreten hat. Eine solche Begründung kann nur durch den Nachweis geliefert werden, daß und warum das Gericht die getroffene Entscheidung für vorzugswürdiger als alle sonstigen und das heißt eben: für allein richtig gehalten hat. An dieser Stelle kommt unweigerlich die Wahrheitsfrage ins Spiel. Der Gedanke der „one right answer“ ist nichts anderes als die Form, in der sie sich bei der Rechtsanwendung in „nachmetaphysischer“ Zeit geltend macht. Der Rechtsanwender befindet sich nach all dem in einer schwierigen Situation. Einerseits weiß er, daß verschiedene Beurteiler zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können und diese Differenz faktisch kaum auszuräumen ist. Auf der anderen Seite ist er gehalten, so lange um die richtige Rechtserkenntnis zu ringen, bis er überzeugt ist, sie gefunden zu haben. Ihm ist also eine Aufgabe übertragen, die mit menschlichen Kräften kaum zu bewältigen ist. Ronald Dworkin hat den Richter daher mit einem „juristischen Herkules“ verglichen, der übermenschlicher Fähigkeiten bedarf. (Dworkin, 1997, 238 ff.) Letztlich verhält es sich mit der Frage nach rechtlicher Wahrheit daher so, wie es sich mit der Wahrheitsfrage auch sonst verhält: Der Wahrheitsanspruch verlangt, in Beziehung auf die Erkenntnis dem Allwissenden gleich zu sein; angesichts der conditio humana jedoch ist die Wahrheit ein Ideal, dessen man sich allenfalls subjektiv, aber nie objektiv versichern kann.

H. Das Kaleidoskop der Gerechtigkeit Das Postulat einer richtigen und insofern „wahren“ Beantwortung einer Rechtsfrage, von dem jedenfalls ein Richter nie abrücken darf, hängt zusammen mit einem weiteren Arcanum: dem der Gerechtigkeit. Diese ist – wenn das Oxymoron gestattet ist – die „hochabstrakte Vergegenständlichung“ dessen, worauf alle Rechtserkenntnis letztlich abzielt, also gewissermaßen das ideale Ziel, auf das die Bemühungen aller Rechtsuchenden gerichtet sind. Jeder Jurist weiß, daß durch einen direkten Rekurs auf die Gerechtigkeit alle Schleusen geöffnet werden können, die durch Gesetz und Verfahren errichtet wurden, und geht dieser Gefahr aus dem Weg. Eine gewisse Vorstellung von dem, was mit Gerechtigkeit gemeint ist, benötigt indessen auch er, weil Gesetze und Präjudizien nur durch den latenten Bezug darauf überhaupt Rechtsqualität erlangen. Ein Befehl ist nicht schon deshalb Recht, weil der Befehlgeber die Macht hat, ihn durchzusetzen. Was aber läßt sich auf knappem Raum dazu sagen?

I. Gleiches gleich und Ungleiches verhältnismäßig verschieden behandeln Gerechtigkeit ist zunächst ein Wieselwort, also eine Worthülse, in die man vieles hineinstecken kann, um es anschließend wieder herauszuzaubern. Juristischen Laien geht daher nichts leichter über die Lippen als die Forderung nach Gerechtigkeit. Die Feuilletons schwadronieren von sozialer Gerechtigkeit, von Steuergerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit, historischer Gerechtigkeit usw. Wer auch immer ein politisches Anliegen verfolgt, kleidet es in die Form eines Gerechtigkeitspostulats, um ihm Nachdruck zu verleihen. a) Konsens herrscht allein darüber, daß Gerechtigkeit unter anderem auf Gleichbehandlung abzielt. Gleiches gleich und Ungleiches je nach dem Maß seiner Ungleichheit verschieden zu behandeln, erscheint vielen als der unverzichtbare Kern der Gerechtigkeit überhaupt. Man könnte auch sagen, daß ihre Gerechtigkeitsvorstellung normativer Natur sei. Diese „formelle“ Gerechtigkeit weist zwei Seiten auf: Erstens verlangt sie, gleichliegende Sachverhalte nach denselben Maßstäben zu behandeln, und zweitens, verschieden gelagerte Sachverhalte nicht gänzlich, sondern nur verhältnismäßig anders zu behandeln. Der Gedanke der Gleichbehandlung ist also selbst noch in einer gebotenen Andersbehandlung präsent, ja, die Andersbehandlung ist gerade eine Konsequenz daraus. Auch wenn man eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Gerechtigkeit meidet, besteht ein Großteil der rechtswissenschaftlichen Dogmatik darin, den Rechtsstoff (Prinzipien, Gesetze

I. Gleiches gleich und Ungleiches verhältnismäßig verschieden behandeln 

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und Präjudizien) unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung immer von neuem zu durchdenken. b) Was mit rechtlicher Gleichheit gemeint ist, versteht sich indessen nicht von selbst. Man steht daher schnell vor der Frage: Was ist das überhaupt: Gleichheit? Worauf gründet sich etwa die Behauptung, daß Männer und Frauen, Weiße und Farbige, Junge und Alte „gleich“ seien? Im Wortsinn gleich sind Dinge oder Sachverhalte dann, wenn sie in allen Merkmalen übereinstimmen. Eine völlige Merkmalsgleichheit gibt es freilich nur in der Welt der Ideen. Im realen Leben existiert kein Ei, das dem anderen in jeder Hinsicht gleich wäre. Von daher könnte es scheinen, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz in seiner ersten Hälfte leerläuft: Wenn in der realen Welt nichts Gleiches existiert, so muß alles mehr oder weniger unterschiedlich behandelt werden, und zwar gerade wegen des Gleichheitssatzes, der in seinem zweiten Teil gebietet, Unterschiedliches proportional verschieden zu behandeln. Gleichbehandlung liefe dann auf eine angemessene Verschiedenbehandlung hinaus. So liest man etwa bei Leopold Pospišil: „[W]enn man die Kulturen der Welt daraufhin untersucht, so findet man rasch heraus: die Annahme, daß Gleichheit ein universelles Prinzip der Gerechtigkeit sei, ist ein Mythos.“ Gleichheit könne nämlich, so Pospišil, „nur für die Personen [gelten], ‚die aufgrund bestimmter Klassifikationsmerkmale zur gleichen Kategorie gehören‘ … Formelle Gleichheit bedeutet … ‚gleiche Behandlung je nach der durch die einschlägigen Rechtsregeln festgelegten Klassifizierung‘“ (Pospišil, 1982, 298). Was diese Klassifizierung selbst angeht, so zerstört Pospišil ebenfalls alle Illusionen mit der ernüchternden Auskunft, es könne „nicht universell gültig entschieden werden, ob Freiheit, Sklaverei oder Leibeigenschaft der der Gerechtigkeit entsprechende Zustand ist“ (Pospišil, 1982, 327). Das ist nicht weit von dem oben (S. 77) erwähnten Standpunkt Kelsens entfernt, nur daß Kelsen den Begriff der Gerechtigkeit überhaupt streichen wollte. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, stehen zwei Wege zur Verfügung: Einmal kann man vorhandene Verschiedenheiten für unwesentlich erklären und damit die Möglichkeit eröffnen, real Ungleiches in rechtlicher Hinsicht als gleich zu behandeln. Ähnlich, wie man in anderem Zusammenhang verschiedene Exemplare einer Spezies mit demselben Begriff belegt (z. B. „Haus“, „Rose“, „Weihnachtskarpfen“), weil sie in den wesentlichen Merkmalen dieses Begriffs übereinstimmen, kann man auch verschiedene Menschen vor dem Gesetz als „gleich“ ansehen. Man muß nur von Alter, Rasse, Geschlecht, Begabung, Vermögen usw. abstrahieren und sich überhaupt für alle individuellen Unterschiede blind machen. Damit verschafft man dem ersten Teil des Gleichbehandlungsgrundsatzes in einer Welt durchgängiger Verschiedenheiten allererst einen Anwendungsbereich; denn nur dann, wenn man bloß Ähnliches als gleich fingiert, erscheint eine rechtliche Gleichbehandlung als geboten Die andere Möglichkeit besteht darin, reale Unterschiede faktisch aufzuheben, also real Verschiedenes einander anzugleichen, um dann folgerichtig auf Gleich-

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H. Das Kaleidoskop der Gerechtigkeit

behandlung zu bestehen. Allerdings führt dies nicht unmittelbar zum gewünschten Erfolg; denn soweit real Gleiches im Baukasten der Natur nicht vorgesehen ist, kann man es auch nicht künstlich herstellen. Man kann nur vorhandene Ungleichheiten verringern, so daß die Unähnlichkeit kleiner und die Ähnlichkeit größer wird. Den letzten Schritt aber muß auch hier die gedankliche Abstraktion vollziehen, indem die verbliebenen Unterschiede für unwesentlich erklärt werden. Nachdem zunächst auf eine reale Angleichung hingearbeitet worden ist, fällt dieser Schritt aber nun leichter. Streng genommen ergibt sich der Anstoß zu einer solchen Angleichung bereits aus dem ersten Teil des Gleichheitssatzes. Wo nämlich von tatsächlichen Ungleichheiten (Alter, Rasse, Geschlecht usw.) lediglich gedanklich abstrahiert wird, läuft die Gleichbehandlung des faktisch nur teilweise Gleichen auf eine Gleichbehandlung des partiell Ungleichen hinaus, was definitionsgemäß ungerecht ist. Wo alles als gleich gilt, was Menschenantlitz trägt, wird der Zwerg dem Riesen, der Schwache dem Starken, der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber usw. gleichgestellt. Im Hinblick auf die gemeinsamen Merkmale ist dagegen nichts einzuwenden; im Hinblick auf die abweichenden erscheint es als problematisch, denn insoweit läuft alles gleiche Recht auf eine Ungleichbehandlung hinaus. Niemand hat dies klarer zum Ausdruck gebracht als Karl Marx: „Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen … sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z. B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.“ (Marx, 19, 11 [21]) Der erste Teil des Gleichheitssatzes führt daher in seiner praktischen Anwendung häufig nicht zu einer Beseitigung, sondern zu einer rechtlichen Verfestigung vorhandener Unterschiede. Die darin liegende Ungerechtigkeit kann nur dadurch reduziert werden, daß man die faktische Ungleichheit selbst verringert, also ungleiche Objekte oder Sachverhalte einander real angleicht. Das geschieht im Bildungsbereich etwa dadurch, daß man teure Ausbildungs- und Studienplätze über allgemeine Steuern finanziert und den Aspiranten außerdem durch Beihilfen unter die Arme greift. Eine weitere Erscheinungsform dieses Verfahrens ist die gruppenspezifische Absenkung von Anforderungen, bei der eine förmliche Ungleichbehandlung praktiziert wird, um eine Angleichung der Ergebnisse zu erzielen, die bei förmlicher Gleichbehandlung nicht zu erlangen wäre (affirmative action). Das Recht wird hier bewußt ungleich gestaltet, um nicht ungleiche Sachverhalte gleich behandeln zu müssen – ein Widerspruch, dem nicht leicht zu entkommen ist.

II. Archetypen rechtlicher Ordnung

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II. Archetypen rechtlicher Ordnung So wichtig der Gleichheitssatz sein mag, so ist er doch nur ein Aspekt der Gerechtigkeit. Denn er sagt allein, daß Gleiches gleich zu behandeln ist, aber nicht, was im Rechtssinn gleich ist, und noch weniger, ob das, was durch Gleichbehandlung bewirkt wird, auch in der Sache gerecht ist. Nicht weniger bedeutsam als die rechtliche Gleichbehandlung ist die Ausstattung mit Lebensgütern und Lebenschancen. Denn was hilft formelle Gleichheit, wenn es allen gleichermaßen schlecht geht? Einen Beitrag zu einer im vollen Sinn, nämlich formell und materiell gerechten Regelung liefert der Gleichheitssatz nur im Kontext einer Gesellschaftsordnung, die in diesem Vollsinn auf Gerechtigkeit, auf formelle und materielle rechtliche Rationalität angelegt ist. Jeder Gleich- und Ungleichbehandlung, die auf Gerechtigkeit abzielt, ist daher – und sei es auch noch so vage – die Vision einer „gerechten Sozialordnung“ eingeschrieben. Erst dadurch gewinnt das Postulat der Gleichbehandlung einen greifbaren Gehalt. An Visionen gerechter Ordnung herrscht denn auch kein Mangel; jede Epoche bringt neue hervor. Näher besehen lassen sie sich im wesentlichen auf drei Grundmuster zurückführen, die einander teils durchdringen, teils ablösen. (Braun, 2022, 87 ff.) Diese Trias ist aus der Politik, wo sie in Form der sozialistischen, liberalen und konservativen Parteien in Erscheinung tritt, seit langem bekannt. Die Konstanz, mit der sich diese Muster immer von neuem geltend machen, legt die Vermutung nahe, daß es sich um Archetypen des rechtlichen Denkens handelt, die unterschiedliche Aspekte einer als gerecht empfundenen Ordnung zum Ausdruck bringen. So stellt es sich jedenfalls auf der Basis unserer bisherigen Erfahrung dar. a) Die gängigste Vorstellung einer gerechten Ordnung ist danach die einer Gemeinschaft, bei der die Einzelnen integrierende Teile eines größeren Ganzen und erst in zweiter Linie unabhängige Individuen sind. Mit diesem auf Ausgleich bedachten Modell wird man im Rahmen seiner Herkunftsfamilie von jung an vertraut gemacht. In dem Wunsch, daß „alle Menschen Brüder werden“, klingt es häufig ein Leben lang nach und bildet den Grundtenor vieler rechtlichen Überlegungen und Entwürfe. Konflikte, wenn es sie überhaupt gibt, sollen nach dieser Vorstellung möglichst gütlich bereinigt werden; rechtlicher Zwang erscheint als ein Störfall, zu dem es besser nicht kommen sollte. Bildlich:

Im Prinzip ist dies das Leitbild des Sozialismus, der die Lebensform der Familie – mutatis mutandis – auf die Gesellschaft als Ganze überträgt. Der nationale

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H. Das Kaleidoskop der Gerechtigkeit

Sozialismus zielt auf eine Art territorial begrenztes „Volksheim“, während der internationale die Verbrüderung der gesamten Menschheit im Auge hat. Hier wie da geht es darum, dem Egoismus Grenzen zu setzen. In einer sozialistischen Gesellschaft gehört der Einzelne primär nicht sich selbst, sondern dem Kollektiv, dem er scheinbar alles verdankt, was er ist. Dieses tritt ihm daher mit der Erwartung entgegen, daß er ihm – und damit zugleich seinen Mitmenschen – etwas von dem zurückgibt, was er zunächst selbst empfangen hat. Seinen bekanntesten Ausdruck findet dieses Modell in der Ablehnung des Privateigentums. Abgesehen von geringwertigen Dingen, soll alles in Gemein­ eigentum stehen: Produktionsmittel, Grund und Boden, Wohngebäude, Pretiosen. Dementsprechend fungiert der Vertrag nur als Regelungs- und Verteilungsinstrument für unbedeutende Geschäfte; ansonsten läuft die Wirtschaft auf eine planmäßige Verwaltung und Zuweisung im Interesse aller hinaus. Das Recht ist daher überwiegend öffentlich-rechtlicher Natur. Aber weit davon entfernt, die Politik zu verrechtlichen, herrscht vielmehr die Tendenz vor, das Recht zu politisieren. Institute, in denen sich die Einzelnen nach ihren eigenen, von der Gemeinschaft abweichenden Vorstellungen entwickeln könnten, wie Ehe, Familie, Vereine usw., werden in den Dienst öffentlicher Zwecke gestellt und langfristig von Staat oder Gesellschaft absorbiert. An ihre Stelle tritt eine bürokratisch organisierte kommunale „Großfamilie“, in der alle wie selbstverständlich für alle da sind und der Kampf um Vorrang und Vorteil keinen Anlaß findet. b)  Demgegenüber beruht der liberale Archetyp auf der Annahme, daß jeder Einzelne primär seine Eigeninteressen verfolgt und überhaupt eine Welt für sich darstellt. Das Verhältnis von Gemeinwesen und Individuen findet hier seinen Ausdruck in der Forderung, daß Staat und Gesellschaft allein zum Schutz und zur Förderung des Einzelnen da seien. Rechtsverhältnisse zwischen den Bürgern sind daher grundsätzlich nicht mit den Existenzbedingungen des Ganzes abgestimmt, sondern werden durch freie Akte selbstbezogener Individuen begründet. Mit Hilfe von Verträgen wird nahezu alles auf eine kontraktualistische Basis gestellt, angefangen von elementaren Statusbeziehungen über größere Organisationen bis hin zum Staat, dessen Grundlage nach dieser Auffassung ebenfalls nichts anderes ist als ein Staatsvertrag. Auf diese Weise gleicht das Rechtswesen einer aus zahllosen selbständigen Einzelteilen zusammengesetzten Maschine. Bildlich:

Staat

Charakteristisch für das liberalistische Modell ist es, daß das rechtliche Beziehungsgefüge, ausgehend von der freien Person, mit Hilfe der Elemente „Eigentum“ und „Vertrag“ errichtet wird. Das Recht nimmt seinen Ausgang nicht von einer Elite, die sich als berufener Repräsentant des Ganzen und Allgemeinen versteht,

II. Archetypen rechtlicher Ordnung

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sondern von den autonomen Einzelnen. Nicht der Plan dominiert, sondern der Markt und nicht das öffentliche, sondern das Privatrecht. Während der Sozialismus auf eine bürokratische Ordnung abzielt, herrscht hier eine Dynamik, die nur zwei Konstanten kennt: die Achtung vor dem, was einer ist und hat, und das freie Spiel der Kräfte, um alles nach wechselnden Präferenzen neu aufzumischen. Trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen stimmt der liberale Individualismus mit dem Sozialismus in einem Punkt überein: Beide tendieren zur Auflösung der überkommenen Familie, der Sozialismus, weil er den Menschen gänzlich vergesellschaften, der liberale Individualismus, weil er den nach Selbstverwirklichung strebenden Einzelnen von familiären Zwängen befreien will. c) Demgegenüber ist der konservative Archetyp nicht von derselben Prägnanz. Während Sozialismus und Liberalismus auf eine Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse angelegt sind, der erstere mit einem bestimmten, der letztere mit einem offenen Ziel, stellt der Konservativismus einen Gegenpol zu dieser Progressivität dar. Er möchte die Einzelnen weder zu Altruisten machen noch zur Entfaltung ihres Eigeninteresses ermuntern, sondern ist Veränderungsideologien jedweder Couleur abhold und setzt auf die Erhaltung und Entfaltung dessen, was nicht erst zu schaffen, sondern bereits vorhanden ist. Diesem „evolutionären“ Ansatz liegt die Erfahrung zugrunde, daß in allen bekannten Gesellschaften vieles nicht zweckrational geschaffen wurde, sondern „organisch“ gewachsen ist. Wichtige Institute und Regeln sind ohne Plan entstanden und bilden eine Art zweite Natur, die wir mit dem Namen Kultur bezeichnen. Da sich das allmählich Gewachsene leicht zerstören, aber nur schwer ersetzen läßt, ist der angemessene Umgang damit der, es möglichst zu bewahren und nur in systemimmanenten Bahnen weiterzuentwickeln. Nach konservativer Vorstellung entfalten sich die Institutionen einer gerechten Ordnung überwiegend „von selbst“, wenn nur die Bedingungen vorhanden sind, die sie zu ihrer Entwicklung brauchen. Vereinfacht kann man sich das so vorstellen:

Diese Skizze ist freilich unvollständig, weil sie nur den allgemeinen Rahmen und die gesellschaftlichen Subsysteme abbildet, in welche die Einzelnen eingelassen sind. An sich müßten die Einzelpersonen, ähnlich wie in der vorhergehenden Skizze, noch durch direkte Linien miteinander verbunden werden, weil sie hier

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H. Das Kaleidoskop der Gerechtigkeit

vielfach ebenfalls vertraglich miteinander verknüpft sind. Sie sind einerseits Glieder aufeinander abgestimmter sozialer Institutionen und andererseits Ausgangspunkte individualistisch-rationaler Konstruktionen. Was ist hieran gerecht?, mag man fragen. Gerecht ist, daß die Einzelnen über einen sozialen Rückhalt verfügen und gleichwohl ihren Intentionen folgen können, wenn auch in Abstimmung mit der überlieferten Ordnung, deren Erhaltung ihnen anvertraut ist. Während das sozialistische und das liberale Gerechtigkeitsmodell auf die Verwirklichung einer in sich widerspruchsfreien Ordnung angelegt sind – was mit den betreffenden Grundannahmen nicht harmoniert, gerät auf die Streichliste –, weiß sich das konservative Modell mit den Widersprüchen des Lebens zu arrangieren, ja, diese bilden geradezu seine raison d’être: auf der einen Seite das autonome Individuum, auf der anderen die Familie sowie die Ehe als Einheit von Mann und Frau; einerseits der Vertrag, andererseits das autoritäre Gebot in Form des Gesetzes oder des Verwaltungsaktes; hier das Privatrecht als der entfaltete Konsens des rationalen Eigeninteresses, dort das öffentliche Recht als die im Interesse des Ganzen erforderliche Rahmenordnung usw. Diese Gegensätze konstituieren eine Ordnung, in der das Leben nicht nach abstrakten Vorgaben gestaltet wird, sondern sich auf eine seiner eigenen Widersprüchlichkeit und den jeweiligen Gegebenheiten angemessene Weise selbsttätig entfaltet. d) Diese Archetypen gerechter Ordnung bilden Folien, vor deren Hintergrund der Gleichheitssatz allererst eine Gestalt gewinnt und sich mit Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit verbindet. Dabei ist die Rechtswirklichkeit kaum je durch eines dieser Modelle allein geprägt. Vielmehr sind diese fast immer gleichzeitig präsent, wenn auch wie in einem Kaleidoskop einander ablösender Gerechtigkeitsmuster bald dieses, bald jenes dominiert. Das hat einen leicht nachvollziehbaren Grund: Die rigorose Ausrichtung allen Rechts an nur einem dieser Archetypen würde einen bestimmten Aspekt der Gerechtigkeit einseitig zur Geltung bringen, während andere auf der Strecke blieben. Denn wie man sich leicht vergewissern kann, ist der Sozialismus nur auf Kosten des freien Individuums, der Liberalismus nur auf Kosten des Gemeinwesens möglich, der Konservativismus wiederum mündet leicht in die Erstarrung aller Verhältnisse. Ob eine Rechtsordnung im vollen Sinn als gerecht erscheint, hängt daher nicht zuletzt davon ab, ob und wie sich diese Archetypen zu einem auf die historische Situation abgestimmten System in praktischer Konkordanz ergänzen. e) Die Erkenntnis, daß Gerechtigkeit kein statisches, sondern ein veränderliches Prinzip ist, lenkt den Blick noch auf etwas anderes. Gerechtigkeitsüberlegungen zielen meist darauf ab, sich im Hier und Heute optimal einzurichten, und sind daher an den Interessen der jetzt lebenden Menschen orientiert. Selbst bei der sogenannten „Generationengerechtigkeit“ wird überwiegend nur das Verhältnis der unmittelbar aufeinander folgenden Generationen thematisiert. Das ist indessen zu kurz gedacht. Eine Gesellschaft, die nicht alle Überlebensinstinkte verloren hat, hat nicht nur eine Vergangenheit und eine Gegenwart, sondern auch eine Zukunft.

III. Kulturaffines Rechtsdenken

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Ihre Gerechtigkeitsvorstellung muß daher auch daran ausgerichtet sein, daß das Recht eine solche Zukunft befördert oder wenigstens ermöglicht. Das aber heißt, daß das Recht die Weichen auch dafür stellen muß, daß es 1) überhaupt Nachgeborene gibt und daß 2) auch deren Leben nicht verkümmert wird. Die verbreitete Vorstellung von einem „Gesellschaftsvertrag“ bietet dafür keine Lösung, denn mit Ungeborenen kann man keine Verträge schließen. Selbst durch einen fiktiven Vertrag kann man nur die jetzt Lebenden verpflichten, nicht jedoch die Nachgeborenen; zumindest kann man sich dabei in keinem denkbaren Sinn auf deren Zustimmung berufen. Eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die allen Anforderungen entspricht, muß daher zugleich die Umrisse der künftigen Ordnung im voraus imaginieren und in die heutigen Überlegungen miteinbeziehen. Dazu aber müssen die oben skizzierten Archetypen rechtlichen Denkens, die traditionell auf die Gegenwart ausgerichtet sind, um eine Zukunftsperspektive erweitert werden. Dadurch erscheint manches in anderem Licht. Nur zwei Beispiele: Wenn der Verbrauch begrenzter Ressourcen und die damit verbundene Belastung von Erde, Wasser und Luft für die Entwicklung der gegenwärtigen Welt unabdingbar und insofern „gerechtfertigt“ war, so beschert man der Nachwelt damit womöglich Probleme, die nur durch die Inkaufnahme gegenwärtiger Einschränkungen, also durch die Beschneidung aktueller Freiheit lösbar sind. Und wenn die Emanzipation der Frau zu einem wesentlichen Teil darin bestand, daß die Mutterrolle hinter anderen Formen der Selbstverwirklichung zurückgestellt wurde, so war die Folge hiervon die, daß die Überlebensfähigkeit der westlichen Gesellschaft samt ihren Idealen auf längere Sicht fraglich geworden ist. Was sich auf der einen Seite als Geschlechtergerechtigkeit darstellt, könnte sich daher auf der anderen Seite als Unrecht gegenüber künftigen Generationen erweisen. Läßt man den Betrachtungen zur Gerechtigkeit freien Lauf, so führen sie unweigerlich zu einer Relativierung hergebrachter Rechtsvorstellungen, diese mögen so fest geschmiedet sein, wie sie wollen. Das ist der Grund, warum sich Juristen grundsätzlich nur in dem durch das Gesetz eröffneten Rahmen bewegen und diesen nur ungern verlassen, auch wenn sie wissen, daß die von ihnen angestrebte Gerechtigkeit dabei auf die eine oder andere Weise zu kurz kommt.

III. Kulturaffines Rechtsdenken Jenseits der idealen Archetypen des Rechts liegt der reale Grund allen Rechts in dem Bestreben, als Einzelner wie als Gruppe leben und sich optimal entfalten zu können. An sich gehört das Bestreben nach Selbst- und Systemerhalt zur Natur allen Seins. Speziell das menschliche Leben – und nur dieses – entwickelt sich dabei jedoch im Rahmen einer bestimmten Kultur, durch die es in vielfältiger Weise beeinflußt und sublimiert wird. Die Verschränkung von Recht und Kultur drückt allen rechtlichen Erkenntnissen und Bestrebungen einen unverwechselbaren Stempel auf und läßt auch die idealen Gerechtigkeitsvorstellungen nicht unberührt. Diese

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H. Das Kaleidoskop der Gerechtigkeit

nehmen vielmehr in jedweder Kultur ein eigenes Gepräge an. Das erschließt sich freilich nicht in derselben Weise wie die Erkenntnis natürlicher Objekte, sondern hat zusätzliche Voraussetzungen, deren man sich erst einmal bewußt werden muß. a) Naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind objektiv in dem Sinn, daß scheinbar alle Beobachter – gleiche Mentalität und gleiches Wahrnehmungsvermögen vorausgesetzt und Irrtümer ausgeschlossen  – unabhängig von Ort und Zeit auf objektbezogene Fragen übereinstimmende Antworten geben. Was das sinnliche Wahrnehmungsvermögen gewöhnlicher Betrachter übersteigt (z. B. prophetische oder telepathische Fähigkeiten, Hypersensibilität), wird ebenso wie das, was dahinter zurückbleibt (etwa im Falle von Seh- und Hörschwäche), in der Regel nicht in Anschlag gebracht. Bildlich:

P

Normales Wahrnehmungsspektrum

Die durchgezogenen Linien umreißen das normale Wahrnehmungsspektrum. Die gestrichelten Linien deuten an, daß dieses im Einzelfall darüber hinausgehen oder dahinter zurückbleiben kann: Manche nehmen mehr, manche weniger wahr als die meisten. Wenn man sagt, daß „alle“ die Natur in gleicher Weise wahrnehmen, bezieht man sich auf einen „Einheitsmenschen“ mit „normaler“ Intelligenz und einem „normalen“ Sensorium. Wer dem entspricht, nimmt natürliche Objekte in der Tat in derselben Weise wahr und bringt sie auf den denselben Begriff. Diesen interpersonellen Gleichlauf naturwissenschaftlicher Erkenntnis glaubte das Naturrecht der Aufklärung auf rechtliche und moralische Objekte übertragen zu können. b) Kulturgeprägte Objekte zu erkennen heißt indessen, sie aus dem Zusammenhang heraus zu begreifen, dem sie ihre Prägung verdanken. Das ist etwas gänzlich anderes und setzt zusätzlich ein gewisses Maß an Erfahrung und historischem Wissen, mithin einen geistig erweiterten Horizont oder, wie man auch sagen könnte, eine entsprechende Bildung voraus. Wem die Erfahrung im Umgang mit derart beschaffenen Erkenntnisobjekten abgeht, kommt leicht zu abweichenden Ergebnissen, wie sich gerade am Beispiel des Rechts häufig zeigt: Junge und Alte oder Angehörige atavistischer und hoch entwickelter Kulturen verfügen nicht über die gleichen Erfahrungen und deshalb auch nicht über die gleiche Fähigkeit zu Rechtserkenntnissen, und das selbst bei ganz einfachen Fragen. Ähnlich wie unterschiedliche Fähigkeiten der Sinneswahrnehmung zu einem anderen Bild der Natur führen, vermitteln – und zwar ungleich häufiger – andere kulturelle Erfahrungen bei sonst gleicher Wahrnehmung eine andere Vorstellung vom Recht. Zum Teil spricht

III. Kulturaffines Rechtsdenken

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man insoweit auch von gemeinsamen „Lebensformen“. (Aarnio / Alexy / Peczenik, 1983, S. 80 ff.) Aber das wäre im vorstehenden Zusammenhang zu unspezifisch. Bildlich kann man sich die Sache jedoch so vorstellen:

3 1 2

A

P

B 5 4

6

C

Zur Erläuterung: Wenn A, B und C kulturelle Erfahrungsräume darstellen, so können um Rechtserkenntnis bemühte Personen (1, 2, 3, 4, 5 und 6) mit einem oder mehreren davon vertraut sein. Die aus ein und demselben Erfahrungsbereich Kommenden haben im Prinzip alle wesentlichen Erfahrungen gemeinsam. Dagegen haben diejenigen, die in unterschiedlichen Erfahrungsbereichen sozialisiert worden sind (1, 5 und 6), keinerlei gemeinsame Erfahrungen dieser Art. Wer aus den Bereichen 2, 3 und 4 kommt, verfügt sowohl über gemeinsame (B) als auch über darüber hinausgehende Erfahrungen (A und / oder C). Auch wenn alle zur gleichen Erkenntnis natürlicher Objekte kommen sollten, heißt dies keineswegs, daß sie auch zu gleichen Rechtserkenntnissen gelangen. Diejenigen, welche dieselbe kulturelle „Bildung“ mitbringen, werden sich in der Regel einigen können. Aber sie werden von den andern – wenigstens vorerst – durch eine Kluft getrennt bleiben. Das ist die Folge ihrer unterschiedlichen Prägung durch die Kultur, der sie angehören. Diese hat selbstverständlich auch Einfluß auf die Vorstellung, die man sich von der Struktur einer gerechten Gesellschaft macht, und damit zugleich auf die konkrete Handhabung des Gleichheitssatzes. Denn nicht nur das positive Recht als eine Erscheinung der Wirklichkeit, sondern auch das Ideal der Gerechtigkeit ist eingebettet in eine bestimmte Kultur und von dieser geprägt. Ebenso wirkt sich die Kultur darauf aus, ob und in welcher Weise man sich auch der Vergangenheit, der Zukunft oder beiden oder aber nur der Gegenwart verpflichtet fühlt. Gänzlich losgelöst von einem kulturellen Kontext über Recht und Gerechtigkeit zu diskutieren macht daher wenig Sinn, auch wenn die Dinge dadurch scheinbar vereinfacht werden.

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H. Das Kaleidoskop der Gerechtigkeit

IV. Ideologie und Recht Die kulturelle Verwurzelung allen Rechtsdenkens erkannt zu haben, gehört zu den großen Leistungen Montesquieus und der historischen Rechtsschule. Für einen allseits aufgeschlossenen Rechtsgelehrten wie Josef Kohler war das Verhaftetsein des Rechts in der Kultur und dem Zeitgeist als ihrer agilsten Erscheinungsform bereits „ein Gesetz, welches unbewußt die Geister beherrscht, als ein Naturgesetz des Rechts“ bzw. als eine „Tatsache, die lediglich erkannt sein will – gegen sie uns zu sträuben, wären wir machtlos“. Das war nicht nur im Blick auf den Gesetzgeber, sondern auch auf den Rechtsanwender gesprochen. Für Kohler galt es dementsprechend als ausgemacht, „daß die geistige Atmosphäre, in welcher der Richter lebt, auf seine Entscheidung influiert, daß seine Entscheidung von dem Zeitgeiste beeinflußt wird. Denn auch der Richter ist ein Mann seiner Zeit, auch er steht durch tausend geistige Kanäle mit der Kultur seiner Zeit in Kontakt, und niemand kann sich diesem Kontakte entziehen.“ (Kohler, 1887, 289 f.) Grundlage jeder Kultur ist ein Ensemble sinnstiftender Überzeugungen, das lange als Religion firmierte, heute aber auch die Gestalt einer säkularen Ideologie oder der medial gelenkten Gleichschaltung annehmen kann. Eine Religion oder Ideologie verschafft den in ihr verankerten Rechtsgedanken eine Durchschlagskraft, die über die eines politischen Gestaltungsmittels weit hinausreicht. Das hat niemand eindringlicher zum Ausdruck gebracht als Hegel, der über das Verhältnis von Staat, Sittlichkeit und Religion – die nach gängiger Auffassung verschiedenen Sphären angehören – geradezu einmal bemerkte, der Staat beruhe „auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen“. Und weiter: „Indem die Religion das Bewußtsein der absoluten Wahrheit ist, so kann, was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz, d. i. als wahr in der Welt des freien Willens gelten soll, nur insofern gelten, als es Teil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt.“ Im Hinblick auf den Gleichheitssatz heißt das, daß dieser seine eigentliche Grundlage nicht in Verfassungen oder Menschenrechtserklärungen, sondern in einer Religion hat, nach der unterschiedslos alle Menschen symbolisch „Kinder“ eines und desselben „Vaters“ sind. Das dürfte auch heute noch gelten: Nach einem Diktum Margaret Gruters sind wir derzeit aufgefordert, „in das Wohlergehen von Generationen zu investieren, die in einer Zukunft leben werden, die so fern ist, daß unser Verstand sich dies kaum ausmalen kann“. (Gruter, 1993, 193) Wie sollte es möglich sein, so entfernte Nachfahren – vielleicht nicht einmal unsere eigenen – dennoch als „Unseresgleichen“ anzusehen, wenn nicht eine „Religion“, und sei es noch so versteckt, das vereinende Band dazu liefert? Zur Trennung von Recht und Religion – die ein Dogma der modernen Rechtswissenschaft darstellt –, liest man daher bei Hegel die ketzerischen Worte, es sei „nur eine abstrakte, leere Vorstellung, sich als möglich vorzuspiegeln, daß die Individuen nur nach dem Sinne oder Buchstaben der Gesetzgebung und nicht nach dem Geiste ihrer Religion, in der ihr innerstes Gewissen und höchste Verpflichtung liegt, handeln. Die Gesetze erscheinen in diesem Gegensatz gegen das, was von

IV. Ideologie und Recht

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der Religion für heilig erklärt wird, als ein von Menschen Gemachtes; sie könnten, wenn sie auch sanktioniert und äußerlich eingeführt wären, dem Widerspruche und den Angriffen des religiösen Geistes gegen sie keinen dauerhaften Widerstand leisten… Es ist für nicht mehr als eine Nothilfe anzusehen, die Rechte und Gesetze von der Religion trennen zu wollen… Jene [in der Verfassung vorgesehenen] Garantien sind morsche Stützen gegen die Gewissen der Subjekte, welche die Gesetze, und darunter gehören die Garantien selbst, handhaben sollen; es ist dies vielmehr der höchste, der unheiligste Widerspruch, das religiöse Gewissen, dem die weltliche Gesetzgebung ein Unheiliges ist, an diese binden und ihr unterwerfen zu wollen.“ (Hegel, 1830, § 552 Anm.) Wem dies im Ton zu hoch erscheint, mag der Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes den Vorzug geben, „der freiheitliche, säkularisierte Staat leb[e] von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren k[önne]“. (Böckenförde, 1991, 112) Auch dies besagt nichts anderes als daß die in kollektiven Überzeugungen verankerten Gerechtigkeitsvorstellungen sich langfristig immer gegen das positive Recht und selbst gegen die Verfassung durchsetzen werden. Wie bei Hegel wird auch hier auf die Abhängigkeit angespielt, in der sich das Recht von Mächten befindet, die ihm an innerer Kraft überlegen sind. Viele trauen der Religion eine solche Kraft nicht mehr zu. An die Stelle der früheren Religionen sind jedoch „Sozialreligionen“ und andere, teils künstlich erzeugte Grundüberzeugungen getreten, deren Wirkungsweise ähnlich ist. George Orwell hat diesen Effekt einmal dahin beschrieben, „daß die relative Freiheit, die wir genießen, auf der öffentlichen Meinung beruht. Das Gesetz ist kein Schutz … Wenn eine große Zahl von Menschen an Redefreiheit interessiert ist, dann wird es eine Redefreiheit geben, auch wenn die Gesetze sie verbieten; wird die öffentliche Meinung träge und desinteressiert, werden unbequeme Minderheiten verfolgt, auch wenn es Gesetze gibt, die sie schützen.“ (Orwell, 1947) Wer das Wesen der modernen Rechtswissenschaft begreifen will, darf sich freilich keinen Illusionen darüber hingeben, daß solche Betrachtungen nicht in ihrem Zentrum stehen. Ähnlich wie das Gesetz viele mögliche Argumente ausblendet, so blendet die Rechtswissenschaft tiefgründige Rechtsfragen aus ihrem Untersuchungsbereich aus, um davon nicht überwältigt zu werden. Der Kern der Jurisprudenz im engeren Sinn ist daher, wie man ironisch gesagt hat, nur die Schale des Rechts. (Knapp, 1857, 239)

I. Rechtseinheit und Rechtspluralismus I. Pluralität nationaler Rechte a)  Die bisherigen Überlegungen waren an der Vorstellung orientiert, daß das Recht innerhalb einer politischen Sozietät eine Einheit bildet oder jedenfalls bilden sollte. Dem Gesetz als einer Regel zur gleichmäßigen Beurteilung unbestimmt vieler Fälle ist der Bezug auf eine übergreifende Einheit immanent. Ausgehend von einzelnen Entscheidungen wird aber auch im Fallrecht auf eine Einheit hingearbeitet; was beim Gesetz in „absteigender Linie“ als vorgegeben vorausgesetzt wird, wird hier in „aufsteigender Linie“ als aufgegeben in den Blick gefaßt. Dieses Streben nach rechtlicher Einheit geht auf zwei Gründe zurück, die für das europäische Recht kennzeichnend sind. Der erste Grund ist das gedankliche Prinzip der Gleichbehandlung. Dieses ist, wie oben (S. 84 ff.) gezeigt, ein charakteristischer, wenn auch im Detail schwer faßbarer Aspekt dessen, was man in der westlichen Hemisphäre unter Gerechtigkeit versteht. Entscheidungen, die sich nicht als Ausfluß einer gegebenen oder postulierten Norm darstellen lassen, genügen diesem Prinzip nicht. Das wechselseitige Austarieren einer Vielzahl von Normen oder Präjudizien zielt daher auf ein Gefüge organisierter Gleichbehandlung, das man als „Einheit der Rechtsordnung“ bezeichnet. (Engisch, 1987) Zum andern jedoch ist das Streben nach rechtlicher Einheit der Ausfluß eines realen Herrschaftswillens. Historisch gesehen ist der moderne Staat dadurch entstanden, daß zum Regieren befähigte Monarchen die partikularen Herrschaften und Duodezfürstentümer, die das Recht früherer Epochen als eine bunt gescheckte Landkarte erscheinen ließen, vereinnahmt und sich zu den alleinigen Machthabern innerhalb des von ihnen in Anspruch genommenen Territoriums erklärt haben. Das findet in dem geflügelten Wort Ludwigs XIV.: „l’état c’est moi“ einen prägnanten Ausdruck. In diesem Diktum ist inbegriffen, daß das Recht von einer zentralen Instanz ausgehen und als Emanation eines souveränen Willensaktes angesehen werden soll. Seine Einheit war in der Person des Monarchen begründet, der den Staat daher im wahrsten Sinn des Wortes „verkörperte“. An sich war damit der Weg zu einem obrigkeitlichen Gesetzespositivismus vorgezeichnet. Daß es dahin zunächst nicht kam, ist dem neuzeitlichen Natur- und Vernunftrecht zu verdanken. Dessen Vertreter knüpften nicht an das factum brutum an, daß das Gesetz ein Herrschaftsmittel in der Hand des Monarchen war, sondern ließen sich von dem Gedanken leiten, daß nach geläuterter Vorstellung alles Recht auf sachliche Richtigkeit und Gleichbehandlung, d. h. auf materielle

I. Pluralität nationaler Rechte

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und formelle Gerechtigkeit oder, wie man auch sagen könnte, auf „Sach-“ und „Gleichgerechtigkeit“ (Fikentscher, 1977, 190) angelegt ist. Auf dieser Grundlage schufen sie umfassende Systementwürfe, die den großen Gesetzgebungswerken der Spätaufklärung als Richtschnur dienten. In der darauf folgenden Periode der historischen Rechtsschule wandte man sich zwar von diesen Kodifikationen ab, knüpfte jedoch an die begrifflichen und systematischen Vorarbeiten des Natur- und Vernunftrechts an und trieb dessen Begriffskult sogar auf die Spitze. War es schon für den jungen Savigny ausgemacht gewesen, daß man „mit Begriffen rechnen“ können müsse (Savigny, 1814, 28 f.), so führte Georg Friedrich Puchta dieses Programm tatsächlich durch und begründete damit diejenige Art von Rechtswissenschaft, die als „Begriffsjurisprudenz“ bekannt geworden ist. In ihrer ursprünglichen Form kulminierte sie in dem Idealbild einer juristischen Begriffspyramide, in der alle untergeordneten Rechtsbegriffe von einem obersten Begriff wie aus einem Guß stufenförmig abgeleitet sein sollten. Wie bereits im Naturrecht strebte man auch hier nach einer gedanklichen Ordnung, die auf maximale Geschlossenheit und Vollständigkeit abzielte. b) In einem auf logische und politische Einheit angelegten Rechtsdenken war für konkurrierende Systeme an sich kein Platz vorgesehen. Sie wären als Widerspruch erschienen und hätten den Gedanken normativer Gerechtigkeit in Frage gestellt. Desungeachtet wußte man selbstverständlich immer schon, daß es nicht nur das eigene Recht, sondern noch viele andere Rechtsordnungen gab, die einen vergleichbaren Geltungsanspruch erhoben. Wer die Welt als ganze in den Blick nahm, konnte nicht im Zweifel sein, daß ihr Recht keine Einheit darstellte, sondern nur als Pluralismus verschiedener Rechte beschrieben werden konnte. Auch in praktischer Hinsicht konnte man die abweichenden Rechte anderer Staaten nicht einfach ignorieren; vielmehr mußte der Umgang damit auf eine eigene Weise geregelt werden. Die dabei eingeschlagenen Verfahren sind im Rückblick nach wie vor lehrreich. aa) Entsprechend dem vormodernen Personalitätsprinzip, wonach das einschlägige Recht an die Person geknüpft war, hatte das römische Ius civile nur für römische Bürger gegolten. Für Fremde (peregrini) und deren Geschäfte mit römischen Bürgern fand ein vereinfachtes Ius gentium Anwendung. Je nach dem Status der beteiligten Personen (cives romani bzw. peregrini) kamen daher unterschiedliche Rechtsregeln zum Zug. Darin kann man einen Rechtspluralismus in Bezug auf Römer und Nichtrömer erblicken. Im Laufe der Zeit gewann das „Fremdenrecht“ aber auch im Ius civile an Einfluß. Beide Rechte galten also zunächst bei unterschiedlichem persönlichen Geltungsbereich nebeneinander, bis sich schließlich das einfachere durchsetzte und eine übergreifende Einheit begründete, indem es das ältere verdrängte. bb) Im Verlauf der Neuzeit fand man speziell für das Privatrecht eine andere Lösung. Im Bereich der italienischen Stadtstaaten kam es infolge von Handelsbeziehungen, Eheschließungen, Erbschaften usw. zu rechtlichen Kontakten der Bürger

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I. Rechtseinheit und Rechtspluralismus

miteinander, die sich über die territorial begrenzten städtischen Rechtsordnungen hinwegerstreckten. Da man nicht gut eine dieser Ordnungen einer anderen generell vorziehen oder nachstellen konnte, bemühte man sich, im konkreten Fall die jeweils „sachnächste“ Regelung zum Zug zu bringen. Zu diesem Zweck entwickelte man besondere Rechtsanwendungsregeln, das späterhin sogenannte internationale Privatrecht. Anders als man aufgrund dieser Bezeichnung vermuten könnte, handelt es sich dabei nicht um internationales, sondern um nationales Recht, das in jeder Rechtsordnung anders beschaffen sein konnte. Da das Ziel, zu einer einheitlichen Bestimmung des im konkreten Fall maßgeblichen Sachrechts zu gelangen, bei disparaten Verweisungsnormen nicht erreichbar ist, wurde es zu einer dauernden Aufgabe, die Rechtsanwendungsregeln verschiedener Rechtsordnungen miteinander abzustimmen. Im Ergebnis können bei einem privaten Rechtsstreit mit Auslandsberührung daher auch Sachnormen eines anderen Gemeinwesens zur Anwendung kommen, wenn es dafür überzeugende Gründe gibt. Die rechtliche Pluralität wird von Falltyp zu Falltyp auf eigene Weise aufgefangen, die angestrebte Einheit des Rechts im Konfliktsfall also auf unterschiedlichem Weg hergestellt. Das Internationale Privatrecht ist heute weithin gesetzlich geregelt. Außerdem wird dem Widerspruch unterschiedlicher Kollisionsrechte durch völkerrechtliche Vereinbarungen und innerhalb der Europäischen Union durch Europäische Verordnungen vorgebeugt. Das erleichtert vieles, wirft allerdings auch neue Schwierigkeiten auf, weil die Sachfragen durch Probleme überlagert sind, die – wie in Kapitel A und B gezeigt – der Umgang mit förmlichen Normen mit sich bringt. cc) Wo mehrere Staaten unmittelbar selbst an einem Rechtskonflikt beteiligt sind, kommt man damit nicht weiter, weil hier Herrschaftsanspruch gegen Herrschaftsanspruch steht. Für das Recht der Staaten untereinander wurde daher auf der Basis fundamentaler Rechtsüberzeugungen und zwischenstaatlicher Vereinbarungen vom Beginn der Neuzeit an ein eigenes Ensemble von Regeln entwickelt, das unter dem Begriff Völkerrecht firmiert. Nach verbreiteter Auffassung bildet dies eine eigene Ordnung oberhalb der nationalen Rechtsordnungen. Das gilt jedenfalls für kleinere und mittlere Staaten. Ein Hegemonialstaat neigt dagegen nicht ohne weiteres dazu, sich einem Recht zu unterwerfen, das er nicht selbst gesetzt hat. Aus diesem Grund gilt das Völkerrecht faktisch häufig nur soweit, wie es staatlich „anerkannt“ ist. Nach den Worten Hans Kelsens wird damit recht eigentlich „der Grund für die Geltung des Völkerrechts … in die eigene staatliche Rechtsordnung, in den ‚Willen‘ des eigenen Staates als des in der sozialen Sphäre höchsten Rechtswesens verlegt“. Aus einer solchen Perspektive betrachtet erscheint das Völkerrecht „nicht als eine überstaatliche … Rechtsordnung, sondern … als ein freiwillig aufgenommener Bestandteil der eigenen staatlichen Rechtsordnung, als ‚äußeres Staatsrecht‘“. (Kelsen, 1934, 140) Diese Selbstbezogenheit äußert sich unter anderem darin, daß sich Hegemonialstaaten zwar großzügig zu übernationalen Verpflichtungen bekennen, aber nur ungern bereit sind, sich einer fremdbestimmten Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Im Bezug auf kleinere Staaten dagegen beansprucht das Völkerrecht auch faktisch den Vorrang vor dem nationalen Recht.

II. Pluralität des innernationalen Rechts

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dd) Ein erheblicher Eingriff in die Struktur des überkommenen Völkerrechts zeichnet sich durch das Konzept allgemeiner Menschenrechte ab. Ursprünglich galt das Völkerrecht nur für das Verhältnis der Staaten untereinander, nicht aber für deren Bürger; es war kein Weltrecht für alle. Rechtsverletzungen seiner Bürger durch andere Staaten geltend zu machen, war allein die Aufgabe des Heimatstaates dieser Bürger. Ein völkerrechtlicher Schutz der Bürger gegenüber ihrem eigenen Staat war nicht vorgesehen. Mit dem Erstarken des Gedankens „allgemeiner Menschenrechte“ wird jedoch auch der Einzelne als Völkerrechtssubjekt in den Blick genommen. Die Tendenz geht seitdem dahin, allen Menschen einen „weltbürger­ lichen“ Schutz zukommen zu lassen. Dies würde bedeuten, daß alle einen doppelten Rechtschutz genießen: einmal durch ihr nationales Recht, zum andern durch die weltumspannenden Menschenrechte. Als Rechtspluralismus eigener Art beschwört diese Verdoppelung die Gefahr widersprüchlicher Regelungen herauf. Zwar drängt der Gedanke der Rechtseinheit dahin, daß die allgemeinen Menschenrechte vor enger gefaßten nationalen Regelungen den Vorrang genießen. Da es faktisch keinen Weltstaat gibt, läßt sich ein solcher Vorrang jedoch nur gegenüber schwächeren Staaten, nicht jedoch gegenüber Großmächten durchsetzen.

II. Pluralität des innernationalen Rechts Da die Gerechtigkeit, auf die unsere Rechtsvorstellungen bezogen sind, in unterschiedlichen Archetypen in Erscheinung tritt, läßt sie sich nicht ohne weiteres in Gestalt eines logisch geschlossenen Systems abbilden. Das ist vielmehr nur dann der Fall, wenn ein Archetyp die Oberhand über die anderen erlangt. Unabhängig davon lassen sich wesentliche Aspekte einer gerechten Ordnung wie individuelle Freiheit und soziale Verpflichtung, Egoismus und Altruismus, Wettbewerb und Fürsorge usw. allein dann miteinander vereinbaren, wenn die widerstrebenden Gesichtspunkte nur unvollständig zum Zug kommen oder wenn ihnen unterschiedliche Bereiche zugewiesen sind, in denen sie sich unabhängig voneinander entfalten können. So sind etwa das private Vermögensrecht auf der einen und das Erb- und Familienrecht auf der anderen Seite von verschiedenen (individualistischen und überindividualistischen) Sachgesichtspunkten bestimmt, so daß es kaum möglich erscheint, sie in einer aus einem Guß geschaffenen „Begriffspyramide“ unter­ zubringen. Sie lassen sich nur zu unterschiedlichen Teilsystemen ausbauen, die in Gestalt eines Rhizoms (Wurzelgeflechts) zu einem größeren Ganzen verknüpft sind. Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen anderen Rechtsmaterien, die zu eigenen, von divergierenden Rechtsprinzipien bestimmten Teilgebieten ausgeformt worden sind, angefangen von Zivilrecht, öffentlichem Recht und Strafrecht über materielles und formelles Recht bis hin zu den sehr unterschiedlich gearteten Materien des Ehe- und Familienrechts, des Sachenrechts, Schuldrechts usw. Gemessen daran ist die vielbeschworene Einheit der Rechtsordnung ein erkenntnisleitendes Postulat, das sich nur als organisch verbundenes Kompositum von Widersprüchen realisieren läßt.

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I. Rechtseinheit und Rechtspluralismus

Unbeeindruckt von der das moderne Rechtsdenken bestimmenden Vorstellung „systematischer Einheit“, haben daher bereits Eugen Ehrlich und Max Weber die einer älteren Epoche entstammende Erkenntnis neu belebt, daß es auch innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Rechtssysteme geben kann und aus Gründen der Sachgerechtigkeit sogar geben muß. Wie Michael Stolleis einmal ausgeführt hat, gehörte „bis zur Französischen Revolution … die Parallelität der Rechtswelten ebenso zum Alltag wie die alltägliche Ungleichheit … Der Bauer lebte unter dem überlieferten oder von der Herrschaft ‚gewiesenen‘ Dorfrecht, der ihn beherrschende Graf folgte dem Lehnsrecht, der Kleriker dem Kirchenrecht, Mönch und Nonne der jeweiligen Ordensregel. Der Handwerker hatte Zunftrecht und Stadtrecht zu beachten, der Kaufmann handelte auf dem Markt nach den Regeln des mittelalterlichen Handelsrechts, in der Stadt aber wiederum nach Stadtrecht. Das Gesinde hatte den Regeln des Gesinderechts zu gehorchen, für das fahrende Volk galten mindestens die Polizeiordnungen der Länder und der Städte, die sie berührten.“ (Stolleis, 2008, 547 f.) Kurz: „Die Einheit des Staates war stets eine Einheit aus sozialen Vielheiten gewesen. Sie war zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Staaten sehr verschieden, immer aber komplex und in gewissem Sinn in sich selbst pluralistisch.“ (C. Schmitt, 1930, 35) Einmal ausgesprochen, trat der lange hinter dem Postulat systematischer Widerspruchslosigkeit und Einheit verschwundene Rechtspluralismus hier erneut in den Blick. Zu dieser Entwicklung trug auch die Rechtsethnologie bei, die aufgrund ihres soziologischen Ansatzes von rechtssystematischen und etatistischen Beschränkungen frei war. Sie öffnete den Blick für den in vielen indigenen Gesellschaften zu beobachtenden Regelpluralismus, indem sie zeigte, daß es in vorstaatlichen Gesellschaften innerhalb größerer Gruppen häufig Untergruppen gibt, die über eigene Regelsysteme verfügen. Da der Einzelne gleichzeitig mehreren Untergruppen angehören kann, kann er auch mehreren Regelsystemen unterliegen. Das wirft die Frage auf, was gilt, wenn diese in einem konkreten Fall einander widersprechen. Dasselbe Problem stellt sich auch dann, wenn innerhalb eines modernen Staates unterschiedliche Rechtssysteme nebeneinander Geltung beanspruchen, also im Rahmen einer übergreifenden Einheit eine Reihe von Subsystemen bilden, die eigenen Ordnungsmustern folgen. Rechtseinheit und Rechtspluralismus müssen dann irgendwie miteinander koordiniert werden. a)  Ein Beispiel dafür findet sich im bundesstaatlich verfaßten Deutschland, wo es die unterschiedlichen Rechtssysteme des Zentralstaats und der einzelnen Bundesländer gibt (Art. 70 ff. GG). Für den Fall eines Normwiderspruchs verfügt Art. 31 GG den Vorrang des Bundesrechts, indem er lapidar bestimmt: „Bundesrecht bricht Landesrecht.“ Dadurch wird im Konfliktsfall auf einfache Weise Rechtseinheit hergestellt. Bürgerliches Gesetzbuch, Strafgesetzbuch, Zivilprozeßordnung und Strafprozeßordnung – alles Bundesgesetze – gelten danach in gleicher Weise in allen Bundesländern. Im Widerspruch zu ihnen kann sich kein Landesrecht bilden. Insofern herrscht Rechtseinheit. Wohl aber können Rechtsmaterien wie das das Kommunal-, das Polizei-, das Bau- oder das Schulrecht, für das die

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einzelnen Bundesländer zuständig sind, dort unterschiedlich geregelt sein, so daß sich unter dem Dach des überall gleichen Bundesrechts ein Flickenteppich divergierender Landesrechte ausbreiten kann. b) Wo es an einer solchen Vorrangregelung fehlt, kann der Einzelne gegensätzlichen Forderungen ausgesetzt sein. Was nach Maßgabe des einen Systems erlaubt oder geboten ist, verliert diese Eigenschaft nicht deshalb, weil es nach einem anderen System verboten ist. Von der etatistisch-progressiven Vorstellung ausgehend, daß das innerhalb eines Gemeinwesens geltende Recht systematisch eine „Einheit“ bilden sollte, gelangt man hier zu einem handgreiflichen Widerspruch. aa)  In äußerster Zuspitzung tritt dieses Problem da zutage, wo sich auf dem Gebiet eines Staates Vereinigungen von Akteuren gebildet haben, die für ihre gegenseitigen Beziehungen eigene Regeln über Rangordnung, Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, Gewinnverteilung, Sanktionen u. a. m. entwickelt haben, wie es im Falle der italienischen Mafia, der Camorra usw. tatsächlich der Fall ist und wie es sich in manchen deutschen Großstädten mittlerweile ähnlich verhalten soll. Diese Regeln sind mit den staatlichen Gesetzen nicht vereinbar, verfügen jedoch über eine eigene Rationalität und werden im Verhältnis der Bandenmitglieder zueinander normalerweise befolgt und durchgesetzt. Die Frage, ob man es hier mit divergierenden Rechtssystemen auf gleichem Territorium zu tun hat oder ob diese Regelwerke Unrecht oder sogar „Nichtrecht“ sind, ist für die auf staatliches und suprastaatliches Recht fixierte Rechtsdogmatik kein Thema, weil sie durch die Schleusen des positiven Rechts ausgefiltert wird. Sie fällt stattdessen in die Kompetenz von Disziplinen wie Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtstheorie, für welche diese Begrenzungen nicht durchweg existieren. Einem Denker wie Augustinus zufolge sollte es darauf ankommen, welche der konkurrierenden Ordnungen auf Gerechtigkeit angelegt ist. Denn, so argumentierte er, „was sind Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden?“ (Augus­ tinus, IV 4) Mit der Bezugnahme auf die Gerechtigkeit war nicht die Gleich-, sondern die Sachgerechtigkeit gemeint, die für eine Vielzahl von Argumenten offen ist. Aber damit war nur verbal eine klare Grenze gezogen; in der Sache jedoch wurden Fragen aufgeworfen, die nicht ohne weiteres klar zu entscheiden waren. Für jemand, der, wie Kelsen, Gerechtigkeit für ein „irrationales Ideal“ hält (Kelsen, 1934, 15 f.), wäre Augustins Antwort sogar sinnlos. Wer nicht auf Ideen, sondern auf Fakten setzt, macht die Qualifizierung einer Verhaltensordnung als Recht nicht von ihrer Gerechtigkeit, sondern eher von ihrer Wirksamkeit abhängig, letztlich also von der Durchsetzungsfähigkeit der realen Kräfte, die hinter ihr stehen. (Kelsen, 1960, 48 ff.) Danach hätte man es hier in der Tat mit unterschiedlichen Rechtssystemen zu tun. Das aber hieße: „Das Verhalten eines Gangsters ist nicht ‚absolut rechtswidrig‘; während diese absolute Rechtswidrigkeit zwar für den Bereich der staatlichen Ebene festgestellt werden muß, ist es gleichzeitig, und zwar vom Standpunkt der Verbrecherbande, als rechtmäßig anzusehen.“ (Pospišil, 1982, 171) Nach diesem realistischen Ansatz kann der Konflikt nur dadurch ausgeräumt wer-

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I. Rechtseinheit und Rechtspluralismus

den, daß eines dieser Systeme das andere faktisch überwältigt und sich dadurch als allein wirksam bewährt: Wenn die organisierte Verbrecherbande durch den Staat liquidiert wird, ist es mit ihrem Recht zu Ende; erobert sie umgekehrt den Staat, so wird ihr vermeintliches Unrecht zum alleinigen Recht. Dieser machtpolitischen Auffassung hat Gustav Radbruch nach den Erfahrungen des Dritten Reiches die idealistische These entgegengehalten, „daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreich[en könne], daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen ha[be]“. (Radbruch, 2003, 216) Das war ein kaum verhüllter Rekurs auf die Position Augustins, der bei der Diskussion über die Rechtswidrigkeit des von der DDR verhängten „Schießbefehls“ noch einmal unerwartet Bedeutung erlangte. Die Richter, die darüber zu entscheiden hatten, waren nicht zu beneiden. bb)  Die frühere Ständegesellschaft, in der alle, die nicht „unehrlich“ waren, einem bestimmten „Stand“ angehörten, kannte von Haus aus eine Mehrzahl von Rechtssystemen, weil praktisch jeder Stand für gewisse Bereiche über ein eigenes Recht verfügte. Gemessen an dem Gedanken allgemeiner menschlicher Gleichheit war dies ein Widerspruch. Dieser wurde indessen nicht als solcher empfunden, weil die Angehörigen unterschiedlicher Stände nicht als gleich, sondern als „ständisch verschieden“ galten. Erst mit dem Siegeszug der persönlichen Rechtsgleichheit ging das ständische Recht in einem für alle gleichen Recht auf. Das Postulat der Rechtseinheit setzte sich insoweit gegen den bisherigen Rechtspluralismus durch. Das geschah freilich nicht von jetzt auf nachher. In einigen Restbeständen hat sich das Standesdenken des Adels auch im bürgerlichen Zeitalter erhalten. Obwohl Duelle nach dem StGB bis 1969 explizit verboten waren (§§ 201 ff. StGB a. F.), waren sie nach dem Ehrenkodex elitärer Gruppen unter bestimmten Umständen lange Zeit geboten und zogen im Weigerungsfall empfindliche Reaktionen nach sich. Der Einzelne war daher, wie Max Weber konstatierte, gehalten, „sein Handeln an einander widersprechenden Ordnungen zu orientieren … Wer einen Zweikampf vollzieht, orientiert sein Handeln am Ehrenkodex, indem er aber dies Handeln verhehlt oder umgekehrt: sich dem Gericht stellt, am Strafgesetzbuch.“ (Weber, 1972, 16 f.) Der darin liegende Widerspruch – aus der Außenperspektive nichts anderes als ein Regelpluralismus – wurde in manchen Kreisen als unvermeidlich hingenommen. Ein Sonderrecht des Hochadels war lange Zeit das sogenannte Privatfürstenrecht, das trotz seines Namens nicht Privat-, sondern Staatsrecht („Privat-Staatsrecht“) war. Ein Kenner der Materie nannte es einmal den „Inbegriff derjenigen besonderen Rechtsgrundsätze, wonach die Regentenhäuser und die Familien des hohen Adels in Deutschland in ihren Erb- und Familienverhältnissen sich richten“, während „in allem übrigen … auch für die Subjekte des Privatfürstenrechts die Vorschriften der allgemeinen in Deutschland und in den betroffenen einzelnen Bundesstaaten üblichen Rechtsquellen gelten“. (Maurenbrecher, 1837, 434, 440) Diese Grundsätze spielten gelegentlich bis in unsere Zeit hinein eine Rolle. Noch

III. Europäisches Mehrebenenrecht

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1998 bestätigte der Bundesgerichtshof (BGHZ 140, 118) die Gültigkeit eines auf einem adeligen „Hausgesetz“ beruhenden Erbvertrags. Wegen Verstoßes gegen die grundgesetzlich gleichermaßen allen verbürgte Eheschließungsfreiheit (Art. 6 GG) wurde diese Entscheidung dann allerdings 2004 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben (BVerfG NJW 2004, 2208). Damit hatte das auf Vereinheitlichung drängende „bürgerliche“ Recht über den ständestaatlichen Pluralismus insoweit die Oberhand erlangt. cc) Eine andere aus älterer Zeit überkommene Sonderrechtsordnung hat sich im Bereich der Kirche erhalten. Sie erstreckt sich nicht nur auf das kirchliche Vermögen und den Status von Angehörigen des geistlichen Standes, sondern umfaßt auch das Arbeitsrecht der Angestellten kirchlicher Institutionen und Organisationen im Bereich der Armen-, Alten-, Kinder- und Krankenpflege. Gestützt auf die ihnen vom Staat zugestandene Autonomie nehmen die Kirchen für sich in Anspruch, Verhaltensweisen, an denen nach allgemeinem Recht nichts auszusetzen ist, deren Tolerierung jedoch, wie man meint, die Glaubwürdigkeit der Kirche beeinträchtigen würde, rechtlich – vor allem durch Kündigung – zu sanktionieren. Der Umkreis der Fälle, für den dieser Pluralismus von den staatlichen Behörden anerkannt wird, ist jedoch im Schrumpfen begriffen. Das allgemeine Recht ist auch insoweit auf dem Vormarsch und arbeitet auf die allmähliche Abschleifung kirchenrechtlicher Besonderheiten hin. dd) Abweichend geregelt ist schließlich die Stellung der Beamten, die nach wie vor standesrechtliche Züge aufweist. Beamte unterliegen, wie alle, den allgemeinen Gesetzen; als ausführenden Organen der öffentlichen Hand sind ihnen jedoch besondere Loyalitätspflichten gegenüber dem Staat auferlegt. Ihnen ist daher manches untersagt, was nach den allgemeinen Gesetzen gestattet wäre. Desweiteren gilt für Beamte ein besonderes Dienst- und Besoldungsrecht; im Interesse der Funktionsfähigkeit des Staates sind sie unkündbar. Dieser Status ist im Prinzip verfassungsrechtlich abgesichert (Art. 33 Abs. 5 GG), findet jedoch nicht immer Verständnis, weil man sich über die Funktionsbedingungen eines für viele Bereiche unentbehrlichen Staatsapparates häufig nicht im klaren ist. Auch hier zeigt sich daher, daß dem Gedanken der einheitlichen Regelung eine Tendenz zur Nivellierung innewohnt, die sich leicht auch über sachlich sinnvolle Differenzierungen hinwegsetzt. Wenn man will, kann man darin ein weiteres Beispiel für die Reduzierung einer überkommenen Komplexität erblicken, die freilich neue Probleme an anderer Stelle nach sich zieht.

III. Europäisches Mehrebenenrecht Nachdem Europa lange Zeit nur eine kulturelle Einheit war, zusammengehalten durch eine gemeinsame Geschichte und Religion sowie durch Rechtsordnungen, die in römisch-rechtlich geprägten Vorstellungen gründeten, wurde nach 1945 ein enger vereintes Europa ins Auge gefaßt. Ob dabei nur an eine engere wirtschaftli-

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che Zusammenarbeit oder auch an einen politischen Zusammenschluß gedacht war, ist nicht vollauf geklärt. Fest jedoch steht, daß ein wie immer vereintes Europa nur durch eine Vielzahl rechtlicher Regelungen auf den Weg gebracht werden konnte. Man hat daher häufig gesagt, das moderne Europa der gemeinsamen Regeln und Institutionen sei vorwiegend eine Rechtsgemeinschaft. Damit war nicht gemeint, daß die nationalen Rechte durch ein europäisches Einheitsrecht ersetzt werden sollten. Das vereinte Europa war vielmehr als eine supranationale Organisation gedacht, welche die europäischen Nationalstaaten lediglich mit einem Netz europäischer Rechtsregeln überziehen sollte. Dieses mehrstufige Konzept schien geeignet zu sein, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Was zur Erreichung der angestrebten Gemeinschaftsordnung unabdingbar war, sollte für alle Staaten der Gemeinschaft übereinstimmend geregelt werden; alles übrige sollte nach dem Subsidiaritätsprinzip den Nationalstaaten überlassen bleiben, denen bei der Beurteilung ihrer eigenen Belange die größere Sachkompetenz zukam. a) Die rechtlichen Instrumente, um dieses pluralistische Modell zu realisieren, sind vor allem die Europäischen Verordnungen, die in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union als unmittelbares Recht gelten, sowie die Europäischen Richtlinien, die erst noch der Transformation in nationales Recht bedürfen, wofür die jeweiligen Gesetzgebungskörperschaften zuständig sind. An sich sollten sich die Richtlinien auf die Vorgabe von Zielen beschränken, die in den Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der dortigen Verhältnisse individuell umgesetzt werden sollten. Im Laufe der Zeit ist der europäische Gesetzgeber jedoch dazu übergegangen, die Richtlinien auch inhaltlich immer detaillierter auszuformulieren, womit der Spielraum für die nationalen Gesetzgeber zunehmend kleiner wurde. Gelegentlich werden die Bestimmungen der Richtlinien von diesen sogar unverändert in die nationalen Gesetze eingefügt. Dort verschmelzen sie mit dem vorhandenen Normenbestand häufig nicht zu einer Einheit, sondern bleiben bereits äußerlich als Fremdkörper erkennbar. Denn im Vergleich zu dem deutschen Gesetzgebungsstil, der sich durch begriffliche Klarheit, sprachliche Prägnanz und gedankliche Disziplin auszeichnet, ist der Stil des europäischen Gesetzgebers ein anderer. Anstelle einer Konzentration auf das Wesentliche finden sich hier im Anschluß an die den Richtlinien vorangestellten langatmigen „Erwägungsgründe“ häufig endlose Begriffsbestimmungen und Aufzählungen, was zur Folge hat, daß alles schwer überschaubar und ebenso schwer handhabbar ist. Zwar ist dieser Stil unter anderem dem Bestreben geschuldet, Vorgaben zu erlassen, die von den Gesetzgebern in allen Mitgliedstaaten im gleichen Sinn verstanden werden. Gleichwohl stoßen die Leistungen des europäischen Gesetzgebers zunehmend auf Kritik. So liest man etwa: „Das Europarecht schafft mit bei weitem zu detaillierten ‚Richtlinien‘ und mit unklaren Kompetenzen und ständigen Kompetenzübergriffen seitens des EU-Gesetzgebers eine juristische Ordnung, die diesen Namen nicht verdient und selbst aus einfachen Regelungsge-

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genständen in einer wahren Gesetzesflut ein undurchdringliches Paragraphendickicht macht, in dem man sich kaum zurechtfindet.“ (Honsell, 2019, 126) Das Unbehagen hat auch damit zu tun, daß mit den EU-Richtlinien zwei Anliegen verfolgt werden, die nicht miteinander vereinbar sind. Einerseits bekennt man sich zu den Prinzipien der Subsidiarität und der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV), was an sich bedeutet, die nationalen Rechtssysteme möglichst unangetastet zu lassen. Zum andern fungiert das europäische Recht als ein Instrument zur Verwirklichung gemeinsamer politischer Ziele, insbesondere der Errichtung eines gemeinsamen Marktes mit einem ungehinderten Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Je freizügiger man mit der Annahme von „Hindernissen“ für diesen gemeinsamen Markt ist, desto weiter erstreckt sich auf Kosten der Mitgliedstaaten die Regelungsbefugnis des EU-Gesetzgebers und desto geringer wird der Spielraum des nationalen Rechts. Ambitionierte Politiker und Rechtswissenschaftler, die eine politische Einigung Europas erstreben, sehen daher in den Europäischen Richtlinien ein probates Mittel dazu. b) Für das Verhältnis von EU-Recht und nationalen Gesetzen – umstritten ist, ob dies auch für die nationalen Verfassungen gilt – wird angenommen, daß europäisches Recht Anwendungsvorrang genießt. Das erinnert an den Vorrang des Bundesrechts nach Art. 31 GG. Allerdings wird diese Priorität hier dadurch ausgedehnt, daß EU-Richtlinien in hohem Maße zielorientiert sind. Während bei einem innerstaatlichen Normenkonflikt verschiedene Konditionalprogramme miteinander abgeglichen werden, geht es beim Abgleich eines deutschen Gesetzes mit einer EU-Richtlinie meist darum, ein Konditionalprogramm an einem Finalprogramm zu messen. Das ist etwas völlig anderes. Denn im ersten Fall dominieren logische, im zweiten teleologische Überlegungen. „In methodischer Hinsicht gibt die Richtlinie“, wie man gesagt hat, „ein Ziel vor, auf das die Mitgliedstaaten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln hinarbeiten müssen.“ (Wietfeld, 2020, 491) Die Folge davon ist, daß sich die dehnbaren Finalprogramme der Richtlinien in weitem Umfang gegen das rechtsstaatliche Konditionalprogramm des nationalen Gesetzes durchsetzen. Durch die politische Zwecksetzung wird daher das rechtstaatliche Prinzip der formalen Gleichbehandlung ausgehebelt. Dagegen anzugehen ist schwer. Denn über die Anwendung des auf EU-Richtlinien beruhenden oder davon beeinflußten nationalen Rechts entscheidet auf dem Weg über eine Richtervorlage letztlich der Europäische Gerichtshof. Dessen Rechtsprechungsstil ist ebenfalls ein gänzlich anderer als der in Deutschland übliche. Ebenso folgt auch der Denkstil der Richter einem anderen Muster. Der EuGH argumentiert weniger von tatbestandlich klar umrissenen Voraussetzungen her, sondern läßt sich in starkem Maße von den aus den „Erwägungsgründen“ der Richtlinien erschlossenen Zielvorstellungen der EU-Bürokratie leiten, ist also weniger ein Rechtswahrer als vielmehr ein „Motor“ der europäischen Dynamik. Infolgedessen tendiert die Rechtsprechung des EuGH zu einer Verschärfung des skizzierten Konflikts. Langfristig ist daher zu erwarten, daß die von vielen Seiten

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I. Rechtseinheit und Rechtspluralismus

angestrebte europäische Rechtseinheit sich an diesem „europäischen Stil“ orientierten wird. Der für diese Einheit zu entrichtende Preis dürfte infolgedessen in einem Substanzverlust des gemeineuropäischen Rechtsdenkens bestehen, wie es durch die vielgestaltige europäische Rechtswissenschaft in einem jahrhundertelangen Prozeß geschaffen worden ist.

IV. Transnationaler Rechtspluralismus a) Die Betrachtung einer Rechtsordnung aus der Teilnehmer- oder Verstehensperspektive, also gleichsam „von innen her“, tendiert zu einem „juristischen Solipsismus“, der abweichende Normbildungen entweder verwirft oder aber in das überkommene Rechtswesen zu integrieren versucht. Die Ausrichtung am Grundsatz der Gleichbehandlung verweist diese Binnenbetrachtung in die Richtung eines begriffslogisch geschlossenen Systems. Demgegenüber bewirkt die Orientierung an dem ganz unterschiedliche Aspekte umfassenden Gedanken der Sachgerechtigkeit, daß eigenständig strukturierte Sinneinheiten entstehen, die nur lose miteinander verbunden sind. Aus der Teilnehmerperspektive betrachtet entfaltet sich die Dogmatik einer Rechtsordnung daher als eine „concordantia discordantium canonum“ bzw., wie man gesagt hat, eines „Wissen[s] um die Einheit des Rechtsgeistes trotz aller Wider­sprüche der Überlieferung“. (Engisch, 1987, 1) Aus der Beobachterperspektive jedoch, also „von außen her“ gesehen und damit als soziologisches und politisches Faktum genommen, erscheint jede Rechtsordnung nur als eine von mehreren. Ein Blick auf die Welt als Ganze vermittelt dementsprechend das Bild eines multipolaren Rechtspluralismus. Zwar wird die globale Gesellschaft häufig als eine im Werden begriffene Einheit verstanden. Vorerst jedoch kommt man nicht daran vorbei, daß sich diese projektierte Einheit als ein Nebeneinander sehr unterschiedlicher Rechtssysteme präsentiert. Das neue Forschungsgebiet des transnationalen Rechtspluralismus verdankt sich dem Versuch, diese Vielfalt von Rechtsordnungen insgesamt „von außen her“ in den Blick zu nehmen. Das ist in der Tat die Art, wie die globale Einheit in rechtlicher Hinsicht vorerst allein gedacht werden kann, nämlich als eine miteinander kommunizierende Vielfalt von Rechtsordnungen. Der Blick der Rechtswissenschaft, der im Rahmen der nationalen Rechtsdogmatik aus Gründen der jederzeitigen Entscheidbarkeit stark verengt wird, öffnet sich hier für die Fülle des Rechtslebens, wie sie das Zusammenwirken der Menschen in den verschiedenen Teilen der Welt hervorbringt. Das Erkenntnisinteresse ist insoweit weniger ein praktisches, als vielmehr ein theoretisches, nämlich das Recht als Ganzes ungeachtet seiner Widersprüche so zu erfassen, wie es nach Lage der Dinge nun einmal ist. b) Dabei vermag sich der Rechtspluralismus dem allem normativen Denken eingeschriebenen Zug zur Vereinheitlichung aber doch nicht gänzlich zu entziehen. Unausgesprochen wohnt dem rechtspluralistischen Denken nämlich das Bestreben

IV. Transnationaler Rechtspluralismus

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inne, auf der Basis rechtlicher Vielfalt einer künftigen globalen Einheit vorzuarbeiten. Insoweit ist der Rechtspluralismus, wie man bemerkt hat, kein deskriptiver, sondern „ein Kampfbegriff“. (Seinecke, 2015, 26) Er richtet sich gegen den nationalen Zentralismus des herkömmlichen Rechtsdenkens, um für eine noch nicht absehbare Zukunft einem transnationalen Nomos den Weg zu ebnen. Die Spannung zwischen Einheit und Pluralität des Rechts ist daher auch in ihm angelegt, wenn auch auf andere Weise als innerhalb von Staaten, die den Binnenpluralismus bereits weitgehend eingehegt haben. Eine globale Großraumordnung würde den Rechtspluralismus ähnlich in die Defensive versetzen wie der Nationalstaat die ihm vorausgegangene Vielfalt kleinerer Herrschaftsformen. Das wissenschaftliche Interesse auf diesem Gebiet gilt daher nicht zuletzt den Interaktionen unterschiedlicher Rechtsordnungen und dem Aufkommen neuer rechtlicher Kommunikationsmöglichkeiten, die den Weg der Menschheit zu sich selbst normativ begleiten. Hierbei ist nicht die gleiche Stringenz wie bei der innerstaatlichen Rechtsdogmatik zu erwarten. Das Changieren zwischen dem komplexen Istzustand und einer nur vage aufscheinenden künftigen Einheit ist nur bei Inaufkaufnahme begrifflicher und methodischer Unschärfen möglich. Womöglich ist eben diese Unschärfe daher das Mittel, um ein im Vergehen begriffenes rechtliches Äon unmerklich in ein anderes überzuleiten. Denn nur wenn und soweit sich der künstlich eingehegte rechtliche Diskurs einer prinzipiell „offenen“ Erörterung wiederum annähert, ist er zur Ausformulierung von Gedanken geeignet, die hier allein weiterführen können.

J. Recht und Gesetzgebung Auch wenn der Gedanke des Rechts über allem steht, gilt der Blick des Juristen zunächst dem Gesetz, weil es auf denkbar kurzem Weg darüber informiert, welche Argumente in einem rechtlichen Diskurs prinzipiell akzeptabel oder inakzeptabel sind. Diese Wirkung versteht sich nicht von selbst. Sie hat zur ungeschriebenen Voraussetzung, daß das Gesetz eine erhöhte Richtigkeitsgewähr bietet und sich dementsprechend präsentiert. Ein Garant dafür, daß das Gesetz diesen Anforderungen entspricht, ist ein ausgefeiltes, auf kollektive Rechtserkenntnis abzielendes Gesetzgebungsverfahren. Selbstverständlich kann das Gesetz hinter den gestellten Erwartungen auch zurückbleiben, so unter anderem dann, wenn das Gesetzgebungsverfahren an Mängeln leidet, die auf das Ergebnis durchschlagen. In diesem Fall wird das Gesetz die Richtigkeitsgewähr, die es beansprucht, nicht ungeschmälert entfalten können. Ein Rechtsanwender, der das Gesetz als ein Mittel zur Verwirklichung richtigen Rechts begreift, wird sich dadurch jedoch aufgefordert fühlen, den Mängeln des Gesetzes im Wege der Auslegung, Analogie oder teleologischen Reduktion abzuhelfen. Fragen wir daher, welche Umstände die Richtigkeitsgewähr des Gesetzes beeinträchtigen und dem Rechtsanwender eine freiere Hand geben könnten.

I. Präsentation des geltenden Rechts Primär soll das Gesetz aufzeigen, wie die Rechtslage beschaffen ist, auf welche Argumente es im Konfliktfall also ankommt und mit welcher Entscheidung daher zu rechnen ist. Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt nicht nur im Interesse der jeweiligen Konfliktparteien, sondern im Interesse aller. So kann die Bindung des Richters an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nur so weit reichen, wie ihm dieses unmißverständliche Vorgaben macht. Ebenso kann von den Bürgern die Beachtung des Gesetzes nur so weit erwartet werden, als ihnen dessen Inhalt klar ist oder sie wenigstens über die Möglichkeit verfügen, sich darüber kundig zu machen. Von besonderer Bedeutung ist dies im Strafrecht, wo sich an die Erfüllung gesetzlicher Tatbestände gravierende Rechtsfolgen knüpfen können. Das Erfordernis möglichster Bestimmtheit gilt aber auch sonst. Um die rechtlichen Spielregeln einer Gesellschaft zu begreifen und sinnvoll „mitspielen“ zu können, muß der Bürger häufig auch solche Gesetze verstehen können, von denen er selbst nicht unmittelbar betroffen ist. a) Der Ruf nach allgemein verständlichen Gesetzen ertönt daher so lang, wie man zurückdenken kann. Darin kommt zum Ausdruck, daß es offenbar nicht leicht

I. Präsentation des geltenden Rechts

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ist, ihm nachzukommen. Ein Problem eigener Art ist bereits die Gesetzessprache und damit in Zusammenhang stehend die luzide Ausformulierung einzelner Vorschriften. Im Grunde sollte man meinen, daß es bei der Ausarbeitung von Gesetzen darauf ankomme, sie möglichst einfach und verständlich abzufassen und die Komplexität mancher Materien durch die verwendete Sprache nicht noch zu steigern. Die bekannte Kritik Friedrichs des Großen, daß die Gesetze „größtenteils in einer Sprache geschrieben sind, welche diejenigen nicht verstehen, denen sie doch zu ihrer Richtschnur dienen sollen“ (Deutsch, 2017, S. 152), läßt indessen erkennen, daß der gute Wille allein hier nicht genügt. Die professionelle Beschäftigung mit einer bestimmten Materie läßt leicht eine Betriebsblindheit entstehen, die sich in die Lage Außenstehender nicht hineinzuversetzen weiß. Hinzu kommt, daß die Gesetze von der zunehmenden Differenzierung vieler Lebensverhältnisse nicht unberührt bleiben. Je mehr Präzision unter den Bedingungen zunehmender Spezialisierung von ihnen erwartet wird, desto unverständlicher werden sie. In einem Beitrag „über die Kunst, gute Gesetze zu machen“, setzte Justus Wilhelm Hedemann 1911 seine Hoffnung noch in gelegentlich eingestreute Generalklauseln, mit denen der Gesetzgeber offen gelassene Fragen an den Rechtsanwender delegierte. Gut zwanzig Jahre danach klagte er dann jedoch gerade über die Gefahr solcher Generalklauseln „für Recht und Staat“, weil der moderne Gesetzgeber sich der Aufgabe, „gute Gesetze zu machen“, immer öfter durch „die Flucht in die Generalklauseln“ zu entziehen versuchte. (Hedemann, 1933) Das eine war offenbar so unakzeptabel wie das andere. Ganz davon abgesehen, erwarten manche von einem Gesetz nicht nur inhaltliche Bestimmtheit, sondern – horribile dictu – auch sprachliche Schönheit und Eleganz. So las man unlängst einen Stoßseufzer, der vielen Bürgern auf der Zunge liegen dürfte: „Warum sind unsere Gesetze nicht schön, schlank und verständlich?“ (Bubrowski, 2019) Man könnte versucht sein zu antworten: Weil auch unsere Lebenswelt nicht mehr so beschaffen ist wie zur Zeit der Klassik und der Romantik und unsere Sprache nicht mehr so schön, schlank und verständlich wie die Goethes oder Heinrich Heines. Das wäre zwar nicht die volle Wahrheit; denn über die Rechtssprache wurde auch damals schon geklagt, weil sie eigenen Regeln folgte, von denen die literarische und die Umgangssprache nichts wußten noch wissen wollten. Ein gewisser Zusammenhang zwischen Gesetzes- und sonstiger Sprache besteht jedoch sehr wohl; denn neben fachlichen Besonderheiten schlägt sich in der Gesetzessprache auch das allgemeine Sprachbewußtsein nieder. Wo die Pflege der Umgangs- und Verkehrssprache im Argen liegt, können auch von der Fachsprache des Gesetzes keine Hochleistungen erwartet werden, sei es auch nur deshalb, weil sich das dafür erforderliche Feingefühl in einem sprachlich verwahrlosten Umfeld schwer bilden kann. Insofern sind viele, die sich über die Gesetzessprache beklagen, an deren Zustand nicht unbeteiligt. Lassen sie doch bei ihrem eigenen Sprechen und Schreiben die Sensibilität vermissen, die allein die Umgangssprache auf einem Niveau erhält, an dem auch der Gesetzgeber Maß nehmen könnte – soweit er nicht durch sonstige Umstände daran gehindert ist.

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J. Recht und Gesetzgebung

All dies ist den zuständigen Gremien nicht unbekannt. Seit 2009 gibt es einen beim Bundesjustizministerium angesiedelten „Redaktionsstab Rechtssprache“, der Gesetzesentwürfe auf ihre Verständlichkeit prüft und bei Bedarf Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Die Kompliziertheit vieler Rechtsmaterien und die Unübersichtlichkeit des Zusammenwirkens unterschiedlicher Regelungsbereiche wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Das entscheidende Wort muß daher nach wie vor Juristen zustehen, die mit dem jeweiligen Regelungsgegenstand und dem rechtlichen Umfeld, in das er eingebettet ist, professionell vertraut sind. Eben diese jedoch sind häufig wenig prädestiniert, dem Verständnishorizont Außenstehender Rechnung zu tragen. Davon legen die Änderungen, die das Bürgerliche Gesetzbuch – also das für den Gebrauch von jedermann bestimmte Gesetzescorpus – in den letzten fünfzig Jahren erfahren hat, ein beredtes Zeugnis ab. Wortreich, bis zur Unlesbarkeit aufgebläht und ungelenk kommen die Ergänzungen des neueren Gesetzgebers daher. Wüßte man nicht ohnehin, was zum älteren Bestand gehört und was neu hinzugekommen ist, könnte man es meist bereits aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes erkennen. Über die Rentenanpassungsgesetze hat ein Kenner geklagt, sie seien „Jahr um Jahr unübersichtlicher geworden. Die ausgetüftelten Vorschriften w[ü]rden immer länger und komplizierter. Die Perfektion bring[e] die Regelung um ihre Klarheit. Die unübersichtliche Art der Regelung [sei] nicht nur durch die schwierige Materie bedingt, sondern auch durch die kleinkarierte Flickschusterei der Spezialisten verursacht und durch mancherlei politische Rücksichtnahmen bestimmt.“ (Schneider, 2002, 55) So sehen leider viele Gesetze aus, welche die Rechtslage an sich für jedermann deklarieren sollen. Das Erstellen von Gesetzesentwürfen gehört in Deutschland nicht zu den Gegenständen der juristischen Ausbildung. Infolgedessen gibt es hier keine Juristen, die dieses Geschäft von der Pike an gelernt haben. Damit wird man leben müssen; denn insgesamt sind zu wenige Juristen mit der Aufgabe der Normsetzung befaßt, als daß es sich empfehlen würde, die Ausbildung aller darauf abzustellen. Hinzu kommt aber noch etwas anderes: Nationale Gesetze dienen heute in starkem Maße der Umsetzung europäischer Vorgaben, die immer detaillierter werden. Das erschwert es zusätzlich, im Rahmen eines nationalen Gesetzgebungsverfahrens für eine „bürgernahe“ Note zu sorgen. Daß die Europäische Kommission eine „Agenda für bessere Rechtsetzung“ vorgelegt hat, um sichtbar gewordenen Mißständen entgegenzuwirken, läßt sich den erzielten Resultaten nicht ohne weiteres entnehmen. Allerdings ist es auch keine leichte Aufgabe, passende Vorgaben für eine einheitliche Gesetzgebung in mehr als zwanzig Staaten zu erarbeiten. Wie man beobachtet hat, pflegt „der Eifer der rechts- und sprachkundigen Formulierer … nach[zu]lassen, wenn mehr als drei Sprachen zu bedienen sind … und außerdem die Entwürfe massenhaft anfallen“. (Schneider, 2002, 262) b) Außer einer bürgernahen Gesetzessprache erfordert die optimale Präsentation des geltenden Rechts die sachliche Transparenz der einzelnen Gesetzeswerke wie auch des gesamten Rechtssystems, dessen Teil sie sind. Darauf hinzuwirken ist eine Aufgabe sowohl des Gesetzgebers wie der Rechtswissenschaft. Zur Zeit

I. Präsentation des geltenden Rechts

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der Spätaufklärung war die Arbeitsteilung zwischen Gesetzgebungstheorie und Gesetzgebungspraxis, gemessen an den damaligen Gegebenheiten, stimmig organisiert. Die großen Naturrechtskodifikationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts entstanden weitgehend nach dem Vorbild umfassender Kompendien namhafter Naturrechtslehrer, die sich in aufklärerischem Geist um ein Maximum an gedanklicher Klarheit bemüht hatten. Dieses Ziel spiegelte sich auch in den Gesetzgebungswerken jener Zeit wider, die  – jedenfalls im Vergleich mit der vorhergehenden Epoche – Muster bürgernaher Gesetzgebungskunst waren. Doch deren Verfasser ließen es dabei nicht bewenden, sondern bemühten sich, den wesentlichen Inhalt ihrer Arbeit dem Publikum in eigens für diesen Zweck verfaßten populären Schriften zu erläutern, wohl wissend, daß auch gut gemachte Gesetze demjenigen, der erstmals damit befaßt ist, leicht ein Rätsel aufgeben. In diesen volkspädagogischen Bemühungen der maßgeblichen Gesetzesverfasser kommt gut zum Ausdruck, warum diese Epoche als „Aufklärung“ bezeichnet wird. Was für den Gesetzgeber der Aufklärungszeit die Naturrechtslehrbücher waren, das waren die Lehrbücher aus dem Umkreis der historischen Rechtsschule für den Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts. Das gilt vor allem für die Zeit nach der Neugründung des Deutschen Reiches von 1871. Die Kodifikationswelle, die damals einsetzte und eine Reihe solide gearbeiteter, zum Teil bis heute in Kraft befindlicher Gesetzbücher hervorbrachte, wäre ohne die Leistungen der vorangegangenen Rechtswissenschaft schwer möglich gewesen. Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 wurde geradezu als „ein in Paragraphen gebrachtes Lehrbuch des geltenden Rechts“ bezeichnet. (Menger, 1908, 16) Fast jede Regelung darin war zuvor von der Wissenschaft eingehend diskutiert und von allen Seiten beleuchtet worden. Wenngleich das Bürgerliche Gesetzbuch nicht auf Anhieb verständlich war – vielen juristischen Laien ist es nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln –, so war es doch von Grund auf durchdacht, konzis ausformuliert und bot dem, der sich auf seinen gußeisernen Stil einließ, eine verläßliche Basis für die Lösung alter wie neuer Rechtsprobleme. Das läßt sich für die Gesetzgebung des 20. Jahrhunderts nicht mehr sagen. Die Zeit war hier bereits deutlich kurzatmiger geworden, der Duktus des Lebens und das Gefüge der Gesellschaft hatten sich geändert und drückten auch der Gesetzgebung ihr Gepräge auf. An eine jahrzehntelange wissenschaftliche Vorbereitung umfassender Kodifikationen, wie sie im 19. Jahrhundert stattgefunden hatte, war in der beginnenden Epoche der „motorisierten Gesetzgebung“ nicht mehr zu denken. Carl Schmitt, der für die Wandlungen des Zeitgeistes ein gutes Gespür besaß, formulierte dies rückblickend so: „Die für die Rechtswissenschaft in mancher Hinsicht günstige Lage des 19. Jahrhunderts hat sich seit dem 1. Weltkrieg geändert. Seit 1914 haben alle großen geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen in allen europäischen Ländern dazu beigetragen, daß das Verfahren der Gesetzgebung immer schneller und summarischer, der Weg des Zustandekommens einer gesetzlichen Regelung immer kürzer, der Anteil der Rechtswissenschaft immer kleiner wurde… Was Hermann v. Kirchmann vor beinahe 100 Jahren vorausgesagt hatte,

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J. Recht und Gesetzgebung

daß die Wissenschaft das positive Gesetz niemals werde einholen können, trat ein, und zwar noch weit über jede Erwartung hinaus.“ (Schmitt, 1950, 18, 20) Ähnlich klingt das Urteil über die deutsche Gesetzgebung aus dem Munde eines Kenners der Materie auch noch im neuen Jahrtausend, nämlich daß „deren enormer Umfang den Überblick erschwert, deren netzartige Verflochtenheit eines Themas mit anderen Rechtsgebieten die Verhältnisse kompliziert und deren ständiger Änderung weder die öffentliche Verwaltung noch Wirtschaft und Gesellschaft zu folgen vermögen“. (Schneider, 2002, V) Der Rechtswissenschaft fällt es schwer, den Überblick über die diffuse Masse zu behalten, in die sich das Rechtsganze zunehmend verwandelt. An die Stelle der früheren, von ihrer Aufgabe beseelten Gesetzesverfasser, die sich vor ihrem Gewissen zu einem „Unterricht des Volkes“ über die Gesetze als verpflichtet angesehen hatten, sind daher längst findige Verlage getreten, die mit „Rechtsratgebern“ zu ausgewählten Fragen, vor allem aber mit „praxisnahen Kommentaren“ die Vermarktung der „neuesten Rechtsprechung“ zu einem lukrativen Geschäftszweig erhoben haben. Das Gesetz wird hier überwiegend so dargestellt, wie es im Lichte der Rechtsprechung erscheint, die Rechtsprechung selbst aber weitgehend zustimmend übernommen, so daß die Funktion des Gesetzes als zentrale Anlaufstelle für Rechtsuchende auch aus diesem Grund nicht unerheblich gemindert ist. Wären die Folgen dieser Entwicklung für die Anwendung des Gesetzes nicht ohnehin bekannt, so ließen sie sich leicht ausmalen.

II. Instrumentalisierung des Gesetzgebungsverfahren Angesichts der Aufgabe, die dem Gesetz in der rechtlichen Diskussion beigemessen wird, ist es von grundlegender Bedeutung, wie es selbst zustande gekommen ist. Das Gesetzgebungsverfahren ist daher von höchster Wichtigkeit für die Überzeugungskraft, die dem Gesetz zukommt. Wenn es sich bei der Richtigkeitsvermutung, die der gesetzlichen Verknüpfung eines Tatbestands mit einer Rechtsfolgeanordnung zugeschrieben wird, nicht um eine willkürliche Annahme handeln soll, so muß diese Vermutung nicht zuletzt in der Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens begründet sein. Das aber ist nur dann der Fall, wenn dieses Verfahren so beschaffen ist, daß es in der Regel bessere Ergebnisse hervorbringt, als sie durch die Entscheidung eines Einzelnen oder einen formlosen Diskurs mehrerer zu erwarten wären. Wo das Gesetzgebungsverfahren dem nicht entspricht, wird die Hochstilisierung des Gesetzes zu einer vorrangigen Rechtserkenntnisquelle zweifelhaft. Das ist nicht ohne Einfluß auf den Umgang damit. Auch wenn es sich nicht in vorbestimmten Konsequenzen äußert, legt es doch die Frage nahe, welche Defizite oder Eigenheiten des Verfahrens die Richtigkeitsvermutung des Gesetzes im rechtlichen Diskurs schmälern und dessen Aussschlußfunktion in weniger stringentem Licht erscheinen lassen. a) Nach überkommener und nach wie vor verbreiteter Auffassung beruht die Legitimität demokratischer Gesetze primär darauf, daß sie vom Parlament als der Vertretung des Volkes „gemacht“ werden. Nimmt man dies wörtlich, so wären die

II. Instrumentalisierung des Gesetzgebungsverfahren

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Volksvertreter damit heillos überfordert. In vielen Bereichen bedarf die Erarbeitung form- und sachgerechter Gesetzesentwürfe erfahrener Spezialisten, wie sie unter den Abgeordneten, die ihr Amt häufig anderen als rechtlichen Fähigkeiten verdanken, dünn gesät sind. „Bei den Abgeordneten die Fähigkeit zu vermuten“, lautet daher ein nüchternes Fazit, „Rechtsvorschriften zu entwerfen oder juristisch zu verbessern, ist eine wirklichkeitsfremde, aber auch demokratiefremde Vorstellung. Man kann von den Abgeordneten weder die spezielle Sach- und Rechtskunde noch die langjährige Erfahrung erwarten, die ein Ministerialreferent sich erworben hat.“ (Schneider, 2002, 93) Auch wo den Abgeordneten parlamentarische Gesetz­ gebungsdienste zur Seite stehen, werden daher die meisten Gesetzesentwürfe von der Ministerialbürokratie erstellt, die insoweit über bessere Voraussetzungen verfügt und daher die Hauptarbeit bei der Gesetzgebung leistet. Das tritt nach außen hin nur wenig in Erscheinung, weil auch die von der Verwaltung erarbeiteten Entwürfe häufig nicht von der Regierung, sondern pro forma aus der Mitte des Parlaments eingebracht werden. Der Grund dafür ist der, daß von der Bundesregierung eingebrachte Entwürfe zunächst dem Bundesrat zur Stellungnahme zuzuleiten sind (Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG). Die damit verbundene Verzögerung versucht die Regierung gelegentlich zu vermeiden und den Eindruck, daß das Parlament nur eine Nebenrolle spiele, ebenfalls. Im Ergebnis bedarf es jedenfalls der Kooperation von Parlament, Regierung und Ministerialbürokratie, wenn der Gesetzgebungsbetrieb am Laufen gehalten werden soll. Der parlamentarische Diskurs spielt dabei nicht ganz die überragende Rolle, die ihm von einem naiven Demokratieverständnis zugeschrieben wird. Die Arbeit des Bundestags und seiner Ausschüsse beschränkt sich häufig darauf, Ministerialentwürfe zu prüfen, parteipolitische Akzente zu setzen, kleinere technische Änderungen anzubringen und zuletzt Beschluß zu fassen. Durch den Zwang zu politischen Kompromissen, der im Parlament herrscht, kommt es dabei nicht immer zu Verbesserungen, sondern gelegentlich auch zu Verwässerungen. Aber nicht nur dies: es ist, wie man gesagt hat, überhaupt „irrelevant, ob die Gesetzgeber an der Abfassung des Textes mitgewirkt oder nicht mitgewirkt haben, diesen Text kennen oder nicht kennen. Ihre wesentliche Aufgabe … besteht darin, die Gesetzestexte mit den Formalitäten zu versehen, welche sie … als Rechtsvorschriften brauchbar machen.“ (Pattaro, 1983, 128) Die Bedeutung des Parlaments kommt letztlich darin zum Ausdruck, daß kein Gesetz ohne sein Plazet zustande kommt. In der Sache jedoch kann es gegenüber anderen politischen Kräften, die nicht über die gleiche Legitimität verfügen, leicht ins Hintertreffen geraten. b)  Diese Lücke haben die politischen Parteien, denen die Abgeordneten ihre Nominierung verdanken, benutzt, um Strategien zu entwickeln, mit denen der parlamentarische Prozeß gleichsam von außen her beeinflußt werden kann. Das geschieht vor allem dadurch, daß die Fraktionen, zu denen sich die Abgeordneten einer Partei zusammenschließen, auf Veranlassung der Fraktionsführung, die wiederum im Einvernehmen mit der Parteiführung handelt, im Ergebnis

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einheitlich abstimmen. Dafür kann es passable Gründe geben: Dieses Vorgehen erlaubt es nämlich, daß ausgewählte Abgeordnete, die mit der betreffenden Materie näher vertraut sind, den anstehenden Gesetzesentwurf eingehend prüfen und ihren Fraktionskollegen anschließend signalisieren, ob die Sache „in Ordnung ist“ oder nicht. Im Vertrauen auf die Sachkompetenz dieser Kollegen stimmt die Fraktion dann geschlossen dafür – oder eben dagegen. Nur dann, wenn eine Abstimmung von der Fraktionsführung „freigegeben“ ist, stimmt jeder Abgeordnete nach seiner persönlichen Meinung ab. Bei Themen, über die in Fraktions- und Parteiführung Konsens besteht, die jedoch innerhalb der Fraktion streitig sind, kann die Fraktionsführung ihre Macht dazu benutzen, um Abgeordnete, die nach reiflicher Überlegung anderer Meinung sind, dennoch auf die gewünschte Linie zu bringen. Zu diesem Zweck wird ihnen in Vieraugengesprächen klargemacht, welche Konsequenzen eine „fraktionswidrige“ Abstimmung für sie haben könnte: Sie könnten im Vorfeld der nächsten Wahlen den von ihrer Partei für sie vorgesehenen „sicheren“ Stimmbezirk oder Listenplatz verlieren oder überhaupt nicht mehr als Kandidat aufgestellt werden und in all diesen Fällen aus dem Parlament ausscheiden. Davon hat sich schon mancher Berufspolitiker, der über keinen bürgerlichen Beruf verfügt, in den er zurückkehren kann, beeindrucken lassen. Wären die Abstimmungen im Parlament geheim, wie es die Wahlen zum Parlament aus gutem Grund sind (Art. 38 Abs. 1 GG), so wäre dieses Spiel nicht möglich und die Abgeordneten könnten unter dem Schutz der Anonymität ihrer Überzeugung folgen, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Kraft Verfassung sind sie nämlich nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Auf Betreiben der Fraktionen hat sich der Bundestag jedoch eine Geschäftsordnung gegeben, wonach die Abstimmungen über Gesetze offen erfolgen (§ 48 Abs. 1 GO BT), so daß man sieht, wer wie abstimmt. Infolgedessen hat es die Fraktionsführung leicht, unsichere Kandidaten nicht nur im voraus zu „bearbeiten“, sondern im Falle eines Fehlschlags zu identifizieren und nachträglich zu sanktionieren. Zur Rechtfertigung dieses Verfahrens hat man eine beeindruckende Rhetorik entwickelt. Seine Befürworter malen die Anarchie an die Wand, falls Abgeordnete unkontrolliert nach ihrer Überzeugung abstimmen könnten. Sicher wäre in diesem Fall mit ungewohnten Schwierigkeiten zu rechnen. So könnten sich Abgeordnete fraktionsübergreifend unter der Hand miteinander verständigen und gemeinsam eine Politik verfolgen, für die niemand offen die Verantwortung übernehmen würde. Auf der anderen Seite jedoch unterläuft das geschilderte Verfahren das verfassungsrechtlich geschützte Gewissen der Abgeordneten und degradiert diese zu Verrichtungsgehilfen ihrer Partei bzw. der Parteiführung, u. U. also von Personen, die selbst gar nicht ins Parlament gewählt wurden und über keinerlei demokratische Legitimation verfügen. Die repräsentative Demokratie erhält dadurch eine „parteiendemokratische Schlagseite“, welche die Überzeugungskraft so zustande gekommener Gesetze, verglichen mit dem demokratischen Ideal, erheblich schmälert. Eine andere Strategie, um das Gesetzgebungsverfahren in schwer zu rechtfertigender Weise zu beeinflussen, besteht darin, mehrere Gesetze, die in der Sache

II. Instrumentalisierung des Gesetzgebungsverfahren

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nichts miteinander zu tun haben, zu „Paketen“ zusammenzuschnüren, über die nur einheitlich abgestimmt werden kann. Tendiert etwa die Fraktion A dahin, dem Gesetz I zuzustimmen, das Gesetz II jedoch abzulehnen, während die Stimmung in der Fraktion B genau umgekehrt ist, so kann durch die äußerliche Verbindung beider Gesetze zu einem einheitlichen „Paket“ jede Fraktion in die Lage versetzt werden, das von ihr favorisierte Gesetz nur dann durchbringen zu können, wenn sie zugleich dem an sich abgelehnten zustimmt bzw. das unerwünschte nur dann verwerfen zu können, wenn sie gegen ihre Intention auch das an sich gewünschte ablehnt. Die Fraktionsführungen verfügen demnach auch insoweit über Möglichkeiten, mit denen sie das Stimmverhalten der Abgeordneten beeinflussen können. Bei der Zusammenfassung von drei oder mehr Gesetzen und beim Vorhandensein von mehreren dissentierenden Fraktionen ist es theoretisch sogar möglich, daß mehrere Gesetze gemeinsam verabschiedet werden, von denen bei getrennter Abstimmung nicht eines eine Mehrheit erhalten hätte. Das erinnert an die Konstellationen, die bei der Abstimmung innerhalb eines Richterkollegiums auftreten können (vgl. oben S. 71 f.); denn hier wie da läßt sich durch die Ausgestaltung des Abstimmungsverfahrens Einfluß auf das Ergebnis gewinnen. Von der Möglichkeit, unterschiedliche Normbündel in einem „Artikelgesetz“ gemeinsam zur Abstimmung zu bringen, ist aber auch schon zu anderen Zwecken Gebrauch gemacht worden. Dieses Procedere eignet sich nämlich auch dazu, brisante Regelungen vor den Augen der Öffentlichkeit oder sogar der Mehrheit des Parlaments selbst zu verbergen. Dazu müssen sie nur in einem Gesetz „versteckt“ werden, das schwerpunktmäßig anderen Fragen gewidmet ist, weshalb man sie hier nicht vermutet und daher auch nicht sucht. Wird dieses Manöver nachträglich aufgedeckt – es gibt spektakuläre Fälle –, so ist die Sache bereits gelaufen und kann womöglich nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das Parlament als das der Idee nach für die Gesetzgebung zuständige Organ ist dann im wahrsten Sinn des Wortes übertölpelt und das Gesetz erschlichen worden. Solche „Spiele“ erinnern fatal an die Bismarck zugeschriebene Bemerkung, daß derjenige, der weiß, wie die Leberwürste und die Gesetze in Wahrheit gemacht werden, nachts nicht mehr ruhig schlafen kann. Im vorstehenden Zusammenhang geht es indessen darum, daß die offenbar schwer ausrottbare Auffassung, wonach der „Gesetzgeber“ ein Ausbund von Sachverstand und Weisheit, der Gesetzesanwender und -interpret dagegen ein ziemlich unbedarftes Wesen sei, das Gesetz nicht selten zu Unrecht überhöht. Diese Erkenntnis trifft die „subjektive“ Gesetzesauslegung, die das Gesetz im Sinne des Gesetzgebers verstanden wissen will, ins Mark und ist daher ein Grund mehr, einer „objektiven“ Auslegung den Vorzug zu geben. Allein diese ist geeignet, Praktiken der geschilderten Art entgegenzuwirken oder wenigstens zu verhindern, daß sie über den Wortlaut des Gesetzes hinaus Einfluß auf die Rechtsanwendung gewinnen. Die Kenntnis, „wie die Gesetze in Wahrheit gemacht werden“, bestätigt daher die funktionale Betrachtung des Gesetzes, mit der wir unsere Überlegungen begonnen haben.

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III. Rechtspolitischer Hintergrund Wie ein Gesetz sprachlich, systematisch und verfahrensmäßig „gemacht“ wird, bestimmt nur zum Teil das Gewicht, das ihm in einem juristischen Diskurs beigemessen wird. Ein anderer Teil hängt davon ab, woher eigentlich der Inhalt stammt, dem durch das Gesetz eine positivrechtliche Aufwertung verschafft wird. Das ist, vorsichtig ausgedrückt, ein weites Feld. In einer kulturell homogenen Gesellschaft bietet die gemeinsame Sozialmoral eine ideologische Basis für den maßgeblichen Gehalt der Gesetze. Das ist in einer pluralistischen Gesellschaft nicht ohne weiteres möglich. Auch hier können die divergierenden Grundüberzeugungen jedoch so beschaffen sein, daß jeder einem Gesetz aus je eigenen Gründen die Reverenz erweist. a) Ein Rückblick wirkt auch hier erhellend: In der Zeit der Spätaufklärung entwarfen die rechtlichen Vordenker dieser Epoche auf der Basis eines auf Selbsterhaltung und angeblicher Gottesebenbildlichkeit angelegten Menschenbildes detailliert ausgearbeitete Systeme einer als dauerhaft gedachten Ordnung, die der Gesetzgebung sowohl in formaler wie auch in inhaltlicher Hinsicht zur Richtschnur dienten. In der damaligen Gesellschaft, die ständisch aufgespalten, in religiöser Hinsicht aber weitgehend christlich ausgerichtet war, war diese Kombination von wissenschaftlicher Expertise und politischer Macht naheliegend. Auf lange Sicht verhielt es sich nicht ganz so. Der sich abzeichnenden Pluralisierung und Politisierung der Gesellschaft entsprach es mehr, die wesentlichen Fragen nicht einem selbstherrlichen Monarchen anzuvertrauen, sondern auf demokratische und diskursive Weise zu entscheiden. Das Resultat demokratischer Prozesse jedoch läßt sich durch noch so gründlich durchdachte wissenschaftliche Gesetzgebungsvorschläge schwer vorwegnehmen. Die Rechts- und Gesetzgebungspolitik, die in klandestiner Form in den naturrechtlichen Systementwürfe enthalten war, verlor daher ihren auf das Rechtsganze bezogenen Anspruch und verlegte sich zunehmend auf Einzelthemen, die sich losgelöst von tiefgreifenden Grundsatzkonflikten scheinbar unabhängig voneinander behandeln ließen. Bei aller Perfektion im Detail fehlt der modernen Rechtspolitik daher das, was mit dem Wandel der Gesellschaft von einer relativ statischen und geschlossenen zu einer immer dynamischeren und offenen Ordnung abhanden gekommen war: nämlich ein durchdachtes rechtliches Gesamtkonzept. Ein solches wäre mit einer in ständiger Bewegung befindlichen pluralistischen Gesellschaft nur bei Zugrundelegung einer sehr großen Abstraktionshöhe vereinbar. Auf der Ebene herkömmlicher Realpolitik dagegen ist man genötigt, „auf Sicht“ zu fahren. Infolgedessen steht die moderne Rechtspolitik meist im Dienste der Interessen ausgewählter Gruppen oder widmet sich der Korrektur einzelner Fehlentwicklungen. Der Versuch der zum Bewußtsein ihrer Selbständigkeit gelangten Bürger, sich mit rechtlichen Mitteln „selbst zu regieren“, weist hier eine offene Flanke auf. Diese kann von neu entstandenen monetären und medialen Eliten dazu benutzt werden, um die gesellschaftliche Entwicklung großräumig und nachhaltig in ihrem

III. Rechtspolitischer Hintergrund 

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Sinn zu beeinflussen. Wem ökonomisch unbegrenzte Mittel und unkontrollierte Lenkungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, dem öffnen sich tausend Wege, um Personen und Institutionen die Agenda vorgeben zu können, nach der sie in vermeintlich freier Entscheidung, in Wahrheit jedoch nach fremdem Plan tätig werden. Hinter der Fassade überkommener Institutionen kann so eine neue staatenübergreifende Ordnung auf den Weg gebracht werden, die nach den Grenzen einer wissenschaftlich fundierten Rechtspolitik nicht fragt. Solange der rechtspolitische Diskurs die Schranken nicht überwindet, die ihm im Zuge der Positivierung und Demokratisierung auferlegt wurden, ist dagegen kein Mittel zur Hand. Was insoweit not täte, wäre daher ein freieres und offeneres Denken, das sich ohne Scheu derjenigen Fragen annimmt, die abseits der Öffentlichkeit von einem „tiefen Staat“ und seinen diversen Machtzentren ausgeheckt und vorbereitet werden. Dazu müßte der rechtspolitische Diskurs den Einfluß zurückerobern, den er – fast möchte man sagen: nicht ohne eigenes Verschulden – an anonyme Mächte verloren hat. Anders als für die Aufgaben des rechtlichen Alltags bedürfte es dafür keiner künstlichen Verengung, sondern umgekehrt einer größtmöglichen Erweiterung des rechtlichen Horizonts. b) Von der Rechtspolitik „alten Stils“, die darauf angelegt war, die gedankliche Basis für eine insgesamt „gute“ Ordnung zu legen, hebt sich die rudimentäre moderne Rechtspolitik aber noch auf andere Weise ab. Denn sie zielt schwerpunktmäßig dahin, bestimmte politische Ziele mit rechtlichen Mitteln zu realisieren. Gesetze fungieren dabei weniger als Verlautbarungen richtigen Rechts, sondern als „Instrumente“, die einen gewünschten, nicht unbedingt rechtlichen Erfolg bewirken sollen. Das würde im Grunde eine ex-post-Kontrolle erforderlich machen, ob ein Gesetz den angestrebten Erfolg erreicht oder nur unnötige Aufwendungen, wenn nicht gar schädliche Nebenwirkungen verursacht hat. Die Gesetzesverfasser selbst gehen einer solchen Überprüfung gern aus dem Weg: Wer sich für eine bestimmte Regelung stark gemacht hat, legt meist wenig Engagement an den Tag, um zu erfahren, daß er sich allen Versprechungen zum Trotz verkalkuliert hat. Eine effektive Wirkungskontrolle durch eine kontinuierliche, an die gesetzgebenden Instanzen rückgekoppelte Rechtstatsachenforschung ist ebenfalls weithin ein Desiderat. Einmal ist diese Aufgabe angesichts der heutigen Gesetzesflut ohnehin nur punktuell zu leisten. Sodann jedoch – auch dies muß man wissen – verschafft es einem Rechtswissenschaftler mehr Geld und Ansehen, den zehnten und im Grunde völlig überflüssigen Kommentar zu irgendeinem Gesetz zu schreiben, anstatt sich in aufwendige Untersuchungen darüber zu vertiefen, wie dieses Gesetz praktisch wirkt. Um die Rechtsordnung nicht auf Dauer mit mißglückten oder obsolet gewordenen Gesetzen zu belasten, welche die Rechtsfindung unnötig erschweren, hat man angeregt, alle Gesetze nach einer gewissen Zeit außer Kraft treten zu lassen, wenn sie nicht zuvor förmlich bestätigt werden. Bei Normen, die zur Bewältigung zeitlich begrenzter Probleme bestimmt sind, könnte dies durchaus sinnvoll sein. Weniger ratsam wäre es dagegen, substantielle Gesetze im Bereich des Straf-

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rechts, des Steuerrechts, der sozialen Leistungen, des Straßenverkehrsrechts usw., die in der einen oder der anderen Form dauerhaft benötigt werden, außer Kraft treten zu lassen, wenn sich dafür in einem bestimmten Zeitpunkt keine Mehrheit mehr findet. Denn in diesem Fall ist zu bedenken, daß Abgeordnete, welche die Regierung stürzen wollen, aber nicht über das Potential für ein konstruktives Mißtrauensvotum (Art. 67 GG) verfügen, die Gelegenheit nutzen könnten, durch das Außerkraftretenlassen wichtiger Gesetze ein Chaos heraufzubeschwören. Im Hinblick auf solche Auspizien erscheint es als das geringere Übel, Gesetze auch dann in Geltung zu lassen, wenn sie von der Entwicklung überholt sind, und auf die Möglichkeiten zu vertrauen, welche die juristische Methodenlehre für solche Fälle zur Verfügung stellt. c) Anders stellt sich die Sache dar, wenn und soweit ein Gesetz aus formellen oder materiellen Gründen gegen die Verfassung verstößt. In diesem Fall ist es verfassungswidrig und nichtig. Das ist das schärfste Verdikt, das gegen ein Gesetz möglich ist. Allerdings kann diese Wirkung bei nachkonstitutionellen Gesetzen nicht von jedem Gericht, sondern nur vom zuständigen Verfassungsgericht ausgesprochen werden. Das mit einem solchen Gesetz befaßte Gericht muß die Frage daher dem Bundesverfassungsgericht oder gegebenenfalls dem Verfassungsgericht eines Bundeslandes vorlegen (Art. 100 Abs. 1 GG). Den durch ein Gesetz in ihren Grundrechten verletzten Bürgern steht außerdem die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung, mit der sie ebenfalls die förmliche Aufhebung verfassungswidriger Gesetze betreiben können (Art. 93 I Nr. 4 a GG). Die gesetzgebende Gewalt findet daher ihre Grenze an den in der Verfassung vorgesehenen Möglichkeiten, rechtlich „mißratene“ Gesetze durch unabhängige Gerichte justizförmig überprüfen und für nichtig erklären zu lassen. Je nachdem, wie die Grenzen des zum Verfassungsrecht geronnenen vorpositiven „Naturrechts“ abgesteckt werden, muß sich das positive Gesetz hierbei dem relativ offenen (verfassungs-)rechtlichen Diskurs stellen. Das ist auch dann der Fall, wenn ein Verfassungsverstoß im Wege verfassungskonformer Auslegung behoben werden kann. In diesem Fall findet die Korrektur eines Gesetzes ohne Beteiligung eines Verfassungsgerichts durch die einfachen Gerichte statt. Der hierbei erforderliche Rekurs auf die relativ unbestimmten Werte der Verfassung öffnet die Schleusen des Gesetzes wenigstens teilweise für sonst ausgeschlossene Argumente allgemeiner Art.

IV. Das Gesetz als Insel im Meer des Rechts Wo das Gesetz zur maßgeblichen Rechtsquelle hochstilisiert worden ist, wird von der Gesetzgebung notwendig mehr erwartet, als sie unter günstigsten Umständen zu leisten vermag. So soll das Gesetz die Entscheidung individueller Rechtsstreitigkeiten erleichtern oder solche erst gar nicht aufkommen lassen; es soll allseits befriedigende Lösungen für die rechtlichen Probleme der Gesellschaft als ganzer bereitstellen; weiter soll es im Rahmen einer zusammenwachsenden Welt mit ei-

IV. Das Gesetz als Insel im Meer des Rechts

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ner menschenwürdigen Existenz für alle derzeit Lebenden überhaupt vereinbar sein; angesichts der Weichenstellungen, die mit Wirkung für die Zukunft vorgenommen werden, soll es auch künftigen Generationen den Weg in eine humane Welt eröffnen oder einen solchen Weg jedenfalls nicht leichtfertig verbauen. Ein idealer Gesetzgeber müßte all dies auf seinem Bildschirm haben. Natürlich ist darauf im Ernst nicht zu rechnen. Deshalb ist es auch eine Illusion, zu meinen, daß die zahllosen Rechtsprobleme, die sich in einer Gesellschaft stellen, allein „durch Gesetze“ gelöst werden könnten. Das Gesetz ist ein Hilfsmittel, sogar ein wichtiges und geradezu unentbehrliches Hilfsmittel, aber nicht mehr. Wer damit sinnvoll umgehen will, muß wissen, wobei es hilft, wie weit diese Hilfe reicht und worauf es ankommt, wo sie endet. Als eine Erscheinung des vieles mehr umfassenden „Rechts“ setzt das Gesetz den Gedanken des Rechts voraus. Erst der Bezug auf diesen schwer greifbaren idealen Maßstab macht es zu einer rechtlichen Erscheinung, und erst die Möglichkeit, seinen Defiziten durch hieraus geschöpfte Anleihen entgegenzuwirken, verhindert, daß es mit seinen Ansprüchen auf Schritt und Tritt scheitert.

Nachwort Alles in allem stellt sich das juristische Denken danach weniger abgehoben dar, als es gemeinhin der Fall zu sein scheint. Einmal wurde hier von Anfang an ernst gemacht mit der auf Robert Alexy zurückgehenden These, wonach die juristische Diskussion ein Sonderfall des allge­ meinen praktischen Diskurses ist, bei dem die juristische Argumentation unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen stattfindet, insbesondere der Bindung an das Gesetz (S. 14). Vergleicht man den juristischen Diskurs mit politischen oder moralischen Diskursen, so äußern sich diese Bedingungen in Gestalt von Argumentationsverboten. Diese verengen das Spektrum der rechtlich allein zulässigen Argumente und erleichtern dadurch die Entscheidung konkreter Rechtsfragen. Die Verkürzung des rechtlichen Argumentationsspielraums wird ergänzt durch die Abstraktion der zu entscheidenden „Fälle“ von den sozialen Beziehungen, in die sie von Haus aus verstrickt sind. Mit Hilfe einer konditionalen Normstruktur und eines darauf abgestimmten Prozeßrechts werden selbst hochkomplexe Sachverhalte auf ein überschaubares binäres Schema reduziert. Auch insoweit gilt daher, daß nicht die Erhöhung, sondern die Reduktion von Komplexität für den juristischen Diskurs typisch ist. Allerdings erfährt der normativ und prozessual eingehegte Diskurs durch unbestimmte Rechtsbegriffe und mehr noch durch Generalklauseln je nach Sachlage gewisse Lockerungen, die sich als partielle (Wieder-)Annäherungen an den offenen praktischen Diskurs darstellen. Was den Begriff des Gesetzes selbst angeht, so folgt die hier vorgestellte Analyse des juristischen Denkens der von Hans-Martin Pawlowski lancierten Auffassung, daß das Gesetzgebungsverfahren weniger ein Rechtsetzungs-, als vielmehr ein Rechtserkenntnisverfahren darstellt, nämlich ein Verfahren zur organisierten kollektiven Rechtserkenntnis. (Pawlowski, 1999, 259 ff.) Der Grund, warum die Rechtsfindung im Einzelfall in der Regel beim Gesetz ansetzt, ist daher nicht der, daß der Rechtsanwender gehalten wäre, seine Argumentation in denkendem Gehorsam einem fremden autoritativen Willen unterzuordnen, sondern daß das Gesetz die Vermutung der Richtigkeit für sich hat. Nur deshalb, weil der Gesetzgeber sich um Rechtserkenntnis im Großen bemüht und sich dabei eines vielfach erprobten Verfahrens bedient, ist es gerechtfertigt, daß der Rechtsanwender am Gesetz anknüpft und die in diesem enthaltene Rechtserkenntnis auf konkrete Fälle herunterbricht. Hinter jeder Rechtsnorm steht daher ein an der Vorstellung richtigen Rechts orientierter Rechtsgedanke. Allein dies verleiht dem Gesetz eine über den Status einer obrigkeitlichen Anordnung hinausgehende und im Prinzip von jedermann

Nachwort

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einsehbare Rechtsqualität, und allein dies wiederum macht einen rechtlich sinnvollen Umgang damit möglich. Wer von „Rechtswissenschaft“, von „Rechtswahrheit“ oder von „Gerechtigkeit“ spricht, nimmt auf diesen vorpositiven Hintergrund Bezug, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht. Zwar ist die Entscheidung alltäglicher Fälle von der unmittelbaren Anbindung hieran aus gutem Grund abgekoppelt. Je weiter die rechtliche Problematik über das Hier und Heute hinausreicht, desto mehr jedoch muß sich das juristische Denken dem offenen praktischen Diskurs wieder annähern, von dem es sich aus nachvollziehbaren Gründen zunächst entfernt hat.

Verzeichnis der zitierten oder in Bezug genommenen Literatur Aarnio, Aulis / Alexy, Robert / Peczenik, Aleksander: Grundlagen der juristischen Argumentation, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, 9–87 Alexy, Robert: Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a. M. 1983 (Erstdruck 1978) Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte, Frankfurt a. M. 1986 (Erstdruck 1985) Augustinus: Civitas Dei Braun, Johann: Einführung in die Rechtsphilosophie, 3. Aufl. Tübingen 2022 Braun, Johann: Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, Tübingen 2014 Bubrowski, Helene: Warum sind unsere Gesetze nicht schön, schlank und verständlich?, in: J. Lege (Hrsg.), Gelingendes Recht, Tübingen 2019, 5 Deutsch, Andreas: Thibaut und die Rechtssprache, in: Anton Friedrich Justus Thibaut (­ 1772–1840). Bürger und Gelehrter (hrsg. von C. Hattenhauer / K.-S. Schroeder / C. ­Baldus), 2017, 147 Dworkin, Ronald: Law’s Empire, 10. Edition, Harvard University Press 1997 Engisch, Karl: Die Einheit der Rechtsordnung, Darmstadt 1987 (Erstdruck 1935) Esser, Josef: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. Tübingen 1990 Fikentscher, Wolfgang: Methoden des Rechts, Bd. 4, Tübingen 1977 Frank, Hans: Schlußrede des Reichsrechtsführers, in: Deutscher Juristentag Berlin 1936, 491 Gruter, Margaret: Rechtsverhalten. Biologische Grundlagen mit Beispielen aus dem Familienund Umweltrecht (übers. von E. Gruber), Köln 1993 Haverkate, Görg: Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, Berlin 1977 Heck, Philipp: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1 Hedemann, Justus Wilhelm: Über die Kunst, gute Gesetze zu machen, in: Festschrift für Otto Gierke, Weimar 1911, 305 Hedemann, Justus Wilhelm: Die Flucht in die Generalklauseln: eine Gefahr für Recht und Staat, Tübingen 1933 Hegel, G. W.F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821 Hegel, G. W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 3. Aufl. Heidelberg 1830 (hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler), 7. Aufl. Hamburg 1969) Honsell, Heinrich: Gerechtigkeit, Bern 2019

Verzeichnis der zitierten oder in Bezug genommenen Literatur

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Kant, Immanuel: Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen, Akademie-­Ausgabe Bd. VIII, 422 Knapp, Ludwig: System der Rechtsphilosophie, Erlangen 1857 Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, Leipzig und Wien 1934, 2. Aufl. Wien 1960 Kohler, Josef: Die schöpferische Kraft der Jurisprudenz, JherJB 25 (1887), 262 Kroeschel, Karl: Deutsche Rechtsgeschichte 1, 6. Aufl. Opladen 1983 Lepsius, Oliver: Relation: Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft, Tübingen 2016 Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 11 Maurenbrecher, Romeo: Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, Frankfurt a. M. 1837 Menger, Anton: Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen, 4. Aufl. Tübingen 1908 Michaelis, Karl: Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts, Berlin 1935 Orwell, George: Freedom in the Park, in: Tribune, December 7, 1945 Ostendorf, Heribert: Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers, Zeitschrift für Rechts­politik 1994, 169 Pattaro, Enrico: Über Rechtswissenschaft, Transformationen und Rechtfertigung, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer Argumentation, Berlin 1983, 117–144 Pawlowski, Hans-Martin: Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. Heidelberg 1999 Pospišil, Leopold: Anthropologie des Rechts, München 1982 Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, 3. Aufl. Leipzig, 1932, Neudruck (hrsg. von R. Dreier u. S. L. Paulson), 2. Aufl. Heidelberg 2003 Radbruch, Gustav: Vorschule der Rechtsphilosophie (hrsg. von A. Kaufmann), 3. Aufl. Göttin­ gen 1965 Röhl, Klaus F. / Röhl, Hans Christian: Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. München 2008 Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814 Schmitt, Carl: Staatsethik und pluralistischer Staat, Kant-Studien XXXV (1930), 28 Schmitt, Carl: Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950 Schneider, Hans: Gesetzgebung, 3. Aufl. Heidelberg 2002 Seinecke, Ralf: Das Recht des Rechtspluralismus, Tübingen 2015 Stammler, Rudolf: Wirtschaft und Recht, 5. Aufl. Berlin und Leipzig 1924 Stein, Friedrich: Die Kunst der Rechtsprechung, Dresden 1900 Stolleis, Michael: Vormodernes und postmodernes Recht, in: Quaderni Fiorentini 37 (2008), 543 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1972 (Erstdruck 1921/22) Wietfeld, Anne Christin: Die richtlinienkonforme Auslegung, Juristenzeitung 2020, 485

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Verzeichnis der zitierten oder in Bezug genommenen Literatur

Windscheid, Bernhard: Gesammelte Reden und Abhandlungen (hrsg. von P. Oertmann), Leipzig 1904 Wolff, Christian: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Halle 1754

Sach- und Personenregister affirmative action  86 Alexy, Robert  14, 120 Analogie  18 f. Archetypen  87 ff., 99 Argumentationsverbote  12 ff., 17, 30, 48, 56, 80 Artikelgesetz 115 Augustinus  101 f. Auslegung  18, 28 f., 44 f. – verfassungskonforme 118 Beamtenrecht 103 Begriffsjurisprudenz  74, 97 Begriffspyramide 99 Bestreiten  67 ff. Beweis  67 ff. Beweiswürdigung 70 Bildung 93 binäres System  66 ff., 82 f. Bismarck 115 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  95 Bundesstaat  100 f. Camorra 101 Canones  28 f., 74 Case Law  30 Demokratie  15, 76 Denken mit fremdem Kopf  14 f. Desinteresse, rationales  64 Diskurs – laienhafter  10 ff. – offener  10, 12, 16 – politischer 12 – praktischer  14, 120 Dworkin, Ronald  42, 83 Ehrlich, Eugen  100 Eigentum  16 f., 18, 26, 33 ff., 47 Einheitsmensch 92 Einigung im Prozeß  63 ff.

Einrede  27, 67 ff. Engisch, Karl  96, 106 Erwägungsgründe  104 f. Esser, Josef  41, 76 Europäische Union  98 Europäischer Gerichtshof  105 Europäisches Recht  103 f. Fallgruppen  38 f., 73 Fallnorm 74 Fallrecht  30, 38, 41 ff. Falltypen  26, 30, 33, 73 Finalprogramm  57 ff., 105 Folgenoptimierung 59 Fraktionen  113 ff. Frank, Hans  76 Freisler, Roland  76 Fremdenrecht 97 Friedrich der Große  51, 109 Gegennorm 27 Gehorsam, denkender  14 Gehorsamskunst 75 Generalklauseln  47 ff. Gerechtigkeit  75 ff. Geschlechtergerechtigkeit 91 Gesellschaft, pluralistische  116 Gesellschaftsvertrag 91 Gesetz – als Gestaltungsmittel  15, 44, 75, 105, 117 – als Rechtserkenntnisquelle  16, 81 f., 108, 120 – als Rechtsentstehungsquelle  81 – als Regelungsangebot  63, 66 Gesetzesentwürfe 110 Gesetzesmaterialien 45 Gesetzespositivismus  45, 79, 96, 117 Gesetzessprache  109 ff. Gesetzgebung  108 ff. Gesetzgebungsge- und -verbote  80

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Sach- und Personenregister

Gleichbehandlung  27, 33, 35, 46, 58, 77, 84 ff., 96, 106 Grundrechte  49, 79 f. Grundwerte  47, 50 Gruter, Margaret  94 Hartmann, Nikolai  79 Hauptnormen  20 f., 24, 27 Hedemann, Justus W.  48, 109 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  34, 79, 94 f. historische Rechtsschule  28, 74 Ideologie und Recht  94 Individualrechtsschutz 60 Input  25 f., 39, 65 internationales Privatrecht  98 Invention 42 Kant, Immanuel  76 f., 78 Kelsen, Hans  77, 85, 98, 101 Kettenroman 42 Kirchenrecht 103 Kohler, Josef  94 Kollegialgericht  71 f. Kollektiver Rechtsschutz  60 f. Konditionalbeziehung 21 Konditionalprogramm  20 f., 57 ff., 105 Konservativismus  89 f. Körperverletzung  33 ff., 47 Kultur  89, 91 ff. Lebensformen 93 Lebensschutz 80 Lepsius, Oliver  40 f. Liberalismus  88 f. Ludwig XIV.  96 Mafia 101 Marx, Karl  86 Menger, Anton  111 Menschen- und Bürgerrechte  78, 99 Ministerien  15, 113 Monokratie 15 Montesquieu 78 Müller-Arnold-Fall  51 f. Musterfeststellungsverfahren 60 Nachwelt 91

Natur der Sache  79 Naturgesetz 77 Naturrecht, relatives  79 Natur- und Vernunftrecht  77 f., 81, 118 Naturrechtskodifikationen 111 naturwissenschaftliche Erkenntnis  92 Nulla-poena-Grundsatz  19, 44 one-right-answer 83 Orwell, George  95 Output  25 f., 65 Paktentheorie 15 Pallaver  12, 54 Parlament  15, 113 f. Parteien  113 f. Pawlowski, Hans-Martin  120 Pekuniarvollstreckung  23 f. Phantasie  10, 42 Politik  10, 59, 116 ff. Pospišil, Leopold  30, 85, 101 Präjudizien  38, 46 Präklusion von Argumenten  12 f., 16 f., 18 Prinzipien  36 f., 40 ff., 48 Prinzipienlücken 46 Privatautonomie 63 Privatfürstenrecht  102 f. Prognose  57 f. Prozessuale Bündelung  59 f. Prozeßvergleich  65 f. Puchta, Georg Friedrich  97 Radbruch, Gustav  9, 40, 102 Realvollstreckung  23 f. reasoning from case to case  30 f., 35 f., 39, 42 f. Rechtseinheit  96 ff. Rechtsethnologie 100 Rechtsfall  51 ff. Rechtsfolgeanordnung  20 f., 24 f., 27 f., 37 Rechtsgefühl  10, 38 Rechtspluralismus  96 ff. Rechtssicherheit  44, 50 Reduktion von Komplexität  5, 12, 24 f., 45, 56 f. Religion  94 f.

Sach- und Personenregister Rhizom 99 Richtigkeitsvermutung  82, 120

Treu und Glauben  48 tribalistische Streitregulierung  53 f.

Savigny, Carl Friedrich von  78 Scheler, Max  79 Scheuklappen  12 f. Schießbefehl 102 Schleuse  17, 25, 44, 73 f., 101 Schlüssigkeit 70 Schmitt, Carl  100, 111 f. Schneider, Hans  110, 112 Schuldprinzip  40 f. Seinecke, Ralf  107 specific performance  23 Sozialismus  87 f. Sozialmoral 116 Ständegesellschaft 102 Stammler, Rudolf  79 Stein, Friedrich  71 Stolleis, Michael  100 Strafgesetz 21 Strafprozeß  18 f., 72 Subsidiaritätsprinzip 104 Subsumtion  27 ff. Syllogismus  28, 62

unbeteiligte Dritte  54 f.

Tatbestandsvoraussetzungen  10, 20 f., 24 f., 28 f., 37 f., 47

Verfahrensgestaltung 62 Verfassungswidrigkeit 118 Vermögen  16 f., 18, 26 Verständlichkeit  108 f. Vertretbarkeit  82 f. Völkerrecht 98 Volksrechte 32 Wahrheit  73 ff. Weber, Max  100, 102 Werte 79 Wertordnung 49 Wertphilosophie 79 Wieacker, Franz  48 Wille des Gesetzgebers  14, 45, 75 f., 81 Windscheid, Bernhard  76, 82 Wirksamkeit 101 Wolff, Christian  20 Wortsinn des Gesetzes  46 Zentralstaat  100 f. Zivilprozeß  55 f., 63 ff. Zwangsnormen  21 f.

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