Authentizität und Wiederholung: Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes [1. Aufl.] 9783839419243

Der Begriff der Authentizität erfährt seit einiger Zeit eine Renaissance. Die Sehnsucht nach unmittelbaren und einzigart

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German Pages 284 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
AUTHENTIZITÄT UND WIEDERHOLUNG IN DEN KÜNSTEN
Die Signatur als Authentifizierungsstrategie in der Kunst und im Autorendesign
Die Freiheit und das Authentische
Reproduzierte Originale und originale Reproduktionen. Zur Paradoxie von Authentizität in der Architektur
Die Wiederholung des Fotografischen in der Malerei. Zur Bildpoetik des Fotorealismus
Spielen, Wiederholen und Erinnern
RE-INSZENIERUNGEN VON GESCHICHTE UND KÜNSTLERISCHE REENACTMENTS
Jeremy Dellers Battle of Orgreave. Realismus und Realität im Reenactment
Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance. Marina Abramovićs The Artist is Present
Authentizität zweiter Ordnung. Das Begehren nach Echtheit bei Barthes, McCarthy und Mitchell/Warner
Genau so. Realitätseffekte in Die letzten Tage der Ceauşescus
Rekonkretisierungen. Der Filmemacher Romuald Karmakar über Das Himmler-Projekt und Hamburger Lektionen
AUTHENTIZITÄT UND WIEDERHOLUNG IN ALLTAGSKULTUR, POLITIK UND RELIGION
Standing at the Crossroads. Konstruktionen von Authentizität in der deutschen Rezeption des Blues
Reenactments und serielle Wiederholungen im politischen Alltagsgeschäft als Kommunikationsbrücken zwischen Politikern und Bevölkerung
Jesus reenacted. Authentizität und Wiederholung im Abendmahl
Autorinnen und Autoren
Bildnachweise
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Authentizität und Wiederholung: Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes [1. Aufl.]
 9783839419243

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Uta Daur (Hg.) Authentizität und Wiederholung

Uta Daur (Hg.)

Authentizität und Wiederholung Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes

Diese Publikation wurde gefördert durch die DFG und das Internationale Graduiertenkolleg »InterArt«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Vorlage und Fotografie von Uta Daur, Christian Müller-Tomfelde Lektorat: Uta Daur Satz: Uta Daur, Christian Müller-Tomfelde Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1924-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung

Uta Daur | 7

AUTHENTIZITÄT UND W IEDERHOLUNG IN DEN KÜNSTEN Die Signatur als Authentifizierungsstrategie in der Kunst und im Autorendesign

Annette Tietenberg | 19 Die Freiheit und das Authentische

Joseph Imorde | 35 Reproduzierte Originale und originale Reproduktionen. Zur Paradoxie von Authentizität in der Architektur

Olaf Gisbertz | 59 Die Wiederholung des Fotografischen in der Malerei. Zur Bildpoetik des Fotorealismus

Christian Pischel | 81 Spielen, Wiederholen und Erinnern

Regine Strätling | 105

RE-I NSZENIERUNGEN VON G ESCHICHTE UND KÜNSTLERISCHE R EENACTMENTS Jeremy Dellers Battle of Orgreave. Realismus und Realität im Reenactment

Wolfgang Brückle | 121 Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance. Marina Abramoviüs The Artist is Present

Mechtild Widrich | 147

Authentizität zweiter Ordnung. Das Begehren nach Echtheit bei Barthes, McCarthy und Mitchell/Warner

Florian Leitner | 167 Genau so. Realitätseffekte in Die letzten Tage der Ceauúescus

Milo Rau | 185 Rekonkretisierungen. Der Filmemacher Romuald Karmakar über Das Himmler-Projekt und Hamburger Lektionen

Im Gespräch mit Dietmar Kammerer | 199

AUTHENTIZITÄT UND W IEDERHOLUNG IN ALLTAGSKULTUR , P OLITIK UND RELIGION Standing at the Crossroads. Konstruktionen von Authentizität in der deutschen Rezeption des Blues

Michael Rauhut | 215 Reenactments und serielle Wiederholungen im politischen Alltagsgeschäft als Kommunikationsbrücken zwischen Politikern und Bevölkerung

Christoph Scheurle | 237 Jesus reenacted. Authentizität und Wiederholung im Abendmahl

Alexander Schwan | 255 Autorinnen und Autoren | 273 Bildnachweise | 279

Einleitung U TA D AUR

Der in der Diskussion um die sogenannte Postmoderne in Misskredit geratene Begriff der Authentizität erfährt seit einiger Zeit erneute Aufmerksamkeit. Dies belegen zahlreiche Publikationen, Tagungen und Ausstellungen der letzten Jahre zum Thema.1 Häufig wird angenommen, dass die Sehnsucht nach unmittelbaren und einzigartigen Erfahrungen umso stärker wird, je mehr die wahrhaftige Repräsentation des Wirklichen durch elektronische Medien bezweifelt wird.2 Während das Authentische im allgemeinen Verständnis Wahrhaftigkeit, Originalität, Einmaligkeit und Echtheit impliziert, wird Wiederholung mit Aneignungen, Kopien und Fakes verbunden.

1

Siehe z.B. Knaller, Susanne/Müller, Harro (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink Verlag 2006; FischerLichte, Erika et al. (Hg.): Inszenierung von Authentizität, 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Tübingen und Basel: A. Francke 2007; Graulund, Rune (Hg.): Desperately Seeking Authenticity: An Interdisciplinary Approach, Kopenhagen: Copenhagen Doctoral School in Cultural Studies, University of Copenhagen 2010; Müller, Marion G./Knieper, Thomas (Hg.): Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten, Köln: Halem 2003; Symposium »Authentizität – Sehnsucht nach der Wahrhaftigkeit in der Architektur«, Internationales Symposium zur Architekturtheorie, 28.1.2011 am KIT/Fakultät fuሷr Architektur in Karlsruhe.

2

Vgl. z.B. Heise, Katrin im Gespräch mit Bolz, Norbert: »Norbert Bolz: Sehnsucht nach Authentizität. Medienwissenschaftler über das Fernsehen«, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1148167/ vom 16.3.2012.

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Als einer der gefeierten Schlüsselbegriffe in der ›postmodernen Debatte‹ ersetzte Wiederholung – und verwandte Phänomene – die unermüdliche moderne Suche nach Einzigartigkeit, die nun als Illusion entlarvt wurde.3 Authentizität und Wiederholung erscheinen hier zunächst als unvereinbar. Dass sie aber häufig miteinander einhergehen, sich wechselseitig ergänzen oder sogar bedingen, zeigen die Beiträge im vorliegenden Band, der sich dem paradoxalen Verhältnis der beiden Phänomene aus interdisziplinärer Sicht nähert. So manifestiert sich ein scheinbarer Widerspruch von Authentizität und Wiederholung in unterschiedlichen Ausprägungen nicht nur in Malerei, Literatur, Film, Architektur, Design und Performance, sondern auch in künstlerischen und populärkulturellen Reenactments, in religiöser Praxis, in der Popkultur, in Politikdarstellungen und weiteren gesellschaftlichen Bereichen. Das Bedeutungsspektrum des Begriffs Authentizität ist breit. Er wird im Deutschen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verwendet, war aber kein zentrales Wort der Moderne, sondern wird erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem solchen gemacht.4 Authentizität verweist unter anderem auf Echtheit im Sinne eines Originals, auf Glaubwürdigkeit, auf Urheberschaft und Täterschaft und damit auch auf Autorität, letzteres vor allem in Bezug auf Personen.5 Im 20. Jahrhundert erhält der Begriff zusätzlich die Bedeutung von wahrhaftig, wahr, genuin und wird in diesem Wortsinn auch für die Künste verwendet. In der Kunsttheorie der Moderne beinhaltet der Authentizitätsbegriff einen ästhetischen Wert, wenn er im Sinne

3

Auch das Thema ›Wiederholung‹ trifft nach wie vor auf Interesse, so z.B. in der Ausstellungspraxis: »Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube«, Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. 21.4.2012– 5.8.2012; »Cultures of Copy. Eine Ausstellung zu Kunst und Kopie«, 26.11.2010–20.2.2011, Edith-Russ-Haus für Medienkunst, in Kooperation mit dem Goethe-Institut Hongkong.

4

Knaller, Susanne/Müller, Harro: »Einleitung. Authentizität und kein Ende«, in: dies. (Hg.): Authentizität, S. 7–16, hier S. 7f. Laut Knaller/Müller machte Adorno Authentizität auch zu einem der wesentlichen Begriffe der ästhetischen Moderne. Ebd., S. 12.

5

Vgl. hier und im folgenden Knaller, Susanne: »Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs«, in: dies./Harro Müller (Hg.): Authentizität, S. 17–35.

E INLEITUNG | 9

von »wahrhaftig, originell, unverfälscht« benutzt wird.6 In dieser Bedeutung wird er für den Diskurs der Zuschreibung und für die Echtheitsbestimmung von Kunstwerken relevant. Seit den 1950er Jahren wird der Begriff unter anderem auch in Musik-Bewegungen wie der Early Music Movement, einer Bewegung, die sich um eine möglichst akkurate historische Aufführungspraxis mit sogenannten Originalinstrumenten bemüht, und in der Populärkultur, zum Beispiel im Reenactment, in der Bedeutung von ›historisch wahr‹, verwendet. Authentizität, insofern sie auch hier der Echtheitsbestimmung dient, ist somit »ein Schlüsselbegriff im Umgang mit Geschichte« und ist konstitutiv für deren Darstellungen. 7 Heuristisch wird oft zwischen Objekt- und Subjektauthentizität differenziert. Objektauthentizität bezeichnet zum Beispiel einen authentischen Text, authentische Kunstwerke, Fotografien, historische Darstellungen, Ausstellungsobjekte und Aufführungen,8 wenn eine Urheber- oder Autorenschaft durch befähigte Autoritäten nachgewiesen oder zugeordnet werden kann.9 Subjektauthentizität verweist beispielsweise auf eine authentische Existenz oder Selbstdarstellung.10 Das Handeln einer solchen als authentisch wahrgenommenen Person ist nicht durch Fremdeinflüsse geprägt, sondern wird von einem Beobachter als von-der-Person-stammend, als ›echt‹ und ungekünstelt wahrgenommen. Diese Form der Authentizität wird bei der Selbstdarstellung von Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens relevant. Ein spezifischer Fall ist der moderne Künstler, der »im Einklang mit sich selbst, im quasi-genialen Auftrag einer höheren Ordnung« Kunst schafft und sich dadurch als authentisch erweist.11 Authentizität als eine moderne Kategorie verweist außerdem auf das Be-

6 7

Ebd., S. 20. Pirker, Eva Ulrike/Rüdiger, Mark: »Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen: Annäherungen«, in: dies. et al. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 11–30, hier S. 14.

8

Saupe, Achim: »Authentizität, Version: 1.0«, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 11. 2.2010, https://docupedia.de/zg/Authentizit.C3.A4t?oldid=75505.

9

Knaller, Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs, S. 22.

10 Saupe, Achim: »Authentizität«. 11 Pirker/Rüdiger: »Authentizitätsfiktionen«, S. 15

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gehren nach der Echtheit und Unmittelbarkeit von Erfahrungen und Erlebnissen, nach kohärenter Identität und Ursprünglichkeit. Eine Sicht auf Authentizität, die »das Authentische als Ausdruck von Identität, Essenz und Unvermitteltheit« betrachtet, wird aber zumindest im intellektuellen Umfeld längst als historisch überholt betrachtet und besteht »nur noch als Ruine« in unserem Denken.12 Heute sprechen wir im wissenschaftlichen Diskurs meist nicht von Authentizität an sich, sondern von Authentizitätssehnsüchten, Authentizitätsfiktionen, Authentizitätseffekten und Authentifizierungs- und Inszenierungsstrategien, die das Authentische hervorbringen.13 Diese Sicht blühte verstärkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, wie die folgenden zwei Beispiele verdeutlichen. Verbunden mit der Auffassung von Authentizität als konstruiert wurden in der Kunstdiskussion seit den 1960er Jahren, besonders im Zuge der Originalitätsdebatte, verschiedentlich Wiederholungsphänomene zur Diskussion gebracht. Hierzu zählen unter anderem Rosalind Krauss’ Ausführungen zur Originalität der Avantgarde und der von ihr für die Appropriationskunst verwendete Wiederholungsbegriff.14 Die Wiederholung in ihren verschiedenen Varianten (als Kopie, als Fake, als Aneignung etc.) galt als einer der gefeierten Schlüsselbegriffe in der sogenannten postmodernen Debatte, die die Bedeutung von Originalität in der Kunst relativierte. Auch in den Kultur- und Geschichtswissenschaften erfreuten sich Wiederholungsphänomene einer regen Aufmerksamkeit. So publizierte der amerikanische Historiker Hillel Schwartz Mitte der 1990er Jahre seine These einer »Culture of the Copy«, die besagt, dass sich unsere Gesellschaften weitgehend durch eine Kultur der Reproduktion, die alle Lebensbereiche durchdringt, charakterisieren lassen.15 Immer bessere Reproduktions-,

12 Huyssen, Andreas: »Zur Authentizität von Ruinen: Zerfallsprodukte der Moderne«, in: Knaller/Müller (Hg.): Authentizität, S. 232–248, hier S. 232. 13 Siehe hierzu z.B. Fischer-Lichte et al. (Hg.): Inszenierung von Authentizität; Pirker et al. (Hg.): Echte Geschichte. 14 Siehe Krauss, Rosalind: »The Originality of the Avant-Garde: A Postmodernist Repetition«, in: October 18 (1981), S. 47–66. 15 Siehe Schwartz, Hillel: Déjà vu. Die Welt im Zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit, Berlin: Aufbau-Verlag 2000 (Originaltitel: The Culture of the Copy. Striking Likenesses, Unreasonable Facsimiles, New York: Zone Books 1996).

E INLEITUNG | 11

Simulations- und Digitalisierungstechniken machen es häufig unmöglich, zwischen Original und Kopie, Vorbild und Abbild oder sogar Realität und Fiktion zu unterscheiden. Schwartz nimmt an, dass unsere Sehnsucht nach Einmaligkeit abnimmt, wenn wir uns verantwortlich mit den Kopien und Fälschungen auseinandersetzen. Auf diese Weise können wir zu einem besseren Verständnis unserer Identität und gemeinschaftlicheren Umgang miteinander finden.16 Wiederholung, wie sie in den folgenden Beiträgen konzipiert wird, ist meist nicht gleichzusetzen mit einer exakten Kopie oder Reproduktion. Vielmehr weist sie eine Differenz zu ihrem Vorgänger auf: Gerade in diesem Unterschied liegt eines der Potentiale einer Wiederholung. In der vorliegenden Publikation geschieht die Diskussion um Authentizität nicht in der Opposition zu Wiederholungsphänomenen, sondern in der konstruktiven Auseinandersetzung mit ihnen. Denn obwohl Authentizität und Wiederholung zunächst als unvereinbar erscheinen mögen, so gehen sie doch häufig miteinander einher. Diesem Paradox bzw. scheinbaren Widerspruch nähert sich der Band in dreifacher Hinsicht. Erstens wird der Zusammenhang der beiden Phänomene in den verschiedenen Künsten untersucht. Zweitens werden Re-Inszenierungen von Geschichte und künstlerische Reenactments thematisiert. Drittens wird sich das Paradox von Authentizität und Wiederholung auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zeigen, wie in Politik, Popkultur und Religion. Auch wenn die einzelnen Autoren das Verhältnis von Authentizität und Wiederholung aus der Sicht verschiedener Disziplinen angehen, gibt es zwischen den drei Teilen des Bandes zahlreiche Querbezüge und Zusammenhänge. Die Diskussion um Authentizität und Wiederholung in den Künsten wird beispielsweise an Fragen der Autorschaft und Urheberschaft demonstriert. Welche Rolle spielt heute noch die Original/Reproduktionsdebatte in Kunst, Architektur und Design? Wie äußert sich das Authentizitätsparadox in Bezug auf die moderne Malerei und den modernen Künstler? Annette Tietenberg eröffnet den Band mit einem Beitrag über die unterschiedlichen Funktionen der Signatur in der Kunst und im Autorendesign und legt dar, wie sich die Bedeutung der Signatur als Authentifizierungsstrategie historisch gewandelt hat. Dabei geht sie der Frage nach, inwieweit Signaturen auf industriell und seriell produzierten Objekten Authentizität

16 Schwartz: Déjà vu, S. 407f.

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beanspruchen können. Im Anschluss widmet sich Joseph Imorde Positionen der modernen gegenstandslosen Malerei, die trotz zunehmender Repetitionen im Kunstdiskurs der 1950er Jahre als künstlerisch authentisch und damit auch als Ausdruck politischer Freiheit zelebriert wurden. In diesem Zusammenhang untersucht er die Rezeption des abstrakten Expressionismus in Europa und unterzieht die Authentizitätsbehaupungen der deutschen gegenstandslosen Malerei und ihrer Exegeten einer kritischen Analyse. In der Architektur zeigt sich das Paradox von Authentizität und Wiederholung besonders in denkmalpflegerischen Diskussionen um Rekonstruktionen, aber ein differenzierter und aktueller Rückblick auf diese Diskussionen steht noch aus: Anhand der (Ideen-)Geschichte architektonischer Rekonstruktionen beleuchtet Olaf Gisbertz diese lebhafte Debatte, die sich in den letzten 200 Jahren häufig zwischen den Polen ›echt‹ und ›unecht‹ bewegte. Im Zentrum seiner Argumentation steht die europäische Baukultur des 19. Jahrhunderts. Im nächsten Beitrag manifestieren sich Authentizität und Wiederholung im Verhältnis unterschiedlicher Medien und ihrem Bezug zur Wirklichkeit. Christian Pischel argumentiert, dass der Fotorealismus in der Malerei nicht bloß das Dokumentarische der Fotografie mit malerischen Mitteln wiederholt, sondern die Gemälde ästhetische Qualitäten besitzen, die den Fotorealismus als eigenständige Beschreibungsmöglichkeit für alle Bildmedien, einschließlich der Fotografie, befähigen. Mit Rückgriff auf Bergsons Bildkonzept arbeitet er theoretisch die inneren Bildrelationen dieser Gemälde aus und stellt eine gemeinsame Poetik dieser Bilder fest. Im letzten Beitrag des ersten Teils des vorliegenden Bandes untersucht Regine Strätling Formen autobiographischen Schreibens am Beispiel eines Projekts des französischen Schriftstellers und Soziologen Georges Perec. Vor dem Hintergrund von Spieltheorien und psychoanalytischen Konzepten zur Wiederholung entdeckt sie die Paradoxie von Authentizität und Wiederholung bei Perec nicht als Widerspruch, sondern als Bedingung, um Erinnerungsprozesse zu ermöglichen. Besonders markant zeigt sich die Koexistenz von Authentizität und Wiederholung bei Re-Inszenierungen bedeutsamer Ereignisse der Geschichte, einschließlich der Kunstgeschichte. In aktuellen künstlerischen, filmischen und soziokulturellen Praktiken, die historische Ereignisse aufführen, kreuzen sich die zur Diskussion stehenden Phänomene. Im zweiten Teil des Bandes werden daher unterschiedliche Formen solcher Aufführungen von Geschichte vorgestellt: künstlerische Praktiken des Reenactments

E INLEITUNG | 13

und der Reperformance sollen ebenso auf ihren Umgang mit Authentizität hin beleuchtet werden wie Re-Inszenierungen historischer Ereignisse im Dokumentarfilm. Im populärkulturellen Reenactment, das im angloamerikanischen Bereich seit den 1960er Jahren besonders virulent ist und inzwischen auch in verschiedene TV-Formate Einzug gefunden hat, wird ein konkretes geschichtliches Ereignis möglichst ›authentisch‹ rekonstruiert und neu inszeniert. Diese Wiederholung kann dazu dienen, ein historisches Ereignis besser verständlich und nachvollziehbar zu machen. In den letzten 20 Jahren treten vermehrt auch künstlerische Formen des Reenactments und der historischen Re-Inszenierung auf. Hier werden meist jüngere historische Ereignisse auf ihre Bedeutung für die Gegenwart hin befragt und vom Betrachter beispielsweise in der Position eines Zeugen oder eines Teilnehmers erlebt.17 Wie Steve Rushton feststellt, bilden Formen des Reenactments in der Kunst, obwohl zahlreich vertreten, keine einheitliche Kunstbewegung – kein »artworld living museum« – da ihre Zielsetzungen zu unterschiedlich sind.18 Die Bandbreite reicht von Re-Inszenierungen politisch und historisch bedeutender Ereignisse über Reenactments berühmter Popkonzerte und psychologischer Experimente bis hin zu Wiederaufführungen von Ereignissen der Performance Art, die die Geschichte und Geschichtsschreibung dieser Kunstrichtung kommentieren. Bei diesem breiten Themenbereich werden Fragen zu den Potentialen und Grenzen künstlerischer Wiederaufführungen historischer Ereignisse relevant und der Rolle von Authentizität in diesen Praktiken. Was für ein ›Ausschnitt‹ von Geschichte wird jeweils gewählt und welche Funktion erfüllt seine erneute Aufführung? Wie kann Wiederholung für die Befragung dominanter Geschichtsschreibung genutzt werden? Eines der Poten-

17 Vgl. Arns, Inke: »History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance«, in: dies. und Gaby Horn: History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Ausstellung im Hartware MedienKunst Verein and KW Institute for Contemporary Art, Frankfurt am Main: Revolver 2007, S. 37–63, hier S. 42–48. 18 Rushton, Steve: »Tweedledum and Tweedeledee resolved to have a battle«, in: Anke Bangma, Steve Rushton, Florian Wüst (Hg.): Experience, Memory, Reenactment, Piet Zwart Institut (Fine Art) der Willem de Kooning Academy Rotterdam, Frankfurt am Main: Revolver 2005, S. 5–12, hier S.7.

14 | U TA D AUR

tiale der Wiederholung durch das Reenactment liegt im Insistieren auf einem konkreten geschichtlichen Ereignis, das noch nicht völlig verstanden oder verarbeitet wurde oder, trotz seiner Relevanz für die Gegenwart, nicht mehr beachtet wird.19 Geschichte wird erfahrbar gemacht, auch für den, der das historische Ereignis selbst nicht erlebt hat. Im ersten Beitrag des zweiten Teils dieses Bandes widmet sich Wolfgang Brückle einer umfassenden monografischen Analyse von Jeremy Dellers Battle of Orgreave, um Intentionen und Wirkungen des künstlerischen Reenactments herauszustellen. Er revidiert gängige Interpretationsmuster, die beispielsweise auf Nicolas Bourriauds Esthétique relationelle fußen, und demonstriert, wie es Dellers Arbeit gelingt, die Grenze zwischen historischem Ereignis und Reenactment respektive Authentizität und Wiederholung zu überwinden. Während in Battle of Orgreave ein historisch bedeutsames Ereignis reinszeniert wird, variiert Marina Abramoviüs Performance The Artist is Present, die im Zentrum von Mechtild Widrichs Beitrag steht, eine Arbeit der Künstlerin aus den 1980er Jahren. Anhand dieser Arbeit und der Ausstellung mit dem gleichen Titel geht Widrich der Frage nach, wie sich ein zentrales Problem der Performancetheorie, die Wahrnehmung von Präsenz, durch Phänomene der Wiederholung (Wiederaufführung, Dokumentation und Mediatisierung) gestaltet. Trotz solcher Repetitionen ist Präsenz nach Widrich weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Erfahrung und Rezeption von Performance. Gesteigerte Mediatisierung führt hier nicht dazu, dass der Live-Charakter einer Performance abnimmt, sondern dass Präsenz für die Betrachter als zentraler Bestandteil der Performance erfasst wird. Auch Florian Leitner zeigt, dass Mediatisierung die Grundlage von Authentizitätserfahrungen und -sehnsüchten sein kann. Anhand verschiedener Beispiele aus Philosophie, Literatur und Theater/Medienkunst untersucht er die Ursachen der aktuell zu verzeichnenden Sehnsucht nach Authentizität und wie sie von Fotografie und Film bedingt wird. Die folgenden zwei Beiträge stammen von Künstlern, die geschichtliche Ereignisse in unterschiedlicher Form auf die Bühne bzw. Leinwand bringen. So verfolgt Milo Rau im Reenactment das Ideal, Geschichte nicht nur nachzuerzählen, sondern selbst zu schaffen. Am Beispiel seiner Inszenierung Die letzten Tage der Ceauèescus beschreibt er Reenactments als ausgedehnte Realitäts-Effekte, die durch minutiös recherchierte historische Gescheh-

19 Vgl. Arns: »History Will Repeat Itself«, S. 62.

E INLEITUNG | 15

nisse den Zuschauer Geschichte hautnah erleben lassen. Von der öffentlichen Berichterstattung ignorierte Details werden sichtbar gemacht, wodurch unaufgearbeitete und gegenwärtig relevante geschichtliche Themen neu zur Diskussion gestellt werden. Der Filmemacher Romuald Karmakar umschreibt seine Bearbeitungen historischer Ereignisse als Rekonkretisierungen. Hier geht es nicht darum, ein Ereignis in authentisierender Weise nachzustellen, aber auch hier soll offizielle Geschichtsschreibung hinterfragt und auf ihre vermeintliche Authentizität hin geprüft werden. Im Interview mit Dietmar Kammerer erläutert Karmakar seine Vorgehensweisen und künstlerischen Absichten der Filme Das Himmler Projekt und Hamburger Lektionen. Schließlich wird im dritten und letzten Teil des Bandes das Paradox von Authentizität und Wiederholung in Politik, Religion und Popkultur beleuchtet. In den aufführenden Künsten wie auch in der Selbstdarstellung von Politikern ist ein Eindruck von Authentizität oft an den Live-Charakter der jeweiligen Veranstaltung gebunden. Aber wie authentisch wird der Ausdruck der Schauspieler, Musiker oder Politiker nach wiederholter Aufführung noch vermittelt? Welchen Einfluss haben unterschiedliche Aufführungskontexte und Übertragungsmedien auf die Authentizität des Erlebten? In der Popmusik spielen Authentizität und Wiederholung eine Rolle, etwa, wenn es um die Frage geht, wie trotz Vermarktungsstrategien der Musikindustrie und Repetitionen in der Musik letztere als authentisch wahrgenommen werden kann. So ist die Diskussion des Blues geprägt von Authentizitätsdiskursen, die in scheinbarem Kontrast zu Praktiken der Normierung der Musikindustrie stehen. In diesem Zusammenhang untersucht Michael Rauhut die Vermittlung und Rezeption des Blues in Ost- und Westdeutschland. Drei Phänomene stehen dabei im Zentrum seines Beitrags: die American Folk Blues Festivals, das Selbstverständnis des German Blues Circle in der BRD und der Blues als Lebensstil in der DDR. Anhand von Beispielen aus der politischen Praxis stellt schließlich Christoph Scheurle verschiedene Verfahren vor, die eine Botschaft authentisch erscheinen lassen und paradoxerweise (durch Wiederholungsakte) gleichzeitig deren ›Authentizität‹ in Frage stellen. In diesem Kontext beleuchtet er die diesen Beispielen zugrundeliegenden Authentizitätskonzeptionen. Der Band schließt mit einem Beitrag von Alexander Schwan, der das herkömmliche geisteswissenschaftliche Verständnis von Präsenz im Abendmahl mit Bezugnahme auf unterschiedliche Abendmahlstheologien

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revidiert und unter Berücksichtigung von Absenzmodellen für Theater- und Tanzwissenschaft differenziert. Dabei konzipiert er das Abendmahl als Reenactment und geht der Frage nach, wie die behauptete Authentizität dieses Ereignisses in den jeweiligen theologischen Auffassungen begründet wird. Die einzelnen Beiträge befassen sich mit diesen und weiteren Problemstellungen, womit sie eine mannigfaltige und aktuelle Sicht auf das komplexe Verhältnis von Authentizität und Wiederholung bieten. Der vorliegende Band geht zurück auf die interdisziplinäre Tagung »Authentizität/Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes«, die die Herausgeberin im Dezember 2010 an der Freien Universität Berlin veranstaltete. Eine Auswahl der Beiträge ist in dieser Publikation versammelt. Allen Referenten sei für die hohe Qualität ihrer Beiträge und die rege Diskussion gedankt. Die Tagung fand im Rahmen der Veranstaltungen des Internationalen Graduiertenkollegs »Interart« statt, dessen Mitgliedern herzlicher Dank gebührt. Für tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung danke ich besonders Dietmar Kammerer, Regine Strätling, Rüdiger Weißkirchen, Naomi Fukuzawa und Johanna Barall. Jan Wenke, Naomi Fukuzawa und Jens Ossadnik sei für Korrekturarbeiten gedankt. Stefanie Hanneken vom transcript Verlag danke ich für die Betreuung der Publikation. Für die finanzielle Förderung, die sowohl Tagung als auch Publikation ermöglichte, geht mein Dank an die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Authentizität und Wiederholung in den Künsten

Die Signatur als Authentifizierungsstrategie in der Kunst und im Autorendesign A NNETTE T IETENBERG

Für die Provenienzforschung, aber auch für den Kunsthandel ist die Signatur seit jeher von Bedeutung. Sie spielt eine entscheidende Rolle, wenn es um Zuschreibungen und Fragen der Urheberschaft geht, wenn Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Fotografien und Skulpturen mit Künstlerbiografien in Verbindung gebracht oder Chronologien entworfen werden.1 Im methodischen Repertoire einer Wissenschaft wie der Kunstgeschichte, die ihre historischen Wurzeln im kriminalistischen Denken des 19. Jahrhunderts hat – Identifizierung des Täters, Rekonstruktion der Tat, Aufdecken des Motivs, Entschlüsselung eines verborgenen Sinns –, fungiert die Signatur als Indiz im Prozess des Echtheitsnachweises und als Datierungshilfe.2 So wird der Erarbeitung von Signatur- und Monogramm1

Burg, Tobias: Die Signatur. Formen und Funktion vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert, Münster u.a.: Lit Verlag 2007; Dietl, Albert: Die Sprache der Signatur – Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 4 Bände, hg. von Alessandro Nova und Gerhard Wolf), Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2009.

2

Vgl. Ginzburg, Carlo: Spurensicherung, Berlin: Wagenbach 1983; Prange, Regine: Die Geburt der Kunstgeschichte. Philosophische Ästhetik und empirische Wissenschaft, Köln: Deubner Verlag 2004.

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katalogen traditionell großer Wert beigemessen.3 Unter Verwendung derartiger Verzeichnisse, Lexika und Datenbanken werden Vergleiche angestellt, Schriftzüge studiert und Argumente formuliert, um die Frage zu klären, wer diese oder jene künstlerische Hinterlassenschaft hervorgebracht haben könnte. Zudem lässt die Anbringung einer Signatur den Schluss zu, dass der Künstler durch seine eigenhändige Unterschrift zu erkennen geben wollte, dass das Werk vollendet ist – und nicht zuletzt, dass es seinem künstlerischen Rang entspricht. Hätte er sich sonst namentlich dazu bekannt? Jenseits der Dimension des Echtheitsnachweises wird die Signatur in ihrer Funktion als identitätsstiftendes Element untersucht. Denn in Anlehnung an die auf Vasaris Viten basierenden Narrationsmuster, wonach die Renaissance den selbständig denkenden und handelnden Künstler erst hervorgebracht habe, lässt sich die Signatur – wie Karin Hellwig und Tobias Burg gezeigt haben – als Anzeichen eines erstarkenden Selbstbewusstseins des Künstlers und der Wertschätzung individueller Leistung seit der Frühen Neuzeit deuten.4 Obschon, sofern man Athenaios, Plutarch und Plinius Glauben schenken darf, das Sich-Einschreiben in Bilder und Skulpturen bereits von Parrhasios und Apollodorus praktiziert wurde,5 sind es vor allem die Signaturen von Dürer, Rembrandt und Cranach, denen die Kunstgeschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert nachging, angetrieben von dem nicht anders als zweifelhaft zu bezeichnenden Versuch,

3

Vgl. Van Wilder, Frank: Signatures & monogrammes d’artistes des XIXe et XXe siècles, Paris: Verlag Van Wilder 1998; Kähler, Ruth: Internationales Verzeichnis der Monogramme bildender Künster seit 1850, Berlin: de Gruyter 1999; Hoftichova, Petra: Katalog der Künstler-Signaturen zur schnellen Zuordnung von Kunstwerken, Regenstauf: Battenberg-Verlag 2010; Pfisterer, Paul: Signaturenlexikon, Berlin: de Gruyter 1999; Castagno, John: Abstract Artist. Signatures and Monograms. An international Directory, Lanham: The Scarecrow Press, Inc. 2007.

4

Hellwig, Karin: Von der Vita zur Künstlerbiographie, Berlin: Akademie Verlag 2005; Burg: Die Signatur.

5

Athenaios: Das Gelehrtenmahl, hg. von Peter Wirth, Stuttgart: Verlag Hirsemann 1998; Plutarch: Biographien des Plutarch, Wien/Prag: Verlag Franz Haas 1796; Plinius: Naturkunde. Buch XXXV. Farben, Malerei, Plastik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997.

D IE S IGNATUR ALS A UTHENTIFIZIERUNGSSTRATEGIE | 21

Abb. 1: Thilo Droste, Unter Freunden, 2008, 26 Aquatinta-Radierungen, je 25 x 25 cm, Aufl. 7 Ex. durch die sogenannte Händescheidung das, was einst in großen Werkstätten in kollektiver Arbeit entstanden war, eindeutig einem Meister oder zumindest seinen engsten Mitarbeitern ad personam zuzuordnen. Die Ergebnisse kunsthistorischer Forschung wirken sich selten so radikal und nachhaltig auf Marktpreise und Versicherungssummen aus wie im Fall der Händescheidung, denn der Wert eines Kunstwerks kann – je nachdem, ob es, ausgehend von einer Signatur, als ›authentisches Meisterwerk‹ oder als Erzeugnis einer Werkstatt, eines Umkreises, einer Schule oder gar als Kopie eingestuft wird – ins nahezu Unermessliche steigen oder ins Bodenlose fallen. So wurde Claude Monets Gemälde Am Seine-Ufer bei Porte-Villez, das sich seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Kölner Wallraf-Richartz-Museum befindet, 2008 als Fälschung entlarvt, nachdem es einer Infrarot-Untersuchung unterzogen worden war, bei der sich herausstellte, dass die Signatur des Werks nicht mit der üblichen Signierpraxis des Künstlers übereinstimmt. Die ersten drei Buchstaben des Vornamens »Claude« sind, wie die Durchleuchtung erkennen ließ, zuerst

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mit grauer Pinselschrift zaghaft aufgetragen, der gesamte Schriftzug anschließend mit brauner Farbe übermalt worden. So aber war Monet nachweislich nie vorgegangen.6 Die Signatur brachte es an den Tag: Weder sie noch das Bild stammten von der Hand Monets. Restaurierungsergebnisse sind daher im Kontext von Zuschreibungsfragen eine nicht zu vernachlässigende Größe. Beispielsweise kam im Zuge von Restaurierungen im Jahr 1974 Donatellos Signatur am Sockel der Skulptur der Johannesstatue in der venezianischen Frari-Kirche zum Vorschein, 7 und im Jahr 2005 tauchte unter einer Übermalung eine cartellino-Signatur Antonello da Messinas im Gemälde des Hl. Sebastian in Dresden auf.8 Auch die rechtliche Seite ist von Belang. Im Zuge sogenannter Fälscherprozesse, wie jüngst im Falle der Sammlung Jägers,9 hat die Signatur eine juristisch verbindliche Aussagekraft. Allerdings weist Arnulf von Ulmann, Leiter des Instituts für Kunsttechnik und Konservierung am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, darauf hin, dass eine Kopie zwar kein Original sei, aber deshalb noch lange nicht zwangsläufig eine Fälschung sein müsse.10 Mit Hilfe von Röntgenverfahren und Infrarotapparaturen sowie Fluoreszenzfotografien gelingt es Ulmann, Unterzeichnungen

6

Pressemitteilung der Stadt Köln vom 15.2.2008, http://www.stadt-koeln.de/1/

7

Vgl. Wolters, Wolfgang: »Freilegung der Signatur an Donatellos Johannesstatue

8

Burg, Tobias: »Augentrug und Künstlerlob. Die neu entdeckte Signatur des

presseservice/mitteilungen/2008/02148/ vom 11.7.2011. in S. Maria dei Frari«, in: Kunstchronik 27 (1974), S. 83. Dresdener Antonello«, in: Andreas Henning/Günter Ohlhoff (Hg.): Antonello da Messina. Der heilige Sebastian. Kabinettausstellung anlässlich der Restaurierung des Gemäldes. Ausstellungskatalog Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden im Semperbau, Dresden: Sandstein Verlag 2005, S. 39–45. 9

Gropp, Rose-Maria: »Die heilige Kuh heißt Provenienz«, in: FAZ vom 10.9.2010,

http://www.faz.net/artikel/C30351/faelschungsskandal-die-heilige-

kuh-heisst-provenienz-30306670.html vom 11.7.2011. 10 Ulmann, Arnulf von: »Dem Original getreu nachgemalt. Zu den liturgischen Gewändern am Triumphkreuz von Bernt Notke, 1477«, in: Anna MorahtFromm (Hg.): Unter der Lupe. Neue Forschungen zu Skulptur und Malerei des Hoch- und Spätmittelalters, Ulm/Stuttgart: Thorbecke Verlag 2000, S. 147–160.

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und Pentimenti11 sichtbar zu machen und so der Machart von Bildern auf den Grund zu gehen. Aber er warnt davor, gleich von einer Fälschung zu sprechen, erweist sich ein Bild nicht als ›echt‹. Fälschung sei ein juristisch präzise definierter Begriff: Erst eine falsche Signatur beweise den Betrugsversuch. Insofern dürfte sich der vom Kölner Auktionshaus Lempertz hinzugefügte Satz, »Signatur und Verbleib unbekannt«,12 der sämtlichen der sogenannten Sammlung Jägers entstammenden Werken in den Auktionskatalogen an die Seite gestellt wurde, vermutlich als kluger Schachzug erweisen. Dass von einer Fälschung im juristischen Sinne erst die Rede sein kann, wenn eine Signatur imitiert wurde, bestätigt auch Ernst Schöller, Kriminalhauptkommissar am Landeskriminalamt Baden-Württemberg. 13 Schmunzelnd erinnert er sich daran, dass er früher alle sechs Monate bei Konrad Kujau, dem prominentesten Kunstfälscher Deutschlands, vorbeigeschaut habe, um diesen davon abzuhalten, die Schwelle zur kriminellen Handlung zu überschreiten. So riet er Kujau beispielsweise davon ab, die Grenzen dessen, was justiziabel ist, mit Hilfe eines Tricks auszuloten und abwaschbare Farbe zu verwenden, um Signaturen anderer Künstler nachzuahmen. Auch eine solche Tat, wiewohl reversibel, hätte als strafrechtlich relevantes Delikt geahndet werden können. Sieht man einmal von ihrer formaljuristischen Bedeutung ab, so provoziert die Signatur eine Fülle von Forschungsfragen, die Ansätze der Bildwissenschaft und Theorien der Autorschaft berühren.14 Wie Karin Gludovatz anhand einer Deutung von Goyas Bildnis der Herzogin von Alba (1797) nachweisen konnte, lässt sich die Künstlersignatur im Sinne des pictorial turn produktiv als Zusammenprall von Text und Bild deuten, denn, so Gludovatz, »die Künstlersignatur stellt in der Geschichte der bildenden Kunst die einzige Form von Schrift dar, die innerhalb eines den

11 Als Pentimenti bezeichnet man Spuren bzw. stellenweise Übermalungen, die erkennen lassen, dass der Künstler während der Bildproduktion Korrekturen an der Bildkonzeption vorgenommen hat. 12 Gropp: »Die heilige Kuh heißt Provenienz«. 13 Prummer, Karin: »Der falsche Fuffziger«, in: Süddeutsche Magazin 47 (2010), S. 28–33. 14 Jannidis, Fotis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000.

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Gesetzen der Nachahmung (Mimesis) folgenden Bildgefüges inserierbar war, ohne erst auf der erzählerischen Ebene legitimiert werden zu müssen.«15 Künstlerinnen und Künstler können mit Hilfe der Signatur dem Werk demnach nicht nur einen Authentizitätsnachweis, sondern auch eine Metaerzählung oder einen Subtext implementieren. So liegt es nahe, die Signatur als selbstreferenzielles ästhetisches Phänomen zu interpretieren, das diverse Möglichkeiten autorschaftlicher Selbstinszenierung in sich birgt. Karin Gludovatz vermutet sogar, dass in der Marginalisierung der Signatur ihr spezifisches Potenzial liege. Sie eigne sich in idealer Weise zur Kommentierung des künstlerischen Schaffensprozesses und zur Infragestellung geläufiger Wertschöpfungsmodelle. 16 Diese Beobachtung trifft nicht nur auf die Kunst der Frühen Neuzeit zu, sondern auch, und zwar in weitaus höherem Maße, auf die Kunst des 20. Jahrhunderts. Auf welch unterschiedliche Weise die Signatur selbstreflexiv und institutionenkritisch eingesetzt werden kann, lässt sich anhand künstlerischer Praktiken von Marcel Duchamp, Andy Warhol und Eva Hesse aufzeigen. Mit dem Einschleusen von Fountain – einem handelsüblichen, jedoch um 90 Grad gedrehten Urinal aus dem Sanitärhandel – in die Ausstellung der Society of Independent Artists, die im Jahr 1917 in New York stattfand, hatte Marcel Duchamp im Schatten des Ersten Weltkriegs eine Frage aufgeworfen, die bis heute virulent ist: Was macht einen industriell hergestellten, massenhaft vorkommenden Gebrauchsgegenstand zu einem Kunstwerk? Seine Antwort lautete: die Signatur, die Datierung, die werkgerechte Platzierung, mithin der Rahmen oder Sockel, der den Gegenstand über die Zone des Alltäglichen erhebt, der Werktitel, und nicht zuletzt der institutionelle Kontext, der Ausstellungsraum. 17 Im 20. Jahrhundert muss ein Kunstwerk nicht eigenhändig vom Künstler geschaffen, es muss nicht einmalig sein, aber es muss von einem

15 Gludovitz, Karin: »Schriftbilder. Vom Wesen und Wirken der Künstler signatur«, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter, Sonderdruck: Deubner Verlag 2006, S. 1–14, hier S. 3, http://www.deubner-preis.info/sonderdruck_2006.pdf vom 6.5.2011. 16 Ebd. 17 Vgl. Daniels, Daniel: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen. Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln: DuMont 1992; Duve, Thierry de: Kant nach Duchamp, München: Boer 1993.

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Abb. 2: Marcel Duchamp, Fountain, 1917 Künstler ausgewählt und markiert worden sein, um als solches Akzeptanz zu finden. Dass es eine Autorität war, die eine Wahl getroffen und ihr Markenzeichen hinterlassen hatte, wird von Duchamp durch die handschriftliche Signatur – die traditionelle Beglaubigungsformel von Autorschaft – bezeugt, bestätigt und beglaubigt. Allerdings tat Duchamp dies, um sein Experiment, den Freiheitsgrad und die Toleranzschwelle der selbst ernannten Society of Independent Artists auszuloten, nicht unter Verwendung seines eigenen, den Künstlerkollegen wohl bekannten Namens, sondern unter dem Pseudonym Richard Mutt. Die Signatur, die Fountain in den Rang eines Kunstwerks erhob, lautete R. Mutt. Dieser Name war, wie bei Duchamps Vorliebe für Sprachspiele nicht anders zu erwarten, mit Bedacht gewählt. So kam der ›sprechende Name‹ R. Mutt, analog zur Drehung des Gegenstands um 90 Grad, durch eine Verschiebung zustande: Der Sanitärhersteller, aus dessen Programm das Urinal stammte, hieß J.L. Mott Iron Works. Duchamp hatte das o gegen ein u ausgetauscht.

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Außerdem bedeutet Richard im Französischen umgangssprachlich so viel wie »reicher Geldsack«, und amerikanisch ausgesprochen lässt sich rich art daraus machen. Otto Hahn merkt im Gespräch Duchamp gegenüber an, Rosalind Krauss habe darauf hingewiesen, dass R. Mutt vom Klang her Ähnlichkeit mit dem deutschen Wort »Armut« aufweise. 18 Duchamp selbst legte im Interview offen, dass er den Namen Mutt gewählt habe, weil es 1917 einen Comic Strip von Bud Fisher in einer amerikanischen Tageszeitung gegeben habe, der Mutt and Jeff hieß.19 Demnach wäre eine absichtsvoll herbeigeführte Annäherung an den Bereich der Populärkultur ausschlaggebend gewesen. Duchamp legt also verschiedene Fährten zur Entschlüsselung aus. In jedem Fall aber lässt die Wahl des Namens darauf schließen, dass Vorgänge der Bewertung und Umwertung im Kontext der Kunst eine wesentliche Rolle spielen. Die Künstlersignatur im 20. Jahrhundert ist mithin weit mehr als eine bloße Geste der Authentifizierung. Sie lässt Verschiebungen, Kontextualisierungen unterschiedlicher Art, Ironisierungen und Poetisierungsstrategien zu und eröffnet die Möglichkeit einer sprachlichen Kommentierung hinsichtlich des Werks wie seines Autors bzw. Urhebers. Ebenso wie Marcel Duchamp der Haltung der Indifferenz verpflichtet, lotete Andy Warhol die Grenze zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen, dem Seriellen und dem als authentisch markierten Einmaligen aus. Entsprechend setzte er die Signatur ein. Warhols Zeichnungen, die Anfang der sechziger Jahre entstanden, sind gekennzeichnet durch die Unterschrift Andy Warhol, doch stammt diese Signatur oftmals nicht von seiner Hand. Vielmehr borgte er sich die blumige Unterschrift seiner Mutter aus; später bat er seinen Assistenten Nathan Gluck darum, die Siebdrucke zu signieren.20 So wird Authentizität von Warhol als Konstruktion und als Anpassungsleistung an gesellschaftliche Konventionen sichtbar gemacht: Wünscht der Kunstsammler eine Signatur, die in ihrer kindlichen

18 Vgl. Hahn, Otto (1966), in: Serge Stauffer: Marcel Duchamp. Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1992, S. 200–207, hier S. 205. Mann, Heinz Herbert: Marcel Duchamp: 1917, München: Verlag Silke Schreiber 1999, S. 24–28. 19 Vgl. Hahn (1966), S. 205. 20 Smith, Patrick S.: Andy Warhol’s Art and Films, Ann Arbor: UMI Research Press 1986, S. 32.

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Unbeholfenheit Naivität ausstrahlt und damit das Stereotyp des intuitiv schaffenden Kreativen bestätigt, dann bekommt er sie auch. Authentizität, etymologisch im Begriff authentes wurzelnd, was so viel heißt wie »mit eigener Hand«, wird zugleich demonstriert und ad absurdum geführt.21 Als Warhol zu Zeiten der Factory damit begann, mechanische Bilderzeugungsverfahren anzuwenden, verwarf er die Handschrift zur Gänze und arbeitete stattdessen mit Stempeln. Wiederum wird mit dem Akt des Signierens, der beliebig wiederholbaren Geste, dem gesellschaftlichen Wunsch nach Authentifizierungsindizes Genüge getan. An die Stelle der Delegation der Unterschrift tritt nun die Anwendung eines mechanischen Verfahrens, wobei die manuelle Handhabung des Stempels geringfügige Abweichungen im Ergebnis hervorbringen kann. Andy Warhol tritt mithin als Autor auf, der – im Sinne von Boris Tomaševskij – die Konstruktion von Biografie als notwendigen Bestandteil eines künstlerischen Werks im 20. Jahrhundert begreift22 und den Rezipienten mit Hilfe von intendierten Referenzen – Verweisen auf die Mutter, den Freund und die verwendeten Produktionsmittel – dazu animiert, psychoanalytische, genderzentrierte und soziologische Studien zu treiben. »Ce sont les regardeurs qui font les tableaux«, heißt es bei Marcel Duchamp.23 In den sechziger Jahren nahm Eva Hesse diesen Satz wörtlich und distanzierte sich, gemäß den Theoremen der sechziger Jahre, davon, ästhetische Entscheidungen im Alleingang zu treffen. Sie erlaubte es dem Betrachter, ihre Bilder im wahrsten Sinne des Wortes aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und zu vollenden. Am Farbverlauf ihrer frühen Gemälde, die zwischen 1960 und 1964 entstanden sind, lässt sich ablesen, dass Eva Hesse die Leinwände während des malerischen Prozesses mehr-

21 Zur Begriffsgeschichte vgl. Noetzel, Thomas: Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung, Berlin: Akademie Verlag 1999; Knaller, Susanne: »Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 17–35. 22 Tomaševskij, Boris: »Literatur und Biographie«, in: Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 49–64. 23 Sanouillet, Michel (Hg.): Marcel Duchamp. Duchamp du signe. Ecrits. Paris: Editions Flammarion 1975, S. 247.

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fach hin und her drehte. Ein Sammler erinnert sich daran, dass die Künstlerin ihm beim Kauf des Bildes im Atelier die Entscheidung überließ, an welcher Stelle das Bild signiert werden solle. Hesse präsentierte dem Kaufinteressenten vier Varianten eines Bildes, ohne selbst eine Version zu favorisieren. Dann legte der Rezipient, nicht die Künstlerin, unrevidierbar die Ausrichtung des Bildes fest.24 Der künftige Besitzer traf eine Wahl und übernahm, indem er die Künstlerin darum bat, an der von ihm gewünschten Stelle mit ihrer Signatur die Autorschaft zu bezeugen, eine beträchtliche Mitverantwortung an der ästhetischen Setzung. Mit der Dekonstruktion der Signatur zielte Hesse ins Zentrum einer Fetischisierung von Autorschaft. Hesse signierte auf Bestellung, band die Signatur ein in einen kommunikativen Prozess. Sie besiegelte somit die Übereinkunft von Produzent und Rezipient, von Hersteller und Käufer im performativen Akt des Unterzeichnens. In Limited Inc. beschreibt Jacques Derrida die Signatur als einen performativen Akt, mit dem der Unterzeichnende schriftlich seine Zustimmung bekundet und sich mit etwas, einer schriftlichen Äußerung wie einem Brief, einer Urkunde, einem Testament – im Fall eines Künstlers mit dem Werk, das er geschaffen hat oder an dessen Entstehung er zumindest beteiligt war – einverstanden erklärt.25 Wie die noch in der Neuzeit übliche lateinische Inschrift »fecit« signalisiert die Signatur: »Jemand hat etwas gemacht«. Ich, der Unterzeichner, weise darauf hin, dass ich es bin, der etwas vollbracht hat. Eine Signatur, so Derrida, ist aber nur dort notwendig, wo der Unterzeichner nicht persönlich anwesend sein kann. Die Signatur ist eine »fortgesetzte, homogene Wiederherstellung und Modifikation der Anwesenheit in der Repräsentation«26. Somit steht die Signatur stellvertretend für eine Person, die zu einem früheren, einem längst vergangenen Zeitpunkt Äußerungen oder Artefakte hervorgebracht hat. Sie ist Anzeichen einer ›Quelle‹, die in der Vergangenheit sprudelte. Und sie vermag aufgrund ihrer Lesbarkeit, ihrer Funktion als Schrift, in der Gegenwart den nunmehr Abwesenden zu repräsentieren. Die Signatur trüge somit das Potenzial in sich, die Chronologie zu durchbrechen, achronisch

24 Vgl. Spohn, Annette: I will paint against every rule. Berlin: Dissertation FU Berlin/Mikrofilm-Veröffentlichung 1997, S. 7, Anm. 8. 25 Derrida, Jacques: Limited Inc., Wien: Akademie Verlag 2001, S. 15–45. 26 Ebd., S. 21.

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die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden. Damit wäre sie als Ordnungsprinzip, als das sie bislang von der Kunstgeschichte etabliert wurde, denkbar ungeeignet. Doch nicht nur das. Im Zuge der Debatten um den »Tod des Autors«27 wirft die Ambiguität der Signatur eine Vielzahl von Fragen auf. Hat der Künstler es in der Hand, einen beliebigen Gegenstand mit auktorialer Autorität zu beleihen? Verweist eine Signatur, wie im juristischen Sinne definiert, stets auf eine konkrete, historisierbare Person, die etwas hervorgebracht hat? Auf eine Person, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmtem Ort lebte und deren personalisiertem Schriftzug man uneingeschränkt Glauben schenken darf? Ist die Signatur ein indexikalisches Zeichen, das es erlaubt, zweifelsfrei Rückschlüsse auf den Urheber eines Werks zu ziehen? Während die Signatur im Feld der Kunst also mehr und mehr als rhetorische Figur begriffen wird, die es erlaubt, Modelle und Konzepte von Autorschaft zu reflektieren, zu kommentieren und zu ironisieren, gesteht man ihr bislang im Feld des Designs zu, ihre angestammte Funktion beizubehalten und die Authentizität des künstlerischen Entwurfs zu beglaubigen. Dort, wo die Industrialisierung ihren Siegeszug angetreten hatte, wurde auch zuerst der Wunsch laut, Authentisches zu produzieren und zu besitzen: in England. Um 1770 brachte der britische Porzellanhersteller Josiah Wedgwood pressbares Steingut auf den Markt. Um diese anfangs gering geschätzten Surrogate zu adeln, animierte Wedgwood den Künstler John Flaxman dazu, die sogenannte Creamware und Jasperware zu entwerfen und nach Fertigstellung zu signieren, mithin zu attestieren, dass es sich unbestritten um authentische Kunstwerke handele, auch wenn der Künstler bei der Herstellung selbst nicht Hand angelegt hatte.28 Die Aufwertung eines in maschineller Produktion hergestellten Gebrauchsgegenstands durch eine Künstlersignatur war also bereits eine erfolgreiche und etablierte Strategie zur Aufwertung eines gering geschätzten Massen-

27 Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 185–193; Foucault, Michel: »Was ist ein Autor«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 1003–1041. 28 Vgl. Wetzel, Michael: »Artefaktualitäten. Zum Verhältnis von Authentizität und Autorschaft«, in: Knaller/Müller (Hg.): Authentizität, S. 36–54.

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artikels, lange bevor Marcel Duchamp diese mit Fountain im Kunstkontext zur Schau – und zur Disposition – stellte. Da ihnen die Künstlersignatur, die Kennzeichnung durch die schöpferische Hand des Künstlers, eingeschrieben war, schienen die Vasen und Medaillons von Wedgwood über sich selbst hinauszuweisen und damit weit mehr zu sein als bloße reproduzierbare käufliche Objekte. Es ist diese, in ihren Augen verwerfliche Trennung von Entwurfs- und Herstellungsprozess, die Mitte des 19. Jahrhunderts Anhänger der Arts and Crafts-Bewegung wie William Morris, John Ruskin und Charles Rennie Mackintosh auf den Plan rief. Die nachträglich aufgebrachte Handschrift auf maschinell gefertigten Waren sei, ebenso wie das beliebige Jonglieren mit Stilelementen, als Zeichen eines ethischen, moralischen und ästhetischen Niedergangs zu werten. Leidtragende seien nicht zuletzt die Arbeiter, die, zum Werkzeug degradiert, nicht mehr schöpferisch tätig sein könnten.29 In Anlehnung an die Ideen der Arts and Crafts-Bewegung, die als Gegenbild zu den als minderwertig eingestuften Produkten der Industrialisierung nach einer Wiederbelebung des mittelalterlichen Handwerks strebte, wurde 1903 die Wiener Werkstätte gegründet. Um wirtschaftlichen Schaden von einem Unternehmen abzuwenden, das sich dazu bekannte, lieber zehn Tage an einem Gegenstand zu arbeiten, als zehn Gegenstände an einem Tag zu produzieren, entschloss sich Josef Hoffmann, einer ihrer Gründer, dazu, Plagiate dadurch zu erschweren, dass er den größten Teil der in der Wiener Werkstätte hergestellten respektive von ihr verlegten Möbel, Stoffe und Leuchten mit dem Signet der Wiener Werkstätte versah, aber diesem das Monogramm des jeweiligen Entwerfers und ausführenden Handwerkers hinzufügte. Diese Kombination aus Marke und Monogramm signalisierte, dass der Gegenstand aus einem arbeitsteiligen Herstellungsprozess hervorgegangen war und dass das Unternehmen nicht die Absicht hatte, die Leistungen Einzelner unsichtbar zu machen. So zeugte das Firmenlogo von der ökonomischen Notwendigkeit, unliebsame Konkurrenz auszuschalten, das individuelles Kürzel hingegen davon, dass die Wiener Werkstätte die von Adorno als Kennzeichen der ästhetischen Moderne beschriebene Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Un-

29 Vgl. Breuer, Gerda (Hg.): Arts and Crafts. Von Morris bis Mackintosh. Reformbewegung zwischen Kunstgewerbe und Sozialutopie, Ausstellungskatalog Institut Mathildenhöhe, Darmstadt 1994.

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mittelbarkeit, Echtheit und Eigentlichkeit zu erfüllen suchte, die in der Vorstellung von einem selbstbestimmten, mit Freude an der Arbeit einhergehenden Leben gipfelt.30 Ein solches Gleichgewicht der Kräfte herzustellen, wurde im Bauhaus versäumt. Das Bauhaus, ebenfalls dem Ideal der mittelalterlichen Bauhütte verpflichtet, scheiterte nicht zuletzt daran, dass es den drei Faktoren der Gestaltung – zeichnerischer Entwurf, Wissen der Handwerker, Ausführung in den Werkstätten –, die auf jedes Produkt Einfluss genommen hatten, nicht genügend Rechnung zollte. Die auf Kooperation beruhenden Produktionsbedingungen, der Wunsch nach Markierung von Autorschaft und die individuelle Teilhabe am kommerziellen Gewinn waren auf Dauer nicht miteinander vereinbar. So beschäftigen die aus dieser Konfliktlage resultierenden langwierigen Urheberrechtsprozesse, die Produkte des Bauhauses wie etwa den Stahlrohrhocker B 9 oder die Bauhaus-Leuchte betreffen, bis heute die Gerichte.31 Kompliziert wird es dadurch, dass in all diesen Fällen nicht allein die Rechte des Urhebers im Sinne eines Erfinders, sondern auch die Rechte von Herstellerfirmen tangiert werden, wobei erschwerend hinzukommt, dass deren Rechte oftmals nur auf verschiedene nationale Märkte beschränkt Gültigkeit haben. Dass die Signatur, allen Lippenbekenntnissen zur Kooperation zum Trotz, weiterhin als eine Art von ›Duftmarke‹ fungiert, mit der das Revier abgesteckt und verteidigt wird, wusste auch Hannes Meyer, der zweite Bauhaus-Direktor. Meyer, der am Bauhaus eine Orientierung am Volksbedarf statt am Luxusbedarf durchzusetzen suchte, verzichtete nicht auf eine Signatur, aber er signierte mit dem Kürzel »co-op«, womit er auf das vom Bauhaus angestrebte Gemeinschaftsideal der Produktionsgenossenschaft hinwies. 32 Nachfolgende Generationen von Designerinnen und Designern, mit der Geschichte des Bauhauses vertraut, begnügen sich nicht damit, sich hinter Kürzeln oder Marken zu verstecken. Sie wissen um die ökonomische Notwendigkeit, ihre Anteile am Entwurf namentlich kenntlich zu machen. Schon im Studium nehmen juristische Grundlagen, etwa die Sicherung von

30 Adorno, Theodor W.: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 31 Vgl. Breuer, Gerda: Die Erfindung des Modernen Klassikers. Avantgarde und ewige Aktualität, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001, S. 70–93. 32 Ebd., S. 82.

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Patentrechten, breiten Raum ein. Und so greifen viele von ihnen auf eine Strategie zurück, die Le Corbusier, Eileen Gray, George Nelson und Verner Panton im 20. Jahrhundert mit Erfolg erprobt haben. Ob Luigi Colani, Richard Sapper, Ron Arad, Marc Newson oder Karim Rashid, sie alle beglaubigen mit ihrer Unterschrift, dass sie für die Gestaltung eines Dinges verantwortlich sind, und signieren die von ihnen entworfenen Sessel, Tische, Liegen und Teppiche. Sie zelebrieren die Handschrift, ziehen Linien, bringen i-Punkte zum Tanzen und verwandeln eine flüchtige Geste in eine manifeste Spur. Nur sind die Signaturen, die sie auf den Gegenständen hinterlassen, nicht mit Bleistift, Kugelschreiber, Füllfederhalter oder Filzstift gezogen, nicht materielles Relikt eines performativen Aktes, sondern sie sind gedruckt, geprägt, gestanzt, appliziert oder eingewebt, mithin, ebenso wie der Gegenstand, den sie zu adeln suchen, das Ergebnis eines maschinellen Reproduktionsprozesses. Die Signatur, einst in der Kunst als Garant von Einmaligkeit und als Zeichen des Anwesend-Gewesen-Seins in einem vergangenen Jetzt gefeiert, wird im Design mit Hilfe von Gussformen, Pressen, Stanzen, Plottern und Webmaschinen in beliebiger Anzahl vervielfältigt und Gegenständen aufgedrückt, eingraviert und implementiert – selbst dann noch, wenn ihr ›Schöpfer‹ selbst bereits das Zeitliche gesegnet hat. Man mag ökonomische Gründe und Marketingargumente dafür anführen, dass die Signatur des Designers neben dem Firmenlogo auf einem Gebrauchsgegenstand in Erscheinung tritt. Ideenklau und Plagiate sollen unterbunden oder zumindest erschwert werden. Doch das ist es nicht allein. Die reproduzierbare Signatur ist Sinnbild jener Paradoxie, die mit der industriellen Revolution in das Leben Einzug gehalten hat. Wiewohl selbst ein Produkt der Wiederholung, beharrt die reproduzierbare Signatur darauf, dass es das Einmalige einmal gegeben haben muss. Hubert Locher konnte, rekurrierend auf Walter Benjamin, nachweisen, dass das Original in der Kunst erst dann eine Aufwertung erfahren hat, als durch das Aufkommen von bildgebenden Techniken wie Holzschnitt und Kaltnadelradierung Reproduktionen von Kunstwerken in Büchern kursierten.33

33 Locher, Hubert: »Reproduktionen: Erfindung und Entmachtung des Originals im Medienzeitalter«, in: Matthias Bruhn/Kai-Uwe Hemken (Hg.): Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 39–53.

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Abb. 3: Textil-Etikett des Möbelherstellers Vitra mit Schriftzug von Charles Eames, Aluminium Chair EA 117, gelber Wollstoff

Abb. 4: Reproduzierte Signatur des Designers Gaetano Pesce, Untersatz des Espressokochers »Vesuvio«, Eisenguss, Hersteller Zani & Zani, Entwurf 1990 Analog hierzu lässt sich behaupten, dass das Authentische ein Begriff ist, der das Ursprüngliche als ein im Zuge der industriellen Revolution unwiederbringlich Verlorenes beschreibt. So gesehen, könnte man die Geste des Designers, der die Maschinen an seiner statt unterschreiben lässt,

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als eine versöhnliche bezeichnen. Zwar arbeitet er im Auftrag von Konzernen, muss technologischen, materiellen und maschinellen Faktoren Rechnung tragen, wissenschaftlichen, ökonomischen, ästhetischen und ethischen Interessen dienen, Marktanalysen und Machbarkeitsstudien berücksichtigen – sich, kurz gesagt, in arbeitsteilige Prozesse einfügen. Aber im Moment der Ideenfindung darf er von sich behaupten, er sei unabhängig, ganz bei sich – ein Autor. Dass es ihn gegeben hat, diesen Moment, nichts sonst, bekundet er mit seiner Unterschrift. Seine Autorschaft ist nicht länger an die materielle Produktion, sondern allein an die Erfindung gebunden. Sie ist vor allem eine Frage der inventio. Die Ausführung und auch den Zeitpunkt derselben kann der Autorendesigner getrost anderen überlassen. Wohl wissend, dass der Einzelne, der die Absicht hegt, sich für den Bruchteil einer Sekunde aus der anonymen Masse der Konsumenten herauszuheben und einen Gegenstand in Besitz zu nehmen, den ein Autorendesigner ersonnen hat, das Nachglimmen des Einmaligen als wärmend empfinden wird.

Die Freiheit und das Authentische J OSEPH I MORDE Real art has the capacity to make us nervous. SUSAN SONNTAG

Der Triumph der amerikanischen Malerei in Europa1 und besonders auch in der gerade gegründeten Bundesrepublik Deutschland war zuerst ein Triumph des »abstrakten Expressionismus« und damit auch und vor allem ein posthumer Erfolg Jackson Pollocks.2 In den Jahren 1958 und 1959

1

Ruby, Sigrid: »Have We An American Art?«. Präsentation und Rezeption amerikanischer Malerei im Westdeutschland und Westeuropa der Nachkriegszeit, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 1999, S. 203 mit Verweis auf Barr, Jr., Alfred H.: »Einleitung«, in: Die Neue Amerikanische Malerei. Kunsthalle Basel 19.4.–26.5.1958. Basel 1958, o.S.: »Ich fühle mich geehrt, als Amerikaner diese Worte der Einführung schreiben zu dürfen […] Ich, der ich mit Erregung und mit Stolz die Entwicklung der hier vertretenen Künstler beobachtet habe – ihr Ringen mit sich selbst und mehr noch mit dem Publikum –, freue mich über ihren heutigen Triumph.«

2

Allerdings nicht bei jedem. So vergleicht Erwin Panofsky in einem Brief an William Heckscher vom 22.4.1957 die Malerei Pollocks mit jener der Schimpansin Betsy, um dann die schlimmsten nationalsozialistischen Kategorien aufleben zu lassen: »[W]e are all extremely pleased by the incident of Betsy, the painting chimpanzee. This kind of thing ultimately had to happen; for, if you eliminate the element of reason and premeditation from the

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wanderten zwei Ausstellungen überaus erfolgreich durch die großen Städte des alten Kontinents, Ausstellungen, die zum Beispiel in Basel, Hamburg und Berlin parallel gezeigt werden konnten: The New American Painting und Jackson Pollock, 1912–1956. Der zwei Jahre zuvor verstorbene Künstler wurde in dem Katalog zur Basler Ausstellung einmal mehr so dargestellt, als handle es sich um einen Filmstar – vergleichbar mit Marlon Brando oder James Dean. Der Organisator Sam Hunter charakterisierte Pollock darin als rebellische Persönlichkeit, stilisierte ihn absichtsvoll zum amerikanischen Künstler an sich, voll ungebärdeter Vitalität und »explosiver Männlichkeit«. »Laut Hunter führten Pollocks ›Bedürfnis, seinen turbulenten Gefühlen unmittelbaren Ausdruck zu verleihen‹, und seine ›impulsiven, romantisch gefärbten Neigungen‹ zu ›der kraftvoll, überbordenden Entfaltung seiner Phantasie.‹« Die Bildfläche habe er als Arena verstanden, in der er, »einem Cowboy vergleichbar«, sein Lasso habe wirbeln lassen. Mit dionysischer Begeisterung und Entrückung habe er es vermocht, »die Integrität der Mittel zu zerstören« und dadurch die ihnen innewohnenden Kräfte zu befreien. Bei diesem Streben nach »totaler Freiheit« habe Pollock alles gegeben, alles aufs Spiel gesetzt.3 Diese amerikanische Selbstdarstellung unterstrich noch der in Basel zuständige

production of works of art, there is, in fact, no methodical possibility of distinguishing the productions of Betsy from those of, let us say, Mr. Jackson Pollock (God rest his soul). I had a chance to observe Betsy on television, and it is wonderful to observe how she proceeds, alternating between somber meditation, tentative approaches to the canvas, chewing her brushing (as van Gogh did) and finally being inspired by a kind of furor divinus which induces her ultimately to employ her feet as well as her hands – as, presumably, would also have happened to Mr. Pollock had he been spared long enough by destiny.« Zit. nach Herding, Klaus: »Panofsky und das Problem der Psycho-Ikonologie«, in: Bruno Reudenbach (Hg.): Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992 (= Schriften des Warburg-Archivs 3), Berlin: Akademie Verlag 1994, S. 145–170, hier S. 164–165, Anm. 104, dort mit Hinweis auf die Archives of American Art, The Getty Center for the History of Art and Humanities, Santa Monica, California. 3

Ruby: »Have We An American Art?«, S. 202 mit Verweis auf Sam Hunter, in: Jackson Pollock, 1912–1956, Kunsthalle Basel, 19.4.–26.5.1958, Basel 1958, o.S.

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Kurator, Arnold Rüdlinger. Er redete in seinem Katalogtext vom »Atem der Freiheit und der Schrankenlosigkeit«, der einen aus den großen Bildern Pollocks anwehe. Damit war so etwas wie die Weite der nordamerikanischen Prärie assoziiert und angesprochen und nicht umsonst sah sich auch Rüdlinger wieder mit dem Geist der genuinen Kuhhirten konfrontiert. In geradezu stereotyper Weise wurde Pollock wieder in das Kostüm eines rauhbeinigen »Abenteurers der Pionierzeit« gesteckt und damit eine mitteleuropäische Wildwest-Romantik an die Bilder herangetragen, die diese aber so gar nicht beantworten konnten. »Räume«, so hieß es bei Rüdlinger, »werden aufgetan, die der an unsere Proportionen gewöhnte kaum zu ahnen wagt«.4 Hier wurde auf die schiere Größe der Leinwände angespielt und diese in Analogie gesetzt mit der für einen Schweizer vielleicht wirklich unermesslich erscheinenden Ausdehnung Amerikas. Ganz falsch war das nicht, denn in der Tat unterschieden sich die Bilder Pollocks zuerst einmal durch das Attribut der »bigness« von den Werken seiner gegenstandslosen Kollegen aus Europa und besonders Deutschland, also von den Gemälden solcher Maler wie Willy Baumeister, Fritz Winter oder Ernst Wilhelm Nay. Diese Künstler hatten in den zwölf Jahren Nationalsozialismus, in der Zeit des Mal- und Ausstellungsverbots, nur mit ganz kleinen Formaten hantieren können5 und sich auch aufgrund materieller Entbehrungen die großen Formate nach der Befreiung regelrecht und wortwörtlich erarbeiten müssen. In den Wanderausstellungen der Jahre 1958/59 wurde der abstrakte Expressionismus als Fortsetzung und neuer Höhepunkt der westlichen Moderne zelebriert, wobei man starken Wert auf die unbändige Individualität der malenden Helden legte. Ganz aus sich selbst heraus, ganz eigenschöpferisch, hätten diese Künstler ihre Werke angelegt, hieß es immer

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Zit. nach Ruby: »Have We An American Art?«, S. 394 mit Verweis auf Rüdlinger, Arnold: »Vorwort«, in: Jackson Pollock, o.S.

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Siehe zum Beispiel Haftmann, Werner: Verfemte Kunst. Bildende Künstler der inneren und äußeren Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus. Leopold Reidemeister, ›Wiederaufbau – Wiedergutmachung‹. Ein Bericht. Geleitwort von Bundeskanzler Helmut Kohl. Herausgegeben von Berthold Roland, Köln: DuMont 1986, S. 299–306 [Willi Baumeister], hier S. 300: »Anfang 1941 hatte er offizielles Ausstellungsverbot erhalten. Da es nun immer schwieriger wurde, Ölfarbe und Leinwände zu beschaffen, malte er kleine Formate auf Pappe.«

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wieder. Und in der völligen Entäußerung ihrer Subjektivität oder auch Intrasubjektivität offenbare sich die künstlerische Wahrheit dieser Bilder.6 Dabei liege in der Authentizität der Gesten, im eigenorganischen Ursprung des Malaktes die Qualität des Schaffens. In der Vielfalt der abstrakten Expressionen habe man, ob man es wolle oder nicht, »symbolische Kundgebungen der Freiheit« vor sich, und das »in einer Welt, in der das Wort Freiheit eine politische Haltung« bedeutet.7 Der Direktor des Museum of Modern Art, Alfred H. Barr, der dies im Katalog zur Ausstellung Die Neue Amerikanische Malerei in Basel schrieb, kennzeichnete damit die »gegenstandslose« Malerei als Freiheitskunst und kanzelte gleichzeitig und wie nebenher die vermeintlichen Zwangserzeugnisse totalitärer Systeme als unfrei ab. Dabei wurde der Kunst in den »weltanschaulichen« Auseinandersetzungen auch eine identifikatorische Rolle aufgebürdet. Die Künstler der abstrakten Expression galten deshalb als Heroen individueller Freiheit und Authentizität, weil mit dieser eine politische Aussage verknüpft werden sollte. Die Aussage, die mit den Bildern selbst zuerst einmal gar nichts zu tun hatte, gab sich als Analogieschluss: künstlerische Freiheit gleich rechtsstaatliche Freiheit, Gegenstandslosigkeit gleich Demokratie. Serge Guilbaut beschrieb die Reaktion der produzierenden Protagonisten auf das ideologische Klima jener Jahre folgendermaßen: »Ein enormer Widerspruch machte sich breit: eine Selbstzensur, ein Schweigen [der Künstler] zu politischen Fragen mitten im täglichen Stimmengewirr fortwährender Kontroversen. […] Das Schweigen der Avantgardekünstler war zum Teil Ausdruck ihrer Entfremdung angesichts eines Systems, […] in dem Kunst und Kultur als Propagandawaffen dienten. Der Avantgardekünstler, der es kategorisch ablehnte, am politischen Diskurs teilzunehmen, steigerte sich in seine Individualität hinein und isolierte sich. Er wurde vom Liberalismus kooptiert, der im Individualismus des Künstlers eine entscheidende Waffe gegen den sowjetischen Autoritarismus sah. Die

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Rosenberg, Harold: »Six American Artists«, in: Possibilities 1 (1947/48), S. 75. Hier nach Guilbaut, Serge: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 188.

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Zit. nach Ruby: »Have We An American Art?«, S. 379 mit Verweis auf Barr: »Einleitung«.

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Entpolitisierung der Avantgarde war eine notwendige Voraussetzung ihrer politischen Vereinnahmung.«8

Für diese von Guilbaut wohl treffend analysierte Entpolitisierung des Künstlers – besser gesagt für die politische Indienstnahme der Produkte künstlerischer »Politikverdrossenheit« durch das konservative Amerika – war Jackson Pollock eines der besten Beispiele. Sein isoliertes Leben in Springs, Long Island, seine autistische Selbstbezogenheit, sein Schaffen aus dem eigenen Unbewussten, all das konnte in den Vereinigten Staaten als Intrasubjektivität verkauft werden, als ein freies, individuelles und vor allem authentisches Schaffen aus innerem Antrieb, als eine nur in der Demokratie denkbare, weil nur dort erlaubte künstlerische Leistung. Das hatte einerseits mit ›life style‹ und Mode zu tun – was sich etwa in den berühmten Vogue-Bildern von Cecil Beaton niederschlug –, wurde andererseits aber in Europa auch als gesellschaftspolitisches Modell und ökonomische Realität verstanden und gegen jedwede Zwangsherrschaft und damit dräuende Planwirtschaft ins propagandistische Feld geführt und werbewirksam vermarktet. Der in seiner Entpolitisierung so ungemein wirksame Freiheitsbegriff verstand sich im abstrakten Expressionismus auch als die Entäußerung und damit Befreiung stärkster Empfindungen: »Der intrasubjektive Künstler«, so drückte es der Galerist Samuel Kootz aus, »geht in seinen Erfindungen von der persönlichen Erfahrung aus, er schafft aus einer inneren statt aus einer äußeren Welt. Er macht keinen Versuch, das amerikanische Leben aufzuzeichnen, momentane politische Kämpfe auszuschlachten oder durch vertraute Gegenstände Nostalgie zu erwecken. Statt dessen arbeitet er mit innersten Emotionen und Erfahrungen […] Intrasubjektivismus ist kein identischer malerischer Stil, sondern ein Standpunkt in der Malerei.«9

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Guilbaut: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat, S. 171.

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Ebd., S. 206 mit Verweis auf Samuel Kootz im Katalog seiner Ausstellung The Intrasubjectives, 14.9.–3.10.1949. An der Ausstellung nahmen mit nur je einem Bild teil: William Baziotes, Willem de Kooning, Arshile Gorky, Adolph Gottlieb, Morris Graves, Hans Hofmann, Robert Motherwell, Jackson Pollock, Ad Reinhardt, Mark Rothko, Mark Tobey und Bradley Walker Tomlin.

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Kootz ging es hier darum, den Werken so etwas wie einen Generalnenner abzuringen. Alle Künstler der Intrasubjektivität hielten nach Kootz gleichgroßen Abstand von der amerikanischen Wirklichkeit. Allein darin waren sie vergleichbar. Die Betonung dieser Gemeinsamkeit war auch deshalb nötig, weil man – in den Vereinigten Staaten wie in Europa – nicht hatte daran vorbeisehen können, dass die Unterschiede zwischen den Bildern Jackson Pollocks und Barnett Newmans gewaltig waren.10 Doch trotz der ganz unterschiedlichen Ansätze sahen alle nur das Vergleichbare oder Gemeinsame dieser Bilder, sprachen summierend vom abstrakten Expressionismus, von der New York School usw.11 Doch was die verschiedenen Standpunkte wirklich miteinander verband, war nichts anderes als die Möglichkeit zur weltabgewandten und damit eigenmächtig personalen Ausdrucksfreiheit, mochte diese nun als Supra- oder Infrakunst daherkommen, also eher als klassische Geistesleistung wie bei Barnett Newman oder drängende Triebhandlung wie bei Jackson Pollock.12 Der Konflikt, der in den Darmstädter Diskussionen zum »Menschenbild der Zeit« ausgetragen wurde, war einer, der vor allem den Begriff und den Status der Freiheit betraf und nach dem »tausendjährigen Reich« betreffen musste.13 »Denn ›Freiheit‹ meinte [in jenen Jahren] natürlich in erster Hinsicht eine Befreitheit von staatlicher Bevormundung; und das bezog

10 Zit. nach Ruby: »Have We An American Art?«, S. 377–378 mit Verweis auf Rüdlinger: »Vorwort«; aus europäischer Sicht, in: Die Neue Amerikanische Malerei. 11 Das gilt auch noch für neuere Publikationen. Bocola, Sandro: Die Kunst der Moderne. Zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung. Von Goya bis Beuys, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 407. 12 Dieser Begriff findet sich auch bei Sedlmayr. Sedlmayr, Hans: »Über die Gefahren der modernen Kunst«, in: Hans Gerhard Evers (Hg.): Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit, Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1951, S. 48–62, hier S. 60. 13 Frosch, Beate: »Abstrakte und gegenständliche Malerei – die Diskussion im Spiegel zeitgenössischer Zeitschriften«, in: Jochen Poetter (Hg.): Zen 49. Die ersten zehn Jahre – Orientierungen, Stuttgart-Bad Cannstatt: Dr. Cantz’sche Druckerei 1986, S. 108–121, hier S. 117 mit Verweis auf eine Aussage Werner Haftmanns, zit. nach N.N., »Protokoll des Zweiten deutschen Kunsthistorikerkongresses«, in: Kunstchronik 2 (1949), S. 228.

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sich zunächst auf die Zeit faschistischer Kunstdiktatur, jedoch auch auf eine Bevormundung«, wie sie sich seit 1948/49 in der DDR abzuzeichnen begann.14 Nach den langen Jahren innerer Emigration, nach den Zeiten des Berufs- und Malverbots, riefen vor allem die ehemals verfemten deutschen Künstler, wie Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay oder Fritz Winter, nach persönlicher künstlerischer Freiheit, 15 forderten das Recht auf uneingeschränkte Meinungs- und Kunstäußerung und wollten nichts mehr von der Lenkung durch Staat oder Kirche wissen, um ungebunden, das heißt authentisch nach einer eigenen Form, nach einer eigenen Spiritualität zu suchen, das aber progressiv, also vorausblickend und voranschreitend, und nicht retrospektiv, in den Gleisen einer als verbindlich betrachteten Tradition. Willi Baumeister verglich den Künstler aus diesem Grunde mit einem Radfahrer, der, wenn er anhalte, zwangsläufig umfallen müsse. »Alle großen Meister waren Erneuerer«, hieß es weiter, »und stießen in vordem unbekannte Zonen vor, auf ihrem Weg eine gleichsam bessere Wahrheit zu gewinnen.«16 Das war in Wortwahl und Inhalt die Sprache personalisierter Utopie. Es ging um die Entgrenzung der Malerei, immer und immer wieder um das Kosmische und »Weltallliche«, das nun bis zu den Perimetern unnennbarer Räume erweitert wurde.17 Die radikale künstlerische Freiheit, die damit auch gemeint war, gründete auf der Annahme eines stetigen Voranschreitens der Kunst zum Zwecke oder im Dienste einer ins Höhere oder auch Bessere verweisenden Wahrheit, die aus der Subjektivität des Suchens in das Allgemeingültige des Findens vorstoße. Bewegung und Wandlung wurden zum Rezept individueller und kollektiver Erkenntnis, wurden, wenn man so will, zur treibenden Zwangsvorstellung der Moderne, oder anders gesagt, der freien Marktwirtschaft. Johannes Itten, der ehemalige Leiter des Vorkurses am Bauhaus, sah 1950 die Kunstwerke als

14 Frosch: »Abstrakte und gegenständliche Malerei«, S. 117. 15 Haftmann: Verfemte Kunst, S. 299–306 [Willi Baumeister], hier S. 300. 16 Manuskript der Ansprache, die Willi Baumeister für das Darmstädter Gespräch 1950 vorbereitet hatte: Baumeister, Willi: »Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und Hausenstein«, in: Evers (Hg.): Darmstädter Gespräch, S. 146–154, hier S. 150. 17 Das auch bei Jackson Pollock, so meinte etwa später noch Rosenblum, Robert: Die Moderne Malerei und die Tradition der Romantik. Von C.D. Friedrich zu Mark Rothko, München: Schirmer-Mosel 1981, S. 214.

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gestaltete Spiegelungen oder Reflexionen der real-materiellen oder surrealimmateriellen Welt, den Künstler sowohl als Reflektor und Projektor der von ihm gesammelten Eindrücke und Erfahrungen. »Alles Geschehen in der Welt durchdringt auf drahtlosen Wellen alle Räume; die Künstler als Antennen fangen sie auf, und vermittelst ihrer intuitiven Fähigkeit gestalten sie aus einem unendlich Vielen das Eine, das Werk. Dann und wann aber ist dieser oder jener Künstler nicht Antenne und Empfänger, sondern Sender aus der tiefsten Tiefe seiner göttlichen Entität. Bar allen Denkens und Wollens, im Zustande der Inspiration formt sich durch ihn ein Werk wahrer universeller Allgemeingültigkeit.«18

Wo die Welt sich veränderte, musste auch die Kunst Wandlungsprozessen unterworfen sein, doch blieb der Weg für Johannes Itten, Willi Baumeister oder auch wohl den sprachfaulen Jackson Pollock auf eine Erfüllung gerichtet, mochte sie sich als Sehnsucht nach der Auflösung der eigenen Persönlichkeit in einem größeren Ganzen formulieren oder als visionäres Vereinigungserlebnis daherkommen.19 Die auch heute noch ungelöste Schwierigkeit der Moderne oder besser der ›modernen Kunst‹ lag vielleicht darin, dass sie einen stetigen Wandlungszwang behauptete, also ununterbrochen auf der Suche nach dem Neuen war, dem Unbekannten, wie Willi Baumeister gesagt hätte, um dadurch aber nur immer wieder zu versuchen, das Unwandelbare, Allgemeingültige und damit Universelle dingfest zu machen, eben das, was keiner Veränderung unterworfen war.20 Vielleicht

18 Itten, Johannes: »Über die Möglichkeiten der modernen Kunst«, in: Evers (Hg.): Darmstädter Gespräch, S. 31–47, hier S. 32. 19 Vgl. kritisch Müller-Armack, Alfred: Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit. Münster: Regenbergsche Verlagsbuchhandlung 1948, S. 63. 20 Ernst Wilhelm Nay behauptete bezeichnenderweise von sich, es könnten in seinem Schaffen keine Wiederholungen auftauchen. Nay, Ernst Wilhelm: »Aufzeichnungen aus dem Jahr 1965«, in: Archiv für Bildende Kunst am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): E.W. Nay 1902–1968. Bilder und Dokumente (= Werke und Dokumente. Neue Folge, Band 1), München: Prestel-Verlag 1980, S. 201–211, hier S. 208: »Bei dieser Art von Kunst kann sich niemals Wiederholung einstellen, sondern alles ist gesetzt auf die Hoffnung

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wäre in diesem Sinne die Moderne und die damit gemeinte, sich immer mehr beschleunigende Aufklärung als eine »Gottsuche ohne Gott« zu bestimmen, ging es doch auch darum, letztlich unlösbare Fragen – gewissermaßen neurotisch – immer wieder im eigenen Erleben oder persönlichen Empfinden für sich selbst zu beantworten, um der zunehmend als fremd empfundenen Existenz überhaupt noch einen Sinn abzuringen – sich selbst in und mit der Kunst der bloßen Ausgeliefertheit ans Dasein für Momente des Erkennens oder Fühlens irgendwie zu entheben.21 Die Werkentwicklung vieler Künstler zeigte genau diese moderne Paradoxie, nämlich ein gleichsam wissenschaftliches Arbeiten an der Form, das auch als Experimentieren gekennzeichnet werden konnte,22 bei gleichzeitiger Behauptung einer gewissermaßen religiösen Erfüllung in besonderen Momenten künstlerischer Werkgenese.23 Dabei wurde sowohl die Entwicklung des eigenen Forschens betont, also der rote Faden,24 der eigene Stil, die individuelle Handschrift, kurz die Manier oder italienisch Maniera, aber ebenso die sich immer wieder einstellende Einmaligkeit des vermeintlich spirituellen Ereignisses, die Einigung mit dem Werk, die Vision, die Inspiration, das Aufgehen in Größerem, die Gotteserkenntnis usw. usf. Hans Sedlmayr lehnte diese sich immer um das Neue bemühende Drangsal des Subjekts nach Authentizität, Allgemeingültigkeit und Universalismus, diese künstlerische Neugierde aus Prinzip und als Religionsersatz deshalb im Verlust der Mitte ab, weil sie einem dogmatischen Gottesbegriff zuwiderlief oder ihn marginalisierte. Er glaubte ernsthaft, dass durch die gegenstandslose Malerei die Medialität des Gottmenschen in Frage gestellt

der einen Person, der meinen. So bleibe ich unkommerziell, was in unserer Gegenwart schon fast selten ist.« 21 Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott, S. 65. 22 Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt a.M./Bonn: Athenäum Verlag 1960, S. 204. 23 Dazu etwa Baumgart, Fritz: Die Kunst unserer Zeit. Verständnis und Mißverständnis der modernen Kunst. Das Weltbild der neuen Malerei. Kunst und Lebensform, Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag 1953, S. 5–20 [Verständnis und Mißverständnis der modernen Kunst], hier S. 8. 24 Nay, Ernst Wilhelm: »Brief von Ernst Wilhelm Nay an Oto Bihalji-Merin, vom 15.12.1966«, in: Archiv für Bildende Kunst am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): E.W. Nay 1902–1968, S. 220–222, hier S. 222.

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sei,25 und klagte über die Loslösung des Menschen von der Religion, klagte über den sogenannten »Glaubensabfall«26 und die damit zwangsläufig sich einstellende und krankmachende Autonomie des Menschen. Das Individuum ohne Gott, der Mensch, der keine Übernatur mehr anerkenne, sondern nur mehr auf seine Unternatur achte, sei pathologisch und entartet. Überall sehe man Unordnung und Chaos, das Irdische werde nun vergottet und idolisiert und so fatalerweise das Niedrige als Wert in der Kunst religiös überhöht.27 Natürlich verkannte der Kunsthistoriker absichtsvoll den spirituellen Kern künstlerisch moderner Erkenntnissehnsucht, verkannte auch – aus ideologischen Gründen und katholischer Observanz – die therapeutischen Grundanliegen der Psychoanalyse, die ja um die Jahrhundertwende nicht angetreten war, um Dämonen in die Welt zu setzen, sondern vielmehr darum, sie aus der Welt zu vertreiben! Ein Indiz für die spirituelle Erkenntnishoffnung der Moderne war die Tatsache, dass der Wille zum »Unbekannten in der Kunst« nie ohne religiöses Vokabular auskam. Willi Baumeister strapazierte zum Beispiel das Wort Vision, um das Aufsteigen zur Allgemeingültigkeit und Einheit in ein treffendes Wort zu fassen, sprach in dem Zusammenhang aber auch wieder von Empfindungen. »Der Künstler als Membran einer hohen Allgemeinheit äußert sich im Kunstwerk in totaler Art, indem er seiner Vision eine kongeniale Fassung in der unteilbaren Einheit des Kunstwerkes zu geben versucht. Seine Werke steigen zu jener Höhe der Verdichtung auf, die in ihrer Geschlossenheit alle Vielfältigkeit ihres Aufbaues verloren haben. Sie erscheinen gleich einer äußersten Synthese als ein monumentales Symbolzeichen, ähnlich einem rätselhaften Ideogramm, das nicht mehr teilbar ist und in seinem Kerngehalt undeutbar bleibt.«28

25 Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, Salzburg: Otto Müller Verlag 1948, S. 172. 26 Vgl. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott, S. 54–65 [5. Die Gesetze des Glaubensabfalls]. 27 Vgl. die Thesen zu den Phasen der Säkularisierung bei Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott, S. 69. 28 Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart: Curt E. Schwab Verlagsgesellschaft 1947, S. 157.

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Die aus der vorscheinend visionären Erfahrung sich formende Sprache, die rätselhaften Ideogramme, blieben so auch wirklich für viele Betrachter unverständlich und unausdeutbar.29 Doch das war für Baumeister gar kein Mangel der Kunst, ganz im Gegenteil, denn das nichtsverstehende, die Stirne runzelnde Publikum, also jeder frustrierte Betrachter moderner Malerei, sei nur eine Bestätigung dafür, dass das Unbekannte in der Kunst sich wieder einmal manifestiert habe.30 Die Werte der Kunst und ihre beständige Wandlung – so postulierte Baumeister – seien begrifflich ohnehin nicht völlig erfassbar, und das liege daran, dass der Wert eines Kunstwerkes »im Sichtbarmachen von bis dato unbekannten Erscheinungsformen« liege. Und hier nun, an dieser Stelle, wo das Unbekannte in die Welt trete, realisiert oder auch materialisiert werde, sei eben der Betrachter selbst gefragt, am Anfang immer überfordert, dann aber, sein gehöriges Engagement vorausgesetzt, einsichts- und empfindungsfähig. Wenn das Publikum nur das Gewohnheitsmäßig-Bekannte akzeptieren könne, schließe es sich gleich auch »von allen bedeutenden geistigen Emotionen und Werten aus«. »Das bis dahin Unbekannte sind jene als merkwürdig rätselhaft auffallenden Formulierungen im Werk, auf die der Beschauer eingehen muß, um überhaupt das Wesen jeder Kunstäußerung erfassen zu können.«31 Das Unbekannte stünde, so meinte Baumeister, außerhalb jeder bekannten Erfahrung und wahre Kunst fange dieses Unbekannte ein und bringe es zur Anschauung. Ein schwacher Betrachter müsse daran verzweifeln, der Kenner aber und der Eingeweihte ziehe »seine Emotionen aus derjenigen Formgebung, die dem rationalen, erfahrungsmäßigen Empfinden« zuwiderlaufe.32 Baumeister empfahl dem Zuschauer vor den Bildern der »Abstraktion« zuerst einmal das Hirn abzuschalten, dafür aber das Herz zu erheben: »Er [der Betrachter] soll nicht denkerisch reflektieren, sondern die

29 Siehe Walther, R[.]: »Vielfalt gegenstandsloser Bildkunst. Zur Ausstellung der ›Zen‹-Gruppe im Behnhaus«, in: Lübecker Nachrichten, Januar 1951, hier nach Poetter (Hg.): Zen 49, S. 352–353, hier S. 353. 30 Vgl. dazu etwa die Meinung von Schlosser in Schlosser, Julius von: »Stilgeschichte« und »Sprachgeschichte« der bildenden Kunst, München: C.H. Beck 1935, S. 15: »Der echte große Künstler ist als Künstler sich selbst genug, selbst das ›Publikum‹, er bedarf und denkt dessen nicht.« 31 Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst, S. 29. 32 Ebd.

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Empfindungen allein öffnen.«33 Wer nicht verstehen wolle oder nicht verstehen könne, sei eben nicht gutwillig oder naiv genug für diese Kunst, sollte sie sich als zu stark erweisen,34 sei der Betrachter einfach zu schwach.35 Ganz folgerichtig verlegte Baumeister die Aufgabe der Kunstkreation in den Betrachter hinein. Das Bild sei einem Vierzeiler gleich, bei dem die letzte Zeile fehle und vom Leser ergänzt und hinzugedichtet werden müsse. Doch mit dieser irgendwie auch schulmeisterlich pädagogisierenden Aufforderung zu einfühlender Mitwirkung emanzipierte sich der Künstler gleich auch vom Betrachterurteil, unterlief die Kritik am Bild mit dem Argument, dass wer nichts von der Malerei verstehe, nichts an ihr finden und empfinden könne, wohl einfach zu wenig investiert habe, eben selbst kein Dichter sei, nicht fähig, das Unbekannte zu ertragen.36 Einer der klassischen Vorwürfe gegen die moderne Kunst, es handle sich dabei um kultivierte Nichtkönnerei, um Gekleckse und Gestammel, um Infantilität und Irr-Tum, wurde hier einfach ins Gegenteil verkehrt und dem nichtsverstehenden Betrachter nun das Banausentum in die Schuhe geschoben.37 Dieser bis zur Arroganz reichende Standpunkt38 fand seine Rechtfertigung darin, dass Baumeister ähnlich wie schon Kandinsky der Meinung war, dass es in der ernsthaft betriebenen Kunst keine Fehler gebe, da ja im Wahren und Authentischen unmöglich etwas Falsches sein könne. »Das

33 Ebd. Vgl. die Betrachteransprache bei Nay: »Aufzeichnungen aus dem Jahr 1965«, S. 211. 34 Vgl. N.N.: »›Zen-Gruppe 49‹ in der Galerie Egon Günther«, in: Rheinpfalz vom 11.7.1950, hier nach Poetter (Hg.): Zen 49, S. 351. 35 Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst, S. 29: »der schwache Betrachter«. 36 Siehe die Kritik Gombrichs an dieser Haltung. Gombrich, Ernst H.: Meditations on a Hobby Horse and other Essays on the Theory of Art, London/New York: Phaidon Press 1963, S. 45–55 [On Physiognomic Perception (1960)], hier S. 51f. 37 Dies wird etwa gesehen von Eichler, Richard W.: Könner, Künstler, Scharlatane, München: J.F. Lehmanns Verlag 1959, S. 228f. 38 Bezeichnend der Skandal, den Baumeister zur Ernennung Wilhelm Hausensteins zum deutschen Generalkonsul in Paris inszeniert. Siehe dazu etwa Melichar, Alois: Überwindung des Modernismus. Konkrete Antwort an einen abstrakten Kritiker, Wien/Frankfurt a.M./London: Josef Weinberger 1954, S. 35ff.

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originale Produzieren beruht nicht auf vergleichbarem Können, der originale Künstler kann in diesem Sinne nichts. Er produziert ohne Lehrgut, ohne Erfahrung, ohne Nachahmung. Nur auf diese Weise findet er bisher Unbekanntes, Originales. Das Genie ›kann‹ nichts und nur damit alles […].«39 Die selbstgezeugte Vision – so musste man sich das wohl vorstellen – floss ungelenkt und damit authentisch frei aus der »Mitte« der künstlerischen Persönlichkeit heraus und erzeugte Vieles einigend das vorher Unbekannte und Allgemeingültige.40 Diese hohe Meinung vom eigenen Tun, kam – ganz selbstbewusst – auch ohne fremdes Verstehen aus, da das Kunstwerk – wie hätte Kandinsky gesagt – einer inneren Notwendigkeit entsprang und deshalb authentisch, wahr und eigengesetzlich war.41 »Der souverän freischaffende Künstler erhält seinen Auftrag durch sich selbst«,42 meinte Baumeister und stellte damit auch noch die Wirkungsabsichten seiner eigenen Malerei zur Disposition. (Ein Schritt übrigens, den Kandinsky so wohl nicht mitgemacht hätte.43) Diese radikale Position der Isolation – diese Kunst, die ohne Betrachter auskommen

39 Claus, Jürgen: Theorien zeitgenössischer Malerei in Selbstzeugnissen (= Rowohlts deutsche Enzyclopädie 182), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963, S. 26. 40 Ebd., S. 26f. 41 Redebeitrag von Leonhard, Kurt: »Öffentliche Diskussion von Kunsthistorikern und Kunstschriftstellern über die Antithesen des Vorabends«, in: Evers (Hg.): Darmstädter Gespräch, S. 110–113, hier S. 113. 42 Zit. nach Schuster, Peter-Klaus: »Kunst für Keinen – Zur inneren Emigration der deutschen Moderne«, in: Christos M. Joachimides/Norman Rosenthal/Wieland Schmied (Hg.): Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1905–1985. München: Prestel-Verlag 1985, S. 455–457, hier S. 457 mit Verweis auf Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst, S. 106. 43 »Es gibt keinen Menschen, welcher die Kunst nicht empfängt.« Oder: »Jedes Werk und jedes einzelne Mittel des Werkes verursacht in jedem Menschen ohne Ausnahme eine Vibration, die im Grund der des Künstlers identisch ist.« Kandinsky, Wassily/Marc, Franz (Hg.): Der Blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit (= Serie Pieper, Band 300), München/Zürich: Pieper 1990, S. 192.

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konnte, die auch schon mal als Kunst für Keinen bezeichnet wurde44 – hatte – anders als in Amerika – in der verordneten Selbstbescheidung der Malverbote entstehen müssen, also aus der inneren Emigration heraus, und damit aus einer Situation oft verzweifelter Abgeschlossenheit, die nicht selten durch den Druck drohender Verfolgung verschärft wurde. Baumeister und all die anderen, die in irgendwelchen Hinterstübchen zu Wuppertal,45 Urach und sonst wo im Geheimen an ihrer Kunst gewerkt hatten, in bitteren Jahren schöpferischer Kargheit und Einsamkeit, konnten nach dem Krieg auch deshalb einen elitären Standpunkt einnehmen und ihn durchhalten, weil sie über Jahre hinweg auf eine breitere Öffentlichkeit hatten verzichten müssen.46 Fritz Winter drückte es selbstrechtfertigend so aus: »Man darf in der Kunst, wenn man schafft, nicht daran denken, welchen Menschen es genehm ist oder nicht, sondern ob man der Schöpfung nähergekommen ist. Man darf sich nicht begrenzen mit dem Wofür.«47 Kunst brauche keine Zwecke, sagte der Apologet der modernen Malerei, Werner Haftmann, und meinte damit die Entbundenheit der Kunst von jeglicher öffentlicher Aufgabe in der modernen Gesellschaft.48 Mit der damit gemeinten Entpolitisierung, die im Sinne des Lagerdenkens Guibaults natürlich keine war, mit der Befreiung des Künstlers vom Joch der Inhalts- und Meinungsvermittlung mussten sich aber folgenreich auch

44 Ein treffendes Wort Peter-Klaus Schusters. Schuster: »Kunst für Keinen«, S. 457. 45 Vgl. Haftmann: Verfemte Kunst, S. 299–306 [Willi Baumeister], S. 307–313 [Oskar Schlemmer], S. 346–354 [Fritz Winter], S. 354–362 [Ernst Wilhelm Nay]. 46 In den Hinterstuben, so glaubt Kurt Leonhard, sei die Zukunftskunst entstanden. Leonhard, Kurt: Die heilige Fläche. Gespräche über moderne Kunst, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1947, S. 22f. 47 Selbstaussage Fritz Winters wohl von 1947, in: Poetter (Hg.): Zen 49, S. 275 mit Verweis auf Kunz, Karl: Extreme Malerei, Schaezler Palais, Augsburg: Berufsverband Bildender Künstler Schwaben 1947. 48 Haftmann, Werner: »Glanz und Gefährdung der abstrakten Malerei«, in: Die Zeit vom 17.1.1952, S. 4. Hier zit. nach Frosch: »Abstrakte und gegenständliche Malerei«, S. 117.

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die Konturen des Begriffs Kunst weiter auflösen oder sich ins nicht mehr beschreibbar Grenzenlose erweitern.49 Doch trotz oder gerade wegen dieser immer wieder beschworenen Bindungslosigkeit des Individuums, trotz oder gerade wegen des Phänomens der Entfremdung im Zeitalter der Technik, nahmen die Künstler – um es zu wiederholen – weiterhin für sich das Transzendente in Anspruch, 50 gaben dem irrationalen Hang zum Unendlichen gerne nach,51 manche eher in ekstatisch wuchtiger, andere mehr in geistig gezirkelter Form. Um dem Vorwurf der absoluten Hohlheit der da immer massenhafter entstehenden Kunstwerke zu entgehen oder ihm etwas entgegenzusetzen, zogen Willi Baumeister oder auch Ernst Wilhelm Nay – ebenso wie übrigens ihre Interpreten – Gleichnisse heran,52 die sowohl die Verbundenheit mit einer

49 Siehe auch die negative Meinung von Münch, Hans: Die gegenstandslose Kunst – ein Denkfehler. Mit Tatsachenmaterial zur Frage des Kunstdirigismus, Wels: Eduard Wancura Verlag 1960, S. 47: »Wie soll es nun diese ›Freiheit der Gestaltung‹ – die sich natürlich auf alles und jedes, nicht nur auf Anatomie ausdehnen läßt – wie soll es sie in der ›Gegenstandslosen Kunst‹ geben? Da gibt es von Anbeginn an ein Zuviel an Freiheit. Da ist alles möglich. Daher die Unverbindlichkeit. Denn es fehlt der ›Gegenstandslosen Kunst‹ dadurch, daß von ihren Schöpfern und Erfindern falsche Analogien zu Verhältnissen der Musik gezogen wurden und man an die Möglichkeit des freien Farbmusizierens und Formkomponierens ohne Bindung an den Gegenstand glaubte, die unabdingbare vorgegebene Ordnung ihres Ausgangsmaterials, um überhaupt ihre darin vollzogene Formung als gemeinverbindlich und als eine freie empfinden, als Gestaltung bezeichnen zu können – Gestaltung ist etwas anderes. Um sich dialektisch zu retten, wird von den Gegenstandslosen gesagt, sie gestalteten eben die Gestaltung an sich! Man muß sich nur einmal vor Augen halten, was das heißt: ›Sie gestalten die Gestaltung an sich!‹ Das ist Münchhausen, der sich selbst an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe zieht. Doch wollen wir uns hier nicht weiter mit Scheinargumenten der Gegenstandslosen abgeben.« 50 Redebeitrag von Kurt Leonhard. N.N.: »Schlußgespräch aller Teilnehmer«, in: Evers (Hg.): Darmstädter Gespräch, S. 197–198, hier S. 198. 51 Holzamer, Karl »›Das Menschenbild in unserer Zeit‹ in der Sicht der Philosophie«, in: Evers (Hg.): Darmstädter Gespräch, S. 79–86, hier S. 86. 52 Vgl. etwa den Auslegungsjargon bei Haftmann, Werner: E.W. Nay, Köln: DuMont Schauberg 1960, S. 123: »Mit Hilfe dieser Operationen formt sich das

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eigenen Tradition wie auch die spirituelle Einmaligkeit des Einzelwerkes rechtfertigen, ebenso wohl das mühsame Forschen am Stoff wie das überweltliche Einssein mit der Schöpfung erklären sollten. So sah Baumeister sein künstlerisches Schaffen in Analogie zur Religion und Wissenschaft. »[…] alle Religiosität ist nicht kausal und nicht logisch beweisbar – wie die Kunst«. »Auch die Genien der Kunst sind Glaube und Imagination. Die Kunst, und besonders die moderne Kunst, ist ausdrücklich irrational und kann sich nicht auf Rationalität stützen, ebenso wie der Glaube.« »Die abstrakte Kunst«, so hieß es gleich im Anschluss, »hat eine unerwartete Bestätigung in der Atomphysik gefunden. Alle Stofflichkeit löst sich auf in Kräfte. Die Zeit gliedert sich in die Vorgänge ein, und die Wahrscheinlichkeitsrechnung von Rutherford tritt an die Stelle der alten Kausalität. Im subatomaren Bereich gibt es Teile, die sich, unbekannten, freien Kräften zufolge, unbestimmbar verhalten. Auch hier Antilogik, Entmaterialisation, Entstofflichung, dafür Bewegung und Schweben.«53

Oder noch einmal anders und leicht variiert: »Die moderne Naturwissenschaft befaßt sich mit den Zellen, den Aufbaustrukturen, mit dem Atom, mit Quanten und dem Relativen […]. Diese Dinge gehören einer Welt an, die man naturalistisch nicht sehen kann. Die heutige Kunst ist eine vollkommene Parallele zu allen geistigen Sparten der jetzigen Zeit. Der Naturalismus wollte von außen her in die Dinge eindringen. Heute ist der innere Aufbau wesentlich.«54

Bild als selbständiger vibrierender Klangkörper. In ihm wird das Thematische zu visueller Dichtung umgeformt und die auf die Erregungen an Außenwelt und Universum antwortenden Gestalten aus dem mythischen Grund zur Erscheinung gebracht. In ihnen überformt sich die Spannung zwischen Ich und Welt in einem anschaubaren Gleichnis.« 53 Manuskript der Ansprache, die Willi Baumeister für das Darmstädter Gespräch 1950 vorbereitet hatte: Baumeister: »Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und Hausenstein«, S. 154. 54 Zit. nach Hildebrandt, Hans/Baumeister, Willi, in: Ottomar Domnick: Die schöpferischen Kräfte in der abstrakten Malerei, Bergen: Müller & Kiepenheuer

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In solchen Zeugnissen wurde nur wieder deutlich, dass nicht mehr vom Bild her gedacht, nicht mehr vom Produkt gesprochen wurde, sondern allein noch vom innerlichen Zustand des Künstlers, von der Produktion, also von einem Prozess einer personalen Erfahrungs- und Empfindungsentäußerung, die den Strukturlinien des eigenen Seins folgte. 55 Hinter den Analogieschlüssen Baumeisters stand natürlich der Wunsch, das Denk- und Empfindungsvermögen des Menschen jenseits der Grenzen des Begreifbaren und Begrifflichen wieder miteinander zu harmonisieren, nämlich in dem so oft beschworenen Unbekannten, da wo das Andere noch waltete, in jenen sprach- und namenlosen Räumen, in denen sich Religion, Wissenschaft und Kunst die Hände reichten, im Wissen darum, dass von den letzten Dingen schlechterdings nicht zu sprechen war. 56 Die Maler des deutschen Informel favorisierten das Sprechen über eine »aperspektivische Welt«,57 weil sie sich – wie damals schon Kandinsky – für die Kräfte hinter den Erscheinungen interessierten, diese – in irgendeiner Weise – ins Werk setzen wollten, als das wahrhaft Freie und Authentische.58 Deshalb wurden,

1947, S. 69. Hier zit. nach Wolf, Kati: »Absolute Malerei«, in: Poetter (Hg.): Zen 49, S. 55–73, hier S. 63. 55 Kritik etwa an der Parteiliteratur der Abstrakten, der vierdimensionalen Weisheitslehre, namentlich an Fritz Baumgarts »Die Kunst unserer Zeit« bei Melichar: Überwindung des Modernismus, S. 58–69 [Raum-Zeit-Phantasien der Abstrakten], hier S. 61. 56 Kritisch dazu Eichler: Könner, Künstler, Scharlatane, S. 218. 57 Vgl. Gebser, Jean: Gesamtausgabe. Band II. Ursprung und Gegenwart. Erster Teil. Die Fundamente der aperspektivischen Welt. Beitrag einer Geschichte der Bewußtwerdung. Mit einem Geleitwort von Joachim Illies, Schaffhausen: Novalis Verlag 1978, S. 26: »Der Begriff ›aperspektivisch‹ erhält von dorther seine Legitimation, sowohl natur- und geisteswissenschaftlich als auch künstlerisch verbindlich und anwendbar zu sein.« Zum Beispiel bei Haftmann: E.W. Nay, S. 133: »aperspektivischer Bildraum«, »aperspektivisch, statisches Bild«, S. 179: »Der Flächenraum des Bildes dreht sich in sich selbst. Diese Raumfigur ist a-perspektivisch und liegt außerhalb des Definitionsbereiches des euklidischen Raumes – ein a-perspektivisch figuriertes, nicht euklidisches Raumkontinuum.« 58 Eine Abrechnung mit den »Raum-Zeit-Phantasien der Abstrakten« bei Melichar: Überwindung des Modernismus, S. 58–69.

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ganz der Physik und der Mode entsprechend, die Begriffe ›Raum‹ und ›Zeit‹ zur Disposition gestellt.59 Aus diesem Grunde behauptete Baumeister auch, dass der Künstler aus seiner eigenen Quelle schöpfen müsse, aus einer Naturkraft in sich selber, die dem »Weltstoff« als Ganzem angehöre. Er forme mit seinem Werk einen »kleinen Kosmos, der […] parallel zur Natur« bestehen könne.60 Auch Ernst Wilhelm Nay kreiste immer wieder von Neuem das Kosmische ein, blieb in seinen Aussagen aber oft so unausdeutbar, wie seine Werke dekorativ: »Die Gestaltungsfähigkeit und die in der sichtbaren Natur zu erahnende gesetzbestimmende Gestaltform, beide sind Emanationen des Universums. Der Freiheit der Gestaltung tritt die Bindung an das Universum entgegen. Die Aufgabe ist nicht, das Universum zu gestalten, sondern sich hineinzuhalten und erregt im Staunen durch bewußtes Formen daran teilzunehmen.«61

Wegen der passiven Hingabe an die immer wieder apostrophiert ominöse Naturkraft konnte der »Künstler« von sich sagen: »Ich fühle mich von allen Nuancen des Unendlichen gefärbt. Ich bin nurmehr eins mit meinem Bilde.«62 Für Baumeister stand fest, »daß der Freiheitsbegriff und das

59 Haftmann: E.W. Nay, S. 179. Nay, Ernst Wilhelm: »Aufzeichnungen«, in: Ernst Wilhelm Nay/Siegfried Gohr/Werner Haftmann (Hg.): E.W. Nay – Retrospektive/A Retrospective, Köln: DuMont 1990, S. 25–38, hier S. 34f. 60 Zit. nach Wolf: »Absolute Malerei«, S. 58 mit Verweis auf Baumeister, Willi: »Zimmer- und Wandgeister. Anmerkungen zum Inhalt meiner Bilder«, in: Heinz Spielmann (Hg.): Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 12, Hamburg: Hauswedell 1967, S. 133. 61 Zit. nach Haftmann: E.W. Nay, S. 123. 62 »So wie er [der Maler] die Zeit überwunden hat, weil er sich ihrem Rhythmus integrierte, so ist der Maler von nun ab auch Meister des Raumes. Und erst jetzt kann er zusammenfassend sagen: ›Ich fühle mich von allen Nuancen des Unendlichen gefärbt. Ich bin nurmehr eins mit meinem Bilde‹.« Zit. nach Wolf: »Absolute Malerei«, S. 58 mit Verweis auf Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart, 2. Teil: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt. Versuch einer Konkretion des Geistigen, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1949/1953.

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Unbekannte die Motoren des Künstlers« seien,63 doch war ihm und musste ihm das Empfindungsvermögen weiterhin Instrument zur Vernahme des überweltlichen Bereichs des Unbekannten sein, da man das Andere in sich selbst zuerst einmal ausmachen musste, um es dann in einem Werkprozess materialisierend zu entäußern. Auch für den Produzenten hieß es zuerst einmal: Hirn aus, Herz an. Zwar wurde um 1950 wieder viel über das Geistige in der Kunst gesprochen und gestritten,64 aber auch den Empfindungen gab man den eigenen sub-spirituellen Ausdrucksraum, da wo etwa das Universelle durch eine »poetische Erhöhung« der »menschlichen Empfindung« zugänglich gemacht werden sollte.65 So manch einer sah in authentischen Gefühlen erneut die Grundbedingung jeden Kunstschaffens und auch die erste Voraussetzung für das qualifizierende Kunstverstehen. Die Tiefe und die Stärke des seelisch-geistigen Empfindens sei jene Eigenschaft, so formulierte es ein Autor namens Rudolf HuberWiesenthal, »ohne die von einer Berufenheit zur Kunst nicht gesprochen werden« könne. Und komme diese Kraft im Werk nicht voll und stark zum Ausdruck, so habe es mit Kunst im höheren Sinne nichts zu tun. In dieser Affektgeladenheit des Kunstwerks, dieser emotionalen Authentizität müsse man ein Urelement aller großen Kunst erkennen: »Der kalte Nur-Verstandesmensch wie der vegetative Nur-Körpermensch sind die reinen Un-Künstler; sie bilden den stärksten Gegensatz zum typischen KünstlerMenschen. Die seelische Wärme, die starke Konzentration des Gefühles ist ein Urelement aller großen Kunst. Sie erst verleiht einem Werk höchsten Reichtum und umgibt es mit überirdischem Schimmer.«66

63 Baumeister: »Zimmer- und Wandgeister«, hier nach Wolf: »Absolute Malerei«, S. 63. Auch bei Haftmann: Verfemte Kunst, S. 299–306 [Willi Baumeister], hier S. 300. 64 Der Grund für starke Töne bei Melichar: Überwindung des Modernismus, S. 9f. 65 Prosa zum »Freiburger Bild« Nays von Haftmann: E.W. Nay, S. 178: »Im Gleichnis der Kunst wird eine bestimmte Haltung zum Universellen konkret anschaubar und durch die poetische Erhöhung und Verherrlichung in der menschlichen Empfindung erlebbar.« 66 Huber-Wiesenthal, Rudolf: Sonderbares um moderne Kunst, Affoltern: AehrenVerlag 1949, S. 94 und S. 95f.

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Doch waren diese Affektionen, und darauf machte der Philosoph Arnold Gehlen aufmerksam, keine mehr, die in irgendeiner Weise gesellschaftlich einlösbar waren. Die Affekte, die in der »gegenstandslosen Kunst« niedergelegt seien, hätten nichts mehr mit »Moral, Erziehung, Dienst am Volke oder Weltanschauung« zu tun.67 Der Zeitgenosse verlange ja vor allem vom Werk, dass es ihn »an genau umgrenzter, erwarteter Stelle beunruhigen« solle. Der Betrachter um 1960 wolle eben »nicht mehr belagert, gepackt, veranlaßt, erschüttert und überwältigt werden«.68 Ob das so richtig war, ließe sich fragen, doch musste bei solchen Aussagen die Ungewissheit wachsen, ob mit der massenhaften Darbringung einer persönlich erarbeiten Wahrheit oder auch Authentizität – etwa mit den Scheibenbildern Ernst Wilhelm Nays – wirklich noch irgendetwas Wichtiges zur Welt kam, wirklich noch etwas Beunruhigendes angesprochen war? Oder kam hier vielmehr doch das Ornament zu sich selbst?69 War die deutsche Malerei des Informel, wie es Günter Grass 1980 wieder provokativ sagen konnte, zum Musterkatalog für die Tapetenindustrie verkommen, nur noch eine mit gegenstandsloser Harmoniesuche alles zukleisternde Dekoration, nach dem Motto Nays: Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur?70 War diese Kunst einmal mehr nur mit mittlerer Ernsthaftigkeit vorgetäuschte Authentizität? 71

67 Gehlen: Zeit-Bilder, S. 206. 68 Ebd. 69 Vgl. Fischer, Klaus-Jürgen: »Der Fall des Malers E.W. Nay – Ein heftig geführter Beitrag zu einer heftigen Diskussion«, in: Der Tagesspiegel vom 5.11.1964, zit. nach Archiv für Bildende Kunst am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): E.W. Nay 1902–1968, S. 256: »Gerade durch die Neue Abstraktion, die dabei ist, die Pop-Art und Neue Figuration abzulösen, erhält die kontemplativ durchreifte Magie des echten Ornaments eine globale Aufwertung, die noch nicht abzusehen ist. E.W. Nay aber betreibt auf dem Felde der Malerei die Degeneration des Ornaments zur laxen Arabeske, die der Kunstgeschichte schon wiederholt leichtere Pannen einbrachte, im Jugendstil dann aber verhängnisvoll wirkte und nun in der konventionalisierten abstrakten Malerei kein geringeres Unheil stiftet.« 70 Haftmann: E.W. Nay, S. 180. 71 Gombrich, Ernst H.: »Das Überpersönliche in der Kunst«, in: ders.: Die Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 137–145, hier S. 139.

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Die Beanstandungen gegenüber dieser »Ausdruckskunst« kamen nach 1960 nicht mehr von konservativer oder katholischer Seite, sondern von einer Generation, die mit der politiklosen Haltung einer ehemals verfemten Empfindungs- und Erkenntniselite nichts mehr anfangen wollte. Ab 1960 begann eine jüngere Generation verstärkt »nach dem ›Wozu‹ der Freiheit« zu fragen,72 nach dem Wozu des kultiviert unpolitischen Einzelgänger- und Außenseitertums?73 Die Beanstandungen richteten sich aber nicht nur gegen die Kunst und die in die Jahre gekommenen Künstler, sondern auch gegen die ›Verfestigung‹ der gegenstandslosen Malerei in Theorie und Geschichtsschreibung, gegen die gleich nach dem Krieg einsetzende Kanonbildung etwa in Werner Haftmanns Buch, Malerei im 20. Jahrhundert, das erstmals 1954 erschienen war und dann häufiger in überarbeiteten und erweiterten Fassungen erschien. In der vierten Auflage von 1965 hob Haftmann die seit 1955 entstehenden Scheibenbilder Ernst Wilhelm Nays in den Himmel und damit ab von allen irdischen Wechselfällen. In einer Polemik gegen Nays prominenten Auftritt auf der Documenta III in Kassel versuchte Hans Platschek mit Verweis auf Inkonsistenzen nicht nur, die Malerei und den Maler zu erledigen, sondern die Schönfärberei und Süßholzhermeneutik des verständnisvollen Schrifttums gleich mit. »Der Unsinn der Texte, die Unverbindlichkeit der Scheiben hat Methode, wenn nicht gar Raffinement. Will man hierzulande an die Spitze der Ranglisten, so muß ein Bild entstehen, ein Universales, das den Effekt hervorbringt, den der Verbraucher sich wünscht.«74 Mit Recht wies der Kritiker darauf hin, dass der Künstler nicht mehr nur die Bilder, sondern aufgrund der nicht mehr gegebenen Allgemeinverständlichkeit der Gemälde gleich auch die Meinungen und Deutungen mitliefern müsse, um überhaupt noch am Markt bestehen zu können und die Ranglisten zu be-

72 Gehlen: Zeit-Bilder, S. 207. 73 Nay, Ernst Wilhelm: »Will ich Rettung?«, in: Archiv für Bildende Kunst am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): E.W. Nay 1902–1968, S. 229–230. 74 Platschek, Hans: »Nays Scheiben – Ein repräsentativer deutscher Maler genauer betrachtet«, in: Die Zeit vom 4.9.1964, zit. nach Archiv für Bildende Kunst am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Hg.): E.W. Nay 1902–1968, S. 253.

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herrschen.75 »Indem der Apparat mit dem Bild gleich das an die Öffentlichkeit bringt, was das Bild dem Beschauer gibt, fingiert er einen Gebrauchswert, den das Bild haben kann – oder auch nicht.«76 Die Kunst trete – so meinte Platschek – nun immer unverhohlener als Ware auf77 und, um für sie eine Nutzanwendung wenigstens zu behaupten, werde ihr ein Gedankengut oder eine Ideologie mitgegeben, egal ob sich diese nun als ›Avantgardismus‹ oder als ›evokatives Denken‹ ausgebe, oder, um auf Haftmann zu verweisen, als Fülle der menschlichen Empfindungen. In jedem Fall füge diese Ideologie des Unpolitischen dem nutzlosen Bild Nützliches hinzu und ersetze dadurch die subjektive Wertschätzung. Den ermüdenden Wiederholungszwang der künstlerischen Moderne empfanden auch andere stark. Selbst Freunden Nays konnte nun etwas fehlen, so manchem war die Schöpfung der Bilder allein aus den eigenen malerischen Mitteln heraus zu wenig, also die Behauptung, das Gemälde könne eine »ganz für sich existierende Eigenwelt« für sich beanspruchen. 78 Diese a-perspektivische, a-politische Autonomie des Bildes wurde deshalb hinterfragt, weil man glaubte, dass das Kunstwerk nur durch den Rückbezug auf das Authentische des menschlichen Lebens irgendeine Bedeutung erhalten könne. Schwierig sei es da, sich des Eindrucks zu erwehren, dass es dieser Kunst aufgrund der angestrebten Sinnlosigkeit und Abgeschlossenheit – aufgrund des Autismus dieser Kunst für Keinen – an einer Metaphysik des Bildes fehle.79 Dabei war Nay trotz leichter Selbstzweifel der festen Überzeugung, dass er mit seiner vermeintlichen Aperspektivität,

75 Ebd., S. 252. 76 Ebd. 77 Ein Argument, das auch in anderem Zusammenhang schon hatte aufkommen können. Willrich, Wolfgang: Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art, Berlin: J.F. Lehmanns Verlag 1937, S. 77. 78 Usinger, Fritz: Ernst Wilhelm Nay (= Monographien zur rheinischwestfälischen Kunst der Gegenwart, Band 21), Recklinghausen: Verlag Aurel Bongers 1961, S. 15–18 [Metaphysik des Bildes], hier S. 15. 79 Ebd., S. 17f.: »Die Verbindung von Kunstwerk und Sinn ist [18] periodisch in manchen Zeiten […] vorhanden, in anderen nicht. Heute gibt es eine Verbindung nicht, und die Künstler wachen streng darüber, daß es sie nicht gibt, und machen sich einen Stolz daraus.«

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Alogik, Akausalität in die Zukunft verweisen, dass er mit seinen bewusst »sinnlosen« Werken einer jüngeren Generation den geheiligten Weg der Moderne vorzeichnen und bereiten könne. 80 Dass dem nicht so sein sollte, spürte der alternde Maler irgendwann auch selbst, denn das Neue und die Neuesten gingen an ihm und an der Malerei des deutschen Informel als einem Ladenhüter ganz achtlos vorbei. Was blieb, waren »die formalen Qualitäten des Reizenden, bis zum Beglückenden hin«, wie Arnold Gehlen die Nay’sche Ornamentik um 1960 aufzuwerten wusste,81 was blieb, war »schönfarbige Hedonistik«.82 Die »Entlastung des Bewußtseins«, 83 die dieser Kunst eingeschrieben war, jene Freiheit zum »Nichts weiter«, die dort geduldig, ja geradezu unermüdlich zelebriert wurde, diese harmlose Authentizität und oft auch humorlose Harmonieverliebtheit wollte ab den späten sechziger Jahren niemand mehr wirklich anschauen.84 Von hervorgerufener Nervosität war da keine Rede mehr.

80 Haftmann, Werner: »E.W. Nay – Das Spätwerk«, in: E.W. Nay (1902–1968), Köln: DuMont 1969, S. 7–15, hier S. 7f. 81 Gehlen, Zeit-Bilder, S. 99. 82 Ein erstaunliches Wort Werner Haftmanns zu den späten Arbeiten von Fritz Winter. Haftmann: Verfemte Kunst, S. 346–354 [Fritz Winter], hier S. 354: »So verloren seine späten Arbeiten sich oft in einer schönfarbigen Hedonistik.« 83 Gehlen, Zeit-Bilder, S. 205. 84 Vgl. die Meinung von Wind, Edgar: Kunst und Anarchie. Die Reith Lectures 1960. Durchgesehene Ausgabe mit den Zusätzen von 1968 und späteren Ergänzungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1979, S. 35: »Die Vertreter einer engagierten Kunst wollen uns weismachen, es sei nicht nur falsch, sondern gar böse, ein Werk ästhetisch hochzuschätzen, wenn wir mit seinen geistigen Voraussetzungen nicht übereinstimmen. Die Anhänger der ›reinen‹ Kunst hingegen erwarten, daß wir jede künstlerische Leistung nach ihren eigenen Kriterien gelten lassen, ohne die zugrundeliegenden Wertentscheidungen auch nur in Frage zu stellen.«

Reproduzierte Originale und originale Reproduktionen Zur Paradoxie von Authentizität in der Architektur O LAF G ISBERTZ

E CHT

UNECHT

– UNECHT

ECHT

Wie echt ist unecht? – Wie unecht ist echt? Diese Fragen stehen selten am Beginn von Expertisen, wenn es um die Taxierung von Meisterwerken auf dem Kunstmarkt geht. Denn schon der geringste Zweifel an der Echtheit eines Werkes löst beim Betrachter meist eine emotionale Enttäuschung aus. Schließlich sind Urteile – sofern sie die künstlerische Authentizität tangieren – Werturteile mit normativem Charakter. Fallen sie negativ aus, implizieren sie vielfach den Vorwurf von Fälschung oder Betrug, häufig sogar mit moralisch-ethischem Impetus. Dabei konstituieren nicht nur die künstlerischen Eigenschaften des Werkes selbst, sondern auch die Art und Weise seiner Präsentation und die Einstellungen und Intentionen der Urheber und Betrachter ein zeitlich begrenztes Referenzsystem für ›künstlerische Authentizität‹.1 Die Revision von Echtheitsgarantien hat in Bezug auf Werke der Malerei immer wieder für Furore gesorgt. Durch den Zweifel an der Authentizität eines Werkes muss die Geschichte der Malerei, wenn nicht 1

Vgl. Wenninger, Regina: Künstlerische Authentizität. Philosophische Untersuchung eines umstrittenen Begriffs, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 14–17.

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gar die Geschichte der Kunstgeschichte, immer wieder von Neuem geschrieben werden. Häufig sind dabei Bildnisse prominenter Maler wie Rembrandt oder Vincent van Gogh aus dem elitären Fachdiskurs in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten: Vor allem ihre Selbstporträts2 suggerieren durch die vom Künstler selbst bezeugte Anwesenheit im Werk dessen Authentizität. Auf Seiten der Architektur stellt sich die Frage um reproduzierte Originale und originale Reproduktionen insbesondere in Hinblick auf die denkmalpflegerische Einschätzung von Bauwerken und Denkmälern. Ein heftiger Streit ist 2009 in Braunschweig über den Authentizitätsgehalt eines Verwaltungsgebäudes der Nachkriegsmoderne im Zuge seiner denkmalpflegerischen Instandsetzung entbrannt. Es handelt sich um das sogenannte Okerhochhaus der Technischen Universität Braunschweig (Abb. 1) nach Entwürfen von Dieter Oesterlen, neben Friedrich Wilhelm Kraemer ein Hauptprotagonist der Braunschweiger Schule. Es ist ohne Zweifel ein Baudenkmal von internationalem Rang, früher entstanden als das berühmte Thyssen-Dreischeibenhochhaus von Hentrich, Petschnigg und Partner (1955ff.) oder das Mannesmann-Hochhaus von SchneiderEsleben in Düsseldorf (1956–58), sogar früher erbaut als das SeagramBuilding von Mies van der Rohe in New York (1958). Trotz Eintrag in die Niedersächsische Denkmalschutzliste 2001 wurde die wegen unterlassener Gebäudeerhaltung über Jahrzehnte stark ramponierte Fassade durch ein neues Fassaden-System ersetzt. Der Vergleich zwischen Alt und Neu offenbart die Unterschiede in Form und Funktion. Besaß die ›echte‹ Fassade, die dem Urheber zugesprochen werden kann, ein aus der Konstruktion entwickeltes, feingliedriges Fassadenrelief, besticht die neue Fassade unter Einhaltung aller Erfordernisse der Energieeffizienz durch eine plan gezeichnete Oberfläche,

2

Koldehoff, Stefan: »Van-Gogh-Fälschungen. Echt oder falsch«, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.10.2005, http://www.sueddeutsche.de/kultur/van-gogh-faelsch ungen-echt-oder-falsch-1.421131 vom 5.5.2011. Bodenbach, Hans Joachim: Rembrandt-Selbstporträts von fremder Hand, Husum: Verlag der Kunst 2003, S. 5–44. Gemäldegalerie Berlin (Hg.): Rembrandt. Genie auf der Suche. Mit Essays von Kristin Bahre u.a., Köln: DuMont 2006, S. 208. Vgl. Alpers, Svetlana: Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt, Köln: DuMont 1989, S. 128–197.

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UND ORIGINALE

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Abb. 1: Okerhochhaus, Dieter Oesterlen, Braunschweig, 1954–56, Zustand nach der Sanierung 2010 die jeglicher Schattenwirkungen entbehrt. Die für die Lichtatmosphäre bei Tag und Nacht so prägnanten Oberlichter wurden nach Einbau eines einheitlichen Isolier-Fenstersystems durch Plagiate ersetzt. Die Verbindung von Innen- und Außenbau, die Ablesbarkeit von Konstruktion und Form, vom großen Tragsystem bis hin zum fein geschichteten Fugennetz, sind für den Betrachter nach Ende der Sanierungsarbeiten nicht mehr ablesbar. Die Architektur avanciert hier zur Simulation, die nur aus der Ferne bildhaft eine Vorstellung vom Gewesenen erwirkt: eine beinahe perfekte Illusion! Folglich rühmt der Fassadenhersteller in seiner Werbebroschüre auch das gewünschte Ergebnis, »dass die grundlegend sanierte Fassade des Okerhochhauses optisch exakt dem Original entspricht.«3 Mit welcher Verve solche Reproduktionen in der Architektur über die Fachkreise hinaus in die öffentliche Debatte um die Begriffspaare ›echt und unecht‹, ›Kopie und Plagiat‹, ›Original und Fälschung‹ geraten, belegt der gegenwärtige Diskurs um aktuelle Rekonstruktionsprojekte in Deutschland und Osteuropa. Mehr als im asiatischen Kulturkreis bilden hier Geschichtskonstruktionen mit Fokus auf den Begriff der Authentizität das Reizthema eines öffentlich ausgetragenen Disputs. Es ist das Diktum Walter Benjamins vom ›Verlust der Aura‹, wenn ein Kunstwerk das »Hier und Jetzt […] – sein einmaliges Dasein an dem Orte, 3

Udhe, Robert: »Leicht wie Stein«, in: aface. Das alsecco Magazin über Architektur und Fassaden 1 (2010), S. 34–35, hier: S. 35.

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an dem es sich befindet«4 – durch die Reproduktion in der Rekonstruktion verlässt, was die Kontrahenten der Debatte bewegt und sogar veranlasst, fernab aller Bekundungen um einen sachlichen Gedankenaustausch auch persönlich gegeneinander vorzugehen. 5 Was Benjamin für die Bereiche der bildenden Künste im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit proklamierte, lässt sich ohne weiteres auch auf die Sphären der Architektur übertragen, gehören doch reproduzierende Techniken der Wiederholung und des Transfers früherer Bauwerke in eine andere Zeit, in ein anderes Medium und in ein verändertes Umfeld zum Selbstverständnis der europäischen Architektur.6 Besonders in den Kommunikationsmedien der Architekten, in der Zeichnung und im Modell, gehörten spätestens seit der Renaissance auch idealtypische Rekonstruktionen von antiken Bauwerken – die Simulation von Vergangenheitsszenarien an Objekten der Baukunst – zum Curriculum architektonischer Handfertigkeiten. So steht dem klassischen, erst um 1900 ausgebildeten Paradigma der Denkmalpflege nach Bewahrung eines weitgehend materiellen Substanz- und Alterswertes (Georg Dehio/Alois Riegl) eine kulturelle Praxis der kollektiven Erinnerung an »Gedächtnisorten in Raum und Zeit«7 entgegen. Zeitgenössische Definitionen von Authentizität dürfen daher nicht zu der Annahme verleiten, dass die Antike, das Mittelalter, die Renaissance oder der Barock die gleiche Haltung gegenüber den Begriffen von Original, Kopie oder Fälschung eingenommen hätten. Epiphanios von Salamis, Bischof des 4. Jh.n.Chr., schätzte eine Kopie mehr als ein Original. Für ihn war die Wiederholung das gewünschte Produkt, das nicht den Fehler einer individuellen Erfindung enthielt.8 Erst in der Renaissance – mit der Vor-

4

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-

5

Vgl. Tauber, Christine: »Konservieren oder Restaurieren? Neue Beiträge zu

barkeit. Drei Studien zur Soziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 13. einer alten Debatte«, in: Kunstchronik 64 (2011), S. 135–142.

6

Vgl. Bartsch, Tatjana et al. (Hg.): Das Originale der Kopie. Kopien als Produkte und Medien der Transformation von Antike (= Transformation der Antike, Band 17), Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 1–26.

7

Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und

8

Barbanera, Marcello: »Original und Kopie. Bedeutungs- und Wertewandel eines

Geschichtspolitik, Bonn: C.H. Beck 2007, S. 217. intellektuellen Begriffspaares seit dem 18. Jahrhundert in der klassischen

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stellung vom schöpferischen Genie und eines von eigener Hand geschaffenen Kunstwerkes – setzte sich die auf die Erfindungsgabe des Künstlers basierende Originalität durch: ein Konzept, das in der bildenden Kunst zwar rasch einen florierenden Handel mit Fälschungen provozierte, das aber spätestens von Johann Joachim Winckelmann im 18. Jahrhundert zum Ideal, wenn nicht gar zum Prinzip erhoben wurde. Doch schon in der Nachfolge Winckelmanns sollte sich die Werteskala des Authentischen zwischen vermeintlichen Original- und geschichtlich determinierten Erinnerungswerten verschieben. Um der Paradoxie von Authentizität und Wiederholung in der Architektur nachzugehen, erscheint es sinnvoll, nach zu identifizierenden Kategorien der Auftraggeber und Architekten von mutmaßlichen Rekonstruktionen zu fragen und in Analogie zur Archäologie des späten 18. Jahrhunderts nach Kriterien vorzugehen, die schon im Streit um die Echtheit der ›Antiken‹ zur Unterscheidung von Original und Kopie hilfreich waren. Einen wesentlichen Einfluss auf die Debatte übte Ennio Quirino Visconti aus, der gemeinsam mit seinem Vater die Inventarbände über die Sammlung des Museo Pio-Clementino herausgab und zu den führenden Antiquaren in Rom zählte, bevor er 1799 als politischer Flüchtling nach Paris kam. Führte Visconti nach langjährigen Studien Begriffe wie »Prototyp«, »Replik« und »Variante« in den wissenschaftlichen Diskurs ein,9 die noch im 19. Jahrhundert das archäologische Denken bestimmen sollten, so ließen sich rekonstruierte Architekturen der Zeit komplementär als »Archetypen«, »Varianten« und »Korrekturen« betrachten – gleichsam wie Paradoxien der architektonischen Entwurfspraxis.

ARCHETYPEN : (R E -)K ONSTRUKTIONEN DES AUTHENTISCHEN Mit der Antikensehnsucht und der Suche nach nationalen oder bürgerlichen Identitäten in Europa intensivierten sich – noch weit im Vorfeld der

Archäologie«, in: Max Kunze (Hg.): Akzidenzen 17. Flugblätter der Winckelmann-Gesellschaft, Stendal: Winckelmann Gesellschaft 2006, S. 3–55, hier S. 31. 9

Ebd, S. 21.

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Französischen Revolution – die Bemühungen um die Erforschung des »Alterthums«. Dabei ging es kaum um die befundorientierte Dokumentation von im Boden verborgenen Zeugnissen der Vergangenheit, sondern vielmehr um die Konstruktion von historischer Authentizität. Im Zuge der Antikenverehrung erregten im 18. Jahrhundert die Zeugnisse der römischen Vergangenheit eine besondere Aufmerksamkeit. Die römischen Ruinen fanden bei Humanisten der Zeit eine tiefe Bewunderung. Viele Inschriftensteine wanderten schon alleine aus philologischem Eifer in die fürstlichen Antiquitäten- und Wunderkammern. Die Ruinen selbst avancierten zu ›Landmarks‹ der Vergangenheit und wurden vielerorts rekonstruiert – die Befunde in Zeichnungen festgehalten oder durch ergänzende Baumaßnahmen im Sinne einer Memoria10 neuinszeniert. Die Porta Nigra in Trier – weder auf einer Inschrift noch von einem antiken Autor erwähnt – geriet nach Anmerkungen in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts verstärkt ab Mitte des 17. Jahrhunderts in den Blickpunkt der Historiografie. Besonders Fragen zur frühen Baugeschichte der Toranlage – ob römischen oder treverischen Ursprungs – bestimmten den Geschichtsdiskurs. Wegen ihrer monumentalen Wucht bei ausgewogenen Proportionen und präziser Behandlung der Steinquader hielten die Historiker Christoph Brower und Jacob Masen, deren Folioband über die Geschichte der Stadt Trier 1670 erschienen war,11 die Porta Nigra für ein römisches Werk. Anders fiel die Meinung bei Johann Nikolaus von Hontheim aus, der sie trotz ihres römischen Namens als ein bedeutendes Bauwerk gallischer Provenienz auswies.12 Seine Zeichnung mit Ansicht der Nordfassade und

10 Vgl. Buttlar, Adrian von: »Kunstdenkmal versus Geschichtszeugnis«, in: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hg.): Denkmalkultur zwischen Erinnerung und Zukunft (= Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 70), Bonn: 2004, S. 32–35, hier S. 33. 11 Brower, Christoph/Maser, Jacob: Antiquitatum et annalium Treverensium libri XXV, Lüttich: J.M. Hovius 1670. Vgl. im Folgenden: Gose, Erich: »Die archäologische Erforschung der Porta Nigra«, in: ders. (Hg.): Die Porta Nigra in Trier, Band 1, Berlin: Gebr. Mann 1969, S. 9–32, hier S. 11. 12 »Nomen Romanum est, res ipsa antiquior et Gallica« – Der Name ist römisch, der Bau älter und gallisch. Hontheim, Johann Nicolaus von: Historiae Trevirensis diplomaticae et pragmaticae, Augustae Vindelicorum [Augsburg]:

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Abb. 2: Porta Nigra, Trier, Rekonstruktion von der Stadtseite 1768, S. 141 entsprechendem Grundriss von 1757 zeigt einen rekonstruierten Zustand des Gebäudes zu einer Zeit, als die beiden Untergeschosse durch Erdaufschüttungen den Blicken der Betrachter entzogen im Boden verborgen waren. V. Hontheims Gedankenspiel um die Rekonstruktion eines vermuteten ›Ursprungszustandes‹ führte Jean Antoine 1768 mit weiteren Überlegungen zur Entstehungsgeschichte der Toranlage fort: Er vermutete ihre Errichtung unter den Treverern vor Ankunft der Römer in Gallien.13 Seine beinahe flüchtige, mit wenigen Strichen hingeworfene Rekonstruktion (Abb. 2) zeigt das Gebäude von der Stadtseite, ohne die dem Bau später eingeschriebenen Veränderungen zu berücksichtigen. Dabei charakterisierten die hinzugefügten Umbauten einen erheblichen Teil des Gesamtensembles: eine doppelgeschossige Stiftskirche aus dem 11. Jahrhundert mit angefügtem Ostchor aus den Jahren 1148–53, das Ganze noch im 18. Jahrhundert barockisiert, bevor das Stift 1802 im Zuge der Säkularisierung aufgehoben wurde. In diese Zeit datieren erneut Überlegungen zur

Veith 1757, S. 17, § XVIII. Zit. nach Gose: »Die archäologische Erforschung der Porta Nigra«, S. 12. 13 Antoine, Jean: Traité d’architecture, ou proportions des trois ordres grecs, sur un module de douze parties, Trèves: Gervois 1768, S. 141.

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Rekonstruktion, die Toranlage ›all’antica‹ in Grund- und Aufrissen darzustellen.14 Die rege Diskussion um eine Rekonstruktion auf dem Papier wurde nach einem Besuch Kaiser Napoleons rasch zur gebauten Realität: »Als im Jahre 1804 Kaiser Napoleon I. in Trier anwesend war, wurden demselben von dem Staatsrath Cretet die Schriften von Brower und Masen, Hontheims Prodromus und der 2. Band von den ›Memoires de l’institut national des sciences et arts – Litterature et beaux arts‹, worin ein Aufsatz von Peyre ›Antiquités de la ville de Trëves‹, mit ihren Abbildungen der Porta Nigra resp. St. Simeonskirche zur Einsicht vorgelegt, wodurch die im Journal des Saardepartements vom Jahre XIII, Nr. 5 veröffentlichte kaiserliche Entscheidung kam, ›das gallische Gebäude der Simeonskirche solle wieder in seiner ursprünglichen Gestalt hergestellt, zu dem Ende Alles abgetragen werden, was seit seiner Errichtung zu einer Kirche hinzugethan worden sei. Der Maire von Trier wurde beauftragt darüber einen Plan vorzulegen‹.«15

Noch im gleichen Jahr begannen die Rekonstruktionsarbeiten, alles weitgehend dokumentiert durch die Ansichten in Zeichnungen und Aquarellen von Johann Anton Ramboux um 1814–27. Napoleons Motive für die Wiedergewinnung eines antiken Archetyps liegen auf der Hand, galt es doch, durch Rückgewinnung eines ›gallischen‹ Baudenkmals den napoleonischen Machtanspruch auf das linksrheinische Territorium durch ein bauliches Zeugnis zu unterstreichen. In der Rekonstruktion des Imperium Romanum sollte sich mit dem Verweis auf die Antike Napoleons Kaiserwürde legitimieren. Der Rückbau der Porta Nigra transformierte die Antike somit in die Gegenwart und koppelte die Vergangenheit durch die Rekonstruktion an dem für die Antike verbürgten Ort an die Zukunft.

14 Peyre, (vermutlich) Antoine François: Mémoires de l’institut national des sciences et arts, litterature et beaux arts, Paris: Baudouin 1798, S. 553ff. Vgl. Gose: »Die archäologische Erforschung der Porta Nigra«, S. 13f. 15 Ladner, Math[ias]. Jos[ef].: Jahresbericht der Gesellschaft für nützliche Forschungen zu Trier vom Jahre 1857, Trier: Fr. Linz’ sche Buchhandlung 1858, S. 39. Zit. nach Gose: »Die archäologische Erforschung der Porta Nigra«, S. 14.

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Diese zeitliche Überblendung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war ein wesentliches Merkmal der kulturellen Praxis zur Aneignung der Antike um 1800. Es sollte die Baugeschichte um den weiteren Rückbau der Toranlage in Trier wesentlich beeinflussen. Auch nach Abzug der französischen Truppen wich das Königreich Preußen nämlich nicht vom napoleonischen Plan ab und setzte die Rekonstruktionsarbeiten unter Baurat Carl Friedrich Quednow fort, gleichwohl unter Verschiebung der ihr unterlegten Motive der ›nation building‹: Die Rekonstruktion – 1827 unter Erhaltung der romanischen Chorapsis abgeschlossen16 – hatte nun nicht mehr nur ein Idealbild der Antike vor Augen, sondern widmete sich auch den mittelalterlichen Bauphasen. Preußens Huldigung nationaler, ›vaterländischer‹ Denkmäler umfasste sowohl römische Zeugnisse der Vergangenheit als auch die Spuren des Mittelalters. Der Rückbau, das Herausschälen einer baulichen ›Urfassung‹, eines architektonischen Archetyps, hat aber die Denkmodelle der Rekonstruktion in Europa um 1800 weitgehend bestimmt, auch im deutschen Einflussbereich: Die Zeichnungen Friedrich Gillys von der Marienburg, datiert 1794, forderten das rekonstruierende Weiterbauen geradezu heraus. Doch Gillys »träumerische Reduzierung der Marienburg auf die nackte Rationalität der Konstruktion […] gereinigt von allen Spuren der Geschichte […] zum Denkmal einer geschichtlich kaum mehr bestimmbaren Epoche«17, wie dies Fritz Neumeyer pathetisch formulierte, musste in den posthumen Veröffentlichungen seiner Zeichnungen durch Friedrich Frick einer »Vollständigkeit und Genauigkeit im Detail«18 nach archäologischen, gleichsam wissenschaftlich überprüfbaren Darstellungsprinzipien weichen. Die spätere Rekonstruktion der Marienburg, die freilich mit Untersuchungen der Bausubstanz vor Ort fundiert wurde, erschien im Mappenwerk Fricks wie eine frühe Antizipation im Grafikformat, gleich einem Baukasten von Rekonstruktionsmöglichkeiten. (Abb. 3) Die

16 Quednow, Carl Friedrich: Beschreibung der Alterthümer in Trier und dessen Umgebungen aus der gallisch-belgischen und römischen Periode, Trier: J.J. Linz 1820, S. 18–54, Tafel III–VII. Vgl. Gose: »Die archäologische Erforschung der Porta Nigra«, S. 27. 17 Neumeyer, Fritz: Friedrich Gilly. Essays zur Architektur 1796–1799, Berlin: Ernst 1997, S. 50f. 18 Ebd., S. 54.

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Abb. 3: Friedrich Frick, Durchschnitt und Verzierungen des Alten Schloßes, Marienburg Resonanz war enorm: 1804 wurden der begonnene Abriss der Marienburg eingestellt und 1813, im Jahr der ›Völkerschlacht von Leipzig‹, der Wiederaufbau zum Nationaldenkmal beschlossen.19

V ARIANTEN : R EKONSTRUIERENDE E NTWÜRFE

ALS

P ARADOXON

Spätestens seit Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (Dresden 1755) beeinflusste die Frage nach Wiederholung im Studium antiker Bauten auch das Arbeiten am architektonischen Entwurf. Friedrich Weinbrenner, der sich wie viele seiner Zeitgenossen während seines Rom-Aufenthaltes mit antiken Schriftwerken befasste, versuchte sich an Baurekonstruktionen nach den in den Quellen beschriebenen Hinweisen. So entstanden in den Jahren 1793/94 eine Serie von Zeichnungen zu dem von Lucian beschriebe-

19 Vgl. Huse, Norbert: Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München: C.H. Beck 1984, S. 35.

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nen Römerbad des Hippias.20 Zeitgleich bearbeitete er eine Rekonstruktion des 1784 entdeckten Römerbades von Badenweiler auf der Grundlage des archäologischen Ausgrabungsplanes,21 den er mit nach Rom genommen hatte. Weinbrenners Engagement für eine Rekonstruktion antiker Bauwerke machte ihn in Rom, wo die Pläne des Hippias-Bades öffentlich ausgestellt worden waren, »mit einem Schlage«22 bekannt; in der Heimat blieb ihm das Lob versagt. Das Karlsruher Bauamt verurteilte Weinbrenners »Restaurationen« von Gebäuden als »leere Phantastereien« und appellierte an den jungen Architekten, »dergleichen exzentrische Arbeiten« zu unterlassen.23 Weinbrenner konterte Jahre später bei Veröffentlichung seiner Rekonstruktionszeichnungen: »In Hinsicht der vorliegenden Konstruktionen und Ergänzungen will ich mich jedoch gerne bescheiden, dass vielleicht die Originale um vieles anders ausgesehen haben mögen, als ich die Schönheit und Erheblichkeit derselben jetzt, nach einer so langen Reihe von Jahrhunderten, wo man in der Baukunst so weit zurückgekommen ist, darzustellen im Stande bin. Es giebt hier ohne Zweifel, verschiedene Begriffe und Ansichten, inzwischen glaube ich für die meinige in den Überresten des Alterthums einige Bestätigung zu finden, bey andern Künstlern würden sich andere Resultate ergeben. So hat sich z.B. Turand [gemeint Durand, O.G.] das Bad des Hippias (s. dessen parallelé d’Architeckture) ganz anders, als ich vorgestellt, und so möchte sich auch wohl jeder andere Baumeister, solches wieder auf eine andere Weise denken, aber es kann nur Gewinn für die Kunst selbst seyn, wenn die

20 Weinbrenner, Friedrich: Entwürfe und Ergänzungen antiker Gebäude, Band 1, Carlsruhe & Baden: D.R. Marx’ sche Buch- und Kunsthandlung, H. 1. 1822, S. 3–18/Taf. IV–VII. 21 Heinz, Werner: »Die römische Thermenruine von Badenweiler und die Probleme der Konservierung«, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 8 (1979), S. 65–169. 22 Valdenaire, Arthur: Friedrich Weinbrenner. Sein Leben und seine Bauten, Karlsruhe: Müller 41985, S. 32 und S. 35. 23 Schreiber, Aloys (Hg.): Friedrich Weinbrenner. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, von ihm selbst geschrieben, Heidelberg: Verlag Georg Reichard 1829, S. 119.

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Bestrebungen mehrerer Künstler, von verschiedenen Wegen aus, auf einem Punkte zusammentreffen.«24

In dieser Beschreibung schwingt die Begeisterung für die Antike als Fundus des eigenen kreativen Entwurfs des Architekten mit, dem nicht nur an der Darstellung eines korrekten, womöglich wissenschaftlich nachweisbaren ›Urzustandes‹ gelegen war. Rekonstruktionen antiker Bauwerke konnten in der Generation Weinbrenners vor der Folie der Antike als architektonische Stegreifversuche zu einer »praktischen Ästhetik«25 interpretiert werden. Weinbrenner trat mit seinem rekonstruierenden Entwurf in Konkurrenz zur Antike, gleichermaßen in einen Wettstreit mit den Baumeistern des Altertums und den Architekten seiner Zeit. Verschiedene Varianten in der rekonstruierenden Entwurfsarbeit wurden dabei von vornherein einkalkuliert. Auch bei Karl Friedrich Schinkel spielten rekonstruierende Gedankenspiele eine wesentliche Rolle. Sie blieben nicht nur zeichnerische Fingerübungen, wie bei seinen Plänen für die Villa Laurentina, die er nach den antiken Aufzeichnungen des Plinius d.Ä. anfertigte, 26 sondern wurden auch hinsichtlich einer konkreten Ausführbarkeit erprobt: Für das bayerische Könighaus hatte er durch Vermittlung Friedrich Wilhelms von Preußen verschiedene Blätter für den Bau einer königlichen Residenz auf der Akropolis angefertigt und sie mit einem Erläuterungsbericht an Maximilian gesandt.27 Danach hatte Schinkel vorgesehen, die antiken Hauptbauten, d.h. die Ruinen des Parthenontempels, des Erechteions, des Niketempels und

24 Weinbrenner: Entwürfe und Ergänzungen antiker Gebäude, S. 2 [Schreibweisen entsprechen der Originalquelle, O.G.]. 25 Schumann, Ulrich Maximilian: Friedrich Weinbrenner. Klassizismus und »praktische Ästhetik«, München: Deutscher Kunstverlag 2010, S. 86–90 und S. 312–324. 26 Haus, Andreas: Karl Friedrich Schinkel als Künstler, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2001, S. 327. Vgl. Schinkel als Denkmalpfleger: Brues, Eva: Karl Friedrich Schinkel – Lebenswerk. Band 12: Die Rheinlande, Berlin: Deutscher Kunstverlag 1968. 27 Am 7. Mai 1832 war Prinz Otto von Bayern, Sohn Ludwig des I. und Bruder des bayerischen Kronprinzen Maximilian, zum König von Griechenland bestimmt worden. Vgl. Haus, Karl Friedrich Schinkel als Künstler, S. 328.

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den Ort der Propyläen »nicht anzutasten und auch die Neubauten hinter den Monumenten zurücktreten zu lassen.«28 Schinkels Entwürfe fanden allerdings für die Realisierung keinen Zuspruch, wenn auch Leo von Klenze – seinerseits als königlicher Baurat und Bevollmächtigter Ludwigs I. für rund drei Monate nach Griechenland beordert29 – die Planungen seines Kontrahenten als »herrlichen und reizenden Sommernachtstraum eines großen Architekten«30 titulierte. Hatte Schinkel seine Bauidee allein auf Kupferstichserien, wie den Antiquities of Athens von Stuart und Revett, und auf seine eigene Fantasie stützen müssen, so entwarf Leo von Klenze ein umfassendes Restaurierungsprojekt für die Akropolis aus eigener archäologischer Anschauung. Dabei spiegelte die Rekonstruktion der antiken Monumente, notfalls mit sichtbaren Ergänzungen, das Leitmotiv seiner Planungen von 1834. Es war eine Vision für einen ausgedehnten Parcours zur Sicherung aller archäologischen Überreste auf der Akropolis.31 Bestimmten auch kontroverse Überlegungen den architektonischen Umgang mit historischen Bauten, so entsprach das variantenreiche Perfektionieren der architektonischen Form dem Geschichtsverständnis im 19. Jahrhundert, »Alles Erhaltene […] zum redenden Zeugniß der

28 Vgl. Kühn, Margarete: Karl Friedrich Schinkel – Lebenswerk. Band 15: Bauten und Entwürfe für das Ausland, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 1989, S. 33–34. 29 Papageorgiou-Venetas, Alexander: »›Ottopolis‹ oder das Neue Athen. Zur Planungsgeschichte der Neugründung der Stadt im 19. Jahrhundert«, in: Reinhold Baumstark: Das Neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwig I., München: Hirmer 1999, S. 69–90, hier S. 71. 30 Klenze, Leo von: Memorabilien oder Farben zu einem Gemälde, welches sich die Nachwelt von dem Könige Ludwig von Bayern machen wird, Manuskript o.J., Bay. Staatsbibliothek, Klenzeana I, S. 1–7, hier zit. nach Buttlar, Adrian von: »Schinkel versus Klenze«, in: Baumstark: »Das Neue Hellas«, S. 91–107, hier S. 96. 31 Klenzes Veto verhinderte bis heute die Errichtung neuer Gebäude auf dem Bergplateau, mit Ausnahme des Museums von 1953–56, bei dessen Bau originale Bauteile der Attalos-Stoa einbezogen wurden. Es konnte jedoch nicht die systematische Abtragung von nachklassischen Bauzeugnissen verhindern. Vgl. Papageorgiou-Venetas: »›Ottopolis‹ oder das Neue Athen«, S. 73.

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betreffenden Epoche« (Jacob Burckhardt) zu erheben. Schinkels Plädoyer für die »Verwirklichung der freien Idee« entgegen einer »mehr oder weniger antiquarischen Sucht«32, die er bei Klenze auszumachen glaubte, formulierte indes das programmatische Paradoxon einer ganzen Architektengeneration nördlich der Alpen.

K ORREKTUREN

DURCH

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Erheblichen Einfluss auf die Restaurierungspraxis des 19. Jahrhunderts übten die Arbeiten von Viollet-Le-Duc aus. Im zentralistischen Frankreich konnte bereits ab 1830 eine handlungsfähige, staatliche Denkmalpflege installiert werden, deren Leitung Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814– 1879) im Alter von erst 24 Jahren selbst übernahm. Wenn er zu Beginn dieser Tätigkeit auch noch äußerst hohen Respekt »vor der Fülle von Spuren« an historischen Bauten wahrte, »deren Seltenheit und Alter das Interesse erhöhen«33, so sehr sah er die Denkmalpflege nicht nur im Dienst des Konservierens, sondern in der Korrektur ihrer Objekte, nicht ohne allerdings vorher eine befundorientierte Bauvermessung und -analyse vorzunehmen. Die Rekonstruktion des Bischofspalastes von Sens (1851) mag dieses Vorgehen am eindrucksvollsten vor Augen führen, sind doch alle Spuren der Vergangenheit zugunsten einer stilreinen ›Gotik‹ eliminiert. Das Vertrauen auf die technischen Möglichkeiten paarte sich in der Person Viollet-le-Ducs mit hohen idealistischen Vorstellungen: »Ein Gebäude restaurieren, das heißt nicht, es zu unterhalten, es zu reparieren oder zu erneuern, es bedeutet vielmehr, es in einen Zustand der Vollständigkeit zurückzuversetzen, der möglicherweise nie zuvor existiert hat.«34

32 Zit. nach Wolzogen, Alfred Freih. von: Aus Schinkels Nachlass. Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen Band 3, Berlin: Verl. d. Königl. Geh. OberHofbuchdruckerei 1863, S. 154f. 33 Zit. nach Huse: Denkmalpflege, S. 86. 34 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel [in deutscher Übersetzung]: »Restauration«, in: ders.: Dictionnaire raisonné de l´architecture française du XIe au XVIe siècle, Band 8, Paris: Morel 1866, S. 14: »Restaurer un édifice, ce n’est pas l’entretenir, le réparer ou le refaire, c’est de rétablir dans un état complet qui peut n’avoir jamais existé à un moment donné.«

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Diese häufig zitierten Sätze haben die Praxis der ›Restaurierung‹ weit über die Grenzen Frankreichs beeinflusst. Auf französischem Terrain war zuvor mit der Commission des Monuments des Historiques eine Institution geschaffen worden, der Le-Duc zwar selbst nie vor-, aber immerhin beratend zur Seite stand. Die Commission hatte sich der wissenschaftlichsystematischen Erfassung und Klassifizierung der historischen Denkmäler in Frankreich verschrieben und empfahl verschiedene Vorgehensweisen im Umgang mit dem baulichen Erbe des Landes, zum einen die Imitation architektonischer Formen aus dem überkommenen Bestand, zum anderen sollten die Architekten »dort, wo keine Erinnerung an die Vergangenheit geblieben ist, die Recherchen und Studien intensivieren, Monumente der gleichen Zeit, des gleichen Stils, des gleichen Landes besuchen und davon die Typen unter den gleichen Umständen und in den gleichen Proportionen wiederherstellen.«35 Damit waren der Restaurierungspraxis zwei Möglichkeiten gegeben: die Wiedergewinnung verlorener Stilformen durch einen sich wiederholenden Rapport nach dem in situ abgenommenen ›Model‹ oder die Neugewinnung durch kreative Adaption entsprechender Architekturformen von anderen Bauten aus derselben Epoche und Region. Beide Varianten haben den Restaurierungsbetrieb im Umgang mit verloren geglaubter Bausubstanz als korrigierenden Eingriff in den überkommenen Status quo eines Bauwerkes zur Schaffung einer Erinnerungsarchitektur in Raum und Zeit über Jahrzehnte bestimmt. Als Heinrich Hübsch 1852 seine Vorstellungen für die »Restauration [des Speyerer Domes, O.G.] im rein romanischen Style und nach seiner ursprünglichen Gestalt«36 veröffentlichte, galt der nur rund 70 Jahre zuvor

35 »Là où il ne reste aucun souvenir du passé, l’artiste doit redoubler de recherches et d’études, consulter les monuments du même temps, du même style, du même pays, et en reproduire les types dans les mêmes circonstances et les mêmes proportions.« Datiert, Paris 24.11.1842, in: Ministère d’Etat: Note, ciculaires et rapports sur le service de la Conservation des monuments historiques, Paris: [Selbstverlag] 1862, S. 81. 36 Heinrich Hübsch aus einem Gutachten über den Westbau des Domes zu Speyer. Zit. nach Schirmer, Wulf: »Heinrich Hübsch im Umgang mit historischen Bauten«, in: ders./Hanno Brockhoff (Hg.): Heinrich Hübsch 1795–1863. Der große badische Baumeister der Romantik. Ausstellungskatalog, Karlsruhe: Müller 1983, S. 174–180, hier S. 178.

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errichtete Westbau in barockisierenden Formen bereits als regelwidrig: Hübsch traf mit seinem rekonstruierenden Entwurf das Stilgefühl. Dabei entsprach die eigene Interpretation, wie die abwechselnde »Quaderschichtung aus rothem und gelbem Sandstein« in Anpassung an die salischen Bauteile, seiner Vorstellung von der »einheitlichen Vollendung« des »würdigsten Monuments deutscher Vergangenheit«37. In Zeiten, als in einer Reihe von Ländern mit Ferdinand von Quast in Preußen (1843), August von Bayer in Baden (1853) und Konrad Dietrich Hassler in Württemberg (1858) erste staatliche Konservatoren berufen wurden, 38 und damit früh Forderungen nach einer kunstgeschichtlich-wissenschaftlich fundierten Erfassung »des ursprünglichen Bauwerkes als auch seiner geschichtlich sprechenden Veränderungen aufkamen«39, war diese Vorgehensweise nicht unumstritten. Dennoch formulierte das ›künstlerische Schönthun‹ bis weit in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts das denkmalpflegerische Motto, so auch in Braunschweig, wo mit der Burg Dankwarderode ein Paradeprojekt für die gängige Restaurierungspraxis des Historismus realisiert wurde: 1883 konnte Stadtbaurat Ludwig Winter umfangreiche Reste der Burganlage Heinrichs des Löwen aus dem 12. Jahrhundert nachweisen. Dieser Fund wurde Grundlage für eine großzügige Rekonstruktion unter dem braunschweigischen Regenten Prinz Albrecht von Preußen, die er durch Winter von 1885 bis 1906 ausführen ließ.40 Die mittelalterlichen Spuren, sorgsam freigelegt und nach allen archäologischen Standards der Zeit dokumentiert (Abb. 4), umschrieben neben den Fundamenten im Boden originale Mauerreste einer mittleren

37 Heinrich Hübsch in einem Brief an Ludwig vom 27.2.1853. Zit. nach ebd., S. 179. 38 Krins, Hubert: »Die Gründung der staatlichen Denkmalpflege in Baden und Württemberg«, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 12 (1983), S. 34–42. 39 Vitet, Ludovic: »Über die Reparatur, Restauration, Erhaltung und Vollendung mittelalterlicher Baudenkmäler«, in: Försters Allgemeine Bauzeitung 17/18 (1852/53), S. 305–375, hier S. 305. Der Text machte die denkmalpflegerischen Grundsätze der Denkmalpflege in Frankreich auch im deutschsprachigen Einflussgebiet bekannt. Vgl. Huse, Denkmalpflege, S. 84f. 40 Vgl. Möller, Hans-Herbert (Hg.): Restaurierung von Kulturdenkmalen. Beispiele aus der niedersächsischen Denkmalpflege (= Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen, Beiheft 2), Hameln: Niemeyer, S. 425–429.

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Abb. 4: Burg Dankwarderode, Braunschweig, Grundriss und Querschnitt der Fundamente Arkadenreihe des Erdgeschosses (Knappensaal). Obwohl diese Mauerpartie erster Ausgangspunkt aller Bemühungen um die Wiederherstellung gewesen war, wurde sie zu Beginn der Bauarbeiten abgebrochen. Im Rekonstrukt orientierte sich Winter – entsprechend der aus Frankreich tradierten Denkmaltheorie – eher an Vergleichsbeispielen aus dem Braunschweiger Land: Die Kapitelle im Kreuzgang von Königslutter nutzte Winter für die Neuschaffung der Arkadenreihe im Rittersaal der Burg Dankwarderode; weitere Vorlagen fanden sich in St. Michael in Hildesheim, in St. Ägidien in Braunschweig sowie in der Domvorhalle zu Goslar. Aber auch die Wartburg galt als ein bevorzugtes Objekt der Formenrezeption.41 Die Inszenierung von Vergangenheit im Andenken an Heinrich den Löwen in Braunschweig brannte sich unter der Ägide von Ludwig Winter nachhaltig ins kulturelle Gedächtnis der Stadt ein: 26 Jahre nach Beginn der Rekonstruktionsarbeiten wurde auf der Pfalz ein romanisches Fest in Anwesenheit des Architekten wie selbstverständlich in mittelalterlichen Gewändern zelebriert. Noch heute wirkt dieser Kult um eine reproduzierte Authentizität durch die gebaute Wiederholung nach: Besucht 41 Lieb, Stefanie: Der Rezeptionsprozess in der neuromanischen Architektur. Studien zur Rezeption von Einzelformen in restaurierter romanischer und in neuromanischer Architektur (= Kölner Architekturstudien), Köln: Abt. Architekturgeschichte 2005, S. 140–144.

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man die Internetseiten des Braunschweigischen Stadtmarketings,42 so erscheint das 1945 zerstörte und erneut nach den Vorlagen des 19. Jahrhunderts wiederaufgebaute Ensemble im Herzen der Stadt wie eine durch die Tourismusbranche inzwischen authentifizierte Hinterlassenschaft aus der Zeit Heinrichs des Löwen.

O RTE

AUTHENTISCHER

S EHNSÜCHTE

Es war der englische Kunstphilosoph John Ruskin, der 1849 in den ›Sieben Leuchtern der Baukunst‹ die Rekonstruktion einer historischen Vergangenheit in der Architektur entschieden ablehnte. Sein moralisierendes Pamphlet, erst 1900 ins Deutsche übersetzt und bei Eugen Diederichs erschienen, warnte vor der »Verletzung der Wahrheit« durch die »unwürdige Vorspiegelung falscher Thatsachen in Bezug auf Material, Masse und Wert.«43 In der Wiederherstellung (Restaurierung) von Gebäuden sah Ruskin die »Schlimmste Art der Zerstörung von Bauwerken«44, wobei er neben der ästhetischen Dimension von Authentizität auch eine historische gelten ließ. Doch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts besannen sich Architekten und Denkmalpfleger – besonders in den deutschen Ländern – nachhaltig auf das ›historische Original‹. Sie waren es, welche analog zu Ruskins Argumentation die Einzigartigkeit des in der Geschichte entstandenen ›einmaligen‹ Kunst- und Bauwerkes zum Ideal ihres Handelns erhoben und einen Paradigmenwechsel einleiteten, der die Kriterien des Schützenswerten für Architektur und Denkmalpflege gravierend verschob. Seither heißt das ›ehrende‹ Credo der Denkmalpflege »Nicht restaurieren – sondern konservieren« (Georg Dehio). Was als zeittypische Verachtung dem Historismus gegenüber verstanden werden kann, fand noch 1964 als unantastbare Doktrin Eingang in ein Grundsatzpapier der Denkmalpflege, die Charta von Venedig (Artikel 11).

42 http://www.braunschweig.de/kultur_tourismus/sehenswuerdigkeiten/burgplatz. html vom 7.5.2011. 43 Ruskin, John: Die sieben Leuchter der Baukunst, Berlin: Eugen Diederichs 1900, S. 63. Im Original: The Seven Lamps of Architecture, London: 1849. 44 Ebd., S. 363f.

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Anders die Situation im Rückblick auf die Baukultur des 18. und 19. Jahrhunderts, wo die Wiederherstellung verloren geglaubter Zustände in der Rekonstruktion die Restaurierungspraxis bestimmte. Häufig ging man bei diesen Restaurierungen nach unterschiedlichen Vorstellungen vom Authentischen vor: Ob man durch die Rekonstruktion die Geschichte der Bauten korrigierte, Stildissonanzen und spätere Veränderungen nach dem Prinzip der Stilreinheit und -einheit eliminierte, oder ob man unausgeführt Gebliebenes nachholte, in allen Fällen waren die Arbeiten von der Beseitigung oder der Vervollkommnung des Vorhandenen geleitet. Für diese Zielvorstellungen legte die frühe Denkmalpflege im 19. Jahrhundert das theoretische Fundament. Doch deren Terminologie kennzeichnete das Phänomen der Rekonstruktion noch ohne begriffliche Schärfe: In den einschlägigen Universallexika und architektonischen Nachschlagewerken ist der Begriff nicht verzeichnet; er sollte erst im 20. Jahrhundert hier Eingang finden. Neben der Philosophie und der Erkenntnistheorie Herders und Fichtes45 waren es die historischen Wissenschaften, die den Begriff der Rekonstruktion genauer definierten. Schließlich gelte es, nicht nur Richtigkeiten, sondern historische Wahrheiten, ein »genetisches Bild« hypothetisch aus den Überlieferungen heraus zu rekonstruieren, wie es der Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) formulierte.46 Wahrheit und Fiktion, eine erinnerte und rekonstruierte Vergangenheit, bestimmten so das Geschichtsverständnis im Historismus: Architektur konnte Erinnerungswert und Vorbildfunktion gleichermaßen rekonstruierend in die Gegenwart überführen.

45 Vgl. Scholtz, Gunter: »Rekonstruktion«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, Basel: Schwabe 1992, Sp. 570. Vgl. Mittelstraß, Jürgen: »Rekonstruktion«, in: ders. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 3, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996, S. 550. 46 Droysen, Johann Gustav: Historik I, 1857, zit. nach Scholtz, »Rekonstruktion«, Sp. 572. Der Wandel im Geschichtsverständnis vollzog sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts, als der Topos der ›historia magistra vitae‹ an Bedeutung verlor und man begann, die Geschichte als Aufeinanderfolge von Ereignissen zu betrachten. Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 38–66.

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Diese Ambivalenz in der Inszenierung des Authentischen sollte in Berlin die Gemüter noch in den 1990er Jahren erhitzen: Damals hatte ein vermeintlich in russischen Archiven verschollenes ›Schinkelmodell‹ die stagnierende Diskussion um die ›verlorene Mitte‹ Berlins aufs Neue entfacht. Erst kurz vor dessen Präsentation im Berliner ›Tagesspiegel‹ (Abb. 5) haben die Verfasser die unlauteren Mittel ihres Anstoßes zu einer erneuten Rekonstruktions- bzw. Konstruktionsdebatte zugegeben: Das Modell stammte aus dem Berliner Architekturbüro von Axel Schultes und die fachliche verbürgte Expertise entsprechender ›Schinkel‹-Pläne vom Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg. Doch die mit Elan vorgetragene ›Manipulation der Baugeschichte‹ fand in Berlin keinen Anklang. 47 Ihre Urheber fühlten sich missverstanden, dabei wollten sie »nur die verhärteten Fronten zwischen Schloßgegnern und Wiederaufbauern aufbrechen.«48 Der Protest erreichte ungeahnte Dimensionen, vor allem deshalb, weil der ›gefälschte Schinkel‹ aus berufenem Munde eine Echtheitsgarantie zur Legitimation einer städtebaulichen Neuerfindung beanspruchte, bezeugt durch die Bindung des scheinbar Authentischen an etwas Stoffliches und Materielles im Modell. Getäuscht von der Ursprungslegende spiegelte das Architekturmodell eine Neuinterpretation der Berliner Mitte und drehte im reproduzierten Original die Relation von Vorbild und Abbild, von Innovation und Tradition, von Erfindung und Nachbildung, von Vergangenheit und Zukunft, ins Gegenteil.

47 Schultes, Axel: »Schinkels Traum. Das Vermächtnis des preußischen Generalbaumeisters zur Berliner Mitte« und Buddensieg, Tilmann: »Das Schloss, die Monarchie und die politischen Verhältnisse. Schinkel zwischen Hoffnung und Verzweiflung«, in: Der Tagesspiegel vom 8.9.1996, o.S. (nach S. 15). Vgl. hierzu auch: Mönninger, Michael: »Echt falsch. Rekonstruktion und Erinnerung: Der neue Historismus in der Architektur«, in: Hannes Böhringer/Arne Zerbst: Die tätowierte Wand (= Schriften der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts, Band 1), München: Fink 2007, S. 277–290, hier S. 277–280, S. 287. 48 Tilmann Buddensieg zit. nach Mönninger, Michael: »Schinkels geplatzter Traum vom Schloss. Eine architektonische Posse in Berlin«, in: Berliner Zeitung vom 10.9.1996, http://www.berliner-zeitung.de/archiv/eine-architektoni sche-posse-in-berlin-schinkels-geplatzter-traum-vom-schloss,10810590,917704 6.html vom 21.11.2010.

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UND ORIGINALE

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Abb. 5: Der Berliner Schlossplatz – Visionen und Phantasien, Titelseite Der Tagesspiegel 8.9.1996 »Schinkels Traum«, für den sich eine wissenschaftliche Autorität mit Hinweis auf das Modell als historischem Beleg wahrhaftig zu verbürgen schien, steht auch für ein Paradoxon im europäischen Denkmalkultus gegen Ende des 20. Jahrhunderts, basiert es doch auf der Grundannahme, dass Authentizität in der Architektur an seine materielle Substanz, das Authentische im Denkmal aber an »seine ihm zugemessene, gesellschaftlich ausgehandelte Bedeutung«49 gebunden sei. Folgt man dieser Argumentation, so ist Authentizität »›kein absoluter Wert‹, vielmehr sind ›die manifesten wie latenten Echtheitskriterien […] schlußendlich arbiträre Wertsetzungen‹«.50 Dieses Denkmuster, das – komplementär zur modernen Kunsttheorie entwickelt – Denkmäler als »Orte authentischer Sehnsüchte«51 ausweist, kann aber das Unbehagen an Substanzverlust bei denkmalpflege49 Seidenspinner, Wolfgang: »Woran ist Authentizität gebunden? Von der Authentizität zu den Authentizitäten des Denkmals«, in: kunsttexte.de Nr. 3 (2007), S. 1–7, hier S. 1f., http://www.kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=28053 &ausgabe=28051&zu=121&L=0 vom 1.6.2012. 50 Bendix, Regina: »Zur Problematik des Echtheitserlebnisses in Tourismus und Tourismusindustrie«, in: Burkhard Pöttler (Hg.): Tourismus und Regionalkultur. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1992 in Salzburg (= Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift fuሷr Volkskunde, Neue Serie 12), Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde 1994, S. 57–83, hier S. 79. Zit. nach Seidenspinner: »Woran ist Authentizität gebunden?«, S. 2. 51 Seidenspinner: »Woran ist Authentizität gebunden?«, S. 6.

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rischen Sanierungen gegenüber einer bedeutungsvollen Imitation oder gar Rekonstruktion nicht aufwiegen. Richten wir unseren Blick noch einmal zurück: Die vorgetäuschte Hochhausfassade an der Braunschweiger Oker steht für »Gleichbehandlung eines originalen Denkmals und seiner rekonstruierten Attrappe.« Sie steht damit auch für den »Verlust dessen, was in unserer Umgebung historisch, inreproduzibel und einmalig ist.« 52 Deshalb wird man bei jeder Rekonstruktion, die der emotionalen und physischen Rückgewinnung von verloren geglaubten Architekturen durch maßstabsgetreue Wiederholung dient, die Grenzen der Authentizität immer wieder von Neuem abstecken müssen. Das zeitlich begrenzte Referenzsystem ›künstlerischer Authentizität‹ fordert geradezu jede Generation dazu auf, im Wunsch nach einer reproduzierten Architektur zwischen ›Traum und Wirklichkeit‹ das Verhältnis zwischen ›echt und unecht‹ – ›Original und Rekonstruktion‹53 neu auszutarieren. Im Medienzeitalter des ›Iconic Turn‹54, in dem jede Information und jedes Bild zu jeder Zeit an jedem Ort zugänglich ist, tut sich allerdings stets ein unversöhnlicher Konflikt auf, wenn sich originale Reproduktionen und reproduzierte Originale gegenüberstehen und die Grenzen des Authentischen in der »Fiktion der wahrscheinlichen Realität«55 verschwimmen.

52 Kalinowski, Konstanty: »Der Wiederaufbau der historischen Stadtzentren in Polen. Kommentar 1993«, in: Wilfried Lipp: Denkmal – Werte – Gesellschaft. Zur Pluralität des Denkmalbegriffs, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1993, S. 322–346, hier S. 343. 53 Bacher, Ernst: »Original und Rekonstruktion«, in: Georg Mörsch/Richard Strobel (Hg.): Die Denkmalpflege als Plage und Frage. Festgabe für August Gebeßler, München: Deutscher Kunstverlag 1989, S. 1–5. 54 Burda, Hubert: In Medias Res. Zehn Kapitel zum Iconic Turn, München: Wilhelm Fink Verlag 2010. 55 Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.

Die Wiederholung des Fotografischen in der Malerei Zur Bildpoetik des Fotorealismus C HRISTIAN P ISCHEL

Z WISCHEN F OTOGRAFIE UND G EMÄLDE Vorletztes Jahr präsentierte die Deutsche Guggenheim in Berlin die Ausstellung Picturing America, eine hochkarätige Auswahl aus dem Schaffen US-amerikanischer Künstler der sechziger und siebziger Jahre, die unter dem Namen Neuer Realismus, Fotorealismus oder Hyperrealismus firmieren. Vor den großformatigen Gemälden stehend konnte man einen Effekt beobachten, der bei der Betrachtung von Reproduktionen in einem Bildband unweigerlich verloren geht.1 Bewegt man sich frontal auf ein Gemälde zu, kommt man früher oder später an einen Punkt, an dem der Eindruck, man stünde vor einem vergrößerten Foto, plötzlich umschlägt in die Wahrnehmung des Gemäldes und seiner materiellen Qualitäten. An dieser Grenze kommt die Textur zum Vorschein, seltener ein Pinselduktus; die 1

Der Ausstellungskatalog zu Picturing America bildet eine interessante Ausnahme. Auch er kann das changierende Wahrnehmen vor einem fotorealistischen Gemälde nur bedingt reproduzieren, allerdings sind z.T. Ausschnitte und Auflösungen gewählt, die vor allem den Gemäldecharakter akzentuieren. Vgl. Hillings, Valerie L. (Hg.): Picturing America: Photorealism in the 1970s/Picturing America: Fotorealismus der 70er Jahre. Ausstellungskatalog, New York: Guggenheim Museum Publications 2009.

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Dinge verlieren ihre Plastizität, sie ziehen sich in die Oberfläche des Artefakts zurück. Die gezeigte Welt verwandelt sich in ein abstraktes Gefüge von Flächen und nuancierten Farbübergängen. Man tritt einen Schritt heran und entdeckt in den Reflexionen – beispielsweise auf den Chromteilen der abgebildeten Vehikel – noch einmal ganz eigene Miniaturen. Der Anschein einer großformatigen Fotografie verflüchtigt sich und mit ihr die Kohärenz einer fotografierten Welt. Vor den Originalgemälden zeigt sich uns ein Wahrnehmungsspiel, in dem Authentizitätsanspruch und Wiederholung, Artefakt und Repräsentation immer wieder zwischen Malerei und Fotografie hin und her wechseln. Diese Spannung kann in zwei Richtungen weiterverfolgt werden. Auf der einen Seite bestätigt die Annäherung an die gemalte Oberfläche den Eindruck des Scheinhaften, des Unwirklichen oder Hyperrealen, der bereits der distanzierten Begegnung anhaftete. Dieser Eindruck bezieht sich umstandslos auf die Kammhöhe einer sich selbst bespiegelnden Konsumkultur, als deren Chiffre sich der Fotorealismus anbietet, insofern sich dort mediale Wahrnehmungsmodi (eingeübt durch die massenhafte Privatfotografie) mit den Oberflächen der amerikanischen Warenwelt verschränken.2 Und tatsächlich atmen diese Bilder eine Art akkurate Leblosigkeit, die an botanische Illustrationen des 18./19. Jahrhunderts und ihr taxonomisches Interesse erinnert. Auf der anderen Seite handelt es sich um die vielleicht triviale Erfahrung, dass eigentlich jeder bildgebenden Technik der Horizont

2

Unter dem Eindruck seiner Amerikareise erörterte Umberto Eco im Jahr 1975 den Hyperrealismus als Obsession der amerikanischen Kultur: »Auch Disneyland hat – wie das Hearst Castle – keine leeren Flächen, auf denen nichts los ist, es gibt immer was zu sehen, die großen Leerräume der modernen Architektur und Urbanistik sind ihm unbekannt. Wenn Amerika das ist, was Museen wie das Guggenheim und die neuen Wolkenkratzer Manhattans repräsentieren, dann ist Disneyland lediglich eine skurrile Ausnahme und die amerikanischen Intellektuellen tun recht daran, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wenn Amerika aber das ist, was wir auf unserer Reise gesehen haben, dann ist Disneyland seine Sixtinische Kapelle und die Hyperrealisten der Kunstgalerien sind nur die schüchternen Voyeure eines immensen und dauerhaften Objet trouvé.« Eco, Umberto: »Reise ins Reich der Hyperrealität«, in: ders.: Über Gott und die Welt, München: dtv 2002, S. 35–99, hier S. 87f.

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ihrer Materialität eingezogen ist und sich folglich auf dem ›Grund‹ des Bildes immer auch eine Art konstituierendes Nichtbild entbirgt.3 Lassen wir die kulturhermeneutische Causa beiseite, dann ist dieser Effekt insofern instruktiv, da er konkret wahrnehmbar macht, welche medienästhetische Spannung der Begriff Fotorealismus in sich trägt. Denn der Fotorealismus, wie er sich in den späten 60ern in den USA als Strömung in der Malerei entwickelte, ist gerade von der spezifischen Differenz bestimmt, die Fotografie und Malerei als Bildpraktiken zueinander aufweisen; erst als Bezeichnung dieser Konstellation und ihrer Austauschprozesse ist er überhaupt sinnvoll zu gebrauchen. Davon ausgehend möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, wie dieses Verhältnis präziser beschrieben werden kann. Können wir genauer bestimmen, was der Fotorealismus vom Fotografischen entlehnt und was diese Wiederholung ästhetisch leistet?

D IE R ÜCKKEHR

DES

F OTOREALISMUS

In der Diskussion um die Digitalisierung von Fotografie und Film erlangte der Begriff Fotorealismus seit den 1990er Jahren wieder eine gewisse Prominenz. Hatte Friedrich Kittler in den 1980ern noch prognostiziert, die Digitalisierung werde »den Begriff des Mediums selber [sic!] kassieren«4, vermerkt Lev Manovich etwa 20 Jahre später, dass die medienästhetische Differenz weiterhin unseren Realismusbegriff strukturiert:

3

Vgl. Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin: diaphanes 2006. Von dort her nehmen insbesondere moderne, transmediale Bildpoetiken ihren Anstoß, indem sie die traditionelle Doppelstruktur aufbrechen, die materiellen Ebenen multiplizieren, überlagern oder auch ausstreichen. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet Claudia Angelmaiers Werk Hase (2004, Farbfotografie, 110x200, Museum Folkwang, Essen). Die Fotografie zeigt zwölf Mal Dürers Hasen, wie er in zwölf verschiedenen kunsthistorischen Bänden abgebildet ist, die die Künstlerin vor der Kamera arrangiert hat. Zwölf Mal sehen wir Dürers Hasen, keiner jedoch gleicht dem anderen.

4

Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 8.

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»Digital media makes commonplace the simulation of nonexistent realistic worlds. […] For what is faked, of course, is not reality but photographic reality, reality seen by the camera lens. In other words, what digital simulation has (almost) achieved is not realism, but only photorealism – the ability to fake not our perceptual and bodily experience of reality but its film image. This image exists outside of our bodies, on a screen – a window of limited size which presents a still imprint of a small part of outer reality, filtered through the lens with its limited depth of field, filtered through film’s grain and its limited tonal range. It is only the film-based image which digital technology has learned to simulate. And the reason we think that this technology has succeeded in faking reality is that cinema, over the course of the last hundred years, has taught us to accept its particular representational form as reality.«5

Die digitalen Techniken nivellieren keineswegs den Medienbegriff, da sich deren Simulationsfähigkeit nicht auf die Realität selbst, sondern eben auf bestimmte medienhistorische Wahrnehmungsformen bezieht, die der Realismusdiskurs im letzten Jahrhundert privilegiert hatte. Damit ist der Fotorealismus zwar als medienästhetischer Differenzbegriff etabliert, allerdings bleibt er, wie Manovich betont, häufig der tradierten Vorstellung des Fotografischen verhaftet, die man mit Bernd Stiegler durchaus »als Mutter des Realismus«6 bezeichnen könnte. Mit dem Begriff Fotorealismus verbinden sich also zwei mediale Hybride: die digitale Produzierbarkeit fotografisch anmutender Grafiken auf der einen Seite und das fotorealistische Tafelbild auf der anderen. Beide realisieren eine Bildlichkeit in einem ›auswärtigen‹ Terrain, werden aber (vorläufig diffus) mit einem wesentlichen Moment des Fotografischen identifiziert; beide befragen gleichermaßen »die Doxa«, wie Philippe Dubois es nennt, »das triviale Wissen über das Foto« 7, das in erster Linie

5

Manovich, Lev: »Cinema and digital media«, in: Andrew Utterson (Hg.): Technologie and Culture. The Film Reader, London/New York: Routledge 2005, S. 27–30, hier S. 30. Vgl. auch: Boehm, Gottfried: Theorie des Bildes, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 127.

6

Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 417.

7

Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1998, S. 36. Im Folgenden unterscheidet er drei Tendenzen in der Realismusdebatte der Fotografie: Die

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auf eine glaubhafte Ähnlichkeitsbeziehung abzielt. Doch in beiden Fällen handelt es sich um ausdrücklich »dubitative Bilder«8. Die Fotografietheorie reagierte auf den digitalen Fotorealismus, indem sie die indexikalische Unverbrüchlichkeit des fotografischen Dokumentes revidierte; teils versuchte sie diese Dimension in der sorgfältigen semiotischen Kontextualisierung des einzelnen Fotos zu bewahren, größtenteils musste sie die Subordination jedweder Fotografie unter Grafik oder Malerei konstatieren9 respektive unter die Freiheitsgrade der Kunst im Allgemeinen.10 Ebenso bewegte sich die Debatte um das digitale Kino und seine Realitätseffekte weitgehend innerhalb des Fragehorizonts von Glaube und Zweifel – wenn etwa unsere Alltagswahrnehmung als zentrale Referenz vorgeschlagen wurde11 oder der Fotorealismus mit der Glaubhaftigkeit einer Welt im Modus des ›Als-ob-gefilmt‹ identifiziert wurde.12

Fotografie als Spiegel, der ein mimetisches Verhältnis zum äußeren Referenten unterhält, dann als Transformation in ein Zeichenaggregat, in dem das Realitätsprinzip als reiner Effekt auftritt, und zuletzt die Fotografie als Index, das Spuren des Wirklichen aufhebt. Vgl. ebd., S. 29ff. 8

Lunenfeld entlehnt den Begriff »dubitativ« dem amerikanischen Avantgardefilmer, Fotografen und Theoretiker der digitalen Medien Hollis Frampton, um besondere Wahrheitsansprüche, die der Fotografie als dominantem Repräsentationsmedium entgegengebracht wurden, in Zweifel zu ziehen. Insofern das Dubitative »als geneigt zu zweifeln oder als dem Zweifeln anheimgegeben« definiert ist, drückt der Begriff (insbesondere im Zeitalter der digitalen Fotografie) den medienpragmatischen Vertrauensverlust aus. Lunenfeld, Peter: »Digitale Fotografie. Das dubitative Bild«, in: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 158–177, hier S. 167.

9

Ebd., S. 161. Vgl. Manovich, Lev: »What Is Digital Cinema?«, in: Peter Lunenfeld (Hg.): The Digital Dialectic: New Essays on New Media, Cambridge/ London: MIT Press 1999, S. 172–192.

10 Lunenfeld: »Digitale Fotografie«, S. 170f. 11 So betont Stephen Prince »that present abilities to digitally simulate perceptual cues about surface texture, reflectance, coloration, motion, and distance provide an extremely powerful means of »gluing« together synthetic and live-action environments and of furnishing the viewer with an internally unified and coherent set of cues that establish correspondences with the properties of

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Dabei blieb das eigentlich fotografische Moment des Fotorealismus häufig unbestimmt, konnte es doch nur im Abgleich mit etwas anderem, meist über das Urteilsvermögen des Betrachters oder Zuschauers, beschrieben werden, dem folglich die Aufgabe zukam, das Analogon auf der einen Seite und auf die dezidierte Nicht-Indexikalität auf der anderen zu beziehen. Das zentrale Problem liegt darin begründet, dass eine lieb gewonnene Propositionalität des Fotos, zu der meist Roland Barthes’ notorisches »Es-ist-so-gewesen«13 herhalten muss, nicht mehr zur Verfügung steht; ja, retrospektiv schien es sich um nicht mehr als einen medienhistorischen Ausnahmeeffekt gehandelt zu haben, einen forensischen Mehrwert gewissermaßen, den das sogenannte postfotografische Zeitalter tatsächlich ›kassiert‹ hatte. Peter Lunenfeld schreibt dazu: »In der Fotografie gibt es eine seit langem bestehende Trennung zwischen dem Foto als dokumentarisches Beweisstück und dem Foto als Gegenstand der Kunst. Diesem Gegensatz zwischen realistischer/dokumentarischer/journalistischer Fotografie und künstlerischer Fotografie verdanken wir einige der leidenschaftlichsten kritischen Texte über das Medium. Mit dem Eintritt in das digitale Zeitalter, in das Zeitalter des Dubitativen, funktioniert diese Trennung nicht mehr, da alle digitalen Foto-

physical space and living systems in daily live.« Prince, Stephen: »True Lies, Perceptual Realism, Digital Images and Film Theory«, in: Film Quarterly 49 (1996), S. 27–37, hier S. 33f. Das Kriterium der Alltagswahrnehmung grenzt Gombrich mit dem Begriff »Wirklichkeitstreue« ein. Vgl. Gombrich, Ernst H.: »Kriterien der Wirklichkeitstreue. Der fixierte und der schweifende Blick«, in: ders.: Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 240–273. 12 Auf Jurrasic Park (USA 1993, R: Steven Spielberg) bezogen erklären Thomas Elsaesser und Warren Buckland: »[T]he possible world inhabited with dinosaurs is presented as if it were mind-independent – that is, the dinosaurs exist in the real world and have simply been recorded by the optical camera.« Elsaesser, Thomas/Buckland, Warren: »Realism in The Photographic and Digital Image«, in: dies.: Studying Contemporary American Film. A Guide to Movie Analysis, London/New York: Arnold/Oxford University Press 2002, S. 195–219, hier S. 213. 13 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 87.

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grafien – unabhängig von den Intentionen ihrer Produzenten – nun künstlerischen Fotografien gleichen. [Herv. i.O.]«14

So einleuchtend eine systematische Trennung auch sein mag, und so plausibel ihre medienhistorische Auflösung auch wirkt, sie krankt an den unzähligen, in dieser Hinsicht unscharfen Praktiken, insbesondere wenn man Realismus nicht allein auf eine dokumentarische Funktion reduziert, sondern ihn als vornehmlich ästhetische Kategorie begreift. Und als solche – in diese Richtung weist Lunenfeld also ganz richtig – muss auch ein Begriff des Fotorealismus getrieben werden, wenn er gleichermaßen für Malerei, Computergrafik sowie die Fotografie selbst belastbar sein soll. Entsprechend soll der Fotorealismus nicht allein als ironische Remediation15, als Verschachtelung medialer Darstellungsmodi, verhandelt werden. Stattdessen gilt es hier, eine ästhetische Perspektive auf die fotorealistische Malerei einzunehmen und an den Gemälden eine bildimmanente Poetik herauszuarbeiten. Wertvolle Anhaltspunkte dazu geben die unterschiedlichen Verfahrensweisen der Künstler, da sich an ihnen der Charakter der Gemälde als synthetische Bildaggregate erschließt. Der spezifische Fotorealismuseffekt beruht nicht allein auf der sorgsamen Kopie der Naturkopie, vielmehr erweist sich die fotografische Technik lediglich als ein Akteur unter anderen, um eine bestimmte, mit sich selbst verfaltete Bildlichkeit hervorzubringen. Wie sich zeigen wird, zielt der Fotorealismus dann weniger darauf, eine Welt als ›bloßes‹ Bild zu diffamieren, sondern darauf, die Welt als ein Gefüge sich wechselseitig durchwirkender Bilder zu denken – eine Stoßrichtung, die in einem Rückgriff auf Henri Bergsons nicht-repräsentierenden Bildbegriff konzeptualisiert werden kann. In einem weiteren Schritt wird zu fragen sein, ob der Fotorealismus notwendig von der Fotografie abgeleitet werden muss, d.h. ob er zwingend auf die Feststellung einer medialen Differenz begrenzt bleibt oder ob er nunmehr – im postfotografischen Zeitalter – allen Bildmedien, einschließlich der Fotografie selbst, als ästhetische Option und

14 Lunenfeld: »Digitale Fotografie«, S. 170f. 15 Bolder, David Jay/Grusin, Richard: Remediation: Understanding New Media, Cambridge: MIT Press 1999, S. 118–130.

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Beschreibungsmöglichkeit zur Verfügung steht. Möglicherweise lässt sich mittlerweile sinnvoll von fotorealistischen Fotografien sprechen.16

D IE G EHEIMNISLOSIGKEIT DES F OTOREALISMUS Anfang der siebziger Jahre, in der Hochphase der ersten Fotorealistengeneration, versuchte Linda Chase den ästhetischen Konnex zwischen Fotografie und Malerei zu spezifizieren: »Die Photographie ist nicht zufällig, sie ist wesentlich. Der Maler des Neuen Realismus verwendet die Photographie, um etwas zu erreichen, das auf keine anderer Weise zu erreichen wäre. Nicht allein deshalb malt er nach Photographien, weil es unbequem wäre, mitten auf der Straße zu stehen, um Ladenfronten oder geparkte Autos zu malen: Er malt mit Hilfe der Photographie auch Bilder, wie sie ohne diese Verwendung des Photos nicht gemalt werden könnten. Das heißt, der Künstler stellt sich sein Gemälde in den Begriffen der Photographie vor und die photographische Vorstellung ist Teil der Idee des Gemäldes.«17

Was, müssen wir fragen, sind also diese spezifischen Begriffe der Fotografie, die in die »Idee des Gemäldes« eingehen? Die illusionistische Leistung des Fotorealismus ist natürlich stark an die »Doxa« der Fotografie geknüpft. Deren mühelose, fotochemische Hervorbringung innerhalb des gesamten Produktionsprozesses wirft die Frage auf, was die Transformation in ein Gemälde bewirkt. Und so verwundert es wenig, dass die Kommentare zum Fotorealismus tatsächlich auf einen unterschwelligen Legitimationsdruck reagierten, indem man den ästhetischen Surplus in den jeweiligen Verfahrensweisen der Künstler zu ermitteln suchte. Galt der Realitätseffekt der Fotografie aufgrund der automatisierten Belichtungsprozesse als fraglos

16 Boehm weist zwar in diese Richtung, lehnt es aber ab, den medientheoretischen Differenzbegriff zu einer ästhetischen Kategorie zu erweitern: »Es geht zwar terminologisch nicht an, diesen [den spezifischen Realismus der Fotos, C.P.] Fotorealismus zu nennen, umgekehrt aber kann man vermuten, daß der Fotorealismus in der Malerei den Realismus von Fotos zum Thema hat.« Boehm: Theorie des Bildes, S. 125. 17 Chase, Linda: Der Neue Realismus in Amerika, Berlin: Rembrandt 1973, S. 11.

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– wurde also im Metier der technischen Apparatur verortet –, drängte sich für den Fotorealismus nun die Frage der techné, nach dem Handwerk der Übertragung auf. In diesem Sinne gab der Galerist Louis K. Meisel zu Protokoll, dass Fotorealisten wie etwa Chuck Close und Don Eddy mit einem Rastersystem arbeiten, wohingegen andere wie beispielsweise John Salt, Robert Bechtle, Audrey Flack und Tom Blackwell Diapositive auf die Leinwand projizieren. Andere wiederum – und hier sind Guy Johnson und Paul Steiger zu nennen – werfen das Bild auf einen fotosensiblen Malgrund. Einige benutzen die Sprühpistole, andere dagegen entwickelten ausgefeilte, zum Teil altmeisterliche Pinseltechniken.18 Auf diese Art wird der Herstellungsprozess analysiert, als gelte es gegenüber den Wegen des Lichts, die im fotografischen Prozess entlang der optischen Gesetzmäßigkeit verfügbar sind, die verschlungenen Pfade durch das Hoheitsgebiet der künstlerischen Subjektivität nachzuvollziehen und damit einen zentralen Topos des Diskurses zu bestätigen: die Geheimnislosigkeit der fotorealistischen Malerei. Laut Meisel trifft dies auch das Selbstverständnis der Künstler: »Alle Künstler sind interviewt worden, und viele haben über ihre Arbeit geschrieben. Sie sagen, worum es geht, es gibt keine Geheimnisse. Der Fotorealismus beruht eher auf dem Malen als auf der Theorie und benötigt daher keine Intellektualisierung, Spekulation und Interpretation, wie Minimal, Conceptual, Environmental und Performance Art.«19

Setzt sich also die Trivialität des Fotoapparates in den gewählten Übertragungsverfahren fort, die höchstens noch die Virtuosität der Künstler herausfordern?

18 Meisel, Louis K.: Fotorealismus. Malerei des Augenblicks, Luzern: Atlantis Verlag 1989, S. 11f. 19 Ebd., S. 20. Dieses Argument wird ebenso für die Abgrenzung zur Pop-Art in Stellung gebracht, da dort, laut Chase, verstärkt Konnotation und Kommentar in den Vordergrund träten. Vgl. Chase: Der Neue Realismus in Amerika, S. 15f.

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Tatsächlich ist der subjektlose Anschein programmatisch und konstitutiv,20 doch soll er nicht über einige simple Synthese- und Konstruktionsverfahren hinwegtäuschen, die in die Verfertigung fotorealistischer Gemälde einfließen. Von zahlreichen Künstlern wird berichtet, dass sie nicht eine einzelne fotografische Vorlage wählen, sondern bei ihrer Arbeit mehrere Fotografien zu einem Bildaggregat synthetisieren, um bestimmte Effekte wie etwa dezent ›unmögliche‹ Perspektiven oder multiple Fokussierungen zu realisieren.21 Am Beispiel der vielfach reflektierenden Ladenfronten, die ab etwa 1971 im Œuvre Don Eddys eine zentrale Stellung einnehmen, lässt sich dieser Aspekt veranschaulichen, zumal Vorgehensweise und Bildpoetik parallelisiert dargestellt werden können: »Ein Fenster schafft eine dreifache Situation: Es hat eine Oberfläche, seine Durchsichtigkeit, die ein zweites Bild ansichtig werden lässt, und es reflektiert eine dritte Vision. Unsere Augen sehen in Wirklichkeit nie alle drei Bilder gleichzeitig. Eddy integriert die Informationen mehrerer Fotos auf einer Leinwand und lässt

20 Vgl. dagegen die Konzeption des disegno, wie sie in der Renaissance v.a. von Giorgio Vasari geprägt wurde. Vgl. Didi-Hubermann, George: Vor einem Bild, München/Wien: Hanser 2000, S. 61–92. 21 »Für verschiedene Bildpartien benutzt Close unterschiedliche Fotos, so dass zu einer analytischen Vorgehensweise auch noch ein synthetisches Verfahren hinzukommt, das mit verschiedenen Brennpunkten arbeitet und sie zusammenführt.« Stremmel, Kerstin: Realismus, Köln: Taschen 2005, S. 40. Interessant ist dabei, dass in Verbindung mit diesen Syntheseverfahren wieder die Rede von Originalität möglich wird: »Doch auch hier, genau wie bei seinen Veduten mit so klassischen Motiven wie Venedig oder Paris, hat Estes mehrere Aufnahmen kombiniert und zu einer perspektivisch nicht korrekten, aber überzeugenden Gesamtansicht zusammengefasst. Dadurch entsteht eine fast ›surreale‹ Überwirklichkeit, die Estes’ Arbeiten von den Abstraktionen einiger seiner Kollegen unterscheidet.« Ebd., S. 46. »In vielerlei Hinsicht sind Estes’ Techniken und Methoden unter den Fotorealisten einzigartig. Die meisten anderen arbeiten nach einer einzigen Fotografie, Estes benutzt fast immer zwei, drei oder noch mehr Fotos. Er macht mehrer Aufnahmen bei unterschiedlicher Beleuchtung und Schärfeneinstellung sowie einige Detailaufnahmen. Da weder die Kamera noch das Auge, das sieht, was Estes als ›richtig‹ bezeichnet, vereint er mehrere Fotos zu einem Bild.« Meisel: Fotorealismus, S. 210.

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somit das physiologisch Unmögliche logisch erscheinen. Die Kamera kann dies nicht, da sie, ähnlich dem Auge, sich entweder auf den Vorder- oder Hintergrund konzentriert.«22

Die wechselseitige Durchdringung der Bilder im Bild bringt eine dichte Wahrnehmungserfahrung hervor, in der die Ordnung des Sichtbaren nicht der pragmatischen Einstellung einer Alltagswelt gegenüber gehorcht; zwar sind die einschlägigen Sujets der Fotorealisten vertrauten Lebenswelten entliehen, doch häufig erwirken sie das prozessuale und analytische Auslesen der Dinggrenzen, der inneren Bildverhältnisse und der Raumkonstruktion. Diese forcierte Apperzeptionstätigkeit konstituiert retroaktiv das Gemälde als befremdliches Gefüge aus unterschiedlichen Perzepten. Der andauernde ästhetische Prozess spaltet die Erfahrung in das ›Sehen‹ definierter Relationen und identifizierter Entitäten auf der einen Seite, die andererseits nachträglich auf eine artifizielle ›rohe‹ Visualität bezogen wird, die – und in dieser Spannung liegt der Effekt – scheinbar vor (oder jenseits) der Überformung des menschlichen Blickes liegt. Meisels Beschreibung zielt dabei auf einen Punkt in Don Eddys Werk, an dem Bildverhältnisse im Bild noch als diskrete Entitäten analytisch zugänglich scheinen; im Laufe der siebziger Jahre radikalisiert sich allerdings dessen Ansatz zunehmend. Zunächst faszinieren die glänzenden Bleche und spiegelnden Chromteile geparkter oder abgewrackter Wagen, die gebrochen vom diagonalen Raster der Drahtzäune sichtbar werden. Dann folgen die Schauräume der Autohändler, in denen sich die Ansichten der Wagen, die Durchsichten durch die Räume und die multiplen Fensterreflexionen der gegenüberliegenden Straßenszenen überlagern und durchdringen. (Abb. 1) Über die Auslagen mit Tafelsilber und Glasartikeln (Abb. 2) gelangt Don Eddy dann Ende der siebziger Jahre zu Arbeiten, in denen das res des Realismus nahezu vollständig in ein komplexes Gefüge aus Brechungs- und Reflexionsverhältnissen überführt wird, als gelte es, diese zwei Parameter der geometrischen Optik vom Absorptionsvermögen der Oberflächen zu isolieren. (Abb. 3) Sein Œuvre, schaut man es unter diesem Gesichtspunkt zusammen, gleicht einer akribischen Erkundungsarbeit, welche die Fotografie mit den Techniken der Malerei auf ihre

22 Ebd., S. 176.

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Abb. 1: Don Eddy: Pontiac Showroom Window I, 1972, Acryl auf Leinwand, 203,2 x 167,6 cm Grundfunktionen hin befragt – so weit, bis die Perzepte die Integrität der Dinge dekonstruieren.

B ERGSONS B ILDBEGRIFF Ein skizzenhafter Rückgriff auf den Bildbegriff des französischen Philosophen Henri Bergson veranschaulicht diese Lesart. Gegen die traditionellen Lager in der Philosophiegeschichte konzipiert er das Bild als Schlüsselbegriff eines Denkens der Immanenz: »Unter Bild verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist, als was der Idealist ›Vorstellung‹ nennt, aber weniger als was der Realist ›Ding‹ nennt – eine Existenz, die halbwegs

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Abb. 2: Don Eddy: M. Raphael Silverware, 1975, Acryl auf Leinwand, 152,4 x 101,6 cm zwischen dem Ding und der Vorstellung liegt.«23 Stattdessen versteht er unter Bildern zunächst alle Formen materieller Wirkungen – Stöße, Vibrationen und Ströme –, sofern sie an Widerständen in einer a-zentrisch gedachten Immanenz gehemmt, gebrochen oder transformiert werden. Diese vielfältigen Kontraktionen der Lichtbewegung, und so auch die Orte, an denen sie sich ereignen, sind als Bilder aufzufassen, deren Gesamtheit Bergson als Welt bezeichnet. Bildwerdung stellt sich nicht als ein isolierter und abgeschlossener Vorgang dar, sondern als ein permanentes Durch-

23 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Meiner 1991, S. XXIX.

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Abb. 3: Don Eddy: Glasware III, 1979, Öl auf Leinwand, 73 x 48 cm wirken der Bilder gegenseitig, das festen Gesetzmäßigkeiten folgt. Damit wird das Bild seiner traditionellen Dichotomie von Subjekt und Objekt enthoben, wie sie in repräsentierenden Bildkonzepten vorliegen; auf den Satz vom bestimmenden Grund gestützt entwirft Bergson ein gestaffeltes Wirkungskontinuum, in dem Perzeption und Bild als zwei Seiten desselben Transformationsprozesses zusammenfallen. Gilles Deleuze, dessen einflussreiche Klassifikation von Filmbildern stark auf Bergson zurückgeht, schreibt dazu: »Das Auge ist schon in den Dingen, ist Teil des Bildes, es ist die Sichtbarkeit des Bildes. Genau das zeigt Bergson: Das Bild ist von sich aus leuchtend oder sichtbar, es braucht nur eine ›schwarze Leinwand‹, die es daran hindert, sich mit anderen

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Bildern in alle Richtungen zu bewegen, die das Licht daran hindert, sich zu zerstreuen, sich in alle Richtungen auszubreiten, die es reflektiert und bricht. Weil das Licht ›niemals sichtbar geworden wäre, wenn es sich ungestört fortgepflanzt hätte‹. Das Auge ist nicht die Kamera, es ist die Leinwand.«24

Auf einer zweiten Ebene wird dieser Kosmos divergenter, sich durchdringender Bilder durch das »Bild, das ich meinen Leib nenne«25, zentriert, wie Bergson es formuliert. Über dieses primäre Bild ist uns das Bilderuniversum zugänglich, wie auch wir darüber unseren Einfluss auf die Welt ausüben.26 Die uns umgebenden Bilder setzen sich im nervlich-muskulären Zusammenhang des Leibes fort, sodass »Gehirn, Nerven und der Gegenstand selbst ein solidarisches Ganzes bilden, einen ununterbrochenen Prozess, in welchem das Netzhautbild nur eine Episode ist« [Herv. i.O.]. Dieses idealisierte Konzept der »reinen Wahrnehmung«27 muss Bergson erweitern, da wir schließlich in unserer Alltagswahrnehmung einen souveränen Zugang zu den Bildern besitzen. Gegenüber den gebundenen, aber gestuften Verläufen existiert die Möglichkeit des Aufschubs und der Distanznahme: ein »Zentrum der Indeterminiertheit«28, das uns aus dem strikten Band der Wirkungsverknüpfungen befreit. Durch diese Art loser Kopplung wird ein differenzielles Bildwerden ermöglicht, das wir als das Auseinandertreten von aktuellen und virtuellen Bildern erfahren, sodass zu den äußeren Wahrnehmungen die inneren Bilder der Affektionen und Erinnerungen treten. Bereits hier zeichnet sich ab, dass die Erkundungen in Don Eddys Werksentwicklung deutlich auf die Vorstellung eines mit sich selbst verfalteten Bilduniversums abzielen. Um den inhärenten Begriff des Fotografischen zu schärfen, sei auf Bergsons eigenen Rückgriff auf die Fotografie hingewiesen, mit dem er zwar das Wesen der Wahrnehmung veranschaulichen möchte, der allerdings ohne weiteres ›gegen den Strich gelesen‹ werden kann:

24 Deleuze, Gilles: »Über das Bewegungs-Bild«, in: ders.: Unterhandlungen 1972– 1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 70–85, hier S. 82. 25 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 24 und S. 26. 26 Ebd., S. 214. 27 Ebd., S. 19. 28 Ebd., S. 21.

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»Die ganze Schwierigkeit des Problems, mit dem wir uns beschäftigen, rührt daher, daß man sich die Wahrnehmung als eine Art photographische Ansicht der Dinge vorstellt, welche von einem bestimmten Punkte mit einem besonderen Apparat – unserem Wahrnehmungsorgan – aufgenommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz durch einen unbekannten chemischen und psychischen Vorgang entwickelt zu werden. Aber warum will man nicht sehen, daß die Photographie, wenn es überhaupt eine Photographie ist, von allen Punkten des Raumes aus im Innern der Dinge schon aufgenommen und schon entwickelt ist?«29

Bergson hat nicht nur die Wahrnehmung, sondern ebenso die Fotografie in die Dinge verlagert. Das fotografische Moment ist nicht mehr auf die lichtempfindliche Platte beschränkt, dem Ort also, an dem die vollständige Absorption des Lichtstromes stattfindet, sondern es bezeichnet sämtliche Episoden der optischen Transformation, also alle Vorgänge der Brechung, Reflexion und Absorption. Die Fotografien sind in diesem Sinne die Dinge, oder genauer formuliert: Sie sind die Konvergenz vieler unterschiedlicher fotografischer Relationen, welche die Welt mit sich selbst unterhält. Andernfalls wäre ein indifferenter Lichtraum die Folge. Die neuzeitliche Vorstellung von Projektionsstrahlen erweist sich unter diesem Gesichtspunkt als recht unvollständige Rationalisierung der vielfältigen Bildverhältnisse, da sie das Licht lediglich nach ihrer Abkunft von den Oberflächen und nach ihrer Ankunft im Sensorium bemisst. Zwischen diesen episodischen Instanzen, zwischen Auge und Gegenstand, befindet sich ein Bildraum, in dem sich die Vielfalt der Bildverhältnisse aufschließt, die sich uns als die je bestimmte Rauheit einer Faser, der bestimmte Glanz einer Scherbe oder die bestimmte Schattenkontur auf dem Trottoir mitteilt. Diese Tiefe der Selbstabbildlichkeit entfaltet sich gerade dort, wo nicht mehr der Strahlensatz der Zentralperspektive (oder unsere Bedürfnisse wie »Lichtkegel eines Scheinwerfers«30) das Kontinuum dominiert, zergliedert und dabei distinkte Entitäten und bemessene Relationen hervorbringt. Denn die fotografische Situation, wie sie sich nun darstellt, ist nicht mehr durch das bipolare Modell unserer Intentionalität31 präfiguriert, vielmehr bewegt

29 Ebd., S. 23. 30 Ebd., S. 196. 31 Zur Überwindung der phänomenologischen Vorstellung der Intentionalität durch den Begriff der Falte vgl. Deleuze, Gilles: »Die Faltungen oder das Innen

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sie sich auf der Immanenzebene der Perzepte – eine Ahnung, die sich in der klassischen Moderne immer wieder als Möglichkeit einer a-humanen Wahrnehmung niederschlug. Philippe Dubois hat diesen Aspekt beispielsweise in den Wolkenfotografien von Alfred Stieglitz, den Equivalents, entdeckt: »Er ging, wie er selbst sagt, so vor, daß seine Fotografien Fotografien gleichen. Denn wenn die Fotografie Wolken abzubilden beginnt (bekanntlich ein äußerst beliebtes Motiv, das in der Geschichte der Fotografie zahlreiche Fotografen fasziniert hat), dann bildet sie im Grunde ihren eigenen Repräsentationsprozess ab, sie stellt (das ist keine Metapher) ihren konstitutiven Modus dar, sie zeigt sich emblematisch als Index. Wolken aus Papier und fotochemische Nebelschwaden: Selbstportraits der Fotografie durch sich selbst. Darin liegt die ganze Tragweite der Equivalents von Stieglitz. [Herv. i.O.]«32

Was Dubois an diesen Wolkenformationen von Stieglitz interessiert, ist, dass sie gerade nicht die Simulation eines menschlichen Blickes anstreben, sondern das Potenzial eröffnen, jenseits der Alltagswahrnehmung das »Kontinuum des Universums«33 zur Erfahrung zu bringen. Im solidarischen Bildganzen, der Vielzahl der sich wahrnehmenden Bilder, scheint es keinen privilegierten Ort zu geben. Sicherlich ist die Fotografie im Augenblick ihrer Entstehung nur eines unter unzähligen Bildern im offenen System sich verschränkender Lichtverhältnisse, doch darf man über ihre wesentliche Leistung nicht hinwegsehen: Die Fotografie kann uns die Welt nur erschließen, insofern sie das Zueinander der Bilder in einem Bild fixiert, sie diese Vielheit in der eigenen Einheit aufhebt, ohne sie aufzulösen. Eben in der synthetischen Konstruktion dieses Aspekts liegt ein dominanter Zug der fotorealistischen Malerei, ist doch die artifizielle Verdichtung der immanenten Bildrelation sowie deren kompositorische Aufbereitung häufig wichtiger als die bloße ›Kopistentreue‹.34 Allerdings

des Denkens (Subjektivierung)«, in: ders.: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 131–172. 32 Dubois: Der fotografische Akt, S. 202. 33 Ebd., S. 212. 34 Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass Don Eddy auch die Koloration nicht den fotografischen Vorlagen entnahm: »Sein [Don

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kann dieses Konzept des Fotorealismus noch deutlicher von der Fotografie selbst geschieden werden, denn wie sich zeigen wird, handelt es sich um eine ästhetische Dimension, die sich nicht per se aus der Fotografie ableitet.

G EGENPROBE : DAS F OTOGRAMM Schon seit ihrer Erfindung begleitet der direkte Kontaktabzug von Gegenständen die Entwicklung der Fotografie. Man meint den gespensterhaften Silhouetten der Fotogramme die Abkunft aus den Dunkelkammern anzumerken, haben sie doch nicht die lichte Außenwelt in sich aufgenommen, sondern nur den engsten Lichtabdruck in einer buchstäblichen Laborsituation reproduziert. Allerdings kam diesem Verfahren in der klassischen Avantgarde eine strategische Bedeutung zu. 1927 schrieb László MoholyNagy in seinem Buch Malerei Fotografie Film zu den Möglichkeiten der »Fotografie ohne Kamera«: »Praktisch läßt sich diese Möglichkeit folgendermaßen verwerten: man läßt das Licht durch Objekte mit verschiedenen Brechungskoeffizienten auf einen Schirm (fotografische Platte, lichtempfindliches Papier) fallen oder es durch verschiedene Vorrichtungen von seinem ursprünglichen Weg ablenken; bestimmte Teile des Schirmes mit Schatten bedecken. Dieser Prozeß kann mit oder ohne Apparat vor sich gehen. (Im zweiten Falle ist die Technik des Verfahrens die Fixierung eines differenzierten Licht- und Schatten-Spiels.) Dieser Weg führt zu Möglichkeiten der Lichtgestaltung, wobei das Licht als ein neues Gestaltungsmittel, wie in der Malerei die Farbe, in der Musik der Ton, suverän [sic!] zu handhaben ist. Ich nenne diese Art der Lichtgestaltung Fotogramm.

Eddys, C.P.] helles und klares Licht und seine starken Farben sind charakteristisch für die kalifornische Malerei. Als einziger Fotorealist malt er nicht nach Farbdias, sondern nach Schwarz-Weiß-Fotos. Die Farbpalette ist naturalistisch, folgt jedoch auch kompositorischen Überlegungen.« Chase, Linda: »Mehr als das Auge fassen kann, Sehen und Wahrnehmung in der fotorealistischen Malerei«, in: Hillings (Hg.): Picturing America, S. 22–43, hier S. 32.

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[…] Hier liegen Gestaltungsmöglichkeiten einer neu eroberten Materie. [Herv. i.O.]«35

Das Fotogramm diente Moholy-Nagy in erster Linie dazu, die Kunstfähigkeit Fotografie aus dem Bannkreis der »Naturkopie«36 zu befreien, indem er gegen den Automatismus der Apparatur die Manipulationsmöglichkeiten der fotografischen Verfahren zu erweitern suchte. In unserem Kontext erweist sich das Fotogramm allerdings als Möglichkeit zur Gegenprobe: War zuvor das Konzept des Fotorealismus jenseits der Abbildlichkeit erörtert worden, soll dieses nun geschärft werden, indem wir es mit einem Verfahren konfrontieren, das zwar unbestreitbar auf fotografischen Prozessen, nämlich dem buchstäblichen Lichtabdruck, gründet, allerdings keinen Fotorealismus hervorbringt. Die »suveräne« Handhabung des Lichts müsse, laut Moholy-Nagy, zuallererst dem Apparat abgerungen werden. Da dieser die Lenkung der mannigfaltigen Strahlengänge automatisiert, die optischen Relationen nach strenger Gesetzmäßigkeit organisiert, sei die künstlerische Kontrolle nur bedingt. Moholy-Nagy möchte mittels des Fotogramms der künstlerischen Subjektivität wieder einen Ort zuweisen, indem er die Komplexität des fotografischen Systems radikal verringert: Zentral ist, dass in dieser Anordnung nur die direkten Radien in das Fotogramm eingehen, sodass über den offensichtlichen Strahlenweg jeder einzelne Punkt durch das zwischengeschaltete Objekt modulierbar wird. Dieser Reduktion entsprechend sind die abgelichteten Gegenstände nur in ihrem Absorptionsvermögen oder Brechungskoeffizienten und nicht mehr durch ihre Oberflächeneigenschaften (Albedo, Textur, Rauheit, Glanz …) wiedergegeben.37 So kann Dubois in Moholy-Nagys Fotogramm »eine historische Illustration« der

35 Moholy-Nagy, László: Malerei – Fotografie – Film, Berlin: Gebr. Mann 2000, S. 30. 36 Ebd., S. 31. 37 Selbstverständlich ist die Konstellation, die das Fotogramm hervorbringt, zumeist von der direkten Auflage des Gegenstandes auf der lichtempfindlichen Fläche geprägt, jedoch handelt es sich nicht um eine notwendige Bedingung, sofern etwa eine Punktlichtquelle verwendet wird. Entsprechend lassen sich Vergrößerung und Verzerrungen der Silhouetten erzielen, doch selbst mit zunehmendem Abstand wird kein Bildraum erzeugt.

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»Minimaldefinition« der Fotografie als indexikalischen Lichtabdruck erkennen: »Das Resultat: eine einzig gestaltete Licht- und Schattenkomposition mit geringer Ähnlichkeit (es fällt oft schwer, die verwendeten Gegenstände zu erkennen), in der nur das Prinzip der Ablagerung, der Spur, des materialisierten Lichtes zählt.«38 Aus dieser Perspektive verhält sich die Fotografie gegenüber den im eigenen Mythos artikulierten Realismusansprüchen als ungenügend. Die Fotogramme sind folglich weniger als Simplifizierung der Fotografie aufzufassen, als deren Begrenzung auf die Bildfläche und eine monochrome Helligkeitsskala. Vielmehr stellen sie einen bestimmten Ausschnitt aus den Strahlengängen dar, die in einem fotografischen System möglich sind: Rigide isoliert dieses Verfahren solche Radien aus dem ›solidarischen‹ Bildganzen, die direkt von der Lichtquelle bis zur chemischen Reduktion der Silberionen verlaufen. Während sich in der Fotografie mit Objektiv aus den optischen Resonanzen ein Raum ausbildete und eine Vielheit von Bildern zueinander ins Verhältnis setzt, ist das Fotogramm das Resultat eines bestimmten Verhältnisses, nämlich des exakten Schattenwurfs eines Gegenstandes auf der fotosensiblen Fläche. Man Ray habe das Objektiv als notwendig für die Fotografie verworfen, schreibt Siegfried Zielinski,39 und präzisiert damit, auf welche Art und Weise László Moholy-Nagy, Man Ray und Christian Schad – um nur einige zu nennen – das fotografische Dispositiv im Zeichen der avantgardistischen Erkundungen modifizierten.40 Ex negativo wird dadurch das Objektiv als apparative Bedingung des fotografischen Bildraums deutlich – unabdingbar für die Ausdehnung, in der die Lichtstrahlen in einem Wechselspiel von Absorption, Brechung und Reflexion eine Tiefe auffalten. Es ermöglicht – ähnlich dem menschlichen Auge – eine offene Distanz, aus der heraus die Mannigfaltigkeit der immanenten Bildprozesse als Bild sichtbar wird.

38 Dubois: Der fotografische Akt, S. 54. 39 Zielinski, Siegfried: Audiovisionen, Kino und Fernsehen als Zwischenspiele der Geschichte, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 110. 40 Christian Schad produzierte ab 1919 seine ›Schadographien‹, Man Ray folgte 1921 mit ›Rayographien‹, und ab 1922 experimentierte Moholy-Nagy mit Fotogrammen. Vgl. Beyme, Klaus von: Zeitalter der Avantgarden, Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München: C.H. Beck 2005, S. 485f.

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Abb. 4: Computergrafik mit rekursivem Raytracing-Algorithmus erstellt Wenn der Fotorealismus in der Malerei, wie Chase schreibt, in »Begriffen der Photographie« arbeitet, dann ist damit eben diese Tiefe der Selbstabbildlichkeit, die Dichte der inhärenten Bildrelationen gemeint. Dann akzentuiert der Fotorealismus optische Resonanzen, die sowohl von den apparativen Bedingungen als auch von der Mimesis einer vorfotografischen oder vorfilmischen Wirklichkeit so weit entbunden ist, dass damit eine Poetik synthetischer Bildfaltungen für fotochemische, digitale und handwerkliche Bildtechniken zur Debatte steht.

»D ER S PIELRAUM

DES

G ELICHTETEN «

Zum Schluss sei auf eine Koinzidenz hingewiesen, die das Feld des Fotorealismus noch einmal historisch aufspannt: Als Don Eddy Anfang der achtziger Jahre die fotorealistische Strenge seiner früheren Arbeiten aufgab, war kurz zuvor der Artikel An Improved Illumination Model for Shaded Display von Turner Whitted41 erschienen, in dem er die ersten Computergrafiken vorstellte, die mittels Raytracing produziert worden waren. (Abb. 4) Dieses Verfahren beruht wesentlich darauf, die Strahlengänge in 41 Whitted, Turner: »An Improved Illumination Model for Shaded Display«, in: Communications of the ACM 23 (1980), Nr. 6, S. 343–349.

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einem virtuellen Raum von der Bildfläche bis zur Lichtquelle rechnerisch nachzuverfolgen. Wie David Jay Bolder und Richard Grusin bereits hervorgehoben haben, eignet den damit produzierten Grafiken ein ähnlich überwirklicher Eindruck wie der fotorealistischen Malerei; beide können als »study in illumination, specular reflection, and refraction«42 beschrieben werden. Und tatsächlich scheint die Computergrafik den Staffelstab übernommen zu haben, besitzen doch »Universale diskrete Maschinen, vulgo mithin Computer«, wie Friedrich Kittler in seinem Aufsatz Computergrafik. Eine halbtechnische Einführung43 schreibt, die Möglichkeit, sämtliche optische Gesetzmäßigkeiten als Algorithmus zu verarbeiten: »Er [der optimale Algorithmus, C.P.] müsste einfach alle optischen, und d.h. elektromagnetischen Gleichungen, die die Quantenelektrodynamik für messbare Räume kennt, auch für virtuelle Räume durchrechnen, schlichter gesagt also die drei Bände von Richard Feynmans Lectures on Physics in Software gießen. Dann würden Katzenfelle, weil sie anisotrope Oberflächen bilden, wie Katzenfelle schimmern; dann würden Schlieren in Weingläsern, weil sich ihr Brechungsindex an jedem Punkt verändert, die Lichter und Dinge hinter ihnen zu ganzen Farbspektren entfalten.«

Unter diesem medienmaterialistischen Blickwinkel ist der Fotorealismus von dem Kriterium abhängig, wie komplex virtuelle Abbildungsverhältnisse errechnet werden können – eine Frage der Kapazitäten. Zwar spricht Kittler im Falle von Raytracing ebenfalls von Selbstabbildung, allerdings atomisiert er diesen Aspekt, perspektiviert ihn auf den »dimensionslosen Punkt«, der sich im Strahlengang verlängert, und kann damit nicht fassen, auf welche Art und Weise ein fotorealistisches Bild von dem ›solidarischen‹ Mitsein seiner Bildverhältnisse kündet. Wenn man die Gemälde Don Eddys, John Salts, Ralph Goings, Richard Estes oder Robert Cottinghams betrachtet – den reflektierenden Autolack unter der amerikanischen Sonne, die Arrangements von Salzstreuern und Ketchupflaschen, die lichten Straßenensembles der Großstädte –, dann ist damit in erster Linie eine Verbindung zu einem bestimmten Potenzial der

42 Bolder/Grusin: Remediation, S. 122. 43 Kittler, Friedrich: »Computergrafik. Eine halbtechnische Einführung«, in: Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie, S. 178–194, S. 184.

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Fotografie hergestellt: zu ihrem Vermögen, die Welt als eine Mannigfaltigkeit optischer Verhältnisse aufzuschließen. So sind diese Bilder weniger als naturalistische Darstellung von Dingen aufzufassen (in diesem Sinne ist die Rubrik »Gegenständlichkeit« besonders irreführend), vielmehr entlehnt der Foto- oder Hyperrealismus der Fotografie ein Verständnis von fotografischer Bildlichkeit, das darin besteht, ein vielfach verschränktes Verhältnis von Bildern erfahrbar zu machen. Die detaillierten Spiegelungen, die nuancierten Brechungen und Reflexe wie auch die scharf gezeichneten Schattenwürfe sind die ›Grammatik‹, mit der die Bilder untereinander kommunizieren. Die gemeinsame Poetik der fotorealistischen Malerei kann demnach darin bestimmt werden, diese ›Fotogrammatik‹ derart herauszuarbeiten (d.h. sie durchaus synthetisch herzustellen), dass die vielfältigen optischen Relationen, die das Bild mit sich selber unterhält, zu einer herausgeforderten Wahrnehmungsweise werden. Liest man folgende Passage aus Heideggers Kunstwerkaufsatz und nimmt die Rede von der »Lichtung« weniger als die große, platonistische Metapher für die Offenheit des Daseins, sondern wortwörtlich, dann kann man darin die Spannung beschrieben sehen, die der fotorealistische Bildmodus als »Spielraum des Gelichteten« entfaltet: »Das Seiende kann als Seiendes nur sein, wenn es in das Gelichtete dieser Lichtung herein- und hinaussteht. Nur diese Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang zum Seienden, das wir selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst sind. Dank dieser Lichtung ist das Seiende in gewissen und wechselnden Maßen unverborgen. Doch selbst verborgen kann das Seiende nur im Spielraum des Gelichteten sein. Jegliches Seiende, das begegnet und mitgegnet, hält diese seltsame Gegnerschaft des Anwesens inne, indem es sich zugleich immer in eine Verborgenheit zurückhält. Die Lichtung, in die das Seiende hereinsteht, ist in sich zugleich Verbergung. [Herv. i.O.]«44

Wenn, wie Benjamin behauptet, die Fotografie das »Optisch-Unbewußte« der Erfahrung zugänglich mache, den Menschen in die »Strukturbe-

44 Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: ders.: Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 2003, S. 1–74, hier S. 40.

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schaffenheiten« und »Zellgewebe«45 einführt, die der Kamera »ursprünglich verwandter [sind] als die stimmungsvolle Landschaft und das seelenvolle Portrait«46, dann ist damit dieses vielschichtige Bilderaggregat angesprochen, das darzustellen der Fotorealismus in der Fotografie wiederentdeckt. Benjamin erinnert uns daran, weder Kopierschwund noch die Wiederkehr des Auratischen in einem fotorealistischen Gemälde zu erwarten. Vielmehr gibt er dem Fotorealismus die Ahnung mit, auch ein artifizielles Optisch-Unbewusstes zu denken und zu erkunden, handelt es sich doch mehr und mehr um den ›Grund‹ unseres modernen visuellen Habitats.

45 Benjamin, Walter: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 50. 46 Ebd.

Spielen, Wiederholen und Erinnern R EGINE S TRÄTLING

Authentizität – im Sinne einer Echtheit und Wahrheit des Selbst – ist lange vor der postmodernen Authentizitätskritik zum Problem geworden. Einiges spricht dafür, dass der Gedanke einer Authentizität des Selbst nicht ohne den Zweifel an dieser zu haben ist. Und wenn Ersteres, also die Authentizitätsforderung, in gewisser Hinsicht zu den Grundbestandteilen abendländischen Denkens gehört,1 so gehört auch Letzteres, die Möglichkeit der Unauthentizität, notwendig dazu. Zur spezifisch modernen Problematisierung eines authentischen Selbst hat nicht unerheblich Sigmund Freuds Theorie und Praxis der Psychoanalyse beigetragen. Allerdings hat Freud in dem Maße, wie er den objektiven Wahrheitsgehalt von Aussagen seiner Patienten in Zweifel stellte, in dem Maße, wie er ›unter‹ dem manifesten Trauminhalt einen latenten vermutete, die Kategorie des ›Authentischen‹ bekanntlich nicht aufgelöst, sondern nur verschoben und damit letztlich neu gefestigt: Freud hat die

1

Der Anspruch auf Authentizität im genannten Sinne als Echtheit oder Wahrheit des Selbst wird lange vor der Einführung des Begriffs ›authentisch‹ bzw. ›Authentizität‹ erhoben und zeigt sich schon in der Sokratischen Forderung nach Selbst(er)kenntnis. Zur Geschichte des Authentizitätsgedankens siehe Trilling, Lionel: Sincerity and Authenticity, Cambridge: Harvard University Press 1972; Varga, Somogy: »Sincerity, Autonomy and their Decline«, in: Rune Graulund (Hg.): Desperately Seeking Authenticity: An Interdisciplinary Approach, Kopenhagen: Copenhagen Doctoral School in Cultural Studies, University of Copenhagen 2010, S. 147–160.

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authentische Triebregung, die authentische Erinnerung im Sinne einer einem vergangenen Sachverhalt entsprechenden Erinnerung, lediglich der Reichweite des bewussten Zugriffs entzogen und im Unbewussten lokalisiert. In der Folge galt es, die Äußerungen des Patienten zu dechiffrieren, um zu den authentischen Mitteilungen seines Unbewussten vorzudringen. Das vornehmliche Instrument, das Freud im Laufe seiner Arbeit dazu entwickelt hat, ist die Analyse der sogenannten Übertragung. Die Übertragung tritt im Verlauf der psychoanalytischen Behandlung auf. Der Begriff trägt dem Phänomen Rechnung, dass der Patient Aspekte der vergessenen problematischen Vergangenheit auf aktuelle Lebensbereiche, die analytische Kur und den Arzt eingeschlossen, überträgt und wiederholt. Auf diese an sich hinreichend bekannten und bis heute aktuellen Annahmen Freuds wird hier verwiesen, weil mit Freuds Beobachtung des Vorgangs der Übertragung Authentizität – im genannten Sinne einer Echtheit und Wahrheit des Selbst – und Wiederholung in eine spezifische Konstellation gebracht werden. Grundsätzlich sind Wiederholungsphänomene von Anfang an für Freuds Theoriebildung leitend, gelten ihm doch auch die beobachteten Symptome ebenso wie die Träume als – wenn auch verhüllte – Reproduktionen verdrängter Konflikte. Dieser reproduzierende Charakter wird im Übertragungsgeschehen noch ausgeprägter. Freud zufolge ist Wiederholung das agierende Gegenstück zum kognitiven Erinnern. So führt Freud unter dem Titel Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten im Jahr 1914 aus: »[Der Patient] reproduziert [das Vergessene] nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt. Zum Beispiel: Der Analysierte erzählt nicht, er erinnere sich, daß er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise gegen den Arzt. […] Vor allem beginnt er die Kur mit einer solchen Wiederholung. […] Solange er in Behandlung verbleibt, wird er von diesem Zwange zur Wiederholung nicht mehr frei; man versteht endlich, dies ist seine Art zu erinnern. Natürlich wird uns das Verhältnis dieses Wiederholungszwanges zur Übertragung und zum Widerstande in erster Linie interessieren. Wir merken bald, die Übertragung ist selbst nur ein Stück Wiederholung und die Wiederholung ist die

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Übertragung der vergessenen Vergangenheit nicht nur auf den Arzt, sondern auch 2

auf alle anderen Gebiete der gegenwärtigen Situation.«

Wir haben es hier also offensichtlich mit einer Reenactment-Theorie avant la lettre zu tun. Als Form der Übertragung kann Freuds Ausführungen in der zitierten Passage zufolge also die Wiederholung – genauer: der Wiederholungszwang – für die Behandlung genutzt werden. 3 Dieser Gedanke ist bis heute leitend in diversen Therapieformen. So hat er etwa in die Gestalttherapie Eingang gefunden, die ihren Patienten unter dem Verweis auf die Freud’sche Zauberformel Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten kreatives autobiografisches Schreiben verordnet.4 Doch nicht die florierende Ratgeberliteratur für kreatives Schreiben, sondern ein autobiografisches Projekt soll im Folgenden diskutiert werden, das wie Freuds Konzept der psychoanalytischen Kur und doch auf ganz andere Weise autobiografisches Erinnern mit agierender Wiederholung koppelt, also mit einem Reenactment der eigenen Biografie. Es handelt sich um das Projekt Lieux (deutsch: ›Orte‹) des französischen Schriftstellers und Soziologen Georges Perec. Das Projekt wurde 1969 begonnen, war ursprünglich auf zwölf Jahre

2

Freud, Sigmund: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, in: ders.: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe Ergänzungsband, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 51997, S. 206–215, hier S. 209f.

3

Weniger im Hinblick auf die therapeutische Praxis als im Hinblick auf ein grundlegendes, metapsychologisches Verständnis der tiefsten Antriebe menschlichen Seelenlebens wendet sich Freud dem Wiederholungszwang sechs Jahre später erneut in Jenseits des Lustprinzips zu. Er geht dabei von der Frage aus, warum eigentlich der Mensch triebhaft Unlusterfahrungen wiederholt, wenn doch das Unbewusste, so Freuds Grundannahme, dem Lustprinzip gehorcht.

4

Vgl. u.a. Lutz von Werders mehrfach aufgelegten Ratgeber: Erinnern wiederholen durcharbeiten – Die eigene Lebensgeschichte kreativ schreiben, Uckerland: Schibri-Verlag, 22009, sowie ein Buchprojekt von Rüdiger Heins, Leiter des INKAS Instituts für kreatives Schreiben: http://www.berliner zimmer.de/heins/heins_erinnern.htm vom 4.6.2012. Vielfach referiert auch die Autobiografieforschung auf diesen Text von Freud, bspw. Malo, Markus: Behauptete Subjektivität. Eine Skizze der deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert, Berlin: de Gruyter 2009.

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angelegt, wurde aber nach sechs Jahren auf halbem Wege, wohl aus Überdruss, abgebrochen. Die Texte, die aus dem Projekt entstanden sind, sind immer noch weitgehend unpubliziert, allerdings hat Perec das Projekt mehrfach beschrieben. Dieses Projekt ist also eher den Arbeiten von Jacques Lacan als denen Freuds zeitgenössisch, und das zeigt sich auch in der Anlage des Projekts. Darauf ist noch zurückzukommen. Allerdings ist nicht Ziel der folgenden Überlegungen, das Projekt mit Lacans Begrifflichkeit zu etikettieren oder mit dessen Schriften abzugleichen. Daher wird hier von einem Exkurs zu Lacans Überlegungen zur Wiederholung – von diesem als einer der vier Grundbegriffe der Psychoanalyse eingeschätzt – abgesehen. Vielmehr soll ausgehend von Perecs Projekt der Aspekt der Wiederholung in der Freud’schen Kur noch einmal anders perspektiviert werden. Georges Perec war Mitglied der Gruppe Oulipo, kurz für Ouvroir de littérature potentielle (deutsch ›Werkstatt für potenzielle Literatur‹). Charakteristisch für die Autoren des Oulipo-Kreises ist, dass sie die Produktion ihrer Texte sogenannten contraintes unterwerfen. Eine oulipistische contrainte ist eine vom Autor freiwillig und willkürlich gesetzte äußerliche, formale Regel für die Textproduktion. Die contraintes funktionieren somit im Grunde wie Spielregeln, weil denjenigen, die sie befolgen, die Willkür ihrer Setzung bewusst ist und sie außerhalb eines klar umrissenen Bereichs, innerhalb dessen man sich ihnen freiwillig unterwirft, keinerlei Geltung haben. Anders als tradierte Genrekonventionen, die ja letztlich gleichfalls willkürlich gesetzte und mehr oder minder strikt beachtete formale Regeln begrenzter Reichweite sind, stellen oulipistische contraintes ihre individuelle Gemachtheit und ihre produktive Rolle im Hinblick auf die Textgenese aus. Perec erfindet solche contraintes auch für sein autobiografisches Schaffen. Willkürliche Regeln sollen also nicht nur die Einbildungskraft stimulieren und neue poetische Formen ermöglichen, sondern auch die Mechanismen der Erinnerung aktivieren und bestimmte Selbstverhältnisse generieren. Um die Spielregeln zur Produktion von Erinnerung für das Projekt Lieux darzustellen, können wir auf eine Beschreibung zurückgreifen, die Perec selbst in seinem Buch Espèces d’espace in dem Kapitel La rue gibt:

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»Les lieux (Notes sur un travail en cours) En 1969, j’ai choisi, dans Paris, 12 lieux (des rues, des places, des carrefours, un passage), ou bien dans lesquels j’avais vécu, ou bien auxquels me rattachaient des souvenirs particuliers. J’ai entrepris de faire, chaque mois, la description de deux de ces lieux. L’une de ces descriptions se fait sur le lieu même et se veut le plus neutre possible: assis dans un café, ou marchant dans la rue, un carnet et un stylo à la main, je m’efforce de décrire les maisons, les magasins, les gens que je rencontre, les affiches, et, d’une manière générale, tous les détails qui attirent mon regard. L’autre description se fait dans un endroit différent du lieu: je m’efforce alors de décrire le lieu de mémoire, et d’évoquer à son propos tous les souvenirs qui me viennent, soit des événements qui s’y sont déroulés, soit des gens que j’y ai rencontrés. Lorsque ces descriptions sont terminées, je les glisse dans une enveloppe que je celle à la cire. […] Je recommence chaque année ces descriptions en prenant soin, grâce à un algorithme auquel j’ai déjà fait allusion (bi-carré latin orthogonal, celui-ci étant d’ordre 12), premièrement, de décrire chacun de ces lieux en un mois différent de l’année, deuxièmement, de ne jamais décrire le même mois la même couple de lieux. Cette entreprise […] durera donc douze ans, jusqu’à ce que tous les lieux aient été décrits deux fois douze fois. […] et c’est en 1981 que je serai en possession des 288 textes issus de cette expérience. […] ce que j’en attends, en effet, n’est rien d’autre que la trace d’un triple vieillissement: celui des lieux eux-mêmes, celui de mes souvenirs, et celui de mon écriture.«

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Perec, Georges: Espèces d’espaces, Paris: Éditions Gallilée 1985, S. 76f. Deutsche Übersetzung: »Die Orte (Notizen zu einer aktuellen Arbeit) Im Jahr 1969 habe ich in Paris zwölf Orte ausgewählt (Straßen, Plätze, Kreuzungen, eine Passage), an denen ich entweder gewohnt habe oder mit denen mich besondere Erinnerungen verbinden. Ich habe mir vorgenommen, jeden Monat zwei dieser Orte zu beschreiben. Die eine Beschreibung erfolgt vor Ort und ist so neutral wie möglich: In einem Café sitzend oder durch die Straße laufend, ein Heft und einen Stift in der Hand, versuche ich, die Häuser, die Läden, die Leute, die mir begegnen, die Plakate, und grundsätzlich alle Einzelheiten, die mir ins Auge fallen, zu beschreiben. Die zweite Beschreibung erfolgt an einem anderen als dem beschriebenen Ort: Nun

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Perecs Erinnerungsprojekt besteht also im Grunde aus nichts anderem als aus Verdopplungen und Wiederholungen: Zumindest dem Plan zufolge wird Perec zwölf Mal an zwölf Orte seiner Vergangenheit zurückkehren, 24 Mal wird jeder der zwölf Orte beschrieben, zwölf Mal vor Ort, zwölf Mal aus der Erinnerung. Die selbst gegebenen Regeln zur Textproduktion semantisieren dabei den öffentlichen Raum der Stadt Paris neu und verwandeln ihn in einen Spielraum, dem sich Perec – in einer durch die Regeln vorgegebenen Weise – anheimgibt, um über dessen Anverwandlung im Schreiben die möglichen Bezüge zu seiner Vergangenheit zu erkunden. Erst dieses Sich-Ausliefern an ein Äußeres durch Handlung im Raum erlaubt eine Vergegenständlichung von Innerlichkeit. Wie der Titel ›Lieux‹ schon andeutet, wird hier die antike ars memorativa evoziert, doch wird nicht nur das Abschreiten imaginierter Loci in die Straßen der Stadt Paris verlegt. Dieses Abschreiten verläuft auch nicht mehr gemäß einer inhaltlich motivierten Ordnung, sondern gemäß einer Tabelle, die die gleichmäßige Verteilung der Ortsbesichtigungen regelt (vgl. Abb. 1 und 2). Das Regelwerk, das das Projekt leitet, ist dabei so angelegt, dass die Wiederholung, anstatt identische Resultate hervorzubringen, eine größtmögliche Bandbreite an Variationen produziert. Diese Brechungen sind medial induziert durch verschiedene Schreibstile – mal möglichst objektiv-

versuche ich, den Ort aus der Erinnerung zu beschreiben und dabei all die Erinnerungen wiederzugeben, die sich mir aufdrängen, sei es an die Ereignisse, die sich dort abgespielt haben, sei es an die Menschen, die ich dort getroffen habe. Sobald die Beschreibungen abgeschlossen sind, stecke ich sie in einen Umschlag, den ich mit Wachs versiegle. […] Jedes Jahr beginne ich diese Beschreibungen von Neuem, wobei ich mit Hilfe eines zweiachsigen Koordinatenkreuzes mit jeweils zwölf Koordinaten auf Folgendes achte: dass erstens jeder Ort jedes Mal während eines anderen Monats im Jahr beschrieben wird, und dass zweitens niemals im selben Jahresmonat dasselbe Paar Orte beschrieben wird. Dieses Vorhaben […] wird also zwölf Jahre dauern, so lange, bis alle Orte zwei Mal zwölf Mal beschrieben wurden […] und im Jahr 1981 werde ich über 288 Texte verfügen, die aus dieser Erfahrung hervorgegangen sind. [W]as ich mir davon verspreche, ist in der Tat nichts anderes als die Spur eines dreifachen Alterns: das Altern der Orte selbst, dasjenige meiner Erinnerungen und dasjenige meines Schreibens.« (Übersetzung R.S.)

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UND

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Abb. 1

Abb. 2 neutral, mal subjektiv-erinnernd – und durch die sich mit der Zeit verändernde städtische Umwelt. Genau darin liegt auch der Gewinn der Veräußerlichung des Erinnerungsprozesses – Veräußerlichung in dem Sinne,

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dass die jeweilige Umgebung des Erinnerungsakts als konstitutives Element des Erinnerungsprozesses begriffen wird. Indem Perec das erinnernde Schreiben nicht am immer gleichen Schreibtisch im Kämmerlein vornimmt, sondern an eine Rückkehr an die Orte des vergangenen Geschehens koppelt, welche ihrerseits Veränderungen unterliegen und immer andere Stimulationen geben, vergrößert er die Wahrscheinlichkeit, dass die jeweiligen Textfassungen voneinander abweichen. Die unterschiedlichen Texte, die dabei entstehen, können insofern als Variationen gelten, als sie durch das Band der Wiederholung zusammengehalten werden. Das Regelwerk schafft eine Balance von Wiederholung und Veränderung. Ziel des von Perec arrangierten Settings ist es, anhand solch mechanischer, durch die Tabelle vorgegebener Wiederholungen gerade das jeweils Neue, von anderen Erinnerungstexten Abweichende genauer in den Blick nehmen zu können. Gerade die Wiederholung soll das Unberechenbare, Unvorhersehbare ermöglichen und provozieren. Letztlich gilt es, mit Hilfe der Wiederholung intensiv erlebte, ja krisenhafte Momente in der Auseinandersetzung mit sich selbst herbeizuführen. Dass dies nicht in hinreichendem Maße eingetreten ist, ist möglicherweise ein Grund dafür, dass das Projekt vorzeitig aufgegeben wurde. Aus Perecs Setting lassen sich bestimmte Annahmen über ein Wissen von sich selbst ableiten, welche sich von dem Freud’schen Konzept von Innerlichkeit deutlich unterscheiden: Anders als Freud versucht Perec nicht, die einzig richtige Erinnerung an ein persönliches Ereignis zu finden, also die authentische Erinnerung im Sinne einer faktisch richtigen Erinnerung. Vielmehr versucht er, die Konstruktionsarbeit der Erinnerung selbst sichtbar zu machen und die Prozesse des von Perec so genannten ›Imaginären‹, die im Erinnern aktiv sind, nachzuvollziehen. Eben deswegen legt Perec die Regeln für das Projekt so an, dass eine größere Anzahl von Varianten produziert wird. Dabei hat keine Variante Priorität im Hinblick auf ihre Nähe zu einer faktischen Wahrheit. Der Gewinn der contrainte mit ihren medialen Brechungen liegt vielmehr darin, dass Divergenzen zwischen den Texten produziert werden. Während also Freud in der Tiefe des Ichs nach einer traumatischen UrErfahrung sucht, die es zu erinnern gilt, vergrößert Perec die Oberfläche, schafft Facetten, aber auch Brüche, Widersprüche und Lücken. Bei Freud liegt der Fokus auf dem Ursprung der Reihe der Wiederholungen, auf dem die Wiederholung auslösenden Original, zu dessen Rekonstruktion er an-

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tritt. Perec dagegen verschiebt den Fokus vom Original auf die Wiederholungen. Und während bei Freud Kognition und Symbolisierung idealiter dem Zwang zur Wiederholung ein Ende machen, produziert bei Perec die absichtliche Wiederholung zuallererst eine potenziell unendliche und nie vollständige Symbolisierung. Gerade die Vielfalt der Varianten, auch widersprüchlicher Varianten, die die Wiederholung in Perecs Projekt generiert, bezeugen die Vergeblichkeit, sprachlich ein Original wahrheitsgetreu zu rekonstruieren. Bestenfalls erlauben bei Perec wiederholte Ansätze zur Versprachlichung, dieses Original ex negativo als ein allen Symbolisierungen immer Diesseitiges erfahrbar zu machen. Anders gesagt: Es braucht wiederholte scheiternde Symbolisierung, um einem Unsagbaren anhand einer Bandbreite von unterschiedlichen Aussagen eine Kontur zu geben, ohne seiner gleichwohl habhaft zu werden. Freuds Kopplung von Authentizität und Wiederholung geschieht also ausgehend von dem Apriori, dass die in der Kur zu beobachtenden Verhaltensweisen keine singulären Aktionen darstellen, sondern nur die Wiederholung eines zunächst unbekannten Originals. Die Wiederholungen sind insofern authentische Wiederholungen, als zwar die Umstände andere, aber die affektiven Besetzungen die gleichen sind wie beim Original und als die Wiederholungen von einem per se authentischen und nicht korrumpierbaren Unbewussten erzwungen werden. Wie aber sieht das Verhältnis von Authentizität und Wiederholung bei Perec aus? Können die mit Hilfe der contrainte produzierten Texte als authentische Erinnerungen gelten? An diesem Punkt könnten wir nun Lacans Überlegungen zur Wiederholung heranziehen, die Freuds Ausführungen aus Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten sowie Jenseits des Lustprinzips aufgreifen. Lacan schlägt dabei zwei verschiedene Richtungen ein. Zum einen denkt er in Le Séminaire sur ›La Lettre volée‹ (als Seminar 1955 gehalten, publiziert 1957) Freuds Ausführungen zum Wiederholungszwang strukturalistisch weiter und begründet den automatisme de répétition mit der Insistenz der signifikanten bzw. symbolischen Kette.6 Zum Zweiten bestimmt er in Le Séminaire XI (als Seminar 1964 gehalten, publiziert 1973) anhand der Konzepte tyche und automaton das Verhältnis der Wiederholung zum sogenannten ›Realen‹ (le réel). Die Wiederholung

6

Lacan, Jacques: Le séminaire sur ›La Lettre volée‹, in: ders.: Écrits I, Texte intégral, Paris: Le Seuil 1999, S. 11–61.

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stelle, so Lacan hier, eine immer wieder versuchte und immer wieder scheiternde Begegnung mit dem ›Realen‹ dar, welches seinerseits am Ursprung der Folge von Wiederholungen stehe. Eine Begegnung mit dem ›Realen‹ könne bestenfalls in enigmatischer, nicht-symbolischer Form wie der eines ›Risses‹ glücken, weil das ›Reale‹ als nicht symbolisierbares Etwas, unnennbarer Rest grundsätzlich der symbolischen Struktur unzugänglich sei.7 Diese Begegnung liege »au-delà de l’automaton, du retour, de la revenue, de l’insistance des signes à quoi nous nous voyons commandés par le principe du plaisir. Le réel est cela qui gît toujours derrière l’automaton«.8 Die Begegnung gelinge nicht durch mechanische Wiederholung (das automaton), sondern durch ein Erlebnis, in dem sich etwas wie durch Zufall (tyche) zu wiederholen scheint. Grundsätzlich wird in Lacans Überlegungen, wie auch von Perecs Projekt impliziert, die Wiederholung nicht als die Reproduktion des einmaligen vergangenen und vergessenen Ereignisses verstanden. Vielmehr geht Lacan – und implizit auch Perec – davon aus, dass die Kette von Wiederholungen, die die Geschichte des Subjekts kennzeichnen, notwendig das Wiederholte – das Trauma, das ›Reale‹ – verfehlen und durch Differenz gekennzeichnet sind. Ein solcher Rekurs auf Lacans Ausführungen kann den Status der Wiederholungen im Hinblick auf ein Original in Perecs Projekt erhellen. Wesentliche Aspekte dieses Projekts kommen damit aber nicht in den Blick. Dies betrifft zuallererst dessen spielerischen Charakter, der das Unterfangen ungeachtet seiner existenziellen Dimension dominiert. Zweifellos sind die Wiederholungen, die die Tabelle in diesem Projekt dem Subjekt aufzwingt, mechanischer Art und als solche ebenso unfähig wie das automaton, eine Begegnung mit einem ›Realen‹ zu bewerkstelligen. Sie stellen nur eine Struktur bereit, in die die erhoffte krisenhafte Begegnung im Sinne der tyche zufällig einbrechen kann. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass Perec diese Struktur absichtlich und bewusst in

7

Lacan, Jacques: Livre XI. Les Quatre Concepts fondamentaux de la

8

Ebd., S. 64. Deutsch: »Das Reale ist jenseits des Automaton, der Wiederkehr,

psychanalyse, Paris: Le Seuil 1973. des Wiedererscheinens, des Insistierens der Zeichen, auf die wir durch das Lustprinzip verpflichtet sind. Das Reale liegt stets hinter dem Automaton.« Lacan, Jacques: Das Seminar Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin: Quadriga 41996, S. 60.

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Gang setzt. Er ist kein passives Subjekt, den Wiederholungen ausgeliefert, sondern Erfinder eines Spiels, das den Zufall integriert und ihn operationalisierbar macht. Ich habe schon im Vorigen im Zusammenhang mit dem Projekt Lieux verschiedentlich von Spielregeln und Spielraum gesprochen. Aber was meint Spiel hier eigentlich? Zunächst ist Spiel – im Sinne von game (also dem regelgeleiteten Spiel gegenüber play, dem freien Spiel) – als eine Ermöglichungsstruktur für Handlungen, Gefühle und Verhaltensmodi zu verstehen. Diese Ermöglichungsstruktur schafft eine grundsätzliche Wiederholbarkeit dieser Handlungen – das Match, die Patience, die Spielzeugsoldatenschlacht usw. können immer wieder von vorne beginnen. Zugleich ist das Regelwerk des game ein formales System, das Konfigurationen ermöglicht, die ihrerseits nicht vollständig durch dieses Regelsystem determiniert sind. Trotz regelgeleiteter Wiederholbarkeit sind Spiele unberechenbar. Ihr Ausgang ist ungewiss. Darüber hinaus zeichnen sich Spiele durch eine besondere Gestimmtheit des Spielenden aus. Damit Spiele überhaupt gespielt werden, muss die Spielhandlung von lustvollem Empfinden begleitet werden. Dieses Empfinden muss ›echt‹, ›authentisch‹ sein. Andernfalls endet das Spiel. Auch Lacan kommt im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Wiederholung im Rekurs auf Freud auf das Spiel zu sprechen. Gleichwohl bleibt das, was Spiele für den Spielenden zu einem angenehmen Zeitvertreib macht, eben diese eigentümliche Gestimmtheit, die all die Tätigkeiten, die wir als Spielen erfahren, begleitet, bei Lacan unberücksichtigt. Nun ist Perecs Projekt kaum zu verstehen, wenn man von dieser Spielstimmung absieht. Es funktioniert allein als Zusammenwirken von objektiver Struktur und subjektiver Gestimmtheit, denn nur diese spielerische Gestimmtheit bewirkt jene Offenheit der Aufmerksamkeit, jene Loslösung von den praktischen Zwängen des Alltags, jenes Hingegebensein an den gegenwärtigen Moment, die die Disposition für neue, andere Wahrnehmungen dies- oder jenseits der eingeschliffenen Deutungsmuster ausmachen. Gerade die Spielsituation garantiert, dass Wiedererinnern nicht zum bloß mechanischen Absolvieren der Stationen degeneriert, sondern in gespannter Gegenwärtigkeit geschieht. Darüber hinaus erlaubt das Verständnis von Lieux als Spiel, die Wiederholung von ihrem Bezug auf ein Original zu lösen und in ihren eigenen Charakteristika wahrzunehmen. Wiederholungen sind hier nicht, wie bei Freud und auch bei Lacan, eine tendenziell negativ

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bewertete Tätigkeit, die dem Subjekt aufoktroyiert wird, wie immer man nun den Zwang zur Wiederholung theoretisch zu erklären versucht. Wiederholungen haben bei Perec allein darum schon ihren eigenen Wert, weil sie im Modus des Spiels lustvoll sind. Auch sind die textuellen Produkte, die durch die Wiederholungsstruktur generiert werden, mitnichten bloß triste Manifeste unausweichlicher Verfehlung eines ›Realen‹. Auch ohne das erhoffte Vorkommen von Störungen und Krisen sind sie für Perec von Interesse, weil sich im Abgleich der einzelnen Texte zeigt, wie sich die Phantasmen des Subjekts im Laufe seiner Geschichte wandeln. Im Hinblick auf das Thema dieses Sammelbandes und seine Begrifflichkeit lässt sich Folgendes festhalten: Einerseits sind alle Texte, die im Rahmen des Projekts Lieux entstehen, gewissermaßen inauthentisch, insofern sie nicht akkurate Wiedergaben des Geschehens, sondern Produkte des persönlichen Imaginären sind. Andererseits haben sie nur dann einen Wert, wenn das Subjekt sich mit der spezifischen Intensität und entspannten Anspannung, die das Spielen kennzeichnen, der Erinnerung überlässt. Perecs Erinnerungen sind also inauthentisch und authentisch zugleich: Die Authentizität ist in die Gegenwart des Erinnerns verlegt, in die Gegenwart der lebendigen Raumerfahrung und ihrer Effekte auf das sich erinnernde Subjekt. Wiederholung und Authentizität lassen sich auch bei Perec also in einer Weise in Beziehung setzen, in der die Paradoxie ihres Verhältnisses nicht aufgelöst, sondern als Ermöglichungsbedingung für Erinnerungsprozesse begriffen wird. Es ist auffällig, dass auch Freud die Wiederholung in seinem Text Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Termini des Spiels beschreibt. Er benutzt dabei Formulierungen, wie sie seit der Aufklärung und bis heute immer wieder in der Reflexion auf das Phänomen des Spiels verwendet werden: »Das Hauptmittel aber, den Wiederholungszwang des Patienten zu bändigen und ihn zu einem Motiv fürs Erinnern umzuschaffen, liegt in der Handhabung der Übertragung. Wir machen ihn unschädlich, ja vielmehr nutzbar, indem wir ihm sein Recht einräumen, ihn auf einem bestimmten Gebiete gewähren lassen. Wir eröffnen ihm die Übertragung als den Tummelplatz, auf dem ihm gestattet wird, sich in fast völliger Freiheit zu entfalten, und auferlegt ist, uns alles vorzuführen, was sich an pathogenen Trieben im Seelenleben des Analysierten verborgen hat. Wenn der Patient nur so viel Entgegenkommen zeigt, daß er die Existenzbedingungen der

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Behandlung respektiert, gelingt es uns regelmäßig, allen Symptomen der Krankheit eine neue Übertragungsbedeutung zu geben, seine gemeine Neurose durch eine Übertragungsneurose zu ersetzen, von der er durch die therapeutische Arbeit geheilt werden kann. Die Übertragung schafft so ein Zwischenreich zwischen der Krankheit und dem Leben, durch welches sich der Übergang von der ersteren zum letzteren vollzieht. Der neue Zustand hat alle Charaktere der Krankheit übernommen, aber er stellt eine artifizielle Krankheit dar, die überall unseren Eingriffen zugänglich ist. Er ist gleichzeitig ein Stück des realen Erlebens, aber durch besonders günstige 9

Bedingungen ermöglicht und von der Natur eines Provisoriums.«

Das Regelwerk der Kur und der umgrenzte geschützte Raum, den sie bereitstellt, schaffen also, wie Freud formuliert, einen »Tummelplatz«, ein »Zwischenreich«, ein »Provisorium«, das gleichzeitig ein Stück realen Erlebens ist wie ein artifizieller Zustand. Der Tummelplatz der Therapie ist, so Freud, ein Schutzraum, in dem die Neurose wirken kann, ohne – wie im Alltag – zu unumkehrbaren und möglicherweise fatalen Entscheidungen zu führen. In der Kur entlastet die Wiederholung vom Entscheidungszwang. Hier kann immer wieder von Neuem etwas durchgespielt (eher denn durchgearbeitet) werden, so lange, bis die Therapie die Notwendigkeit für dieses Durchspielen traumatischer Erfahrungen beseitigt hat. Mit den Begriffen »Zwischenreich« usw. reiht sich Freud ein in eine leitende Traditionslinie der Spielreflexion, die das Spiel als eben einen solcher Zustand des »betwixt and between«10 charakterisiert, der der realen Welt angehört und zugleich von ihr abgehoben ist. Die Spieltheoretikerin Ingeborg Heidemann hat dies in den 1960er Jahren die »ontologische Ambivalenz« des Spiels genannt. Das Spiel stellt, so Heidemann, ein

9

Freud: »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«, S. 214.

10 So die Formulierung von Victor Turner; siehe ders.: »Betwixt and Between: The Liminal Period in ›Rites de Passage‹«, in: J[.] Helm (Hg.): Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society, Seattle: American Ethnological Society, S. 4–20 (rep. in: Turner, Victor: The Forest of Symbols: Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca: Cornell University Press 1967, S. 93–111), und ders.: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Chicago: Aldine De Gruyter 1969, S. 96. Einen Überblick über diese Traditionslinie gibt Adamowsky, Natascha: Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2000, S. 26–33.

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eigentümliches Zwischen dar: »[E]s ist real und es ist nicht real; es ist in der Welt und es ist nicht in der Welt.«11 Wir könnten hinzufügen: Es ist authentisch und nicht authentisch. Dass wir den spielerischen Charakter der analytischen Kur nach Freud nicht zu Unrecht forcieren, dafür bürgt nicht zuletzt Freuds Analyse des Kinderspiels im Zusammenhang seiner Ausführungen zur Wiederholung in Jenseits des Lustprinzips. Hier ist es das Spiel, das die Bewältigung unlustvoller Erfahrung durch Wiederholung ermöglicht. Diese Bewältigung kann durch zweierlei gelingen: erstens durch die Transferierung des Erfahrenen in einen anderen Raum, in das Zwischenreich des Spiels, das der Welt des Kindes zugleich angehört und von ihr abgelöst ist, und zweitens durch die vielfache Wiederholung des Erfahrenen in diesem Spielraum, in dem das Kind das Geschehen nicht mehr passiv erleidet, sondern aktiv manipulieren kann. Die spielerische aktive Wiederholung ist aber – das deutet Freud in Jenseits des Lustprinzips an – nur der sublimierte Erfahrungsmodus eines Zwangs zur Wiederholung. Mit Dietmar Kamper: »Zwischen Wiederholung und Wiederholungszwang ist nur Platz für eines Messers Schneide.«12 Wenn die psychoanalytische Kur letztlich trotzdem kein Spiel ist, dann deshalb, weil die Wiederholung im Übertragungsgeschehen von den Beteiligten nicht als Spiel erfahren wird. Es fehlt auf Seiten des Analysanden nicht nur das Bewusstsein dafür, in der Übertragung ein bereits Erlebtes zu wiederholen, es fehlt auch die Spielstimmung. Das Faszinierende an Perecs Projekt Lieux ist, dass es Spiel und existenzielle Sorge um die eigene Person nicht gegeneinandersetzt, sondern beides in eine Konfiguration bringt.

11 Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spieles und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart, Berlin: de Gruyter 1968, S. 10. 12 Kamper, Dietmar: »Tod des Körpers – Leben der Sprache. Über die Intervention des Imaginären im Zivilisationsprozeß«, in: Gunter Gebauer et al. (Hg.): Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 49– 81, hier S. 63.

Re-Inszenierungen von Geschichte und künstlerische Reenactments

Jeremy Dellers Battle of Orgreave Realismus und Realität im Reenactment W OLFGANG B RÜCKLE

Dieser Beitrag handelt von einer der erfolgreichsten Inanspruchnahmen des Reenactments für die zeitgenössische Kunst. Reenactments haben es, wie mehrere Ausstellungen herausgestellt haben, als künstlerisches Verfahren zu breiter Anerkennung gebracht. Sie entstammen der kollektiven Freizeitkultur und ziehen seit Jahrzehnten Liebhaber insbesondere in Großbritannien und in den USA an. Die Grenzen zur darstellenden Kunst waren, so darf man ungeachtet des haarsträubenden Konservatismus vieler solcher Veranstaltungen wohl sagen, immer fließend. Künstlerische Reenactments teilen denn auch in manchen Fällen Vorgehensweisen und Erscheinungsformen mit denen der Unterhaltungskultur. Ihre besonders im vergangenen Jahrzehnt gestiegene Beliebtheit bleibt jedoch erklärungsbedürftig über jene hinaus. Inke Arns hat davon gesprochen, dass künstlerische Reenactments der Wiederholung traumatischer Ereignisse dienen und deren Bedeutung für die Gegenwart ins Blickfeld rücken sollen. Für eine Gegenwart, so fügte sie hinzu, in der das Authentische durch die Allgegenwart medialer Repräsentation in weite Ferne gerückt sei. 1 In der Tat

1

Vgl. Arns, Inke: »History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance«, in: dies./Gabriele Horn (Hg.): History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 37–62, hier S. 40 und S. 42, vgl. auch S. 60.

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beziehen sich einige Reenactments auf das von Nachrichtenmedien erzeugte Bild des beschworenen Ereignisses; das gilt auch für unser Beispiel. Damit ist aber noch nicht erklärt, inwiefern Authentizität zu dem von Künstlern behandelten Problemkreis gehört. Arns scheint andeuten zu wollen, dass Reenactments eine verlorene Authentizität zurückholen wollen. Statt diesen Gedanken weiter zu verfolgen, betont sie jedoch, dass im Reenactment die Frage danach gestellt werde, was die Bilder von Ereignissen für uns bedeuten würden, wenn das Ereignis von uns selbst erfahren würde. Das kann man freilich auch von den Reenactments der Freizeitkultur behaupten. Es gilt umgekehrt wohl kaum für alle Reenactments gleichermaßen, denn die Quellen, auf die sie sich beziehen, unterscheiden sich ebenso stark voneinander wie die Art der Quellenbezüge, denen wir in ihnen begegnen. Immer begegnen wir aber in Reenactments der eigenartigen Verschränkung von schrumpfender und erhöhter Distanz zum wiederholten Ereignis, und die Frage danach, welche Authentizitätserfahrungen damit verbunden sind, stellt sich in der Auseinandersetzung mit der Gattung fast zwingend. Arns weist auf die eigentümliche Aufhebung der Distanz zum Gegenstand im Reenactment hin, wenn auch ohne hinzuzufügen, dass wir es dabei mit einer fast unausweichlichen Folge des Wiederholungsverfahrens selbst zu tun haben. Das ist wichtig, weil der Authentizitätseffekt des Reenactments, wenn er denn eintritt, sich darauf gründet. Im Folgenden wird dieser Gedanke wieder aufgenommen. Jeremy Dellers Battle of Orgreave, so ist zu zeigen, gab zu Beschwörungen von Authentizitätserfahrungen Anlass, indem die Aufführung Kapital aus der gleichzeitigen Präsenz von Gewesenem und Jetzt schlägt. Damit ist zunächst ein ästhetischer Reiz bezeichnet, aber auch im Allgemeinen die Grundlage für unsere Geschichtskonstruktionen. Am 18. Juni 1984 sah der junge Deller in den Fernsehnachrichten Bilder von einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen nordenglischen Bergarbeitern und der Polizei. Noch viele Jahre später hatte er, wie er im Rückblick berichtet, diese Bilder nicht vergessen. Es schien ihm, als hätten sie von einem Bürgerkrieg zwischen Süd- und Nordengland berichtet. Die feindselige Haltung der Medien gegenüber den Arbeitern trug zur Verunklärung der Lage bei, und auch nach dem Ende des Arbeitskampfs fand in der Öffentlichkeit keine angemessene Aufarbeitung der Ereignisse statt. Dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, schien sich einmal mehr zu bewahrheiten. Damit wollte sich Deller nicht

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zufrieden geben. Lange hegte er den Vorsatz, sich die Ereignisse des Tages zu vergegenwärtigen, verbunden mit dem anfangs noch unbestimmten Wunsch nach einer Erinnerungsveranstaltung. Schließlich gab ihm 2001 die britische Kunstförderungsagentur Artangel zur genaueren Ausarbeitung Gelegenheit, als sie einen Wettbewerb für Kunstprojekte im öffentlichen Raum ausschrieb. Die Fernsehbilder von 1984 hatten von der Verhinderung einer Gewerkschaftsblockade der Kokerei von Orgreave durch massiven Polizeieinsatz berichtet (und zwar, wie sich herausstellen sollte, unter suggestiver Verzerrung der tatsächlichen Ereignisse); Deller schlug ein Reenactment dieser Kämpfe vor. Damit widmete sich seine Eingabe, die Artangel zur Verwirklichung bestimmte, einer der besonders schmerzhaften Niederlagen der Arbeiter in einem Streik, der drei Monate zuvor in dem Vorsatz, eine Reihe von Staatsbetrieben vor Privatisierung und Schließung zu schützen, ausgerufen worden war. Die Kokerei bei Orgreave lieferte Brennstoff für die metallverarbeitenden Betriebe in Yorkshire. Sie geriet in den Mittelpunkt des Arbeitskampfs, als die von den Streikenden betriebene Behinderung der Produktion im Stahlwerk von Scunthorpe zu scheitern drohte, weil dorthin mehr Koks überführt wurde, als eine zum Schutz der Maschinen getroffene Vereinbarung zwischen der Gewerkschaft und den Arbeitgebern vorsah. Arthur Scargill, Leiter der National Union of Mineworkers, wollte nun die Energielieferungen zu völligem Stillstand bringen. Er hoffte, dass sich im Erfolgsfall andere, bisher nicht beteiligte Gewerkschaften zum Einstieg in den Streik bewegen lassen würden. Weil das nicht gelang, ist die Schlacht um Orgreave als Vorentscheidung in dem Streik, der gleichwohl noch bis 1985 andauerte, in die britische Zeitgeschichte eingegangen. Die Macht der Gewerkschaft erwies sich in der Folge ihrer Niederlage als dauerhaft gebrochen, viele der nordenglischen Gruben und Werke wurden geschlossen, und die betroffenen Regionen leiden bis heute an den Folgen der mit dem Rückbau der Industrie einhergehenden Massenarbeitslosigkeit. Auf diese Sachlage beziehen sich die in der Literatur über Dellers Werk allgegenwärtigen Hinweise auf das Trauma, von dem die örtliche Bevölkerung heimgesucht wurde. Deller selbst, der ebenfalls von einem solchen Trauma spricht, glaubt es sogar als einen Riss durch die gesamte englische Gesellschaft der Zeit des Streiks und danach beschreiben zu können.2 Das Schweigen der Öffentlichkeit

2

Vgl. Deller, Jeremy: The English Civil War Part II. Personal Accounts of the

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wird hin und wieder auf eben diese Sachlage zurückgeführt. Es steht auch im Hintergrund von Dellers Battle of Orgreave, indem er sich der Erinnerungen von Beteiligten als Quelle bedient und die Erinnerung zugleich über die Einbindung dieser Beteiligten in seine Aufführung wiederbelebt. Über ein Jahr hinweg stellte Deller Nachforschungen in der Gegend an. Sie wurden zum Ausgangspunkt seiner Wiederaufführung der Auseinandersetzungen, bilden aber auch einen Bestandteil des mehrgliedrigen Werks, von dem das eigentliche Reenactment nur den theatralischen Höhepunkt darstellt. Zunächst wollten Artangel und der Künstler sicherstellen, dass die ortsansässige Bevölkerung den Plan wohlwollend aufnehmen werde. Archivstudien und Gespräche mit Zeitzeugen sollten sodann eine getreue Rekonstruktion des Tagesverlaufs erlauben. Schon zu diesem Zeitpunkt wurden die ehemaligen Arbeiter also in den Entstehungsprozess eingebunden. Aus diesem Blickwinkel stellt die abschließende Dramatisierung eine Umsetzung von Erkenntnisinteressen der Oral History dar, wie es übrigens für die Gattung schon hundert Jahre zuvor gilt: Schon in der ersten Blütezeit von Reenactment-Vereinen, die kurz nach 1900 eine regelrechte Fachdiskussion hervorbrachte, wurde eine fleißige Erforschung geschichtlicher Zusammenhänge und insbesondere mündlicher Überlieferungen empfohlen, um eine größtmögliche Authentizität der Darstellung zu gewährleisten und so das Vertrauen der örtlichen Bevölkerung zu gewinnen; vor allem wurde aber damals bereits die im Reenactment mögliche Förderung identitätstiftender Gemeinschaftserlebnisse gepriesen.3 Alledem kommt Deller erstaunlich nahe, aber er beließ es nicht dabei. Es war ihm wichtig, dass an der Aufführung selbst ehemalige Bergleute beteiligt waren. Die Rekrutierung von Darstellern erfolgte zwar einerseits bei Reenactment-

1984–85 Miners’ Strike, Manchester: Artangel 2001, S. 7. Hinweise auf die unerhörte Zuspitzung der politischen Rhetorik während des Arbeitskampfs gibt Milne, Seumas: The Enemy Within. M15, Maxwell, and the Scargill Affair, London: Verso 1994, S. 19. Die verzerrende Berichterstattung der Medien erörtern Cumberbatch, Guy et al.: Television and the Miners’ Strike, London: Broadcasting Research Unit 1986, bes. S. 72f. 3

Siehe Glassberg, David: American Historical Pageantry. The Uses of Tradition in the Early Twentieth Century, Chapel Hill/London: University of North Carolina Press 1990, S. 117ff.

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Vereinen im ganzen Land und durch Howard Giles, der als Leiter der Firma EventPlan von Artangel mit der Durchführung des gesamten Ereignisses betraut worden war. Fast 600 Leute kamen über die Legio II Augusta, die Vikings, die Historical Maritime Society, die Hoplite Association, die English Civil War Society, Sealed Knot, die WWII Living History Association, die Wars of the Roses Federation, die Southern Skirmish Association, The Troop und ähnliche Vereinigungen zusammen. Zugleich wurde aber vor Ort für die Teilnahme geworben. Auf diese Weise wurden so viele ehemalige Bergarbeiter zur Teilnahme bewegt, dass die Zahl der Darsteller auf etwa 800 Personen anstieg. Das Honorar von 60 Pfund mag für manchen der Arbeiter, wie sicher auch für viele Vereinsmitglieder, eine Rolle gespielt haben. Aber die Aussicht, sich mit der eigenen Geschichte beschäftigen zu können, hat offenbar für die meisten einen besonderen und vielleicht den entscheidenden Anreiz dargestellt. Angesichts der Aussicht, das Ereignis vor dem Vergessen zu bewahren, scheint niemand von ihnen befürchtet zu haben, dass die ›wirkliche‹ Geschichte von einem Schauspiel überlagert werden könnte. Es ist jedenfalls nicht bekannt, dass Zeitzeugen sich wegen solcher Bedenken gegen eine Teilnahme ausgesprochen hätten. Es ist andererseits auch nicht genau bekannt, ob Deller auf einen größeren Zulauf von Arbeitern gehofft hatte.4 Aber für die Begegnung von Arbeitern und anderen Teilnehmern reichte die Teilnehmerzahl allemal aus, und darauf kam es ihm vielleicht noch mehr an als auf die historische Angemessenheit des Schauspiels. Mit ihr nahm es vor allem Giles sehr genau. Im unmittelbaren Vorfeld lernten die angereisten Darsteller zeitgenössische Schimpfworte und Parolen und probten zusammen mit den Veteranen die getreue Nachstellung der Ereignisse, wobei, wie in der Literatur oft erwähnt wird, einige von ihnen so heftig vorgingen, dass es den Polizeidarstellern ziemlich ungemütlich wurde und zur Mäßigung

4

Morris, Michael: »The Re-enactment. An Introduction«, in: Deller: The English Civil War Part II, S. 122–123, hier S. 123, berichtet von teilnahmewilligen ehemaligen Kumpeln, die abgewiesen werden mussten. Angaben über die Gesamtzahl der Teilnehmer schwanken. Verlässlich ist wohl vor allem Giles, Howard: »Recreating the Battle of Orgreave, 1984«, in: Echoes From the Past Nr. 4 (2001), S. 18–26, hier S. 19, wo es heißt, dass wegen beschränkter Mittel nur 800 Darsteller angenommen werden konnten, darunter 280 ehemalige Kumpel und Polizisten.

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aufgerufen werden musste. Im Übrigen sollte aber alles möglichst wirken wie 1984. Für die Einübung von damals neuen Polizeitaktiken standen ehemalige Ausbilder als Berater zur Verfügung. Der Darsteller des Polizeichefs nahm angeblich sogar dessen Akzent an, damit sich seine Befehle ›echt‹ anhörten. Die Aufführung vor großem Publikum erfolgte am 17. Juni 2001. Der Fotograf Martin Jenkinson, der schon 1984 dabei gewesen war und insofern zur Gruppe der Veteranen, die sich selbst spielten, zu zählen ist, dokumentierte noch einmal den gesamten Hergang. Im Übrigen wurde zur wichtigsten Quelle für den Verlauf des Reenactments ein Film, den der privat geführte Fernsehsender Channel Four herstellen ließ. Das allgemeine Bild von Dellers Werk ist hauptsächlich durch diese Repräsentation der Repräsentation geprägt; das gilt auch für die folgende Beschreibung des Ablaufs.5 Wie es bei der Umsetzung von Reenactments üblich ist, werden die Zuschauer durch einen Lautsprecherkommentar vorbereitet. Insbesondere wird vor Beginn die Ausrüstung und Taktik der einander gegenüberstehenden Gruppen erklärt. Giles betont bei der Gelegenheit ausdrücklich, dass die Zuschauer keiner wirklichen Schlacht beiwohnen werden, dass die Teilnehmer einander allesamt freundlich gesonnen seien, dass ehemalige Bergarbeiter Polizisten und ehemalige Polizisten Bergarbeiter spielen werden.6 Es folgt, von Giles ermuntert, ein allgemeines Händeschütteln.

5

Artangel hatte diese Zusammenarbeit als ein Finanzierungsmittel angeregt; vgl. das Typoskript im Archiv von Artangel, London, unter Y17.BOMAT.02 (dort MM für Michael Morris, der Artangel bei dem Projekt vertrat). Bereits Dellers Vorbereitungen wurden von den Filmleuten begleitet. Mike Figgis führte Regie. Nach einer Premiere auf den Londoner Filmfestspielen von 2001 erfolgte die Erstausstrahlung im Jahr 2002. Die von Artangel verbreiteten Fotografien stammen sämtlich von Jenkinson, der sich als einziger Fotograf unter die Darsteller mischen durfte.

6

Jedoch berichtet Whitaker, Raymond: »When Police Batons Broke Union Power. Artist Re-creates the Battle of Orgreave«, in: The Independent on Sunday vom 10.6.2001, S. 3, dass sich von den Leuten aus der Gegend kaum einer zur Darstellung von Polizisten bereit fand. Einer anderen, hierin vermutlich jedoch irrigen Beschreibung zufolge war unter den Darstellern überhaupt nur ein einziger ehemaliger Polizist. Vgl. Morrison, Richard: »›Battle of Orgreave‹. Memories of Orgreave are dredged up with dignity, sadness,

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Dann marschieren die Parteien gegeneinander auf, die Streikenden in Kleidung der 1980er Jahre, die Polizisten in zeitgemäßen Kampfanzügen. Anders als am 18. Juni 1984 ist es am Tag der Aufführung kühl und feucht; trotzdem spielen ein paar Arbeiter Fußball und essen Eis am Stiel, wie sie es damals getan hatten. Es folgen historisch verbürgte Sticheleien und Kampfgesänge auf Seiten der Streikenden. Ein paar Wurfgeschosse fliegen auf die Polizei zu; dafür werden Steinnachbildungen aus Gummi verwendet. Die Polizei bildet eine Phalanx von Schilden. Seitlich tauchen Hunde auf. Die Streikenden versuchen die Linie zu durchbrechen, werden aber mit Knüppelhieben zurückgedrängt. Die Phalanx öffnet sich, berittene Polizei bricht durch und scheucht die Massen übers Feld den Hang hinauf. Die Zuschauer brüllen: »Schweine, Schweine, Faschisten!« Eine Frau ruft: »Die sind nicht getrabt, die sind galoppiert!« Dann ziehen sich die Reiter zurück. Eine Kampfeinheit mit Schilden und Schlagstöcken prescht vor, prügelt drauflos und verhaftet ein paar Streikende. Hinter ihnen trommeln die Kollegen auf die Schilde und rücken geschlossen vor.7 Die Arbeiter sind zurückgeschlagen. Auf der Straße geht der Kampf zwischen brennenden Autos weiter. Eine Sirene beendet die Feldschlacht; es folgt eine Mittagspause. Danach werden als zweiter Teil der Veranstaltung die Verfolgung der Streikenden über eine nach Orgreave führende Eisenbahnbrücke und die anschließenden Straßenkämpfe im Dorf selbst aufgeführt, wiederum unter Einsatz berittener Polizei. (Abb. 1) Wieder fliegen Wurfgeschosse. Die vorrückende Staatsgewalt treibt fliehende Arbeiter vor sich her und schlägt hier und da – nicht allzu fest, soweit sich aus den Filmbildern ersehen lässt – auf schon am Boden liegende Demonstranten ein. Filmblut sorgt für drastische Bilder. Vereinzelt vernimmt man Anwohner, die ihre Solidarität mit dem Streik durch anfeuernde Schlachtrufe bezeugen.

resilience and a great deal of waspish wit and black comedy«, in: The Times vom 22.11.2001, S. 7. Das Zeugnis dieses oder eines anderen Polizisten ist zugänglich als Teil eines ohne Verfasserangabe veröffentlichten Berichts, in dem die Zuschauerzahl mit 3000, die Zahl der Polizeidarsteller mit 450, die der gegnerischen Seite mit 350 angegeben werden. Vgl. N.N.: »Orgreave 17 Years On«, in: Skirmish. The Re-enactment Magazine Nr. 14 (2001), S. 28–32, hier S. 28f. 7

Vgl. Lubbock, Tom: »When History Repeats Itself Too Soon«, in: The Independent vom 19.6.2001, S. 11.

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Abb. 1: Jeremy Deller, Battle of Orgreave, 2001 Am Nachmittag beendet nochmals ein Signal das Getümmel, und die Teilnehmer versammeln sich im Ortskern, wo sie sich bei Essen und Getränken für Gespräche über die Ereignisse von 1984 zur Verfügung halten. Sie sind darauf sogar, wie ein Bericht betont, besonders erpicht.8 In einem Zelt sorgt Informationsmaterial für die Unterfütterung des gesamten Tages und insbesondere dessen letzten Teils, der zu diesem Zeitpunkt nach Auskunft einiger Zeugen etwas von einem geselligen Dorffest annimmt.9 Zur Untermalung wird über Lautsprecher Popmusik der 1980er Jahre abgespielt, und es ist Verköstigung erhältlich. Dellers Werk stieß auf fast einhellige Begeisterung in der Kunstkritik und ist, wohl auch aufgrund der zu einem Teil seines ästhetischen Gefüges gewordenen Fernsehdokumentation, sehr bekannt geworden. Die Battle of Orgreave fehlt in wohl keiner der vielen seither gezeigten Ausstellungen über Reenactments in der Gegenwartskunst. Die Gründe dafür scheinen auf der Hand zu liegen. Es setzt sich mit einem bedeutsamen, aber vernachlässigten Datum britischer Zeitgeschichte auseinander. Dellers Auffassung, dass der Streik totgeschwiegen werde, steht am Beginn des 8

So heißt es bei Rendell, Jane: »Space, Place, and Site in Critical Spatial Arts Practice«, in: Cameron Cartiere/Shelly Willis (Hg.): The Practice of Public Art, Abingdon: Routledge 2008, S. 33–55, hier S. 50.

9

Vgl. Farquharson, Alex: »Jeremy Deller. ›The Battle of Orgreave‹«, in: Frieze Nr. 61 (2001), S. 108, und Bishop, Claire: »The Social Turn. Collaboration and Its Discontents«, in: Artforum 44 (2006), Nr. 6, S. 178–183, hier S. 182.

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Projekts, und in dessen Beschreibungen wird dieselbe Ansicht häufig wiederholt. Bestimmend für das Konzept ist in den Augen einiger Kommentatoren vor allem das fortwährende Gespräch mit den Zeitzeugen aus der Gegend: Deller rekonstruiert eine verloren geglaubte geschichtliche Wahrheit. Er gibt der Bevölkerung eine Stimme und wirkt sozial integrativ.10 Er gibt einer von gemeinsamen Erlebnissen geprägten Bevölkerungsgruppe die Möglichkeit, sich als Gemeinschaft zu erleben, und arbeitet dadurch mit den Maßgaben der in den 1990er Jahren beliebt gewordenen Beziehungskunst oder Esthétique relationelle, die sozialen Austausch im öffentlichen Raum an die Stelle vereinzelter Versenkung in den symbolischen Raum der Kunst treten lassen will. Es wird in Beschreibungen der Battle of Orgreave auch immer wieder erwähnt, dass Deller einer traumatisierten Bevölkerung zu heilsamer Wiederbegegnung mit dem verdrängten Zusammensturz ihrer ökonomischen und sozialen Sicherheiten verholfen habe. Schließlich schafft seine Aufführung ein Ereignis, das, wie ebenfalls häufig betont wird, die bloße Redundanz üblicher theatralischer Wiederholungen der Vergangenheit durchbricht und ein authentisches Geschichtserlebnis ermöglicht. Keine von diesen Behauptungen soll hier rundheraus bestritten werden. Aber die vielen gleichlautenden Einschätzungen der Eigenschaften und Leistungen des Werks geben kaum jemals zusammenhängende Begründungen für ihre Urteile. Es ist deshalb wohl richtig, noch einmal nachzufragen, was Deller denn nun eigentlich genau und wie er es erreicht. Von der oft beschworenen ›kathartischen‹ oder ›therapeutischen‹ Leistung seines Werks hat er sich jedenfalls selbst überrascht gezeigt. Es brauche mehr als bloß Kunst, sagt Deller, um eine Heilung traumatisierter Bevölkerungsgruppen zu erreichen, und: Ihm sei es hauptsächlich darum gegangen, die breite Öffentlichkeit daran zu erinnern, was eigentlich 1984 geschehen sei.11 Wenn wir das Verhältnis von Wiederholung und Authentizitätserfahrung richtig einschätzen wollen, ist

10 Hutchinson, Mark: »Four Stages of Public Art«, in: Third Text 16 (2002), S. 429–438, hier S. 436, sieht in der Mitarbeit der örtlichen Bevölkerung den großen Vorzug der Arbeit, weil sie ihm zufolge das Problem ethnologischer Fremdbeschreibung zu umschiffen hilft. 11 Vgl. Deller in Slyce, John: »Jeremy Deller. Fables of the Reconstruction«, in: Flash Art 36 (2003), Nr. 228, S. 74–77, hier S. 76, und Cork, Richard: »Pits of Lost Hope«, in: The Times vom 15.10.2002, S. 17.

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es ratsam, diese Auslegung nicht ganz aus den Augen zu verlieren, auch wenn sie nicht zwangsläufig größere Autorität hat als andere Deutungen. Unter den Zuschauern waren einige Kunstkritiker, die ihre Eindrücke zu Papier gebracht haben. Die meisten von ihnen erwähnen die dialogischen Bestandteile der Veranstaltung. Wiederholt wird außerdem davon gesprochen, dass in der Battle of Orgreave die Grenzen von Kunst und Leben verwischen. Einem Haupterfordernis von beziehungsästhetischer Authentizitätsversicherung ist damit scheinbar Genüge getan. Aber die Teilnehmer, die in Orgreave eine Entgrenzung der Kunst beobachtet haben, wollen mehrheitlich auf etwas anderes hinaus. Ihnen geht es nicht um die Auflösung der ästhetischen Grenze im Alltagsleben, sondern um die Aufkündigung des Bewusstseins historischer Differenz. In einem der Berichte heißt es, während der Aufführung habe fast völlige Stille unter den Zuschauern geherrscht, aber andernorts sind die oben erwähnten Schimpftiraden auf die Polizisten und anfeuernden Gesänge bezeugt.12 Die Zuschauer haben sich also verhalten, als nähmen sie die Möglichkeit einer Zeitreise wahr. Andere Berichte bestätigen diesen Eindruck, wenn auch nicht alle. Neil Cummings und Marysia Lewandowska erwähnen die »schön choreographierte Gewalt«, in deren Folge blutverschmierte Verletzte am Straßenrand liegen blieben. Darin spricht sich die ästhetische Anziehungskraft von narrativer Stimmigkeit und visuellem Realismus aus. Bei Jane Rendell, auch sie eine Augenzeugin, steht dagegen ästhetisches Wohlgefallen nicht an erster Stelle. »Meine eigene Wut über die Aggressivität der Politik von Margaret Thatcher, über die verzerrte Darstellung der Bergarbeiter, über die Hetze gegen die Gewerkschaften und, was am schlimmsten war, der Mangel an Widerspruchsgeist im Kielwasser des Thatcherismus stiegen in mir hoch. Ich fühlte mich etwas unwohl mit dieser mächtigen emotionalen Reaktion.«13 Rendell fügt zwar hinzu, dass sie gegen die Leichtigkeit, mit der Erfahrungsberichten Authentizität zugeschrieben wird, Misstrauen hegt. Damit spielt sie auf die

12 Vgl. MacRitchie, Lynn: »When Time Becomes Space«, in: Richard Lingwood: Off Limits. 40 Artangel Projects, London: Artangel 2002, S. 68–72, hier S. 70. 13 Cummings, Neil/Lewandowska, Marysia: »A Shadow of Marx«, in: Amelia Jones (Hg.): A Companion to Contemporary Art Since 1945, Malden/Oxford: Blackwell 2006, S. 403–423, hier S. 403, sowie Rendell: »Space, Place, and Site in Critical Spatial Arts Practice«, S. 49f.

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Rolle der Zeitzeugen bei Deller an. Aber sie unterläuft dieses Argument mit ihrem eigenen Bericht über einen Effekt, der sie, Unwohlsein hin oder her, ins Jahr 1984 zurückversetzt. Offensichtlich fühlten sich selbst unbeteiligte Zuschauer für einen Augenblick in ihrem persönlichen Verhältnis zur Geschichte berührt. Das machen auch andere Zeugnisse deutlich, etwa wo es heißt, dass die Aufführung »in vieler Hinsicht real«, weil ein Stück »noch einmal durchlebter, nicht wiederholter Geschichte« gewesen sei. Oder wo ein Berichterstatter bemerkt, dass »Aspekte wirklichen Lebens« in die Aufführung eingegangen seien, oder wo es wiederum andernorts, aber gleichlautend heißt, dass trotz aller verfremdenden Effekte ein »Eindruck von Wirklichkeit« über das Theater hereingebrochen sei.14 In allen diesen Zeugnissen geht es offensichtlich nicht um die abbildlichen Vorzüge von Realismus. Es geht um eine Erfahrung, in der das Bewusstsein davon, dass es sich um eine Repräsentation handelte, für einen Augenblick aufgehoben wurde. Es fragt sich, ob wir diese Erfahrung, wie es üblich ist, mit der willentlichen Aufgabe des Zweifels an der Zugehörigkeit von Phänomenen ästhetischer Repräsentation zur Wirklichkeit erklären wollen oder auch, in Anlehnung an Kendall L. Walton, mit einem Spiel der Phantasie.15 Mir scheint diese Möglichkeit nicht befriedigend. Die Berichte wollen uns jedenfalls glauben machen, dass der Einbruch des Wirklichen die Zuschauer überraschend heimgesucht habe. Sie wollen darauf hinaus, dass sich das Erlebnis zumindest in einzelnen Momenten kategorial von dem einer üblichen Theateraufführung unterschied. In der Frühgeschichte des Reenactments stoßen wir auf eine vergleichbare Erscheinung. 1913 fand im New Yorker Madison Square Garden das Reenactment eines noch gar nicht beendeten Streiks der Seidenspinner im nahen Paterson statt, vermutlich das erste Reenactment eines Arbeitskampfs überhaupt. (Abb. 2) Teilnehmer des Streiks führten die

14 Vgl. Farquharson: »Jeremy Deller«, S. 108, das bei Lingwood: Off Limits, S. 91, zitierte Zeugnis von Morris (»history re-lived, not re-enacted«) und Lubbock: »When History Repeats Itself Too Soon«, S. 11. Vgl. auch Woolfit, Don: »Orgreave 2001. An Inspector Recalls«, in: N.N.: Orgreave 17 Years On, S. 31–32, bes. S. 31. 15 Vgl. bes. Walton, Kendall L.: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge: Harvard University Press 1990, S. 11ff. und S. 54ff.

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Abb. 2: Szene aus dem Paterson Strike Pageant, New York, 1913 bisherigen Vorgänge in mehreren Bühnenakten selbst auf, einschließlich einer Wiederholung der Reden, in denen zum Streik aufgerufen worden war, und einer mitten durch die Zuschauermenge ziehenden Prozession, die an das kürzliche Begräbnis eines Todesopfers erinnerte. Das Publikum wurde sogar zum Mitsingen aufgefordert. Die zeitgenössischen Berichte zeigten sich begeistert über diese Vorgehensweise, indem sie die dadurch erreichte Lebensnähe jeweils besonders hervorhoben. In einem Zeitungsbericht hieß es damals, dass die Darsteller keine Rolle gespielt hätten, sie hätten vielmehr ihren tatsächlichen Kampf noch einmal durchlebt. 16 In einer anderen Beschreibung wurde sogar mitgeteilt, dass überhaupt keine Proben stattgefunden hätten. Diese Behauptung, obschon falsch, gibt einen guten Eindruck von dem Erfolg der Inszenierung: Sie wirkte offenbar so wirklichkeitsnah, wie es eingeübte Theateraufführungen vermeintlich gar nicht können, weil Inszenierung und Authentizität sich nicht vertragen. Die Darsteller hätten, so heißt es denn auch erläuternd in derselben Quelle, ihr

16 Vgl. N.N.: The World’s Greatest Labor Play [1913], Nachdruck bei Brooks McNamara: »Paterson Strike Pageant«, in: The Drama Review 15 (1971), Nr. 3, S. 60–71, hier S. 67. Eine ausführliche Darstellung gibt Golin, Steve: The Fragile Bridge. Paterson Silk Strike, 1913, Philadelphia: Temple University Press 1988, S. 157ff.

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eigenes Leben auf der Bühne vorgeführt.17 Gewissermaßen gibt diese letztere Versicherung zugleich die Bedingung für die erstrebte und die Bestätigung für die erreichte Authentizität des erzielten Eindrucks. Sie verbindet darin ästhetische und ethische Kategorien. Spätere Reenactments rekrutieren Zeugen der jeweils darzustellenden Ereignisse zweifellos aus demselben Grund. Sie wollen der Verzerrung des Gewesenen, wie sie durch bloße Nachahmung entstehen muss, entgegenwirken, indem sie darauf vertrauen, dass die Zeitzeugen, weil sie gar nicht ›spielen‹ müssen, keinen falschen Schein erzeugen werden. Sie wollen darüber hinaus aber auch einen Eindruck von Realpräsenz der Geschichte erzeugen; die Darsteller verbürgen in ihrer leibhaftigen Gegenwart die Wirklichkeit dieser Geschichte und ihre Verbindung mit der Gegenwart. Das gilt etwa für die Wiederaufführung der Erstürmung des Petersburger Winterpalasts im Jahr 1920, arrangiert von dem Regisseur Nikolaj Evreinov am Ort des Geschehens und unter Verwendung von angeblich 8000 Darstellern, darunter vielen Veteranen, die über Zeitungsanzeigen angeworben worden waren.18 (Abb. 3) Auf ein etwas anders gelagertes Beispiel aus dem belgischen Dokumentarfilm Misère au Borinage, entstanden 1934, kommen wir später zurück. Hier reicht es festzuhalten, dass mit der Einbindung von Zeitzeugen dem Schauspiel eine besondere Aura verliehen wird oder werden soll. In New York und Petersburg kam der Wunsch hinzu, dem revolutionären Kollektiv ein identitätstiftendes Erlebnis zu bieten. Dellers Battle of Orgreave will etwas Ähnliches ermöglichen. Mit Rücksicht darauf betont Deller den kommunikativen Aspekt seiner Aufführung, bezeichnet sie als »Gemeinschaftstheater« und schlägt das Reenactment der Erstürmung des Petersburger Winterpalasts als Bezugspunkt für sein eigenes Projekt vor, vermutlich mit Rücksicht auf die damals bezweckte leibhaftige und emotionale Massenbeteiligung. Er spricht aber

17 Vgl. Sanger, Margaret: »The Paterson Strike« [1914], in: dies.: The Woman Rebel, 1900–1928 (= Selected Papers, Band 1), Urbana: University of Illinois Press 2002, S. 54–62, hier S. 58. 18 Vgl. Corney, Frederick C.: Telling October. Memory and the Making of the Bolshevik Revolution, Ithaca/London: Cornell University Press 2004, S. 76. Evreinov wollte ein kollektives ›Erinnerungstheater‹ schaffen. In Wirklichkeit trug die Inszenierung aber ganz den Stempel seiner eigenen Kunstauffassungen.

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auch davon, dass ihn die Paradoxie einer Wiederholung von etwas, das eigentlich ein Chaos gewesen sei, angezogen habe, und betont so sein mimetisches Interesse. Andernorts nennt er sein Werk auch »Historienmalerei aus anderer Sicht«.19 Damit ist immerhin ein Fingerzeig darauf gegeben, dass man die Esthétique relationelle nicht als alleinigen Fluchtpunkt einer Auslegung des Ereignisses wählen sollte. Nicolas Bourriaud als Stichwortgeber dieser Kunstrichtung verficht die Auflösung des Kunsterlebnisses in sozialer Handlung.20 Deller dagegen beruft sich auf die ehrwürdigste (und eine eigentlich als hoffnungslos veraltet geltende) Bezugsgröße der vormodernen Gattungsästhetik. Er hat Kunstgeschichte am Courtauld Institute in London studiert und seine Worte zweifellos mit Bedacht gewählt. Umso schwerer wiegt, dass die beiden Standpunkte nicht leicht miteinander zu vermitteln sind. Präsenzerfahrungen in echter Gemeinschaft, wie sie Bourriauds Ästhetik als erstrebenswert betrachtet,

19 Deller in Beech, Dave: »The Uses of Authority. Jeremy Deller Interviewed«, in: Untitled Nr. 25 (2001), S. 10–12, hier S. 11 (»community theatre«). Mit der Petersburger Aufführung unterhält Dellers Battle of Orgreave nur eine allgemeine Verwandtschaft. Seiner Selbstverpflichtung auf historische Richtigkeit steht die 1920 von Evreinov vorgenommene Übersetzung der Ereignisse in symbolisch überhöhte, enger an regelrechtes Theater angelehnte Spielszenen entgegen. Auch die Darbietungsformen unterscheiden sich deutlich, indem Deller sich durchweg an den Maßgaben des Realismus orientiert, während Evreinov eine Zuordnung von drei Akten zu drei verschiedenen Stilen vornahm. Siehe Geldern, James von: Bolshevik Festivals, 1917–1920, Berkeley: University of California Press 1993, S. 199ff., und (für die stilistische Konzeption) N.N.: »To Storm the Winter Palace« [Interview mit Nikolaj Evreinov, 1920], in: Vladimir Tolstoy et al. (Hg.): Street Art of the Revolution. Festivals and Celebrations in Russia 1918–33, New York: Vendome Press 1990, S. 137–138, hier S. 137. Weitere Angaben zu Evreinovs Stilvermischung machen Fülöp-Miller, René: »Historischer Teil«, in: ders. und Gregor, Joseph: Das russische Theater. Sein Wesen und seine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Revolutionsperiode, Leipzig: Amalthea 1928, S. 57–123, S. 104f., sowie Deák, František: »Russian Mass Spectacles«, in: The Drama Review 19 (1975), Nr. 2, S. 7–22, hier S. 20. 20 Vgl. Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationnelle, Dijon: Presses du Réel 1998, S. 9f.

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Abb. 3: Die Erstürmung des Winterpalasts, Reenactment von 1920, Sankt Petersburg sind nur in Absehung von ästhetischer Repräsentation zu haben. Zumindest können sich keinem Teilnehmer (und erst recht nicht einem Zuschauer) beide Effekte zugleich mitteilen. Es wird sich denn auch kaum beweisen lassen, dass sich im Zuge der Aufführung von Dellers Battle of Orgreave die ästhetische Grenze aufgelöst habe und ästhetische Erfahrung in die Erfahrung von ›wirklicher‹ Begegnung übergegangen sei. Dafür bleibt die theatralische Inszenierung zu deutlich als solche erkennbar. Einzig am Informationsstand mag etwas anderes möglich gewesen sein. Aber während der eigentlichen Aufführung blieben Zuschauer und Darsteller räumlich und nach der Art ihrer Teilhabe voneinander getrennt. Absperrungen und Eintrittspreise dürften zusätzlich dazu beigetragen haben, dass (wie es überhaupt für Reenactments gilt) die Grenzen zwischen der Aufführung und hergebrachten Theatervorstellungen weniger klar zu bestimmen sind als die zur Zuschauerwirklichkeit. Einige Anwesende glaubten sogar, dass alles ohnehin nur der Vorbereitung eines Films gedient habe.21 Dieselbe Ansicht hat sich auch in der Tagespresse niedergeschlagen, nicht ohne den für die Berichterstattung über solche Aktivitäten typischen Vergleich 21 Vgl. Connolly, Maeve: The Place of Artists’ Cinema. Space, Site and Screen, Bristol: Intellect 2009, S. 137f. Soutar, Ian: »Orgreave’s Theatre of War«, in: Sheffield Telegraph vom 22.6.2001, S. 10, gibt 12.50 £ als Eintrittspreis an und erwähnt, dass Zuschauer aus Yorkshire freien Zugang hatten.

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Abb. 4: Harry Cooke, »Scargill gets his collar felt again… just for TV«, in: Daily Express vom 18.6.2001, S. 16 zwischen der geschichtlichen, also ›wirklichen‹ Wirklichkeit und der ›Kopie‹. (Abb. 4) Dahinter scheint die Annahme zu stecken: Wenn sich die Bilder gleichen, hat die Aufführung ihre Aufgabe schon erfüllt. Ironischerweise hat der Fotograf die Verhaftung Scargills eigens für seinen Zeitungsbericht stellen lassen; sie war gar nicht Bestandteil der Aufführung von 2001. Aber auch von einem allgemeineren Standpunkt ist festzuhalten, dass nicht alles, was wie Geschichte aussieht, auch wirklich Geschichte enthält. Dellers »Historienmalerei« will ein Bild von Geschichte erzeugen, das den gewesenen Moment nicht als Vergangenheit abtut. Er will ihn als bedeutsam für die Jetztzeit erkannt wissen, als das Gespenst, von dem die Jetztzeit heimgesucht wird, weil sie damit noch nicht fertig ist. Alice Correia hat den Realismus seiner Inszenierung mit einem Hinweis auf den ›Realitätseffekt‹, der im Mittelpunkt von Roland Barthes’ Ästhetik moderner Prosa steht, rechtfertigen wollen.22 Aber damit wird viel weniger erreicht als mit dem Umstand, dass die Akteure der Geschichte noch einmal selbst auftraten und dabei sich selbst vertraten. Noch dazu scheint mit der akkuraten Nachbildung der äußeren Wirklichkeit von 1984 ein Verlust an Aussagefähigkeit einherzugehen. Diesen Einwand trägt jedenfalls Dave Beech in mehreren Texten an die 22 Vgl. Correia, Alice: »Interpreting Jeremy Deller’s ›The Battle of Orgreave‹«, in: Visual Culture in Britain 7 (2006), Nr. 2, S. 93–112, hier S. 103, unter Bezugnahme auf Barthes, Roland: »Der Wirklichkeitseffekt« [1968], in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 164–172.

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Battle of Orgreave heran. Er beklagt, dass Deller einer konservativen Sicht auf die Geschichte das Feld überlassen habe, indem er sich von den Reenactment-Vereinen gestalterisch das Heft aus der Hand nehmen ließ. Erstens ist der Detailrealismus, zu dem sich die Veranstalter verstiegen, in Beechs Augen geeignet, die politische Bedeutung der Auseinandersetzung zum Verschwinden zu bringen. Zweitens gehorche der erzählerische Schwerpunkt auf taktischen Entscheidungen der Staatsgewalt einer fehlgeleiteten Politik der Repräsentation. Deller pflichtet ihm darin sogar grundsätzlich bei, indem er, noch dazu in einem Gespräch mit Beech selbst, von seiner eigenen Gleichgültigkeit gegenüber Giles’ Versessenheit auf historische Richtigkeit der Ausstattung spricht, um andererseits das erfahrungsorientierte, auf einen subjektiven Nachvollzug der Geschichte ausgerichtete Verfahren der Living History als grundlegend für sein Werk in Anspruch zu nehmen.23 In ihrer Abneigung gegen die Faktenhuberei scheinen sich also Künstler und Kunstkritiker einig zu sein. Aber das ist nur

23 Vgl. Beech, Dave: »Jeremy Deller. Orgreave«, in: Art Monthly Nr. 248 (2001), S. 37–39, hier S. 39, und ders.: »›The Reign of the Workers and Peasants Will Never End‹. Politics and Politicisation, Art and the Politics of Political Art«, in: Third Text 16 (2002), S. 387–398, hier S. 396, sowie Deller in Beech: »The Uses of Authority«, S. 12. Von »Living History« spricht Deller in Slyce: »Jeremy Deller«, S. 76. Der Begriff dient oft zur Bezeichnung einer subjektiven Auskundschaftung der Vergangenheit, zuweilen in Unterscheidung dieser Form der Geschichtsvergegenwärtigung vom eigentlichen Reenactment. In The Living History Newsletter vom Frühjahr 1994 schreibt der Herausgeber auf S. 1, für ihn sei Living History der Höhepunkt des Reenactments. Erläuternd heißt es dort weiter: »Wesentlich für ›Living History‹ ist der Effekt der Realzeit. Sie neigt zu Darstellungen des Alltags in kleinem Maßstab, während das Reenactment einen Zug ins Große hat und die Realzeit raffen muss, um epische Geschichten zu erzählen.« Im Sinne dieser Unterscheidung wäre das Reenactment auf die Historienmalerei zurückzuführen, die Living History hingegen auf die Genremalerei. Dergestalt entspricht der Unterschied auch ungefähr dem deutschen Wortgebrauch von ›erlebter Geschichte‹, der aber nicht in allen Fällen deckungsgleich mit den Verwendungsweisen des englischen Begriffs ist. Vgl. für die Idee der Realzeit im Reenactment auch Goodacre, Beth/Baldwin, Gavin: Living the Past. Reconstruction, Recreation, Re-enactment and Education at Museums and Historical Sites, London: Middlesex University Press 2002, S. 11.

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die halbe Wahrheit. Offensichtlich ging es Deller mehr um die Nachvollziehbarkeit des Ablaufs als um das ›echt‹ wirkende Ausstattungsdetail, in dessen Pflege durch die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts Francis Haskell eine bedeutungsvolle »Beschwörung der Vergangenheit« sah.24 Aber auch Deller scheint an einer möglichst treuen Wiederholung des Ereignisses von 1984 gelegen gewesen zu sein, übrigens im Unterschied zu Evreinov, der mit symbolischer Überhöhung gearbeitet hatte. Ein Zeitungsbericht spricht, vielleicht mit Rücksicht auf Fußballspiel, Eisverzehr und dergleichen, von Dellers Suche nach einer »Authentizität«, die auch die örtliche Bevölkerung beeindrucken könne.25 Hier kann offen bleiben, wie groß Dellers Anteil an den gestalterischen Einzelheiten war. Wir wissen auch nicht, was Giles den Zuschauern zur Einstimmung erzählt hat; vermutlich hat er sich unpolitisch gegeben. Aber hat die Betonung der Äußerlichkeiten des Ablaufs wirklich verhindert, dass kritische Sichtweisen gefördert wurden? Immerhin war schon die Ausbildung von Polizisten zu einer regelrechten Sturmtruppe unter Thatcher, politisch betrachtet, keine Kleinigkeit. Deller sagt im Gespräch mit Beech selbst, dass ihm an einem Lehrstück über die staatliche Kontrolle von Menschenmengen gelegen war. Außerdem zieht Beech nicht mit in Betracht, dass dem Reenactment ein Informationsstand mit den Ergebnissen von Dellers historiografischer Arbeit zur Seite gestellt wurde. Wir müssen ihn uns wohl ungefähr so vorstellen wie Dellers später wiederholt unter dem Titel An Injury to One is an Injury to All ausgestelltes Archiv. (Abb. 5) Deller wollte Geschichte im Entstehen beobachten, indem er dem Ereignis seinen Lauf ließ. Deshalb kann sich der Eindruck ergeben, er habe die politische Auslegung versäumt. Aber die Einladung zur Beschäftigung mit dem Gewesenen ist in diesem Fall schon eine politische Geste. Ohne den Informationsstand – und ohne den Film und das Buch – hätte das Reenactment vielleicht noch den Eindruck eines bloßen Spektakels machen können. So aber wurde der Möglichkeit, die Veranstaltung als Siegerdenkmal für Polizei und Thatcherismus zu deuten, gründlich entgegengewirkt.

24 Haskell, Francis: Die Aufarbeitung der Vergangenheit in der Malerei des 19. Jahrhunderts [1971], in: ders.: Wandel der Kunst in Stil und Geschmack. Ausgewählte Schriften, Köln: DuMont 1990, S. 139–163, hier S. 139. 25 Vgl. Braid, Mary: »Miners Side With the Enemy as Battle of Orgreave Becomes Art«, in: The Independent vom 18.6.2001, S. 5.

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Abb. 5: Jeremy Deller, An Injury to One Is an Injury to All, Installationsansicht, 2004 Katie Kitamura hat sich in einem Aufsatz über die Battle of Orgreave mit dem Verhältnis von Living History und Faktentreue ausführlicher beschäftigt. Wie Beech behandelt sie die Sorge um äußere Stimmigkeit als Feindbild. Sie bezieht die Idee der Living History, eine paradoxe Idee aus ihrer Sicht, auf die im Reenactment einander gegenüberstehenden Lager, als träfen in der Idee selbst einander verfeindete Begriffe aufeinander. Die Bergleute repräsentieren demnach das Leben (das ja ihr eigenes ist), die Mitglieder der Reenactment-Vereine hingegen die ›tote‹ Geschichte. Es ist nicht leicht, diese Unterscheidung durchzuhalten. Denn die gemeinsame Vorbereitung auf die theatralische Aufführung machte auch Zeitzeugen zu Darstellern von Geschichte. Das hält Kitamura nicht von der weiteren Ausbuchstabierung zweier unterscheidbarer Geschichtsverhältnisse ab: hier persönliche, dort kollektive Erinnerung; hier traumatische Wiederholung, dort evokative Inszenierung; hier ein Ereignis, dort dessen Abwesenheit.26 Der Unterschied läuft bei Kitamura auf den zwischen einem richtigen und einem falschen Geschichtsbild hinaus. Auf dieser Grundlage nimmt sie bei den verschiedenen Teilnehmergruppen einen unterschiedlichen Authentizitätsgrad im Verhältnis zur Geschichte oder eine unterschiedliche Befähi-

26 Vgl. Kitamura, Katie: »›Recreating Chaos‹. Jeremy Deller’s ›The Battle of Orgreave‹«, in: Iain McCalman/Paul A. Pickering (Hg.): Historical ReEnactment. From Realism to the Affective Turn, Basingstoke: Palgrave MacMillan 2010, S. 39–49, hier S. 42 (»repetition« und »iteration«).

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gung dazu an. Natürlich gründet sich diese Befähigung, wo vorhanden, auf die lebendige Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte. Mit Rücksicht darauf schreibt Kitamura den Streikenden eine persönliche Erinnerung zu, eine kollektive hingegen den Teilnehmern, deren Bild von den Ereignissen vorwiegend durch Medienberichte geformt wurde. In der Tat hat der gesamte mediengestützte Diskurs über Orgreave an der Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses Anteil. Natürlich waren die Bergarbeiter von diesem Diskurs nicht ausgenommen. Auch ihre Erinnerungen wurden kollektiv überformt. Die Unterscheidung ist also im gegebenen Fall obsolet. Sie ist ohnehin nicht sehr hilfreich, denn auch das persönliche Gedächtnis, welcher Partei man es auch zuschreiben will, hat Anteil an der Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses und umgekehrt. Festzuhalten bleibt, dass Kitamura den Gruppen unterschiedliche Zugänge zur Erfahrung zuschreibt. Die Arbeiter können nach diesem Muster den authentischen Zugang zur Geschichte für sich beanspruchen. Kitamura ist nicht allein mit dieser Ansicht, aber sie spricht sie besonders deutlich aus, wo sie die »Totalität des wirklichen Ereignisses« dem vorhersehbaren Ereignis, gleichbedeutend mit dem »strukturierenden Mechanismus des NichtEreignisses«, entgegenhält. Leider sind die Schwächen ihrer induktiven Vorgehensweise offensichtlich. Bei ihr scheint es ausgemacht, dass das Reale vorhanden ist; es muss nur noch an passender Stelle verortet werden, also bei den Arbeitern als den Leidtragenden der Ereignisse von Orgreave und – bei ihrem Trauma. Aber welche Wirklichkeit sollen wir damit verbinden? Es ist fraglich, ob man bei einer traumatischen Wiederholung, wie Kitamura sie für die Zeitzeugen in Anspruch nimmt, überhaupt von einem Verhältnis zur Geschichte sprechen darf. Denn traumatische Wiederholung im psychoanalytischen Sinn schließt eigentlich eine Verarbeitung des ursprünglichen Ereignisses aus.27 Wenn also die Arbeiter 2001 wirklich eine repetitive Begegnung mit ihrem Trauma durchlebten, so hatten sie am allerwenigsten von dem Ereignis. Immerhin macht sich

27 Die Wiederholung als ein von ›Erinnerung‹ unterscheidbares Produkt des traumatischen Verhältnisses zu vergangenen Ereignissen behandelt Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips, Wien: Psychoanalytischer Verlag 1920, bes. S. 17. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: »Trauma«, in: dies.: Das Vokabular der Psychoanalyse, Band 2 [1967], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 513–518, geben einen Überblick über die Entwicklung von Freuds Konzept.

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Kitamura darüber keine Illusionen. Es ist sogar folgerichtig, dass sie das Erlebnis der Arbeiter als ›fruchtlos‹ und ungeeignet für die Erzeugung zusammenhängender Erzählungen ansieht. Nun haben Erzählungen, was den Zusammenhalt angeht, heute ohnehin viel von ihrem Kredit verspielt. Dass aber die Zeitzeugen weniger Zugang dazu haben sollen als irgendwelche anderen Teilnehmer oder Zuschauer, ist schwer zu glauben. Vielleicht lohnt sich der Hinweis darauf, dass schon der Streik von 1984 einmal als eine große inszenierte Wiederholung historischer Muster beschrieben worden ist.28 Wo bleibt in diesem Fall das Reale, das sich dem Zugriff der Traumatisierten entzieht? Da liegt es doch näher zu sagen, dass die Gelegenheit zur Sinnstiftung gerade den Zeitzeugen gegeben wurde, wenn auch weniger im Verlauf des Kampfgetümmels als während seiner mediengestützten Vor- und Nachbereitung. Kann das Ereignis also doch eine Art Heilung von der Last der Geschichte gebracht haben? Womöglich lässt sich das für einige beteiligte Individuen behaupten, nicht aber für ihre gemeinsame Niederlage im Klassenkampf und für den heruntergekommenen Wirtschaftsstandort Nordengland. Deller hat, wie schon erwähnt, eine solche Heilung auch gar nicht bezweckt. Er spricht gelegentlich vom ›Trauma‹ der Bevölkerung, hält sich damit aber nicht lange auf. Vielleicht will sich auch Kitamura nicht allzu eng an die Psychoanalyse anlehnen. Aber vielleicht ist dann die Leistung des Paradigmas auch nicht mehr groß. Verweise auf Traumata sind mittlerweile zu einem Passepartout in der Kulturanalyse geworden, und oft kommt dabei nicht mehr als ein Analogieschluss zwischen Kunstwerk und Psyche heraus. Nicht von ungefähr vertrat Peter Osborne kürzlich die Ansicht, dass die Zeit einer emanzipatorischen Anwendung des Trauma-Konzepts vorbei sei. Er hat kein Vertrauen mehr in die Möglichkeit, dass Erinnerung, indem sie als ›wirklich‹ oder ›gelebt‹ in die Kunst eingeht, den Riss zwischen Geschichte und Erfahrung heilen könne. 29

28 Vgl. Roms, Heike: »The Battle of Orgreave«, in: Planet. The Welsh Internationalist Nr. 148 (2001), S. 124–126, hier S. 125f., sowie Kitamura: »›Recreating Chaos‹«, S. 43. Siehe auch Bishop: »The Social Turn«, S. 182, wo es heißt, Dellers Battle of Orgreave reiße Wunden wieder auf. 29 Vgl. Osborne, Peter: »›The Truth will be Known when the Last Witness is Dead‹. History not Memory«, in: Charles Merewether/John Potts (Hg.): After

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Ungeachtet der weiteren Implikationen von Osbornes Geschichtsbegriff scheint ihm unser Beispiel recht zu geben. Die Battle of Orgreave gibt, wenn man so will, eine mimetische Nachahmung traumatischer Wiederholung. Aber damit bewegen wir uns ganz im Bereich ästhetischer Repräsentation. Für den Gegensatz zwischen Ereignislosigkeit und Ereignis ist damit nichts zu gewinnen. Dasselbe gilt für Kitamuras strenge Unterscheidung zwischen einer Herrschaft der bloßen Repräsentation, die Form erzeugt, aber das Leben verfehlt, und einem lebendigen Geschichtsverhältnis, das jedoch, weil traumatisch, das (psychoanalytisch verstandene) Reale verfehlen muss. Mit wünschenswerter Deutlichkeit unterscheidet sie in diesem Sinne auch zwischen Kontrolle und Spontaneität, Letztere als offenes Einfallstor für die Wirklichkeit des ursprünglichen Ereignisses in seiner disruptiven und traumatischen Natur. Kitamura versteht also Dellers Programm anders als Deller selbst: Er hätte nicht dem Chaos Form verliehen, sondern umgekehrt Chaos aus der Form bezogen. Beechs Kritik an der Geschichtsauffassung der Reenactment-Vereine findet darin ein Gegenstück, wenn auch abzüglich Beechs Kritik am Anteil jener Vereine an der Verwirklichung des Reenactments. Auch Correia vertritt eine vergleichbare Ansicht, indem sie die Verkehrung der bestehenden Ordnung als Kern der Veranstaltung betrachtet und eine karnevaleske Struktur darin erkennt.30 Viel Spielraum gab es für die anarchische Selbstbehauptung der Teilnehmer aber in Wahrheit nicht. Correias Deutung hat eine verdächtige Nähe zu allerlei heiklen Versuchen der Kulturtheorie, das Wilde und das Wahre gleichzusetzen. Wir sollten besser nicht versuchen, den beteiligten Gruppen einen grundsätzlich unterschiedlichen Zugang zur authentischen Erfahrung zuzuschreiben. Authentizität ergibt sich, soweit davon die Rede sein kann, in anderer Hinsicht. Sie ergibt sich daraus, dass Dellers Schauspiel die Möglichkeit eröffnet, das Jetzt und das Gewesene zugleich zu erleben, indem sich die Subjekte, die das Ereignis herbeiführen, in beiden Zeiten zugleich bewegen. Die Ähnlichkeit zweier Momente spielt keine Rolle mehr, weil sie im Ereignis verschränkt und zugleich präsent

the Event. New Perspectives on Art History, Manchester: Manchester University Press 2010, S. 202–217, hier S. 204. 30 Vgl. Correia: »Interpreting Jeremy Deller’s ›The Battle of Orgreave‹«, bes. S. 105f., angeregt von Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 55 und passim.

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sind. Diese Präsenzerfahrung ist sowohl den Zeitzeugen und den anderen Darstellern wie dem Publikum zugänglich, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive. Wir bezeichnen diese eigentümliche Erfahrung vielleicht am besten als die von Geschichte selbst. Eine Vorherrschaft der Präsenzerfahrung über die bloße Repräsentation wurde schon den Darstellern des Paterson-Streiks unterstellt. Ein weiteres Beispiel drängt sich in diesem Zusammenhang auf. 1933 drehten Joris Ivens und Henri Storck einen Dokumentarfilm über die Folgen eines kürzlich beendeten Streiks in einer unter drastischer Verelendung leidenden südbelgischen Bergbauregion. Dieser Film Misère au Borinage ist aus verschiedenen Gründen berühmt geworden. Arbeiter erzählten den Regisseuren, dass kurz vor ihrer Ankunft ein Protestmarsch anlässlich des fünfzigsten Todestags von Karl Marx stattgefunden habe, und bedauerten, dass die beiden das von der Polizei gewaltsam aufgelöste Ereignis nicht aufzeichnen konnten. Daraufhin überredeten Ivens und Storck die Arbeiter zu einem Reenactment. Sie trugen also noch einmal ein Bildnis von Marx durch die Dörfer, und weil Ivens fürchtete, seine Ausrüstung könnte beschlagnahmt werden, filmte er den Marsch mit versteckter Kamera. Diese von ihm selbst gegebene Begründung ist nicht unwichtig, denn sie belegt, dass Ivens eigentlich weniger die heimliche Beobachtung von Wirklichkeit im Sinn hatte als eine Spielszene für seinen Film: nicht ein Ereignis, sondern Bilder zur Weiterverwendung. Aber es ergab sich etwas Unvorhergesehenes. Die Polizei scheint gar nicht aufgetaucht zu sein, jedenfalls schritt sie nicht ein. Aber auch die örtliche Bevölkerung übersah die Kamera und damit den theatralischen Charakter des Demonstrationszugs. (Abb. 6) Die Leute glaubten, eine tatsächliche Demonstration vor sich zu haben, sammelten sich am Straßenrand und grüßten ihre Genossen mit erhobener Faust. Viele von ihnen reihten sich ein. Ivens war begeistert. Zum einen steigerten die Gesten der Zuschauer die Lebensnähe der Szene. Aber damit war mehr erreicht als nur der Realismus, den er in der Inszenierung eigentlich allein angestrebt hatte. Aus der bloßen Wiederholung war ein authentisches Ereignis eigenen Rechts geworden. Ivens sollte später davon sprechen, dass die Szene »wirklich« geworden sei und dass er sich schämte, eigentlich nur der Dokumentation von zeitgeschichtlichen Fakten wegen gekommen zu sein. Die Fakten, sagt er, wurden von wirklichen Gefühlen überlagert, die Trennung zwischen Geschichte

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Abb. 6: Misère au Borinage, Einzelkader aus Joris Ivens’ und Henri Storcks Film von 1934 und Ereignis aufgehoben, das Leben habe sich der Szenen bemächtigt. 31 Am Ende hält sein Film also keine Fiktion fest, sondern eine eigentümliche 31 Vgl. Ivens, Joris: Die Kamera und ich. Autobiographie eines Filmers [1969], Reinbek: Rowohlt 1974, S. 69ff. (zum Teil verfasste Jay Leyda das Buch). Egon Erwin Kisch: »Borinage, vierfach klassisches Land« [1934], in: ders., Geschichten aus sieben Ghettos. Eintritt verboten. Nachlese (= Gesammelte Werke, Band 6), Berlin und Weimar: Aufbau 1973, S. 234–249, S. 248, gibt einen kurzen Hinweis auf die ›wirkliche‹ Demonstration, nicht aber auf die entsprechende Filmszene. Eine ausführlichere Schilderung von deren Hergang, jedoch ohne die oben wiedergegebene Schlussfolgerung, gibt Ivens, Joris: »Repeated and Organized Scenes in Documentary Film« [Vortrag von 1953], in: Kees Bakker (Hg.): Joris Ivens and the Documentary Context, Amsterdam: Amsterdam University Press 1999, S. 261–272, hier S. 263. Der Stummfilm hatte am 6.3.1934 in Brüssel Premiere. Auf die oben besprochene Szene verweisen u.a. Hogenkamp, Bert: »Misère au Borinage. Henri Stork and Joris Ivens, Belgium, 1934«, in: Ernest Mathijs (Hg.): The Cinema of the Low Countries, London: Wallflower 2004, S. 37–46, hier S. 40, sowie Delsaut, Yves: »Lumière d’ambiance sur les années 1930. Un après-midi avec Henri Storck«, in: Actes de la recherche en sciences sociales Nr. 161/162 (2006), S. 10–31, hier S. 21f. Ebd. wird auf S. 15 Gaston Vernaillens Mithilfe erwähnt. Derselbe Vernaillen hatte 1933 in Moskau mit dem Théâtre Prolétarien die Ereignisse im Borinage auf die

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Mischung aus Repräsentation und Präsenz. In der Fachliteratur wird denn auch hervorgehoben, dass der Wert von Ivens’ Maßnahme in einer Überwindung der Grenze zwischen Ereignis und Nachschöpfung, zwischen Dokument und Darstellung gelegen habe.32 Man könnte auch sagen: zwischen Authentizität und Wiederholung. Die Ähnlichkeit dieser strukturellen Besonderheit mit der von Dellers Battle of Orgreave ist bemerkenswert, wenn auch die funktionalen Unterschiede nicht bedeutungslos sind. Hier wie dort ist von der Erzeugung authentischer Erfahrung als einem über die Wiederholung von Vergangenheit hinausgehenden Mehrwert die Rede. Zwar hat Ivens vor allem sein Filmpublikum vor Augen, denen authentische Bilder zu liefern sein Ziel ist, Deller hingegen die Teilnehmer des Ereignisses, deren Authentizitätserfahrung trotz der allen bewussten Tatsache, dass sie ›nur‹ an einem Schauspiel teilnehmen, entsteht. Aber auch Zuschauer machen uns glauben, dass in ihren Augen mehr als bloß eine Aufführung in Orgreave stattfand. In dieser Hinsicht führt das Werk also doch zu einer Grenzverwischung. Kaum eine Besprechung verzichtet auf eine Erwähnung der verschütteten Erinnerungen, die bei Darstellern und Zuschauern wiederbelebt worden seien. Sie verwandeln das Spektakel in Erfahrung. Sie transzendieren die Repräsentation. Sie machen aus der Wiederholung ein authentisches Ereignis. Dass bei der Inszenierung der Wille zur treuen Nachahmung vorherrschte, hat diesen Effekt noch begünstigt. Die Frage danach, ob sich die Aufführung mit den eigenen Vorstellungen von der geschichtlichen Tatsache deckt, war in Orgreave konstitutiv für die Affekte, die sie auslöste; umgekehrt hatten diese Affekte aber einen politischen Mehrwert vor dem Hintergrund, dass sie sich auf einen als Gemeingut verstandenen Fluchtpunkt in der Geschichte beziehen.

Bühne gebracht. Diese Inszenierung kam allerdings, indem sie den Mitteln des Proletkult folgte, ganz ohne die Authentizitätsansprüche der eigentlichen Reenactment-Kultur aus. Vgl. Gotovitch, José: »Au service de la Révolution. Le choeur parlé communiste«, in: Rue des Usines Nr. 34/35 (1997), S. 26–39, S. 30ff. 32 Vgl. Nichols, Bill: Introduction to Documentary, Bloomington: Indiana University Press 2001, S. 151.

Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance Marina Abramoviüs The Artist is Present M ECHTILD W IDRICH

In der Retrospektive Marina Abramoviüs, die im Frühsommer 2010 im Museum of Modern Art New York zu sehen war, schien die Spannung zwischen authentischer Präsenz und musealer Mediatisierung von Performance zum Programm erhoben.1 Die aus Belgrad stammende und seit kurzem in New York ansässige Doyenne der Performance-Kunst hatte sowohl als Titel der Retrospektive als auch einer eigens für diesen Anlass neu konzipierten Performance The Artist is Present gewählt. Während der gesamten Öffnungszeit des Museums, sieben Stunden täglich, saß Abramoviü in einem durch Klebebänder weiträumig abgegrenzten Bereich des Atriums im ersten Stock auf einem einfachen Sessel; ihr gegenüber befand sich eine identische Sitzgelegenheit, dazwischen stand während der ersten Wochen zusätzlich ein Tisch. (Abb. 1) Das Publikum war eingeladen, Platz zu nehmen; die Künstlerin schenkte ihrem jeweiligen Gegenüber ihre Präsenz, wie es Kurator Klaus Biesenbach in seinem Einführungstext im Ausstellungskatalog ausdrückte. 2 Der retrospektive Teil im 1

Vom Museum wurde ein ausführlicher Ausstellungskatalog herausgegeben: Biesenbach, Klaus (Hg.): Marina Abramoviü. The Artist is Present, New York: The Museum of Modern Art 2010. Die Ausstellung lief vom 14.3. –31.5.2010.

2

In Bezug auf die Thesen des serbischen Klassizisten Veselin Caikanoviü schreibt Biesenbach: »Similarly, in The Artist is Present, one approaches the

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Abb. 1: Marina Abramoviü, The Artist is Present, Ansicht der Performance im Museum of Modern Art New York, 2010 sechsten Stock des Museums stellte die mehrere Jahrzehnte umspannende Laufbahn Abramoviüs in einer Vielzahl von Medien dar: Neben klassischen Varianten der Performancedokumentation wie Fotos und Videos fanden sich LCD-Monitore, die digitale Diaprojektionen abspielten, Relikte der Aktionen, Installationen und von der Künstlerin unterwiesene SchauspielerInnen und TänzerInnen, die fünf Werke aus früheren Jahren wieder aufführten. Ich werde anhand dieser Ausstellung eine der zentralen Problemstellungen der Performancetheorie kritisch beleuchten: Wo können wir die Präsenz einer Performance lokalisieren? Meine Ansätze zur Bestimmung von Präsenz können gewissermaßen als Wahrnehmungstheorie von Performance gelesen werden. Es geht dabei aber nicht ausschließlich um privat-subjektive Wahrnehmung, sondern um die Frage, ob (und wie) sich Präsenz als öffentliche Wahrnehmung konstituiert und inwiefern sich diese im Spannungsfeld der Wiederholung – durch Wiederaufführung, Mediatisierung (allen voran Dokumentation) und Einschreibung in den Kunstdiskurs – behaupten kann. Ich werde dabei die These aufstellen, dass sich erfahrene Präsenz aus zeitlich geschichteten Momenten ergibt. Der Kommunikation kommt bei der Produktion dieser Wahrnehmung als öffentliches Ereignis eine essenzielle Rolle zu. In diesem Sinne reicht der Aufbau artist’s plain table hoping for some exchange to take place, some gift. The first step is to sit.« Ebd., S. 15.

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von Präsenz auch in die Vergangenheit und Zukunft, aber ohne als reine Projektion ihren Anspruch auf jeglichen Realitätsbezug zu verlieren. Insofern stelle ich mich gegen die ›postmoderne‹ Ansicht, dass Authentizität oder Präsenz per se nicht existieren, obwohl ich die Diskussion über die symbolische Konstruktion des Realen als wichtigen Regulator der naiven Annahme erachte, ›reale Präsenz‹ verbinde sich zweifelsfrei mit ›authentischer Performance‹. Zugegebenermaßen begebe ich mich hier auf eine Gratwanderung zwischen den Befürwortern einer quasi spirituellen Authentizitätserfahrung und deren Gegnern, die von einer Konstruktion von Realität ausgehen, die mit den uns umgebenden Dingen in keiner Weise in Verbindung steht. Ich möchte die angeblich so konträren Ansätze anhand der Rezeption von ephemeren Kunstformen hinterfragen und mit der Behauptung beginnen, dass der Live-Charakter des Ereignisses mit zunehmendem zeitlichen Abstand und steigender Mediatisierung erstaunlicherweise nicht von der Bühne unserer Imagination abtritt, sondern, im Gegenteil, immer stärker in unseren Köpfen als zentrales Moment von Performance gefestigt wird. Ziel dieses Aufsatzes ist eine verallgemeinerbare Theorie der Authentizität in der Kunst der Performance.

L IVE ART UND L IVESTREAM The Artist is Present kann innerhalb Abramoviüs Œuvre als Weiterführung, Variante oder Re-Inszenierung der zwischen 1981 und 1987 mit ihrem damaligen Partner Ulay (Uwe Laysiepen) mehrmals aufgeführten Arbeit Nightsea Crossing angesehen werden. In Nightsea Crossing saßen die beiden einander an einem Tisch gegenüber. Für mehrere Stunden, manchmal auch Tage, verharrten sie regungslos und schweigend; durch das konzentrierte Sitzen sollten mentale Prozesse aus dem Unbewussten hervorgeholt werden.3 Ulays Rolle wurde im MoMA von jeweils einer

3

Die gut dokumentierten Schwierigkeiten, die sich in dieser Arbeit aus der (und für die) Partnerschaft ergaben, etwa, wenn ein Partner die Performance vorzeitig beenden wollte, geben einen interessanten Einblick in das Konzept kooperativer Autorenschaft. Biesenbach etwa (ebd., S. 14–15) zitiert aus McEvilley, Thomas: »States of Energy. Performance Art Ground Zero«, in: Marina Abramoviü:

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Besucherin oder einem Besucher übernommen; die Tableau-vivant-artige Struktur wurde alleine durch die physische Bewegung des Kommens und Gehens aufgebrochen. Der Ablauf blieb allerdings so streng geregelt, wie der räumliche Rahmen abgesteckt war. (Abb. 2) Das Publikum war angehalten, sich auf einer Seite außerhalb der Bodenmarkierung anzustellen. War man einmal eingelassen, gab es keine Vorgaben bezüglich der Verweildauer. Manche BesucherInnen blieben mehrere Stunden lang, was die Wartezeiten für weitere AnwärterInnen unberechenbar machte. Die Performance wurde nicht nur für die Zuschauer vor Ort in Szene gesetzt, indem man zum Beispiel von den oberen Stockwerken auf das Ereignis herunterschauen konnte, sondern auch zeitgleich via Livestream ins Internet übertragen. Zusätzlich nahm der Fotograf Marco Anelli, der bereits 2007 mit Abramoviü gearbeitet hatte, die Gesichter der BesucherInnen mit seiner Kamera auf. Grelles Scheinwerferlicht schuf ideale Voraussetzungen für die Aufnahmen. Um Probleme bei ihrer Verwertung auszuschließen, forderte man die TeilnehmerInnen an der Eingangsschleuse auf, vor Betreten des abgegrenzten Bereiches eine Freigabe der Rechte zur Veröffentlichung des Bild- und Videomaterials zu unterschreiben.4 Anellis Porträtaufnahmen sind auch heute noch auf der offiziellen Website des MoMA zugänglich, wurden aber vom MoMA auch auf die wohl bekannteste Foto-Website, flickr.com, gespielt und fanden in kürzester Zeit weltweit Verbreitung. (Abb. 3) Anelli selbst bereitet derzeit einen 1500-seitigen Fotoband mit dem Titel Portraits in the Presence of Marina Abramoviü: 716 Hours, 3,000 Eyes vor.5 Eigene Fotos durften die Ausstellungsbesucher nicht machen; allerdings war dies durch den großen Publikumsandrang schwer kontrollierbar, wie ich selbst feststellen konnte

Marina Abramoviü: artist body performances 1969–1998, Mailand: Carta, 1998, S. 17. 4

Ich entnehme diversen im Internet kursierenden Aufnahmen aus den letzten Wochen der Ausstellung, dass ab einem gewissen Zeitpunkt das Eintreten in den abgegrenzten Bereich der Performance die Rechtefreigabe automatisch aktivierte. Ein Schild wies die BesucherInnen schlicht darauf hin, dass sie durch das Eintreten der Veröffentlichung des Bildmaterials zustimmen.

5

Laut Bericht in Art Daily soll das Buch im Fotoverlag Aperture erscheinen. Siehe

http://www.artdaily.com/index.asp?int_sec=2&int_new=43764

11.7.2011.

vom

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Abb. 2: Marina Abramoviü, The Artist is Present, Ansicht der Performance im Museum of Modern Art New York, 2010 und wie sich auch in dem im Internet kursierenden Bildmaterial manifestiert. Trotz des streng vorgegebenen Handlungsablaufes und der extremen Bühnensituation (Scheinwerfer, Kameras, Zuschauer) schien die Begegnung mit Abramoviü viele der Besucher persönlich sehr zu berühren. Eine junge Bloggerin, Katie Notopoulos, trug weinende Gesichter auf einer eigenen Website zusammen, betitelte ihr Projekt Marina Abramoviü Made Me Cry und wurde durch ein Interview im Wall Street Journal berühmt.6 Was machen wir mit diesen Bildern und Videos, Blogs und Kommentaren, die zu eigenen Subprojekten der Performance wurden? Überlagern sie die ›authentische‹ Performance? Einerseits sprechen sie ein neues Publikum an, welches den Zugang zur Performance vor allem über die Fotografien herstellt. Dies ist nichts Neues in der Geschichte der Live Art,

6

Laut Interview forderte eine Mitarbeiterin von Abramoviü sie zwar auf, den Fotografen und die Institution korrekt zu nennen, segnete aber insgesamt das Projekt wohlwollend ab: »Yes! Marina’s assistant had actually emailed me to request that I credit the photographer on the site, so when I went I got to meet the photographer. Luckily, he doesn’t hate my guts.« Siehe Rutkoff, Aaron: »The Artist who makes People Cry«, in: The Wall Street Journal vom 29.4.2010, Online-Ausgabe, http://blogs.wsj.com/metropolis/2010/04/29/theartist-who-makes-people-cry/ vom 3.5.2011.

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Abb. 3: Porträtfotografien von Marco Anelli auf der Fotowebsite flickr.com in der oft genug die hauptsächlich von Freunden und gut informierten Kunstinteressierten besuchten Aktionen ausschließlich über die Dokumentation ein größeres Publikum erreichen. In den theoretischen Diskurs wurde diese historische Tatsache erst in den letzten fünfzehn Jahren zunehmend eingebracht und führte zu polarisierenden Debatten zwischen Befürwortern des Events und denjenigen der Dokumentation.7 Für unser Fallbeispiel stellen sich folgende Fragen: Stabilisieren die Fotografien die Porträtierten als Ko-PerformerInnen? Sind die Fotografien Performancedokumentation oder gar Reperformances einer vorgegebenen Notation? Die Performancetheoretikerin Amelia Jones hat in einem kürzlich erschienenen Aufsatz die Ausstellung von Abramoviü zum Anlass genommen, das

7

Zum Problem des Zuganges über die Dokumentation siehe z.B. Jones, Amelia: »›Presence in Absentia.‹ Experiencing Performance as Documentation«, in: Art Journal

56

(1997),

Nr. 4, S.

13–18,

und

die

Anthologie

Jones,

Amelia/Heathfield, Adrian: Perform, Repeat, Record, Bristol: Intellect Verlag 2012.

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Konzept der Präsenz in der Kunst der Performance radikal in Frage zu stellen. »Looking at Abramoviü’s re-enactments in Seven Easy Pieces and her selfpresentation in The Artist is Present, I find that what her recent projects expose, in spite of claims in the media to the contrary, is that there cannot be a definitively ›truthful‹ or ›authentic‹ form of the live event even at the moment of its enactment – not even (if this could be imagined) as lodged within the body that originally performed or experienced it.«8

Selbst das Live-Event, so Jones, garantiere keinen ›authentischen‹ Moment. Ich möchte jedoch der Authentizität zumindest nicht so umstandslos ihre Daseinsberechtigung absprechen.9 Paradoxerweise argumentiert Jones mit ihrer eigenen Erfahrung vor Ort, um ihre Theorie zu untermauern: »Though I felt aware that the person I have met and whom I respect as an artist and cultural force was sitting there before me, I primarily felt myself the object of myriad individual and photographic gazes (including hers), and the experience overall was very strongly one of participating in a spectacle – not an emotionally or energetically charged interpersonal relation, but a simulation of relational exchange with others (not just the artist, but the other spectators, the guards, the ›managers‹ of the event).«10

8

Jones, Amelia: »›The Artist is Present.‹ Artistic Re-enactments and the Impossibility of Presence«, in: TDR (The Drama Review) 55 (2011), Nr. 1, S. 16–45, hier S. 19.

9

Die weit zurück reichende Diskussion in den Kulturwissenschaften umfasst Derrida, Jacques: »Signatur, Ereignis, Kontext« [1971], in: ders.: Limited Inc, übersetzt von Werner Rappl, Wien: Passagen 2001, S. 15–45. Einen heterogenen, aber spannenden Einblick in die Debatte bieten die Aufsätze in Krämer, Sybille (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink Verlag 2004. Siehe auch Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, der auch viele klassische Texte der Sprachtheorie (Austin, Searle, Butler, Derrida) in seinem Buch versammelt.

10 Jones: »›The Artist is Present.‹«, S. 18. Amelia Jones erzählte mir, sie hätte die Unterschrift für die Rechtefreigabe verweigert, aber dennoch teilnehmen dürfen

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Ist ihr Versuch, Authentizität mit der Erinnerung an eine nicht eingelöste Präsenzerfahrung (die Wortwahl »Simulation« und »Spektakel« spricht Bände) zu kritisieren, nicht ein Widerspruch?11 Ich denke, wir müssen Mediatisierung und Ereignis als Zusammenspiel sehen und nicht als Gegensatz. Zwei bisher wenig beachtete Aspekte mögen dies verdeutlichen: Erstens scheinen sich Anellis Fotografien mühelos an das zu heften, was wir als ›Originalperformance‹ fassen wollen, obwohl streng genommen ein anderer Autor als die Künstlerin verantwortlich zeichnet. Dies ist zwar in der klassischen Performancedokumentation typischerweise auch der Fall, aber in The Artist is Present wurde Anellis Anwesenheit und Autorenschaft ja keineswegs verschleiert. Zweitens lag im Gegensatz zur Tradition der Performancedokumentation das Hauptaugenmerk dieser Fotografien auf den ›GastperformerInnen‹, aus einem Blickwinkel, der dem der Künstlerin nahe kam, also auf der Performance aus der Sicht der Künstlerin (Abramoviüs Gesicht war selten zu sehen). Mit anderen Worten, die Porträts, die Abramoviüs Werk am stärksten mit ›Präsenz‹ ausrüsten, deuten nur indirekt auf sie als Performerin.

I MAGINIERTE P RÄSENZ

UND I NFORMATIVES

P UBLIKUM

Der Schlüssel zum Verständnis der scheinbar schwierigen Abgrenzbarkeit der Arbeit liegt meiner Meinung nach in einer Untersuchung der unterschiedlichen Ebenen der Rezeption, die sich durch das Vorhandensein der Fotografien ergeben. Einerseits ist dies ein immer größer werdendes ›nachträgliches‹ Publikum, das dem Ereignis selbst nicht beigewohnt hat und, wie bei allen Formen ephemerer Kunst, über Bilder, die das Erlebnis vor und mit der Künstlerin festhalten, Presseberichte, Gerüchte und später

– tatsächlich ist sie in den Bildern abwesend. Gespräch mit der Autorin auf der 16. Performance Studies International Conference in Toronto, 10.6.2010. 11 Jones spricht an anderer Stelle davon, Seven Easy Pieces (Guggenheim Museum, 2005) nicht gesehen zu haben und daher auf einer eher diskursiven Ebene zu argumentieren. Ebd., S. 27.

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über kunstgeschichtliche Literatur in den Erlebnisprozess einsteigt. 12 In unserem Fall stellt sich die Frage nach der Chronologie aber bereits im Ereignis selbst. Ein Teil des Publikums wird ja bei The Artist is Present zu Protagonisten, weshalb wir je nach Blickwinkel von einer einzigen Performance sprechen können (jener von Abramoviü) oder vielen (jeweils eine im Fall jeder Person, die in die Arena tritt). Oder sollten wir davon ausgehen, dass die Inszenierung jeden Tag wieder aufgenommen wurde, noch dazu in einem Rückgriff auf die ursprüngliche Performance mit Ulay? Wie wir sehen, ergeben sich selbst hier divergente Lesarten. Aber auch die These des nachträglichen Publikums hält in unserem Fall nicht so einfach. Durch die Länge der Performance und die schnelle mediale Vermittlung beginnt sich die Nachträglichkeit mit Gleichzeitigkeit zu überlagern, wodurch es zu einer Vermischung der sich sonst chronologisch entwickelnden Rezeptionsebenen kommt. Dies können wir als Hinweis darauf deuten, dass wir diese Unterscheidung nie absolut treffen können. Abramoviü betonte in einem halböffentlichen Workshop im Juni 2010 im MoMA die Bildung einer Gemeinschaft zwischen den BesucherInnen. Eine Gruppe hätte sich zum Austausch ihrer Erfahrungen der Performance mehrmals getroffen. Die Künstlerin entwarf das Szenario einer funktionierenden Esthétique relationnelle – eine am Ende der 1990er Jahre vom französischen Kurator und Theoretiker Nicolas Bourriaud ausgerufene Kunstpraxis von Sozialität und egalitärer Interaktion zwischen Künstler und Publikum – und schrieb sich damit in die aktuellen künstlerischen Trends ein.13 Der Workshop selbst war eine gut inszenierte Vorstellung. Abramoviü saß mit einigen ausgewählten ExpertInnen wie der Kunsthistorikerin Caroline Jones, der Kuratorin Nancy Spector, der Künstlerin

12 Ich habe den Begriff »belated audience« (nachträgliches Publikum) anhand von Abramoviüs Werk Seven Easy Pieces, 2005 im Guggenheim Museum ausführlich erläutert. Widrich, Mechtild: »Can Photographs Make it So? Several Outbreaks of Valie Export’s Genital Panic«, in: Hilde Van Gelder/Helen Weestgeest (Hg.): Photography between Poetry and Politics, Leuven: University Press Leuven 2008, S. 53–67. Eine überarbeitete Fassung dieses Artikels ist 2012 in Jones/Heathfield (Hg.): Perform, Repeat, Record, erschienen. 13 Bourriaud, Nicolas: Esthétique relationnelle, Paris: Les Presses du Réel 1998. Das Buch ist 2002 auf Englisch unter dem Titel Relational Aesthetics ebenfalls bei Les Presses du Réel erschienen.

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Coco Fusco und MoMA-Kurator Klaus Biesenbach an einem dunklen Konferenztisch, und die persönlich eingeladenen TeilnehmerInnen lauschten aus der ›zweiten Reihe‹ (vor dem Tisch waren Stühle in Reihen aufgestellt) ihren Worten. Zur gleichen Zeit wurde eine Auswahl von Anellis Porträtfotos am Kopfende des Tisches auf eine Leinwand projiziert. Dadurch ergab sich eine fast unheimliche Verschränkung von Analyse und Reperformance, die uns den ›Erfolg‹ der Performance von den Gesichtern ablesbar machen sollte.14 Uns TeilnehmerInnen des Workshops wurden zeitgleich mit der verbalen Kommunikation die bildlichen Beweise dieser Sozialität (ihre ›Präsenz‹) vorgespielt. Es ist die sorgfältige Steuerung der Rezeptionsebenen mittels kommunikativer Praxis, die hier wichtig ist. Diese verweist immer wieder auf Präsenz. Die Porträtierten sind nicht nur Teil der Performance; ihnen kommt auch für die Rezeption der Arbeit ein enormer Stellenwert zu. Sie beeinflussen das ›Erleben‹ der Performance vor, nach oder anstelle eines Museumsbesuches, indem sie Informationen über die ›authentische‹ Begegnung an ein Publikum, das nicht vor Ort ist, aber an irgendeinem Tag vor Ort sein könnte, weitergeben. Die Bloggerin erzählte in ihrem Interview, dass sie Anellis Fotografien der weinenden TeilnehmerInnen zusammengetragen hatte, bevor sie die Ausstellung besuchte.15 Sie exemplifiziert hier die Möglichkeit einer Teilnahme mittels mediatisierter Bilder – und diese ist nicht weniger befriedigend als diejenige vor Ort –, aber nicht einfach deswegen, weil mediatisierte und unmittelbare Erfahrung gleichzusetzen sind, sondern weil die Teilnahme als Möglichkeit vorhanden ist. Das Betrachten des Blogs ermöglicht es uns, eine Präsenz vorzustellen, weil wir sie als tatsächlich vorhanden annehmen. Diese ›imaginierte Präsenz‹, oder besser gesagt: ›imaginierte reale Präsenz‹, die Anellis Porträts bestätigen, bildet das gesamte Nachleben der Performance, von aktuellen Presseberichten über Aufsätze wie diesem bis zu den wildesten Gerüchten. Sie unterminiert Abramoviüs damalige ›Präsenz‹ nicht, vielmehr ist sie von dieser Präsenz und ihren Dokumenten abhängig. Wie imaginierte Präsenz genau funktioniert, möchte ich nun klären.

14 Die Idee, diese Projektionen während der gesamten Dauer des Workshops laufen zu lassen, ging auf Kurator Klaus Biesenbach zurück, wie sich auf meine Frage herausstellte, aber Abramoviü hatte offensichtlich zugestimmt. 15 Rutkoff: »The Artist who makes People Cry«.

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Um eine Brücke von Live-Event zu Rezeption zu bilden, erhebt die Performance das dokumentierte Live-Publikum selbst zu TeilnehmerInnen. Die Porträtierten werden zu PerformerInnen – dies ist ja Teil der Konzeption –, aber auch zum ›informativen Publikum‹. Ich habe diesen Begriff erstmals für meine Untersuchungen von Dokumentationen ›klassischer‹ Performance aus der Zeit um 1970 verwendet. Aufgefallen war mir, dass die Reaktionen des Publikums (Schock, Ekel, Voyeurismus, Distanz oder Einmischung) eine wichtige Grundlage für die Kanonisierung einer Version der Performance darstellen und in vielen Fällen durch Interviews und Gerüchte zusätzlich gestützt werden: Bild und Sprache bzw. Text legitimieren sich damit gegenseitig.16 Zu einem gewissen Teil verdanke ich mein Interesse an diesen Publikumsreaktionen dem amerikanischen Performancetheoretiker Philip Auslander, der im Jahr 2006 mit dem pointierten Satz, das Bild sei die eigentliche Performance, die Performativität in das Bild verlagerte und damit das Ende des Authentizitätsanspruches für die Live-Performance ausrief.17 Weder das ursprüngliche Setting, noch das Publikum vor Ort, noch die Frage, ob eine Performance überhaupt stattgefunden habe, sei, so Auslander, von Relevanz. Auslanders Ansatz war symptomatisch für eine Generation von Theoretikern, deren Zugang zur frühen Aktionskunst und Body Art auf Fotografien und Videos basiert. Seine von Jacques Derridas Austin-Kritik geprägte Theorie des performativen Bildes kam aber auch zu einer Zeit, in der Reperformances sich mit sogenannten Fotoperformances gleichberechtigt in die neuere

16 Siehe Widrich, Mechtild: »Time, Photography, and the Public of Performance: A Case Study of Viennese Actionism, 1965–1970«, Vortrag im Rahmen der 16. Performance Studies International Conference in Toronto, 11.6.2010. Der überarbeitete Vortrag erscheint im Februar 2013 unter dem Titel »The Informative Public of Performance« in: TDR (The Drama Review), Nr. 217. 17 Auslander, Philip: »The Performativity of Performance Documentation«, in: PAJ: A Journal of Performance and Art 28 (2006), Nr. 3, S. 1–10. Siehe auch Auslander, Philip: Presence and Resistance: Postmodernism and Cultural Politics in Contemporary American Performance, Ann Arbor: University of Michigan Press 1992; Auslander, Philip: Liveness: Performance in a Mediatized Culture, London/New York: Routledge 1999. Auslander hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten mit dem Verhältnis von Performance und Mediatisierung ausführlich auseinandergesetzt.

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Performancegeschichte einzuschreiben begannen. Eigentlich geht es hier um die Frage nach Präsenz und Geschichtlichkeit: Findet Präsenz tatsächlich im mehr oder weniger interaktiven Austausch mit dem Publikum statt? Wo aber befindet sich dieses Publikum? Ich greife hier Auslanders These auf, dass Fotografien performativ sein können, und vertrete die Annahme, dass wir Performance immer nachträglich in unseren Köpfen erzeugen, dass es uns aber nicht genügt, uns auf Bilder alleine zu verlassen. Im Gegenteil, das Live-Event bleibt essenziell, aber, und hier unterscheide ich mich von den Proponenten der ›authentischen Präsenz‹, auch dieses wird in unseren Köpfen imaginiert, ob wir nun tatsächlich vor Ort waren oder die Performance aus einer Reihe von Fragmenten zusammensetzen (dazu zähle ich das meist gut ausgewählte Fotomaterial, Künstler- und Zeugenaussagen und die darauf folgende kunsthistorische Kanonisierung). Wir brauchen die Idee des realen Ereignisses. Sonst funktioniert Performance nicht, sei es auch eine Fotoperformance oder Reperformance oder eine Bildmanipulation wie im berühmten Sprung von Yves Klein, Le Saut dans le Vide (1960), den Auslander zur Unterstützung seiner Mutmaßungen heranzieht. Das Bild ist montiert, wie wir mittlerweile alle wissen, aber in der Freude über diese Entdeckung vergessen wir, dass Klein tatsächlich sprang, wenn auch auf der Straße seine Kollegen aus dem Judoklub ein Sprungtuch bereithielten, das durch Montage aus der fertigen Arbeit verschwunden ist. Schon das manipulierte Foto erzählt eine vermeintlich heroische avantgardistische Aktion, ohne deren Vorstellung (ob durch Sprungtuch modifiziert oder nicht) wir hier nicht von Performance sprechen könnten. Auslander hat in einem Vortrag an der Wiener Akademie der Bildenden Künste vom November 2010 seinen Standpunkt gemildert und unter Hinweis auf Hans-Georg Gadamers Hermeneutik eingeräumt, dass wir Präsenz als Anhaltspunkt nicht völlig aus den Augen verlieren sollten.18 Jedes Bild

18 Auslander scheint sich an die Idee anzulehnen, dass wir historische Kunstwerke immer aus der Perspektive der Gegenwart deuten, d.h. wir Kunst in einem Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Zukunft verstehen, ohne dass etwa ein ›authentisches‹ Verstehen zur Zeit der Entstehung als ›wahrhaftiger‹ angenommen werden kann. Entscheidender Faktor ist demnach unsere Erfahrung von Kunst. Nicht ganz klar wurde, inwieweit Gadamers Behauptung, das Kunstwerk selbst würde Wahrheitsansprüche stellen, im Verhältnis zu den

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besitze seine eigene Wahrheit. Nichtsdestotrotz blieb er aber der Dichotomie zwischen Präsenz und Dokument verhaftet, als ob sich Performance zwischen diesen beiden Konzepten entscheiden müsse. Das Problem, das sich für seine These stellt, ergibt sich aus dem Verhältnis der individuellen Wahrnehmung zur ›Wirklichkeit‹. Auslander wurde in Wien für seine Subjektivierung der Zuschauerposition gerügt, die er dann ohne Erklärung verallgemeinerte. In meiner Theorie der fragmentierten Schichtungen, aus denen wir das Ereignis rekonstruieren, ergäbe sich ebenfalls das Problem, dass der Aufbau für jeden unterschiedlich ist (je nachdem, was ich gesehen, gehört oder gelesen habe) und sich die ›authentische‹ Performance dazwischen aufzulösen droht. Ich denke aber, dass ich aus diesem Dilemma leichter herauskomme als Auslander. Seine Thesen beruhen, dies betont er immer wieder, auf der strikten Negierung einer indexikalen Verbindung von Performancedokument und Ereignis. Deshalb hat er keine Möglichkeit, seine Theorien an das Live-Event anzubinden. Genau das möchte ich versuchen. Auf diese Weise möchte ich den Begriff der Präsenz entmystifizieren und eine Definition prägen, die das Live-Event weder negiert noch zum einzigen Merkmal der Performance macht.

W AHRNEHMUNG , W IRKLICHKEIT K OMMUNIKATION

UND

Wie können wir private und öffentliche Wahrnehmung miteinander vermittelt denken? Dafür bedarf es einer Distanz zu den zeitgenössischen Theorien der Subjektivität, die den jeweils einen der zwei Pole schlicht aus dem jeweils anderen ableiten. Der Philosoph Bertrand Russell hat sich mit diesen Fragen 1926 in einem Vortrag mit dem Titel Perception auseinandergesetzt.19 Was ist der Unterschied, fragt Russell, zwischen den

ZuschauerInnen von Performance stünde. Vortrag im Rahmen des Symposiums This Sentence is Now Being Performed an der Akademie der bildenden Künste Wien, 19.11.2010. Eine Publikation ist in Vorbereitung. 19 Russell, Bertrand: »Perception«, in: Journal of Philosophical Studies 1 (1926), S. 78–86, hier S. 81. Der Text erschien unter dem Obertitel »Abstracts of Some Lectures«. Russell hat die gleichen Themen 1926 als Tarner Lectures in Cambridge und 1927 in einer Vortragsserie über Mind and Matter im Institute of

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Aussagen »Dort ist ein Tisch« und »Ich sehe einen Tisch«? Erstere beschreibt ein Ereignis in der Welt, für die der Sprecher von der Möglichkeit der Verallgemeinerung ausgeht: Wir alle können diesen Tisch sehen. Letztere berichtet nur über meine private Wahrnehmung und den Effekt dieser Wahrnehmung auf meine Subjektivität. Ich sehe den Tisch. Ohne um Medientheorien bekümmert zu sein, stellt sich Russell die Frage der Verbindung von Wahrnehmung, Wirklichkeit und Wissen. Von idealer Selbstpräsenz kann nicht die Rede sein. Schon der Beginn des Satzes, »ich«, beinhaltet bereits alle meine erinnerten Erfahrungen von Welt und setzt damit vieles voraus, so Russell. Insofern nehmen wir Wirklichkeit niemals allein über die Sinnesdaten wahr. Weil wir unsere Erfahrungen mit den Eindrücken, die sich uns präsentieren, verbinden, ist Wahrnehmung immer auch ein auf die Vergangenheit bezogener Prozess. Für mich ist Russells Ansatz interessant, weil er weder rein phänomenologisch verfährt noch vereinfachend auf dem Prinzip der Realität der Dinge beharrt. Wir alle sehen den Tisch jeweils anders, aber er ist dennoch vorhanden. Den Gegensatz zwischen Geist und Materie beschreibt Russell mit der Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Wahrnehmung – die sich in seiner Beschreibung jedoch nicht gegenseitig ausschließen.20 Eine Theaterauf-

Philosophy, London, ausführlicher dargestellt. Zunächst erschien Russells Buch Analysis of Matter, London: Kegan Paul, Trencher, Trübner & Co. 1927, in dem Russells Skeptizismus über Materie und sein Argument, dass die Physik nur die »Struktur« und nicht die »Stoffe« der Welt beleuchtet, von Physikern vehement abgelehnt wurde. Für eine Ausnahme siehe Eddington, A.S.: »Review of Analysis of Matter«, in: Journal of Philosophical Studies 3 (1928), Nr. 9, S. 93– 95. 20 »I think this distinction of privacy and publicity is the real distinction underlying the distinction of mind and matter. What many people can perceive is physical; what only one person can perceive but localizes in a public place is in his own body; what only one person can perceive but fails, immediately or on reflection, to localize in a public place, is mental.« Russell: »Perception«, S. 84. Für Russell stellen Öffentlichkeit und Privatspäre ein Kontinuum dar. Die Vorläufer dieser Position sind Russells eigene Theorie der Wahrnehmung durch räumliche »Monaden«, in Russell, Bertrand: Our Knowledge of the External World, Chicago/London: Open Court, 1914, S. 87–97, und der »neutrale Monismus« in

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führung ist ebenfalls Gegenstand von Russells Gedanken: Inwieweit können wir behaupten, eine Theateraufführung sei öffentlich, wenn doch jeder eine andere Wahrnehmung von ihr hat? Die Lösung des Problems kann auch uns weiterhelfen: In genügend Punkten wird die Wahrnehmung übereinstimmen, so Russell, und vor allem können wir uns in der Kommunikation darauf einigen, dass wir uns trotz aller unserer individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen auf dieses eine Stück beziehen. »In a theatre no two members of the audience see or hear exactly the same events, but the similarity is so close that the differences are measurable in terms of price: you see (we may say) twice as well in a 10s. [shillings, Anm.] seat as in a 5s. one. And the audience can say that they have all seen the same play, and heard the same words spoken on the stage. That justifies us in saying that an actor or an orator makes a ›public appearance‹.«21

Es geht also darum, dass wir die Realität dieses Stückes kommunikativ festigen. Russells Argument können wir mit meiner Auffassung verbinden, dass wir uns bei Performance immer auf ein ›event‹ zu beziehen vermögen, selbst wenn es weder klar fassbar noch abgrenzbar ist. Wir beziehen uns darauf als solches, und dieser Bezug rechtfertigt einerseits den Status als öffentliches Ereignis und andererseits das Ereignis als wirklich.22 Im Gegensatz zur Annahme, die Performance von Abramoviü im Atrium des MoMAs sei öffentlich und die Fotografien privat (weil wir sie alleine konsumieren), können wir mit Russell davon ausgehen, dass sich aus der Summe der Betrachtungen der Fotografien, dem Wahrnehmen von Pressemitteilungen, den Workshops, den in den Zeitungen breitgetretenen Nachforschungen über den Nachttopf, den Abramoviü angeblich für unauf-

James, William: »Does ›Consciousness‹ Exist?«, in: The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 1 (1904), Nr. 18, S. 477–491. 21 Russell: »Perception«, S. 83. 22 Russell sieht aus diesem Grund auch Erinnerung als teilweise öffentlich an, und er geht auch auf die Möglichkeit ein, Erfahrungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu machen. Dies wird an Hand des Tastsinnes ausgeführt: »Touch is public, where bodies that do not constantly change their shape are concerned, in the sense that a number of people can successively have very similar perceptions, but they cannot all touch the same spot at the same moment.« Ebd.

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schiebbare Bedürfnisse unter ihrer Kleidung verbarg (also der Kommunikation), wieder eine zu einem gewissen Teil öffentliche Performance ergibt, welche die Schichten, die ich beschrieben habe, aufnimmt. Diese Theorie hat die Stärke, dass sie nicht einfach das Ereignis vorrangig setzt, sondern es durch das Zusammenkommen verschiedener Erfahrungen – durch die Öffentlichkeit des Wahrgenommenen – spezifisch werden lässt. Es ist nicht wichtig, ob ich alle Fotografien oder Rezensionen kenne. In gewissem Sinne entspricht ganz im Gegenteil die so offensichtlich fragmentierte Gesamtperformance mit Referenzpunkten in unterschiedlichen Zeitebenen eher dem von Russell entworfenen Modell von Wahrnehmung als eine angeblich objektiv erfassbare ›authentische‹ Originalperformance. Im Falle von Abramoviü werden alle Bilder Teil der Performance, obwohl diese nicht Teil meines ›authentischen‹ Erlebens sind, wenn ich Abramoviü gegenübersitze. Ich würde sogar sagen, dass dieser Mechanismus ganz bewusst bereits durch ästhetische Mittel formuliert wird. Gleiches gilt für die Gemeinschaft, die Abramoviü behauptete und die sich in jedem Fall tatsächlich im Internet bildete, was an den lebhaften Kommentaren zu den Portraitfotografien online ablesbar ist (Selbstbeschreibungen inklusive). Die Kommunikation bestätigt das Ereignis in all seinen Widersprüchlichkeiten, mit all seinen Erfolgen und Enttäuschungen. Wichtig bleibt allerdings die Möglichkeit, sich in Teile des Ablaufes hineindenken zu können. Insofern spreche ich der ›authentischen Präsenz‹, der Erfahrung von Performance, ihre Wirkung nicht ab. Im Gegenteil gewinnen wir eine Erklärung, wie diese Präsenz sich zeitlich oder räumlich verbreiten kann, selbst wenn wir nicht ›vor Ort‹ sein können und sogar die Protagonisten nicht am gleichen Ort präsent sind, wie etwa bei Abramoviüs und Ulays letzter gemeinsamen Arbeit The Lovers, in der sie die Chinesische Mauer in entgegengesetzter Richtung umwanderten (begleitet von einem kleinen Team von Fotografen). Sogar die Spannung zwischen den beteiligten Protagonisten basiert in diesem Fall auf Mediatisierung. Diese parallelen, einander aber überlappenden Schichten der Erfahrung bauen durch ihre Kommunizierbarkeit den öffentlichen Charakter einer Performance auf. Damit können wir Präsenz im Bereich der Performance schlicht über Wahrnehmung definieren. Abramoviüs Präsenz im MoMA ist mit ihrer Wahrnehmung durch das Publikum gegeben. Die seit diesem Ereignis oder parallel dazu imaginierte Präsenz ist unsere Wahrnehmung der Dokumente und die dadurch angenommene (wie Russells Tisch) reale Wahrnehmung

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von Abramoviü durch ihr erstes Publikum (Ko-PerformerInnen wie anwesende BetrachterInnen im Museum). Dieses Publikum wiederum übt uns gegenüber Präsenz aus, als informatives Publikum, das sich uns in Dokumenten präsentiert. Somit erledigen sich die Widersprüche zwischen ›authentischer‹ und mediatisierter Präsenz, die sich als Instanzen von erlebter, erinnerter und imaginierter Wahrnehmung einordnen lassen. Das Problem des mystischen Selbstpräsenz-Modells von Performance liegt darin begründet, dass Wahrnehmung nicht selbst wahrzunehmen, sondern nur anzunehmen ist. Performance hat, kurz gesagt, ihre Substanz in der menschlichen Interaktion, die aber in Dokumenten weder aufhört noch beginnt, sondern sich in immer neue zeitliche Schichten – also in die Geschichte – einschreibt.

D ELEGIERTE P ERFORMANCE UND DES F RAGMENTS

DIE

R OLLE

Die hier angedeutete Theorie der Präsenz hat zur Folge, dass Live Acts schon subjektiv mediatisiert sind, indem wir ihnen Realität als Resultat öffentlicher Wahrnehmbarkeit zuschreiben. Welche Wechselwirkungen oder Interferenzen gibt es nun zwischen subjektiver and technologischer Mediatisierung?23 Erika Fischer-Lichte hat 2004 in ihrem Buch Ästhetik des Performativen ein »Versprechen von Präsenz« beschrieben, das Medien abgeben, aber nie einlösen können, einen »Präsenz-Effekt«.24 Im Fall von

23 Obwohl wir nie ganz sicher sein können, dass ein Ereignis öffentlich und nicht nur subjektiv ist, hat Russell ein Argument solcher Annahmen eingebracht, das auf menschliche Kommunikation verzichten kann: »Suppose you are watching a flock of birds feeding on a newly sown field; suddenly you hear a loud report which makes you jump, and you see all the birds fly away. If the birds were merely visual phenomena in your perceptual space, it would seem odd that they should be affected by the noise; but if they heard the noise too, you can understand their flying away.« Ebd., S. 85. Dieses Zitat suggeriert die Wahrnehmbarkeit von Kausalzusammenhängen. Wie David Hume und Immanuel Kant hat Russell in seinem Frühwerk solche Wahrnehmbarkeit bestritten. 24 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 174f.

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Abb. 4: Maria S.H.M. und Abigail Levine führen Marina Abramoviüs Performance Imponderabilia im Rahmen der Ausstellung The Artist is Present auf The Artist is Present ist dieser Effekt nicht nur direkt eingebaut, sondern konstitutiv für die Performance – inwieweit ist unser angenommenes öffentliches Kunstwerk daher eine Medienfiktion? Ich möchte dieser Frage anhand des retrospektiven Teils der Ausstellung als Abschluss meiner Überlegungen nachgehen. Nicht nur für das MoMA war die Delegation von fünf frühen Performances von Abramoviü an Schauspieler ein aufsehenerregendes Unterfangen. Das Museum strich den innovativen Charakter auf der Website folgendermaßen heraus: »In an endeavor to transmit the presence of the artist and make her historical performances accessible to a larger audience, the exhibition includes the first live re-performances of Abramoviü’s works by other people ever to be undertaken in a museum setting.«25 Die Reaktionen waren jedoch durchweg negativ.26 Die Künstlerin Coco Fusco kritisierte in dem bereits erwähnten

25 http://www.moma.org/visit/calendar/exhibitions/965/ vom 15.3.2011. 26 Zwei kritische Auseinandersetzungen mit der Ausstellung sind in der gleichen Ausgabe von Artforum erschienen: Harvard-Professorin Carrie Lambert-Beatty sprach in ihrer Besprechung Abramoviü das kritische Potenzial ab, da sie sich wie ein kapitalistischer Musikkonzern aggressiv ihr Copyright zu sichern

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Workshop vor allem den regulierten Zugang zu den Arbeiten: Die wohl prekärste Inszenierung, Imponderabilia, in der zwei nackte Menschen (ursprünglich Ulay und Abramoviü) zu beiden Seiten eines Türdurchganges standen, konnte nur von einer Seite aus durchschritten werden. (Abb. 4) Fusco merkte an, dass die institutionellen Schranken spürbarer waren als in einer Ausstellung alter Kunst.27 Bei aller Berechtigung von Fuscos Institutionskritik scheiterte das Projekt weder daran, dass durch die kuratorischen Eingriffe der Objektcharakter der Performance im Display des Museums deutlich wurde, noch am Spektakelcharakter. Dennoch: Die an die Schauspieler delegierten Stücke schienen seltsam falsch – nicht nur, weil sie etwas einstudiert wirkten und die Besetzung alle zwei Stunden, später sogar noch öfter, wechselte. In Anknüpfung an die Ideen von ›authentischer‹ Präsenz könnten wir behaupten, dass nur Abramoviü die ihr eigene ›Spannung‹ erzeugen könne. Dem widerspricht aber, dass die mediatisierten Teile durchaus stimmig wirkten. Welches Versprechen war es nun, das in diesen Reperformances nicht eingelöst wurde, nachdem das der Präsenz ja geradezu herausgestrichen worden war? Ich denke, dass die Performances vor allem für das kunsthistorisch informierte Publikum nicht funktionierten. Nicht aufgrund der mangelnden

trachte. Abramoviü dagegen sieht sich selbst als kapitalismuskritisch: Eine Idee hinter den Wiederaufführungen war zu zeigen, wie Reperformance ›richtig‹ gemacht werden sollte (dies spielte bereits 2005 bei den Seven Easy Pieces eine Rolle) und dass die Intentionen der Künstlerin gewürdigt würden – im Gegensatz zur ›Raubkopie‹ jüngerer KünstlerInnen oder auch der Werbeindustrie. Die Offenheit von Performance sei damit zunichte gemacht, meint Lambert-Beatty. Ich bin mir nun nicht so sicher, dass damit der mythische politische Aspekt von Performance zunichte gemacht wird – so es ihn je in dieser reinen Form gegeben hat. Lambert-Beatty, Carrie: »Against Performance Art«, in: Artforum 48 (2010), Nr. 9, S. 208–212. MIT-Professorin Caroline Jones versuchte aus der Sicht der Zuschauerperspektive herauszufiltern, dass kritische Haltung (im Sinne einer Brecht’schen Distanz) und Hineinkippen in das in dieser Arbeit so offensichtliche Moment der immersiven Theatralik sich nicht automatisch ausschließen müssen. Jones, Caroline: »Staged Presence«, in: Artforum 48 (2010), Nr. 9, S. 214–219. 27 Ich beziehe mich hier auf meine Mitschriften während des Workshops. Soweit ich weiß, wurde die Veranstaltung auch vom MoMA aufgezeichnet.

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Qualität der SchauspielerInnen, die, soweit ich sie kennenlernen durfte, engagiert und aufmerksam wirkten und sich gemeinsam mit Abramoviü intensiv auf die Ausstellung vorbereitet hatten. Der eigentliche Störfaktor lag meiner Meinung nach in der präsentierten Gesamtheit der Darstellung, die wir so nicht mehr akzeptieren können. Es geht zwar um Verdinglichung, aber nicht als Problem im Sinne einer kapitalistischen Vereinnahmung, sondern als Problem unserer Wahrnehmung. Wir haben über Jahre hinweg unsere Version dieser Arbeiten imaginiert: Keine Performance wird dieser Vorstellung gerecht werden können. Die Beschwörung des ›ganzen‹ Eindrucks wird uns nicht zufrieden stellen, weil es das ›Ganze‹ nie in dieser Form gegeben hat. Bereits im Moment der authentischen Performance beginnt der Prozess der Imagination, immer wieder gespeist durch neue Wahrnehmungen und Erinnerungen und durch das Erleben und die Reaktionen anderer ZuschauerInnen, also die Kommunikation. Abramoviüs Behauptung einer (fiktiven oder tatsächlichen) Gemeinschaft zwischen den TeilnehmerInnen ist ein Indiz dafür, dass die Künstlerin die Bedeutung des informativen Publikums für das Öffentlich-Werden privater Erfahrung verstanden hat. Eigentlich sind diese Fragmente eines vergangenen Ereignisses wie Denk-Male, die unsere Erinnerung anregen. Die wieder aufgeführte Gesamtperformance ist im Gegensatz dazu vergleichbar einem autoritären Monument, das sich unserem kognitiven Prozess – der schon eine Weile im Gange ist – in den Weg stellt. Das Problem ist nicht die Wiederholung, sondern der Anspruch auf Gesamtheit in der Reperformance. Er stört unsere eigenen Iterationen im Kopf.

Authentizität zweiter Ordnung Das Begehren nach Echtheit bei Barthes, McCarthy und Mitchell/Warner F LORIAN L EITNER

Wie wirkt sich die Tatsache, dass wir in einer von technischen Bildern geprägten Kultur leben, auf unser Begehren und unsere Phantasmen aus? Die folgenden Überlegungen versuchen, sich diesem Problemhorizont anzunähern, indem sie nach den Ursachen der Sehnsucht nach Authentizität fragen. Wenn diese Sehnsucht – wie die Programmatik des vorliegenden Bandes suggeriert – gegenwärtig neu erstarkt, inwiefern wird sie durch heute dominante Repräsentationsformen wie Fotografie und Film bedingt bzw. durch deren mediale Charakteristiken induziert? Ich werde versuchen, eine Spur nachzuzeichnen, der man folgen könnte, um sich dieser Frage anzunähern. Sie bewegt sich entlang dreier Wegmarken: Zunächst werde ich mich mit zwei Fallstudien befassen, die je ein Beispiel von Authentizitäts-Sehnsucht behandeln. Bei der ersten Fallstudie handelt es sich um Roland Barthes’ letzte Vorlesung am Collège de France, sie dokumentiert somit ein reales Beispiel. Die zweite, Tom McCarthys Roman Remainder, ist hingegen rein fiktional. Schließlich werde ich auf eine Arbeit aus dem Grenzbereich zwischen Theater und Medienkunst eingehen, eine Inszenierung von Katie Mitchell und Leo Warner an der Berliner Schaubühne. Sie soll weitere Befunde hinsichtlich der Möglichkeitsbedingungen von Authentizität im aktuellen medienkulturellen Kontext liefern.

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F ALLSTUDIE I: R OLAND B ARTHES , D IE V ORBEREITUNG DES R OMANS In den Jahren 1978/79 und 1979/80 hält Roland Barthes am Collège de France Vorlesungen unter dem Titel La Préparation du Roman. In gedruckter Form sind sie erstmals 2003 erschienen, in deutscher Übersetzung (unter dem Titel Die Vorbereitung des Romans) 2008.1 Sie dokumentieren und reflektieren einen Selbstversuch: Der Literaturtheoretiker Barthes hat sich entschlossen, die Seiten zu wechseln, zum Praktiker zu werden und einen Roman zu schreiben – wobei »Roman« hier weniger eine Gattungsbezeichnung ist, sondern ganz allgemein für ein literarisches Werk größeren Umfangs steht. Über dessen Inhalt verrät Barthes in den Vorlesungen allerdings nichts. Stattdessen denkt er über den Prozess des Schreibens nach, über »die (inneren) Bedingungen, unter denen ein Schriftsteller heute die Vorbereitung eines Romans in Angriff nehmen kann«.2 Hierzu macht Barthes sich – unter anderem ausgehend von den Biografien Flauberts, Kafkas und Prousts – beispielsweise Gedanken über die unterschiedlichen Methoden, die Schriftsteller anwenden, wenn sie im Alltag Notizen anfertigen, und darüber, welche Wohnungseinrichtung für das literarische Schreiben am besten geeignet ist. Im Grunde genommen ist die Vorlesung ein Dokument des Scheiterns. Barthes ist so sehr damit beschäftigt, die inneren und äußeren Hemmnisse zu katalogisieren, die ein Schreibender zu überwinden hat, dass er zum Schreiben selbst nicht kommt. Die Vorbereitung des Romans handelt vor allem von den Schwierigkeiten, einen Roman zu verfassen. Dass Barthes mit seinem Romanvorhaben über Stichworte nicht hinauskam, hängt allerdings auch mit seinem tragischen Unfall zusammen. Am 25. Februar 1980, zwei Tage nach der letzten Vorlesungssitzung, wird er in der Rue des Ecoles, vor dem Collège de France, von einem Lieferwagen überfahren. Er wird in die Salpêtrière eingeliefert und stirbt dort

1

Barthes, Roland: La Préparation du Roman, Paris: Seuil 2003. Ders.: Die Vorbereitung des Romans, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.

2

So formuliert er es Ende des ersten Vorlesungsjahrs im Resümee für das Jahrbuch des Collège de France. (Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 541– 543, hier S. 541.)

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einen Monat später. So bleibt das Romanprojekt, das wie die Vorlesung auf mehrere Jahre angelegt war, unvollendet – nachdem Barthes die Entscheidung, einen Roman zu schreiben, erst zwei Jahre zuvor, im Frühjahr 1978, getroffen hat.3 Der Entschluss hing damit zusammen, dass Barthes zu diesem Zeitpunkt der Gedanke zu quälen begann, sein gegenwärtiges und vergangenes Leben sei in permanenter Wiederholung erstarrt. In der Vorlesung spricht er in diesem Zusammenhang von dem Gefühl, »verdammt zur Wiederholung« zu sein,4 von dem »[…] Bewußtsein davon, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an das, was man getan und geschrieben hat […], als ein immer wieder durchgekauter, dem Wiederholungszwang verfallener, bis zum Überdruß wiedergekäuter Brei erscheint.«5 Einen ähnlichen Gedanken findet Barthes bei Maurice Blanchot, der die düstere Erkenntnis formuliert: »Es gibt im Leben eines Menschen […] den Moment, in dem alles vollbracht ist, die Bücher geschrieben, das Universum schweigend, die Lebewesen in Ruhe. […] Man schreibt nur noch das, was man geschrieben hat; schließlich schreibt man nicht mehr.«6 Barthes will dem Wiederholungszwang entkommen, um nicht zum Sisyphus zu werden, dessen Entfremdung seines Erachtens »nicht von der Vergeblichkeit seiner Arbeit, sondern von ihrer Eintönigkeit, ihrer Wiederholung« rührt.7 Er will sich aber auch nicht dem von Blanchot vorgezeichneten Schicksal fügen und einfach nichts mehr schreiben. Mit dem Romanprojekt unternimmt er stattdessen den Versuch, etwas zu tun bzw. zu schreiben, das er noch nie getan bzw. geschrieben hat. Das, worauf er dabei abzielt, nennt er mit einem von Dante und Michelet entlehnten Ausdruck »Vita Nova« (bzw. »Vita Nuova«).8 Authentizität wird von ihm als Konzept nicht explizit erwähnt, schwingt aber gedanklich mit und ist der Vita Nova in weiten Teilen äquivalent. Als Gegenentwurf zum an Sisyphus erinnernden Wiederholungszwang ist diese ein Authentizitätskonzept im Sinne der griechisch-lateinischen Wurzel des Begriffs: »Authentisch« be-

3

Ebd., S. 37f.

4

Ebd., S. 32.

5

Ebd., S. 31.

6

Blanchot, Maurice: L’Entretien infini, Paris: Gallimard 1969, S. XII. Zit. nach Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 35.

7

Ebd., S. 32 [Herv. i.O.].

8

Ebd., S. 33.

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zeichnet ursprünglich das, was ein Original, keine Kopie ist – noch heute wird der Begriff in Archäologie und Geschichtswissenschaft so verwendet. Barthes’ Romanvorhaben wird durch die Sehnsucht motiviert, endlich wieder Originales bzw. Originelles zu schreiben und nicht lediglich abgewandelte Kopien der eigenen früheren Schriften. Die Konstellation ›Authentizität vs. Wiederholung‹ kommt hier als binäre Opposition zum Tragen – wodurch sich Die Vorbereitung des Romans deutlich von meinem zweiten Fallbeispiel unterscheidet.

F ALLSTUDIE II: T OM M C C ARTHY , R EMAINDER In Barthes’ Vorlesung wird die Authentizitätsfrage eher implizit angesprochen. Der erstmals 2005 veröffentlichte Roman Remainder (deutsch: 8½ Millionen) – mit dem der englische Autor und Konzeptkünstler 9 Tom McCarthy einen Bestseller landete10 – beschäftigt sich ganz explizit mit Authentizität und Wiederholung und dem paradoxalen Verhältnis, in dem die beiden Konzepte zueinander stehen. Das gilt nicht nur hinsichtlich des Plots, auch auf formaler und metaphorischer Ebene enthält das Buch zahlreiche Loopings und Kreisbewegungen. Ich werde mich im Folgenden aber auf die Handlung beschränken, in deren Zentrum ein namenloser 30-jähri-

9

McCarthy ist »General Secretary« der International Necronautical Society (INS), einer dadaistischen Organisation, die mit ihren Kunstaktionen an die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts anschließt. Sie befasst sich auch mit dem Thema Authentizität. So verlas McCarthy im Namen der INS und zusammen mit deren »Chief Philosopher« Simon Critchley am 25.9.2007 im New Yorker Drawing Center eine »Declaration on Inauthenticity«. Vgl. Schwenger, Peter:

»The State of Inauthenticity«, http://canopycanopy

canopy.com/1/state_of_inauthenticity vom 23.11.2010. 10 Der Erfolg stellte sich allerdings nicht unmittelbar ein: Zunächst wurde Remainder in einer Auflage von lediglich 750 Stück veröffentlicht (McCarthy, Tom: Remainder, Paris: Metronome 2005). Dann aber schaffte es der Roman bis auf das Cover der New York Times Book Review. Die deutsche Übersetzung erschien in der Folge unter dem Titel: 8½ Millionen, übersetzt von Astrid Sommer, Berlin: diaphanes 2009. Im Folgenden wird zitiert nach McCarthy, Tom: Remainder, London: Alma 2007.

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ger Ich-Erzähler steht. Sie setzt ein, als er sich gerade von einem schweren Unfall erholt. Dessen Hergang bleibt im Dunkeln. Wir erfahren nur, dass »something falling from the sky« im Spiel war11 – vermutlich ein Bauteil, das sich von einem Flugzeug gelöst und ausgerechnet den Erzähler erwischt hat. Der titelgebende Begriff »Remainder« bezieht sich unter anderem auf ein Stück der Kniescheibe des Protagonisten, das bei dem Vorfall abgesplittert ist und nun in seinem Bein umherwandert. Das Knochenfragment steht stellvertretend für die Persönlichkeitsveränderung, die der Romanheld nach dem Unfall durchmacht. Sie tritt zunächst einmal in Zusammenhang mit der aufwändigen Physiotherapie auf, der er sich aufgrund seiner schweren Verletzungen unterzieht und in deren Verlauf er die meisten alltäglichen Bewegungsabläufe neu erlernen muss. Dieser Lernprozess ruft in ihm zunehmend das Gefühl hervor, alle seine Handlungen seien nur Kopien. Der Erzähler fühlt sich, wie er es selbst ausdrückt, unauthentisch. Allerdings habe er, berichtet er weiter, auch vorher schon ähnlich empfunden. Der Unfall habe ihm seine Inauthentizität lediglich bewusst gemacht: »I’d always been inauthentic. Even before the accident, if I’d been walking down the street just like DeNiro, smoking a cigarette like him, and even if it had lit first try, I’d still be thinking: Here I am, walking down the street, smoking a cigarette, like someone in a film. See? Second-hand. The people in films aren’t thinking that. They’re just doing their thing, real, not thinking anything.«12

Immer wieder finden sich in McCarthys Roman derartige Passagen, in denen der Erzähler sein mangelndes Authentizitätsempfinden beklagt. Und oft kontrastiert er dabei seine Lebenswelt mit dem Film. Die Figuren in dessen fiktionaler Realität erscheinen ihm authentisch im Sinne von unmittelbar (»not thinking anything«). Sich selbst empfindet er im Vergleich dazu als Abklatsch, als »second-hand«. Und er beansprucht, mit diesem Gefühl nicht alleine dazustehen. »I wasn’t unusual: I was more usual than most«, erklärt er am Ende des eben zitierten Abschnitts. So gestaltet McCarthy seine Hauptfigur als exemplarischen Vertreter einer

11 Ebd., S. 5. 12 Ebd., S. 24 [Herv. i.O.].

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postmodern übersättigten Medienkultur, in der die Differenz zwischen Realität und Fiktion hinfällig wird oder sich umkehrt – das Mediale als das Primäre und das Reale als das Sekundäre, die filmische Realität als Original, die Lebenswelt als ihre Kopie. Es gilt nicht mehr, die Fiktion möglichst wirklichkeitsgetreu zu gestalten, sondern die Wirklichkeit der Fiktion anzupassen. Dahinter verbirgt sich natürlich nichts anderes als das Baudrillard’sche Diktum, das längst zum Gemeinplatz medienwissenschaftlicher Stammtischdiskussionen geworden ist: Das Verschwinden des Realen und die Totalisierung des Medialen führe zur Alleinherrschaft des Simulakrums. Auch wenn derartige Thesen mittlerweile recht abgegriffen sind, ist die medienhistorische Gemütsverschiebung, die sie postulieren, nicht von der Hand zu weisen. Das demonstriert beispielsweise ein Interview mit Thomas Arslan, das anlässlich des Kinostarts von dessen Film Im Schatten (Deutschland 2010) in der taz erschien. Darin spricht der Journalist Ekkehard Knörer darüber, wie echte Verbrecher sich bewegen, wie sie ihre Waffen halten und so weiter und fragt den Berliner-Schule-Regisseur: »Man kennt das aus dem Kino und hat oft den Eindruck: Das Kino kennt das aus dem Kino. Wie fängt man das dann aber anders, von der Realität aus, an?« Arslan antwortet: »Ich habe keine Originalgangster getroffen. […] Davon habe ich mir in diesem Fall nicht so viel versprochen, da die zum großen Teil auch nur das Kino nachmachen.«13 Verlorenes oder nie gekanntes Authentizitätsempfinden: Auf dass es sich endlich einstelle, initiiert die Hauptfigur in Remainder ein exzentrisches Großprojekt. Ermöglicht wird es durch die stattliche Summe von 8½ Millionen Pfund, die der Erzähler nach dem Unfall als Entschädigung erhalten hat – unter der Bedingung, dass er sich niemals öffentlich über den Unfall äußert, was insofern gegenstandslos ist, als er sich ohnehin nicht daran erinnern kann. Mit dem Schmerzensgeld lässt er nun in aufwändigen Aktionen Szenen nachstellen, die sich zum Teil in seinem Alltag zugetragen haben, zum Teil auf diffusen Erinnerungsfetzen basieren und hauptsächlich aus nicht näher identifizierten Filmen stammen. Es sind Szenen, wie sie nicht nur das individuelle Erinnerungsreservoir der Hauptfigur prägen, sondern unser aller kollektives mediales Gedächtnis.

13 Knörer, Ekkehard: »Der Kriminelle im Alltag. Interview mit Thomas Arslan«, in: die tageszeitung vom 7.10.2010, S. 15.

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Das erste »Reenactment«, wie der Erzähler die Aktionen nennt, stellt eine banale Alltagssituation in einem Mietshaus nach. Sie geht möglicherweise auf Roman Polanskis Film Le locataire (Frankreich 1976) zurück. Überdies dürften Elemente aus Georges Perecs Roman La vie mode d’emploi (1978) eingeflossen sein, dessen heimliche Hauptfigur Bartlebooth mit ihrem ziellosen künstlerischen Lebensprojekt offenbar ein Vorbild für McCarthys namenlosen Helden ist. Dieser legt eine manische Detailversessenheit an den Tag, bemüht sich obsessiv darum, dass das Reenactment dem Vorbild, der Szene aus seinem Gedächtnis, entspricht – wobei er sich zwar nicht an alle Einzelheiten erinnern kann, aber jeweils danach entscheidet, ob sich etwas »richtig anfühlt«.14 Nicht nur die Vorlage für das Reenactment entstammt, zumindest in entscheidenden Teilen, dem filmischen Universum, auch der aberwitzige Aufwand, der betrieben wird, erinnert ans Kino, vor allem an die Dreharbeiten zu Hollywood-Großproduktionen. Da werden Location Scouts und Filmausstatter engagiert. Die Darsteller und Statisten werden professionell gecastet. Ihre Spielhandlungen werden über Funk koordiniert und so lange wiederholt, bis sie perfekt sitzen. Auch die folgenden vom Protagonisten in Auftrag gegebenen Reenactments15 unterscheiden sich von Filmsets einzig durch die Abwesenheit von Kameras, auf die er besonderen Wert legt. Überdies ähneln sie den Aktionen der Performance-Gruppe Ant Farm, die in den 1970ern mediengeschichtliche Ereignisse wie die Ermordung John

14 Dass es sowohl um faktische als auch um gefühlte Authentizität geht, eint die Reenactments in Remainder mit folkloristischen Reenactments historischer Schlachten und dergleichen, über die Ulf Otto schreibt: »Authentizität bedeutet für Reenactments […] zweierlei: erstens, dass die Dinge so sind, wie sie waren; zweitens, dass sie sich echt anfühlen.« (Otto, Ulf: »Krieg von gestern. Die Verkörperung von Geschichtsbildern im Reenactment«, in: Kati Röttger (Hg.): Welt – Bild – Theater. Band 1: Politik des Wissens und der Bilder, Tübingen: Narr 2010, S. 77–87, hier S. 82.) 15 Hier lässt sich eine weitere Verbindungslinie zu McCarthys Arbeit mit der INS (vgl. Fußnote 8) ziehen: Bei einem der später im Buch unternommenen Reenactments wird ein Mord auf offener Straße re-inszeniert – was deutlich an eines der frühen Happenings der INS erinnert, bei dem eine Mafia-Schießerei in Amsterdam nachgestellt wurde. Vgl. Schwenger: »The State of Inauthenticity«.

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F. Kennedys nachstellte – auch wenn die Budgets von Ant Farm eine Nummer kleiner waren. »To be real – to become fluent, natural«, das ist es, worauf der IchErzähler mit all diesem Aufwand abzielt. Er wolle aus den gewohnten Bahnen ausbrechen, in denen wir uns den Ereignissen immer nur durch Umwege annäherten – Umwege, die uns zu »second-hand« und »secondrate« Persönlichkeiten machten.16 Und tatsächlich gelingt es ihm, endlich das bislang mangelnde Authentizitätsempfinden zu spüren. Wenn er seine immersiven Installationen betritt, fühlt er sich, wie er sagt, zum ersten Mal in seinem Leben wirklich authentisch.

AUTHENTIZITÄT ZWEITER O RDNUNG In prä-postmoderner Terminologie könnte man sagen, dass Remainder davon handelt, wie das Leben die Kunst imitiert und die Grenze zwischen den beiden schließlich kollabiert – am Ende wird das Reenactment eines Bankraubs so perfekt an einem originalen Schauplatz inszeniert, dass es einem echten Bankraub gleichkommt. Barthes will in seiner Vorlesung den entgegengesetzten Weg gehen, beschäftigt sich mit den Bedingungen, die es dem Schriftsteller erlauben, »aus seinem Leben ein Werk zu machen«.17 Trotzdem weisen die beiden Fallbeispiele bemerkenswerte Parallelen auf: Sowohl McCarthys Erzähler als auch dem späten Barthes geht es darum, Authentizitätsempfinden (wieder) herzustellen, und beide nehmen hierzu ein groß angelegtes Vorhaben in Angriff, welches auch künstlerische Ziele verfolgt. Dass die Romanfigur dieses zum Abschluss bringen kann, unterscheidet sie von Barthes. Im Gegensatz zu dessen Vita Nova werden die Reenactments in Remainder nicht von einem schweren, aus heiterem Himmel hereinbrechenden Unfall abrupt beendet, sondern durch einen solchen motiviert. In beiden Fallbeispielen wiederum ist das Konzept der Authentizität eng mit dem der Wiederholung verknüpft – allerdings in je unterschiedlicher Weise: Anders als bei Barthes steht die Authentizität, die in McCarthys Roman angestrebt wird, zur Wiederholung keineswegs in

16 McCarthy: Remainder, S. 244. 17 Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 319.

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Opposition. Vielmehr ist für den Erzähler jede nur denkbare lebensweltliche Handlung bereits die Wiederholung eines medial präfigurierten Akts. Zur Authentizität gelangt er nicht wie Barthes, indem er aus dem Wiederholungszwang ausbricht und ein Original schafft, sondern durch die bis zum Exzess praktizierte Perfektionierung der Wiederholung. Man könnte bei Barthes von einer Authentizität erster, bei McCarthy von einer Authentizität zweiter Ordnung sprechen.18 McCarthy erhebt also mit Remainder den Anspruch, dass sein Erzähler eine exemplarische Figur ist. Es ist zumindest eine mögliche und naheliegende Lesart, den Roman als Zeugnis einer neuen AuthentizitätsSehnsucht zu begreifen, die im Zeitalter der Hypermedialisierung virulent wird – einer Sehnsucht nach unmittelbaren und einzigartigen Erfahrungen, die jedoch, wie McCarthy nahelegt, auf einem Paradoxon beruht: Einerseits akzeptiert sie kritiklos das Diktum von der Alleinherrschaft des Simulakrums. Andererseits ist sie nicht bereit, das althergebrachte Begehren nach Authentizität aufzugeben. Die einzige Möglichkeit, dieses Begehren zu realisieren, liegt folglich darin, das eigene Leben als permanentes Reenactment von Fiktionen zu begreifen, die dem kollektiven medialen Gedächtnis entstammen, das heißt in der Authentizität zweiter Ordnung, wie sie der Erzähler in Remainder realisiert.

18 Ein der Authentizität zweiter Ordnung ähnelndes Konzept entwickelte Lawrence Grossberg in Bezug auf die Popmusik der 1970er, in der für ihn das Paradigma der Authentizität (in meiner Terminologie: erster Ordnung) durch eine »authentic inauthenticity« abgelöst wird. (Grossberg, Lawrence: »The Media Economy of Rock Culture: Cinema, Post-modernity and Authenticity«, in: Andrew Goodwin/Lawrence Grossberg (Hg.): Sound and Vision, London: Routledge 2003, S. 185–209.) Dass die Authentizität zweiter Ordnung auf ein Oszillieren zwischen als primär und als sekundär codierter Erfahrung hinausläuft, wird in diesem Zusammenhang deutlich, wenn man, wie Stefanie Kiwi Menrath, der »authentic inauthenticity« eine »inauthentic authenticity« gegenüberstellt. (Menrath, Stefanie Kiwi: »… never authentic, always ›authentic‹: Sounding in Pop Music«, in: Rune Graulund (Hg.): Desperately Seeking

Authenticity:

An

Interdisciplinary

Approach,

Kopenhagen:

Copenhagen Doctoral School in Cultural Studies, University of Copenhagen 2010,

http://www.eurodocsem.net/publications/Authenticity__web.pdf

25.5.2011.)

vom

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McCarthys Roman kann tatsächlich ein paradigmatischer Charakter zugesprochen werden, insofern die Vorstellung einer Authentizität zweiter Ordnung im Kontext der zeitgenössischen Medienkultur an verschiedensten Stellen auftaucht. So lassen sich etwa künstlerische Praktiken des Reenactments als kritische Reflexionen eines solchen Authentizitätskonzepts und seiner Paradoxien begreifen – etwa die bereits genannten Arbeiten von Ant Farm oder die Fotografien aus Thomas Demands Ausstellung Nationalgalerie, die 2009/2010 in der Berliner Neuen Nationalgalerie gezeigt wurde. Demand stellte gesellschaftliche und politische Ereignisse seit 1945 nach, indem er deren Schauplätze in Pappe nachbaute. Dabei orientierte er sich an aus den Massenmedien bekannten Bildmotiven, etwa an den berühmten Pressefotos der Badewanne, in der Uwe Barschel tot aufgefunden wurde, oder an der von Protestierern durchwühlten Stasi-Zentrale. Die nachgestellten Szenerien fotografierte Demand und vernichtete die papierenen Modelle anschließend wieder. Die Realität fungiert hier nur noch als Durchlauferhitzer, den das Mediale durchwandert, um auf eine neue Ebene gehoben zu werden.

R OLAND B ARTHES UND DER F OTOGRAFIE

DER

W IRKLICHKEITSEFFEKT

Die Frage nach den Ursachen der Sehnsucht, auf welche die Authentizität zweiter Ordnung reagiert, bleibt bei Arbeiten wie denen Demands offen. Sie könnten in den medialen Besonderheiten fotografischer und filmischer Bilder liegen. Ich habe Die Vorbereitung des Romans als Ausgangspunkt meiner Überlegungen gewählt, weil dort eine Spur ausgelegt ist, die zu einer Antwort auf diese Frage führen könnte. In der Vorlesung spielt das Konzept Authentizität auch dann eine Rolle, wenn im Zentrum des ersten Vorlesungsjahrs die Frage steht, wie sich die Wahrheit des Lebens in eine Wahrheit der Literatur überführen lässt. Dabei beschäftigt Barthes sich hauptsächlich mit dem Haiku, das ihm als Beispiel für die künstlerische Fixierung lebensweltlicher Augenblickserfahrung dient. Er vergleicht es mit der Fotografie und stellt Thesen auf, die er einige Monate später in La chambre claire (deutsch: Die helle Kammer) ausführlicher entwickeln wird – seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch, das mittlerweile zu einem Klassiker der Fototheorie gewor-

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den ist.19 In der Vorlesung betrachtet Barthes die Fotografie als Äquivalent zum Haiku. Sie ist für ihn »diejenige Kunstform, die das Haiku zu verstehen erlaubt«.20 In beiden vollzieht sich für ihn ein »Auftauchen des Uninterpretierbaren, des letzten Grades des Sinns, dessen, wonach es nichts mehr zu sagen gibt«21 – ein unhintergehbarer »Augenblick der Wahrheit«, den er für die Fotografie das »ça-a-été«, das »Es-ist-gewesen« nennt.22 Im Es-ist-gewesen liegt für Barthes das »Noema«, »die Spezifität des fotografischen Bildes […], der Effekt, der es (gegenüber den anderen Künsten) auszeichnet«. 23 Er bezeichnet es auch als Wirklichkeitseffekt der Fotografie und greift damit seinen eigenen Begriff des »effet de réel« auf, den er ursprünglich eingeführt hat, um die Wirklichkeitskonstitution im realistischen Roman zu charakterisieren24 – und den er in der Vorlesung zunächst auf das Haiku angewandt hat.25 Als Wirklichkeitseffekt manifestiert sich der Augenblick der Wahrheit, den die Fotografie produziert, in einem Gefühl unmittelbarer Erfahrung, das den Betrachter buchstäblich ergreift. Es lässt sich als Authentizitätserfahrung begreifen, wie sich besonders deutlich in Zusammenhang mit einem Seminar zum Thema Proust und die Fotografie zeigt, das Barthes’ Vorlesung im zweiten Jahr ergänzen sollte. Er konnte die Veranstaltung aufgrund seines Unfalls nicht mehr halten, hat jedoch seine vorbereitenden Notizen hinterlassen. Sie sind, wie die meisten seiner Aufzeichnungen,

19 Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris: Gallimard 1980. Ders.: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. 20 Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 127. 21 Ebd., S. 178 [Herv. i.O.]. 22 Ich weiche hier von der Übersetzung ab, die sich für »ça-a-été« durchgesetzt hat: Das gängige »Es-ist-so-gewesen« ist in diesem Zusammenhang ungenau bzw. verfälschend. 23 Ebd., S. 127 [Herv. i.O.]. 24 Barthes, Roland: »L’effet de réel«, in: Communications 11 (1968), S. 84–89. Zur Beschreibung von Bild- statt von literarischen Phänomenen verwendet den Begriff des Wirklichkeits- bzw. Realitätseffekts in der Folge etwa Jean-Pierre Oudart. Vgl. seinen Artikel »L’effet de réel«, in: Cahiers du Cinéma 228 (1971), S. 19–28. 25 Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 126.

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akribisch ausgearbeitet und wurden zusammen mit der Vorlesung veröffentlicht. Barthes plante, in dem Seminar mit einem Diaprojektor Fotografien von Paul Nadar vorzuführen, die Persönlichkeiten aus dem Umfeld Prousts zeigen – Persönlichkeiten, die zumindest zum Teil in die Suche nach der verlorenen Zeit eingeflossen sind. Auch hier geht es um den Übergang vom Leben zum literarischen Werk. Mindestens ebenso sehr war Barthes aber darauf aus, Medienwirkungen zu ergründen. In seinen Notizen hält er fest, ihm gehe es bei der Diaschau darum, »eine Intoxikation hervorzurufen, eine Faszination, eine dem Bild eigentümliche Wirkung«. An seine Zuhörer gerichtet erklärt er: »Sie sollen sich dem Zauber, dem schleichenden Gift einer Welt ergeben.«26 Und er bringt die ontologische Identität technischer Bilder ins Spiel, will damit offenbar die Frage nach einer Ontologie der Fotografie aufwerfen.27 Aus der Perspektive einer solchen Ontologie erklärt sich der Wirklichkeitseffekt der Fotografie daraus, dass sie zwar eine Kopie, ein Sekundäres ist, dass sie aber nicht nur zeichenhaft auf das Original verweist, sondern dieses selbst erfahrbar macht. Die Fotografie erweckt zumindest den Eindruck, sich dem Abgebildeten ontologisch anzunähern. Sie führt für ihre Betrachter einen Augenblick der Wahrheit herbei, der in der Erkenntnis des Originals zu bestehen scheint, bei der es sich um eine nicht semiotisch, sondern ontologisch zu beschreibende Erfahrung handelt. Ich möchte Barthes’ Thesen weniger als Beschreibung dessen begreifen, was Fotografie tatsächlich ist, sondern vielmehr als Schilderung der Phantasmen, welche sie in ihren Betrachtern hervorzurufen imstande ist. Inwieweit Barthes diesen womöglich selbst erlag, soll dabei außen vor gelassen werden. Aus seinen Ausführungen lässt sich jedenfalls eine phantasmatische Ontologie herauslesen, welche für die Pragmatik der Fotografie offenbar prägend ist und welche die Fotografie als ein Medium der Authentizität begreift – einer Authentizität erster Ordnung, die die Differenz Original/Kopie nicht dekonstruiert, sondern auf ihr beruht. Denn das Sekundäre (das Bild) ist für sie nur ein Weg, zum Primären (dem Wesen des Abgebildeten) zu gelangen. Ebenso erstaunlich wie Barthes’ kritiklose Feier der Fotografie als Medium der Authentizität ist seine diesbezügliche kategorische Abwertung

26 Ebd., S. 466 [Herv. i.O.]. 27 Vgl. ebd.

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des Films. Es gehört zu Barthes’ Eigenwilligkeiten, dass er dem Film das Es-ist-gewesen nicht zugesteht. Er schreibt: »Der Film missbraucht das Noema der Fotografie. In Wirklichkeit ist es nicht so gewesen, sondern die Wirklichkeit ist vollständig umgearbeitet, manipuliert worden.« Als Beispiele für derartige Manipulationen nennt er die »Umstellung der Reihenfolge bei der Aufnahme und bei der Wiedergabe = Montage« sowie die »Dissoziation von Bild und Ton: Nachsynchronisierung«.28 Doch selbst durch ästhetische Strategien à la Dogma 95, die solche Eingriffe weitgehend vermeiden, wird sich im Film für Barthes kein Augenblick der Wahrheit, kein Es-ist-gewesen realisieren. Dieses sei, wie er immer wieder betont, an den Moment gebunden, könne sich nicht über eine Dauer erstrecken. Damit wäre der Film auch kein Medium der Authentizität, zumindest nicht einer Authentizität erster Ordnung. Wie ließe sich die Verbindung von Film und Authentizität – die etwa in Remainder so zentral ist – aber dann denken? Einen Anhaltspunkt dafür soll ein letztes Beispiel liefern.

K ATIE M ITCHELL UND LEO W ARNER NACH AUGUST S TRINDBERG , FRÄULEIN J ULIE In der Inszenierung von August Strindbergs Fräulein Julie, die die Regisseurin Katie Mitchell und der Videokünstler Leo Warner an der Berliner Schaubühne erarbeitet haben (Premiere am 25.09.2010), wird die Handlung durchgehend aus der Perspektive der Köchin Kristin erzählt. Bei Strindberg spielt Kristin lediglich eine Nebenrolle, sodass vom eigentlichen Dramentext, dem Dialog zwischen der Titelfigur und dem Diener Jean, bei Mitchell und Warner nur wenig übrigbleibt. Das Prinzip erinnert an Tom Stoppards Rosenkranz und Güldenstern-Stück aus dem Jahr 1967. Im Gegensatz zu Stoppards Hamlet-Paraphrase geht es hier aber nicht um absurden Humor und metafiktionale Reflexion, sondern um das Ausstellen medientechnischer Produktionsbedingungen. Zu diesem Zweck werden ausgeklügelte technische Mittel eingesetzt, die Mitchell und Warner bereits in früheren Produktionen erprobt haben, beispielsweise in der gefeierten Inszenierung von Franz Xaver Kroetz’

28 Ebd., S. 129 [Herv. i.O.].

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Wunschkonzert am Kölner Schauspielhaus (Premiere am 05.12.2008). Das szenische Geschehen wird durchgehend gefilmt und in Echtzeit auf eine Projektionsleinwand übertragen. Der naturalistisch ausgestattete Bühnenraum wird gleichzeitig von den Dramenfiguren und mehreren Kameraleuten bewohnt, wobei letztere von ersteren nicht wahrgenommen werden. Auf der Leinwand wird zwischen den verschiedenen Kameras teilweise in schnellem Wechsel hin- und hergeschnitten. Einzelne Close-ups werden überdies an einem Requisitentisch am Bühnenrand aufgenommen. Und auch der Ton ist das Produkt einer Montage: Den von Mikrofonen aufgenommenen Stimmen der Schauspieler werden akustische Effekte beigemischt, die von zwei Geräuschemacherinnen erzeugt werden. Kurz gesagt: Den Zuschauern wird auf der Projektionsfläche ein Film präsentiert, dessen Dreharbeiten live auf der Bühne verfolgt werden können. Das Verfahren erinnert an die Live-Filme von Caden Manson und seiner New Yorker Big Art Group. Es zielt aber im Gegensatz dazu nicht auf ein schrilles Camp-Happening ab, sondern auf einen besinnlichen Kammerspiel-Abend. Dessen kontemplativer Charakter ist allerdings fortwährenden Störungen, vor allem durch die rasanten Bewegungen der Kameraleute ausgesetzt, die immer wieder neue Blickwinkel einnehmen. Das hat zur Folge, dass der Zuschauerblick nur mit Mühe beim Bühnengeschehen zu halten ist. Er wird stattdessen von der Leinwand angezogen, deren Bild eine Ruhe und Klarheit auszeichnet, die den Aktionen auf der Bühne fehlt. Diese Diskrepanz stellt aber nicht unbedingt ein Manko dar. Sie bildet vielmehr den Kern der ästhetischen Erfahrung, welche die Inszenierung bereithält. Der Gegensatz zwischen Schauspielerkörper und Live-Videobild ist die Basisopposition, mit der hier operiert wird. Äußerst aufschlussreich ist vor diesem Hintergrund eine Panne, die sich am 18. November 2010 in einer der von mir besuchten Aufführungen zugetragen hat. Während der Vorstellung wurde auf der Bühne plötzlich »Stopp!« gerufen. Alle Aktionen wurden angehalten und das Publikum informiert, es gebe einen »Bildausfall«. Offenbar streikte eine der Kameras – allerdings nicht jene, deren Live-Bild gerade auf der Leinwand zu sehen war. Die zeigte weiterhin Jule Böwe in der Rolle Kristins. Während um sie herum das technische Problem gelöst wurde, verharrte Böwe in der Position, in der sie sich im Moment des Abbruchs befunden hatte. Minutenlang war die Kamera in einer halbnahen Einstellung auf sie gerichtet und übertrug ihr Bild auf die Leinwand.

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Bemerkenswert ist das deswegen, weil es eine über Minuten stabile Verbindung von Schauspielerkörper und Videobild in dieser Inszenierung eigentlich nicht gibt – schon gar nicht für die zentrale Figur. Denn die Köchin wird nicht nur von Jule Böwe dargestellt, sondern gleichzeitig auch von Cathlen Gawlich, die als »Kristin-Double« in jenen Kameraeinstellungen dient, in denen das Gesicht verborgen ist. Zwei weitere Doubles kommen in Close-ups zum Einsatz, wenn lediglich Kristins Hände gezeigt werden. Die korporale Multiplizierung und ihre Kontrastierung durch ein filmisches Bild haben zur Folge, dass die Körper der Darstellerinnen als Fragmente wahrgenommen werden. Böwes Gesicht, Gawlichs Rücken, die Hände der Doubles sind Partialobjekte, die erst durch die Montage auf der Leinwand zu einer ungebrochenen Einheit zusammengefügt werden – durch filmische Schnitte, welche die Aufnahmen unterschiedlicher Körper aneinanderreihen und daraus eine Figur entstehen lassen. Diese Figur erscheint zwar auch auf der Bühne, dort aber als zerstückelter Körper, gleichsam zerteilt in verschiedene Darstellerinnen. Daraus ergibt sich ein paradoxer Effekt: Technisch gesehen ist das Videobild die Kopie und der Schauspielerkörper das Original. Aber es hat den Anschein, als sei es umgekehrt, als seien die Schauspielerinnen die Kopien, die versuchen, das Bild nachzuahmen. Das hängt auch damit zusammen, dass alle Darsteller – nicht nur die Kristins – immer wieder in ihre Rolle hineinschlüpfen (wenn sie im On, also im Blickfeld der Kamera, sind) und wieder aus ihr herausschlüpfen (wenn sie im Off sind). Sie vermitteln dadurch das Gefühl, nie wirklich in der Rolle anzukommen, denn dafür sind die jeweiligen Einstellungen zu kurz, vorausgesetzt es passiert keine Panne. Gleichzeitig fallen sie aber auch nie vollständig in ihre reale Identität zurück, selbst dann nicht, wenn sie zwischendurch die Funktion der Kameraleute übernehmen. Sie befinden sich weitgehend in einem Zwischenstadium – zwischen Schauspieler-Sein und Rolle-Sein. Die Bühnenfiguren erwecken daher den Eindruck, nie ganz bei sich selbst zu sein. Sie wirken unauthentisch. Auf der Leinwand jedoch, wo sie als Filmfiguren erscheinen, kehrt sich diese Wirkung um. Hier werden sie nicht durch permanentes Changieren zwischen Fiktion und Realität verwässert. Nur im filmischen Bild erreichen sie einen Zustand des Bei-sich-selbst-Seins. Nur als Bild wirken sie authentisch. Häufig werden gerade elektronisch hergestellte Bilder mit Flüchtigkeit assoziiert und der menschliche Körper als Anker von Beständigkeit und ›echter‹ Realitäts-

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erfahrung gepriesen. Hier jedoch erweist sich das filmische Bild als das Beständigere und der Körper als Ort des Flüchtigen.

D ER FIKTIONSEFFEKT Man kann Mitchells und Warners Inszenierung als Fortführung des – von Strindberg in Fräulein Julie bereits avisierten – Intimen Theaters mit anderen Mitteln sehen. Überdies ist sie die sinnlich-technische Realisierung einer Fragmenthaftigkeit der Charaktere, auf die Strindberg besonderen Wert legte. Im Vorwort zur Erstausgabe des Stücks erklärt der Dramatiker: »Meine Seelen (Charaktere) sind Konglomerate vergangener und gegenwärtiger Kulturstufen, Stücke aus Büchern und Zeitungen, Teile von Menschen, Fetzen und Lumpen von abgetragenene Festkleidern – so wie eben die Seele zusammengeflickt ist.«29 Die Seele als Konglomerat, zusammengeflickt aus disparaten medienkulturellen Einflüssen – in einer von Bewegtbildern dominierten Welt scheint das noch augenfälliger zu werden. Ich schlage vor, die Bühnensituation in Mitchells und Warners Inszenierung mit ihrer Spannung zwischen Schauspielerkörper und Videoprojektion als Metapher für eine solche Welt zu begreifen. Gerade aufgrund des, von Barthes kritisch beäugten, Montagecharakters von Bewegtbildern erreichen die auf ihnen erscheinenden Figuren eine Selbstsicherheit, Lässigkeit und Authentizität, gegen die der reale menschliche Körper bei seinen tagtäglichen Performances nur verlieren und als defizitär erscheinen kann. Schließlich gelingt es den wenigsten, die Menschen auf den Bildern so formvollendet nachzuahmen, wie es der Aktionskünstler Yan Duyvendak in seinem Stück Une soirée pour nous vormacht.30 Er ist darin zu sehen, wie er bei einem Fernsehabend durch verschiedene Kanäle zappt – von der Übertragung eines Céline-Dion-Konzerts zu den Wirtschaftsnachrichten, von einem Kriegs- zu einem Science-Fiction-Film, von verschiedenen Werbesendungen zum Wetterbericht. Dabei imitiert er die Menschen auf

29 Strindberg, August: »Vorwort zu ›Fräulein Julie‹«, in: ders.: Über Drama und Theater, hg. von Marianne Kesting/Verner Arpe, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1966, S. 92–106, hier S. 94. 30 Den Hinweis hierauf verdanke ich Wolfgang Brückle.

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dem Schirm, kopiert synchron ihre Gesten, spricht ihren Text mit. Trotz der abrupten Senderwechsel schafft er das mit absoluter Präzision. Für den normalen Mediennutzer, der nicht über Duyvendaks Körperbeherrschung verfügt, gilt indes: Wenn Roland Barthes Recht hat und es keinen Wirklichkeitseffekt des Films gibt, so scheint der Film doch einen anderen Effekt zu haben, der ebenfalls auf einer phantasmatischen Ontologie beruht. Er beflügelt die Vorstellung, von der McCarthys Roman unter anderem handelt und die auch bei Mitchell und Warner mitschwingt – die Vorstellung, die Existenz der Figuren auf den bewegten Bildern sei konstanter, echter und weniger fragmentiert als die reale Existenz auf der materiellen Basis des biologischen Körpers. Man könnte diesen Effekt als ›Fiktionseffekt‹ bezeichnen.31 Er besteht nicht in der Intoxikation, die Barthes angesichts des Wirklichkeitseffekts von Fotografien verspürt. Vielmehr wirkt er sich als Begehren aus – das Begehren danach, das im Bewegtbild Vorgelebte nachzuleben, zu wiederholen, eine Kopie der medialen Realität zu inszenieren. Dieser Gedankengang ließe sich auf die Hypothese zuspitzen, dass Bewegtbilder allein aufgrund ihrer medialen Beschaffenheit die Sehnsucht nach einer Authentizität zweiter Ordnung wenn nicht auslösen, so doch zumindest begünstigen. Für diese Hypothese sprechen Befunde wie McCarthys Roman, der das soziale Leben in avancierten Mediengesellschaften zu einem permanenten Reenactment von Fiktionen stilisiert, die durch Filmbilder vermittelt werden und im kollektiven medialen Gedächtnis verortet sind. Andererseits wäre zu fragen, ob Authentizität nicht schon immer Authentizität zweiter Ordnung war – wie es etwa Strindbergs Bemerkungen über die zusammengeflickte Seele nahelegen.

31 Der Begriff steht im Zentrum einer Forschungsperspektive auf neuartige Formen der wechselseitigen Bedingtheit von Realität und Fiktion in aktuellen Medienpraktiken, an der ich gemeinsam mit Florian Lippert und Alexander Schwinghammer arbeite und der der vorliegende Text wichtige Impulse verdankt.

Genau so Realitätseffekte in Die letzten Tage der Ceauúescus M ILO R AU

C HARLOTTE C ORDAYS T ÜR – E XTREMISMUS DES K ONKRETEN In jenem Jahr 1968, als ein Generalstreik die französische Industrie lahmlegte, das Théatre de l’Odéon zur Zentrale der Studentenproteste wurde und De Gaulle aus Paris flüchtete, veröffentlichte Roland Barthes in der Zeitschrift Communications einen knapp sieben Seiten langen Essay, der den Titel L’effet de réel trug.1 In dem Text bemerkt Roland Barthes, dass ab einem gewissen literaturgeschichtlichen Zeitpunkt – im Übergang von der späten Romantik zum frühen Realismus – viele Erzählungen nicht signifikante, unnötige Überschüsse bereithalten würden, für die eigentliche Narration belanglose Details, die – im streng strukturalistischen Sinn – nichts erzählen und die keine weitere Rolle spielen als eben jene, genau das zu sein, was sie sind. Wenn etwa (dies eines von Barthes’ Beispielen) Jules Michelet in seiner Histoire de France. La Révolution beschreibt, wie Marats Mörderin Charlotte Corday im Gefängnis von einem Porträtisten besucht wird und in

1

Barthes, Roland: »L’effet de réel«, in: ders. et al. (Hg.): Littérature et réalité, Paris: Editions du Seuil 1982, S. 81–90. Der Aufsatz erschien ursprünglich in: Communications 11 (1968), S. 84–89. Alle Übersetzungen aus dem Französischen vom Verfasser.

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diese Schilderung die Bemerkung »nach eineinhalb Stunden wurde an eine Tür hinter ihr geklopft«2 einfügt, so erhält der Leser eine für den Fortgang der Handlung völlig sinnlose Information, da weder Charlotte Corday darauf reagiert, noch der geheimnisvolle Klopfer oder die Tür im weiteren Verlauf der Erzählung eine Rolle spielen werden. Auch das Detail selbst entwickelt keine rhetorisch relevante Dimension. Weder in der Handlung im engeren Sinn, noch in dem, was die klassische Rhetorik Ekphrasis (descriptio) nannte, findet Charlotte Cordays Tür ihre Legitimation. Denn offensichtlich handelt es sich bei der Szene um keine deskriptive, um keine irgendwie ›ausgeführte‹ Ausschmückung; keine Genre-Szene wird entwickelt, keine grammatikalische oder syntaktische Pracht entfaltet sich in diesem knappen Nebensatz. Er ist einfach da, völlig bar jeder Verbindung zu einer handlungstechnischen Logik oder einem narzisstischen Gestus des rhetorischen Apparats. Ich bin real, sagt Charlotte Cordays Tür, gerade weil ich bedeutungslos und banal bin. Doch der offensichtliche Autismus dieses Nebensatzes geht, wie Barthes weiter ausführt, über sein Herausfallen aus dem strukturalistischen (oder, wenn man so will, traditionellen) Mantra des ›Alles-macht-Sinn‹ heraus. Er hat eine ästhetische, ja revolutionäre Dimension und stellt eine seit Aristoteles gültige Unterscheidung von dichterischem und historischem Diskurs in Frage. Während gemäß der aristotelischen Tradition der dichterische Diskurs in der logischen Aneinanderreihung von möglichen Ereignissen zur Erzeugung einer wahrscheinlichen Handlung besteht, ist der historische Diskurs ausschließlich der Wirklichkeit selbst verpflichtet und damit zufrieden, vorgefundene Fakten zu referieren. Michelets Detail, dieses ohne jede Motivation und gleichsam unerhört erfolgende Klopfen, führt somit in die Unterscheidung von wahrscheinlicher Dichtung und wahrer Geschichtsschreibung eine Verschiebung ein. Als würde dieses Detail nicht nur jede Narration, sondern auch seine eigene, historische Sinnhaftigkeit und Konkretheit verneinen (denn genau so konkret wäre es offensichtlich, wenn ein Stück Mörtel von der Decke fallen oder von der Straße das Geräusch von Stimmen oder Pferdehufen zu hören wäre), scheint es nicht auf diese oder jene Aktion, sondern unmittelbar und umwegslos auf ›die Wirklichkeit‹ oder ›die Geschichte‹ zu verweisen. ›Genau so ist es geschehen‹, sagt dieser Satz und entzieht seiner Historizi-

2

Ebd., S. 81.

G ENAU SO | 187

tät, während er sie scheinbar bezeichnet, jede Spezifizität für die gegebene Situation (der Tod Charlotte Cordays) oder einen erweiterten historischen Bedeutungszusammenhang (die Französische Revolution). Mitten in einem Stück romantischer Geschichtsschreibung erhebt so das technisch-fotografische Zeitalter des ›Genau so‹ sein nacktes Haupt: Dies ist geschehen, jenseits aller narrativen Kausalität oder ornamentalen Funktion. Eine neue, der aristotelischen Konzeption entgegengesetzte Wahrscheinlichkeit, eine neue Form der Legitimation von Gesagtem wird eingeführt, sowohl Sinn wie Schönheit oder Handlung ersetzend: die des baren Faktums und der damit zusammenhängenden Metaphysik einer technisch-fotografisch reproduktionsfähigen Wirklichkeit, die gerade deshalb völlig ›wahrscheinlich‹ (also glaubwürdig) ist, weil sie sich selbst genügt, weil sie keine Motivation erkennen lässt und damit von jedem Verdacht der Strategie, also der Lüge, frei ist.

D ER P ERFORMER

UND DER

B AUER

Von Charlotte Cordays Tür und der Geburt der realistischen Literatur im 19. Jahrhundert mit ihren Beschreibungsüberschüssen gehen zwei Traditionslinien aus – eine demokratisch-touristische und eine elitär-akademische. Die elitäre Traditionslinie findet in Roland Barthes, der in L’Effet de réel in kulturkritischen Zwischenteilen noch die affirmativen Tendenzen eines ästhetisch überhöhten Wirklichkeits-Fetischismus unterstreicht, ihren prominentesten Vertreter. Besonders stilbildend war dabei das in Die helle Kammer3 entwickelte Konzept des punctums, in dem Barthes die den Betrachter gleichsam verletzende Singularität des Dagewesen-Seins von fotografischen Details beschreibt. Im intensiven Blick eines zum Tode Verurteilten kurz vor seiner Hinrichtung etwa bringt sich keine Ikonografie zur Geltung, wird keine Geschichte erzählt, offenbart sich keine kulturelle Konnotation, sondern die Einzelheit erscheint in seiner Vereinzelung, zeigt sich in seiner semiotischen Unnahbarkeit und erschreckenden Materialität –

3

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.

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seiner gleichsam unheimlichen Performanz: »Das Element schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.«4 Mit der sich in der Ästhetiktheorie in den letzten dreißig Jahren durchsetzenden Überordnung der auf den Bühnen der Literatur, des Films oder des Theaters ereignenden Präsenz- oder Realitäts-Effekte über narrative Gesichtspunkte ergab sich seither ein Übergewicht ›punktueller‹ Zugänge über die Restbestände einer klassisch strukturalistischen Auffassung von Dichtung als in sich geschlossenem und auf alle Überschüsse verzichtenden System von Verweisen. Die kritisch-akademische Legitimation der Kunst verrutschte endgültig vom Ort einer majoritären Wahrscheinlichkeit zum Ort ihrer jeweils minoritären Ver-Wirklichung. Die Szenerie der Normen, Strukturen, Traditionen und Traditionsbrüche wurde zur Bühne individueller und in individualistischer Geste dargereichten Realitätseffekte, der von keiner Objektivität einholbaren Getroffen- und Betroffenheiten. Die Frage ist nicht mehr, wie noch in L’effet de réel, die nach dem Sinn einer Aussage, sondern die nach der materiellen, motivationalen und letztlich biografisch-physischen Beschaffenheit der Bühne, auf der der Sinn erscheint: Wer handelt wie mit welcher Absicht und aus welchen Gründen? Warum gerade jetzt, warum an diesem Ort, warum heute? Warum in den Slums von Kinshasa, warum im Guggenheim-Museum? Warum hängt dieses Bild so hoch, warum wird jenes eine Million Mal reproduziert, warum wird das dritte auf offener Bühne in einen Aktenvernichter gesteckt, warum das vierte wie eine Fußmatte vor den Museumseingang gelegt? Woher stammt der Akteur, welches Geschlecht hat er, ist er behindert oder gesund? Die elitär-akademische Traditionslinie lässt sich so als Multiplikation des cartesianischen Egos verstehen, als eine Engführung des klassischen Avantgarde-Konzepts künstlerischer Autonomie mit der Vorstellung eines in seinem Geschlecht, seiner Kultur, seiner Sprache, gewissen Reproduktionsmechanismen oder Produktionsbedingungen, kurzum: in restriktiven Meta-Hermeneutiken gefangenen und gegen seinen Willen ›gelesenen‹ Subjekts. Der Nihilismus und die Kontingenz des Lebens und des Körpers – ihre Überschüsse, ihr blindes So-Sein – treten dabei an gegen die kritisch markierten (oder in der Geste der Überidentifikation ironisch umarmten) Sinnmaschinen der Kultur, so wie ja auch bei Barthes das punctum nicht

4

Ebd., S. 35.

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jenseits aller Referenzen, sondern im Akt des studiums – der kulturell bedingten Zuschreibungen, des Lesens eines Bildes – erst in seinem schieren So-Sein hervorschießt. Der Kampf ist dann beendet, wenn das elitäre Ego sichtbar verwundet, körperlich getroffen, gleichsam von ›der Realität‹ überwunden auf der Bühne der Performanz liegt. Die demokratisch-touristische Traditionslinie dagegen bewahrte sich, naiver und zugleich konsequenter, ein starkes Gefühl für die objektive und subjektunabhängige Qualität des Realen: Nicht wer getroffen wird, nicht der Interpretator-Akteur, sondern die Realität selbst ist von Belang. Während die akademisch-elitäre Tradition, sosehr sie sich auch demokratisch gibt und im Namen der Aneignung und der Demokratisierung der Kunst spricht, ästhetische Realität als individuelle Gabe auf einer nicht wiederholbaren Szene versteht, paart sich in der Massenkultur der Extremismus des Genau-dann-genau-dort-gewesen-Seins mit einer seltsamen Gleichgültigkeit für den Akteur selbst. Dem Touristen dient die Fotografie als Beweismittel, die Anekdote über seltsame Typen in Hotelbars als Narrations-Ersatz und der glücklich überstandene Überfall als Immersionsmoment. Diese vulgär-aristotelische Erzählpraxis, in der nur Monumentales, Typisches und Besonderes abgebildet und erzählt wird, paart sich mit einer demokratischen Haltung der Unabsichtlichkeit, ja: des inszenatorischen Müßiggangs. Vor wie viele Tempel, Gemälde oder Elendsquartiere er sich auch stellt, mit wie vielen Einheimischen er sich auch bei der Teezeremonie ablichten lässt: Der touristische Körper, abgebildet in einem Anderen oder Vergangenen, taucht in der Fotografie selbst nur als Marker auf; nicht als Getroffener und Betroffener, sondern als Beobachtungspunkt, vergleichbar mit der Zeitangabe in einer Überwachungskamera. Würde man beispielsweise ein Archiv aller privaten Reise-Fotografien anlegen, so würde eine Ikonografie des Desinteresses an den je individuellen Akten offenbar, eine Symphonie der Gleichwertigkeit aller Erscheinung, in dem Dinge, Menschen, Zeiten und Kulturen in eins zusammenfallen. Die Tempel der Akropolis, ein Fischerboot auf dem Lake Kivu, ein in der spanischen Manege sterbender Stier oder der Croupier in Las Vegas: Als würde der akademisch-elitäre Blick umgestülpt, tritt all dies in ein Kontinuum der totalen Gleichheit des Dargestellten ein, in dem die Geste der Aneignung, das Barthes’sche Getroffensein nur noch der Vollständigkeit halber angedeutet wird. Was Dziga Vertovs Der Mann mit der

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Kamera5 für die kommunistische Kollektivierung war – nämlich die Herstellung eines technischen Blicks, in dem menschliche, mechanische, produktive, organische, motivierte, zufällige, kulturelle, natürliche, subproletarische und künstlerische Handlungsabläufe und Bewegungen in einem entsubjektivierten Kollektiv, dem Roman einer Stadt, zusammenfließen –, ist der touristisch-demokratische Blick für den spätmodernen Konsumismus. Das Betrachtete, beispielsweise der Eiffelturm, ist hier in keine individuelle Handlung eingebunden, geschweige denn vom Betrachter produziert. Das Betrachtete gehört nicht zu ihm, es unterliegt nicht seinem Willen und ist aus seinen Handlungsmöglichkeiten entfernt. Der Tourist auf den Fotos gleicht in seiner linkischen Schwerfälligkeit und seinem von Unsicherheit überschatteten Dabeisein Kafkas Bauern, der das erste Mal in die Stadt kommt. Geheimnisvolle Gesetze halten die Passanten, die Marktstände, die schlafenden Hunde und Monumente in einem unübersichtlichen Tableau Vivant gefangen, das der Bauer-Tourist, die Hände in den Taschen, von der Seite beobachtet. Der Tourist ist in seinen Bildern nicht Handelnder. Er ist Anwesender, Zeuge ohne Tat.

D IE LETZTEN T AGE DER C EAUùESCUS – AUSZEHRUNG UND KOLLEKTIVES N ARRATIV Ich habe hier offensichtlich zwei sehr unterschiedliche Formen dessen unterschieden, was Austin als »Auszehrung« des performativen Sprechakts im Rahmen seiner Anwendung auf der Bühne bezeichnet. 6 Die erste, elitärakademische Auszehrung betrifft das Materielle, also sowohl die Sprache wie die auf der Bühne präsenten Handlungen und Gegenstände. Sie sind nur noch Substrat, auf dem das Als-Ob der Inszenierung abhebt. Es ist offensichtlich, dass ein Performer nicht ›Durst hat‹, wenn er hektisch nach einem Glas Wasser greift, sondern dass es allein um die Präsenz seiner Darstellung geht, und je sinnloser, je unvermittelter sein ›Durst‹ in Szene gesetzt ist, umso gelungener das punctum. Marina Abramoviü legt sich nicht auf einen Eisklotz, weil ihr zu heiß ist. Sie legt sich auf einen Eisklotz, um sich auf einen Eisklotz zu legen, die Handlung ist, wie Austin

5

Der Mann mit der Kamera (UdSSR 1929, R: Dziga Vertov).

6

Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam 1979, S. 43.

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sagen würde, »unernst«, sie ist »nichtig«.7 Handlung wie Materie werden ausgezehrt, es erscheint eine dritte Qualität: ›die Realität‹ – nicht der Handlung oder des Eisklotzes, sondern, wie Roland Barthes sagt, »die Realität selbst«.8 Die zweite, die touristisch-demokratische Auszehrung ist der ersten antagonistisch entgegengesetzt. Sie betrifft die Präsenz des Handelnden als Handelnder, der nur noch als zufälliger Fixpunkt in dem nach undurchschaubaren Strategien ablaufenden So-Sein der Wirklichkeit erscheint. Es ist offensichtlich, dass der Tourist nicht in erster Linie ›Durst hat‹, wenn er in Asien ein exotisches Getränk probiert, dass er kein Überlebender ist (oder sein will), wenn er sich in Ruanda über ein geöffnetes Massengrab bückt. Er ist dort, er ist anwesend, er schaut zu und bezeugt den Moment, mehr nicht. Der Wirklichkeitseffekt resultiert also im ersten Fall aus der extremen Reduktion von Bezeichnungqualitäten zum punctum, der Extraktion genau jenes Details, das trifft, das Schmerz (oder Wonne, Erstaunen und so fort) zufügt und deshalb ›real‹ ist. Im zweiten Fall ist der Wirklichkeitseffekt Folge der Herabstufung des Handelnden selbst, seiner Reduktion zum Marker einer ›realistischen‹ Erzählung. Der Tourist ist nicht nur nicht Marina Abramoviü, er ist nicht einmal Dichter im aristotelischen Sinn. Er ist nur Garant, dass das Gezeigte wirklich geschehen ist, indem er technisch nachweist, dass er selbst wirklich dort war oder es, glaubwürdig, gehört hat. Künstlerische Reenactments, so will ich gern für den zweiten Fall am Beispiel der Inszenierung Die letzten Tage der Ceauúescus9 aufzeigen, stellen den Versuch dar, beide Strategien – die demokratische und die elitäre – in einer dritten ästhetischen Handlungsform zusammenzuführen. Dies soll anhand einer Analyse des Publikums- und Presseechos versucht werden, das die Inszenierung in verschiedenen europäischen Ländern hervorgerufen hat. Die Perspektive ist also nicht eine hermeneutische, die in einem Nachvollzug die Verfertigung der Inszenierung aus Videotranskripten, Zeugenbefragungen, Ortsbegehungen und den verschiedenen Schritten des In-Szene-Setzens en détail nachzeichnen würde (das habe ich an anderer Stelle unter dem Begriff einer »performativen Hermeneutik«

7

Ebd.

8

Barthes: »L’effet de réel«, S. 89.

9

Die letzten Tage der Ceauúescus (D/CH/RO 2009/10, Künstlerische Leitung: Milo Rau).

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versucht).10 Es soll vielmehr allein von außen her argumentiert werden, von dem Echo und den Handlungen her, die die Inszenierung ausgelöst hat. Als Die letzten Tage der Ceauúescus 2009/10 durch Rumänien, Deutschland, die Schweiz und Frankreich tourten, stimmten viele Berichte in Zeitungen, Radio- und Fernsehkanälen teilweise bis in die Wortwahl miteinander überein: In diesem Reenactment des Prozesses gegen das Ehepaar Ceauúescu am ersten Weihnachtstag 1989, das mit der Erschießung der beiden Angeklagten endete, sei es um eine möglichst pedantische Reproduktion dessen gegangen, ›was geschehen war‹ – also um das, was seit Aristoteles als Nullpunkt der Historiografie gilt. »Jede Geste, jede Bewegung ist wahr«, hieß es in einer Reportage des deutschen Senders 3Sat11; das TF1 war Zeuge einer »zugleich gespenstischen und hyperrealistischen Reproduktion eines Justizmordes«12; DIE WELT erlebte einen »quälend dichten, absurd detailgenauen Abend«13; das ARD Mittagsmagazin urteilte: »Wirklichkeit und Theater – hier sind sie nicht mehr auseinander zu halten«14; Alexander Kluge wiederum wollte in seiner Gesprächssendung Bekanntmachung einem »bewegende[…n] Drama in der Tradition des Realtheaters von Peter Weiss«15 beigewohnt haben; und die rumänische Tageszeitung Adevarul – was passenderweise »Prawda«, also »Wahrheit« heißt – urteilte abschließend: »Als das Stück zu Ende und die Ceauúescus erschossen waren, senkte sich eine bleierne Stille

10 Rau, Milo: »Wiederholung und Wahrheit – Strategien der (Selbst-)Authentifizierung von Reenactments«, Vortrag gehalten im Rahmen der Tagung »Nicht hier, nicht jetzt. Das Theater als Zeitmaschine und die Geste des Reenactments« am Institut für Medien und Theater der Stiftung Universität Hildesheim in Zusammenarbeit mit dem Herder-Kolleg, November 2010. 11 Fernseh-Feature 3Sat, erstausgestrahlt in der Sendung Foyer vom 17.12.2009 (D 2009, R: Patricia Corniciuc). 12 Fernseh-Reportage TF1, erstausgestrahlt in der Sendung 18 Heures vom 5.2.2010 (F 2010, R: Jean-Philippe Equette). 13 Luehrs-Kaiser, Kai: »Der Ceauúescu-Prozess als Bühnenstück«, in: Die Welt vom 21.12.2009, S. 16. 14 Fernseh-Feature ARD Mittagsmagazin (D 2009, R: Herbert Gruenwald). 15 Gesprächsfilm SF1/RTL, erstausgestrahlt am 9.5.2011 in der Sendung Bekanntmachung (D 2011, R: Alexander Kluge).

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Abb. 1: Milo Rau, Die letzten Tage der Ceauúescus, 2009/10 über den Zuschauerraum. Zu real war das Gefühl, gerade einem wirklichen Mord beigewohnt zu haben.« Bei ebenso vielen Kritikern aber rief die als Tableau Vivant dargebotene Gerichtsverhandlung nicht Betroffenheit, sondern etwas ganz Anderes hervor: Langeweile. Jedes Räuspern, jede Handbewegung im historischen Video, jeden Hinweis der Überlebenden als integralen Bestandteil einer Inszenierung zu verwenden, führte zu einer Addition von Realitätssplittern, zu einer Apotheose des »Genau so«, der nicht nur alteingesessene Repräsentationskritiker nicht folgen wollten. Die Neue Zürcher Zeitung klagte, stellvertretend für viele: »Dieser Aufführung geht alles Dramatische ab«16, und die Kritikerin von Le Temps fühlte sich als »Geisel in der Wüste des Realen«.17 Was war hier passiert? Der erste Effekt – ich habe ihn den touristischdemokratischen genannt – ist recht einfach zu erklären. Denn die Rolle der Kunst (oder des Künstlers) ist in den »Letzten Tage der Ceauúescus« keine individuelle, sondern die, als Stellvertreter eines kollektiven Blicks zu fungieren: als Präsentator oder Aufbereiter jenes Ereignisses, jener Zeugenaussagen und Video-Aufnahmen, die der Zuschauer genau so zu ›kennen‹ glaubt, wie er den Eiffelturm oder den Grand Canyon ›kennt‹, ohne jemals 16 Geisel, Sieglinde: »Blick durch die vierte Wand«, in: NZZ vom 28.1.2010, S. 33. 17 Versieux, Nathalie: »Ceauúescu, les pièces du procès au théatre«, in: Le Temps vom 24.12.2009, S. 27.

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dort gewesen zu sein. Der Nachweis, der zu erbringen ist, ist deshalb folgender: Die Dinge, von denen erzählt wird, müssen nachgeprüft, den Zeugen muss zugehört, die Videotranskripte analysiert, der Prozess der ReInszenierung überwacht worden sein. Charlotte Cordays Tür musste besichtigt, das Klopfen aus dem Rauschen eines Tonbands extrahiert, der Schwung der unsichtbar klopfenden Hand einstudiert, jede theatrale Übertreibung unterbunden werden, um die Überschüssigkeit, den DokumentCharakter des Klopfens (und aller anderen Details) nicht zu gefährden. Eines steht neben dem anderen: vom leeren Raum über das Husten der Beisitzer, die Müdigkeit der Wachsoldaten, die gefalteten Zettelchen, die hereingetragen werden, die fernen Geräusche von Explosionen und Helikopterrotoren, das Räuspern Elena Ceauúescus, die katatonischen Handbewegungen Nicolae Ceauúescus, die Streitereien, das Übereinandersprechen, die Ablenkungen und Verirrungen des Diskurses zwischen Schauprozess und barer Beleidigung, das Flüstern der Richter, das Warten auf die Urteilsverkündung und das Urteil selbst, die Fesselung, die kaum verständlichen Schreie der Todeskandidaten, schließlich das Maschinengewehrfeuer hinter der Kaserne. »Es dauerte lang, bis die beiden Ceauúescus schliesslich ganz plötzlich aus dem Raum zu ihrer Hinrichtung gezerrt wurden«, schrieb die NZZ. »Auf der Bühne der nackten Wirklichkeit gab es keine Interaktion mit dem Publikum, dem einige Schauspieler hinter der unsichtbaren vierten Wand sogar den Rücken zukehrten.«18 Dass parallel zu der Inszenierung ein Dokumentenband und zusätzlich ein Dokumentarfilm erschien, dass Die letzten Tage der Ceauúescus in Rumänien Hunderttausende von Einträgen in Blogs und auf Diskussionsforen hervorrief, dass eine Unterlassungsklage des Sohnes des ermordeten Diktatoren-Paars die Folge der Bukarester Gastspiele war und historische Zeitschriften die Transkripte der geführten Interviews abdruckten, dass also letztlich den Künstlern die Kontrolle über ihre Produktion als theatrale völlig abhandenkam, ist nicht Zusatz, sondern Notwendigkeit einer entschieden demokratischen Inszenierungsform. Etwas wird hingestellt, völlig bedeutungsoffen. Die Linie zwischen Sinn und Sinnleere wird nicht im intensiven künstlerischen Akt überschritten, sondern wie in einem Archiv der Bewegungen systematisch entordnet und auf einer Ebene radikaler Gleichheit neu angeordnet. Die demokratische Inszenierungsform

18 Geisel: »Blick durch die vierte Wand«.

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steht neben ihrem Werk wie Kafkas Bauer neben dem Getriebe der Stadt, und wie in Dziga Vertovs Mann mit der Kamera resultiert der Wirklichkeitseffekt der »Letzten Tage der Ceauúescus« nicht aus einem plötzlichen Überfluss, aus einer blitzartigen Finsternis des Sinns – die demokratische Inszenierungsform ist Überfluss, sie zeigt die völlige Unbekanntheit des scheinbar Bekannten. Sie entwickelt ein szenisches Archiv kollektiven Wissens, in dem jeder mit jedem verbunden ist, und sie bereitet der Auslegung und Aufhellung dieses Archivs in demokratischen, juristischen, historischen Diskursen eine Bühne – die, im performativen Sinn, leer ist. Und diese extreme Auszehrung des Sinns, diese fast schon höhnische Bedeutungsoffenheit, die sich an keinen speziellen Diskurs anlehnt, sondern an alle gleichzeitig, die jeden originären Produzenten in dem vor sich hergetragenen Wiederholungscharakter leugnet, die schließlich die Schauspieler zu inspirierten Marionetten degradiert und ihre Darstellungspräsenz gleichmäßig und pedantisch über alle Handlungen ausgießt, als hätte es so etwas wie ›Drama‹ oder ›Figur‹ oder ›Agency‹ nie gegeben (oder dann für alle Dinge, Menschen und Handlungen zu gleichen Teilen), bricht offensichtlich derart extrem mit der postmodernen Vorstellung der künstlerischen Handlung als intensive, exemplarische Appropriation von Welt, dass nur der Vorwurf der Langeweile und des regressiven Rückschritts hinter das Spiegelstadium der Moderne, kurz, des Verrats an der mühsam erworbenen Autonomie der Kunst selbst die Folge sein kann. Wie ich gern abschließend zeigen will, wird damit eine sehr alte Diskussion darüber, was Kunst und was nicht Kunst ist, wieder aufgenommen. Denn das Faktum, dass Die letzten Tage der Ceauúescus auf einer Bühne (oder verschiedenen Bühnen) stattfand, macht offensichtlich die Frage akut, inwiefern und wie weit diese ›totale Auszehrung des Sinns‹ nicht nur als demokratisch-touristische (also wissenschaftliche, journalistische oder juristische), sondern eben auch als elitär-akademische (also ästhetische) lesbar ist. Welcher Bruch wird hier mit der seit dem performative turn vorherrschenden Traditionslinie des ästhetischen Akts als punctum provoziert – und wie kann dieser Bruch für die Ideologie des punctums selbst wieder verfügbar gemacht werden?

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Jacques Rancière, der Barthes’ Wirklichkeitseffekt vor nicht allzu langer Zeit einen Essay19 gewidmet hat, zitiert in ihm eine Kritik, die vor hundertfünfzig Jahren anlässlich des Erscheinens von Flauberts Roman Madame Bovary erschienen ist. Sie nimmt auf eine fast unheimliche Weise die zentralen Kritikpunkte an Die letzten Tage der Ceauúescus vorweg, die ich weiter oben kurz benannt habe: das völlige Desinteresse am Management der Intensitäten und die daraus resultierende (scheinbare) Form- und Planlosigkeit des Stoffes, die durchgehaltene Unbeteiligtheit der Erzählhaltung, die, wie die NZZ in Bezug auf einige Darsteller der »Letzten Tage der Ceauúescus« schrieb, gleichsam »mit dem Rücken zum Publikum« steht. »Dieses Buch ist kein Roman«, hieß es in besagter Kritik an Flaubert, »es fehlt dieses Besondere, Schöpferische, das Künstlerische in Aufbau und Entwicklung des Stoffs, das die Handlung auf geheimnisvollen Wegen, die nur das Genie des Autors findet, der Auflösung entgegen führt. Er schreibt ohne Plan, er schiebt seinen Stoff ohne einen übergeordnetes Konzept vor sich her. Das ist ein Spaziergang durch das Bedeutungslose – und nur um des Vergnügens willen, sich dort zu ergehen.«20

Obwohl Flauberts pedantische Recherche-Strategien bekannt sind und seine theatrale Ausformung und Oralisierung der Madame Bovary im gueuloir (Schreiraum) an eine Inszenierung von Schrift denken lässt, so scheint dieser Vergleich doch zu hinken. Denn offensichtlich, wie Roland Barthes in L’effet de réel schreibt,21 referiert Flaubert, wenn er beispielsweise Rouen als Reigen von pedantisch verkoppelten Details beschreibt, kein historisches, sondern ein kulturelles Ereignis: Die Geburt des gewöhnlichen Blicks, der eine Stadt zugleich als unüberschaubare (und eben nicht spezifische) Menge von Handlungsmöglichkeiten und als (im naivsten Sinn schönes) Postkartenmotiv sieht. Denn obwohl es möglich wäre, dass jemand, der in einer Postkutsche in Rouen eintrifft, eine objektiv nicht

19 Rancière, Jacques: »Der Wirklichkeitseffekt und die Politik der Fiktion«, in: Dirck Linck et al. (Hg.): Realismus in den Künsten der Gegenwart, Zürich: diaphanes 2010, S. 141–158. 20 Ebd., S. 143. 21 Barthes: »L’effet de réel«, S. 84f.

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unterscheidbare Sicht auf die Stadt hätte, so liegt darin, so Barthes, nicht Flauberts Anstrengung; sie liegt in der Überblendung eines Bilds (peinture) im Sinne einer völlig ästhetisch legitimierten Ekphrasis mit den »referentiellen Zwängen«22, also dem, was ein beliebiger Reisender, würde er einen Ausflug nach Rouen machen, tatsächlich sehen würde. Was Flaubert unternimmt, ist die Inszenierung eines völlig künstlichen Rouen, das dem wirklichen Rouen nur in jener von Platon so verachteten, von Aristoteles so geschätzten Qualität der Meinung (der doxa) gleicht: dass alle sich darauf einigen könnten, dass es wohl (eben der Wahrscheinlichkeit nach) Rouen ist. Was er beschreibt, ist nicht eine Stadt, es ist ein kulturelles Narrativ: ›Rouen‹. Und was er erfindet, was er zur Verfügung stellt, ist eine demokratische Schreibweise, ist der gewöhnliche Blick, ist letztlich ein kollektives, keinem spezifischen Drama unterworfenes Archiv. Genau dies ist es, was auch in Die letzten Tagen der Ceauúescus geschieht: Ein demokratisches Narrativ, ein medialer Mythos wird auf die Bühne gehoben, wird als Bild (peinture), als Ekphrasis behandelt. Die Handelnden darin sind aller Strategie beraubt, sie können ihre Wünsche weder den Dingen noch dem Zuschauer aufzwingen, und das Drama ist keines ihrer Absichten, sondern das einer Anwesenheit in einem bestimmten Raum (in Rumänien) zu einer bestimmten Zeit (dem Ende des historischen Kommunismus). Die Handlung von Die Letzten Tage der Ceauúescus ist die kollektive Anwesenheit in einem jedermann bekannten, mythischen Ereignis – und letztlich ist dieses Ereignis selbst, wie Flauberts ›Rouen‹, als historisches nur noch ein Vorbild, ein Vorwand. Der innerste Widerspruch des Realismus seit Flaubert, die unauflösbare Spannung zwischen Referenzialität und Darstellungspräsenz, zwischen kulturell tradiertem Vorbild und auf der Bühne (oder im Buch oder im Film) erscheinendem Abbild als Abfolge praktischer und materieller Details, macht die ›Handlung‹ dieses Stückes aus. Was Die letzten Tage der Ceauúescus unfertig, vielleicht und bloß experimentell, postulieren, ist eine Kunst nach der Kunst, ist eine Ausdehnung des Wirklichkeitseffekts auf die Gesellschaft der Dinge und der Menschen überhaupt. Es ist, um noch einmal Rancière zu zitieren, die Erprobung einer »Stimme, die eine Vielzahl von Stimmen und Erfahrungsweisen in sich aufnimmt«23 – aber

22 Ebd., S. 85. 23 Rancière: »Der Wirklichkeitseffekt und die Politik der Fiktion«, S. 156.

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genau hier und genau jetzt, an diesem Ort und nirgendwo sonst. Mit genau dieser Lautstärke und genau diesen Schweigsamkeiten, in genau dieser Länge und mit genau diesem Ende – genau so und nicht anders.

Rekonkretisierungen Der Filmemacher Romuald Karmakar über Das Himmler-Projekt und Hamburger Lektionen I M G ESPRÄCH MIT D IETMAR K AMMERER

AUS : D AS H IMMLER -P ROJEKT (1:39:10–1:41:01) Manfred Zapatka: »Ich will auch ein ganz schweres Kapitel hier vor Ihnen in aller Offenheit erwähnen. Es soll zwischen uns ausgesprochen sein und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. Genausowenig, wie wir am 30. Juni 1934 gezögert haben, die befohlene Pflicht zu tun und Kameraden, die verfehlt hatten, an die Wand zu stellen und zu erschießen. Wie wir darüber niemals gesprochen haben und sprechen werden. Das war so ein, Gott sei Dank, in uns wohnender Takt. Selbstverständlichkeit des Taktes. Dass wir uns untereinander nie darüber unterhalten haben, nie darüber sprachen. Es hat jeden geschauert und jeder war sich klar, dass er es das nächste Mal wieder tun würde, wenn’s befohlen wird und wenn’s notwendig ist. Ich meine die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht: ›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt Ihnen jeder Parteigenosse: ›Ganz klar steht in unserem Programm drin: Ausschaltung der Juden, Ausrottung machen wir, ha, Kleinigkeit!‹ Und dann kommen sie alle, alle die braven 80 Millionen Deutschen, jeder hat seinen anständigen Juden, sagt: ›Alle anderen sind Schweine, der is’n prima Jude‹. [Untertitel: Jemand lacht.] Und so gesehen: Es durchgestanden hat keiner. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Und dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen, anständig geblieben zu

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sein, hat uns hart gemacht, und ist ein niemals genanntes und ein niemals zu nennendes Ruhmesblatt.«

Dietmar Kammerer: Am 4. Oktober 1943 hält Heinrich Himmler im besetzten Polen vor 92 SS-Gruppenleitern eine Ansprache, die heute als »Erste Posener Rede« bekannt ist. Himmler war damals sowohl Reichsführer SS als auch Reichsinnenminister, er ist also auf dem Höhepunkt seiner Macht. Für Nazi-Deutschland sieht die Situation zu diesem Zeitpunkt allerdings alles andere als rosig aus. Kurz zuvor ist die Ostfront zusammengebrochen und jedem musste klar sein, dass Deutschland den Krieg nicht mehr gewinnen kann. Die Alliierten sind in Italien gelandet, die Russen sind auf dem Vormarsch. Himmler hält also unter anderem eine Durchhalterede und stimmt die Zuhörer darauf ein, in dieser Situation trotz allem weiterzumachen. Es gibt weitere Aspekte, aber auf die kommen wir noch zu sprechen. Während Himmler vor seinen Zuhörern in diesem Saal steht und spricht, zeichnet eine Wachsplatte seine gesamte Rede auf. Was Himmler sagt, soll für die Nachwelt erhalten bleiben. Es gibt also eine Originaltonaufnahme. Im Internet kann man die sogar in Auszügen anhören. Für das Himmler-Projekt hast du allerdings auf diese Aufnahmen verzichtet, du hast bewusst alle denkbaren authentisierenden Elemente draußen gelassen. Man hört zwar die Rede in ihrer ursprünglichen Form, nicht aber die Stimme Himmlers. Romuald Karmakar: Man hört in meinem Film nicht nur keinen O-Ton, man sieht auch kein einziges Bild von Heinrich Himmler. Man sieht nur Manfred Zapatka im Studio, das in grauen Farben gehalten ist, weil grau die neutralste Farbe ist. Zapatka ist in Zivil gekleidet und liest für den Zuschauer sichtbar vom Papier ab. Der ganze Film dauert drei Stunden und in dieser Zeit hört man die komplette Rede. Das Projekt entstand, weil es auch noch eine geschriebene Fassung dieser Rede gibt, die in Nürnberg als Dokument der Anklage verwendet wurde. Diese geschriebene Fassung der Rede ist die, die immer wieder in Geschichtsbüchern überliefert wird. Und wenn man jetzt diese Textfassung nimmt und parallel dazu die Audiofassung hört, merkt man, dass die Textfassung viele grammatikalische Fehler von Heinrich Himmler korrigiert.



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Beispielsweise sagt Himmler, als er auf die Vernichtung der Juden zu sprechen kommt, das sei ein »niemals genanntes, niemals zu nennendes« Irgendwas. In der Textfassung steht, es sei ein »niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes« Soundso. Diese Unterschiede finden sich im ganzen Dokument. Das war eigentlich der erste Auslöser, diese Divergenz. Wir haben die komplette Rede Himmlers anhand der Tonaufzeichnung transkribiert und gleichzeitig darauf geachtet, wie einige der Generäle auf bestimmte Passagen von Himmler reagieren. Dass jemand lacht oder jemand »Jawohl!« ruft. Solche Reaktionen haben wir als Untertitel angeführt, als Rekonkretisierung in einen sozialen Raum, in einen sozialen Körper. Dietmar Kammerer: Der Film präsentiert die Rede in der vollen Länge von 182 Minuten. Es gibt im gesamten Film lediglich etwa 50 Schnitte, also im Durchschnitt alle vier Minuten. Mal sieht man Manfred Zapatka frontal, dann wieder von der Seite, das ist alles. Das heißt, der Film konzentriert sich voll und ganz auf die Rede, und zwar in ihrer Originalform. Andererseits wird, und das finde ich sehr konsequent und absolut richtig, jede Imitation an die Geschichte, jedes Zeitkolorit verweigert. Kein Versuch, Himmler zu imitieren, kein schnarrendes Nazi-R, und was sich die Filmgeschichte noch so an Darstellungsmitteln ausgedacht hat. So hat Himmler im Übrigen auch gar nicht gesprochen. Himmler redet ja tatsächlich manchmal noch ruhiger als Zapatka, der immer wieder, finde ich, mit einem ganz harten Ausdruck, mit einer sehr kalten Stimme liest, ohne dass man allerdings das Gefühl bekommen würde, jetzt schlüpft er in eine Rolle. Romuald Karmakar: Es ist nicht böse gemeint, aber du machst jetzt genau das, was man gegenüber einem Schauspieler meiner Meinung nach nicht tun darf. Jeder kennt ja diese Zeitgeschichtsnarrative im Fernsehen. Da passiert eigentlich permanent Folgendes: Man sieht eine reale historische Person, dann wird gegengeschnitten auf den Schauspieler. Die stellt die reale Person mal jünger, mal älter dar, oder wie auch immer. Was soll ein Schauspieler in so einer Situation eigentlich machen? Er kann meiner Meinung nach nur verlieren. 1997 hat Manfred Zapatka Helmut Schmidt in Heinrich Breloers Todesspiel gespielt. Da wurde das genauso gemacht. Der echte Helmut Schmidt erklärt, was er damals alles Tolles

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getan und geleistet hat, dann sieht man Manfred Zapatka als Kanzler Schmidt in irgendeinem Büro in Bonn, der das nachspielt. Als Regisseur kann man so etwas nur machen, wenn einem die Schauspieler völlig egal sind. Als wir an die Arbeit zum Himmler-Projekt gegangen sind, habe ich Manfred Zapatka ganz bewusst nicht die originale Tonaufnahme vorgespielt. Für mich würde es nicht angehen, Himmlers Stimme nachzuahmen, sondern Zapatka sollte anhand des Textes selber seinen Weg dazu finden, natürlich mit mir. Indem er das tut, denke ich, ist es für den Zuschauer viel interessanter, weil man einerseits durch die Kunstfertigkeit von Zapatka dem folgen kann, was Himmler sagt, diesem Gedankengebäude, dieser ganzen Binnenlogik, und gleichzeitig aber immer wieder sieht, dass es ein Schauspieler ist, der uns diesen Text vorträgt. Diese beiden Parallelbahnen würde man zerstören, wenn man historische Fotos oder O-Töne verwenden würde. Dietmar Kammerer: Du hast den Begriff der »Rekonkretisierung« verwendet, den man nicht nur auf Das Himmler-Projekt, sondern ebenso gut auf die Hamburger Lektionen anwenden kann oder auch auf den Totmacher, der ja ebenso auf realen Protokollen beruht. Ich habe den Begriff auch in der Sekundärliteratur zu deinen Filmen gefunden. Stammt er von dir? Was verstehst du darunter? Romuald Karmakar: Ich glaube, dass der Begriff vom Historiker Ulrich Herbert stammt. Herbert hat 1996 eine wissenschaftliche Biografie über den Amtschef des Reichssicherheitshauptamtes Werner Best veröffentlicht. Diese Studie ist bis heute ein ganz wichtiges Buch im Hinblick auf den Umgang mit Täterforschung in Deutschland. Ich hatte damals die Rechte optioniert und wollte daraus einen Spielfilm machen, was sich irgendwann zerschlagen hat. Im Zuge dieser Recherchen für diesen Film bin ich immer wieder auf diese Posener Rede gestoßen, die ja als berühmt-berüchtigt oder schrecklich oder wie auch immer tituliert wird. Mir ist dabei aufgefallen, dass es immer wieder dieselben Stellen sind, die zitiert werden. Vor allem die über die »Ausrottung der Juden«. Liest man aber die gesamte Rede, dann fällt auf, dass Himmler eigentlich nur zwei Minuten lang von der Judenvernichtung spricht. Ansonsten redet er über einen riesigen Tugendkatalog, den offenbar Mitglieder der SS, also auch die Generäle der SS,



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nicht einhalten – da geht es ums Trinken, um Korruption und so weiter. Dann ging das eben sehr, sehr lange um den Umgang mit den slawischen Völkern. Viele kennen sicherlich den »Generalplan Ost«, den sie eigentlich noch vorhatten, nach der Judenvernichtung. Im Oktober 1943 war die Judenvernichtung ohnehin schon mehr oder weniger durch, die ersten Vernichtungslager wurden schon wieder abgerissen. Das Hauptthema der Rede und damit dieses Filmes ist eigentlich der Umgang mit den slawischen Völkern. Und das ist, was wir eigentlich mit »Rekonkretisierung« meinen. Dass man ein häufig einseitig und verkürzt benutztes Dokument, das gewissermaßen ein Eigenleben in der Geschichtsforschung hat, zurückführt auf seinen Ursprung und in den Kontext der eigentlichen Redesituation stellt. Das ist im Prinzip das, was mich bis heute beschäftigt, auch später bei den Hamburger Lektionen, bei der die Rede eines Imams die Grundlage bildet. Es gibt diese Zitate, die allen bekannt sind, aber was wird eigentlich davor und danach gesagt? Wie baut sich das auf? Darin liegt mein eigentliches Interesse. Natürlich gehört dazu die klassische Recherche: Wo fand das statt, wie viele Leute waren da und so weiter. Aber vor allem geht es um die Kontextualisierung der bekannten Zitate und darum, daraus einen Erkenntnisgewinn zu erzeugen für den, der sich dem aussetzt. Offenbar haben, so kam das dann auch in der Rezeption des Filmes heraus, viele Leute diese Rede noch nie komplett gelesen. Ich wünsche mir, dass man sich in der Schule im Geschichtsunterricht oder in den Deutschstunden oder wann auch immer mal die drei Stunden Zeit nehmen würde, um die Schüler auf diese Rede zu stoßen. Ich glaube, das hätte mir viel mehr erklärt und viel mehr gebracht und viel mehr Gedanken in Gang gesetzt als dieses immer schon Bekannte und Vorgekaute, was man dann halt so aufsaugen soll. Dietmar Kammerer: Aber es ist dir ja nicht nur darum gegangen, die Rede einmal in ihrer kompletten Länge und ihrem kompletten Inhalt darzustellen und also darum, nichts zu verkürzen. Dafür hättest du genauso gut auf die redigierte Textversion der Rede zurückgreifen können, die sich inhaltlich nicht wesentlich vom gesprochenen Wort unterscheidet. Trotzdem hast du den Film auf die Tonaufzeichnungen gestützt.

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Abb. 1: Manfred Zapatka in Das Himmler-Projekt Romuald Karmakar: In der schriftlichen Textform sind keine Reaktionen aus dem Saal enthalten. Es gibt in der Tonaufzeichnung nach 10 oder 15 Minuten eine Stelle, an der Heinrich Himmler seine Rede selbst unterbricht, weil er das Gefühl hat, dass beim Durchgang in die Küche ein Schacht undicht ist. Das ist der einzige Moment, in dem etwas Unvorhergesehenes passiert. Da entsteht auf einmal eine ziemlich absurde Situation, in der man einerseits eine brutale Rede hält, die man dennoch auf Wachsplatten aufzeichnen lässt, und gleichzeitig möchte man nicht, dass das Küchenpersonal etwas davon mitbekommt. Es ist gewissermaßen eine Geheimrede, die für die Nachwelt aufgezeichnet wird. Auf einmal machen sich die Nazis, die gerade Europa terrorisieren, Gedanken über eine Matratze und einen undichten Schacht. Dietmar Kammerer: An dieser Stelle macht der Film zwei Dinge gleichzeitig. Er erscheint einerseits völlig authentisch, weil der Zuschauer über diese Unterbrechung, diese Störung einen Einblick kriegt, wie die offizielle Fassade zerfällt. Wir sind also ganz nah am damaligen Geschehen dran. Andererseits distanziert sich der Film in der Szene von seiner eigenen Inszenierung, weil er den sonstigen Aufbau verlässt, weil Zapatka in die Kulissen wechselt und wir den ganzen Studioaufbau zu sehen bekommen. (Abb. 1) Romuald Karmakar: Genau diese Passage und die Unterhaltungen im Hintergrund fehlen in der Textfassung. Wenn Manfred sozusagen aus dem Film aussteigt, ist es für mich eine nur logische Konsequenz, dass man die



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Anordnung des Films transparent macht. Es muss deutlich werden, dass wir einen Schauspieler sehen und ein Projekt, in dem der Umgang mit einem historischen Dokument dargestellt wird. Das leistet genau diese Stelle: Er steigt aus dem Film aus, der Zuschauer sieht alle Kameras, das ganze Studiodekor, und danach steigt Zapatka wieder in den Film ein. Dieser Moment muss visuell deutlich werden, ich bin ja auch ein Filmemacher und kein Historiker, oder Wissenschaftler. Mich interessieren filmische Erzählformen. Dietmar Kammerer: Wobei aktuell im Kino ja gerade Erzählformen dominieren, in denen der Unterschied zwischen Schauspieler und historischer Figur verwischt oder überdeckt wird. Überdeutlich etwa bei Der Baader-Meinhof-Komplex von Uli Edel, wo die Werbekampagne ja gerade darauf aufbaute, dass dieser Schauspieler Andreas Baader ist, dass diese Schauspielerin Gudrun Ensslin ist. Romuald Karmakar: Soll Manfred Zapatka den Heinrich Himmler so spielen, wie Bruno Ganz den Adolf Hitler spielt und dadurch Helmut Kohl in Verzückung versetzt hat? Möchten wir, dass das Publikum anschließend zu Zapatka geht und sagt: Mensch, Manfred, wie Sie den Himmler gespielt haben, große Klasse! Und fahren wir nach Posen und drehen am realen Ort? Das ist für mich nichts anderes als Suggestion von Geschichte, die genau das Gegenteil von dem erzeugt, was intendiert ist. Wenn zum Beispiel Bernd Eichinger immer wieder erzählt hat, wie beim BaaderMeinhof-Komplex recherchiert wurde, ob diese Person nun von links oder von rechts durch die Tür gekommen ist, dann ist das komplett uninteressant. Indem man vorgibt, dass man sich über den Eingang aus der linken oder rechten Tür Gedanken gemacht hat, scheinen die Leute anzunehmen: Ja, der weiß, was er tut, das ist jetzt richtig, was dort getan wird. Aber was sie erzählen und wie sie es inszenieren, ist dann nur noch sekundär. Das ist für mich ein großes Problem, vor allem im Hinblick auf den Umgang mit Originaldokumenten. Dietmar Kammerer: Filme wie Der Baader-Meinhof-Komplex oder Der Untergang versuchen, authentisch zu wirken mit den Mitteln der Ausstattung und des Dekors. Wir dürfen sozusagen darauf vertrauen, dass jeder

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Uniformknopf historisch belegbar ist. Das macht diese Filme natürlich zu idealen Medien im Geschichtsunterricht, wo man den Schülern dann sagen kann: Seht her, so hat das ausgesehen damals. Und die Schülerinnen und Schüler sehen das und sagen: Aha, so sah also ein Nazi aus oder so sah ein Terrorist damals aus. Was dabei völlig verloren geht, ist Geschichte als etwas, das Bezug hat zur gelebten Gegenwart der Zuschauer, zu den Leuten, die im Kino sitzen und den Film sehen. Das Himmler-Projekt ist für mich ein Film, dem man sich aussetzen muss, und zwar in voller Länge, und man muss erleben, was es heißt, diese Rede vorgeführt zu bekommen. Dass man Zapartka so lange zuhört, bis es ununterscheidbar wird: Spricht er jetzt mich an oder höre und sehe ich nur zu, wie da einer spricht? Spricht er mich an? Es gibt da eine Passage, in der Himmler sich darüber auslässt, dass er Verräter mit dem Tode bestrafen wird, und zwar völlig unabhängig von Stand oder Verdienst. Wer sich verfehlt – und da reicht es schon aus, laut am Endsieg zu zweifeln –, dem wird er »den Kopf vor die Füße legen«. Das sorgt für Abschreckung. Himmler sagt, ich tue das; er sagt nicht, die SS oder die Polizei wird diese Verräter kriegen, er sagt: Ich mache das. Ich hatte den Eindruck, dass Zapatka in dieser Passage öfter als sonst frontal gezeigt wird, wie in direkter Adresse ans Publikum. Romuald Karmakar: Irgendwo musst du ja die Kamera hinstellen, wenn du Filme machen willst. Natürlich muss man entscheiden: Welche Einstellungen brauchen wir? Alle vier Kameras haben übrigens durchgehend gefilmt. Das ging immer so lange, bis Manfred sich versprochen hat oder mir irgendetwas nicht gefallen hat. Dann sind wir wieder eine Seite oder ein Achtel oder wie auch immer zurück gegangen. Und so haben wir uns dann durch diese Rede aufgenommen. Der Film wurde an nur einem Tag gedreht. Erst beim Schnittprozess habe ich mir überlegt, welche Einstellungsgröße oder welche Einstellung gefällt mir für diese oder jene Passage am besten. Ich habe den Kameramännern1 weder einen Drehplan gegeben noch ein Storyboard. Ich habe nur gesagt, ich möchte es nicht größer als so und das ist die weiteste Einstellung. Es ist klar, dass man in diesem Fall keine Totalen macht, das sind relativ eingeschränkte Einstellungsmöglichkeiten.

1



Kamera: Bernd Neubauer, Werner Penzel, Florian Süssmayr.

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Ob die Kamera jetzt an der Stelle näher ran geht oder weiter weg, das kannst du so, wie wir es gedreht haben, nicht kontrollieren. Da musst du den Kameraleuten vertrauen. Dasselbe gilt im Übrigen für Manfred Zapatka. Ich muss, damit wir das überhaupt hinkriegen an diesem einen Tag, Vertrauen zu ihm haben. Zum Beispiel darüber, dass er von sich aus weiß, wann er vom Blatt hochsieht. Man kann mit solchen Bewegungen die schlimmsten Fehler machen. Zum Beispiel, je brutaler eine Redepassage ist, desto mehr hat man vielleicht das Gefühl, an dieser Stelle vom Blatt aufsehen zu müssen. Genau den Fehler aber wollte ich vermeiden. Ich wollte nicht, dass Manfred Zapatka nach einer solchen Passage direkt in die Kamera blickt, im Sinne von: Hat es jetzt jeder kapiert? Um so einen Betroffenheitsduktus zu vermeiden, habe ich gesagt: »Wie bei Margarethe von Trotta«. Oder am Ende nur noch: »Trotta«. Zapatka wusste dann sofort, was ich nicht will. Das Himmler-Projekt ist ein Film von drei Stunden, in denen eigentlich nichts passiert außer, dass ein Mann liest. Da musst du sehr präzise Strategien der Inszenierung entwickeln. Je reduzierter die Möglichkeiten sind, desto genauer muss man mit diesen umgehen und wissen, was sie bedeuten, weil sie sich im Endergebnis immer potenzieren. Das Besondere an der Kunst von Manfred Zapatka ist, dass er in seiner Arbeit parallele Bewegungen erzeugen kann. Einerseits wird man in seinen Vortrag eingebunden, herangezogen an den Text, und gleichzeitig schafft er immer wieder die Distanz, in der man das Ganze als Gedankengebäude betrachten kann. Das können wirklich nicht viele. Vielleicht sollte ich noch kurz erwähnen, dass ich denselben Film auch mit Jürgen Vogel gedreht habe. Weil ich dachte, naja, drei Stunden, ein Schauspieler, das wird nie gehen, hatte ich ursprünglich vor, dass sich die beiden abwechseln. Dann habe ich gemerkt, dass man beim Zusehen immer wieder anfängt, die eine Qualität gegen die andere aufzurechnen und dass dadurch der Inhalt in den Hintergrund gerät. Dietmar Kammerer: Diese verschiedenen Grade des Heranziehens und der Distanzierung werden auch an einer Stelle deutlich, an der Manfred Zapatka sich mehrere Male verspricht. Er setzt immer wieder neu an, kommentiert seine Fehler, ich glaube, man hört dich sogar im Off lachen. Warum hast du das dringelassen?

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Romuald Karmakar: Es gibt eine Stelle, in der Manfred Zapatka über den Pazifikkrieg sprechen muss. Er bleibt am Wort »Pazifik« hängen und ärgert sich darüber. Normalerweise würde man das rausschneiden, auch, um den Schauspieler zu schützen. Aber ich habe beim Schnitt und beim Sichten des Materials gemerkt, dass das Besondere an diesem Film sein kann, dass er sich so viel Zeit nimmt. Wie gesagt, drei Stunden, fünfzig Schnitte, jeder durchschnittliche Spielfilm heute würde mehr als tausend Schnitte haben. Manfred Zapatka liest also minutenlang die kompliziertesten Dinge vor, und auf einmal hängt er an »Pazifik«. Das hat mir ganz gut gefallen, weil man als Zuschauer plötzlich wieder ein Gefühl dafür bekommt, aha, das ist ja eigentlich eine Person. Das ist ein Mensch! Und eben nicht Heinrich Himmler. Einfach dieser Manfred Zapatka, der es irgendwie schafft, die vielen Brücken und verlorenen Gedankengänge von Himmler zu fassen. Dietmar Kammerer: Lass uns zum Schluss des Gesprächs noch auf die Hamburger Lektionen zu sprechen kommen, der 2006 entstanden ist und in dem wir wieder Manfred Zapatka in einem ganz ähnlichen und doch ganz unterschiedlichen Setting sehen. Wie kam es zu diesem neuen Film? Romuald Karmakar: Die Hamburger Lektionen sind zwei Reden innerhalb von zwei, drei Tagen, die in der Hamburger Al-Quds-Moschee gehalten wurden im Januar 2000. Das ist die Moschee, in die drei Todespiloten von 9/11 regelmäßig hingegangen sind. Und Mohammed alFazazi, ein sunnitischer Imam aus Marokko, war bis Oktober 2001 Imam dieser Moschee. Anschließend ist er nach Marokko zurück. Und diese Reden oder diese Lektionen – so muss man sie eigentlich beschreiben – wurden von irgendjemandem, wer, ist nicht bekannt, ganz legal im Sinne des Archivierens, des Erhaltens des Gesagten, auf Video aufgezeichnet. Das heißt, diese Bänder wurden innerhalb der Moschee wie ein Buch zum Leihen angeboten. Nach 9/11 tauchten diese Bänder mit den ganzen Ermittlungsunterlagen wieder auf. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschien im Juli 2005 kurz nach den Anschlägen in London ein Artikel über diesen Imam.2 Da ist mir eigentlich klar geworden, komisch, es gab die Hamburger Zelle, aber irgendwie habe ich das Gefühl,

2

Laab, Dirk:

»Der

Lehrer des Terrors«,

Sonntagszeitung vom 17.7.2005, S. 49.



in:

Frankfurter Allgemeine

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Abb. 2: Manfred Zapatka in Hamburger Lektionen das hat mit Hamburg, mit Deutschland überhaupt nichts zu tun. Dirk Laabs, der Journalist, hat mir diese Videobänder als Kopie gegeben sowie eine inhaltlich zusammengefasste Übersetzung des Bundeskriminalamtes gezeigt. Ich habe die Reden daraufhin komplett aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzen lassen, von einem zehnköpfigen Team, um dann zu entscheiden, ob man daraus einen Film machen kann. Dietmar Kammerer: Die Inszenierung erinnert in vielem an Das Himmler-Projekt. Aber kommen wir auf die Unterschiede zu sprechen. Beispielsweise wird viel deutlicher, dass Manfred Zapatka abliest. Statt an einem Pult zu stehen, sitzt er auf einem Stuhl. Zugleich gibt es Momente der Inszenierung der damaligen Situation. Die »Lektionen« bestanden ja aus Antworten auf Fragen, die Fazazi gestellt worden sind. Diese Fragen wurden aufgeschrieben und ihm auf Zetteln gereicht. Manfred Zapatka sitzt also auf einem Stuhl und nimmt die Fragezettel von links auf, einmal reicht man ihm sogar einen Zettel ins Bild, und legt die Rede rechts von sich ab. (Abb. 2) Das wiederholt sich einige Male. Diese Anordnung und diese Gesten verweisen sozusagen aus dem Studio hinaus. Obwohl die Distanz sehr deutlich bleibt, ist das eine Inszenierung oder ein Reenactment der damaligen Situation in Hamburg. Dieser Eindruck, wirklich dort zu sein und nicht in einem Studio, wird noch dadurch verstärkt, dass du zu Beginn des Films eine Aufnahme der Moschee am Steindamm 103 in Hamburg zeigst. Du stellst einen Bezug zum realen Ort her.3 (Abb. 3)

3

Die Al-Quds-Moschee in Hamburg wurde im August 2010 geschlossen.

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Abb. 3: Moschee am Steindamm 103, Hamburger Lektionen Romuald Karmakar: Fangen wir an bei diesem Bild. Wie soll man das erklären … Inzwischen ist es ja offensichtlich, aber damals hatte ich immer den Eindruck, dass die Deutschen denken, mit den Terroristen hätten sie nichts zu tun. Es gibt zwar Anschläge in Spanien, in England und so weiter und wir hatten diese Zelle, aber eigentlich sind wir die Glücklichen, die nie richtig betroffen waren. Heute wird man das vermutlich anders empfinden, nach der Sauerland-Gruppe und so weiter. Da wurde behauptet: Jetzt ist der Terrorismus auch bei uns. Dabei war er in Wirklichkeit schon lange vor 9/11 bei uns, nämlich spätestens, an dieser Rede kann man es erkennen, im Januar 2000. Da werden ultra-harte Sachen gesagt, die meiner Meinung nach unter strafrechtlichen Gesichtspunkten den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Was wir in langer Arbeit und in langen Protesten der Staatsanwaltschaft klar gemacht hatten, nämlich wie man mit Neonazis umgehen soll, darauf wurde hier überhaupt nicht geachtet. Was mir wichtig war, war die Frage, wie das Denken dieses tatsächlich sehr intelligenten, jedes Wort abwägenden Menschen eigentlich funktioniert. Das kann man nur erkennen, wenn man den Text liest. Wenn man es verbatim anbietet. Die arabischen Begriffe habe ich integriert, damit jedem sichtbar ist: Wir übersetzen dieses Wort so und so. Dann kann man sagen, das ist falsch oder nicht falsch oder jemand hätte es anders übersetzt. Aber es ist eine Form der Transparentmachung unserer Arbeit. Das Bild der Moschee am Steindamm habe ich benutzt, um von Anfang an klar zu machen, dass es sich bei diesen Videoaufnahmen um ein deutsches Dokument handelt, auch wenn Arabisch gesprochen wird. Dieses Videodokument stammt aus unserer Gesellschaft. Man sollte sehen, dass diese Moschee lange Jahre am Steindamm war und man vielleicht oft daran



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vorbeigefahren ist. Man würde nie im Leben darauf kommen, dass das eigentlich auch eine Moschee sein kann.

F ILMOGRAFISCHE A NGABEN Das Himmler-Projekt Regie: Romuald Karmakar Buch: Romuald Karmakar Kamera: Bernd Neubauer, Werner Penzel, Florian Süssmayr Schnitt: Nicholas Goodwin Produktion: Pantera Film, Romuald Karmakar Produktions-Land+Jahr: Deutschland, 2000 Ton: Klaus-Peter Kaiser Darsteller: Manfred Zapatka Farbe, 182 Min Hamburger Lektionen Regie: Romuald Karmakar Buch: Romuald Karmakar Kamera: Fred Schuler (ASC), Frank Müller, Casey Campell Schnitt: Romuald Karmakar, Karin Nowarra Produktion: Pantera Film GmbH in Zusammenarbeit mit Dirk Laabs Produktions-Land+Jahr: Deutschland, 2005 Ton: Paul Oberle Darsteller: Manfred Zapatka Farbe, 133 Min Websites: www.romuald-karmakar.de/ www.youtube.com/user/cinekarmakar

Authentizität und Wiederholung in Alltagskultur, Politik und Religion

Standing at the Crossroads Konstruktionen von Authentizität in der deutschen Rezeption des Blues M ICHAEL R AUHUT »Ihr wollt authentischen Blues. Seid Ihr denn auch ein authentisches Publikum?« WALTER LINIGER1

Der Blues, eine tragende Säule afroamerikanischer Musik, etablierte sich in beiden Teilen Deutschlands Anfang der 1960er Jahre als Nischenkultur. Von angloamerikanischen Deutungsmustern geprägt, war seine Vermittlung und Rezeption in Ost und West hochgradig ideologisch aufgeladen. Er wurde nicht nur als unverfälschter Ausdruck von Gefühl, sondern auch als Medium des Protestes identifiziert. Die vorliegende Studie umreißt Muster der Vermittlung und Rezeption des Blues in Ost- und Westdeutschland. Sie beschränkt sich exemplarisch auf drei Ereignisse bzw. Phänomene: die American Folk Blues Festivals, das Selbstverständnis des bundesdeutschen German Blues Circle und den Blues als Lifestyle in der DDR. Anschließend soll die Rolle des Rezipienten, des Bluesfans, im Akt der Konstruktion von ›Authentizität‹ verortet

1

Mit diesem ironischen Seitenhieb reagiert der schweizerisch-amerikanische Bluesforscher und -musiker Walter Liniger gern auf die Wünsche seiner Zuhörer.

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und das Verhältnis von Authentizität und Norm resümiert werden. Doch beginnen möchte ich mit einem historischen Exkurs.

D ER SCHÖNE S CHEIN : A UTHENTIZITÄTSDISKURSE IM K ONTEXT

DES

B LUES

Den Blues zum ›Schrei des Herzens‹ zu verklären, zur Klangwerdung von Leidenschaft und Leid, ist seit jeher das zentrale Stereotyp seiner medialen Wahrnehmung und Vermarktung. Schon der selbst ernannte ›Father of the Blues‹, der afroamerikanische Komponist und Bandleader William Christopher Handy, packte seine angeblich erste Begegnung mit dieser Musik 1903 in markige, werbespotverdächtige Slogans, als er von einem »abgerissenen« Slidegitarristen berichtete: »Sein Gesicht trug die Trauerspuren der Jahrhunderte.«2 Ähnlicher Klischees bediente sich die Reklame für Schellackproduktionen, die ab den 1920er Jahren unter dem Label ›Race Records‹ veröffentlicht wurden. Einen ›weißen‹ Massenmarkt eroberte der Blues im Kielwasser des Jazz, mit dem Zielgruppengrenzen sprengenden Crossover des Rhythm & Blues und Rock ’n’ Roll, vor allem aber im Zuge der zyklisch wiederkehrenden Suche nach den Wurzeln amerikanischer Musik. Am 23. Dezember 1938 präsentierte der Talent-Scout und Plattenproduzent John Hammond zum ersten Mal die Spannbreite afroamerikanischer Populärmusik als hochkulturelles Konzertereignis. Die Veranstaltung in der ehrwürdigen New Yorker Carnegie Hall, annonciert als From Spirituals to Swing, räumte dem Blues einen gesonderten Platz ein. Der Sänger und Gitarrist Big Bill Broonzy, der bereits in den 1920ern nach Chicago gegangen war und bis dato über 200 Songs unter eigenem Namen aufgenommen hatte, wurde als Naturbursche angekündigt. Das Programmheft suggerierte, er käme direkt von einer Farm in Arkansas.3 Weil ein solches Bild, das die

2

Handy, William Christopher: Father of the Blues. An Autobiography, New York: Macmillan 1941, S. 74.

3

Vgl. den Abschnitt »Something about the Artists« im Reprint des Programmhefts, S. 11, Beilage zur CD-Box »From Spirituals to Swing. The Legendary 1938 & 1939 Carnegie Hall Concerts, Produced by John Hammond«, Vanguard Records 169/71–2, USA 1999.

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Tatsachen zwar verdrehte, sich perfekt in die rührseligen Projektionen fügte, wurde es über Jahrzehnte hinweg von der Presse routinemäßig recycelt. Mit dem Folk Revival, das ab Ende der fünfziger Jahre in den USA hohe Wellen schlug und auch Europa erfasste, begann eine neue Ära des Blues. ›Weiße‹ Intellektuelle erkannten in ihm das archaische, schützenswerte Volkslied und nicht zuletzt einen Kontrapunkt zum lasziven Hüftschwung des Rock ’n’ Roll. Sie filterten aus dem reichen Erbe einen dünnen Extrakt, überzogen ihn mit ihrer speziellen Vorstellung von ›Authentizität‹ und prägten fortan gültige Wahrnehmungsmuster. Genau genommen haben sie den Blues nicht der Vergessenheit entrissen und ›entdeckt‹, sondern durch den Akt der Interpretation und Mythologisierung nach ihrem Weltbild »konstruiert«4 und »redefiniert«.5 Einen Initialfunken spendete Samuel Charters The Country Blues von 1959. Durchaus als politische Streitschrift und flammende Parteinahme für die Kultur der Unterdrückten interpretierbar, zementierte das Buch legendenverhangene Sichtweisen. Auch in Deutschland, wo es 1962 als Übersetzung erschien, war sein Einfluss beachtlich. Was in den folgenden Jahrzehnten massive Kritik auf den Plan rief, wurde von etlichen Zeitgenossen als die wirklich »wahren Geschichten«6 rezipiert. Ebenfalls 1962 gab der bundesdeutsche ›Jazzpapst‹ Joachim Ernst Berendt eine Sammlung von Bluestexten heraus, die dem Boom Rechnung trug. »Die Blues-Renaissance ist großartig«,7 jubelte das im Winter 1961 verfasste Nachwort. Berendt bemerkte aber auch die Kehrseite der Medaille:

4

Vgl. Titon, Jeff Todd: »Reconstructing the Blues. Reflections on the 1960s Blues Revival«, in: Neil V. Rosenberg (Hg.): Transforming Tradition. Folk Music Revivals Examined, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 1993, S. 220–240, bes. S. 222f.

5

Vgl. Wald, Elijah: Escaping the Delta. Robert Johnson and the Invention of the Blues, New York: Amistad 2004, bes. S. 220–249.

6

Besprechung der deutschen Erstausgabe durch Zimmerle, Dieter, in: Jazz Podium 11 (1962), Nr. 10/11, S. 252.

7

Berendt, Joachim Ernst (Hg.): Schwarzer Gesang II – Blues, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1962, S. 108.

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»Die ›schwachen Punkte‹ der Blues-Renaissance werden deutlich etwa bei Brownie McGhee und Sonny Terry. Dieses wichtige Blues-Gespann aus dem Süden beschäftigt sich mit einem Male fast nur noch mit netten und vergnüglichen Songs, bei denen man schließlich auch am Elend der schwarzen Gefangenen im AngolaZuchthaus Spaß zu haben beginnt. Nun gab es gewiss immer schon fröhliche Blues, aber es ist auffällig, dass die fröhliche und parodierende Seite des Blues plötzlich in den Vordergrund getreten ist. Die Blues-Songs der neuen Blueswelle gewinnen etwas ›jugendbewegtes‹: jeder muss mitsingen können, und alles muss so sein, dass niemand etwas dagegen haben kann. […] Man hat schon einmal versucht, den Blues einem großen Publikum zu erschließen. Damals wurde der Rock ’n’ Roll daraus.«8

Berendt hielt an orthodoxen Positionen dieser Art bis zu seinem Tode fest. Für ihn war klar, dass kein ›Weißer‹ den Blues angemessen interpretieren kann. Noch in der 1996er Ausgabe seines Jazzbuches urteilte er ohne Umschweife: Spätestens, wenn ›weiße‹ Musiker »den Mund auftun, um zu singen, verblasst die Illusion der Authentizität. Dann hört im allgemeinen auch der Laie, wer weiß und wer schwarz ist.«9 Im Gegensatz zu den Romantikern und Hütern der reinen Lehre, die den Blues als eine Melange aus Blut, Schweiß und Mississippischlamm feierten, erkannte die kultur- und kapitalismuskritische Flanke hinter den Images diffizile Machtstrukturen. Für den amerikanischen Musikethnologen und Anthropologen Charles Keil verkörperte der Blues eine »weiße Vorstellung von Schwarzen«.10 Keil brachte 1966 die einflussreiche, über viele Jahre hinweg kontrovers diskutierte Monografie Urban Blues heraus. Das Buch war als Analyse und politisches Manifest, das seine Stimme gegen die Knechtung der Afroamerikaner in den USA erhob, konzipiert.11 Der Hinweis, dass der soziale Gebrauch von Musik und unterschiedliche Authentizitätsbegriffe auch von der Rassenzugehörigkeit und dem entsprechenden Platz in der Gesellschaft abhängen, findet sich ebenso bei Elijah Wald. In seiner Studie Escaping the Delta, die sich der »Erfindung

8 9

Ebd., S. 108f. Berendt, Joachim Ernst/Huesmann, Günther: Das Jazzbuch. Von New Orleans bis in die achtziger Jahre, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1996, S. 228.

10 Keil, Charles: Urban Blues, Chicago/London: The University of Chicago Press 1991, S. 232 (Nachwort zum Reprint der Originalausgabe von 1966).

11 Vgl. ebd., S. 226.

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des Blues« widmet, beschreibt der amerikanische Musiker und Autor den konträren Zugang, den ›Schwarze‹ und ›Weiße‹ zur mystischen Figur von Robert Johnson haben. Johnson starb 1938 mit nur 27 Jahren, vermutlich durch die Hand eines Nebenbuhlers. Bis heute gilt er als Pionier und Maßstab, als Inkarnation des Blues. Wald benutzt die Metapher einer »einzigartigen Brücke zwischen zwei völlig verschiedenen Welten«, wenn er Johnsons Qualitäten als Medium taxiert: Seinen zeitgenössischen, ›schwarzen‹ Anhängern wies er den Weg zu neuen Ufern, heraus aus der provinziellen Trostlosigkeit des ländlichen Südens der USA, weil er die Sounds der Radiostationen und Jukeboxes assimilierte; während die ›weißen‹ Fans Johnsons Songs als Brücke in die entgegengesetzte Richtung verstehen – tief hinein in das ›geheimnisvolle‹ Reich des Mississippi-Deltas,12 eine Gegend, die wohl auf ewig zur Wiege des Blues stilisiert wird.13 Die Authentizitätskonstruktionen, die das Bild des Blues bis in die Gegenwart prägen, haben eine lange Geschichte. Sie sind von komplexen Motiven durchzogen, von ökonomischen, politischen und ästhetischen Interessen. Letztlich ficht aber die Sichtweise der Romantiker, Exegeten und Kulturkritiker den spielerischen Umgang mit den Klischees, wie sie der Bluesliebhaber und -musiker pflegt, nicht an. Er hat einen anderen Begriff von ›Authentizität‹, begreift sie als Ideal der Kommunikation zwischen den Akteuren, die auf gleichen sozialen Erfahrungen gründet.14 Für ihn ist selbstverständlich, dass Kunst durch Projektionen lebt und nicht als fotografische Spiegelung von Realität. Der renommierte britische Bluesforscher Paul Oliver, in dessen Brust die Seelen des Akademikers und des Fans koexistierten, wusste um die Ambivalenz der Dinge und die Schwierigkeit, sie zu verbalisieren. Sein Schiedsspruch von 1960 klingt nicht weniger pathetisch und parteiisch als die blumige Verkaufslyrik der PR-Strategen, kommt dem Kern jedoch näher: »Für diejenigen, die den

12 Wald: Escaping the Delta, S. XVf. 13 Zu den urbanen Wurzeln des Blues vgl. Wicke, Peter: »Die Leiden des weißen Mannes. Konstruktionen von Authentizität in der Geschichte des Blues«, in: Michael Rauhut/Reinhard Lorenz (Hg.): Ich hab den Blues schon etwas länger. Spuren einer Musik in Deutschland, Berlin: Ch. Links 2008, S. 243–252, bes. S. 246–249.

14 Vgl. Wiseman-Trowse, Nathan: Performing Class in British Popular Music, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, S. 34.

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Blues hatten, für die, die den Blues lebten, für die, die mit dem Blues lebten, hatte der Blues einen Sinn. Aber denen, die außerhalb des Blues lebten, entzog sich seine Bedeutung.«15

D URCHBRUCH IN D EUTSCHLAND : D IE A MERICAN F OLK B LUES F ESTIVALS Das Jahr 1962 ist als Zäsur in die deutsche Popmusikgeschichte eingegangen. Im Oktober veranstaltete die Konzertagentur Lippmann + Rau zum ersten Mal das American Folk Blues Festival (AFBF). Sie engagierte Künstler, die bislang nur einer kleinen Loge von Kennern vertraut waren – darunter Memphis Slim, Willie Dixon und John Lee Hooker. Neun bundesdeutsche Städte standen auf dem Plan, außerdem Stationen in Österreich, der Schweiz, Frankreich und Großbritannien. Das Festival verhieß im Untertitel »Eine Dokumentation des authentischen Blues«, womit Lippmann + Rau ihre aufklärerische Vision in eine handliche Formel gossen. Fritz Rau erinnerte sich: »Wir wollten den Blues als Volksmusik einer unterprivilegierten schwarzen Minderheit präsentieren. Daher das ›Folk‹ im Titel. Der Zuhörer sollte die unterschiedlichen Traditionen kennen lernen: Country Blues, Delta Blues, City Blues, Chicago, West Coast, Texas usw. Das war schon ein bisschen Volkshochschule. Wir haben unser Anliegen in der Moderation und in den Programmheften mit deutscher Gründlichkeit erläutert und vermittelt. Rührend!«16

In der Anfangszeit waren die AFBF ein großer Erfolg. Sie fanden bis 1972 alljährlich17 in zahlreichen Städten West- und Osteuropas statt. Nach langer

15 Oliver, Paul: Blues Fell this Morning. Meaning in the Blues, Cambridge: Cambridge University Press 21994, S. 283.

16 N.N.: »Blues before Sunrise. Die Konzertveranstalter Horst Lippmann und Fritz Rau schrieben ein dickes Kapitel Popmusikgeschichte«, in: Michael Rauhut/ Thomas Kochan (Hg.): Bye bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, erweiterte Neuausgabe, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2009, S. 395–407, hier S. 400.

17 Die Ausnahme blieb 1971; in diesem Jahr fand kein AFBF statt.

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Pause starteten Lippmann + Rau 1980 eine zweite Staffel, die fünf Jahre später aufgrund sinkender Publikumsresonanz endete. Die Festivals präsentierten zwischen 1962 und 1985 durchweg ›schwarze‹ Künstler. 1964 und ’66 sowie 1982, ’83 und ’85 gastierten sie auch in der DDR. Der Andrang war enorm; er überstieg das Echo des Westens, wo in der Anfangsphase maximal 1000 Besucher pro Veranstaltung zu verbuchen waren, um ein Vielfaches. »Die Leute haben sich die Hände wundgeklatscht, es wurde ein Riesenerfolg«, bestätigte der Ostberliner Jazzexperte Karlheinz Drechsel. »1966 war der Friedrichstadtpalast zweimal ausverkauft, um 11.00 und um 14.00 Uhr. 6000 Zuschauer an einem Tag! Lippmann konnte es kaum fassen. Mit dem Blues kamen schwarze Künstler in die DDR – das war schon etwas Besonderes. Aber ich glaube nicht, dass die gewaltige Resonanz nur durch die Exotik zu erklären ist. Vielleicht spürte man im Osten noch deutlicher die Brisanz, die in dieser Musik steckt, das Oppositionelle, die Kontrahaltung.«18

Die sozialistische Presse lobte die Darbietungen als »ursprünglich und unverfälscht«19 und identifizierte den Blues als »Musik des anderen Amerika«:20 »Stets der Eingebung des Augenblicks folgend, brachten die Gäste aus den USA die Empfindungen der Neger angesichts der Rassendiskriminierung zum Ausdruck, spielten und sangen sie von bitteren und traurigen, aber auch von alltäglichen, heiteren Begebenheiten.«21 Eine solche Lesart unterschied sich kaum von bundesdeutschen Interpretationen. Tatsächlich fand zwischen West und Ost ein ideologischer Transfer statt. Karlheinz Drechsel, der sämtliche Auftritte des AFBF in der DDR moderierte, erinnerte sich:

18 Drechsel, Karlheinz: »Leuchtfeuer«, in: Rauhut/Kochan (Hg.): Bye bye, Lübben City, S. 403–404.

19 N.N.: »Großstadtblues vom 5. Kontinent«, in: Brandenburgische Neueste Nachrichten vom 6.11.1964, S. 6.

20 N.N.: »Musik des anderen Amerika«, in: Neues Deutschland vom 17.10.1966, S. 3.

21 N.N.: »Blues aus Chikago«, in: Berliner Zeitung vom 3.11.1964, S. 6.

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»Die Informationen bekam ich schriftlich von Horst Lippmann. Ich stellte in den Ansagen die Künstler vor, erzählte ihre Geschichte. Dass diese großartigen Musiker in den USA kaum beachtet wurden und mancher von ihnen am Rand des Existenzminimums lebte, das hat uns schon bewegt. Genauso das Thema Rassismus. Die Inhalte der Songs spielten ebenfalls eine zentrale Rolle. Daran lag dem Veranstalter, dass man erfährt, wovon eigentlich gesungen wird. Was ja auch keine schlechte Idee war.«22

Die Präsentation und Wirkung der AFBF verdeutlicht zwei wesentliche, systemübergreifende Aspekte der Bluesrezeption. Der erste ist prinzipieller Natur und damit gewissermaßen ›zeitlos‹. Bluesdiskurse waren und sind auf die ideologische Konstruktion von ›Authentizität‹ fixiert – ein zentrales Funktionsmoment von Popmusik überhaupt. ›Blues‹ fungiert als Gütesiegel, das sich tendenziell sogar von engen Stilkriterien löst, als ›Echtheitsversprechen‹ in einer Welt ›kommerzieller Deformationen‹. Dahinter steckt eine große Illusion: ›Reinheit‹ bietet weder die künstlerische Substanz, weil sie ein kaum entwirrbares Konglomerat von Quellen und Einflüssen repräsentiert, noch die Nischenexistenz. Auch sie ist in letzter Konsequenz an industrielle Mechanismen gekoppelt und damit Prozessen der Normierung unterworfen. Die Verklärung des Blues liefert ein Paradebeispiel der »Suche nach Authentizität«, die als »Orientierungshilfe für Menschen in modernen, komplexen Gesellschaften«23 funktioniert. Je größer die räumliche, vor allem aber die ethnische Entfernung ist, desto stärker wird er ideologisch aufgeladen.24 Was schon in früheren Zeiten an Glaubenssätzen unter den Apologeten des Blues kursierte, bekam mit den AFBF ein mächtiges Podium.25 In der Rückschau wird gern der vermeintliche Idealismus der Impresarios Horst Lippmann und Fritz Rau sowie der didaktische Impetus hervorgehoben und

22 Karlheinz Drechsel im Gespräch mit dem Autor am 17.6.2003. 23 Breidenbach, Joana/Zukrigl, Ina: Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt, München: Kunstmann 1998, S. 185.

24 Vgl. Hosokawa, Shuhei: »Blacking Japanese. Experiencing Otherness from Afar«, in: David Hesmondhalgh/Keith Negus (Hg.): Popular Music Studies, London: Arnold 2002, S. 223–237, bes. S. 226.

25 Die ersten beiden Jahrgänge wurden in Kooperation mit der Deutschen Jazz Föderation veranstaltet.

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dabei vergessen, dass die Konzertreihe ein sorgfältig kalkuliertes Geschäftsmodell verkörperte.26 Nicht nur der enorme Aktionsradius, der zahlreiche west- und osteuropäische Länder umfasste, sondern auch das ausgeklügelte Vermarktungskonzept waren Schlüssel des Erfolgs und wiesen künftige Richtungen. Von Anfang an wurden zugkräftige Sponsoren an das Projekt gebunden, sorgten die Veranstalter für eine innovative Werbung und die größtmögliche audiovisuelle Verwertung. Die AFBF lieferten die Blaupause einer effektvollen Präsentation, sie ließen organisatorische Netzwerke wachsen, begeisterten ein jugendliches Massenpublikum und die Medien für diese Musik. Sie etablierten den Blues als Marktsegment. Kritiker, Verfechter einer militanten ›Political Correctness‹ und Zyniker attackierten den verstellten Blick des ›Weißen‹ auf die ›schwarze‹ Kultur und tadelten das Aufführungsmodell. Charles Keil verriss die 1964er Ausgabe als »drittklassige Minstrel Show. Die gleiche Show würde von einem Negerpublikum in Chicago (vorausgesetzt, man könnte es überhaupt dazu verleiten, sich eine Parade von Invaliden anzuschauen) mit Spottgeschrei, Pfiffen und Gelächter aufgenommen werden.« In London jedoch, wo Keil das Konzert erlebt hatte, lauschte das Auditorium in »ehrfürchtiger Stille«. Und »je absurder die Performance war, desto donnernder schallte der Applaus«.27 Aber auch deutsche Pressestimmen sparten nicht mit Skepsis, Spott und intellektuellem Hochmut, wenn sie die »Marotten und Mätzchen«28 der Auftritte monierten, die Künstler zu »herrlich kaputten, liebenswert

26 Das finanzielle Risiko war überschaubar. Die elf Musiker des AFBF 1964 erhielten für die vierwöchige Tournee laut Insider und Mitorganisator Joachim Ernst Berendt eine Gesamtgage von rund 70.000 DM (Berendt, Joachim Ernst: »Macht der Jazz uns doch frei?«, in: Christ und Welt vom 5.2.1965, S. 20). Selbst im Jazz waren deutlich höhere Summen üblich. Die Sängerin Sarah Vaughan verlangte z.B. für ein Doppelkonzert 3500 US-Dollar netto, 5000 USDollar für einen Fernsehauftritt (Brief von Jack L. Green, Associated Booking Corp., an Horst Lippmann, 3.4.1963, International Jazz Archive Eisenach, Nachlass Horst Lippmann, ohne Signatur).

27 Keil: Urban Blues, S. 37. 28 Bockhoff, Baldur: »Auch der Jazz macht nicht frei«, in: Christ und Welt vom 18.12.1964, S. 17.

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Abb. 1: Big Mama Thornton und J.B. Lenoir während einer Fernsehproduktion im Rahmen des American Folk Blues Festivals, Baden-Baden, 1965 verdrehten Käuzen«29 degradierten oder vor snobistischen Konzertbesuchern warnten: »Sie gehen zu den Blues wie in den Zoo oder das naturund völkerkundliche Museum.«30 Gegenstimmen verteidigten die Pionierleistung von Lippmann + Rau. Jazzavantgardist Albert Mangelsdorff, der dem Konzertbüro absolutes »Verantwortungsbewusstsein und Seriosität« attestierte, unterstrich mit Blick auf das AFBF, »dass es noch nie eine so vorbildliche und ernsthafte Dokumentation einer Volksmusik im Konzertsaal gegeben hat wie in diesem Fall«.31

29 Burkhardt, Werner: »Zwang zur Zwanglosigkeit«, in: Die Welt vom 14.10.1964, S. 11.

30 Zimmerle, Dieter: »Der Blues ist überall«, in: Jazz Podium 12 (1963), Nr. 11, S. 232–233, hier S. 232.

31 Mangelsdorff, Albert: »Liebe zur Musik«, in: Christ und Welt vom 2.4.1965, S. 24.

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Der zweite Rezeptionsaspekt, den die Festivalserie plastisch illustrierte, war besonders für die sechziger Jahre typisch. In Zeiten der Bürgerrechtsbewegung und des Vietnamkriegs wurde der Blues zum politischen Medium stilisiert. Man sah ihn als »Kunst nackter Existenz«, 32 als Aufschrei sozialer und rassischer Diskriminierung und Klang gewordene »Bereitschaft zur Revolte«.33 Schon die optische Inszenierung der AFBF kündete vom politischen Fokus, den die Veranstalter anfangs bevorzugten. Die Programmhefte und Plakate sowie die Bühnenbilder der Fernsehproduktionen thematisierten die Unterjochung der ›Schwarzen‹ und ihre miserablen Lebensbedingungen. Fotos und Collagen zeigten knüppelnde Polizisten, Zuchthäuser, die deprimierende Öde der Slums, Onkel Tom und Symbole des Widerstands, wie etwa das Konterfei von Martin Luther King. Ein solcher Blickwinkel war nahtlos mit dem Amerikabild der ostdeutschen SED-Propaganda kompatibel. Während sich in der Bundesrepublik die Argumentation aber mit fortschreitender Kommerzialisierung mehr und mehr politischer Zuspitzungen entledigte und diese nur noch als grelles Verkaufsargument benutzte, blieb der ideologische Zugriff ein immanenter Bestandteil der offiziellen Auseinandersetzung auf sozialistischem Boden.

D ER B LUES ALS G LAUBENSFRAGE : DAS S ELBSTVERSTÄNDNIS DES G ERMAN B LUES C IRCLE Fernab der medialen Verbreitung des Blues in der Bundesrepublik, die sich vor allem auf die massenkompatible Spielart des Blues Rock konzentrierte, wuchsen über die Jahre kleinmaschige Netzwerke. Den ernsthaftesten und folgenreichsten Versuch, eine überregionale Organisation zu etablieren, unternahmen ein paar Bluesenthusiasten aus Frankfurt a.M. Sie hoben am 21. April 1976 den German Blues Circle (GBC) aus der Taufe. Um verbindliche Strukturen zu schaffen, ließen sie sich als »Verein zur Förderung

32 Berendt, Joachim Ernst: »American Folk Blues Festival«, in: twen 4 (1962), Nr. 10, S. 55.

33 Carles, Philippe/Comolli, Jean-Louis: Free Jazz – Black Power, Frankfurt a.M.: Fischer 1974, S. 69.

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Abb. 2: Siegfried ›Ziggy‹ Christmann, Konzertpromoter und Gründer von Ornament Records, auf dem Bluesfest in Bonn, 1985 des Blues« registrieren; der Status der Gemeinnützigkeit wurde von den Behörden allerdings verwehrt. Laut Satzung hatte der GBC folgende Hauptziele: »Die Beschäftigung mit dem Blues und verwandten Musikstilen anzuregen und zu koordinieren. Eine von Sachkenntnis getragene Verbreitung des Blues als kulturelles Phänomen innerhalb der populären Kulturszene zu fördern und somit der Volksbildung zu dienen.«34 In erster Linie war man auf ›schwarzen‹ Blues fixiert; die ›weißen‹ Spielarten blieben über die Jahre hinweg ein hartnäckig umkämpftes Streitobjekt und Zielscheibe von Kritik. Bis zum 30. November 1976 traten dem GBC 98 Mitglieder bei; ein Jahr später lag ihre Summe bei ca. 250, Tendenz steigend. Im Juni 1980 waren rund 410 Beitragszahler eingeschrieben. Das Gros rekrutierte sich aus Männern, die ihre Jugendjahre bereits hinter sich gelassen hatten. Frauen bildeten eine verschwindende Minderheit; die Liste von 1979/80 verzeichnete gerade mal ein gutes Dutzend. In etlichen Städten waren lokale Repräsentanten des GBC aktiv, die Treffen vor Ort organisierten und einen reibungslosen Informationsfluss garantieren sollten.35 Die wöchent34 Satzung des GBC vom 11.3.1980, in: German Blues Circle (Hg.): German Blues Guide 1982/83, S. 44.

35 Der GBC listete im Sommer 1979 zwanzig Städte auf. Vgl. German Blues Circle Info (GBCI) Nr. 35 (1979), S. 2.

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lichen Zusammenkünfte der Frankfurter Keimzelle verliefen etwa nach folgendem Schema: »1. Allgemeiner Informationsaustausch, 2. GBC-Probleme mit Diskussion, 3. Jeder stellt irgendein Musikstück vor, das ihm gut gefällt, und erzählt was dazu, 4. Einer hält ein Kurzreferat über ein Thema, das ihn bewegt, und stellt Musikbeispiele vor, 5. Small talk, blues and booze.«36 Trotz der guten Absichten und rosigen Visionen wurde der GBC von zahlreichen Krisen geschüttelt. Die Jahreshauptversammlung 1983 beschloss die Auflösung, weil kaum noch Mitglieder zu handfester Vereinsarbeit bereit waren. Das verstieß gegen das Selbstverständnis eines basisdemokratischen Bündnisses, in dem der Vorstand lediglich koordinierende Funktion besaß. Mit Wirkung vom 1. Januar 1984 wurde die alte Rechtsform annulliert. Einen zweiten Grund für permanente Schwierigkeiten ortete man im komplizierten Naturell der Spezies ›Bluesfan‹. So klein die Szene auch war – sie litt unter zermürbenden Eitelkeiten, Sektiererei und Grabenkriegen. Die Initiatoren des GBC wurden immer wieder elitärer oder snobistischer Einstellungen bezichtigt, als »hohe Herren mit den niedrigen Mitgliedsnummern«37 und »Mafia«38 abgekanzelt. Der ironische Blick in den Spiegel entlarvte den Bluesanhänger als Individualisten mit Hang zum schrulligen Einsiedlertum. Ein Brief an den GBC erging sich in zerfleischendem Selbstzweifel: »Im Blues, da werden Probleme verarbeitet. Und ich verarbeite meine Probleme mithilfe des Blues anderer Menschen. Verarbeite? Verdränge ich sie nicht vielmehr? Ich flüchte vor meiner Wirklichkeit in die Musik, die in eine Drogenfunktion schlüpft, mir gewissermaßen jede Religion ersetzt. Eine halbe Stunde Illusionen vom Glück, Kompensation der eigenen Probleme im Schicksal anderer. Blues ist Schicksal. Unabwendbar. Steigere ich nicht mein Selbstmitleid? Kennzeichnen nicht totale Ichbezogenheit und Resignation meine Situation?«39

Reibereien gab es auch zwischen den Verfechtern verschiedener stilistischer Strömungen. Der liberalen Fraktion war klar:

36 37 38 39

Editorial des GBCI Nr. 38 (1979), S. 1. Kulla, Bernd: »Blues in Gaildorf«, in: GBCI Nr. 25 (1978), S. 7. Aus der Leserpost des GBCI Nr. 22 (1978), S. 13. Dahlhausen, P.: »Gedanken zum Blues«, in: GBCI Nr. 35 (1979), S. 23.

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Abb. 3: German Blues Circle Info, Ausgabe September 1998 »Die deutsche Bluesszene ist zu einem großen Teil von Blues-Puristen geprägt: Für sie muss Blues schwarz sein, der Musiker mindestens 75 und der Auftritt irgendwo im Museumssaal… Der Bluesmusiker wird bestaunt wie ein Löwe im Zoo, seine Musik wird in feinste Details zerlegt, analysiert, darüber debattiert. Etwa auf die Musik und ihr Feeling zu achten, liegt ihnen (leider) fern.«40

Debatten dieser Couleur wurden in den Publikationen des GBC ausgetragen. Um die landesweite Kommunikation zu fördern, gab er ein Fanzine heraus, das es auf bis zu zwölf reguläre Ausgaben pro Jahr brachte: das German Blues Circle Info (GBCI). Es war ausdrücklich als nichtprofessionelles Zentralorgan des Vereins und Non-Profit-Unternehmen konzipiert. Die schmucklose, maschinenschriftliche Postille im Format A 5, deren Umfang zwischen vier und sechzig Seiten schwankte, kündigte Tourneen an, 40 Schütt jr., Peter: »Der Blues«, in: GBCI Nr. 52 (1981), S. 43.

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druckte Platten-, Konzert- und Buchrezensionen, sie streute Neuigkeiten aus der Blueswelt, diskutierte die Glaubensfragen der Szene, übersetzte Texte aus führenden angloamerikanischen Zeitschriften und versuchte sich gelegentlich an akademisch gemeinten Essays. Sämtliche Beiträge stammten von Mitgliedern und Fans. Der Grundsatz lautete: »Eine Zensur findet nicht statt! Alle Artikel werden unzensiert früher oder später veröffentlicht. Wir wollen auch inhaltlich und stilistisch keine Korrekturen vornehmen; Fehler und Unwissen fallen auf den Autoren [sic!] zurück!«41 Das anarchische Prinzip garantierte einen regen Informationsaustausch und vielfarbige Sichtweisen, es öffnete aber auch den Ring für hemmungslosen Exhibitionismus, deftige Polemiken, Diffamie, unerbittliche Fehden und so manchen Hieb unter die Gürtellinie. Mit Nummer 358 stellte das GBCI im Januar 2006 sein Erscheinen ein. Bevor man sich ab Mitte der achtziger Jahre auf Konzertannoncen und Plattenkritiken beschränkte, spiegelte das Info auf eindringliche Weise das Selbstverständnis des harten Kerns der Bluesfanatiker. Monatelange Debatten kreisten um die Exegese von ›Authentizität‹. Moralisierende Appelle stellten immer wieder die Gretchenfrage des Erbrechts zur Disposition. Für die Initiatoren des GBC stand fest, dass der Blues eine genuin ›schwarze‹ Kultur ist, die zwar europäische Mischanteile aufweist, sich aber letztlich aus den Rassenerfahrungen der Afroamerikaner speist. Kein ›Weißer‹ kann den Blues adäquat interpretieren, er bleibt der Rolle des Imitators verhaftet – lautete der Glaubensgrundsatz. Ein solcher Fundamentalismus blendete die Transformationsleistungen der Unterhaltungsindustrie seit Anfang des 20. Jahrhunderts komplett aus. Er ließ den Blues als ideologische Matrix zu, geerdet in Sklaverei und Unterdrückung, nicht aber als Entertainment. Konsequenterweise wurden die ins Populäre lappenden Konjunkturwellen betrauert. Der Herausgeberstab des GBCI lamentierte: »Die Bemühungen der Rock- und Pop-Industrie haben ihre Früchte getragen, und was heute unter Blues verstanden wird, entfernt sich mehr und mehr vom ›schwarzen‹ Blues, für den wir in erster Linie eintreten.«42 Der ›weiße‹ Wechselbalg, die »gereinigte Version des Originals«,43 sei eine pure kommerzielle Finte.

41 Editorial des GBCI Nr. 26 (1978), S. 2. 42 Editorial des GBCI Nr. 22 (1978), S. 1. 43 Küppers, Willi: »White Blues«, in: GBCI Nr. 13 (1977), S. 3.

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Drei Jahre dominierte ein hitziges, schließlich aber ergebnisloses Tauziehen zu Kunst und Hautfarbe die Leserpost. Dann schnitt der Vorstand die Diskussion ab und erklärte, »dass der ›Weiße Blues‹ für den GBC kein Thema (mehr) ist«.44 Der permanente Gegenwind und das teils rabiate Muskelmessen kosteten unnötig Energie und drohten den Verein zu spalten. Die Circle-Macher sahen sich mit massiven Vorwürfen, namentlich aus der Ecke der unorthodoxen Blues-Rock-Fans, konfrontiert. Ihnen wurden »Rassismus, Größenwahn und Dünkel«45 angelastet. Die liberaleren Bluesanhänger meinten, dass letztlich die künstlerische Qualität und das Feeling entscheidend seien. »Alle Musikstile müssen ›frei atmen können‹ und sich instinktiv entfalten«,46 plädierte der in Westdeutschland ansässige, amerikanische Gitarrist Jim Kahr. Und Udo Wolff, Sänger der Hildesheimer Band Das Dritte Ohr, schaltete eine zynische Anzeige: »Möchte gern Neger werden. Wer hilft mir dabei?«47

D ER B LUES ALS LIFESTYLE : DIE T RAMPERSZENE DER DDR In der DDR avancierte der Blues zum Fixstern einer Bewegung, deren Anhänger sich selbst als ›Kunden‹, ›Tramper‹ oder ›Blueser‹ bezeichneten. Anders als die Bluespuristen, die eher in Jazzkreisen gut aufgehoben waren, frönten sie dem Exzess und erkoren die Musik zum Motto ihres hedonistischen Lifestyles. Weil ihnen die Staatsmacht permanent auf den Fersen war, flohen sie in die dörfliche Diaspora und bevölkerten dort die privaten Kneipen und Tanzsäle. Politisches Asyl fanden sie auf dem Hoheitsgebiet der Evangelischen Kirche, die ab 1979 sogenannte Bluesmessen ausrichtete – eine Mixtur aus unverhohlener Ketzerei und Konzert. Der Blues wurde in der DDR auf besondere Weise jugendkulturell inkorporiert. Er sprach ein im Kern proletarisches Publikum an, das sich aus Teens und Twens zusammensetzte. Die Gemeinschaft der langhaarigen

44 Editorial des GBCI Nr. 41 (1980), S. 1. 45 Vgl. Leserbrief von Dirk Hecke und Gabi Günther, in: GBCI Nr. 41 (1980), S. 17.

46 Leserbrief von Jim Kahr, in: GBCI Nr. 24 (1978), S. 18. 47 GBC-Anzeigen im April, in: GBCI Nr. 31 (1979), S. 20.

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Abb. 4: Observationsfoto der Stasi: ›Blueser‹ auf dem Weg zu einem Open-AirFestival in Plauen/Sachsen, 1974 Jeans- und Parkaträger war nicht nur die vitalste und dauerhafteste Jugendszene des Landes, sondern auch ein ausgesprochenes Spezifikum des Ostens. Sie wurde im Widerschein von Woodstock geboren und verlor erst in den achtziger Jahren unter dem Konkurrenzdruck von Punk, Heavy Metal und anderen attraktiven Identifikationsangeboten an Relevanz. Das Leitbild, dem die einander ablösenden Generationen von ›Bluesern‹ folgten, blieben die Ideale der Hippieära. ›Freiheit‹, ›Authentizität‹ und ›Nonkonformismus‹ waren primäre Werte, die sich in ihren Verhaltensmustern, künstlerischen Vorlieben und Outfits niederschlugen. Die tiefe Verehrung des Blues speiste sich aus zwei Quellen: Sie war ein Relikt der Hippiewelle und zugleich Abbild traditioneller euroromantischer Sichtweisen. In die Musik der Afroamerikaner wurde das Verlangen nach ›Echtheit‹ und ›reiner Emotion‹ projiziert, die Unterdrückung des einstigen Sklaven galt den jugendlichen Aussteigern als leidensgeschichtliches Ahnenmuster. Am perfektesten sahen sie ihre Sehnsüchte in der Energie des Blues Rock synchronisiert, weshalb er über allen

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anderen Stilen thronte. Ihn idealisierten die Fans zur entfesselten Gegenwelt des kleinkarierten Alltags. In der Bundesrepublik war diese Spielart seit den Siebzigern ebenfalls dominant, aber weitaus weniger politisch aufgeladen. Vielmehr zirkulierten durch sie maskuline Stereotype von ›Kraft‹, ›Arbeit‹ oder ›Rausch‹. Im Gegensatz zur DDR, wo sich bei den Konzerten die Geschlechter gleichberechtigt mischten, war der Blues Rock in Westdeutschland eine Männerdomäne, blieben Frauen eher »dekorativer Schmuck«.48 Hier kamen die Insider zusammen, die Musikkenner und -liebhaber, während im Osten der künstlerische Wert im kulturellen Gebrauch dissoziierte. Ein und dieselben Klangbilder mündeten in unterschiedliche Aneignungsqualitäten.

M ANIPULATION ODER AKTIVER G EBRAUCH : K ONSTRUKTIONEN VON AUTHENTIZITÄT Wenn Akademiker das Skalpell ansetzen, landet der Blues schnell in einem ambivalenten Licht. Zwar bleiben die historischen Verdienste unangetastet, wird der Blues als eine Wurzel moderner Popmusik identifiziert – die medialen Stereotype jedoch und die quasi-religiöse Verehrung der Fans sind immer wieder Anlass für zynische Kommentare oder fundamentale Kritik. Dabei haben sich die Mythen und Klischees längst den genetischen Codes dieser Musik eingeschrieben, sie sind Teil der globalen Erbmasse, ein wahrnehmungsleitendes Chromosom. Sie gehören in gleicher Weise zu den konstituierenden Merkmalen des Blues wie die musikalisch-tektonischen oder harmonischen Spezifika. Die Kritik an den Authentizitätskonstruktionen des Blues richtet sich fast ausschließlich gegen Mechanismen der industriellen Produktion, Normierung und Verbreitung, denn sie sind offensichtlich. Weitgehende Einigkeit besteht in den akademischen Diskursen darüber, dass ›Authentizität‹ keine Dingeigenschaft ist, sondern eine Konstruktionsleistung, eine Zuschreibung. Ray Pratts Konzept des ›determinierten Hörens‹,49 das dem

48 Leserbrief von Susanne Lie, in: GBCI Nr. 40 (1980), S. 35. 49 Vgl. Pratt, Ray: »The Politics of Authenticity in Popular Music: The Case of the Blues«, in: Popular Music and Society 16 (1986), Nr. 3, S. 55–78, hier S. 59.

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musikalischen Material Nutzungsperspektiven zuerkennt, ist eher eine Ausnahmeposition geblieben. Einen fruchtbaren Ansatz bietet Allan Moores Essay Authenticity as Authentication, 2002 veröffentlicht.50 Der britische Musikwissenschaftler identifiziert die Musiker und Hörer konsequent als Akteure und hebelt auf diese Weise die Manipulationsthese aus. Moores Theorie sei hier kurz umrissen, weil sie eine produktive Wertung auch der Authentizitätsdebatten in Deutschland erlaubt. Nach Moore ist ›Authentizität‹ nicht nur eine Konstruktions-, sondern in erster Linie eine Aneignungsleistung. Er unterscheidet verschiedene Arten von ›Authentizität‹, die sich in der Praxis überschneiden: die der ersten Person, die der dritten und die der zweiten. Während die »first person authenticity« und die »third person authenticity« auf die Positionierung des Künstlers, des Musikers, zielen, kalkuliert die »second person authenticity« oder »authenticity of experience« den Rezipienten als Akteur mit ein. Der Hörer sieht in ›authentischer‹ Musik seine Erfahrungen gespiegelt, wie immer diese auch beschaffen sein mögen. Deshalb ist es konsequent, nach dem wer und nicht nach dem was zu fragen, wenn der Prozess der ›authentication‹ im Vollzug einer Performance untersucht wird. Dann spielt es auch keine Rolle, ob es sich bei der im Fokus stehenden Musik um kargen Country Blues, soundtechnisch polierte Disco Music oder raffinierte Electronica handelt: Jede Musik kann von entsprechend disponierten Rezipienten als ›authentisch‹ verstanden werden. Nach Allan Moore ist also die Zuschreibung von ›Authentizität‹ immer an die Konstruktion von Subjektivität gekoppelt. Sicherlich ist Moores Theorie diskussionswürdig; schon, weil er strittige Kategorien, wie etwa die der ›Authentizität‹, durch nicht minder anfechtbare Begriffe zu definieren versucht, darunter den der ›Wahrheit‹. Trotzdem scheint sein Ansatz praktikabel, denn er führt das Argument der industriellen Totalkontrolle ad absurdum, das jede tiefere Auseinandersetzung blockiert und den Hörer zur Marionette abstempelt. Aus Moores Blickwinkel ist dann auch der Blues in Deutschland nicht weniger ›authentisch‹ als der knisternde Sound einer als ›Race Music‹ rubrizierten Schellackplatte aus alten Vorkriegszeiten oder der Gesang des

50 Moore, Allan: »Authenticity as Authentication«, in: Popular Music 22 (2002), Band 21, Nr. 2, S. 209–223.

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›schwarzen Mannes‹ in einem Juke Joint, irgendwo am Mississippi. Vielmehr bildet der Nimbus des ›Authentischen‹ den Schnittpunkt zwischen künstlerischer Artikulation und sozialer Erfahrung. Und so gesehen ist der gern als hoffnungsloser Fall belächelte Bluesfan kein Opfer ausgeklügelter Marketingstrategien, das blind in die Klischeefalle tappt, sondern ein in gewisser Weise privilegierter Rezipient, ausgestattet mit dem sozialen Resonanzboden für eine Klangwelt, die anderen verschlossen bleibt.

AUTHENTIZITÄT UND N ORM : EINE KONSTITUTIVE R ELATION Das Paradoxon von ›Authentizität/Wiederholung‹ wird in der Popmusikforschung kaum diskutiert. Repetition ist ein Wesensmerkmal populärer Musik, und das in mehrerlei Hinsicht. Hier seien nur drei Stichworte genannt. Die geschichtlichen Verläufe populärer Musik sind ungeachtet der innovativen Brüche, Zäsuren und Experimente in ein Kontinuum eingebettet, in einen Strom von Referenzen und Wiederholungen. Elvis Presley definierte sich zu Beginn seiner Karriere über den Rhythm & Blues der Afroamerikaner, Michael Jackson schloss am Soul und Funk der sechziger Jahre an, Techno wäre ohne die elektronischen Wegmarkierungen des sogenannten Krautrock nicht denkbar. Aber auch die Imagekonstruktionen und Attitüden der populären Musik schöpfen scheinbar aus einem abgezirkelten Reservoir, das den Typus ›ehrlicher Arbeiter‹ à la Bruce Springsteen genauso beherbergt wie den des Provokateurs, heute etwa von Lady Gaga verkörpert. Und schließlich ist die Musik selbst von Normierungen durchzogen. Dazu gehören etwa die Dominanz der Strophe-RefrainStruktur, Rhythmuspattern und Soundmuster oder die radio- und fernsehtaugliche Länge eines Songs. Massenkompatibilität, hochgradige Verkäuflichkeit – und darum geht es im Bereich der populären Musik – setzt Standardisierung voraus. Und doch wäre es falsch, Repetition als blanke Ausgeburt der politischen Ökonomie der Popmusikproduktion zu verteufeln und sie auf ihre ideologischen Effekte zu beschränken. Das Prinzip der ›Wiederholung‹ besitzt zugleich eine anthropologische Dimension, wie der britische

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Musikologe Richard Middleton betont.51 Es ist nicht schlichtweg eine negative Qualität von Massenkultur, ein Mittel sozialer Kontrolle im Adorno’schen Sinne und damit Ausdruck politischer und wirtschaftlicher Interessen, sondern vielmehr ein Gebot menschlicher Konditionierung. ›Wiederholung‹ als komplexes kulturelles Phänomen wird von einer Fülle sozialer und psychischer Triebkräfte bestimmt; sie ist ein grundlegendes Ordnungsprinzip. Middleton geht in seiner Argumentation noch einen Schritt weiter und erinnert uns an ein Motiv, das in den theoretischen Debatten über populäre Musik leicht vernachlässigt wird: Auch hinter dem Fakt der Repetition verbergen sich letztlich »Lust und Spaß«.52 Kommen wir zurück zu unserem Beispiel, dem Blues. Gerade die am stärksten normierten Spielarten dieser Musik werden als ›authentisch‹ kommuniziert. Vergleicht man Aufnahmen der Vertreterinnen des ›Klassischen Blues‹ der zwanziger und dreißiger Jahre miteinander – Lieder von Bessie Smith oder Ma Rainey –, fällt auf, dass alle ›gleich‹ klingen. Wir hören emphatische Frauenstimmen, begleitet von einer JazzCombo; die Songs sind meist nach dem zwölftaktigen Blues-Schema komponiert und haben eine Länge von ca. 2'45 bis 3'10. Sie sind ›am Reißbrett‹ entwickelt worden und werden trotzdem als unmittelbarer Ausdruck von Gefühl identifiziert. Ähnlich paradox mag die Uniformierung der ›Blueser‹ in der DDR wirken. Sie hatten sich ›Freiheit‹ und ›Individualität‹ auf die Fahne geschrieben – und verschwanden doch mit ihrem Standard-Outfit aus Jeans und Parka in einer blau-grünen, egalitären Masse. Normierung und ›Authentizität‹ bilden im Bereich des Blues keinen Gegensatz, sondern einen konstitutiven Zusammenhang. Normierungen stecken die Koordinaten ab, innerhalb derer ›Authentizität‹ diskursiv verhandelbar wird. Sie sind unabdingbar für den wertenden Vergleich mit musikalischen Formen, die als ›synthetisch‹ oder ›kommerziell‹ disqualifiziert werden, aber auch als binnenstrukturelle Kommunikationsbasis, auf der die Mitglieder der Blues-Community ›Echtes‹ von ›Unechtem‹

51 Vgl. Middleton, Richard: »›Play It Again Sam‹. Some Notes on the Productivity of Repetition in Popular Music«, in: Simon Frith (Hg.): Popular Music. Critical Concepts in Media and Cultural Studies. Volume III: Popular Music Analysis, London/New York: Routledge 2004, S. 136–169.

52 Ebd., S. 162.

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scheiden. Diese Normierungen werden von den ›Insidern‹ selbst gar nicht als Wiederholungen wahrgenommen, sondern als Rahmen einer täglich neuen Kunsterfahrung. Nur der ›Outsider‹, der sich außerhalb der emotionalen Reichweite des Blues bewegt, hört sie als ewig rotierendes, hohles Klischee.

Reenactments und serielle Wiederholungen im politischen Alltagsgeschäft als Kommunikationsbrücken zwischen Politikern und Bevölkerung C HRISTOPH S CHEURLE

›AUTHENTISCHE ‹ P OLITIK Wer Politiker fragt, was die wichtigste Basis ihrer Arbeit ist, wird in den meisten Fällen zur Antwort bekommen, dass alle politische Arbeit auf Vertrauen beruht. Und wenn weiter gefragt wird, wie denn Vertrauen erzeugt werden kann, wird spätestens hier der Begriff Glaubwürdigkeit oder auch – allein schon weil es besser klingt – der Begriff der Authentizität fallen. Dabei wird darunter offensichtlich etwas verstanden, das, in welcher Form auch immer, ›echt‹ ist, oder zumindest im Kern auf eine reale Sache oder Aussage verweist. Zudem wird der Begriff von Politikern oft als Gegenbegriff zu dem der ›Inszenierung‹ gesetzt, wie das folgende Zitat des ehemaligen Grünen-Politikers Rezzo Schlauch exemplarisch veranschaulicht: »Der Unterschied ist, ob ich mich einer Kultur bediene, mit der ich eigentlich nichts zu tun habe, oder ob ich einen Teil meines Lebens in dieser Szene verbringe. Die Leute spüren genau, ob ein Bruch zwischen ihnen und der Politik oder ob

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Authentizität gegeben ist, ob ein Politiker etwas mit ihnen zu tun hat oder das Ganze nur Inszenierung ist.«1

Der Inszenierung haftet hier immer schon ein negativer Beigeschmack, eine Konnotation des Unechten an. Sie ist, so die allgemeine Interpretation, gleichzusetzen mit Verstellung, Lüge und Betrug. Wenn Schlauch allerdings einen Unterschied macht zwischen Darstellungserwägungen, die sich ab einem bestimmten Punkt als Manipulationsstrategien entlarven lassen und einer Art politischen Street-Credibility, die er mit denen von Künstlern, etwa aus der Hip-Hop-Szene, vergleicht, dann zeigt sich spätestens hier, dass 1. 2.

Kultur und Identität keine ›natürlichen‹ Dinge sind, sondern auf Konstruktion beruhen, und das Ziel hier offensichtlich nicht ist, besonders echt oder ehrlich zu sein, sondern vor allem, für ein Publikum oder eine Wählerschaft besonders ehrlich zu wirken.

Gerade an Streitgesprächen, in denen Politiker unterschiedliche Meinungen in Bezug auf eine politische Entscheidung vertreten und aus der mindestens zwei sich widersprechende Konsequenzen gezogen werden, zeigt sich, dass für das Publikum Glaubwürdigkeit letzten Endes eben auch eine Sache des Glaubens ist. Dennoch ist Authentizität im politischen Geschäft nicht nur Selbstzweck, sondern trägt auch dem Umstand Rechnung, dass eine tatsächliche politische Teilhabe aller an den Entscheidungsprozessen in der repräsentativen Demokratie nicht realisierbar ist.2 Insofern der Bürger als Souverän vom Zustandekommen der tatsächlichen Entscheidungsprozesse ausgeschlossen ist, muss Politikvermittlung darauf bauen, dass ihre

1

Schlauch, Rezzo: »Politik unter den Bedingungen der Mediengesellschaft«, in: Peter Siller/Gerhard Pitz (Hg.): Politik als Inszenierung, Baden-Baden: Nomos 2000, S. 69–71, hier S. 69.

2

Vgl. Wentz, Daniela: Authentizität als Darstellungsproblem in der Politik. Eine Untersuchung der Legitimation politischer Inszenierung, Stuttgart: ibidem Verlag 2005, S. 30

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Kommunikation als authentische Wiedergabe der politischen Vorgänge angesehen wird. »Aus diesem Grund kann sie nicht auf die Symbolisierung ihrer Authentizität verzichten. Nur mit dem Verweis auf ihre Authentizität sind politische Repräsentanten überhaupt denkbar. Sie ist die Grundlage ihrer Legitimität, denn Repräsentation gründet auf einer Struktur der Anerkennung. Nur so lange gilt der Stellvertreter als legitim, wie er die Vertretenen tatsächlich zu vertreten scheint, wie er die Repräsentierten in Erscheinung treten lässt, also ihren Willen zum Ausdruck bringt.«3

Der Begriff des Authentischen hebt in diesem Zusammenhang auf mindestens drei Bedeutungen ab: 1. 2.

3.

Auf das Echte und Unverfälschte einer Aussage und/oder Darstellung (lat. authenticus), auf die Zuverlässigkeit des Berichts/der Darstellung und damit auch des Boten (gr. authentikós), der dabei allerdings nicht nur Bote, sondern gleichzeitig auch und damit als Herrscher oder Haupt einer Gesellschaft zu verstehen ist (gr. authéntes).

Hier rückt der Politiker als Polit-Darsteller in das Zentrum des Interesses, und zwar auf zweifache Weise: Einerseits stellt er politische Vorgänge dar, andererseits stellt er sich selbst als Politiker zur Wahl. Daraus resultiert das Problem, dass er, um die Verfahren transparent zu machen oder auch um Zustimmung für seine politischen Programme zu erhalten, in der Regel nur auf sich selbst als mehr oder weniger glaubwürdige Instanz verweisen kann. In diesem Sinne kann es also nicht darum gehen, Authentizität als natürliche Gegebenheit zu verstehen, die sich als quasi ontologische Einheit von Politiker und Programm zeigt, sondern um die Herstellungsverfahren, an deren Ende sich ein Authentizitätseffekt beim Bürger einstellt. Die Darstellung muss also insofern authentisch sein, als sie als authentisch

3

Ebd.

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wahrgenommen werden soll. Dies ist auf die Sache bezogen zunächst einmal weder gut noch schlecht, sondern conditio politica.4 Um diesen Authentizitätseffekt zu erzielen, setzen Politiker Darstellungstechniken ein, die theatralen Verfahren entsprechen5 und die auf die eine oder andere Weise sicherstellen sollen, dass zum einen die Bevölkerung über die politischen Vorgänge informiert und zum anderen der individuelle politische Standpunkt deutlich markiert wird. Beides dient, wie ich meine, nicht nur dem durchaus legitimen Zweck, Werbung für die eigene Person und die vertretene Programmatik zu machen, sondern auch dazu, Kommunikationsbrücken zwischen politischer Klasse und Bevölkerung zu schaffen, um die Lücke zwischen faktischer Politik und Darstellungspolitik, wie Murray Edelman die beiden Seiten der Politik einmal trennscharf benannt hat,6 zu verringern. Als problematisch erweist sich hier die paradoxale Struktur solcher Authentizitätsbemühungen, die in der sinnvollen Verbindung von Fakten und ihrer Darstellung angelegt scheint.

4

Dass es hierbei sicherlich auch immer um eine Positionierung und das Aushandeln von Machtpositionen geht, scheint eine Grundprämisse politischer Kommunikation zu sein und kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Vgl. hierzu etwa Warstat, Matthias: »Theatralität der Macht – Macht der Inszenierung; Bemerkungen zum Diskussionsverlauf im 20. Jahrhundert«, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Diskurse des Theatralen, Tübingen: Francke 2005, S. 171–190, hier S. 16.

5

Ich drücke das an dieser Stelle vorsichtig aus, weil Matthias Warstat mit Recht die Frage stellt, »ob der Terminus ›Theatralisierung‹ für die gegenwärtigen Formen der Inszenierung von Politik überhaupt noch der richtige Begriff ist«. Denn, so Warstat, »die Inszenierung von Politik hat sich mehr denn je auf das Medium Fernsehen verlagert, und dessen Produkte sind mit dem Aufführungsbegriff nur bedingt zu fassen. […] Auch wenn sich kollektive Formen des Fernsehens gerade bei Sport-Ereignissen großer Beliebtheit erfreuen, bleibt die Fernsehrezeption im Kern – zumal wenn es um politische Sendungen geht – eine individuelle Erfahrung, während das Erlebnis einer Aufführung per definitionem an Kollektivität gebunden ist.« Warstat: »Theatralität der Macht«, S. 16.

6

Edelman, Murray: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 1976.

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Im Folgenden möchte ich zunächst anhand von zwei Beispielen zeigen, wie Politiker versuchen, auf unterschiedliche Art und Weise Botschaften zu kommunizieren, um in einem zweiten Schritt nach den dazugehörigen Authentizitätskonzeptionen zu fragen. Abschließend möchte ich meine Prämisse der Kommunikationsbrücken zwischen Politik und Bevölkerung noch einmal hinsichtlich ihrer Notwendigkeit, Wirksamkeit und Bedeutsamkeit hinterfragen.

T HEATRALE V ERFAHREN

DER

W IEDERHOLUNG

Ich möchte zunächst anhand von zwei Beispielen aus der politischen Praxis unterschiedliche Verfahren vorstellen, die es einerseits möglich machen, eine Botschaft als authentisch wahrzunehmen, und die andererseits – und das ist das Authentizitätsparadox – die Authentizität der Botschaften wiederum zweifelhaft machen. Dies nicht nur, weil, wie oben ausgeführt, Darstellung per se den allgemeinen Authentizitätsannahmen zuwiderläuft, sondern auch, weil beiden Beispielen in unterschiedlicher Art und Weise das Moment der Wiederholung inhärent ist, was wiederum als Form einem authentischem Anspruch nicht gerecht zu werden scheint, hier aber, wie sich zeigt, wesentlicher Bestandteil der Authentifizierungsstrategie ist. Ich unterscheide dabei zwischen Wiederholungen als politische Reenactments und seriellen Wiederholungen, wobei sich anhand der Beispiele zeigen wird, wo die Differenzen liegen. Ich spreche hier bewusst von politischen Reenactments, um diese von historischen Reenactments zu unterscheiden. Bei letzteren handelt es sich um eine Neuinszenierung geschichtlicher Ereignisse und, wie der Theaterwissenschaftler Ulf Otto ausführt, um »keine die Gesellschaft fundierenden Ereignisse«7. Ich beziehe mich im Gegensatz zu dieser Begriffsbestimmung auf die Definition des English Dictionarys, welches mit »Reenactment« vor allem das (Wieder-)In-Kraft-treten-Lassen von etwas meint.8

7

Otto, Ulf: »Krieg von Gestern. Die Verkörperung von Geschichtsbildern im Reenactment«, in: Kati Röttger (Hg.): Welt – Bild – Theater. Band 1: Politik des Wissens und der Bilder, Tübingen: Narr 2010, S. 77–87, hier S. 83.

8

»[T]o enact (a law) again. Hence re-enacting«, in: Oxford English Dictionary, Band XIII, Oxford 21989, Eintrag: »to reenact«. An dieser Stelle muss auch

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P OLITISCHE R EENACTMENTS AM B EISPIEL DER B UNDESRATSDEBATTE ZUR DOPPELTEN S TAATSBÜRGERSCHAFT IM J AHRE 2002 Ein zentrales Wahlversprechen der 1998 neu angetretenen rot-grünen Bundesregierung war die Reformierung des Staatsbürgerschaftsrechts. Hier sollte der sogenannten dritten Einwanderungsgeneration die Möglichkeit eingeräumt werden, die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes und die der Bundesrepublik anzunehmen, um sich erst bei Eintritt der Volljährigkeit für eine der beiden zu entscheiden. Der Gesetzesentwurf, der von der CDU abgelehnt wurde, bedurfte der Zustimmung der Länder durch den Bundesrat. Da die rot-grün geführten Länder dort über keine Mehrheit verfügten, kam dem Abstimmungsverhalten des durch eine große Koalition aus SPD und CDU regierten Bundeslandes Brandenburg besondere Bedeutung zu: Die Ablehnung oder Enthaltung des Landes hätte das Scheitern des Gesetzes bedeutet. Als es zur Abstimmung kam, stimmte Brandenburg mit den Stimmen des Ministerpräsidenten Stolpe und des Innenministers Schönbohm uneinheitlich ab (Ministerpräsident Manfred Stolpe mit »Ja«, Innenminister Jörg Schönbohm mit »Nein«); ein Abstimmungsverhalten, das im politischen Procedere so nicht vorgesehen und, wie später vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, auch nicht verfassungskonform ist.9 Auf wiederholtes Nachfragen des damaligen Bundesratspräsidenten Klaus Wowereit, ob das Land Brandenburg dem Gesetz zustimme, antwortete der Ministerpräsident Stolpe mit »Ja«, der Innenminister Schönbohm dagegen mit den Worten: »Sie kennen meine Meinung, Herr Präsident«. Daraufhin wertete der Präsident das Votum von Brandenburg als »Ja« und damit das Gesetz als angenommen. Danach war es zu tumultartigen Szenen

gesagt werden, dass der Begriff des Reenactments in letzter Zeit in der Kunst – man denke etwa an Marina Abramoviüs The Artist is Present oder auch an Hoffmann & Lindholms Serie Deutschland – eine gewisse Popularität erfahren hat und dadurch auch in der kulturwissenschaftlichen Diskussion verstärkte Beachtung gefunden hat, wobei die Diskussion hier noch dabei ist, Grenzen und Nutzen des Begriffs auszuloten. 9

Zur Urteilsbegründung siehe http://www.bverfg.de/entscheidungen/fs20021218 _2-bvf000102.html vom 26.9.2011.

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gekommen: Die Ministerpräsidenten der CDU-geführten Bundesländer sowie der damalige Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber, protestierten lautstark gegen dieses Votum. Besonders tat sich dabei der damalige Ministerpräsident des Landes Hessen, Roland Koch, vor. Er schlug 25 Mal mit der Faust auf den Tisch, wie das ARD-Magazin Monitor per Videobeweis feststellte,10 und rief laut und empört: »Verfassungsbruch!« Die Wutausbrüche waren allerdings kein einmaliges Ereignis, wie der Ministerpräsident des Saarlands Peter Müller (CDU) wenige Tage später auf einer Podiumsdiskussion einräumte: »Die dort (im Bundesrat) geäußerte Empörung entstand nicht spontan. Die Empörung haben wir verabredet. Und ich sage, das war Theater, aber es war legitimes Theater, weil die dort zum Ausdruck gebrachte Empörung einen ehrlichen Hintergrund hatte.«11 Man habe, so Müller weiter, einige Tage vor der Abstimmung im CDU-Präsidium zusammengesessen und denkbare Szenarien durchgespielt. Man sei, als die Sprache in der Sitzung auf ein solches Abstimmungs-Szenario mit entsprechender Wertung zu Gunsten der Regierung gekommen sei, ob dieser denkbaren Möglichkeit sehr empört gewesen, nur waren zu diesem Zeitpunkt das Publikum und die Medien nicht anwesend und so sei man auf die Idee gekommen, diese bereits

10 Panorama vom 28.3.2002, in: http://daserste.ndr.de/panorama/media/theater bundesrat100.html vom 29.4.2011. 11 Der von Peter Müller gehaltene Vortrag erschien als Abdruck in der FAZ vom 28.3.2002. Der gesamte Vorgang ist von der Presse ausführlich dokumentiert und diskutiert worden. Der Artikel »Ein Satz zu viel« macht deutlich, wie in diesem Fall strategische politische Erwägungen nicht nur zu einem drehbuchreifen Script führten, sondern auch die Offenheit der Situation einen theatralen Akt konstituierte. Vgl. Pergande, Frank/Leithäuser, Johannes: »Ein Satz zu viel – Wie Union und SPD, Schönbohm und Stolpe auf den Eklat im Bundesrat hinsteuerten und am Ende doch nicht alles wie geplant lief«, in: FAZ vom 26.3.2002, S. 5. Der Aufsatz »Legitimes Theater«, ein Tag später in derselben Zeitung erschienen, macht deutlich, dass dabei allerdings die Dramaturgie mitunter von der Verfassung mitbestimmt wird. Vgl. Hefty, Georg Paul: »Legitimes Theater: Die Verfassung macht Politik berechenbar – und ein Drehbuch erst möglich«, in: FAZ vom 27.3.2002, S. 12.

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wahrhaftig stattgefundene Empörung noch einmal für die Öffentlichkeit nachzuspielen.12 Die Frage, die in unserem Zusammenhang von Interesse ist, ist weniger, ob diese Vorführung spontan war oder nicht, sondern, welche Vorgänge initiiert wurden und welche Konzeptionen hinter diesen Vorgängen standen, sodass an deren Ende so etwas wie ein Eindruck von Authentizität entstehen konnte. Folgt man Müllers Argumentation, so lässt sich eine solche Darstellungspraxis in drei Stufen einteilen, die tatsächlich den Prozessen des Theaters folgen:13 Denn es fand zunächst eine Probe (Sitzung) statt, die in einer Aufführung mündete, welche wiederum in der Öffentlichkeit, also beim Publikum, eine gewisse Wirksamkeit entfaltete. Absprache/Probe Hier wird in einer CDU-Präsidiumssitzung etwas Darstellenswertes entdeckt, eine stimmige Stimmung gefunden und schließlich werden Überlegungen angestellt, mit welchen Mitteln dieses Gefundene kommuniziert bzw. dargestellt werden kann. Das entspricht einer gängigen Probenpraxis, die weniger an den Nuancen einer Darstellung arbeitet, als dass sie sich darauf festlegt, an einer bestimmten Stelle eines Vorgangs oder einer Situation eine bestimmte Haltung zu exponieren. Darstellung Eine solche szenische oder auch theatrale Intervention ist in dem Moment ihrer Aufführung zwar geprobt, andererseits aber auch neu und einmalig, da sie erst in dem Moment ihrer Aufführung ihre eigentliche Wirksamkeit entfaltet. Der Darsteller greift dabei gleichermaßen auf Inhalte und Affekte zurück. Welches von beiden nun dominanter in den Vordergrund rückt, scheint vom Darsteller und der Situation abhängig zu sein. Dabei scheint

12 Vgl.

N.N.:

25.3.2002,

»Peinliches

Possenspiel«,

in:

Spiegel

Online

am

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,188998,00.html

vom 12.12.2011. 13 Siehe hierzu auch Scheurle, Christoph: Die deutschen Kanzler im Fernsehen; Theatrale Darstellungsstrategien von Politikern im Schlüsselmedium der Nachkriegsgeschichte, Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 29–33.

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die auf lauten Effekt zielende Darstellung die Aufmerksamkeit zu absorbieren und lässt so andere Inszenierungsstrategien und Darstellungsabsichten in den Hintergrund treten.14 Wirkungen Im Grunde hätte es der CDU vollkommen gleichgültig sein können, ob das Gesetz von der SPD auf dem beschriebenen Wege zu Stande kommt oder nicht. Das Zeigen und Dokumentieren der Empörung spielte für die spätere Anstrengung der Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, die das ordnungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes zu prüfen hatte, keine Rolle. Offensichtlich war es aber für die CDU dennoch von Bedeutung, ihren Standpunkt nicht nur gerichtlich legalisieren zu lassen, wie es der Richterspruch aus Karlsruhe dann auch tat, sondern ihn für die und vor der Öffentlichkeit auch als legitim erscheinen zu lassen bzw. legitimieren zu wollen. Deswegen der Auftritt. Ein solches Vorgehen – Absprache/Probe, Darstellung/Präsentation und Wirkung – kann als probates Mittel begriffen werden, Vorgänge und Entscheidungsfindungen im Bereich der faktischen Politik transparent zu machen. Es lassen sich viele Beispiele finden, in denen die Inhalte der Kommunikation auf solche theatralische Weise vermittelt werden. Man kann paradigmatisch sagen: Es findet immer dann statt, wenn politische Akteure, die sich vorher abgesprochen haben, bestimmte Gesten und Posen vortragen, um bestimmte Einstellungen und Haltungen zu demonstrieren und ihre Darstellung im Hinblick auf eine bestimmte und gewünschte Wirkung hin gestalten; oder auch dann, wenn faktisch beschlossene Ergebnisse für die Öffentlichkeit noch einmal nachvollzogen werden sollen. Denn solche Darstellungsübungen verfolgen nicht nur den legitimatorischen Zweck, das Publikum über den eigenen Standpunkt aufzuklären,

14 So hat Peter W. Marx im Zusammenhang mit dem Bundesratseklat festgestellt, dass sich keineswegs nur das Personal der CDU theatral verhalten habe, sondern auch die SPD, die in der Person von Wowereit in ihrem Darstellungsverhalten vor allem die Geschäftsmäßigkeit ihres Vorgehens betonten. Vgl. Marx, Peter: »Legitimes Theater?«, in: Birgit Haas (Hg.): Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1990, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 131– 140, hier S. 135.

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sondern auch, die Vorgänge öffentlichkeitswirksam überhaupt erst in Kraft zu setzen. Dies lässt sich also auch auf Vorgänge wie Amtseinführungen, Parlamentsabstimmungen etc. beziehen. Ein solches Enactment, verstanden als ein Zustandekommen bzw. als ein In-Kraft-Treten eines Gesetzes oder Beschlusses oder auch einer Einführung eines Regierungsrepräsentanten, zeigt sich hier als ein Reenactment, also ein Nachstellen und/oder Nachspielen bestimmter Vorgänge, die zwar vorher schon beschlossene Sache sind, aber erst im Moment der Proklamation – dem Mitteilen eines Regierungsbeschlusses, im Vollziehen einer Amtseinführung – wirksam werden.15 Es kommt hier also weniger auf die Repräsentation oder Reproduktion von etwas bereits Vergangenem an, sondern auf die Präsenz und das Wirksamwerden einer Haltung, die sich erst im Moduswechsel vom Nichtöffentlichen ins Öffentliche manifestiert und bedeutsam wird. So betrachtet kann man, um auf unser Beispiel zurückzukommen, Roland Koch nur schwerlich den Vorwurf machen, er habe in der Debatte seine Empörung nur simuliert oder reproduziert: Umgedreht ließe sich genauso argumentieren: Die Absprache auf der Präsidiumssitzung ist die Simulation, die ihre Wirksamkeit erst im Moment der Aufführung als ›eigentlichen Moment der Wahrheit‹ entfaltet. Der Moduswechsel von der Präsidiumssitzung (quasi als Probenbühne) ins Licht der Öffentlichkeit ist hierfür konstitutiv. Darauf weist nicht nur Peter Müller hin, wenn er die Abwesenheit der Kameras und Journalisten als Grund für eine Wiederholung des Ablaufs nennt, sondern auch Roland Koch selbst, der für sich in Anspruch nimmt, trotz aller vorherigen Spekulationen doch überrascht 16 von Wowereits Votum und dann auch ehrlich empört gewesen zu sein.17 Festzuhalten bleibt, dass eine Amtseinführung, die Proklamation einer Entscheidung oder das Herausstellen einer politischen Haltung, sich nicht

15 Zur Sprechakttheorie siehe Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam 1972. 16 Vgl. Meng, Richard: »Müller räumt Theater in Bundesrat ein«, in: FR-Online vom 26.3.2002, http://www.fr-online.de (nicht mehr verfügbar). 17 Damit ist im Übrigen nichts zu der Qualität der Darstellung gesagt, wie auch nicht gesagt werden kann, ob die Wahl der Mittel strategisch oder zufällig gewählt war, etwa, weil sie sich im Moment der Präsidiumssitzung quasi als Effekt oder Ergebnis dieser ›Probe‹ eingestellt hatten.

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nur erst im Moment seiner Veröffentlichung realisiert und legitimiert, sondern überhaupt erst zumindest mittelbare Teilhabe der Öffentlichkeit am politischen Prozess ermöglicht. Hier nur von Symbolik oder Repräsentation zu sprechen, hieße das Thema unzulässig zu verkürzen.

S ERIELLE W IEDERHOLUNGEN: G ERHARD S CHRÖDER IM W AHLKAMPF 1998 Der deutsche Dokumentarfilmer Thomas Schadt hat 1998 und 2001 zwei Filme über den Politiker Gerhard Schröder18 vorgelegt. Der erste Film ist eine Dokumentation des Kanzlerkandidaten auf Wahlkampfreise, der zweite Film eine Langzeitstudie des frisch gebackenen Bundeskanzlers. Der erste Film zeigt Gerhard Schröder auf Wahlkampfreise, wie er an unterschiedlichen Orten die immer gleiche Botschaft wiederholt: »Ich sage es deutlich, es macht doch keinen Sinn, über eine Jugend zu quatschen, die anscheinend ausstiegswillig ist, wenn wir ihnen nicht einen Einstieg in das Arbeitsleben verschaffen.«19 Das Video zeigt, neben einer gewissen darstellerischen Begabung Schröders, vor allem die Kohärenz der unterschiedlichen Auftritte, die sich nicht nur auf die verbale Botschaft beschränkt, sondern sich insgesamt durch eine geschlossene, in sich stimmige Darstellung auszeichnet, insofern Schröder bei jedem seiner Auftritte mit der gleichen Bestimmtheit auf das Kernproblem hinweist. Variabel ist Schröder im Ton. So ist er, wenn er zu seinen Genossen spricht, emotional engagierter als vor einem heterogenen Publikum, vor dem er die Worte überlegter zu wählen scheint. Dennoch ist nicht nur der Inhalt der Botschaft gleich; auf den unterschiedlichen Bühnen tritt uns unverwechselbar der Kandidat Gerhard Schröder entgegen. Und wenn Matthias Machnig, der Wahlkampfmanager der SPD 1998, ausführt, dass es notwendig sei, eine Botschaft so lange zu wiederholen, bis man sie selbst nicht mehr hören könne, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich in der Bevölkerung und der

18 Der Kandidat – Gerhard Schröder im Wahlkampf ’98 (BRD 1999, R: Thomas Schadt) und Kanzlerbilder – Szenen vom großen und kleinen Theater der Politik (BRD 2001, R: Thomas Schadt). 19 Ebd.

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öffentlichen Agenda ankomme,20 so wäre aus meiner Sicht zu ergänzen, dass die Wiederholung der Botschaft auch und vor allem dadurch gekennzeichnet sein muss, dass sie 1. 2. 3.

einer Person unverwechselbar zuordenbar ist, darstellerisch konsistent (im Sinne von ›widerspruchsfrei‹) sein muss, einen glaubwürdigen Eindruck des Akteurs vermittelt, der im Moment seines Auftritts, für den/die Beobachter überprüfbar, einen Einblick in seine politische Programmatik und Tätigkeiten gibt.

Letzteres ist für den Kandidaten allerdings nur insofern möglich, als er diese Programmatik für das Publikum nur konjunktivisch darlegen kann. Eine tatsächliche Kostprobe seiner politischen Handlungsfähigkeit kann er nicht geben. Er ist eben nur der Kandidat, (noch) ohne tatsächliche Machtoptionen. Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft kann er nur daraus ziehen, dass er das immer Gleiche mit immer gleich hoher Intensität und Nachdrücklichkeit darstellt und ein ambivalentes, womöglich sogar widersprüchliches Darstellungsverhalten vermeidet. Dies muss allerdings nicht heißen, dass die Darstellung kaschiert werden muss. Im Gegenteil, das bewusste Ausstellen der Darstellung als Darstellung kann ebenfalls ein Verfahren sein, das authentifizierend wirkt, wie das Beispiel aus dem zweiten Film von 2001 verdeutlicht. Hier zeigen mehrere Sequenzen den Kanzler, wie er sich zu diversen Gelegenheiten und an unterschiedlichen Orten in die goldenen Bücher verschiedener Städte, Landkreise etc. einträgt. Schröder, der sich in dem Film scherzhaft als »Experte im Eintragen von goldenen Büchern«21 bezeichnet, wiederholt den Vorgang nicht nur so lange, bis alle Fotografen die Szene im Kasten haben, sondern kommentiert ihn auch und stellt ihn so als ästhetischkünstlichen Vorgang aus, in dem er etwa den anwesenden Journalisten mitteilt: »Ich kann das unbegrenzt simulieren, ihr könnt euch also Zeit lassen.«22

20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd.

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AUTHENTIZITÄTSKONZEPTIONEN Die bisherigen Ausführungen sollten zeigen, dass Wiederholungen nicht nur Alltag im politischen Darstellungsgeschäft sind, sondern auch, dass sie dienlich sein können, politisches Handeln und politische Botschaften für die Bevölkerung transparent und glaubhaft zu vermitteln. Im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, welche Formen von Authentizität bzw. welche Authentizitätskonzeptionen in den unterschiedlichen Fällen vorliegen. Hierfür beziehe ich mich auf einen Text, der 2001 zum Abschluss des Graduiertenkollegs »Authentizität als Darstellungsform« der Universität Hildesheim entstanden ist,23 und der unter anderem fünf Authentizitätskonzepte propagiert, die nicht nur einen erhellenden Blick auf die jeweiligen Darsteller werfen, sondern auch, insofern die Darstellungen kategorisch zugeordnet werden können, einen jeweils unterschiedlich hohen Reflexionsgrad des Darstellers über das eigene Tun nahe legen. Die Autoren des Textes unterscheiden dabei zwischen 1. 2. 3. 4. 5.

magischer Authentizität, Authentizität der Autorität, Authentizität der Autorenschaft, dilemmatischer Authentizität und instrumenteller Authentizität.

Dabei stellen magische Authentizität und instrumentelle Authentizität nicht wirklich eigenständige Konzepte dar. Insofern magische Authentizität behauptet, dass es zwischen Darstellung und Dargestelltem keine Differenz gibt und instrumentelle Authentizität die anderen Konzeptionen in eine zeitliche Abfolge bringt, beschreiben sie vor allem Anfangs- und Endpunkt einer möglichen Authentizitätsdebatte. Denn »magische Praxis soll […] dadurch gekennzeichnet sein, daß man sich des Gegenstandes durch die Darstellung bemächtigt, d.h. gerade keine Differenz zwischen Dargestelltem

23 Strub, Christian/Mohn, Gabi/Wartemann, Geesche: Authentizität: Konzepte – Strategien – Gegenstandsfelder. Graduiertenkolleg Universität Hildesheim: Authentizität als Darstellungsform. Unveröffentlichter Vortrag, Hildesheim 2001, 9 S.

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und Darstellungspraxis zulässt.«24 Instrumentelle Authentizität hingegen ist »bedürfnisakzeptierend«25, d.h. sie gesteht »den Eindruck von Unmittelbarkeit […] als Authentizitätseffekt zu«26, führt aber diesen Effekt als Konstruktion vor. »Die Differenz zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltheit von Darstellungen wird so konstruktivistisch transformiert in die Differenz von kulturell (mehr oder weniger) fraglos Akzeptiertem und den Strategien von dessen Deutung.«27 Kann man nun vermuten, dass der politische Akteur sich vor allem einer magischen Praxis bedienen möchte (er und seine Darstellung sollen vor dem Publikum als identisch erscheinen), scheint es aus Publikumsperspektive naheliegend, gerade dieses strategische Bemühen zum Anlass zu nehmen, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Authentizität der Darstellung zu hegen. Sie kann allenfalls in der angenommenen Differenz »von gedeutetem Unmittelbaren und Deutung«28 festgestellt werden. Die hier behandelten Beispiele können so vor allem als Stufenmodell möglicher, gewünschter und antizipierter Authentizitätseffekte verstanden werden. Zu Beispiel 1 Die divergierenden Aussagen von Peter Müller, der mit seinen Ausführungen auf den Verabredungscharakter des Vorgangs verweist, und Roland Koch, der auch nach der Enthüllung Peter Müllers darauf bestand, seine Empörung sei echt gewesen, bis zum Schluss habe er sich nicht vorstellen können, dass die SPD ›Verfassungsbruch‹ begehen würde, verweisen vor allem auf die zwei unterschiedlichen Konzeptionen von Authentizität, die Unterschiedliches vermitteln wollen und gleichsam Verschiedenes in den Blick nehmen. Während Koch auf ein Authentifizierungskonzept zurückgreift, dass seine Glaubwürdigkeit aus der Autorität seiner Behauptung zieht und dabei auf seine eigene Person verweist (»es ist so, weil ich es euch versichere«),

24 Ebd., S. 1. 25 Ebd., S. 4. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 5. 28 Ebd.

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problematisiert die Aussage Peter Müllers genau diese Form der Authentifizierung, die unhintergehbar ist (entweder man glaubt Koch oder eben nicht), indem er die Urheber der Darstellung und die Darstellungsstrategien offen legt. Der Darsteller wird so als Autor seiner Darstellung kenntlich gemacht. Dies zeigt nicht nur, dass beide Konzeptionen konträr zueinander stehen, indem die Authentizität der Autorenschaft die Darstellungsautorität in Frage stellt, sondern verweist auch auf unterschiedliche Formen der Legitimierung. Müller begründete die Authentizität der Darstellungen nicht durch eine spontane, im Affekt entstandene Darstellung, auf die sich Koch kraft seiner Autorität bis zuletzt berief, sondern durch die Betonung des Gemacht-Seins der Darstellung, die er im gleichen Atemzug mit Verweis auf die Hintergründe als legitim klassifizierte: »Ich sage, das war Theater, aber es war legitimes Theater, weil die dort zum Ausdruck gebrachte Empörung einen ehrlichen Hintergrund hatte.«29 Damit löst er zum einen ein, was Mohn, Strub und Wartemann als »authentischen Gestus«30 bezeichnen, der »eng mit Ehrlichkeit, Wille zur Transparenz etc. verknüpft« ist und der sich darin ausdrückt, dass die eigenen Karten, »mittels derer man spielt«, aufgedeckt werden.31 Zum anderen weist er mit dem Anspruch auf die Legitimität dieses Verfahrens selbst die Grenzen des Konzepts auf. Denn letztlich gelingt es auch Müller nicht, den autoritären Gestus zu vermeiden; auch bei ihm steht am Ende der Appell im Raum »Ihr müsst mir glauben!«. Dies wiederum erhebt die konstruktivistische Perspektive zum Maß aller Dinge und beendet an dieser Stelle die Diskussion. Zu Beispiel 2 Dieses Dilemma, welches sich einerseits aus dem Aufdecken der Konstruktion und andererseits aus der Unmittelbarkeitsbehauptung des Autors, die am Ende steht, ergibt, kann demnach auch die Authentizität der Autorenschaft nicht auflösen. Dilemmatische Authentizität versucht dem gerecht zu werden, indem sie die paradoxale Struktur von Unmittelbarkeit und Darstellung anerkennt:

29 Hefty: »Legitimes Theater«. 30 Strub/Mohn/Wartemann: Authentizität. 31 Ebd., S. 3.

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»Sie ist ohne die […] Behauptung eines unmittelbaren, d.h. darstellungsfreien Bezugs zwischen ›Ich‹ und ›Welt‹ nicht denkbar. Andererseits steht dem gegenüber die Erkenntnis, daß zugleich mit einer solchen Unmittelbarkeitsidee die Notwendigkeit von Darstellung bei jeder Thematisierung von Darstellungsunabhängigem akzeptiert werden muß.«32

Und, so würde ich hinzufügen, in der Praxis auch dokumentiert werden muss. Das Beispiel Schröder zeigt in den unterschiedlichen Sequenzen genau diesen Spagat: Hier die widerspruchsfreie Behauptung zwischen Darstellung und Dargestelltem, wenn Schröder eindringlich das Schaffen von Arbeitsplätzen einfordert, dort die Betonung, dass er sich seiner Position als Polit-Darsteller sehr wohl bewusst ist, wie der Akt des markierten Unterschreibens dokumentiert.

F AZIT Die Untersuchung zeigt Widersprüchliches: Politische Darstellungen sind notwendig, insofern sie Bürger über politische Vorgänge aufklären können oder auch über Haltungen und Positionen unterschiedlicher Parteien informieren; sie scheinen aber meist zu einer Unzeit stattzufinden, insofern sie entweder zu spät kommen, weil das Ereignis schon stattgefunden hat, oder zu früh kommen, weil sie in Bezug auf ihren ›Wahrheitsgehalt‹ noch nicht überprüfbar sind. Die vorgefundenen Methoden und Strategien der Authentifizierung – Wiederholung und Nachspielen von bestimmten Haltungen bzw. Positionen – zeigen, dass sich Authentizität als ontologische und unteilbare Einheit von Darsteller und Dargestelltem lediglich als Effekt im Auge des Betrachters einstellen kann. Ob dieser Effekt gewünscht ist oder ob er nicht eher dazu führt, politische Darstellungen generell als wirklichkeitsverstellend wahrzunehmen, muss offen bleiben. Die Tatsache, dass einzelne Politiker wie Müller sich nicht nur bemühen, eine differenzierte Betrachtungsweise auf das politische Geschehen zu ermöglichen, sondern auch das eigene Darstellungsgebaren mitzureflektieren und Darstellungsvorgänge als solche kenntlich zu machen, löst zwar nicht das Problem der Differenz

32 Ebd., S. 3–4.

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zwischen faktischer Politik und seiner Darstellung, könnte aber dazu führen, dass die Problematik der politischen Kommunikation nicht als ›Theater‹ abgetan, sondern als theatralischer, aber deswegen nicht minder ernstzunehmender Akt wahrgenommen wird.

Jesus reenacted Authentizität und Wiederholung im Abendmahl A LEXANDER S CHWAN »Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen: wir sind, die wir von einem Brote essen, aus einem Kelche trinken, Jesu Glieder, Schwestern und Brüder.« JOHANN ANDREAS CRAMER, 1780

P RÄSENZ Im literatur- und theaterwissenschaftlichen Diskurs zur Präsenz ist der Verweis auf das Abendmahl als paradigmatische Verdichtung von Gegenwart ein gängiger Topos.1 Die in Brot und Wein angenommene korporeale Gegenwart Christi wird dabei zum Modell einer erfüllten Gegenwart und dient als Vergleichsgröße für Präsenzeffekte im Bereich von Tanz, Theater und Sport. Häufig wird jedoch übersehen, dass dieser Abendmahlsbegriff ein konfessionell gefärbtes Konstrukt ist, das – gewollt

1

Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: »Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt: Suhrkamp 2001, S. 63–76. Ders.: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt: Suhrkamp 2004.

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oder ungewollt – primär das katholische Eucharistieverständnis transportiert, die breite Varianz aller übrigen Abendmahlstheologien jedoch ausblendet.2 Dass in den theologischen Diskussionen um das Abendmahl – und zwar sowohl in protestantisch-katholischer Abgrenzung als noch deutlicher im Zuge des innerprotestantischen Abendmahlsstreits – der Präsenzeffekt bei der Vergegenwärtigung der letzten Mahlzeit Jesu in sich hochgradig differenziert und problematisch ist, tritt dabei fast vollständig in den Hintergrund. Ignoriert werden bei einer solchen Zuspitzung auf das katholische Eucharistieverständnis vor allem diejenigen Konzeptionen, die die im Abendmahl behauptete Präsenz Christi als im unterschiedlichen Maße von Absenz durchzogen auffassen. Für die Tanz- und Theaterwissenschaft mit ihrer breiten Reflexion über Abwesenheit und der Verwobenheit von Präsenz und Absenz dürften aber gerade Bezugnahmen auf Absenzmodelle perspektivenreicher sein als die weitgehende Konzentration auf die Realpräsenz. Diese wird im Fall der Eucharistie zudem um den Preis erkauft, mit Denkfiguren operieren zu müssen, die wie die Figuren der Transsubstantiation und des Messopfers einer rationalen Episteme inkommensurabel sind. Wenn daher im Folgenden die Feier des Abendmahls unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Authentizität und Wiederholung betrachtet wird, so geschieht dies mit dem Ziel, die Varianz der Präsenzmodelle im Abendmahlsdiskurs für die Debatte um Repräsentation, Abwesenheit und Reenactment zurückzugewinnen.3 In den Fokus rücken

2

Vgl. hierzu exemplarisch Strauß, Botho: »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt«, Nachwort in: George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München: Hanser 1990, S. 303–320, hier S. 308. Sowie: Menke, Bettine: »Ratzinger-in-Displacement«, in: Thomas Meinecke et al.: RatzingerFunktion, Frankfurt: Suhrkamp 2006, S. 56–92. Ein kurzer präsenztheoretischer Ausblick auf nichtkatholische Abendmahlstheologien findet sich dagegen bei Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 46–48.

3

Die Bevorzugung des Begriffs Abendmahl gegenüber den Bezeichnungen Eucharistie, Kommunion, Sakrament, Heilige Liturgie etc. deutet bereits an, dass dieser Blick in einer eingestandenermaßen protestantischen Perspektive geworfen wird und sich auf die evangelisch-katholischen Abgrenzungen konzentriert. Zum dabei ausgesparten anglikanischen und orthodoxen Abendmahls-

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dabei die Fragen: Wie wird die behauptete Authentizität der Repräsentation in den unterschiedlichen Auffassungen des Abendmahls begründet? Und: Ist eine mimetische Exaktheit der Wiederholung Garant für deren Authentizität oder geht die Authentizität der Wiederholung immer schon als uneinholbar voraus?

R EENACTMENT Ausgangspunkt dieser Fragen ist die These, dass im Abendmahl ein historisches Ereignis – die letzte Mahlzeit mit seinen Jüngern – religiös gedeutet und als Reenactment inszeniert wird. Dies setzt einen weiten Reenactment-Begriff voraus, da auf der Basis einer engen Vorauffassung von Reenactment, die dieses auf die öffentliche Repräsentation säkularhistorischer Ereignisse beschränkt, das Abendmahl qua seines religiösen Charakters von vorneherein ausschiede. Reenactment und Ritual wären in diesem engen Verständnis zwei sich ausschließende Kategorien, zu deren letzter dann das Abendmahl im weitesten Sinne zu rechnen wäre.4 Wird Reenactment dagegen wörtlich als Wieder-Inkraftsetzen bzw. WiederInkrafttreten eines zeitlich und räumlich absenten Ereignisses verstanden, lässt sich das Abendmahl unter diesen weiten Begriff ohne weiteres subsumieren.5

verständnis vgl. Lessing, Eckhard: Abendmahl (= Ökumenische Studienhefte 1; Bensheimer Hefte 72), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 12–16. 4

Zur Analyse des Abendmahls vor dem Hintergrund von Ritualtheorien vgl. Kreinath, Jens: »Virtuality and Mimesis. Toward an Aesthetics of Ritual Performances as Embodied Forms of Religious Practice«, in: Bent Holm/Bent Flemming Nielsen/Karen Vedel (Hg.): Religion, Ritual, Theatre, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2009, S. 229–259. Sowie: Josuttis, Manfred: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München: Kaiser 1991, S. 247–297.

5

Vgl. Power, David N.: The Eucharistic Mystery. Revitalizing the Tradition, New York: Crossroad 1994, S. 304f. Zur Einordnung des Abendmahls in eine allgemeine Reenactment-Praxis vgl. Brewer, John: »Reenactment and NeoRealism«, in: Iain McCalman/Paul A. Pickering (Hg.): Historical Reenactment.

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Eine Bezeichnung als Reenactment, wie sie vor allem im angelsächsischen Raum üblich ist, entbindet das repräsentierte Ereignis der letzten Mahlzeit Jesu aus dem Bereich des Untangierbaren und schlechthin Entzogenen. Dessen Repräsentationen werden stattdessen in den allgemeinen Kontext performativer Geschichtsvergegenwärtigung gestellt, wobei diese Kontextualisierung ein Abendmahlsverständnis voraussetzt, das durch die neuzeitliche und reformatorische Reflexion hindurchgegangen ist.6 Solchermaßen als Reenactment eines früheren Ereignisses verstanden, ist das Abendmahl durch den Rückbezug auf eine uneinholbare Vergangenheit gekennzeichnet, die zwar vergegenwärtigt wird, ohne aber je erneut zu einer ungebrochenen Gegenwart zu werden. Das Abendmahl steht als Reenactment damit in der unauflösbaren Spannung, etwas zeitlich und räumlich Abwesendes performativ zu repräsentieren und gleichzeitig um die unüberbrückbare Distanz zum vorausgehenden Ereignis und damit um die eigene Sekundarität und Nachträglichkeit zu wissen.

AUTHENTIZITÄT Das Besondere bei dieser Repräsentation ist es nun, dass sowohl die Ausgangssituation der letzten Mahlzeit Jesu als auch das Reenactment der Abendmahlsfeier über das Konstrukt einer Autorschaft begründet werden. Nicht nur stiftet Jesus Christus die Feier und initiiert ihre Wiederholungen, er wird auch – theologisch höchst unterschiedlich begründet – bei jeder dieser Wiederholungen als präsent angenommen. Die Authentizität der Abendmahlseinsetzung und ihres repetitiven Nachvollzugs ist so an die

From Realism to the Affective Turn, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 79–89, hier S. 79. 6

Diese Betonung der Kommemorativität spiegelt in verblüffender Weise die reformierte Zuspitzung des Abendmahls auf eine Gedächtnishandlung wider und wirft daher die Frage auf, inwiefern zwischen einer angelsächsischen Beliebtheit von Reenactment-Inszenierungen und der religiösen Prägung durch Calvinismus und Puritanismus ein innerer Zusammenhang besteht.

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Autorität der Person Christi geknüpft.7 Damit rückt im speziellen Fall des Abendmahl-Reenactments das antike Bedeutungsspektrum von auctoritas im Sinne von Autorität und Urheberschaft neu in den Blick: Authentisch im Abendmahl ist ausschließlich die Person Jesus Christi, weil sie für das Geschehen auto-entes ist, als selbstvollendende Person, die eine Handlung initiiert und realisiert.8 Die Ausgangsszene des letzten Mahls Jesu und dessen Repräsentationen in den Abendmahlsfeiern stehen daher nicht im Verhältnis einer type-tokenBeziehung, sodass die Reenactments von jedem Anspruch entbunden sind, die Ausgangsszene über eine mimetische Angleichung erreichen zu müssen. Soll der unähnlichen Repräsentation dennoch Authentizität zugesprochen werden, so geschieht dies über den Bezug zu einer gemeinsamen Urheberschaft von Ausgangsszene und ihrer Vergegenwärtigung. Gerade aus diesem Grund halten alle Abendmahlstheologien, römisch-katholisch bis calvinistisch, an der Vorstellung einer Präsenz der Person Jesu Christi in der Performanz der Abendmahlsfeier fest. Erst in der theologischen Begründung dieser die Authentizität garantierenden Präsenz differieren die Abendmahlstheorien der Kirchen bis hin zur Unüberbrückbarkeit. Wenn die Authentizität einer Abendmahlsfeier nicht über den mimetischen Rückbezug zu einem vergangenen Ereignis begründet wird, sondern über die auctoritas der Person Jesu Christi, so verändert sich notgedrungen das Verhältnis von Authentizität und Wiederholung: Der Fokus verschiebt

7

Das katholische Eucharistieverständnis belegt mit dieser Autorität auch den Amtsträger, der die Abendmahlshandlung vollzieht, während sich die protestantischen Abendmahlstheologien auf die Autorität Christi konzentrieren.

8

Das Wort authentisch ist abgeleitet vom griechischen Wort authéntes, das sich auf denjenigen bezieht, der eine Handlung aus eigener Gewalt vollbringt. Vermittelt über die griechischen Kirchenväter, die authentía zur Übersetzung des lateinischen auctoritas verwenden, kursiert in der Antike die latinisierte Form authenticus als Adjektiv zu auctoritas. Vgl. Kalisch, Eleonore: »Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung«, in: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 31–44, hier S. 32. Röttgers, Kurt/Fabian, Rainer: Eintrag »Authentisch«, in: HWPh, Band 1, Sp. 691–692. Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), Suhrkamp: Frankfurt 2004, S. 88–96.

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sich von der Wiederholung eines Ereignisses hin zur Wiederholung von Wiederholungen, die – insofern Christus als der Urheber auch dieser Wiederholungen angesehen wird – ebenfalls mit Authentizität aufgeladen sind. Das Reenactment des Abendmahls erfährt damit eine gewisse Loslösung vom vergangenen Ereignis der letzten Mahlzeit Jesu, wobei diese Selbstreferenzialisierung in den einzelnen Abendmahlstheologien verschieden stark ausgeprägt ist und geradezu als Marker für die jeweilige konfessionelle Sicht auf das Abendmahl gelesen werden kann.

E INSETZUNG Eine Loslösung der Wiederholung von der Authentizität der Erstsituation zeigt sich bereits im genauen Blick auf die sogenannten Einsetzungsworte des Abendmahles, die bei jedem seiner Reenactments wiederholt werden. Sie stellen nur scheinbar einen direkten Bezug zur Erstsituation her, insofern sie biblische Texte zitieren, die Jesus als Kommentar zur Zeichenhandlung des Brotbrechens und des geteilten Kelches zugeschrieben werden. Dabei sind diese Einsetzungsworte als persönliches Zitat Jesu unauthentisch und treten auf als ein Pastiche diverser Textbausteine, die erst nachbiblisch zu einem Textgefüge zusammengestellt wurden. Der Pastiche vereint neutestamentlich überlieferte Aussprüche Jesu zur Zeichenhandlung des Brotbrechens und des geteilten Kelches mit fingierten, nicht-biblischen Jesus-Zitaten, um so einen nach Regeln der Symmetrie gebauten Gesamttext der Einsetzungsworte zu erhalten, der dann als Teil des Reenactments rezitiert wird. Auf die einleitende geschichtliche Verankerung: »Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward«9, folgt hier die Beschreibung der Zeichenhandlung des Brotes, »nahm er das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset«, sowie die Deutung dieser Zeichenhandlung: »das ist mein Leib, der für euch gegeben

9

Die Einsetzungsworte sind hier und im Folgenden nach dem Mischtext zitiert, den Martin Luther für seine Deutsche Messe aus den vier neutestamentlichen Stellen zur Abendmahlseinsetzung kompiliert hat. Vgl. Bukowski, Peter et al. (Hg.): Reformierte Liturgie. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, Wuppertal: Foedus 1999, S. 340.

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wird«. Mit der anschließenden Anamneseformel »solches tut zu meinem Gedächtnis« wird die Beauftragung zur Wiederholung bewusst erwähnt, sodass in jedem Reenactment des Abendmahls die Legitimation dieser Handlung erneut bekräftigt werden kann. Es schließt sich dann exakt symmetrisch zum Brotteil die Einsetzung des Kelchteilens an mit der Beschreibung der Zeichenhandlung, ihrer Deutung sowie der erneuten Anamneseformel »solches tut, sooft ihr’s trinket, zu meinem Gedächtnis«. Entscheidend ist, dass sowohl die neutestamentlichen Zitate, aus denen die Einsetzungsworte zusammengesetzt sind, als auch deren nachbiblische Collage bereits auf der liturgischen Praxis des wiederholten AbendmahlReenactments fußen. Die Begründung, die mit diesen Einsetzungsworten gegeben wird, ist damit immer schon nachträglich. So sind alle diese Texte, in ihrem Bemühen, eine Inauguration des Reenactments zu beglaubigen, im hermeneutischen Zirkel gefangen, etwas setzen zu müssen, das sie selbst voraussetzt. Jeder Rekurs auf die vermeintlich authentische Erstversion der Abendmahlsfeier – das letzte Mahl Jesu von Nazareth mit seinen Jüngern – stoppt zuallererst vor dem garstigen Graben zwischen diesem Ereignis und den Texten, die in immer schon interpretierender und das liturgische Reenactment voraussetzender Weise über dieses Ereignis sprechen.

R E -R EENACTMENT Wird dennoch über den garstigen Graben hinweg im Sinne der Historischen Jesus-Forschung nach der Erstsituation des Abendmahls gefragt, bleibt die Historizität dieses Ereignisses unbeweisbar. Gerade die Disparatheit der biblischen Quellen mit ihren voneinander unabhängigen und sich widersprechenden Überlieferungen steigert aber nach den Grundregeln der Exegese die Wahrscheinlichkeit seiner Faktizität. Weitgehender Konsens der Historischen Jesus-Forschung ist es dabei, das letzte Abendmahl in die lange Reihe jüdischer Mahlfeiern zu stellen, die Jesus im Laufe seines Wirkens mit seinen Jüngern gehalten hat. Die Erstsituation der Abendmahlsfeier erscheint so ihrerseits als eine Wiederholung früherer Ereignisse.10

10 Vgl. Theißen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21997, S. 359–386.

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Die neutestamentliche Forschung hat damit die lange Zeit sehr beliebte These aufgegeben, das letzte Abendmahl Jesu sei ein Pessachmahl gewesen und die Symbolhandlung des Brotbrechens und des geteilten Kelches habe sich innerhalb der Struktur einer Sederfeier ereignet und auf diese Struktur in interpretierender Weise Bezug genommen. Im Rahmen des gesamten Geflechts der Passionsberichte erscheint eine Kreuzigung Jesu am Tag des Pessachfestes allerdings als höchst unwahrscheinlich, sodass demzufolge auch das letzte Abendmahl nicht am Vorabend eines solchen Pessachfestes stattgefunden haben kann.11 Viel eher scheint es sich beim letzten Abendmahl Jesu um ein reguläres jüdisches Mahl mit einem festlichen Charakter gehandelt zu haben, das – wie zur Zeit Jesu üblich – mit einer b’racha, dem Segnen und Brechen des Brotes, begann und einer b’racha über den letzten, dann von allen geteilten Weinkelch endete. 12 In der Praxis des letzten Abendmahls eine besondere Variation eines jüdischen Festmahls zu vermuten, bedeutet jedoch, dass dieses letzte Mahl die vorhergehenden Festmahlzeiten im Wirken Jesu aufgreift, die als normensprengende Mahlgemeinschaften mit gesellschaftlichen und religiösen Außenseitern geschildert werden.13 Das letzte Abendmahl knüpft an die Kette dieser symbolischen Mahlzeiten an, die mit einem einleitenden Brotbrechen und einem abschließenden geteilten Kelch ähnlich strukturiert gewesen sein dürften. Zugespitzt kann das letzte Abendmahl Jesu deshalb geradezu als Reenactment dieser normensprengenden Mahlgemeinschaften bezeichnet werden – mit der Konsequenz, dass dann auch alle folgenden liturgischen Reenactments dieses letzten Mahls kommemorative Repräsentation der diversen, normensprengenden Mahlzeiten im Wirken Jesu sind. Unschwer lässt sich hieraus eine kritische Perspektive auf die Abendmahlspraxis der verschiedenen Kirchen gewinnen, die häufig die im

11 Vgl. ebd., S. 373–376. 12 Zur Struktur der jüdischen Festmahlzeiten zur Zeit Jesu vgl. Berger, Klaus: Manna, Mehl und Sauerteig. Korn und Mehl im Alltag der frühen Christen, Stuttgart: Quell 1993, S. 128. Zur Parallelität zweier Traditionen in den neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferungen, die sich zum einen am jüdischen Pessachmahl, zum anderen an der normalen jüdischen Festmahlzeit orientieren, vgl. dagegen Welker, Michael: Was geht vor beim Abendmahl?, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1999, S. 56. 13 Vgl. Theißen/Merz: Der historische Jesus, S. 380.

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Abendmahl angelegte Enthierarchisierung und das Durchbrechen gesellschaftlicher Ausgrenzungsmechanismen ebenso abgelegt zu haben scheinen wie das Bewusstsein für die Situation des Verrats, die zu Beginn der Einsetzungsworte und damit an prominenter Stelle ausdrücklich erwähnt werden. Denn das letzte Abendmahl als normensprengende Gemeinschaft bedeutet auch die Integration derjenigen Personen, die Jesus im Anschluss an diese Mahlfeier verraten werden: Die Jünger Judas und Petrus sind als Verräter nicht von der Mahlzeit ausgeschlossen, sondern ausdrücklich in ihren Vollzug integriert. Damit kann auch die Abendmahlspraxis als liturgisches Reenactment dieser Integration nicht in erster Linie die Selbstvergewisserung eines inneren Kreises von Dazugehörigen dienen und widerspricht so vor allem in diesem Aspekt der Interpretation als affirmativem Ritual.14

P REENACTMENT Im Fokus steht vielmehr der performative Verweis auf eine umfassende gesellschaftliche Integration als Rückblick auf das normensprengende Handeln Jesu und als Antizipation einer eschatologischen Gemeinschaft. Denn die jüdischen Mahlfeiern im Wirken Jesu ebenso wie die letzte dieser Mahlzeiten am Vorabend seiner Tötung können als Vorwegnahmen jener endzeitlichen Mahlzeit begriffen werden, deren Imagination zu den Grundgedanken des Judentums zur Zeit Jesu gehört. Im olam ha-ba, der kommenden Welt, wird dabei ein reichhaltiges, fettes Mahl vorgestellt, das anlässlich der endzeitlich erwarteten Völkerwallfahrt zum Zion stattfindet und so die endgültige Aufhebung sozialer, nationaler und religiöser Differenzen feiert.15 Diese Zukunftserwartung blitzt im Wirken Jesu in der radikalen Integration während der diversen Mahlfeiern auf und ist auch beim letzten Abendmahl angesichts seines bevorstehenden Todes präsent. Eine Ausrichtung des letzten Abendmahls hin zu einer zukünftigen Heilserwartung birgt indes entscheidende Konsequenzen für die von ihm angestoßene liturgische Praxis, die sich auf dieses Ereignis bezieht. Denn das letzte Abendmahl, seinerseits ein Reenactment der vorhergehenden

14 Vgl. Welker: Was geht vor beim Abendmahl?, S. 52. 15 Jes 25,6.

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Mahlzeiten, kann mit Recht auch als Preenactament des endzeitlichen Mahls begriffen werden, sodass dann alle künftigen liturgischen Abendmahlsfeiern ebenfalls in der eschatologischen Spannung stehen, etwas Kommendes zu antizipieren, ohne es vollständig zu realisieren. Jede Reenactment-Feier des Abendmahls ist also gleichzeitig Preenactment aller zukünftigen Feiern, inklusive des endzeitlichen Freudenmahls, das christlich gedeutet mit der Parusie, der Wiederkunft Christi, verknüpft ist. So wird das Abendmahl aufgespannt zwischen der Vergangenheit der Passion, die kommemorativ vergegenwärtigt wird, und der Zukunft der Erlösung, die trotz aller Antizipationen zuallererst eine noch ausstehende und potenzielle ist.

W IEDERHOLUNG Ausgehend von der frühkirchlichen Praxis des Brotteilens verschiebt sich im Laufe der Kirchengeschichte die Repräsentation des letzten Abendmahls Jesu hin zu einer immer stärkeren Betonung der Präsenz des Wiederholungsereignisses selbst. Damit rückt weniger das Reenactment eines vergangenen Ereignisses, als vielmehr das Reenactment des Reenactments in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Vor allem in der Ausbildung der katholischen Transsubstantiationslehre wird die Authentizität der Eucharistiefeier nicht in erster Linie über den Bezug zur geschichtlichen Situation des letzten gemeinsamen Essens Jesu mit seinen Jüngern begründet, sondern über die Konzentration auf die Wiederholungswiederholung der Repräsentation. Erst eine möglichst exakte Kopie der Kopie authentifiziert diese zur Feier einer präsentisch vorgestellten göttlichen Gegenwart.16 Der Verweis auf die geschichtliche Situation des letzten Abendmahls über die Zitation der Einsetzungsworte wird zwar beibehalten, jedoch so formal umlagert, dass die Reproduktion dieser Form zum Garanten ihrer Authentizität wird. Gleichzeitig wird das Zitieren der Einsetzungsworte in unmittelbaren Bezug zur angenommenen Wandlung der Elemente Brot und

16 Zum katholischen Eucharistieverständnis vgl. ausführlich Hünermann, Peter (Hg.): Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg i.Br./Basel/Wien: Herder Zusammenfassung Lessing: Abendmahl, S. 9–11.

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Wein gesetzt. Damit wird die Repräsentation, die in ihrem Rückbezug eine Differenz zwischen der vergangenen Gegenwart und der Gegenwart des Repräsentationsereignisses markiert, ersetzt durch die Denkfigur der realen Präsenz Christi in den Elementen. Die Verschiebung hin zur Betonung der Wiederholung erfasst dabei auch das theologische Axiom des Opfertodes Christi, das im spätmittelalterlichen Messverständnis nicht mehr als eph’hapax, als ein für alle Mal geschehen angesehen wird, sondern in jeder Eucharistiefeier wiederholend repräsentiert wird.17 Gerade in diesem Wiederholungsaspekt liegt die Hauptprovokation für die reformatorische Kritik, die darauf abzielt, dass in der katholischen Messfeier das einmalige Opfer Christi in unzulässiger Weise wiederholt werde. Denn in der vorreformatorischen Eucharistie werden die gewandelten Elemente, die zu Leib und Blut Christi geworden sind, vom zelebrierenden Priester Gott zum Opfer dargebracht, sodass der Opfertod Christi nicht kommemorativ vergegenwärtigt, sondern in der Gegenwart der Eucharistiefeier erneut vollzogen wird.18 Während sich die Reformatoren hinsichtlich der Transsubstantiationslehre, also der Frage, ob die Elemente Brot und Wein sich im Reenactment des Abendmahls in Leib und Blut Christi verwandeln oder nicht, in bemerkenswert unterschiedlicher Intensität vom katholischen Dogma absetzen, sind sie sich weitgehend einig in der Ablehnung dieses Opfergedankens der katholischen Messe. Ihr Hauptvorwurf ist dabei, dass hier die Einmaligkeit des Opfers negiert und so die Authentisierung des Abendmahlsereignisses nicht mehr als von außen gesetzt angesehen wird, sondern ex opere operato vom korrekten Vollzug der erneuten Opferhandlung abhängt. An die Stelle einer nicht-mimetischen Repräsentation

17 Hinzuweisen ist hierbei darauf, dass die dem Messgedanken zugrundeliegende Satisfaktionslehre, nach der Gott durch das Opfer seines Sohnes besänftigt werden muss, nicht neutestamentlich verankert ist, sondern erst von Anselm von Canterbury entwickelt wurde. Neutestamentlich wird das Opfer Jesu dagegen nicht als Resultat göttlicher Viktimisierung, sondern als sacrificium interpretiert – als freiwillige Selbsthingabe mit dem Ziel der Aufhebung einer immer wieder neu durchzuführenden Opferpraxis. Vgl. Brandt, Sigrid: Opfer als Gedächtnis. Zu einem evangelischen Verständnis von Opfer, Münster: Lit 1999. 18 Vgl. Lessing: Abendmahl, S. 9–11.

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des Passionsgeschehens ist so ein quasi-magisches Ritual zur Vergegenwärtigung göttlicher Präsenz getreten.19

H ISTORIZITÄT Bezeichnenderweise geht die reformatorische Ablehnung dieser soteriologisch aufgeladenen Wiederholungspraxis mit der Fokussierung auf den Reenactment-Charakter des Abendmahls einher. Bewusst reflektiert werden in der Reformation das Verhältnis zwischen der repräsentierenden Praxis und der vergangenen repräsentierten Situation sowie die Relation von Original und Kopie.20 Gleichzeitig findet sich die Strategie, die Kopie über die gesteigerte Ähnlichkeit mit dem Original zu authentifizieren und das Reenactment des Abendmahls an die Situation des letzten Abendmahles mimetisch anzugleichen. Denn während für die mittelalterliche Messfeier irrelevant ist, ob die Eucharistie einen Ähnlichkeitsbezug zur Erstsituation des Teilens von Brot und Kelch aufweist, rückt diese Frage nun in den Fokus der Reformation.21 Exemplarisch zeigt sich dies sowohl an der Wiedereinführung des Laienkelches als auch am Gebrauch von Hausbrot, das als Abendmahlsbrot vor allem im reformierten Raum die katholischen Hostien, abgeleitet vom Lateinischen hostia für Opfertier, ersetzt. In einer beginnenden Problemati-

19 Erst der ökumenische Dialog der letzten Jahrzehnte hat die harte Differenz zwischen der römisch-katholischen Wiederholung der Opferrepräsentation und der reformatorischen Betonung der Singularität des Opfers ausgeräumt. Auch auf Seiten katholischer Theologie werden nun die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des einen Opfers Jesu Christi betont, das im Abendmahl in unblutiger Weise repräsentiert wird. Eine bleibende harte Differenz zu reformatorischen Abendmahlstheologien stellt dagegen die sogenannte Tabernakelfrömmigkeit dar, d.h. die Anbetung der gewandelten Hostie über den Prozess des Abendmahl-Reenactments hinaus. Vgl. Welker: Was geht vor beim Abendmahl?, S. 112 und S. 184. 20 Kaufmann, Thomas: Art. Abendmahl II. Kirchengeschichtlich, 3. Reformation, RGG4, Band 1, Tübingen 1998, Sp. 24–28. 21 Vgl. Hörisch, Jochen: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 113–126.

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sierung erscheinen Hostien als zunehmend unauthentisch für das Abendmahl-Reenactment, da Jesus und seinen Jüngern diese Gebäckform noch nicht bekannt war. Wenn an ihre Stelle nun Hausbrot tritt, so geschieht dies im Versuch einer Genauigkeit, die das ursprüngliche Brot des letzten Abendmahls nicht rekonstruiert, aber durch eine zeitgenössische alltägliche Gebäckform repräsentiert – eine Praxis, wie sie im Übrigen auch schon in der Alten Kirche vor Einführung der Hostien üblich war. 22 In einer spezifisch neuzeitlichen Auffassung wird damit der Abstand zwischen dem Reenactment und seinem historischen Bezugspunkt nicht versteckt, sondern geradezu betont. Diese Sensibilität für den Abstand trifft neben der zeitlichen Differenz zwischen Erstsituation und ihrer Repräsentation auch auf die semiotische Differenz zwischen Objekt und Objektbezeichnung zu, die im Blick auf die Elemente des Abendmahls und ihre Einsetzungsworte in hohem Maße relevant und umstritten wird. Lutherisches und reformiertes Abendmahlsverständnis unterscheiden sich dann auch gerade in der Frage, wie die offensichtliche Differenz zwischen den Elementen Brot und Wein und ihrer Bezeichnung als Leib und Blut Christi gedeutet werden könne und in welcher Weise Jesus Christus im Kontext des Abendmahls als eine dieses Reenactment authentifizierende Instanz zu denken sei.23

K ORPOREALITÄT Im lange währenden innerprotestantischen Abendmahlsstreit, in dessen Konsequenz sich lutherische und reformierte Kirchen gegenseitig der Häresie bezichtigen und einander die volle Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft verweigern, betont die lutherische Seite des Protestantismus

22 Vgl. Volp, Rainer: Art. Abendmahl IV. Liturgiegeschichtlich, RGG4, Band 1, Tübingen 1998, Sp. 43–49. 23 Zum lutherischen Abendmahlsverständnis vgl. Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (Hg.): Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 62010. Zum reformierten Abendmahlsverständnis vgl. Müller, Ernst Friedrich Karl (Hg.): Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, Zürich: Theologische Buchhandlung 1988 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig: Deichert 1903).

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die Realpräsenz Christi in, mit und unter den Elementen Brot und Wein. Den Einsetzungsworten wird dabei eine konsekrierende Wirkung zugeschrieben, sodass durch die Sätze das ist mein Leib und das ist mein Blut Christus als in den Elementen real präsent angenommen wird. Das Zitieren der Einsetzungsworte gleicht damit einem performativen Sprechakt, in dem das verbum, verstanden als wirkmächtiges, schöpferisches Wort, zu den Elementen hinzutritt und sie zu Sakramenten werden lässt.24 Die reformierte Seite des Protestantismus wirft dieser lutherischen Konzeption der Korporealität ein magisches Verständnis des Abendmahls und eine zu geringe Distanz zur altgläubigen, d.h. katholischen Transsubstantiationslehre vor.25 Bezogen auf die Frage nach der Strategie der Authentifizierung ließe sich diese Kritik dahingehend interpretieren, dass bei der Konstruktion der Realpräsenz die Gültigkeit der Wiederholung abhängig bliebe von menschlichem Tun, dem immer wieder neu zu praktizierenden Aussprechen der Einsetzungsworte. Und auch im lutherischen Selbstverständnis bliebe das Abendmahl ein Reenactment im Sinne einer erneuten Inkraftsetzung realer göttlicher Präsenz unter weitgehender Vernachlässigung der im Begriff Reenactment transportierten Rückbezüglichkeit und Differenzierung zwischen Wiederholung und Wiederholtem.

R EPRÄSENTATION Wird lutherisch vor allem die vertikale Gemeinschaft von Gott und Mensch im Abendmahl betont, so hebt die reformierte Sicht den horizontalen Gemeinschaftsaspekt der Abendmahlsteilnehmenden untereinander hervor und betont die Kommemorativität dieses Reenactments. Zwingli plädiert dabei für eine rein symbolische Bedeutung der Einsetzungsworte hoc est enim corpus meum, deren Wort est nicht im Sinne einer Wandlung oder Identifikation, sondern als significat interpretiert wird, sodass das Brot nur einen stellvertretenden Hinweis auf den Leib Christi gibt. Diese entschieden neuzeitliche zeichentheoretische Auffassung des Abendmahls unterstreicht die Differenz zwischen Wiederholung und Wiederholtem, insofern das geteilte Brot und der geteilte Kelch nicht die erfüllte Gegen-

24 Vgl. Lessing: Abendmahl, S. 3–6. 25 Vgl. ebd., S. 6–9.

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wart Christi feiern, sondern das vergangene geschichtliche Ereignis des letzten Abendmahls im Rückverweis repräsentieren.26 Einflussreicher für den reformierten Protestantismus ist die Abendmahlstheologie Calvins, die ähnlich wie Zwingli die horizontale Gemeinschaft der Feiernden und die Kommemorativität des Reenactments betont, dabei aber die Authentizität seiner Wiederholungen stärker differenztheologisch begründet. Da Calvins Theologie ohne das Axiom der Ubiquität operiert und so die Person Christi aufgrund ihrer göttlichen Natur nicht als allgegenwärtig, sondern immer nur als entzogen und von der Welt differenziert gedacht werden kann, ist ihre korporeale Präsenz in, mit und unter den Elementen unmöglich. Metaphorisch gesprochen sitzt Christus daher zur Rechten Gottes im Himmel, sodass seine Gegenwart im Abendmahl nur als Spiritualpräsenz gedacht wird, bei der sich die Herzen der Abendmahlsfeiernden durch das Wirken des heiligen Geistes symbolisch in den Himmel erheben und hier eine Communio mit Christus eingehen. Die Elemente des Abendmahls bleiben auch hier, was sie sind: einfaches Brot und einfacher Wein und sind als solche sinnliche Zeichen, die die Spiritualpräsenz Christi repräsentieren und veranschaulichen.27 In der Interpretation als Reenactment fällt dabei die besondere Bedeutung auf, die diese Abendmahlstheologie der Zusammensetzung der Teilnehmenden und ihrer Rezeption des Ereignisses beimisst. Während die Authentizität des Abendmahls im lutherischen Verständnis unabhängig von der Rezeption seiner Teilnehmenden wirkt, sodass selbst eine manducatio impiorum, eine kritische oder zweifelnde Abendmahlspartizipation, die Wirksamkeit des Sakraments nicht in Frage stellt, neigt das reformierte Modell zu einem exklusiven Verständnis der Partizipation. Denn die Authentizität des Ereignisses ist an den persönlichen Glauben der Teilnehmenden gebunden, sodass nur diejenigen zum Reenactment des Abendmahls zugelassen werden, die von der Sinnhaftigkeit der Handlung überzeugt sind. Damit wird die zu einem Reenactment gehörende Publizität des Ereignisses, die ja beim Abendmahl als Binnenhandlung einer religiösen Gemeinschaft bereits eingeschränkt ist, um ein weiteres Maß reduziert. Und

26 Vgl. Beintker, Michael: Art. Abendmahl III. Dogmatisch, 1. Evangelisch, B. Reformiert, RGG4, Band 1, Tübingen 1998, Sp. 36–39, hier Sp. 36–37. 27 Vgl. ebd., Sp. 37.

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ähnlich wie bei anderen Abendmahlstheologien, die sich der Strategie bedienen, Authentizität über Glaubensperfektionismus und eine Reduktion von Öffentlichkeit erreichen zu wollen, läuft auch diese Strategie Gefahr, die Abendmahlswiederholungen zu einem Werk ex opere operato zu degradieren. Damit werde dann, so schließlich der Vorwurf der lutherischen Seite an das reformierte Modell, in das Abendmahlsverständnis wieder ein Schema der Werksgerechtigkeit eingetragen, das zu überwinden eigentlich das Grundanliegen der Reformation war.28

P ERSONALPRÄSENZ Der lange und erbitterte Abendmahlsstreit zwischen der lutherischen und reformierten Seite teilt den Protestantismus über Jahrhunderte hinweg und verhindert die gemeinsame Partizipation am Abendmahl. Trotz der Unionsbestrebungen im 19. Jahrhundert kommt es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer vollen gegenseitigen Anerkennung der lutherischen, reformierten und unierten Kirchen. Grund dafür ist nicht zuletzt die positive Erfahrung der Zusammenarbeit in der Bekennenden Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus, die nach dem Zweiten Weltkrieg in mehreren Etappenschritten fortgesetzt wird bis hin zur Leuenberger Konkordie von 1973, der mittlerweile nahezu alle protestantischen Kirchen Europas beigetreten sind.29 Die Einigung der Leuenberger Konkordie, die den jahrhundertelangen innerprotestantischen Abendmahlsstreit beendet, wird erzielt im Absehen von der harten Differenz zwischen Realpräsenz und Spiritualpräsenz und in der Konzentration auf den Begriff der Personalpräsenz. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass Jesus Christus im Kontext der das Abendmahl feiernden Gemeinde in der Fülle seiner personalen Bezüge präsent ist: als Gekreuzigter und Auferstandener, als Spender der Abendmahlsgabe und als Gabe selbst. So wird die Kluft zwischen der Betonung einer besonderen Präsenz Christi in den Elementen und der Betonung auf der Heiligkeit der

28 Vgl. Lessing: Abendmahl, S. 3–9. 29 Vgl. ebd., S. 36–41.

J ESUS

REENACTED

| 271

gegenwärtigen Gemeinde umschifft unter Bezugnahme auf eine neutrale und von allen Seiten positiv getragene Konzeption von Präsenz.30 Die Betrachtung des Abendmahls als Reenactment und die Frage nach der Strategie seiner Authentifizierung gewinnen durch das Konzept der Personalpräsenz eine neue Tiefenschärfe. Denn nun lässt sich formulieren, dass der gesamte Prozess des Reenactments von der auctoritas der Person Christi bestimmt wird, sodass die Authentifizierung der Wiederholungspraxis nicht mehr gekoppelt ist an einzelne Momente oder besondere Qualitäten des Reenactments. Nicht der exakte Vollzug einer Handlung, nicht das Aussprechen wirkmächtiger Worte des Liturgen und nicht die Glaubensvirtuosität der Rezipienten konstituieren die Authentizität der Wiederholung, sondern allein die Person Christi als Urheber und Anstifter der Abendmahlsgemeinschaft. Derart mit dem Axiom radikaler Theonomizität gedacht, wird Authentizität deutbar als ein Aspekt göttlichen Wirkens und menschlicher Einflussnahme radikal entzogen. Authentizität ist damit kein herstellbarer Effekt von Wiederholung, sondern umgekehrt die transzendentale Ermöglichungsbedingung performativer Repetition.

ABSENZ Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass das Abendmahl als Reenactment in gleich mehrfacher Weise von Absenzrelationen bestimmt wird, die auf das engste mit dem Zusammenhang von Authentizität und Wiederholung verknüpft sind. Nicht nur ist die Authentizität selbst eine entzogene, die aus ihrer Unverfügbarkeit heraus zum Gelingen des Reenactments beiträgt und im Abendmahlsgeschehen auf immer nur ephemere Weise präsent wird. Auch der repetitive Charakter des Reenactments lässt sich dahingehend deuten, dass in die jeweilig konkrete Situation der Abendmahlsfeier die Vergangenheit aller früheren und die Zukunft aller kommenden Feiern hineinragt, einschließlich des erst eschatologisch kommenden endzeitlichen Freudenmahls. Die jeweilige Gruppe der Mahlgemeinschaft steht daher in Verbindung mit den Abendmahlsteilnehmenden aller Zeiten und Weltgegenden und ist ein-

30 Vgl. Welker: Was geht vor beim Abendmahl?, S. 96–102.

272 | A LEXANDER S CHWAN

gebunden in die Kopräsenz einer unübersehbar großen Gruppe nicht anwesender Personen aus vergangenen und kommenden Generationen. 31 Und unabhängig von dem theologischen Streit, wie das hic et nunc der Gegenwart Christus im Abendmahlsprozess zu denken ist, gehört der Rückverweis in die Vergangenheit des Passionsgeschehens zu den Grundzügen aller Abendmahlsfeiern. Neben den repetitiven und voneinander unweigerlich abweichenden Wiederholungen des Reenacments ist es vor allem diese Wiederholung als Repräsentation, die dem Abendmahl einen Bezug zum zeitlich und räumlich Abwesenden beimischt. Denn das Ereignis der letzten Mahlzeit Jesu lässt sich nicht wiederholen im Sinne einer bruchlosen Vergegenwärtigung, sondern nur repräsentieren, im Sinne eines Verweisens, Andeutens und Zitierens. Im Abendmahl wird eine abwesende Vergangenheit reenacted und ist in ihrer Abwesenheit anwesend.32 Die zentrale christliche Reenactment-Feier ist so unabhängig von ihrer theologischen Ausdifferenzierung und Benennung als Abendmahl, Eucharistie, Kommunion usw. zutiefst geprägt von Rekursivität und Antizipation. Gerade in der hochkomplexen Mischung aus Gegenwart und Absenz ist sie ein wichtiger Bezugspunkt für alle die geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die sich dem Verhältnis von Repetition, Performanz und Präsenz widmen. Insbesondere die Tanz- und Theaterwissenschaft mit ihrer Reflexion über die Ephemeralität von Ereignissen und ihrem Nachdenken über das Verhältnis zwischen der Notation eines Präskripts und dem unweigerlichen Verschreiben dieses Präskripts in der Situation seiner Realisierung profitiert von einer Referenz auf das Abendmahl, die über den bloßen Präsenzeffekt hinausreicht. Denn keine vermeintlich reine Gegenwart zeichnet das Abendmahl aus, sondern eine Präsenz, die aufs engste verknüpft ist mit Vergangenem, Fehlendem und potenziell Kommendem.

31 Vgl. ebd., S. 143. 32 Zum Gedanken einer von Absenz ausgehöhlten Präsenz vgl. Wetzel, Michael: »Artefaktualitäten. Zum Verhältnis von Authentizität und Autorschaft«, in: Susanne

Knaller/Harro

Müller

(Hg.):

Authentizität.

Diskussion

eines

ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 36–54, hier S. 48.

Autorinnen und Autoren

Wolfgang Brückle, Dr., lehrt am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. Promotion mit einer Arbeit über die Kunstförderung im Frankreich des 14. Jahrhunderts unter dem Einfluss des politischen Aristotelismus; 1999 bis 2001 wissenschaftlicher Volontär an der Staatsgalerie Stuttgart; sodann Assistent an den Universitäten Stuttgart und Bern; 2007–2010 Senior Research Officer an der University of Essex. Forschungsgebiete: Mittelalterliche Kunst, frühneuzeitliche Kunsttheorie; zeitgenössische Kunst; Geschichte der Fotografie. Gegenwärtiges Arbeitsprojekt: »Authentizität und Realismus nach der Postmoderne«. Uta Daur, Dr., Studium der Kunstgeschichte, Soziologie und Erziehungswissenschaft in Karlsruhe, Bonn und Sydney; 2008 Promotion zum Melodram in Tracey Moffatts Fotoserien und Filmen am College of Fine Arts, University of New South Wales, Sydney, Australien. 2009–2011 Postdoktorandin am Internationalen Graduiertenkolleg »InterArt« der FU Berlin. Publikationen u.a. zu Tracey Moffatt und zeitgenössischer Fotografie. Olaf Gisbertz, Dr., Studium der Kunstgeschichte, Volkskunde, Städtebau in Marburg und Bonn, 1993 Magister Artium, 1997 Promotion zu Bruno Taut und Johannes Göderitz in Magdeburg, 1998–2005 Ausbildung zum PR-Referenten und Berater in namhaften Berliner Werbeagenturen, außerdem wissenschaftlicher Angestellter/freier Mitarbeiter der RWTH Aachen und Deutschen Stiftung Denkmalschutz, seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bau- und Stadtbaugeschichte, Fachgebiet Geschichte + Theorie der Architektur und Stadt bzw. Baugeschichte der TU Braunschweig, Mitkurator der Wanderausstellung Gesetz und Freiheit.

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Der Architekt Friedrich Wilhelm Kraemer, Gründungsvorsitz Netzwerk Braunschweiger Schule e.V., Konzeption zweier Tagungen Nachkriegsmoderne kontrovers (2010/11), Herausgeber des gleichnamigen Tagungsbandes bei Jovis (Berlin 2012). Zahlreiche weitere Publikationen, 1994–96 Stipendiat der Graduiertenförderung Nordrhein-Westfalen, 2002 TheodorFischer-Preis (ZI, München). Joseph Imorde, Prof. Dr., studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Musikwissenschaft in Bochum, Rom und Berlin. Er war mehrere Jahre Redakteur der Architekturzeitschrift Daidalos. 1996 gründete er die Edition Imorde. Nach der Promotion zur römischen Festarchitektur des Barock wechselte er als Assistent an das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an die ETH Zürich. 2001: Stipendiat der Forschungsgruppe »Kultbild« an der Universität Münster, danach lehrte er an der RWTH Aachen. Er war Stipendiat der Volkswagen- und der Thyssenstiftung und Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte »Bibliotheca Hertziana«. Seit August 2008 hat er den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Siegen inne. Buchveröffentlichungen: Präsenz und Repräsentanz. Oder: Die Kunst, den Leib Christi auszustellen (1997), Barocke Inszenierung (1999), Plätze des Lebens (2002), Affektübertragung (2004), Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne (2008), Michelangelo Deutsch! (2009), Dreckige Laken – Die Kehrseite der Grand Tour (2012). Dietmar Kammerer, Dr., hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Politik und Philosophie in Konstanz, Coventry und Berlin studiert. 2007 Promotion am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. 2009–2011 Postdoktorand am Internationalen Graduiertenkolleg »InterArt« der FU Berlin. Seit 2011 Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Veröffentlichungen: Bilder der Überwachung, Frankfurt a.M. 2008; (Hg.): Vom Publicum. Das Öffentliche in der Kunst, Bielefeld 2012. Romuald Karmakar ist Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Produzent. Filmografie (in Auswahl): Warheads, Der Totmacher, Manila, Das Himmler-Projekt, Die Nacht singt ihre Lieder, 196 BPM, Land der Vernichtung, Between the Devil and the Wide Blue Sea, Hamburger Lektionen, 24h Berlin, Ramses (Deutschland 09), Villalobos, Früchte des

AUTORINNEN UND AUTOREN | 275

Vertrauens, Die Herde des Herrn, Angriff auf die Demokratie – Eine Intervention. Im Internet: http://www.romuald-karmakar.de; http://www. facebook.com/cinekarmakar. Florian Leitner, Studium der Dramaturgie, Filmwissenschaft und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in München und Paris. Tätigkeit als Theaterdramaturg und Drehbuch-Autor. 2007–2010 Stipendiat am Graduiertenkolleg »Bild-Körper-Medium« der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seit 2008 Redakteur der DFG-geförderten Online-Zeitschrift kunsttexte.de, seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Promotionsprojekt zur Angst vor elektronischen Bildern im Film an der Freien Universität Berlin (Betreuerin: Prof. Dr. Gertrud Koch). Christian Pischel, Dr. des., studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Leipzig und Lausanne. 2006–2008 arbeitete er am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste, Berlin. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft/Seminar für Filmwissenschaft an der FU Berlin. 2009 promovierte er über die Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der neunziger Jahre. Von 2008 bis 2011 war er Mitarbeiter im Projekt »Affektmobilisierung und mediale Kriegsinszenierung« von Prof. Dr. Hermann Kappelhoff am Exellenzcluster »Languages of Emotion« (FU Berlin). Seit 2011 beteiligt er sich am DFG-geförderten Nachfolgeprojekt »Inszenierungen des Bildes vom Krieg als Medialität des Gemeinschaftserlebens«. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte: audiovisuelle Formen der Affektmodulation, ferner Bild- und Fotografietheorie sowie Fragen nach der Medialität sozialer und politischer Fiktionen. Milo Rau ist ein Schweizer Regisseur, Autor, Journalist und Wissenschaftler. Studium der Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin. Arbeit als Journalist u.a. bei der NZZ und der WOZ, als Regisseur und Theaterautor u.a. am Staatsschauspiel Dresden, HAU Berlin, Maxim-Gorki-Theater, Beursschouwburg Brüssel und am Theaterhaus Gessnerallee Zürich. Zuletzt trat er mit den beiden als Reenactments angelegten Stücken Die letzten Tage der Ceauúescus und Hate Radio hervor sowie mit der in St.Gallen durchgeführten Aktion City of Change,

276 | AUTHENTIZITÄT UND W IEDERHOLUNG

bei der die Einführung des Stimmrechts für die ausländische Bevölkerung in der Schweiz vorgeschlagen wurde. Seit Januar 2008 leitet er das IIPM, International Institute of Political Murder. Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen und Universitäten in der Schweiz, in Deutschland und Frankreich. Derzeit arbeitet er an der Studie Die zwei Körper des Ereignisses (zur Ästhetik der Re-Inszenierung) und an einem Projekt zu den Moskauer Kunstprozessen der Putin-Ära. Michael Rauhut, Prof. Dr., studierte Musikwissenschaft an der HumboldtUniversität (HU) zu Berlin, war wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungszentrums populäre Musik der HU, des Berliner Instituts für zeitgeschichtliche Jugendforschung und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Seit 2008 ist er Professor für populäre Musik an der University of Agder in Kristiansand/Norwegen. Forschungsprojekt: »Blues in Deutschland von 1945 bis 1990. Mediale Vermittlung und kultureller Gebrauch«. Als Herausgeber (mit Reinhard Lorenz): Ich hab’ den Blues schon etwas länger. Spuren einer Musik in Deutschland, 2008. Christoph Scheurle, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien und Theater der Stiftung Universität Hildesheim mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der szenischen Darstellung (seit 2009). 1996–2001: Studium der Kulturwissenschaften (Theater/Bildende Kunst) an der Universität Hildesheim und der Creative and Performing Arts an der Faculty of Creative and Performing Arts am University College of Rippon & York, St. John/UK. 2002: Lehrbeauftragter am Institut für Medien und Theater der Universität Hildesheim. 2003–2006 und 2008: Promotionsstipendiat der Universität Hildesheim. 2007: Promotion. Titel: Kanzlerdarstellungen im Fernsehen – Inszenierung, Rolle, Figur. Alexander Schwan, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Studium der Ev. Theologie, Judaistik und Philosophie in Heidelberg, Jerusalem und Berlin sowie Theaterregie an der HfMDK Frankfurt a.M. Pfarrer der Ev. Kirche im Rheinland. Mitglied im DFG-Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit«, Freie Universität Berlin. Dissertation über »Tanz als Schrift im Raum«. Forschungsschwerpunkte: Postmoderner und zeitgenössischer Tanz, Tanz und Religion, Floriographie. Ausgewählte Publikationen: »›Dancing is like

AUTORINNEN UND AUTOREN | 277

scribbling, you know.‹ Schriftbildlichkeit in Trisha Browns Choreographie ›Locus‹«, in: Sprache und Literatur 42 (2011), Nr. 107, S. 58–70; »Expression, Ekstase, Spiritualität. Paul Tillichs Theologie der Kunst und der Absolute Tanz Mary Wigmans«, in: Dagmar Ellen Fischer/Thom Hecht: Jahrbuch Tanzforschung, Band 19, Leipzig 2009, S. 214–226. Regine Strätling, Dr., studierte Komparatistik, Philosophie und Französisch in Berlin und Paris. 2007 Promotion am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über den Schriftsteller und Ethnologen Michel Leiris; derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin/Koordinatorin im Internationalen Graduiertenkolleg »InterArt«, Freie Universität Berlin. Aktuelle Publikationen (Auswahl): Figurationen. Rhetorik des Körpers in den Autobiographien von Michel Leiris, München 2012; als Herausgeberin: Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld 2012. Annette Tietenberg, Prof. Dr., Professorin für Kunstwissenschaft an der HBK Braunschweig. Sie untersucht das Verhältnis von Kunst und Design, nimmt die kulturellen Produktionsfelder im Weltraumzeitalter in den Blick und reflektiert die ästhetischen, sozialen und politischen Aspekte kuratorischer Arbeit. Jüngst sind Texte zu Dunja Evers’ Umgang mit Film Stills (Städtische Galerie Wolfsburg 2009), zur metaphorischen Dimension des Schaukelstuhls (Körper, Dinge und Bewegung, hg. von Rainer Schönhammer, Wien 2009) und zu Michael Lins Zugriff auf Muster (Ausst. Kat. Vancouver 2010) erschienen. Mechtild Widrich, Dr., Studium der Kunstgeschichte in Wien und Berlin, 2009 Promotion am Department of Architecture, MIT über die Schnittstelle von Performance und Monument im öffentlichen Raum (»Performative Monuments«). Postdoktorandin am Institut für die Geschichte und Theorie der Architektur, ETH Zürich. Publikationen zum Verhältnis von ›authentischer‹ zu ›medialer‹ Präsenz u.a. in A. Jones und A. Heathfield (Hg.): Perform, Repeat, Record: A Critical Anthology of Live Art in History, Bristol: Intellect, 2012; H. van Gelder und H. Weestgeest (Hg.): Photography between Poetry and Politics, Leuven: University Press Leuven 2008, sowie in den Zeitschriften Grey Room, TDR – The Drama Review und PAJ – Performance Art Journal

Bildnachweise

Beitrag Tietenberg: Abb. 1: Foto: Thilo Droste; Abb. 2: Quelle: The Blind Man Nr. 2 (1917), S. 4 (Fotografie von Alfred Stieglitz); Abb. 3–4: Foto: Autorin. Beitrag Gisbertz: Abb. 1: Foto: Sebastian Hoyer, Braunschweig; Abb. 2: Quelle: Antoine, Jean: Traité d’architecture, ou proportions des trois ordres grecs, sur un module de douze parties, Trèves: Gervois 1768, S. 141; Abb. 3: Quelle: Frick, Friedrich (Hg.): Schloß Marienburg, Berlin: [Selbstverl.] 1799. Tafel XVI; Abb. 4: Quelle: Winter, Ludwig: Die Burg Dankwarderode. Ergebnisse der im Auftrage des Stadtmagistrats angestellten baugeschichtlichen Untersuchungen, Braunschweig: Meyer 1881–83, Tafelband 1881, Blatt IX; Abb. 5: Quelle: Der Tagesspiegel, 8.9.1996, S. 1 (Ausschnitt). Beitrag Pischel: Abb. 1–3: Quelle: http://www.doneddyart.com/ (mit Genehmigung des Künstlers); Abb. 4: Quelle: Whitted, Turner: »An Improved Illumination Model for Shaded Display«, in: Communications of the ACM 23 (1980), Nr. 6, S. 347. Beitrag Strätling: Abb. 1–2: Quelle: Lejeune, Philippe: La mémoire et l’oblique. Georges Perec autobiographe, Paris 1991, S. 155. Beitrag Brückle: Abb. 1: Foto: Martin Jenkinson © Artangel, London; Abb. 2: Quelle: Archiv des Verfassers (nach: The Independent Nr. 74 vom 19.6.1913, S. 1407); Abb. 3: Quelle: Archiv des Verfassers (nach: Fülöp-Miller, René, und Gregor, Joseph: Das russische Theater. Sein Wesen und seine Geschichte

280 | AUTHENTIZITÄT UND W IEDERHOLUNG

mit besonderer Berücksichtigung der Revolutionsperiode, Leipzig: Amalthea 1928, Abb. 401); Abb. 4: Quelle: Daily Express vom 18.6.2001, S. 16. Archiv des Verfassers; Abb. 5: Foto: © Tate Collection, London; Abb. 6: Foto: © European Foundation Joris Ivens, Nijmegen. Beitrag Widrich: Abb. 1–2: Foto: Autorin; Abb. 3: Screenshot: Autorin; Abb. 4: Foto: Scott Rudd, aus: Artforum 48 (2010), Nr. 9, S. 216. Beitrag Rau: Abb. 1: Foto: IIPM International Institute of Political Murder. Beitrag Karmakar/Kammerer: Abb. 1: Romuald Karmakar: Das Himmler-Projekt; Abb. 2–3: Romuald Karmakar: Hamburger Lektionen. Beitrag Rauhut: Abb. 1: Foto: Stephanie Wiesand/Internationales Archiv für Jazz und populäre Musik der Lippmann+Rau-Stiftung in Eisenach; Abb. 2: Foto: Axel Küstner/Internationales Archiv für Jazz und populäre Musik der Lippmann+Rau-Stiftung in Eisenach; Abb. 3: Pressefoto von Joseph Rosen via Alligator Records; Abb. 4: Foto: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), MfS ZAIG 2411, Bl. 24.

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Januar 2013, 168 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

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Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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